Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebeKolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.Zunächst gratuliere ich dem Kollegen HubertDeittert, der am 21. März seinen 60. Geburtstag beging,und dem Kollegen Dr. Jürgen Meyer, der am 26. Märzseinen 65. Geburtstag feierte.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnenvorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:Verantwortung der Bundesregierung für die Begleit-umstände des ersten rot-grünen Castortransports2. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der F.D.P. zu denAntworten der Bundesregierung auf Frage 42 in Drucksa-che 14/5637 betr. Budgetierung, Kollektivhaftung und ärzt-liche Gesamtvergütung sowie deren Auswirkungen auf dieQualität der Gesundheitsversorgung
3. Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU: Sofortige Ent-lassung des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz undReaktorsicherheit, Jürgen Trittin – Drucksache 14/5573 –
Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette Faße, Hans-Günter Bruckmann, Dr. Peter Danckert, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten HelmutWilhelm , Albert Schmidt (Hitzhofen), KerstinMüller , Rezzo Schlauch und der Fraktion desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Potenziale im Wasser-straßentransport umwelt- und naturverträglich nutzen –Intermodalität stärken – Drucksache 14/5667 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss5. Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Winfried Wolf,Eva Bulling-Schröter, Uwe Hiksch, weiteren Abgeordnetenund der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Gewährleistung des Schienenpersonenfernverkehrs
– Drucksache 14/5662 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für TourismusHaushaltsausschuss
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Eisen-bahnpolitische Reformschritte zügig einleiten – Drucksa-che 14/5666 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschuss7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Günther FriedrichNolting, Ina Albowitz, Hildebrecht Braun , weitererAbgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Hilfe durch den Bundfür die von Reduzierung und Schließung betroffenen Bun-deswehrstandorte ist unverzichtbar – Drucksache 14/5467 –Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderHaushaltsausschuss8. Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nachArt. 77 des Grundgesetzes zu dem Ge-setz zur Neuordnung des Gerichtsvollzieherkostenrechts –GvKostRNeuOG – Drucksachen 14/3432, 14/4913, 14/5385,14/5685 –Berichterstattung:Abgeordneter Eckart von Klaeden9. Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nachArt. 77 des Grundgesetzes zu demErsten Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Verar-beitung und Nutzung der zur Durchführung der Verord-nung Nr. 820/97 des Rates erhobenen Daten – Druck-sachen 14/4721, 14/5142, 14/5384, 14/5686 –Berichterstattung:Abgeordneter Wilhelm Schmidt
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll – so-weit erforderlich – abgewichen werden.Weiterhin wurde Folgendes vereinbart:Tagesordnungspunkt 4 a bis d soll abgesetzt undstattdessen als zweites Kernzeitthema der Antrag der15651
161. SitzungBerlin, Donnerstag, den 29. März 2001Beginn: 9.00 UhrCDU/CSU-Fraktion auf sofortige Entlassung des Bun-desministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit beraten werden.Tagesordnungspunkt 5 – zweite und dritte Beratung ei-nes Untersuchungsausschussgesetzes – soll ebenfalls ab-gesetzt und stattdessen Tagesordnungspunkt 8 – Touris-muspolitischer Bericht – aufgerufen werden.Tagesordnungspunkt 11 – Gestaltung der Standortwer-bung – soll bereits nach der Großen Anfrage über die Re-ferenzstrecke für den Transrapid beraten werden.Tagesordnungspunkt 16 a und b – Künstlersozialversi-cherungsgesetz – wird abgesetzt und an dieser Stelle Ta-gesordnungspunkt 18 – Jobrotation – aufgerufen.Außerdem mache ich auf nachträgliche Überweisun-gen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:Der in der 112. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlichdem Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung zur Mit-beratung überwiesen werden.Gesetzentwurf der Abgeordneten Günter Nooke,Ulrich Adam, Hartmut Büttner ,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSU zur Bereinigung von SED-Unrecht
überwiesen:Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialordnungHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GODie in der 152. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesenen nachfolgenden Anträge sollen zusätzlichdem Sportausschuss zurMitberatung überwiesen werden.Antrag der Abgeordneten Klaus Brähmig, ErnstHinsken, Anita Schäfer, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der CDUCSU: Wettbewerbs-fähigkeit der deutschen Tourismuswirtschaft stär-ken – Drucksachen 14/5313 –überwiesen:Ausschuss für Tourismus
Auswärtiger AusschussInnenausschussSportausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschussAntrag der Abgeordneten Brunhilde Irber,Dr. Eberhard Brecht, Annette Faße, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der SPD sowie der Ab-geordneten Sylvia Voß, Dr. Thea Dückert, WinfriedHermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktiondes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Pro-gramm zur Stärkung des Tourismus in Deutsch-land
– Drucksache 14/5315 –überwiesen:Ausschuss für Tourismus
Auswärtiger AusschussInnenausschussSportausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschussDie in der 158. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesenen nachfolgenden Anträge sollen zusätzlichdem Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaft zur Mitberatung überwiesen werden.Antrag der Abgeordneten Dr. Ditmar Staffelt,Jelena Hoffmann , Dr. Axel Berg, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD so-wie der Abgeordneten Werner Schulz ,Michaele Hustedt, Andrea Fischer , weite-rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN: Neue Mittelstandspoli-tik – Motor für Beschäftigung und Innovation– Drucksache 14/5485 –überwiesen:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
RechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussAntrag der Abgeordneten Hansjürgen Doss, PeterRauen, Ernst Hinsken, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der CDU/CSU: Chancen des Mittel-standes in der globalisierten Wirtschaft stärken– Drucksache 14/5545 –überwiesen:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
RechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaft
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001
Präsident Wolfgang Thierse15652
Ausschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussSind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, muss icheine Wortmeldung zur Geschäftsordnung aufrufen. DieFraktion der F.D.P. hat beantragt, den Tagesordnungs-punkt 3 – zweite und dritte Beratung eines Miet-rechtsreformgesetzes und eines Mietrechtsvereinfa-chungsgesetzes – von der Tagesordnung abzusetzen unddiese beiden Gesetzentwürfe an den federführendenRechtsausschuss sowie den mitberatenden Ausschussfür Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zurückzuver-weisen.Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Kollege vanEssen, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Die F.D.P.-Bundestagsfraktion bean-
tragt die Rücküberweisung der Mietrechtsvorlagen an die
beratenden Ausschüsse. Wir tun dies nicht, weil wir die
Geschäftsordnung des Bundestages verletzt sehen. Aber
wir sind nicht bereit, länger zuzusehen, wie die Regie-
rungsmehrheit mit legitimen Rechten des Parlaments um-
geht.
Das Mietrecht ist keine rechtliche Materie, die aus-
schließlich den Rechtsausschuss zu interessieren hat. Es
ist völlig klar, dass diese Materie auch für das Bau- und
Wohnungswesen eine große Bedeutung hat. In dem dafür
zuständigen Ausschuss ist die Regierungsmehrheit mit
der Opposition und mit dem Parlament insgesamt in einer
absolut inakzeptablen Weise umgegangen.
Am 7. März 2001 hat die Koalition mit der Begrün-
dung, es seien noch viele Anträge mit inhaltlichen und re-
daktionellen Änderungen zu erwarten, die Verschiebung
der Beratungen durchgesetzt. Es wurde außerdem darauf
hingewiesen, dass noch ausreichend Beratungszeit zur
Verfügung stehe, weil ein Abschluss im März nicht zu er-
warten sei.
Nur eine Woche später sollte auf Druck der Regie-
rungskoalition die Beratung dann plötzlich bis 10.30 Uhr
abgeschlossen werden, damit das Votum dem feder-
führenden Rechtsausschuss noch vorgelegt werden
könne. Dies war angesichts der Fülle von Änderungen
natürlich nicht möglich. Ein Parlament, das diese Vorge-
hensweise bei einer so wichtigen Reform zulässt, gibt sich
auf. Zu bemerken ist auch, dass dies nicht der erste Vor-
gang dieser Art ist.
Gerade die völlig einseitigen Verbesserungen des Miet-
rechts zugunsten der Mieter müssen sorgfältig abgewogen
werden. Manche Regelungen sind nur auf den ersten
Blick für die Mieter günstig. Wenn etwa das Angebot an
Wohnungen zurückgeht, steigen natürlich die Mieten. Ge-
rade die sozial schwächeren Mieter hätten die Folgen zu
tragen.
Das muss bei einer solchen Regelung natürlich bedacht
werden. Deshalb muss dies auch dem federführenden
Rechtsausschuss bei seiner Beratung bekannt sein.
Die F.D.P.-Bundestagsfraktion nimmt die Beschneidung
der berechtigten Interessen der mitberatenden Ausschüsse,
aber auch des Parlaments insgesamt nicht länger hin. Wir
bitten Sie deshalb um Zustimmung zu unserem Antrag.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Alfred Hartenbach, SPD-Fraktion.
Verehrter Herr Präsident!Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich möchte vorabverkünden, dass ich in dieser Geschäftsordnungsdebatteauch für den Koalitionspartner spreche.
Das ist, an die rechte Seite hier im Hause gerichtet, eindeutlicher Hinweis darauf, wie eng wir miteinander ver-nünftige Sachpolitik betreiben.
Heute ist Donnerstag,
ein ganz normaler Donnerstag für das deutsche Parla-ment. Das deutsche Volk geht davon aus, dass dieses deut-sche Parlament an einem ganz normalen Donnerstag um9 Uhr morgens in eine Sachdebatte einsteigt.
Was aber machen Sie? Seit Monaten müssen wir mit an-sehen, wie Sie inhaltsleer, ideenlos, ohne jegliche Fanta-sie und ohne irgendwelche eigenen Vorstellungen unshier Donnerstagmorgen für Donnerstagmorgen beiPlenarsitzungen mit Geschäftsordnungsdebatten über-ziehen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001
Präsident Wolfgang Thierse15653
Die Menschen draußen erwarten, dass wir hier einevernünftige Politik machen. Was machen Sie? – Ge-schäftsordnungsdebatten!
Das zeigt, dass Sie überhaupt nichts anderes mehr kön-nen, als Geschäftsordnungsdebatten zu führen.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, diese Debatte ist soüberflüssig wie nur etwas.
Unter normalen Menschen, unter anständigen Menschen
würde man sagen: Diese Opposition stiehlt uns die Zeit.
Herr Präsident, ich weiß nicht, ob der Ausdruck, den ichgebrauchen will, unparlamentarisch ist, deswegen denkeich ihn nur: Solche Menschen, so denke ich, könnte manmit Fug und Recht als Zeitdiebe bezeichnen.
Was ist denn eigentlich passiert? Van Essen hat gesagt:Nichts ist passiert; geschäftsordnungsmäßig ist alles inOrdnung. – Also frage ich mich: Warum diese Geschäfts-ordnungsdebatte, wenn geschäftsordnungsmäßig alles inOrdnung ist?
Nun wollen wir das einmal auflisten: Im November desJahres 2000 haben alle Beteiligten den Regierungsent-wurf zum Mietrechtsreformgesetz überreicht bekommen.Ab November 2000 konnten alle darüber beraten, auchder beteiligte Ausschuss. Der beteiligte Ausschuss hat,wenn ich es richtig vorgefunden habe,
am 24. Januar und am 14. Februar 2001 darüber beraten.
Der mitberatende Ausschuss hat die Unterlagen rechtzei-tig bekommen.
– Aber, Herr van Essen, Sie können nicht lesen; das weißich schon lange.
Wenn Sie richtig gelesen hätten, hätten Sie festgestellt,dass sich in den Kernaussagen bezüglich der Materie, dieden Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen be-treffen, fast nichts geändert hat und man hier durchaus aufBasis dessen, was vorlag, hätte weiter beraten können.Nun geschieht Folgendes: Am Freitag, den 9.März, mit-tags um 14 Uhr, liegt dem Bauausschuss der Änderungsan-trag der Regierung und der Koalitionsfraktionen vor.
Am Montagnachmittag haben das alle bekommen. Ichkann doch erwarten, dass man sich hinsetzt und ein Ge-setz, das man am Mittwochmorgen beraten will, bis dahindurchliest. Aber was macht die CDU/CSU, was macht dieF.D.P. im Bauausschuss? – Sie beginnen nicht mit derSachdebatte, sondern sie beginnen wieder – mit waswohl? – mit einer Geschäftsordnungsdebatte.
Selbstverständlich haben Sie auch dort wieder eineStunde mit der Geschäftsordnungsdebatte verplempert, inder Sie gezeigt haben, dass Sie an der Sache gar nicht in-teressiert sind.Nun hätten wir im Rechtsausschuss noch lange gewar-tet, wenn nicht an diesem Tag auch die Union wiederumeine Sondersitzung ihrer Fraktion gehabt hätte. Warumhat sie eine Sondersitzung der Fraktion gehabt? – Um unsam nächsten Morgen mit einer Geschäftsordnungsdebattezu überziehen!
So sieht das nämlich aus. Es war ausreichend Zeit für dieBeratung. Der und die willens war, konnte das in Ruhe be-raten.Jetzt noch etwas zu Ihnen, Herr van Essen. Wir habenim Rechtsausschuss Berichterstattergespräche gehabt, wiesie intensiver und besser nicht hätten sein können. Dortsind Sie über alles informiert worden. Da kann ich dochzum Beispiel auch erwarten, dass die Kolleginnen undKollegen aus der Opposition so, wie wir es gemacht haben,ihre Mitglieder in den mitberatenden Ausschüssen überdas, was sich getan hat, informieren. Das sehe ich als Zu-sammenarbeit innerhalb einer Fraktion an. Aber wenn Sienur im eigenen Saft schmoren, kann ich es nicht ändern.Lassen Sie mich Ihnen von der F.D.P., die Sie ja nun die18 Prozent anstreben, zum Schluss noch etwas mit auf denWeg geben.
Wer sich auf 18 Prozent einrichtet, wer meint, er könneuns im Jahr 2002 auseinander dividieren, und sich als Re-gierungspartei andient, der sollte ab sofort, egal wo er sichbefindet, mit Sachdebatten beginnen.
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Alfred Hartenbach15654
Die Geschäftsordnungsdebatten, die Sie im Moment ma-chen, sind die Fingerübungen eines Eleven in der Politik.
Diese Fingerübungen gehören auf die Oppositionsbank.Dort sollten Sie noch lange bleiben.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Hans-Peter Repnik, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte fast das Ge-fühl, der Kollege Hartenbach redet bis zum Freitag wei-ter, nachdem er uns darauf hingewiesen hat, dass wirheute Donnerstag haben.
Wir unterstützen den Antrag der F.D.P. aus mehrerenGründen. Der Gesetzentwurf, der heute auf der Tagesord-nung steht und über den wir hier reden, reiht sich in eineKette von eigentumsfeindlichen Gesetzen von Rot-Grünein.
Wir diskutieren nicht nur das Mietrecht, sondern wir dis-kutieren derzeit im Vermittlungsverfahren auch die Ren-tenreform, mit der die Häuslebauer kalt enteignet werdensollen.
Dem Bundesrat liegt diese Woche ein Gesetzentwurfvon SPD-regierten Ländern zur Erhöhung der Erb-schaftsteuer um 50 Prozent vor.
Selbst die Fachverbände sprechen hier von einer Wähler-täuschung. Was sich Neue Mitte nennt, entpuppt sich alsalte Linke. Die Koalition betreibt eine Reideologisierungin dieser Frage.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen,weil Sie in diesen Fragen die öffentliche Diskussionscheuen, wählen Sie ein Verfahren, das in diesem Punktnach unserer Überzeugung mit der Geschäftsordnungkollidiert.Der Kollege Hartenbach hat die Sachdebatte gefordert.
Wir stellen uns der Sachdebatte. Aber genau das, was Sie,Kollege Hartenbach, heute früh hier im Plenum fordern,haben Sie den Fachpolitikern im Ausschuss in den letztenWochen verwehrt. Das ist doch der Sachverhalt.
Herr Kollege Hartenbach, ich weiß, dass Sie ein ge-schätztes Mitglied des Rechtsausschusses sind. Aber be-vor Sie hier zu diesem Thema eine Geschäfts-ordnungsdebatte führen, hätten Sie sich bei IhrenKollegen erkundigen sollen, was im Wohnungsbauaus-schuss los war.
Hier waren Sie ganz offensichtlich schlecht informiert.Den Kollegen im Wohnungsbauausschuss wurde dieChance genommen, ihren Sachverstand entsprechend ein-zubringen. Tatsache ist, dass der federführende Rechts-ausschuss den Wohnungsbaupolitikern keine Frist gesetzthat, dass die SPD-Vertreter im Wohnungsbauausschussgesagt haben, man habe bis April Zeit, und dass dieserTagesordnungspunkt im Wohnungsbauausschuss einver-nehmlich von der Tagesordnung genommen worden ist.
Anschließend hat der Rechtsausschuss ohne das Votumdes Wohnungsbauausschusses abgestimmt. Das ist derSachverhalt.Jetzt komme ich noch einmal zur Geschäftsordnung:Wir haben hier eine eindeutige Regelung, in der es heißt,dass der federführende Ausschuss, wenn das Votum desmitberatenden Ausschusses nicht vorliegt, die Beratungnur vorläufig abschließen darf. Sie wissen auch, KollegeHartenbach, dass es dazu im letzten Jahr sogar eine ein-deutige Interpretation des Geschäftsordnungsausschussesgab, die nach unserer festen Überzeugung in dieser Frageverletzt worden ist. Von daher sehen wir die Rechte desWohnungsbauausschusses und auch die verfassungs-mäßigen Rechte der Kolleginnen und Kollegen verletzt,die keine Chance gehabt haben, sich hier mitberatend ein-zubringen.
Meine Damen und Herren, diese Geschäftsordnungs-debatte rechtfertigt sich nicht nur aus dem heute zur Dis-kussion stehenden Einzelfall, sondern dies hat System.Ich erinnere daran, dass in dieser Woche am Vorabend ei-ner Umweltausschusssitzung eine dicke Liste von Ände-rungsvorschlägen eingebracht worden ist. Die Oppositionhat daraufhin im Umweltausschuss gefordert, man mögeden Abgeordneten Zeit geben, sich inhaltlich mit den Än-derungsanträgen auseinander zu setzen, und die Beratungzu vertagen. Das ist abgelehnt worden. Ferner erinnere ichan die Beratung der Gesundheitsreform im letzten Jahr so-wie der Reform der gewaltfreien Erziehung. Was also denUmgang der Mehrheit mit der Minderheit in diesem Par-lament angeht, so hat dies System.Meine Damen und Herren, wir von der CDU/CSU-Fraktion fordern nicht mehr und nicht weniger, als dassdie Gesetze zumindest handwerklich ordentlich gemachtwerden. Wahren Sie die Rechte des Hauses und halten Sie
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001
Alfred Hartenbach15655
das gebotene Verfahren ein! Weil das Verfahren in diesemFall nicht eingehalten wurde und die Rechte der Abge-ordneten verletzt wurden, fordern wir, dass dieser Gesetz-entwurf an den federführenden Ausschuss und die mitbe-ratenden Ausschüsse zurückverwiesen wird. Stimmen Siealso deshalb dem Antrag der F.D.P. zu! Meine Fraktionstimmt dem Antrag zu.Vielen Dank.
Nun erteile ich der
Kollegin Heidi Knake-Werner von der PDS-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die PDS-Fraktion wird
dem Rücküberweisungsantrag der F.D.P. zustimmen.
Auch wir sind der Auffassung, dass eine sachgerechte
Mitberatung im Ausschuss für Verkehr, Bau- und Woh-
nungswesen nicht möglich war und insofern ein ord-
nungsgemäßes Verfahren nicht stattgefunden hat. Wir kri-
tisieren vor allem, dass durch die zeitlichen Vorgaben des
federführenden Rechtsausschusses der mitberatende Fach-
ausschuss dermaßen unter Druck gesetzt worden ist, dass
eine akzeptable, sachgerechte Beratung nicht möglich war.
In nur einer Stunde sollte der ganze Gesetzentwurf ein-
schließlich 87Änderungsanträgen beraten werden, die, wie
übrigens sehr häufig, erst kurzfristig eingebracht wurden.
Wir halten dies einfach für unzumutbar und meinen,
dass die Arbeit so nicht seriös zu erledigen ist, zumal bei
einem Gesetz, das Sie selber als ein ganz wichtiges Re-
formvorhaben dieser Legislaturperiode bezeichnen und
das für 50 Millionen Menschen in der Bundesrepublik
von großer Bedeutung ist und ihnen ja wohl auch für län-
gere Zeit Rechtssicherheit bringen soll.
Insofern ist es notwendig, hier eine vernünftige Beratung
zu ermöglichen, vor allem, da Sie immer wieder die Sach-
debatte einfordern.
Der Wohnungsausschuss ist dementsprechend mit sei-
ner Beratung nicht rechtzeitig fertig geworden. Als sein
Votum beim Rechtsausschuss eintraf, hatte dieser seine
Beratung bereits abgeschlossen.
Nun könnte man sagen, das sei ein bloßer Formfehler,
über den man hinwegsehen könne, um den „Laden“ hier
nicht aufzuhalten. Das könnte man natürlich, wenn der
Anlass für diese Geschäftsordnungsdebatte in der Tat die
Ausnahme wäre. Aber auch wir müssen gerade in letzter
Zeit feststellen, dass es hier nicht um die Ausnahme, son-
dern eher um die Regel geht.
Wir akzeptieren diesen Formfehler nicht, weil damit
die Rolle der mitberatenden Fachausschüsse überflüssig
gemacht wird. Wir akzeptieren diesen Formfehler nicht,
weil dies für die politische Kultur in diesem Haus schlecht
ist und uns wirklich niemand mehr abnimmt, dass wir we-
nigstens in der Fachberatung unterschiedliche Sichtwei-
sen zur Kenntnis nehmen, einander zuhören und nach
Sachlage entscheiden. Auch hier dominieren vielmehr im
weitesten Sinne wirklich nur die Mehrheiten.
Es häufen sich doch die Beschwerden aus den Fach-
ausschüssen – das wird Ihnen allen doch so gehen –, dass
umfangreichste Reformvorhaben im Hauruckverfahren
durchgezogen werden sollen. Knappe Zeitleisten und
kurzfristig zu bewältigende Papierberge beeinträchtigen
die Mitwirkungsmöglichkeiten gerade der mitberatenden
Ausschüsse und natürlich auch der entsprechenden Fach-
politikerinnen und Fachpolitiker. Solche Bedingungen
behindern nicht zuletzt auch die Mitwirkungsmöglichkei-
ten der Oppositionsparteien und schränken ihre Minder-
heitenrechte in unerträglicher Weise ein.
Das verschlechtert das Arbeitsklima und die Diskussi-
onskultur in diesem Hause. Wir merken das gerade in den
letzten Wochen sehr deutlich. Deshalb sagen wir von der
PDS: Wir finden, die Mehrheit sollte ihre Mehrheit nicht
dazu missbrauchen.
Vielen Dank.
Wir kommen nun zurAbstimmung über den Antrag der Fraktion der F.D.P. aufAbsetzung des Tagesordnungspunktes 3 und Rücküber-weisung der beiden Gesetzentwürfe an den federführen-den Rechtsausschuss sowie den mitberatenden Ausschussfür Verkehr, Bau- und Wohnungswesen. Ich gehe davonaus, dass über beides gemeinsam abgestimmt werden soll.Wer stimmt für den Antrag der Fraktion der F.D.P.? –Wer stimmt dagegen? – Stimmenthaltungen? – Der An-trag ist mit den Stimmen der SPD-Fraktion und der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen vonCDU/CSU, F.D.P. und PDS abgelehnt.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Neugliederung, Vereinfachung und Reformdes Mietrechts
– Drucksache 14/4553 –
– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Rainer Funke, Michael Goldmann, HorstFriedrich , weiteren Abgeordneten undder Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zur Vereinfachung des Mietrechts
– Drucksache 14/3896 –
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001
Hans-Peter Repnik15656
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 14/5663 –Berichterstattung:Abgeordnete Margot von RenesseDirk ManzewskiRonald PofallaDr. Wolfgang Freiherr von StettenHelmut Wilhelm
Rainer FunkeDr. Evelyn KenzlerZum Entwurf des Mietrechtsreformgesetzes liegen jeein Änderungsantrag der Fraktion der F.D.P. und der Frak-tion der PDS sowie ein Entschließungsantrag der Fraktionder CDU/CSU vor. Über den Entwurf des Mietrechts-reformgesetzes werden wir nachher namentlich abstim-men.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält der bereitsvor mir stehende Kollege Dirk Manzewski, SPD-Frak-tion.
Sehr geehrter Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Am heutigen Tag beraten wir abschließend über denGesetzentwurf der Bundesregierung zur Mietrechtsre-form.Dem Mietrecht kommt im alltäglichen Leben eine be-sondere Bedeutung zu, auch wenn dies vielleicht nicht im-mer so wahrgenommen wird. Millionen von Menschensind als Mieter auf gute und bezahlbare Wohnungen an-gewiesen. Für Millionen von Vermietern gehören Miet-einnahmen zur Sicherung ihrer Lebensgrundlage.Das geltende Mietrecht wird den heutigen Anforderun-gen von Gesellschaft und Wirtschaft jedoch längst nichtmehr gerecht. Es trägt weder den gewandelten gesell-schaftlichen und wirtschaftlichen Lebensverhältnissennoch der veränderten Wohnungsmarktsituation Rech-nung. Soweit im Mietrecht überhaupt einmal eine Syste-matik existierte, ist diese längst nicht mehr erkennbar. Än-derungen und Ergänzungen haben das Mietrecht vielmehrimmer komplizierter, unübersichtlicher und sprachlichschwer verständlich gemacht.
Mit ihrem Gesetzentwurf ist es der Bundesregierungnun gelungen, das Mietrecht den heutigen Erfordernissenanzupassen und dabei einen gerechten Ausgleich zwi-schen den Interessen von Mietern und Vermietern zu er-zielen.
Der Begriff Reform trifft hier zu. Reform bedeutet Ver-besserung und Neuordnung des Bestehenden und genaudies ist hier erfolgt. Ich halte es nun einmal für eine Ver-besserung, wenn das Mietrecht übersichtlicher, verständ-licher und transparenter wird. Ich halte es für fortschritt-lich, wenn es den Mietparteien dadurch eher gelingt, ihreRechte und Pflichten auch ohne anwaltlichen Beistand zuerkennen,
und ich halte es für zeitgemäß und längst überfällig, wennsich das Mietrecht endlich inhaltlich an den verändertengesellschaftlichen Bedingungen orientiert.
Natürlich gelingt es bei einer Reform nie, allen Forde-rungen sämtlicher Interessenverbände gerecht zu wer-den oder diese zu erfüllen; das liegt in der Natur der Sa-che. Ich meine aber, dass es der Bundesregierunggelungen ist, einen insgesamt ausgewogenen Gesetzent-wurf vorzulegen, der den berechtigten Interessen aller Be-teiligten gerecht wird, und darauf kommt es doch an.Wichtig ist doch nicht, ob die Reform in einzelnen Punk-ten zu einer Verlagerung der Rechte oder der Pflichten derMietparteien führt. Entscheidend ist doch allein, ob siesachgerecht ist oder nicht.Man kann in diesem Zusammenhang deshalb vor allemnicht unberücksichtigt lassen, dass sich die gesellschaft-lichen Verhältnisse gerade in den letzten 20 Jahren radikalgeändert haben. Die Anforderungen an das Mietrecht vonheute sind ganz andere als die von gestern. Die Gesell-schaft von heute fordert eine unglaubliche Flexibilität undMobilität ihrer Bürger. Was ist falsch daran, die ent-sprechenden Gesetze dem anzupassen?
Die Einführung asymmetrischer Kündigungsfristenwar deshalb längst überfällig und zeitgemäß. Die im Vor-feld dieser Debatte hieran geäußerte Kritik halte ich fürvöllig überzogen und verfehlt. Man kann doch nichtignorieren, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die Si-tuation auf Mieterseite eine völlig andere ist als auf Ver-mieterseite.
Ich kann nicht von einem Mieter, der Arbeitnehmer ist,überspitzt gesagt, einerseits fordern, heute in München,morgen in Frankfurt und übermorgen in Rostock tätig zusein, ihn andererseits aber mit langfristigen Mietverträgenbinden. Das ist alles andere, nur nicht modern und zeit-gemäß.
Wer Flexibilität und Mobilität im Arbeitsleben fordert,dem würde es auch gut zu Gesicht stehen, die Rahmenbe-dingungen hierfür zu schaffen.Man kann seine Augen auch nicht davor verschließen,dass unsere Bevölkerung immer älter wird. Es wird daherimmer häufiger dazu kommen, dass Seniorinnen oderSenioren kurzfristig in ein Alten- oder Pflegeheim umzie-hen müssen. Lange Kündigungsfristen für die Wohnungsind dann einfach nicht zumutbar.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001
Präsident Wolfgang Thierse15657
Diese Veränderungen müssen in einem Mietrecht vonheute Berücksichtigung finden und das tun sie im vorlie-genden Gesetzentwurf auch durch die kürzeren Kündi-gungsfristen für Mieter.
Andererseits kann man einem Mieter, der 15 Jahre langin einem bestimmten Berliner Kiez gelebt hat, der dortverwurzelt ist und sein soziales Umfeld hat, dessen Kin-der dort in den Kindergarten oder in die Schule gehen,nicht zumuten, nach einer Kündigung aus der Not herausgleich die erstbeste ihm angebotene Wohnung anzuneh-men. Man muss ihm zugestehen, zunächst zu versuchen,in seinem alten Umfeld eine adäquate Wohnung zu fin-den. Dies kann doch nicht ernsthaft bestritten werden. Da-raus ergibt sich auch, dass der Mieter typischerweiseschutzbedürftiger ist als der Vermieter.
Kündigt der Vermieter, verliert der Mieter seine Woh-nung und sein unmittelbares Wohnumfeld. Der Mieter istzu Recht deshalb umso schutzwürdiger, je länger er in derWohnung gelebt hat. Dem tragen die im Gesetzentwurfvorgesehenen, nach Dauer des Mietverhältnisses diffe-renzierten Kündigungsfristen für den Vermieter zutref-fend Rechnung.
Kündigt der Mieter, verliert dagegen der Vermieter seineWohnung nicht. Er ist damit nicht vergleichbar schutzwür-dig. Ihm reichen in der Regel drei Monate, einen neuenMieter zu finden.Im Übrigen möchte ich noch einmal kurz daran erin-nern, dass die Kündigungsfristen zum Schutz des Mieterseingeführt worden sind und nicht zur Vermeidung vonLeerstand, wie offensichtlich einige meinen.
Auch die Kritik an der Senkung der Kappungsgrenzeist meines Erachtens nicht berechtigt. Wenn behauptetwird, die Senkung der Kappungsgrenze sei nicht hin-nehmbar oder ein falsches Signal für Investoren, so halteich das für puren Unsinn. Investiert wird dort in den Woh-nungsbau, wo es sich lohnt. Das heißt, in Gegenden mitgroßem Leerstand wie gerade in vielen ostdeutschen Städ-ten wird niemand bauen, selbst wenn man dort bei derMieterhöhung frei wäre. Umgekehrt wird eine noch so ge-ringe Möglichkeit, Mieterhöhungen vorzunehmen, Inves-toren dort nicht abschrecken, wo Rendite zu erwarten ist.So ist das nun einmal.
Seien wir doch einmal ganz ehrlich, liebe Kolleginnenund Kollegen! Worüber reden wir in diesem Zusammen-hang eigentlich? Circa 5 Prozent Mieterhöhung werdentatsächlich im Durchschnitt vom Vermieter verlangt. Dasheißt, die Kappungsgrenze für Mieterhöhungen wirdheutzutage ohnehin nicht ausgeschöpft. Die Senkung derKappungsgrenze von 30 Prozent auf 20 Prozent tut demVermieter also in der Regel überhaupt nicht weh.
– Nun hören Sie doch einmal zu, Herr Pofalla! – DemMieter allerdings hilft sie dort, wo Ballungsgebiete mitvielen Menschen und wenig Wohnraum sind, und natür-lich dort, wo spekuliert wird. Deswegen ist es völlig inOrdnung, eine Reduzierung der Kappungsgrenze vorzu-nehmen.
– Sie müssen zuhören und nicht dazwischenschreien!Dann verstehen Sie das vielleicht auch.
Gerade junge Familien mit Kindern und alte Menschenhaben unter Mieterhöhungen häufig zu leiden. Diesenwollen und werden wir mit der Senkung der Kappungs-grenze helfen. Dadurch zeichnet sich die sozial verant-wortliche Politik dieser Regierungskoalition aus, unddazu stehen wir.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich verhehle nicht,dass mit der Mietrechtsreform nicht alle Probleme desMietrechts gelöst worden sind. Das konnten sie meinerAuffassung nach aber auch gar nicht. So hätte ich mirnatürlich gewünscht, dass wir das Problem der Schön-heitsreparaturen gelöst hätten.
– Herr Kollege, in der Praxis hat sich jedoch gezeigt, wieunglaublich schwierig es ist, gerade diesen Bereich zu re-geln. Es wäre schön gewesen, wenn Sie hier nicht nur„Aha!“ dazwischenschrien, sondern an den Beratungenteilgenommen hätten.
Ich erinnere daran, dass eine Bund-Länder-Arbeitsgrup-pe eingesetzt worden ist, der es nicht gelungen ist, sich aufeinen Gesetzestext zu verständigen. Das ist die Tatsachegewesen. Sie hat zu ihrem Bericht extra ein kleines Büch-lein zur Frage der Schönheitsreparaturen herausgebrachtund musste eingestehen, dass sie keine Gesetzestextver-sion finden konnte, die den Interessen sämtlicher Betei-ligten gerecht wird. Das kann man doch nicht einfachignorieren.
Auch im Laufe dieses Gesetzgebungsverfahrens konntevon niemandem eine Regelung präsentiert werden, die
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ausgewogen die Interessen beider Vertragsparteienberücksichtigt. Sollte hier jemand den Stein der Weisenfinden – das gestehe ich Ihnen gerne zu, Herr Kollege –und einen konkreten Vorschlag unterbreiten, der glei-chermaßen die Interessen von Vermietern und Mieternberücksichtigt, dann sind wir sicherlich die Letzten, dieden hier vorgelegten, ohnehin schon hervorragendenGesetzentwurf nicht im Nachhinein verbessern würden.Wir doch nicht! Wir würden das gerne machen, HerrKollege.
– Herr Kollege, wir haben nichts gemacht? Wir haben einmodernes Mietrecht geschaffen. Ein modernes Miet-recht bedeutet auch eine inhaltliche Verbesserung. Dashaben wir angepackt. Es wäre wünschenswert gewesen,dass auch Sie sich inhaltlich dazu geäußert hätten. Das ha-ben Sie leider nicht getan.
Wie üblich haben Sie als Opposition nur kritisiert, habenaber andererseits interessanterweise in den Debatten aucheingestanden, dass eine Modernisierung des Mietrechtslängst überfällig ist.
– Warum soll ich das nicht ungestraft sagen können? Ichtue es doch gerade.
Sie können gerne hierzu debattieren. Ich werde mich dannauch melden. Dann können wir uns prima über die Sacheunterhalten. Ich hätte das gerne im Vorfeld gemacht. Lei-der sind Sie dazu nicht bereit gewesen.
Meine Damen und Herren, wir brauchen ein modernesMietrecht. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung setztmeiner Auffassung nach insoweit Maßstäbe.Frau Ministerin, ich möchte Sie hierzu beglückwün-schen und mich für die konstruktive Zusammenarbeit mitIhrem Haus bedanken.Danke schön.
Ich erteile das Wortdem Kollegen Ronald Pofalla, CDU/CSU-Fraktion.
Ronald Pofalla (von der CDU/CSU mitBeifall begrüßt): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Lieber Alfred Hartenbach,
ich will zwei Anmerkungen zu Ihrem Geschäftsord-nungsdebattenbeitrag machen.Erstens kann ich festhalten – Sie haben darauf hinge-wiesen –: Es ist Konsens auch mit der CDU/CSU-Bun-destagsfraktion, dass heute Donnerstag ist.
Zweitens. Wenn Alfred Hartenbach davon spricht, dieOpposition stehle Zeit, und hier den Begriff „Zeitdiebe“verwendet, dann wird deutlich, was schon länger in Sit-zungen des Rechtsausschusses deutlich geworden ist: Siewürden am liebsten die Opposition abschaffen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Chancefür eine solide, gemeinsame Lösung zur Reform desMietrechts ist vonseiten der Regierungskoalition vertanworden. Die Verantwortung für dieses traurige Beispielmangelnder inhaltlicher Kooperationsbereitschaft undauch die Folgen dieser schlechten Mietrechtsreform trägteinzig und allein die Regierungskoalition von SPD undBündnis 90/Die Grünen.
Die starre Haltung der Regierungskoalition hat sichwährend des Gesetzgebungsverfahrens trotz vernünfti-ger, sachbezogener Argumentation seitens der Unionnicht geändert. Schlimmer noch: Von Anfang an ist hiernicht die kleinste Änderung vonseiten der Opposition zu-gelassen worden. Die Regierungskoalition will wider bes-seres Wissen durchsetzen, was sie in der Diskussion nichtüberzeugend vertreten konnte. Diese starre Haltung ist imdemokratischen Diskurs fehl am Platz.Warum tatsächlich keine Änderungsbereitschaft sei-tens der Regierungskoalition bestand, ist einfach zu er-klären: Zum einen liegt dies an der Notwendigkeit einesKoalitionskompromisses und zum anderen an ideologi-schem Scheuklappendenken. Hier soll ein sozialistischesPflichtprogramm absolviert werden.
Die Politik der so genannten Neuen Mitte findet sich beidieser Mietrechtsreform nicht wieder. Stattdessen ver-sucht die alte Linke hier im Deutschen Bundestag Miet-rechtspolitik zu betreiben.
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Das ewige – heutzutage vor allem falsche – Lied vomschwachen, armen Mieter und vom kapitalistischen, bö-sen Vermieter ertönt wieder einmal.
Die Segnungen der Sozialdemokratie sollen dem angeb-lich geschundenen Mieter nun aus seiner angeblich unter-drückten Position heraushelfen.Dieses veraltete Klassendenken hat dazu geführt, dassdie große Chance einer gerechten und umfassenden Re-form des Mietrechts tatsächlich nicht genutzt wurde.Selbst in ideologisch nicht so relevanten Nebenbereichendes Reformvorhabens gab es kein Entgegenkommen sei-tens der Regierungskoalition.Hingegen hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion vonAnfang an Kooperationsbereitschaft gezeigt. Das Grund-muster der von der Regierung beabsichtigten Reform wurderespektiert. Viele neue Regelungen wurden wohlwollendzur Kenntnis genommen. Die von der CDU/CSU-Bundes-tagsfraktion eingebrachten Änderungsanträge hätten alsBasis für eine – das will ich betonen – gemeinsame, gerechteund ausgeglichene Reform dienen können.Doch die Regierungskoalition zeigt einmal mehr ihreKompromissunfähigkeit. Gegen den Protest der Mieter-und Vermieterverbände, gegen Proteste des Mietgerichts-tages, gegen die Meinung anerkannter Sachverständiger,gegen Länderinteressen und gegen jede Vernunft soll nunder in Rede stehende Gesetzentwurf durchgesetzt werden.
Die angeblichen Entlastungen, die im Gesetzentwurf vor-gesehen sind, schlagen über kurz oder lang auf die Mieterzurück; von tatsächlich ungerechten – vielleicht sogar ver-fassungswidrigen; darauf werde ich noch näher eingehen –Regelungen gegenüber dem Vermieter ganz abgesehen.
Ich will hier nur einige Punkte anreißen, über die mansich, so denke ich, hätte verständigen können:Erstens. Da ist zum einen die Senkung der Kap-pungsgrenze von 30 auf 20 Prozent,
die ohnehin nur bei Mieten unterhalb der Vergleichsmietewirksam wird. Dies ist eine insgesamt unnötige Maß-nahme.
Der Wohnungsmarkt in Deutschland ist entspannt – übri-gens aufgrund der Regierungspolitik der alten Koalition.
Im letzten Mietbericht der jetzigen Bundesregierungwurde festgestellt, dass der Mietmarkt in Deutschlandentspannt ist. Dies kann bei einer 16-jährigen Vorgänger-regierung nur auf deren Regierungspolitik zurückzu-führen sein.
Eine Senkung der Kappungsgrenze führt letztlich nurdazu, dass die Vermieter umso konsequenter den vollenRahmen der möglichen Erhöhungen ausnutzen. DieseRegelung schadet dem zukünftigen Bau von Mietwoh-nungen massiv und damit den Mietern, die dadurch be-reits in zwei bis drei Jahren, wenn es in Deutschland zuwenig Wohnungen geben wird – wir werden uns dann hierim Deutschen Bundestag darüber unterhalten müssen –,höhere Mieten werden zahlen müssen.
Mit einer Politik der so genannten Neuen Mitte hat dasnichts zu tun.Zweitens. Eine ebenfalls nicht hinzunehmende Rege-lung ist hinsichtlich des qualifizierten Mietspiegels be-absichtigt. Nicht Gemeinde und Interessenverbände derMieter und Vermieter sollen den Mietspiegel festsetzen,sondern dieser soll alternativ von einem der beiden erstelltwerden. De facto führt das dazu, dass die Gemeinde zurPreisbehörde wird. Neben einem Anstieg des Verwal-tungsaufwandes hätte dies auch eine verstärkte politischeEinflussnahme auf die Mietpreise zur Folge.Die in dem Gesetzentwurf aufgeführten „wissen-schaftlichen Grundsätze“ sind als Maßstab zur Festlegungdes Mietspiegels reine Augenwischerei. Die so genanntenGrundsätze sind nicht geeignet, den erheblichen Spiel-raum der Behörde bei der Mietspiegelfestsetzung einzu-grenzen. Sie haben die Chance vertan, ganz grundsätzlichüber die Frage und die Funktion des Mietspiegels zu dis-kutieren. Wir hätten sehr wohl darüber diskutieren kön-nen, ob der Mietspiegel überhaupt noch die Funktion er-füllt, die ihm ursprünglich zugewiesen worden war. DasInstrument des Mietspiegels ist kostenaufwendig, verwal-tungsaufwendig und ist im Ergebnis in den allerwenigstenFällen wirklich eine Hilfe für die Mieter. Diese Frage zudiskutieren waren Sie aber nicht bereit.
Drittens. Die Melodie der „Internationale“ meint manleise im Hintergrund zu hören, wenn es um die zeitlich un-terschiedlichen Kündigungsfristen von Mietern und Ver-mietern geht.
Zum ersten Mal seit dem Bestehen der BundesrepublikDeutschland wird durch die Regierungskoalition die so-ziale Symmetrie zwischen Vermietern und Mietern ein-seitig aufgekündigt. Dies lehnen wir ab.
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Ich sage Ihnen voraus: Diese Regelung wird vor demBundesverfassungsgericht verhandelt
und dort womöglich wegen Verfassungswidrigkeit aufge-hoben werden. Die Situation von Mieter und Vermieter istin den meisten Fällen längst nicht mehr so unterschied-lich, dass Kündigungsfristen von deutlich unterschied-licher Dauer gerechtfertigt wären. Gerade der privateKleinvermieter wird durch solche Regelungen abge-schreckt. Mit einer Politik der so genannten Neuen Mittehat das nichts zu tun.
Viertens. Bei der geplanten Vertragsnachfolge– nicht nur der des Ehepartners – bei Tod des Mietersdurch jede im Haushalt des Mieters aufgenommene Per-son kann ein Eigentümer unter Umständen über Jahre hi-naus seine Einflussnahme darauf verlieren, wer sein Ei-gentum bewohnt.
Hier wird in eklatanter Weise in die Privatautonomie ein-gegriffen. Auch diesen Punkt lehnen wir entschieden ab.
Diese Form von uferlosen Zwangsverträgen ist unsererRechtsordnung fremd.
Mit einer Politik der so genannten Neuen Mitte hat das,Herr Hartenbach, nichts zu tun.Die Reform ist auch praxisuntauglich. Der DeutscheMietgerichtstag – mit dem sollten Sie sich einmal ausei-nander setzen –
hat in aller Deutlichkeit betont: Die Reform soll ausge-setzt und auf ihre Praxistauglichkeit überprüft werden. –An der Art und Weise der Beratung, insbesondere der zeit-lichen Gestaltung, sieht man, wie viel Rücksicht Sie aufdie fundamentalen Interessen des Mietgerichtstages ge-nommen haben, nämlich überhaupt keine.Fünftens. Als Beispiel sei hier vor allem genannt, dassSchönheitsreparaturen nach wie vor nicht geregelt sind,obwohl in diesem Bereich Regelungsbedarf besteht undviele Streitigkeiten gerade hier entstehen.
Realität ist doch: Ein Mieter zieht aus. Der Vermieter in-spiziert die Wohnung und brummt dem ehemaligen Be-wohner einen unerwarteten Renovierungsauftrag auf.Zum Streitpunkt werden dann Löcher in Decken undWänden, Stellen, wo Bilder oder Lampen waren. InMillionen von Mietverträgen werden die Schönheitsre-paraturen auf die Mieter abgewälzt. Diese Missständezu ändern waren Sie nicht bereit und in der Lage. Daszeigt, dass Sie in einem ganz zentralen Punkt versagthaben.
Der Mieter kann wieder einmal sehen, wo er bleibt.Nochmals – ich weiß, dass es Ihnen nicht gefällt, aber esist so –: Mit einer Politik der so genannten Neuen Mittehat das nichts zu tun.Sechstens. Auch die Interessen der Bundesländerwerden in dem Gesetzentwurf gröblich missachtet. Amverheerendsten erscheint dabei die völlige Ignorierungder Wohnraumsituation in den neuen Bundesländern. Ob-wohl 30 Prozent der Wohnungen im Osten Deutschlandsleer stehen und verfallen, soll eine Verwertungskündi-gung auch in Zukunft in den neuen Bundesländern ausge-schlossen sein. Dies ist angesichts einer längst nicht mehrbestehenden Wohnraumknappheit und angesichts der ausdem Ausschluss der Verwertungskündigung resultieren-den Verhinderung von notwendigen Sanierungen und Ab-rissen absolut unverständlich.
Siebtens. Auch ökologische Gesichtspunkte bleibenin der neuen Mietrechtsreform völlig außen vor – und dasausgerechnet bei einer rot-grünen Regierung.
Ein Ausgleich der gesamtökologischen Interessen und derInteressen der Mietvertragsparteien hätte in den Gesetzent-wurf aufgenommen werden können. Beispielsweise hättenEnergieeinsparmöglichkeiten festgeschrieben werden kön-nen. Aber ich betone: hätten. Die so genannte große Miet-rechtsreform ist eben nur halb gares Stückwerk und hat ent-scheidende Reformkomponenten außen vor gelassen.
Es bleibt festzuhalten: Bei dieser Reform steht dieIdeologie jedem sinnvollen Kompromiss im Wege.
Vordergründige Mieterinteressen sollen auf Biegen undBrechen ausgebaut werden, doch führen die von der Bun-desregierung angebotenen und von der Regierungskoali-tion mitgetragenen Lösungen gerade von einem sozialausgeglichenen Mietrecht weg, da nur kurzfristige Lö-sungen angestrebt und langfristige Perspektiven außerAcht gelassen werden.Die Bundesregierung und die Fraktionen der Regie-rungskoalition vergessen, dass der beste Mieterschutz einausreichendes Angebot an modernen und gepflegten Woh-nungen bei vernünftigen Mietpreisen ist. Durch Ihre Reform– das werden wir bereits in zwei bis drei Jahren sehen – wirdgenau dieser Umstand nicht eintreten, weil durch dieses Re-formvorhaben die Bereitschaft, sich im Mietwohnungs-markt investiv zu betätigen, zunichte gemacht wird.Die Bundesregierung hat das Angebot für eine Reform,die im breiten Konsens im Deutschen Bundestag möglich
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gewesen wäre, nicht genutzt. Die CDU/CSU-Bundestags-fraktion hat in den Beratungen des Rechtsausschusses an-lässlich der Berichterstattergespräche hinlängliche Be-reitschaft gezeigt,
zu einem gemeinsamen Reformvorhaben zu kommen.Aber die Sozialdemokraten standen wieder unter demTeildiktat der grünen Fraktion. Sie waren nicht in derLage, Kompromisse zu schließen. Sie waren nicht in derLage, einen sinnvollen Interessenausgleich zwischenden Interessen der Mieter und der Vermieter vorzuneh-men.Von daher ist die Möglichkeit, mit dieser Reform einenwirklichen Reformansatz zu schaffen, nicht nur vertanworden. Sie haben diese Reform vielmehr dazu genutzt,um altes ideologisches Denken umzusetzen. Sie schadenbereits in zwei bis drei Jahren – das ist erkennbar – den In-teressen der Mieter. Dann werden wir uns hier im Deut-schen Bundestag über die Auswirkungen dieser verfehl-ten Mietrechtsreform zu unterhalten haben.Herzlichen Dank.
Ich erteile dem Kolle-gen Helmut Wilhelm, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.Helmut Wilhelm (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Ausgewogen, fair, klar, verständlich und darumauch für Vertragsparteien ohne fachlichen Beistand guthandhabbar – dies sind die neuen Attribute, die auf dasMietrecht hinfort zutreffen.
Ich bin stolz darauf, dass wir von SPD und Grünen denrund 60 Millionen Mietern und Vermietern in unseremschönen Land eine gelungene Mietrechtsreform präsen-tieren können.
Zusammen mit unserem Koalitionspartner konnten wirvon Bündnis 90/Die Grünen unsere Vorstellungen von ei-nem modernen und sozialen Mietrecht fast ohne Abstri-che umsetzen.
Orientierung und Leitlinie des neuen Mietrechts sinddie sich in fast 27 Jahren verändert habenden gesell-schaftlichen Bedingungen. 27 Jahre – eine so lange Zeitmusste verstreichen, bis der Gesetzgeber der Aufforde-rung des Bundestags von 1974, eine große Mietrechtsre-form vorzulegen, nachgekommen ist.
Anders ausgedrückt: Die rot-grüne Reformregierungfunktioniert prächtig,
und zwar zum Wohl aller in Deutschland lebenden Men-schen. Das neue Mietrecht ist dabei ein Meilenstein rot-grüner Regierungsverantwortung.
Es ist auf das Interesse von Mietern, Vermietern und In-vestoren ausgerichtet. Als Streiter für die grüne Sache istfür mich besonders erwähnenswert: Es nützt der Umwelt.Zugleich wird die besondere Schutzbedürftigkeit vonbehinderten Menschen, älteren Mitbürgern und Familienhervorgehoben. So wird erstmals eine Regelung zurBarrierefreiheit in das Mietrecht aufgenommen.
Damit wird festgeschrieben, dass behinderte Mieter oderderen Angehörige im Bedarfsfall die Wohnung behinder-tengerecht umbauen können, wenn sie dem Vermietereine zusätzliche Sicherheit für die zu erwartenden Rück-baukosten leisten. Dies, meine Damen und Herren von derF.D.P., ist ein Beispiel für sozial verantwortliche Politik,die natürlich auch die Interessen der Vermieter berück-sichtigt.
Ich bin mir sicher, dass auch Sie, verehrte Kolleginnenund Kollegen von der Opposition, diese Regelung irgend-wann einmal zu schätzen wissen, nämlich spätestensdann, wenn Sie vielleicht – ich wünsche es Ihnen wirklichnicht – nicht mehr so agil durch die Welt laufen könnenwie heute.Die Kündigungsfristen für Mieter werden von bishermaximal zwölf Monaten auf drei Monate abgesenkt.Wenn der Arbeitsmarkt Berufstätigen eine hohe Mobilitätabfordert, darf das Mietrecht nicht bremsen.
Gleichzeitig verkürzen sich die Kündigungsfristen für dieVermieter auf höchstens neun Monate. Auch das ist einBeispiel für die Ausgewogenheit des Entwurfs bei Wür-digung der unterschiedlichen Interessenlagen. Es istwichtig, zu beachten, dass die Unterschiedlichkeit der In-teressenlagen eine asymmetrische Behandlung in Bezugauf die Fristen erfordert.Ferner beachtet das neue Mietrecht alternative Formendes menschlichen Zusammenlebens. Künftig gilt für allePaare gleiches Recht. Die anachronistische Diskriminie-rung homosexueller Lebensgemeinschaften im Falle des
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Todes eines Mieters wird beseitigt. Der schwule Partneroder die lesbische Partnerin kann in der vormals gemein-samen Wohnung verbleiben.
Das neue Mietrecht belohnt umweltbewusstes Verhal-ten. Betriebskosten werden künftig verbrauchsabhängigberechnet; Mieter zahlen künftig das, was sie verbrauchthaben. Diese Änderung wird sich verbrauchsminderndauswirken und schont damit Geldbeutel wie Umwelt glei-chermaßen. Umweltbewusste Modernisierungsmaßnah-men werden honoriert und kommen – durch niedrigereNebenkosten – auch den Mietern zugute. Die energetischeBeschaffenheit der Wohnung wird in der Begründung desGesetzentwurfes als mietspiegelrelevantes Beschaffen-heitskriterium herausgehoben.Dass die Mietrechtsnovelle ein Erfolg ist, hat sichschon in der Anhörung vor dem Rechtsausschuss abge-zeichnet.
Die Experten waren sich in ihrer Grundaussage zu demVorhaben überwiegend einig. Sie haben den Entwurf ge-lobt, aber an einigen Stellen Veränderungen vorgeschla-gen. Ich habe selten eine so intensive Einbindung und eineso gute Zusammenarbeit mit unabhängigen Experten ausWissenschaft und Praxis sowie Verbänden erlebt wie beidiesem Gesetzesvorhaben.
Ich bin davon überzeugt, dass sich die dadurch er-reichte Qualität des Entwurfs im mietrechtlichen Alltagzeigen wird. Mieter und Vermieter bzw. deren Interessen-verbände werden die Signale des neuen Mietrechts auf-nehmen und im beiderseitigen Interesse umsetzen. Dannwird hoffentlich die doch wohl nur populistische Kritikder Opposition verstummen, die leider auch noch heuterein klientelorientiert auf ein einseitiges und damit weni-ger soziales, weniger gerechtes und weniger ausgewoge-nes Mietrecht hinausläuft. Die doch etwas dürftigen An-träge von F.D.P. und Union zu unserem Gesetzentwurflassen jedenfalls kaum einen anderen Schluss zu. Diesedoch etwas mickrigen Anträge sind für mich in meinerRede kaum einer weiteren Befassung wert. Seien Sie mirnicht böse, meine Damen und Herren von der F.D.P. undder Union.
Jetzt wird es offenbar, warum Sie es trotz vieler An-läufe in der Vergangenheit nie schaffen konnten, einegroße Mietrechtsreform vorzulegen. Vor allem die F.D.P.hat jederzeit versucht, ihrem Deregulierungswahnentsprechend einseitig ihre Wählerschichten aus der Wirt-schaft zu bedienen. Es verwundert schon sehr, dass dieF.D.P. heute ihre soziale Ader entdeckt und mit ihrem Än-derungsantrag die Mieter vor Eigentumsbildung schützenmöchte. Das eigentliche Ziel dürfte wohl sein, Notareneine zusätzliche Einkommensquelle zu sichern.
Ich kann es nicht oft genug wiederholen: Was für einGlück, dass die Kolleginnen und Kollegen von CDU undCSU die F.D.P. in der vergangenen Legislaturperiodestoppen konnten, allerdings um den Preis der Handlungs-unfähigkeit bezüglich einer Mietrechtsreform.
Regierung, SPD und Grüne haben sich auf keine Seiteziehen lassen. Herausgekommen ist ein gerechter undtragfähiger Interessenausgleich, der noch sehr lange Be-stand haben wird.
Ich erteile dem Kolle-
gen Rainer Funke, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Die Notwendigkeit einer Mietrechtsreformist auch in unseren Augen völlig unstreitig. Deswegen hatauch meine Fraktion einen Ihnen vorliegenden Gesetz-entwurf formuliert und ebenso wie die Bundesregierungdarauf Wert gelegt, das derzeit geltende, in zahlreicheVorschriften zersplitterte Recht in einem Gesetzentwurf,und zwar in lesbarer Form, zusammenzufassen. Dies istder Bundesregierung mit ihrem Gesetzentwurf, zumin-dest was die handwerkliche Seite angeht, genauso gelun-gen wie der F.D.P.-Fraktion. Das liegt natürlich auch da-ran, dass wir hier gemeinsame Wurzeln haben. Aber einGesetz ist nicht danach zu beurteilen, wie es formal ge-staltet ist. Vielmehr kommt es auf den Inhalt an.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung kann in-haltlich in keiner Weise befriedigen. Das liegt vor allemdaran, dass die Bundesregierung und die Koalitionsfrak-tionen einseitig die Mieterinteressen in den Vordergrundgestellt haben. Es ist kein Gesetzentwurf, der die Interes-senlagen von Vermietern und Mietern als gleichberech-tigte Vertragsparteien ausgewogen berücksichtigt.
Dies wird unter anderem an den unterschiedlichen, asym-metrischen Kündigungsfristen für Mieter und Vermieterdeutlich.
Während die Mieter das Recht zu verkürzten Kündi-gungsfristen von drei Monaten erhalten, wird der Vermie-ter auf die im Vergleich zum bisherigen Recht nahezu un-verändert langen Kündigungsfristen verwiesen. Damitwird das Leerstandsrisiko einseitig auf den Vermieter ab-gewälzt.
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Helmut Wilhelm
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Als Begründung wird angegeben, der Mieter müsse ge-rade wegen der Arbeitsmarktverhältnisse mobil sein unddemgemäß kurzfristig kündigen können, eine Behaup-tung, die durch die Praxis in keiner Weise bestätigt wird.Diese Regelung ist wenig praxisbezogen, und dieser Man-gel an Praxisbezogenheit ist dann auch das Manko desgesamten Gesetzes; es ist rein ideologiebehaftet.
Vielleicht ist es von einer Ministerin, die immerhin seit1972 im Bundestag sitzt, zu viel verlangt, praxisbezogenzu handeln.
– Ich mache Ihnen das nicht zum Vorwurf, Frau Kollegin,aber ich mache Ihnen sehr wohl zum Vorwurf, dass Sieden Rat der Wirtschaftsverbände und der Organisationenauf dem Gebiet des Mietrechts unberücksichtigt lassen.
Das beginnt mit dem Deutschen Mieterbund – die Präsi-dentin ist ja unter uns –, das gilt für den Deutschen Miet-gerichtstag und das setzt sich fort mit der Interessenver-tretung der Haus- und Grundeigentümer sowie mit demGesamtverband der deutschen Wohnungswirtschaft unddem Verband der freien Wohnungsbaugesellschaften.Es wäre zudem sehr hilfreich gewesen, wenn sich dieMinisterin bei der Erarbeitung eines neuen Mietrechtsauch einmal mit Investoren der Wohnungswirtschaft un-terhalten hätte. Denn dann wäre ihr deutlich geworden,dass die Bereitschaft, in die Wohnungswirtschaft zu in-vestieren, bei vielen Banken und Kapitalsammelstellenauf ein Minimum geschrumpft ist. Das hängt zum einenmit der schon erwähnten einseitigen Bevorzugung derMieter zusammen, zum anderen aber auch damit, dass In-vestitionen in den Wohnungsmarkt von dieser Bundesre-gierung steuerrechtlich benachteiligt werden und dass dasMietrecht nach wie vor zu kompliziert ist. So sind die §§ 2bis 4 des Miethöhegesetzes nahezu unverändert in dasBGB übernommen worden, ohne die berechtigten Klagenaus der Praxis in irgendeiner Weise zu berücksichtigen.Wenn für einfache Mieterhöhungen bei Wohnungsbauge-sellschaften und Verwaltungsgesellschaften Heerscharenvon Juristen benötigt und auch die Gerichte damit belas-tet werden, dann zeigt das, wie kompliziert das Mietrechtist. Der soziale Friede zwischen Mieter und Vermieterwird eben in keiner Weise berücksichtigt.
Das erkennt man ebenfalls bei der Frage der Kap-pungsgrenzen. Die Kappungsgrenzen spielen im Miet-recht heute überhaupt keine Rolle mehr.
Trotzdem muss diese Kappungsgrenze aus Ideologie-gründen wieder gegen die angeblich so bösen Vermieterherhalten. Das geschieht auch noch gegen den Rat desGdW, der bekanntlich seit Jahrzehnten sozialdemokra-tisch geführt wird. Ich will nicht missverstanden werden:Es geht mir nicht darum, die Kappungsgrenze zu strei-chen. Die Senkung von 30 Prozent auf 20 Prozent istaber – auch wenn die Kappungsgrenze keine entschei-dende Rolle mehr spielt – das falsche politische und da-mit auch das falsche wirtschaftliche Signal an die Ver-mieter und Investoren.
Das ist für den gesamten Wohnungsbau schädlich.Wie wenig die Bundesregierung dem Markt und denvertragsschließenden Parteien vertraut, wird auch darausersichtlich, dass echte Zeitmietverträge nach wie vorpraktisch, mit ganz wenigen Ausnahmen, ausgeschlossensind. Ich kann noch immer nicht verstehen,
dass es erwachsenen Mietparteien nicht überlassen seinsoll, miteinander eine exakte zeitliche Dauer einesMietvertrages zu vereinbaren. Die Menschen sind dochals Vertragsparteien berechtigt – und manchmal sogar ver-pflichtet –, Regelungen mit festen Zeitgrenzen zu finden.Das ist in anderen Bereichen so, warum nicht auch imMietrecht?
Diese Bevormundung ist im Übrigen schon aus rechts-staatlichen Gesichtspunkten überhaupt nicht zu verste-hen.Genauso unverständlich ist der Ausschluss der Ver-wertungskündigung, die insbesondere den Genossen-schaften in den neuen Bundesländern wegen des Überan-gebots an Wohnungen sehr geholfen hätte. Dervorgesehene Ausschluss dieses Mittels ist eine ganzkrasse Einengung der Verfügungsmacht des Grundei-gentümers; so soll offensichtlich die Regulierung durchdie Marktkräfte verhindert werden.
Dabei sind die Mieter wegen des Überangebots vonWohnraum hinreichend geschützt, auch in den neuenBundesländern.Ähnlich verhält es sich hinsichtlich der Umwandlungin Wohneigentum unter erschwerten Bedingungen beiKündigung wegen Eigenbedarfs. Offensichtlich solllediglich der Bestand, nämlich die derzeitig dort woh-nenden Mieter, geschützt werden, nicht aber der Ei-gentümer oder gar junge Familien, die Wohneigentumpreiswert erwerben wollen. Auch mir geht es um denSchutz von Mietern; aber es müssen ebenfalls die Inte-ressen der anderen Seite im Wohnungsbereich berück-sichtigt werden.Die Bundesregierung wäre besser beraten gewesen,das Mietrecht weiter zu deregulieren und den Mietver-tragsparteien wieder mehr Freiheit für die Gestaltung ih-rer Mietverträge einzuräumen. Das hätte Investoren wie-
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der ermutigt, mehr Wohnungen zu bauen und mehr Woh-nungen zu modernisieren. Mehr Mut zum Markt wärebesser gewesen.
Dies hätte man aufgrund des ausgewogenen Verhält-nisses von Angebot und Nachfrage in den meisten deut-schen Städten endlich wagen können und auch müssen.Die Vergangenheit hat uns gezeigt, dass gerade die Städte,die als letzte die Mietpreisbindungen aufgehoben haben,bei der Wohnungsversorgung am schlechtesten dran ge-wesen sind.Ich habe mit großem Bedauern verfolgt, wie dieser Ge-setzentwurf zum Mietrecht im Rechtsausschuss behandeltworden ist. In den Berichterstattergesprächen ging mannatürlich sehr höflich und sehr nett miteinander um,
wie sich das unter Juristen gehört. Der Staatssekretär Pickhat über die Änderungen während des Beratungsverfah-rens sachlich und gut informiert.
– So kenne auch ich ihn, liebe Frau Kollegin. –
Man hat aber lediglich darüber informiert, worüber dieBundesregierung und die Koalitionsparteien beraten ha-ben und was sie beschlossen haben. Uns wurde mitgeteilt,dass über diese Beschlüsse anschließend gar nicht mehrzu diskutieren sei; denn sie stünden nun einmal fest undes gehe nach dem Motto „take it or leave it“. Das heißt:Solche Berichterstattergespräche können wir uns in Zu-kunft gerne sparen. Wenn man nur zum Befehlsempfangdaran teilnimmt, dann helfen solche Gespräche, zumin-dest was die Sache angeht, überhaupt nicht.Bei dieser Art der Beratung ist der Bundesregierungder Fehler unterlaufen, dass die Geltendmachung desVorkaufsrechts des Mieters nur schriftlich und nicht innotarieller Form zu erfolgen habe, Herr Kollege Wilhelm.Wenn man den Mieter schützen will, dann bedarf es abereiner notariellen Form. Es geht nicht darum, den Notareneine Gebühr von DM 83,50 zuzuschanzen – diese Gegen-standswerte sind überhaupt nicht interessant –;
vielmehr muss der Mieter durch die notarielle Form unddie damit verbundene notarielle Aufklärung vor voreili-gen Entscheidungen geschützt werden. Der Mieter kenntzwar seine Wohnung und kann sagen: „Mensch, die Woh-nung hier gefällt mir recht gut“, aber er kennt nicht dierechtlichen Belastungen, die mit dieser Wohnung in Zu-sammenhang stehen. Eine notarielle Aufklärung ist unbe-dingt notwendig.
Deswegen haben wir für die zweite Beratung einen Än-derungsantrag vorgelegt.Lassen Sie mich abschließend
sagen: Die F.D.P. wird diesen Gesetzentwurf ablehnen,weil der notwendige wirtschaftliche Sachverstand und diemarktwirtschaftliche Orientierung in dieses Gesetz nichteingeflossen sind. Wirtschaftliche und marktwirtschaftli-che Ausrichtung sind aber notwendig, weil mit diesemGesetz in einen wirtschaftlich wichtigen Zweig unsererVolkswirtschaft eingegriffen wird.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile der Kolle-
gin Christine Ostrowski, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Eines eint die Juristen aller Fraktio-nen auf jeden Fall: Sie sind allesamt begeisterte Redner.
Ich habe jetzt richtig Sorge, ob es mir gelingen wird, IhreAufmerksamkeit zu gewinnen.
Liebe Frau Fuchs, in meinem Wahlkreisbüro geht eszu wie in einer Außenstelle des Mieterbundes. Dorthinkommen Alte, Junge, Gutverdienende, Schlechtver-dienende, Arbeitslose und solche, die Arbeit haben, mitihrer Betriebskostenabrechnung oder ihrer Mieterhöhungund suchen Hilfe, weil sie nicht Mitglied des Mieterver-eins sind und ihnen daher dort nicht geholfen wird.
Ein Fall betrifft eine junge schwangere Frau, die ihreWohnung kündigt, in der sie nur ein Dreivierteljahr ge-wohnt hat. Der Vermieter verlangt die Renovierung die-serWohnung. Das steht ihm nicht zu. Sie weigert sich. Eskommt zu einem monatelangen Streit. Der Vermieter behältzunächst die Kaution und zahlt sie erst nach monatelangemStreit scheibchenweise bis zur Hälfte aus. Auf die andereHälfte wartet die junge Frau heute noch. Sie hat kein Geld,um sich einen Anwalt zu leisten und dies einzuklagen. Siehat auch keine Nerven.
Bei einer Postangestellten stellt sich erst bei der Ab-rechnung der Betriebskosten heraus, dass die Vorauszah-lungen deutlich zu niedrig angesetzt wurden. 800 DMmuss sie auf einen Schlag nachzahlen, was sie nicht kann.Sie bittet den Vermieter um Ratenzahlung und fordert einesofortige Erhöhung der Vorauszahlungen. Der Vermieter
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lehnt ab, verlangt von ihr eine Lohnabtretungserklärung,ansonsten will er kündigen. Dazu hat er kein Recht, aberer hat eine sichere Position.
Ein anderer Fall spielt auf Sylt, also ganz weit weg: DerBund ist der Vermieter der Wohnung. Er erhöht die Mietefür diese Wohnung unter Bezug auf drei Vergleichswoh-nungen. Die Mieten für die der Mieterhöhung zugrundeliegenden Vergleichswohnungen betragen bei Müllers10,96 DM, bei Meiers 12,16 DM, bei Schulzes 13,41 DMpro Quadratmeter. Dabei handelt es sich um neu vermie-tete Wohnungen mit hohen Mieten. Sie liegen noch nichteinmal in derselben Gemeinde, obwohl das laut Bundes-verfassungsgerichtsurteil sein muss.
Der Widerstand der Mieter – übrigens Angehörige derBundeswehr ohne üppiges Einkommen – hat keinen Er-folg. Der Bund bleibt stur.Ich habe diese Fälle genannt, weil ich der Meinung bin,dass selbst beim mieterfreundlichsten Mietrecht – bei-spielsweise wenn unsere Anträge durchkämen –Mieter ineiner schwächeren Position als Vermieter wären. Dies istErgebnis einer objektiven Betrachtung. Sie sind Einzel-kämpfer, Herr Funke, sie haben keine Rechtsabteilung ander Hand und müssen sich in der zuständigen Verwaltungnotfalls bis zum Geschäftsführer durcharbeiten. Vielfachfehlt ihnen das Geld und sie haben keine Nerven für einenRechtsstreit. Manchmal geben sie auch einfach klein bei,weil sie Angst haben.Da glauben Sie und manch andere, man brauche dasMietrecht nur zu liberalisieren und der Markt werde esschon richten. Herr Pofalla plustert sich hier auf und sagt,
das Mietrecht werde – was ganz grässlich sei – zuun-gunsten der Vermieter neu geregelt.
Ich sage Ihnen: Diese Mietrechtsreform stellt dasGleichgewicht annähernd wieder her.
Aber ich muss Ihnen auch sagen: nicht so richtig, sondernnur annähernd und lange nicht ausreichend.
Dass für Mieter künftig nur noch eine dreimonatigeKündigungsfrist gilt, freut uns natürlich sehr, denn derMieter muss flexibel, muss mobil sein. Das ist für unsüberhaupt keine Frage. Dass künftig die Miete innerhalbvon drei Jahren nicht mehr um 30 Prozent, sondern nurnoch um 20 Prozent steigen darf, ist ebenfalls gut.
Trotzdem darf man fragen, wo es sonst noch eine gesetz-lich sanktionierte Preiserhöhungsmöglichkeit in dieserHöhe für ein Produkt gibt, an dem kein Pinselstrich ge-macht werden muss. Jedes andere Produkt muss verbes-sert werden, wenn ein höherer Preis erzielt werden soll.Ausgerechnet bei Wohnungen soll das nicht gelten. Wirsagen deshalb: Mieten dürfen generell nur dann erhöhtwerden, wenn sich der Wohnwert der Wohnung verbes-sert hat, sonst nicht.
Will der Vermieter künftig die Miete erhöhen, kann ernach wie vor frei entscheiden, ob er den Mietspiegel, Ver-gleichswohnungen oder ein Gutachten zur Begründungheranzieht. Die neuen qualifizierten Mietspiegel sindletzten Endes für die Katz. Faule Tricks, wie sie der Bundauf Sylt – er sollte als Vermieter Vorbildfunktion haben –als Vermieter angewandt hat, sind auch weiterhin mög-lich. Solche Tricks würden nur unterbunden werden,wenn Mietspiegel wenigstens in Orten ab 50 000 Ein-wohnern verbindlich wären und wenn alle Mieten erfasstwürden, also nicht nur die Neuvermietungen und die Ver-änderungen der letzten Jahre. Genau das schlagen wir vor.
Wie der Begriff schon sagt: Ein Mietspiegel müsste ei-gentlich alle Mieten widerspiegeln. Das tut er natürlichnicht. Ehrlicherweise müssten Sie ihn umbenennen in bei-spielsweise Neuvermietungs-Mietspiegel. Das wäre derkorrekte Begriff.Ich komme zu dem leidigen Thema Betriebskosten:Kosten für Wasser, Hausmeister, Grundsteuer, Versiche-rung und Heizung. Wir erinnern uns an die Postange-stellte. Ihr Vermieter wollte die Vorauszahlungen nicht er-höhen. Sie kann dies aber künftig von sich aus tun. Das istin Ordnung; sie muss sich in diesem Punkt nicht mehr mitihrem Vermieter streiten.Ein anderes Beispiel. Der Vermieter hat die Wasserkos-ten bisher nach Quadratmetern abgerechnet. Bei gleicherWohnungsgröße hat die allein stehende Oma letzten En-des mehr zu zahlen als die Familie nebenan. Sind Was-seruhren vorhanden, muss jetzt nach Verbrauch abgerech-net werden. Das ist zweifellos gerechter, wenn auch nichtgerecht.Es gibt keine einzige Kostenart, deren Höhe aus-schließlich vom Mieter beeinflusst wird. Wasserpreis,Grundsteuer und Straßenreinigungsgebühr bestimmt im-mer noch die Kommune allein. Kosten für Gartenpflege,Aufzug und Versicherung werden immer noch vom Ver-mieter bestimmt. Selbst dort, wo der Mieter Mitverant-wortung trägt – beispielsweise beim Müll und bei der
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Christine Ostrowski15666
Heizung –, ist sein Einfluss letzten Endes kleiner als derder Gemeinde oder des Vermieters.Der Appell an den Vermieter, die Wirtschaftlichkeitzu beachten, reicht natürlich nicht aus; denn es ist ebennur ein Appell. Wir beantragen deshalb, nur die ver-brauchsabhängigen Kosten auf den Mieter umzulegen.Damit würde der Vermieter in seinem eigenen Interesseauf die Wirtschaftlichkeit achten. Im Moment jucken ihndie Kosten nur wenig.
Wird die Wohnung modernisiert, können auch weiter-hin 11 Prozent der Kosten auf die Miete umgelegt werden.Neulich kam ein Student zu mir, bei dem die Mieterhöhungnach Modernisierung 5,78 DM pro Quadratmeter betrug.Alle Formalien waren in Ordnung; die Miete lag immernoch in der Spanne, wenn auch am oberen Ende, derortsüblichen Vergleichsmiete. Man konnte diese Erhöhungalso nicht anfechten. Der Student musste ausziehen, weiler die Miete einfach nicht mehr bezahlen konnte.Zur Abschaffung dieser Umlage haben Sie sich nichtdurchgerungen,
ja nicht einmal zur Senkung der Modernisierungsumlage.Hinzu kommt, dass alle Investitionen zur Energieein-sparung künftig auch noch auf den Mieter umgelegt wer-den können. Mir wird schon ein bisschen schwummerig,wenn ich an die Energiesparverordnung denke: 2 Milli-onen alte Heizkessel müssen ausgetauscht werden. Daskostet und belastet die Mieter zusätzlich. Es darf bezwei-felt werden, ob die Einsparung die zusätzliche Belastungso ausgleicht, dass der Mieter einen Vorteil von dieserModernisierung hat.
Zurück zu der schwangeren Frau, von der der Vermie-ter die Renovierung der Wohnung verlangt hat. Das gehörtzu dem Bereich der Schönheitsreparaturen, einem dergrößten Streitpunkte im Mietrecht überhaupt. Es kann jawohl nicht wahr sein, dass man es versäumt hat, Regelun-gen zu schaffen, mit denen dieser große Streitpunkt ausdem Weg geräumt wird. Sie haben uns relativ hilflos er-klärt, eine Regelung sei zu schwierig und das Parlamentsolle Vorschläge machen. Bitte sehr, Sie können den Ballauffangen, den wir Ihnen jetzt zuwerfen. Wir schlagen vor:Ein Anspruch des Vermieters auf Schönheitsreparatur beiEnde des Mietverhältnisses besteht nur dann, wenn dieWohnung ehemals renoviert übergeben wurde.
Kosten für Kleinreparaturen kann der Mieter überneh-men, allerdings nur bis zu einer festen Grenze, die sich ander Jahresmiete orientiert.Insgesamt gibt es für Mieter keine Verschlechterungen;es gibt etliche Verbesserungen. Trotzdem kann ich mirnicht helfen: Ihre Reform kümmert vor sich hin, so wiealle Ihre Reformen vor sich hinkümmern.
Sie verschenken Möglichkeiten, indem Sie nicht all dasreformieren, was notwendig wäre. Deshalb werden wiruns bei der Abstimmung enthalten.
Ein Wort zu den Vermietern, die so sauer sind und dieHerr Pofalla – aus Ihrer Sicht zu Recht – in Schutz ge-nommen hat. Die Frage ist: Warum sind die Vermieter sosauer? Das Mietrecht ist so etwas wie die Petersilie auf ei-nem Gericht.
Ist das Essen verhunzt, nützt Ihnen auch die grünste Pe-tersilie nichts. Besonders für den Westen gilt: Eine aus-reichende Zahl von Wohnungen regelt die Miethöhe bes-ser als ein Gesetz und ist der beste Mieterschutz undKündigungsschutz.Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktio-nen, da hilft nun alles nichts: Sie haben seit der Regie-rungsübernahme die Bedingungen für den Mietwoh-nungsbau schlicht und ergreifend stetig verschlechtert.
Sie haben sich aus der Finanzierung zurückgezogen, siehaben sich von der direkten sowie der steuerlichen För-derung nahezu verabschiedet. Die Zahl neu gebauterWohnungen liegt mittlerweile unter der Ersatzrate.
Das, genau das ist es in erster Linie, Herr Pofalla, was denInvestoren zu schaffen macht, und zwar den kommunalen,genossenschaftlichen und privaten, und nicht zuallererstdas Mietrecht. Sie sind selber schuld, dass monatelangverbissen gestritten wurde, dass mal die Mieter- und maldie Vermieterseite an Ihnen herumzerrte
und dass weder Mieter noch Vermieter mit dieser heutevorgelegten Reform glücklich sind.
Was das verhunzte Essen anbelangt, kann ich Ihnen nurraten: Kochen Sie schnell ein neues, denn allein mit einemneuen Mietrecht schmeckt es nicht besser.
Ich erteile das Wort
Kollegin Margot von Renesse, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Es spricht zwar noch eine Juristin,
aber ich hoffe, es wird mir glücken, mit meiner Rede die-ser interessanten Debatte einigermaßen gerecht zu wer-den.
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Ich habe allerdings in der Tat einiges zu juristischenFragen zu sagen. Ich möchte mit einem Punkt anfangen,den wir alle gut finden, zumindest in den Berichterstatter-gesprächen wurde das von allen Fraktionen deutlich zumAusdruck gebracht – auch Herr Kollege Wilhelm hatschon darauf hingewiesen –: die neu aufgenommene Bar-rierefreiheit im Mietrecht. Auch wenn ich mich darüberfreue, dass jetzt alle nicken, möchte ich darauf hinweisen,dass es gar nicht so einfach war, diese umzusetzen,
weil nämlich eine Formulierung gefunden werdenmusste, die die Vermieter- und Mieterseite nicht schlech-ter stellte, als es in der Entscheidung des Bundes-verfassungsgerichts festgeschrieben worden war. Ichfinde, die Formulierung ist einigermaßen geglückt. DiePraxis wird zeigen, ob sie sich bewährt.Eigentlich hätten Sie, Herr Funke, diese Vorschriftauch zum sozialistischen Sumpf rechnen müssen.
Sie ermächtigt nämlich aufgrund der Sozialpflichtigkeitdes Eigentums zum Eingriff in die Substanz des Eigen-tums;
dieses geschieht, wie uns vom Verfassungsgericht be-stätigt wurde, zu Recht. Das heißt also, nicht alles, was so-zial ist, stammt aus dem sozialistischen Sumpf.
Bei der Herstellung einer sozialen Ausgewogenheit indiesem Gesetz spielte weder eine Rolle, dass man denVermieter für einen schlechten Kerl und für böse hält– das tun wir alle nicht –, noch, dass man den anderen füreinen armen Schlucker hält, der verzweifelt darum barmt,dass ihm ein bezahlbares Dach über dem Kopf zuteil wird.Das trifft nicht zu, das stimmt nicht in allen Fällen. Dasstimmt sogar in vielen Fällen nicht. Darüber sind wir unsdurchaus im Klaren. Sozial bedeutet gemeinschafts-dienlich.
Sozial bedeutet, die Gesichtspunkte, die typischerweisefür den einen oder den anderen von Bedeutung sind, zuberücksichtigen. So haben wir es bei den Behindertenmit Ihrer aller Einverständnis gemacht.Wie stellt sich denn die Situation beim Mieter undbeim Vermieter dar? Es ist nicht grundsätzlich wahr, dassder eine arm und der andere reich ist. Ich kenne Fälle, indenen alt gewordene Frauen sich im ehemaligen Famili-enheim eine kleine Wohnung ausgebaut haben und denRest des Hauses, weil sie ihre Rente aufbessern müssen,an ein kinderloses erwerbstätiges Paar vermieteten.
Die Fragestellung „reich oder arm“ spielt weiß Gott keineRolle bei den von uns eingebrachten sozialen Gesichts-punkten. Eines ist aber klar: Der Mieter ist durch die vonIhnen vorgenommenen Änderungen im Arbeitsförde-rungsrecht auf viel mehr Flexibilität als der Vermieter an-gewiesen.
Er hat in der Wohnung seinen Lebensmittelpunkt, den erjetzt, wenn gefordert, verlegen muss. Ich erinnere nur anunsere kurze Diskussion über die Vorstellungen der Op-position zum Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, die sieuns vor kurzem im Rechtsausschuss nahe bringen wollte.
– Ja, aus gutem Grund, aber der Flexibilität im Arbeits-verhältnis muss die Flexibilität im Mietrecht durchausentsprechen. Das eine kann nicht ohne das andere gehen,selbst die erreichte Flexibilität ist mit der nach wie vor be-stehenden Immobilität des Mieters nicht vereinbar.Das wird verfassungsrechtlich sicherlich geprüft wer-den. Ich sehe aber einer Entscheidung des Verfassungs-gerichtes außerordentlich gelassen entgegen, da ichglaube, dass es die Typisierung, dass erstens kürzereKündigungsfristen für den Mieter notwendig sind und erzweitens besseren Schutz vor einer vorzeitigen Kündi-gung braucht, Herr Pofalla, bestätigen wird. Ihn kostenjede Kündigung, jeder Umzug nämlich sowohl Zeit, Ner-ven als auch Geld.
Denn er hat die Umzugskosten. Er muss möglicherweiseGeld für den Kauf neuer Möbel und neuer Gardinen ein-setzen. Kein Mieter zieht gerne um; er tut es nur, wenn eres muss. Es kommt jedenfalls außerordentlich selten vor,dass er es gerne tut.Ich hätte mir in der Tat gewünscht, dass wir intensiverhätten über die Reform beraten können. Das Problem warnur, dass Sie von Anfang an klargemacht haben, dass Ih-nen an der Grundstruktur dieses Mietrechts nur Negativesauffiel.
Sie wollten dieses Mietrecht von der ersten Lesung annicht. Sie wollten sich gar nicht auf das einlassen, wasnach unserer Auffassung mit Ihnen hätte diskutiert wer-den müssen, wie weit nämlich die Gemeinschaftsdien-lichkeit typisierend geht. Wohlgemerkt: nicht der Miethaigegen den armen Schlucker. Aber die klassischen Span-nungsverhältnisse zwischen Mieter und Vermieter sindeben andere als die in anderen Dauerschuldverhältnissen;denn hier geht es um Grundrechte und Existenzen.Ich denke, wir werden dem Verfassungsgerichtsurteilmit großer Ruhe entgegensehen können; denn nach derEntscheidung des Verfassungsgerichts zur Barrierefrei-heit bzw. zum Mieterschutz bei Eintritt von Behinderun-gen habe ich keine Bedenken, dass die Frage der Ge-meinschaftsdienlichkeit beim Verfassungsgericht in denallerbesten Händen ist.
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Margot von Renesse15668
Wir hätten wirklich besser und länger beraten können.Aber, Herr Funke, Sie waren es, der in den Berichter-stattergesprächen gleich mit bohrenden Fragen festge-stellt hat, wo die Koalition lange verhandelt hat und wosie sich entschieden hat. Wenn ich mich richtig erinnere,haben Sie fast wörtlich gesagt: Das kennen wir doch ausunserer Zeit, dass dann mehr oder minder alles fest-gefahren ist.
– Das waren Ihre Erfahrungen, die Sie damals zitierten.Damit fingen die Berichterstattergespräche gleich an.
Wir hätten sicherlich das eine oder andere Interessantevon Ihnen hören können. Gerade bei der Frage der Sprei-zung der Kündigungsfristen hätten Sie vielleicht einenEinwand bringen können,
den ich jetzt an Ihrer Stelle bringe. Dabei geht es nicht umdie Grundsatzfrage; da gelten die Argumente von gerade.
Aber hätten Sie nicht vielleicht sagen können, dass daszum Beispiel für die Zweitwohnung oder für die Dritt-wohnung so nicht gelten müsste? Das wäre doch einF.D.P.-Argument gewesen; aber das ist nicht gekommen.Ich bringe es, nachdem ich mir überlegt habe, was Sieheute vielleicht einwenden könnten.
Darüber hätte man nachdenken können. Sicherlichwird das eine oder andere von der Rechtsprechung nochgeglättet werden müssen. Ich glaube, dass die Rechtspre-chung damit klarkommt.Was die Schönheitsreparaturen angeht, Frau Kolle-gin Ostrowski: Kein Mensch – mein Kollege Manzewskihat darauf hingewiesen –, kein Praktiker und kein Jurist– wenn man die nicht unter die Praktiker rechnen muss –noch irgendjemand anders, ein Verband oder ein Kollege,hat eine handhabbare Vorstellung dazu gebracht, die nichtneue Probleme und vor allem neue rechtliche Auseinan-dersetzungen gebracht hätte. Ein soziales Mietrecht muss,jedenfalls in Grenzen, ein klares sein; sonst ist es nicht so-zial. Es gibt Leute, die Wohnungen vermieten könnten,dies aber nicht tun, weil sie Sorge haben, immer mit ei-nem Bein beim Anwalt zu stehen – vielleicht besser dortals bei manchen Bundestagsabgeordneten, die über Pro-zesskostenhilfe nicht Bescheid wissen.
Aber ich denke, auf diese Weise haben wir etwas mehrKlarheit gebracht. Mich erinnert die Debatte über dieSchönheitsreparaturen an die Debatte über das Wohl desKindes. Auch dabei ist ständig darüber diskutiert worden,wie man das fassen kann. Im Ergebnis schwankt man zwi-schen einer Generalklausel, die neue gerichtliche Pro-bleme aufwirft, und einer Kasuistik, die angesichts desWandels der Wohngewohnheiten kaum die Zeit von ei-nem Jahr überleben kann. Deswegen haben wir davon ab-gesehen und es bei der Grundregel gelassen, dass fürSchönheitsreparaturen im Prinzip der Vermieter zuständigist, es sei denn, er vereinbart etwas anderes.Es gibt kein Recht, das dieses Parlament verabschiedenwird, das in der Rechtsprechung nicht noch geschliffen undder Praxis angepasst werden müsste. Das ist sogar demBGB widerfahren, das einen Vorlauf von 20 Jahren hatteund ein glänzendes Gesetz ist, aber dadurch gekennzeichnetwar, dass sofort, als es erschien, die positive Forderungs-verletzung als eine der großen Lücken bekannt wurde.Ich denke, dass wir die Möglichkeit genutzt haben, einbesseres Mietrecht zu schaffen. Ob es ein gutes ist – wirhoffen es; die Praxis wird es zeigen.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Dietmar Kansy, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsi-dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damenund Herren! Als Nichtjurist, Frau Kollegin von Renesse– eigentlich war jetzt Herr Kollege Spanier an der Reihe;aber eine kleine Verwechselung dieser Art kann ja vor-kommen –, möchte ich Ihnen empfehlen, sich einmal vonIhrem Kollegen Spanier berichten zu lassen – wir kom-men beide gerade von einer GdW-Tagung –, warum Mie-ter heutzutage auch umziehen. Lassen Sie sich einmal vonFachleuten das Wort „Mieterhopping“ erklären, ein Phä-nomen, das es nicht nur bei dicken Kapitalisten, sondernauch bei mancher Wohnungsbaugenossenschaft gibt, derinzwischen das Wasser bis zum Hals steht. Ich empfehleIhnen, nicht ganz so lax Ihre aus der Vergangenheit stam-menden Vorstellungen zu äußern.
Frau Kollegin Ostrowski, dass Sie über Wohnungsbau– auch über Petersilie, meinetwegen auch über andereDinge – munter reden können, haben Sie im Ausschussund auf mancher gemeinsamen Podiumsdiskussion be-wiesen.
Aber eines können Sie uns damit nicht vergessen machen– und das müssen Sie sich auch im Jahr 2001 anhören –:Was Sie uns mit Ihren Rezepten vor über zehn Jahren hierhinterlassen haben, waren 20 Prozent verfallene Wohnun-gen, kaputte Städte und lange Warteschlangen vor denWohnungsämtern. Deswegen vielen Dank für Ihre Re-zepte in der Wohnungspolitik!
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Margot von Renesse15669
– Ja, das tut weh. Ein geübter Redner merkt immer, wenner getroffen hat. Einfacher können Sie es mir eigentlichnicht machen.
– Sie können ja einmal nach Erfurt gehen, Frau KolleginGleicke, wenn Sie das nicht mehr in Erinnerung haben.
– Das gehört wohl zur Sache, wenn Sie hier Ihre Rezeptevortragen.Meine Damen und Herren, das Mietrecht ist ein zen-trales Instrument der Wohnungspolitik, ob man es willoder nicht, ob man es als ordnungspolitisches Instrumentablehnt oder ob man es zum Bestandteil der sozialen Ab-sicherung macht. Das ist auch ganz einleuchtend, denndas Mietrecht – das haben wir alle schon zigmal bespro-chen – trägt nicht nur zum Ausgleich zwischen Mieter undVermieter bei, sondern es ist auch ein Signal des Staatesan Investoren, ob sich Privatinvestitionen in den Miet-wohnungsbau lohnen oder nicht.
Deshalb brauchen wir uns darüber gar nicht zu streiten.Wir müssen als Abgeordnete damit leben, dass die Woh-nung ein sehr ambivalentes Gut, ein Gut mit vielen Seitenund Sichten ist. Es ist ein hohes soziales Gut, der Mit-telpunkt unseres Lebens – manche, die etwas kräftigerformulieren, nennen es sogar die dritte Haut des Men-schen –, aber es ist in unserer marktwirtschaftlich gepräg-ten Gesellschaft auch das teuerste und langlebigste Inves-titionsgut überhaupt. Was nützt uns eine noch so sozialeMietpreisbindung und -deckelung, wenn überhaupt keineWohnungen mehr gebaut werden? Das ist die andere Seiteder Medaille.
Herr Kollege Pofalla hat schon zu Recht gesagt, dassdies die Richtschnur der Regierung Kohl war, womit wirseinerzeit mehr als erfolgreich waren. Der beste Mieter-schutz ist ausreichender Wohnraum.
Am Ende unserer Regierungszeit gab es eben beides: ei-nen ausgeglichenen Wohnungsmarkt und einen histo-rischen Tiefstand bei den Mietindexsteigerungen. Siebetrugen 1,1 Prozent; dies war die niedrigste Steigerungs-rate, solange solche Daten überhaupt festgestellt werden.Das haben wir mit einer Politik des Ausgleichs, einer Po-litik der Mitte erreicht.
Daher muss ich Ihnen, meine Damen und Herren, nocheinmal die Frage stellen, welches Signal von Ihrem Ge-setzentwurf jetzt in Richtung Wohnungsbau ausgeht.
Ist es vielleicht nur aus unserer Sicht falsch – man kannsich ja im Leben irren –, ist es Teil eines generellen Kon-zeptes, das wir nur nicht erkannt haben?
Die erste Hälfte dieser Legislaturperiode, meine Kol-leginnen und Kollegen von der Koalition, haben Sie lei-der damit verbracht, ständig Ihren Bauminister auszu-wechseln, weswegen es praktisch kein koordiniertesHandeln zwischen den einzelnen Ressorts und keine Ge-samtlinie mehr gab. Herr Bauminister Bodewig ist heutenicht da, weil er krank ist. Wir wünschen ihm gute Besse-rung; Herr Staatssekretär, geben Sie ihm das bitte weiter.Die Fachwelt ist sich hinsichtlich der ersten Hälfte die-ser Legislaturperiode allerdings überraschend einig: DerWohnungsbauminister fährt den sozialen Wohnungsbauherunter. Gut, man kann sagen, er verfolgt eine andere Li-nie. Der Finanzminister verschlechtert im frei finanzier-ten Wohnungsbau Schlag auf Schlag die Investitionsbe-dingungen. Heute basteln Sie schon wieder mit IhrenGenossinnen und Genossen im Lande draußen daran, wieSie durch Erhöhung der Erbschaftsteuer das nächsteSchräubchen drehen könnten. Das ist ja gerade wieder injeder Zeitung zu lesen.Es scheint, als wirkt neuerdings auch der Bundes-arbeitsminister an der Wohnungsbaupolitik mit, und zwaroffensichtlich völlig unkoordiniert. Ausgerechnet dasLieblingskind unserer Bürgerinnen und Bürger – wir alsAbgeordnete dieses Hauses haben dies zur Kenntnis zunehmen –, das selbst genutzte Wohneigentum, wird in sei-ner Reform zum Aufbau einer zusätzlichen kapital-gedeckten Altersvorsorge mit einer Luftnummer bedient,über die die ganze Welt nur lacht und die de facto dasWohnungseigentum in einer ganz entscheidenden Situa-tion schwächt.
– Ja, Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, das ist so.
Da müssen Sie doch verstehen, dass man Fragen stellt,und zwar nicht nur wir, sondern auch mancher skeptischeZeitgenosse, der immer noch hofft und sich fragt, ob dajetzt noch etwas anderes kommt. Der soziale Wohnungs-bau wird reduziert, ebenso der frei finanzierte Wohnungs-bau und die Eigenheimförderung. Er hat vielleicht ge-glaubt, jetzt werde das Mietrecht geändert und damit einrichtiges Signal für Investitionen gegeben, womit wir ineiner Zeit knapper Kassen, die wir selbstverständlich indiesem Land haben, vielleicht auf andere, elegantere,marktwirtschaftliche, Weise etwas für den Wohnungsbautun könnten. Nein, genau das Gegenteil ist der Fall.Deswegen lassen Sie mich angesichts der Tatsache,dass wir über das Sozialgut Wohnung heute schon ausrei-chend gesprochen haben, doch noch einige Worte zum In-
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Dr.-Ing. Dietmar Kansy15670
vestitionsgut Wohnung sagen. Die CDU/CSU plädiertkeineswegs einseitig für Investoren und Vermieter. Dortsitzen Ihre Kronzeugen von der F.D.P., die Regierungs-partner der letzten Legislaturperioden.
Es ist ja wahr, was Sie uns vorhin gesagt haben. Wirhaben uns damals als CDU/CSU verweigert, eine Miet-rechtsvereinfachung dazu zu nutzen, das Mietrecht zulas-ten der Mieter zu verschieben, Frau Eichstädt-Bohlig.Und wir werden uns heute verweigern – weil wir weiterdie Partei der Mitte sind –, das Mietrecht jetzt unter dem-selben Mäntelchen zulasten der Vermieter zu verschie-ben.
Das ist unsere Linie in dieser Diskussion. Deswegen gibtes keine Möglichkeit einer Zustimmung zu diesem Ge-setz.
Trotz all Ihrer Beteuerungen: Ihr Entwurf ist nicht aus-gewogen, denn die Schwachpunkte sind doch offensicht-lich: eine reduzierte Kappungsgrenze, ein Mietspiegelmöglichst ohne Beteiligung der Vermieter im Ernstfall,nämlich beim qualifizierten Mietspiegel
– selbstverständlich, was ist denn das anderes –, asym-metrische Kündigungsfristen, Verdoppelung der Schon-frist für Mieter, die mit ihren Mietzahlungen im Rück-stand sind, Wegfall der erleichterten Kündigung beimDreifamilienhaus. Das ist ein Vertrauensbruch gegenüberallen, die wir damals ermuntert haben, zusätzliche Woh-nungen zu bauen, als wir sie dringend brauchten. Vielesandere wäre noch zu nennen. Da können Sie doch nichtsagen, das sei ausgewogen zwischen Mietern und Ver-mietern.
Nein, Ihr rot-grüner Faden ist eindeutig. Es ist eineGesetzesverschlechterung zulasten der Vermieter, zulas-ten der Investitionen.
Sie brauchen sich doch nur die Entwicklung der letztenTage anzusehen. Die Diskussion, wir hätten ja genügendWohnungen, ist oberflächlich.
– Sie sind ein wirklich anerkannter Wohnungsexperte imUniversum; das wird Ihnen jeder bescheinigen. – Wir ha-ben eine weitere Zunahme der Zahl der Haushalte in dennächsten 15 Jahren zu erwarten. Das hat gestern geradedie Beratung der Raumordnungs- und Wohnungspro-gnose in unserem Fachausschuss ergeben. Wir benötigteneigentlich eine Ersatzbaurate von 380 000 Wohnungenpro Jahr. Wir unterschreiten sie schon heute.Gleichzeitig springt eine mittelständische Firma nachder anderen über die Klinge; denn es ist ja nicht alles indiesem Lande Philipp Holzmann.
Im Bauhauptgewerbe haben wir in den letzten zwei Jah-ren unter Ihrer Regierung 100 000 Arbeitsplätze verloren.50 000 weitere Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel. HerrWiesehügel schreibt dauernd schlaue Papiere, aber es pas-siert nichts bei den Kolleginnen und Kollegen der rot-grü-nen Koalition.
Deswegen, meine Damen und Herren, kehren Siezurück zu unserer erfolgreichen Linie im Wohnungs-bau!
Sie lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen: Aus-reichend Wohnraum ist der beste Mieterschutz in diesemLande.Vielen Dank.
Ich erteile das Wortder Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig, Bündnis 90/DieGrünen.
legen! Wenn ich den Kollegen Kansy richtig verstandenhabe, möchte er für Ostdeutschland das Mietrecht ganzabschaffen; denn die Wohnungsmärkte sind gnadenlosentspannt. Wenn ich den Kollegen Pofalla richtig ver-stehe, wünscht er das Mietrecht als Eier legende Woll-milchsau, als eine Art Verwertungsgarantie für Eigentü-mer nach dem Motto: Die Eigentümer sind immer dieGuten, die Mieter sind immer die Bösen.
Wenn ich die Kollegin Ostrowski recht verstehe, möchtesie das, was uns Herr Pofalla vorwirft, nämlich das sozia-listische Pflichtprogramm: jedes Jahr ein Stück Mieten-senkung, bis wir wieder auf dem ostdeutschen 60-Pfen-nig-Niveau sind. Sie möchte, dass wir das Mottozelebrieren: Die Mieter sind immer die Guten, die Ei-gentümer sind immer die Bösen.
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Dr.-Ing. Dietmar Kansy15671
Ich habe angenommen, wir seien aus dem Alter heraus,ständig das Mietrecht für etwas zu instrumentalisieren, fürdas es eigentlich nicht da ist.
Nach meinem Verständnis soll das Mietrecht einem fairenInteressenausgleich dienen.
Aber weil die Interessen, Herr Kollege Funke, sehr unter-schiedlich sind – das haben einige meiner Vorredner, auchKollege Kansy, auch so dargestellt –, müssen wir mit die-sem Interessenausgleich sehr achtsam umgehen. Deswe-gen haben wir uns von der Koalition große Mühe gegebenund lange und intensiv um die einzelnen Positionen undihre Bedeutung für diesen Interessenausgleich gerungen.Dies ist meiner Meinung nach gut gelungen.
Wie bei einigen vorhergehenden Diskussionen mit derWohnungswirtschaft habe ich auch heute das Gefühl, alswerde immer wieder ein alter Film abgespielt, als müss-ten wir um das Mietrecht erneut alte Schlachten führen.Wir sind aber in einer anderen Situation. Die wohnungs-wirtschaftliche Situation von heute bedeutet nicht ein-fach entspannte Märkte, Kollege Kansy, sondern sie istsehr unterschiedlich in München, in Frankfurt, in Hanno-ver, wo wir auch schon Wohnungsleerstand zu verzeich-nen haben, und in Ostdeutschland, wo es großen Leer-stand gibt. Aber nicht 30 Prozent, Herr Kollege Pofalla,sondern 13 Prozent. Wir sollten hier nicht überdramati-sieren.
Insofern möchte ich die Eigentümerseite bitten, vomMietrecht nicht da Lösungen zu erwarten, wo das Miet-recht diese nicht bringt. In München brauchen wir deut-lich den Mieterschutz, den wir mit diesem Mietrecht denMietern bieten.
In Leipzig brauchen wir Mieterschutz, auch bei entspann-ten Wohnungsmärkten.
Aber ich rate jedem Eigentümer in Leipzig, mit seinenMietern freundlich, positiv und konstruktiv umzugehen,ganz gleich, was im Mietrecht steht.
Dies ist sein ureigenstes Interesse, denn er braucht dieMieter, wenn er seine Wohnungen vernünftig bewirt-schaften will.
Ich möchte noch einmal deutlich sagen: Die Problemeder Eigentümer liegen heute nicht im Mietrecht. Sie lie-gen darin, dass in ganz neuer Form Konkurrenz zwischenWohnungsbeständen und Wohnungsneubau, zwischenstädtischen Wohnungen und Umlandwohnungen, zwi-schen Mietwohnungen und Eigentumswohnungen usw.herrscht. Ich erwarte von den Eigentümern, dass sie sichdiesen Aufgaben stellen und nicht ständig über das Miet-recht lamentieren, wodurch die Probleme, die heute fürsie Aufgaben und Herausforderung darstellen, nichtgelöst werden.
Das sind die Probleme der Stadterneuerung, der Woh-nungserneuerung, der Wohnumfeldgestaltung. Sie solltenlieber die 11 Prozent Modernisierungsumlage, die keinervon Ihnen erwähnt hat, die wir aber den Eigentümern be-lassen, aktiv nutzen und ihre Bestände so modernisieren,dass die Mieter ein Interesse an ihren Wohnungen haben.
Lassen Sie mich noch ein paar konkrete Punkte an-sprechen. Über die Forderung nach Verwertungskündi-gung Ost im Mietrecht haben wir sehr intensiv diskutiert.Gerade wir von der Koalition sind in hohem Maße daraninteressiert, dass der Wohnungswirtschaft in Ostdeutsch-land bei der Lösung der Probleme geholfen wird, die siemit dem Leerstand hat und die ihr im Zusammenhang mitdem Stadtumbau bevorsteht, der noch sehr kompliziertwird und der uns hier lange Jahre beschäftigen wird. Ichwarne aber davor, die Verwertungskündigung als Instru-ment zur Lösung dieser Probleme in das normale Miet-recht aufzunehmen.
Mit dieser pauschalen Mietrechtsformel hätten wireine Art Kriegserklärung in den Osten getragen.
Deswegen haben wir uns gemeinsam dagegengestellt.Wir hätten auch den Eigentümern überhaupt nicht ge-nutzt. Denn sie hätten die Mieter noch mehr verschrecktund die Mieter hätten noch schneller das Weite gesuchtund sich umorientiert. So wäre man zu keiner Lösung ge-kommen.
Von daher werbe ich dafür, dass die ostdeutschenStädte das Sanierungsrecht auf diese Fälle anwenden undaktiv nutzen. Da gibt es klare Regelungen, die auch Mie-terumsetzungen, Entmietungen, Entschädigungen usw.vorsehen. Das sollte man nutzen. Ich bin gern bereit zuprüfen, ob bestimmte Vereinfachungen auf bundesgesetz-licher Ebene erforderlich sind. Aber bitte keine simpleFormel mit Verwertungskündigungen und kein Ex-und-hopp-Umgang mit den Mietern! So darf es eindeutig nichtsein.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001
Franziska Eichstädt-Bohlig15672
Für den neuen § 554 a zum barrierefreien Wohnenhaben sich Frau Kollegin von Renesse und ich in beson-derem Maße engagiert. Auch hier geht es uns nicht darum,ein sozialistisches Programm durchzusetzen. Frau Kolle-gin, Sie haben das eben schon sehr schön dargestellt. Esgeht uns darum, ein klares Signal an beide Seiten, an dieMieter- und die Vermieterseite, zu setzen. Deswegen wares uns wichtig, diese Regelung direkt in das Gesetz zuschreiben und nicht die Rechtsprechung und verfassungs-gerichtliche Entscheidungen als Grundlagen zu nehmen.Unsere Gesellschaft wird älter; Menschen wollen län-ger in selbstbestimmter Weise in ihren Wohnungen leben.Deswegen werben wir mit diesem Paragraphen dafür,dass sich Mieter und Vermieter ruhig und möglichst streit-frei einigen, was in einer Wohnung und gegebenenfallsauch beim Zugang zur Wohnung gemacht werden muss,damit diese Wohnung barrierefrei wird und möglichstlange in würdiger und guter Form genutzt werden kann.Nehmen Sie das nicht in Ihren Katalog angeblich vermie-terunfreundlicher und böser Regelungen auf! Nehmen Siedas so konstruktiv und positiv, wie es gemeint und gewolltist! Ich hoffe sehr, dass beide Seiten damit umgehen kön-nen.
Für eine Lösung des Problems der Schönheitsrepara-turen hat sich unsere Fraktion vom ersten Tage an einge-setzt. Aber es ist, wie Kollege Manzewski vorhin gesagthat, eine Bankrotterklärung der Juristen,
dass keiner von ihnen in der Lage gewesen ist, einenPassus zu formulieren, der einerseits den gegenwärtigenRechtsstatus in keiner Richtung verschlechtert – daranwaren wir interessiert –, weder in Vermieter- noch inMieterrichtung, und der andererseits praktikabel und an-wendbar ist. Da mussten wir schließlich klein beigeben.Denn ich als gelernte Architektin kann das beim bestenWillen nicht formulieren. Ich wiederhole, was Sie, HerrManzewski, vorhin gesagt haben: Sobald uns dieser Para-graph geboten wird, werden wir ihn sehr sorgfältig prü-fen. Wir wären sicher bereit, ihn einzufügen. Wir würdenuns besonders freuen, wenn der Mietgerichtstag da einmalin Klausur ginge und uns etwas Machbares böte. Dannwürden wir das – vielleicht sogar fraktionsübergreifend –auf den Weg bringen.
Auch bei der Kündigungsbeschränkung bei Um-wandlung in Eigentumswohnungen sprechen die Ei-gentümer von den „Bösen von Rot-Grün“. Im Regie-rungsentwurf ist die Regelung enthalten – die auch in derBeschlussempfehlung geblieben ist und heute von uns soverabschiedet wird –, dass die Länder den Mieterschutzauf bis zu zehn Jahre ausweiten können, wenn sie derMeinung sind, dass in bestimmten Städten und Regionenbesonderer Wohnungsbedarf besteht. Bisher galten dreiJahre per se und entweder fünf oder zehn Jahre qua Län-derbeschluss. Das haben wir so gelassen.Was wir nach den Beratungen zwischen den Koalitions-fraktionen herausgenommen haben, war, dass in dieserZwischenzeit eine Ersatzwohnung mit vergleichbarenBedingungen wie die gegenwärtige Wohnung zur Verfü-gung gestellt wird. Wir haben das insbesondere deswegengetan, weil zumindest ich und auch andere Kollegen derMeinung sind: Wenn wir diesen Passus im Gesetzentwurfbelassen hätten, hätten Mieter und Vermieter genau in derZwischenzeit, in den drei, sieben oder auch zehn Jahren,überhaupt keinen Frieden mehr gefunden und sich ständigum die Angemessenheit einer Ersatzwohnung gestritten.
Deswegen sind wir der Auffassung: In der verbleiben-den Zwischenzeit, in der die beiden Parteien miteinanderumgehen müssen, sollen Ruhe und Frieden herrschen undder Mieter soll wissen, dass er in diesem Zeitraum, abernicht länger, in der Wohnung bleiben kann. Von daher ha-ben wir uns dazu entschlossen, die Ersatzwohnung ausdem Gesetzentwurf herauszunehmen.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,Sie werfen uns immer wieder vor, das Mietrecht sei nichtausgewogen und zu einseitig. Ich behaupte nach wie vor:Das stimmt nicht. Wir haben für das Ziel der Ausgewo-genheit sehr engagiert gearbeitet. Aber ausgewogen heißteben nicht einseitig in Richtung Vermieter. Ausgewogenheißt an dieser Stelle vielmehr, dass das Sozialgut Woh-nung einen besonderen Schutz benötigt, weil es nun ein-mal ein unabdingbares Gut ist.Von daher wünsche ich mir ganz schlicht eines, näm-lich dass Sie spätestens dann, wenn wir über diesen Ge-setzentwurf abgestimmt haben, Ihr etwas angerostetesKriegsbeil endlich wieder eingraben. Jede frühere Miet-rechtsdebatte verlief doch in folgender Art und Weise:Morgen bricht die Welt zusammen, Vermieter und Mieterwerden sich wie Streithähne einander gegenüberstehenund alles wird ganz schlimm werden.
Tatsache ist, dass das bisherige Mietrecht von beidenSeiten und von den jeweiligen Rechtsberatern sehr kon-struktiv angewandt worden ist.
Letzteren, den vielen Juristen – ich bin sonst nicht sehr ju-ristenfreundlich –
– nehmen Sie es heute einmal so hin –, die sich immerwieder engagiert haben und mit diesem kompliziertenRecht sehr konstruktiv umgegangen sind, möchte ich andieser Stelle ein großes Kompliment machen und ein Dan-keschön sagen. Ich glaube, diesen wird die Vereinfa-chung, die wir jetzt mit dieser Mietrechtsreform errei-chen, gut tun. Sie werden es so anwenden, dass es inunserer Gesellschaft streitreduzierend wirkt und dasKriegsbeil nicht mehr benötigt wird. In diesem Sinne
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Franziska Eichstädt-Bohlig15673
wünsche ich allen Beteiligten etwas mehr Friedlichkeitund Milde.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Wolfgang Spanier, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen! Liebe Kollegen! Lassen Sie mich zwei Vorbe-merkungen machen. Zum einen möchte ich mich an HerrnPofalla wenden, sozusagen als Altlinker an den Jungrech-ten.
Sie haben uns vorhin unterstellt, dass wir die Oppositionabschaffen wollen. Ich kann Sie wirklich beruhigen: Wirsind froh, dass Sie Opposition sind. Wir sind Ihnen dank-bar, dass Sie die von der Verfassung vorgegebene Oppo-sitionsrolle übernommen haben, und wir sind ganz sicher,dass Sie in der Opposition bleiben werden. Von daher istdie Unterstellung, wir wollten Sie abschaffen, keineswegsgerechtfertigt. Ganz im Gegenteil!
Zum anderen möchte ich auf Frau Ostrowski eingehen.Sie haben hier eine interessante Wendung vorgetragen.Ausgerechnet die PDS – auch mich hat das etwas er-schüttert – redet verstärkten Steuersubventionen für dieWirtschaft, in diesem Fall für die Wohnungswirtschaft,das Wort.
– Sie haben doch die Verschlechterung der Rahmenbe-dingungen gefordert. Also ist doch der Rückschluss rich-tig, dass Sie hier die alten umfassenden und üppigen Steu-ersubventionen wieder aufleben lassen wollen.
Ich kann ja verstehen, dass Sie von der PDS sich bei derSchlussabstimmung nur enthalten. Wir haben es bemerkt:Das ist eine verschämte Zustimmung. Das ist so in Ord-nung.
Frau Eichstädt-Bohlig hat Recht: Man hat wirklich denEindruck, als ob im Rahmen der öffentlichen Debatte überdie Mietrechtsreform alte Filme abgespult wurden. Des-wegen habe ich einmal die Bundestagsprotokolle von1974 nachgelesen, aus dem Jahr, als gefordert wurde, manbrauche eine umfassende Mietrechtsreform. Auch da-mals, als es darum ging, den Mieterschutz zum erstenMal als Dauerrecht einzuführen – das war nämlich vorhernicht der Fall –, sind die Haus- und GrundeigentümerSturm gelaufen und haben, als hätten sie Ihre Pressemit-teilungen gelesen, kritisiert, dies sei investitionsfeindlich,da die Investitionen in die Wohnungswirtschaft torpediertwürden. Das stimmt einen schon nachdenklich. Sobaldman in diesem Land in irgendeiner Weise den sozialenSchutz der Mieterinnen und Mieter stärken oder auch nurerhalten will, wird sofort das Geschrei, das sei investi-tionsfeindlich, erhoben. Ich glaube, das relativiert schondiesen Vorwurf.
Damals hat übrigens der Bundesjustizminister,Hans-Jochen Vogel, erklärt:Mietrecht, das ist nichts Abstraktes, Theoretisches,das ist Interessenausgleich in einem zentralen Le-bensbereich. Schließlich ist ja die Wohnung keineWare, sondern der Lebensmittelpunkt für den Ein-zelnen und die Familie, der Ort, an dem er Schutz undGeborgenheit sucht.
Jede rechtliche Regelung dieses Bereichs muss sichdaher in besonderem Maße an den Grundprinzipienunserer Verfassung orientieren. Sie muss sicherlichdie vom Grundgesetz geschützte Institution des Ei-gentums respektieren. Sie muss aber nicht mindermit der Sozialbindung des Eigentums Ernst machenund das Recht des Mieters auf freie, ungestörte Ent-faltung beachten.
In dieser Kontinuität steht die Bundesjustizministerin,Herta Däubler-Gmelin. In dieser Kontinuität stehen auchdie Koalitionsfraktionen. Es ist schon erstaunlich: Damalshat die F.D.P. diese Positionen unterstützt. Was ist aus Ih-nen in diesen 26 Jahren geworden? Das ist ein Trauer-spiel!
Hinsichtlich der alten Kohl-Regierung – es ist höchstinteressant, wenn man ihre Pressemitteilungen liest – hatHerr Dr. Kansy mit der gebotenen Schärfe und Härte fest-gestellt: Sie ist gescheitert an der Mietrechtsreform, undzwar in erster Linie an den Extrempositionen der F.D.P.
– Ich zitiere nur meinen werten Kollegen, den wohnungs-politischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion.Auch zu dem Entwurf, den die F.D.P. heute vorlegt,sagt er: „Das ist wiederum eine Extrempositionierung zu-lasten der Mieter und hat nicht den Hauch einer Mehr-heitschance.“
So deftig würde ich mich als Ostwestfale nicht aus-drücken. Er sagt aber: „Das ist nicht anderes als Klien-telshow.“ Recht hat er. Deswegen will ich über Ihren Ge-setzentwurf auch keine weiteren Worte verlieren.
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Franziska Eichstädt-Bohlig15674
Zur CDU/CSU: Man kann selbstverständlich über dasVerfahren reden. Das ist heute Morgen wieder in der über-flüssigen Ausführlichkeit geschehen. Es hat eine breite öf-fentliche, gesellschaftliche Debatte zum Mietrecht gege-ben. Nur, von der CDU/CSU kam nichts, praktisch keinekonkreten Vorschläge, nur ein kurzes, knappes Papier-chen im letzten Moment; das war alles.
Die Legende, die sie wiederum verbreiten – Stichwort:alter Film; dieses Gesetz sei investitionsfeindlich; HerrPofalla hat das hier mit warmen Worten noch einmal ver-breitet –, ist bei nüchterner Betrachtung schlicht und ein-fach falsch. Wir haben in einem ganz wichtigen Punkt diewirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Wohnungs-wirtschaft erhalten, nämlich bei der Modernisierungs-umlage, die weiterhin bei 11 Prozent bleibt. Ich füge per-sönlich hinzu: bei allen Bedenken, die wir gegen diesesSystem der Mieterhöhung haben.Außerdem haben wir die Kappungsgrenze gesenkt.Es ist von Herrn Manzewski und anderen deutlich ge-macht worden, dass auch hier der Vorwurf, das sei investi-tionsfeindlich, überhaupt nicht zutrifft. Wir haben ebenkeinen entspannten Wohnungsmarkt im preiswerten Seg-ment. Wir müssen die Mieterinnen und Mieter vor über-zogenen Mieterhöhungen schützen. Ich denke, da habenwir ein Stück soziale Verantwortung. Deswegen ist esrichtig, dass wir die Kappungsgrenze auf 20 Prozent ge-senkt haben.
Das Mietrecht enthält einen großen Schritt der Moder-nisierung. Wichtigster Punkt ist dabei die Kündigungs-frist. Auch hier kommen wieder Ihre Klagen, das seigegen die Interessen der Vermieter gerichtet, das sei wie-derum investitionsfeindlich. Das fällt in sich zusammenwie ein Kartenhaus.
Der GdW hat in seinem Mustervertrag die dreimonatigegenerelle Kündigungsfrist für die Mieterseite, genausowie wir sie jetzt ins Gesetz schreiben. Was der GdW nichtvorsieht, ist der Verzicht auf eine Kündigungsfrist vonzwölf Monaten. Diese räumen wir allerdings dem Ver-mieter ein. Ich glaube daher, dass diese Regelung derKündigungsfristen, die in der parlamentarischen Bera-tung entstanden ist, genau die richtige Maßnahme ist, umdem gesellschaftlichen Wandel und den Veränderungenauf dem Arbeitsmarkt endlich Rechnung zu tragen.
Kollege Spanier, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Braun,
F.D.P.-Fraktion?
Ja.
Herr Kol-
lege Spanier, Sie erinnern sich doch sicherlich noch an die
Jahre 1981 und 1982, als – zunächst noch durch eine so-
zial-liberale Koalition und dann durch die neue schwarz-
gelbe Koalition – die Kappungsgrenze von damals
30 Prozent überhaupt erst eingeführt wurde. Ist Ihnen er-
innerlich, dass sich in der Zwischenzeit diese Kap-
pungsgrenze, die eigentlich zum Schutz der Mieter ge-
dacht war, im Denken von Vermietern und Mietern mit der
Folge verselbstständigt hat, dass sie eine Mieterhöhung
um 30 Prozent alle drei Jahre für zulässig halten? Ist Ih-
nen bekannt, dass dies wiederum dazu geführt hat, dass
seither die Mieten schneller gestiegen sind als der Le-
benshaltungskostenindex? Teilen Sie meine Bewertung
dieses Vorgangs?
Ich teile Ihre Feststellung,dass sich die Mieten in diesem Zeitraum überproportionalnach oben entwickelt haben. Ich teile aber nicht Ihre Auf-fassung, dass dies mit der Kappungsgrenze zusammen-hängt, weil diese Möglichkeit – es geht um ganz be-stimmte Wohnungsbestände; Sie sollten einmal dieWohnungsunternehmen in Ihrem Wahlkreis fragen – kei-neswegs ausgeschöpft wurde. Das Problem ist, dass in be-stimmten Orten, zum Beispiel in München, wo wir nachwie vor einen heiß gelaufenen Wohnungsmarkt haben,diese Schutzgrenze schlicht und einfach notwendig ist.Deswegen trifft Ihre Interpretation, dass die Kappungs-grenze Mieterhöhungen geradezu herbeibeschwört, nichtzu. Ganz im Gegenteil: Sie schützt die Mieterinnen undMieter vor allzu großen Mieterhöhungen.
Ein weiterer Punkt der Modernisierung ist die Ver-tragsnachfolge beim Tod des Mieters. Ich habe mich sehrgewundert, Herr Pofalla, dass Sie in diesem Zusam-menhang von „uferlosen Zwangsverträgen“ gesprochenhaben.
Das müsste mit gleichem Recht für die Mietnachfolgedurch den Ehepartner gelten. Um in Ihrer Logik zu blei-ben, müssten Sie auch das als „uferlosen Zwangsvertrag“bezeichnen.
Nein, dahinter steckt etwas ganz anderes, nämlich IhreVoreingenommenheit gegenüber der Neuregelung der Le-benspartnerschaften und nichts anderes.
Auch beim qualifizierten Mietspiegel greife ich dieArgumentation von Herrn Pofalla auf. Er hat hier die Ab-schaffung der Mietspiegel verlangt. Das war wirklich eintolles Stück. Vielleicht sollten Sie sich, Herr Dr. Kansy,mit Ihrem jungen Kollegen aus dem Rheinischen besser
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Wolfgang Spanier15675
abstimmen. Wir halten den qualifizierten Mietspiegel füreinen deutlichen Fortschritt. Ich gehe davon aus, dassviele Städte die Kosten auf sich nehmen und einensolchen Mietspiegel erstellen lassen werden. Er wirdhelfen, Rechtsstreitigkeiten vor Gericht zu vermeiden,weil man endlich eine solide und gute Grundlage fürMieterhöhungen haben wird.Auf die Barrierefreiheit als weiteres wichtiges Mo-ment der Modernisierung ist bereits von Margot vonRenesse und Frau Eichstädt-Bohlig hingewiesen worden.Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Wir haben gemeinsamdas Gleichstellungsgebot in unsere Verfassung aufgenom-men. Das Parlament hat eine große Verantwortung, demin allen einschlägigen Gesetzen Rechnung zu tragen undes in allen Bereichen umzusetzen.
Diese Regelung zeigt, dass wir es mit dem, was wir in derVerfassung zu diesem Punkt vereinbart haben, wirklichernst meinen.Eine andere wichtige Änderung – auch darauf ist in derparlamentarischen Beratung schon hingewiesen worden –ist, dass wir die Kündigungssperrfristen bei der Um-wandlung von Miet- in Eigentumswohnungen gelassenhaben. Entscheidend ist, dass wir die Möglichkeit desVermieters, diese Fristen zu unterlaufen, aus dem Gesetzherausnehmen wollen. Die Umwandlungsproblematik istnicht nur in München vorhanden; sie stellt in vielenGroßstädten nach wie vor ein bedrängendes Problem fürdie Mieterinnen und Mieter dar. Deswegen sind wir froh,die gesetzliche Grundlage in diesem Punkt gestärkt zuhaben. Wir erwarten von den Ländern, dass sie sich derMühe unterziehen, vernünftige Regelungen hinsichtlichder Festlegung von Sperrfristen, über die Grundfrist vondrei Jahren hinaus, zu treffen.Wir wollten bei der außerordentlichen Kündigungeine so genannte Zerrüttungskündigung einführen.Wichtig war, in diesem Zusammenhang einen Verdachtaus der Welt zu schaffen. Ich weiß nicht, ob dieser Ver-dacht berechtigt war oder nicht, aber wir haben ihn aus derWelt geschafft.
– Er war nicht berechtigt, ich will das gerne einräumen. –Ich denke aber, wir haben angesichts dessen, dass Be-sorgnis oder Unsicherheit herrscht, gut daran getan, hierfür Klarheit zu sorgen. Das sieht mittlerweile auch derDeutsche Mieterbund so und darüber sind wir froh. Wirwollten nicht Menschen in Angst und Schrecken verset-zen. Deswegen ist es gut, dass wir ein schuldhaftes Ver-halten mit als Hauptgrund bei der außerordentlichen Kün-digung in den Gesetzentwurf aufgenommen haben.
Ich muss – ebenso wie manch einer meiner Vorredne-rinnen und Vorredner – einräumen: Die Schönheitsre-paraturen haben wir im Gesetzentwurf nicht geregelt,obwohl sich die Wohnungspolitiker und die Rechtspoli-tiker das vorgenommen haben. – Es ist vorhin deutlichgeworden, woran eine solche Regelung letztlich geschei-tert ist. Vielleicht ist darüber auch noch nicht das letzteWort gesprochen. Ich will nicht ausschließen, dass wirnoch zu einer Regelung kommen. – Aber eines will ich Ih-nen ganz klar sagen: Sie beklagen das Fehlen einersolchen Regelung und geben uns die Schuld daran. Dochwo ist denn eigentlich Ihr konkreter Vorschlag? Siewussten seit Monaten, dass dieser Punkt im Gesetz-entwurf nicht geregelt ist und es einen Vorschlag des Bun-desrates gibt, haben sich aber zu diesem Vorschlag mitkeinem Wort geäußert und auch keinen eigenen Vorschlagvorgelegt.
– Herr Geis, Sie können sich nicht damit herausreden, Sieseien in der Opposition. Sie betonen doch in jeder Rede,Sie wollten konstruktiv mitarbeiten. Dann tun Sie es dochgefälligst.
Das gleiche Bild bietet sich bei der Verwer-tungskündigung. Wir haben klar gesagt, dass wir dasVerbot der Verwertungskündigung nicht aufheben wer-den; darum wäre es letztlich gegangen. Natürlich sehenwir die Problematik hinsichtlich der neuen Bundesländer.Es gibt dort Mietshäuser, in denen nur noch ein oder zweiMietparteien leben, während die anderen Wohnungen leerstehen. Es leuchtet ein, dass die Wohnungswirtschaft einberechtigtes Interesse daran hat voranzukommen, wennein aus städtebaulichen Gründen sinnvoller Abriss ge-plant ist. Hätten wir aber die Verwertungskündigungin die Mietrechtsreform aufgenommen, wie Sie, HerrPofalla, es gefordert haben, so hätten wir, wie ich glaube,in großem Maße zur Verunsicherung der Mieterinnen undMieter in den neuen Bundesländern beigetragen. Genaudas wollen wir nicht!
Man kann über die Anregung von Frau Eichstädt-Bohlig nachdenken. Ich frage mich aber: Warum ist indiesem Fall eigentlich eine Verwertungskündigungnotwendig? Ist das angesprochene Problem nicht schlichtund einfach ein Sonderfall einer ganz normalen Kündi-gung nach § 573?
Ich bin kein Jurist – insgeheim sage ich: Ich bin auchdankbar dafür –, aber ich glaube, dass wir durchaus recht-liche Möglichkeiten haben. Wir müssen sie nur aus-schöpfen.Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Die Mietrechtsre-form zeigt: Mit großer Entschlossenheit packt diese Bun-desregierung, packen die Koalitionsfraktionen die längstüberfälligen Reformen in der Wohnungs- und Städte-
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baupolitik an. Ich nenne die drei wichtigsten: die Wohn-geldreform – Sie haben dies nicht geschafft –,
die Reform des sozialen Wohnungsbaus – ich hoffe, dasswir in diesem Punkt vielleicht zu einer gemeinsamen Lö-sung kommen; aber Sie haben dies nicht geschafft – unddie Reform des Mietrechts; auch daran sind Sie geschei-tert. Wir werden die Weichen neu stellen und ich kann Ih-nen schon jetzt sagen: Wir können mit einer guten Bilanzvor die Wählerinnen und Wähler treten.Herzlichen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Freiherr von Stetten.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren Kollegen! Die Opposition steht nach den Ausführun-gen von Herrn Hartenbach im Verdacht, Zeit zu stehlen,wenn sie diskutieren möchte. Herr Spanier ist stolz wieein Spanier, dass er kein Jurist ist. Das ist doch eine ver-kehrte Welt, wenn man über das Mietrecht diskutiert.Vom Ansatz her ist der Gesetzentwurf der Regierung,der als große Mietrechtsreform angekündigt wurde, zwarrichtig. Aber Ihr Entwurf eines Mietrechtsreformgesetzesverdient den Namen nicht, weil er die schleichendeSozialisierung dieser Regierung auf vielen Gebieten nurunterstreicht und ausdehnt.
Dabei denke ich ausdrücklich auch an die geplante Re-form des Betriebsverfassungsgesetzes oder an die vonmanchen SPD-geführten Ländern verlangte Erhöhung derErbschaftsteuer. Das sind alles Schritte gegen dasWohneigentum und die Wirtschaft.
Wir Politiker waren uns vom Grundsatz her einig, dassdie verschiedenen Mietgesetze im Bürgerlichen Gesetz-buch zusammengefasst werden müssen. Wir waren unsauch darüber einig, dass wir ein soziales Mietrecht habenund dass dieses auch erhalten bleiben soll. Aber dieSchritte zur weiteren Entrechtung von Wohnungseigen-tümern bergen die Gefahr, dass aus einem sozialen Miet-recht ein sozialistisches Mietrecht wird, mit den Folgen,die wir in der ehemaligen DDR beobachten konnten, wo40 Jahre lang sozialistische Misswirtschaft herrschte undwo es eine gigantisch große Zahl an kaputten Wohnungenund Häusern gab, die einfach in der Landschaft standenund zerfielen. Sie, meine Damen und Herren von der PDS,reden hier von Petersilie und Schnittlauch! Das kann dochwohl nicht richtig sein.Die Bauwirtschaft leidet schon heute außerordentlichstark unter der zurückgehenden Baukonjunktur undwird, wenn der vorliegende Gesetzentwurf verabschiedetist, einen weiteren Schlag erleiden. Weitere Hundert-tausende von Arbeitsplätzen werden dann gefährdet sein.Die Baukonjunktur war in der Vergangenheit oft genugMotor für eine florierende Wirtschaft.
Wenn diese weiterhin abgewürgt wird, wird auch dieübrige Wirtschaft darunter leiden und werden die Arbeits-losenzahlen steigen.
Es bestand überhaupt kein Anlass zur Verschärfung desMietrechts zuungunsten der Vermieter, weil die Mietenderzeit eher sinken als steigen und es eher freie Woh-nungen als Wohnungsnot gibt. Wer in einer solchen ZeitInvestoren mit der Senkung der Kappungsgrenze von30 Prozent auf 20 Prozent verschreckt, schadet derGesamtwirtschaft.
Wer wissenschaftlich erarbeitete Mietspiegel, die vielGeld kosten, als alleinige Grundlage für Mietanpassungenvorschreibt, verlängert die Verfahren und bürokratisiertsie unnötig.
Die nicht geregelte Frage der Schönheitsreparaturenist keine Bankrotterklärung der Juristen, sondern derRegierung, die keine entsprechende Formulierungzuwege gebracht hat. Wenn es eine solche Formulierunggegeben hätte, hätten wir darüber diskutieren können.Aber eine solche Formulierung gibt es nicht. Das ist also,wie gesagt, eine Bankrotterklärung der Regierung undnicht der Opposition.Wer asymmetrisches Kündigungsrecht für Rechterklärt, indem er dem Mieter das Recht, innerhalb vonmaximal drei Monaten zu kündigen, und dem Vermieterdas Recht einräumt, unter Umständen nur innerhalb vonneun Monaten kündigen zu können, begibt sich an ver-fassungsrechtliche Grenzen oder überschreitet sie sogar.Das Gesetz müsste nach In-Kraft-Treten nicht durchdie Rechtsprechung geglättet werden, Frau von Renesse,wenn es ein vernünftiges Gesetz wäre. Aber das jetzt vor-liegende Gesetz muss in der Tat durch die Rechtsprechunggeprüft und geglättet werden. Nur, was ist das für einArmutszeugnis, wenn der Bundestag ein Gesetz verab-schiedet, das – das wissen wir schon jetzt – nachher durchdie Rechtsprechung geglättet werden muss. Das ist docheine Bankrotterklärung!
Ein Geheimnis bleibt auch, warum gerade Studentenihre Kaution nicht verzinst bekommen sollen. Wenn dieStudentenwerke meinten, dass das zu schwer auszurech-nen sei, kann ich ihnen empfehlen, sich für 50 DM einComputerprogramm zu kaufen, mit dem sich die Zinsenper Knopfdruck leicht ausrechnen lassen.
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Wolfgang Spanier15677
Frau Ministerin, warum haben Sie nicht wie bei derZivilprozessordnung einen eleganten Salto rückwärtsgemacht und in diesen Streitpunkten Kompromisse mitder Opposition gesucht? Bei den Beratungen über die Jus-tizreform hat es bei den Berichterstattergesprächen auchzunächst geheißen, alles bleibe so wie im alten Entwurf,nichts werde geändert. Die Berufung von den Ein-gangsstufen direkt zum Oberlandesgericht werde fest-gezurrt. Aber dann wurde darauf hingewiesen, dassdadurch die Amtsgerichte und die Landgerichte gefährdetwürden, und siehe da: Die gesammelte Kompetenz vonRichtern, Anwälten und vernünftigen Rechtspolitikernhat Sie, Frau Herta Däubler-Gmelin, zur Einsicht ge-bracht.Es wäre ein Segen gewesen, wenn der gesammelteSachverstand der Haus-, Wohnungs- und Grundeigen-tümer, der Wohnungsverbände, der Bauverbände, desDeutschen Städtetags, der Sparkassen und Banken unddes großen Teils der Mietvereine, die den Gesetzentwurfin der Anhörung mit deutlicher Mehrheit verurteilten, vonIhnen, Frau Ministerin, und Ihnen, meine Damen undHerren von der Regierungskoalition, berücksichtigt wor-den wäre. Aber nein, Sie mussten mit dem Kopf durch dieWand ein Gesetz durchpeitschen! Und wenn wir beratenwollen, nennen Sie, lieber Herr Hartenbach, das Zeitdieb-stahl. Das zeigt doch einen gewissen Mangel an Demo-kratieverständnis.
– Na ja, was Sie heute Morgen gebracht haben, HerrHartenbach, war – um es vorsichtig auszudrücken – auchnicht gerade der Weisheit letzter Schluss.Sie mögen glauben, dass Ihr Gesetz mieterfreundlichsei, doch Sie erweisen den Mietern einen Bärendienst,denn irgendwann werden aufgrund der Investitionsrück-stände für Mietwohnungsbau die Wohnungen wiederknapper und die Mieten steigen. Dann hat der Mieter dasNachsehen. Kurzfristig mag das zwar ein Vorteil für Ei-gentümer sein, bei weitem aber kein Ausgleich für dieEingriffe in das Eigentumsrecht. Sie betreiben eine abso-lut verfehlte Mieter- und Vermieterpolitik. Der Kanzler,der sich gern wirtschaftsfreundlich nennt, gibt dem linkenFlügel wieder einmal ein paar sozialistische Brosamen,um Teile der SPD ruhig zu stellen
und um die Grünen, die er sonst als lästigen Wurmfortsatzbehandelt, zu beruhigen.
Die eigentumsfeindliche Politik der Regierung zeigtsich aber auch an dem zurzeit im Vermittlungsausschussbehandelten Rentengesetz. Jeder weiß, dass Haus- undWohnungseigentum der beste Garant ist, die staatlicheAltersrente aufzubessern. Deswegen kann es nicht rich-tig sein, dass staatliche Zuschüsse zur privaten Altersvor-sorge für Haus- und Wohnungserwerb nur dann zulässigsind, wenn der Betroffene sein Haus oder seine Wohnungmit Eintritt des Rentenalters einer Bank übereignet, damiter von dieser eine zusätzliche Rente erhält. Haus- undWohnungseigentum fängt mit Bausparen an. Wer – oft mitviel Eigenleistung – gebaut hat, ist stolz darauf, wenn dasHaus einmal abbezahlt ist und oft sogar noch verbessertund renoviert werden konnte. Dann soll er als Eigentümerdieses Haus einer Bank überschreiben und im Alter nichtmehr in seinen eigenen vier Wänden wohnen! Das, meineDamen und Herren von der Regierungskoalition aus SPDund Grünen, können Sie mit uns nicht machen. Insbeson-dere Häuslebauer in Süddeutschland, aber auch alle ande-ren Wohnungseigentümer im Bundesgebiet werden dasnicht mitmachen.
– Das ist letztlich nur die Fortsetzung und Ergänzung die-ses negativen Mietrechtsreformgesetzes.Die bisherigen gesetzlichen Bestimmungen gewährendem Ehegatten und den Kindern ein Recht zum Eintrittin das Mietverhältnis und durch die Rechtsprechungwurde dieses Recht auch schon auf den Lebenspartnerausgedehnt. Davon wurde bisher der gleichgeschlechtli-che Lebenspartner ausgenommen. Nach Verabschiedungdes Lebenspartnerschaftsgesetzes hätte es einer einfa-chen, aus einem Satz bestehenden Ergänzung des Miet-rechts bedurft, um auch den gleichgeschlechtlichen Le-benspartnern dieses Eintrittsrecht zukommen zu lassen.Sie erweitern aber – und das ist das Schlimme daran – dieEintrittsmöglichkeit für unbeschränkt viele Personen oderPersonengemeinschaften, wenn sie denn nur einen „aufDauer angelegten gemeinsamen Haushalt“ führen. Dabeiist für den Vermieter nicht mehr überschaubar, ob undwann er in die Lage kommt, zu erkennen, wer zu welchemZeitpunkt mit wem einen gemeinsamen Haushalt führt.Warum Sie auf diesen für den Wohnungsbau als Horror-vorschriften geltenden Bestimmungen beharrlich beste-hen, bleibt unverständlich, nachdem Sie doch auch anderevernünftige Vorschriften in die Beratung aufgenommenhaben.In diesem Zusammenhang denke ich besonders – ichbetone, dass wir das unterstützen – an den neuen§ 554 a BGB, in dem der Mieter vom Vermieter baulicheVeränderungen verlangen kann, die für eine behinderten-gerechte Nutzung der Mietsache oder deren Zugang er-forderlich sind. Das geschieht natürlich auf eigene Kostenund gegebenenfalls nur gegen eine angemessene Si-cherheit für die Wiederherstellung des alten Zustandes,aber unter Zugrundelegung der Abwägung der Interessenvon Mieter und Vermieter.Ich wünsche mir, Herr Professor Pick – sehr geehrterHerr Staatssekretär, das ist Ihr Spezialgebiet –, dass in dasWohnungseigentumsgesetz eine entsprechende Bestim-mung aufgenommen wird, damit ein Wohnungseigentü-mer von der Wohnungseigentümergemeinschaft dieZustimmung zu solchen behindertengerechten Einrich-tungen verlangen kann, ohne langfristige Auseinander-setzungen mit uneinsichtigen Wohnungseigentümernführen zu müssen. Noch besser wäre es, Herr Pick, wennwir heute den § 554 a BGB geringfügig wie folgt ändernwürden: „Der Mieter kann vom Vermieter, und wenn dieWohnung eine Eigentumswohnung ist, auch von der Ei-
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Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten15678
gentümergemeinschaft, die Zustimmung zu baulichenVeränderungen oder sonstigen Einrichtungen verlan-gen...“ Entsprechende einfache Änderungen im Hinblickauf Wohnungseigentum wären auch hinsichtlich der ande-ren Bestimmungen des § 554 a BGB notwendig. Das wäreeine sinnvolle Sache, mit der wir etwas erreicht hätten.Schade, dass für die im Streit befindlichen Themenkeine vernünftigen Regelungen gefunden wurden – ers-tens, weil Sie das nicht wollten, und zweitens, weil Sieuns keine Zeit dazu gelassen haben! Wir lehnen diesesGesetz ab, weil es mieter- und vermieterunfreundlich istund Wohnungsbauinvestitionen für die Zukunft er-schwert. Schade, die Chance für ein modernes, zukunfts-weisendes Mietrecht ist damit vertan. Sie allein tragen da-ran die Schuld.
Das Wort hatjetzt die Bundesministerin Herta Däubler-Gmelin.Dr. Herta Däubler-Gmelin,Bundesministerin der Jus-tiz: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich freue mich in der Tat, dass der Deutsche Bundestagheute mit der zweiten und dritten Lesung des Gesetzent-wurfs zur Mietrechtsreform seine Beratungen zu diesemsehr wichtigen Rechtsgebiet abschließt. Ich danke all de-nen – lassen Sie mich das am Anfang sagen –, die in denvergangenen Monaten und Jahren kooperativ mitberatenhaben.
Ich glaube, dass wir heute einen guten und wichtigenSchritt tun; denn eine Reform des Mietrechts ist seit Jahr-zehnten überfällig; diese Reform – das unterstreichen alleVerbände – ist wirklich nötig. Dieser Gesetzentwurf ent-hält sehr viele sehr vernünftige Regelungen, die geradedas gute Miteinander zwischen den Mietern und den Ver-mietern sowie die Unterstützung der Wohnungswirtschaftfördern, ein Miteinander, das alle wollen und das wir die-sem Gesetz als Leitbild vorangestellt haben.
Dass das so ist – jetzt wende ich mich der Oppositionzu –, wissen Sie genau. Wir waren an unzähligen Diskus-sionen mit Ihnen beteiligt und wir haben mit vielen Ex-perten von Ihnen Einzelgespräche geführt. Dass Sie alsOpposition hier wieder einmal ein ganz erstaunlichesGetöse veranstalten, sozusagen einen Rauchvorhanghochziehen, steht dem gar nicht entgegen. Ich finde es nurein bisschen schade, dass Sie an Ihrer Linie der Blockadeund des Neins festhalten, weil Sie damit zeigen, dass Siedie letzten 16 Jahre noch nicht abstreifen konnten. Es istwichtig, dass wir in der Öffentlichkeit nochmals klarma-chen, dass die angemessenen, die guten, die ausgewoge-nen und die modernen Lösungen, die dieses Mietrecht insich vereinigt, allen nützen.
Dieses Mietrecht ist für die Mieter und für die Vermie-ter gut, weil wir den Mieterschutz da stärken, wo es drin-gend erforderlich ist, weil wir die Vertragsfreiheit da aus-bauen, wo es der Markt wirklich zulässt, zum Beispiel beiStaffelmieten, bei Indexmieten und auch beim Zeitmiet-vertrag, und weil wir nicht nur das Miteinander der Mie-ter und der Vermieter, sondern auch das der Verbände för-dern, lieber Herr Funke. Anders als Sie setzen wir nichtauf eine Klientel und nicht auf einen Verband; vielmehrreden wir mit allen und wir bitten alle mehrfach, uns ihreProbleme und ihre Interessen mitzuteilen. Der DeutscheBundestag und die Bundesregierung haben nicht die Auf-gabe, Politik zugunsten irgendeiner Klientel zu betreiben;Aufgabe ist vielmehr, das Gemeinwohl zu fördern. Dastun wir.
Das Miteinander zwischen den Vermieterverbändenund den Mieterverbänden stärken wir gerade durch dieRegelung des Mietspiegels. Eigentlich wissen auch Siedas. Ich würde Ihre gut gemeinten und liebenswürdigenRatschläge im Grunde sehr gerne annehmen, weil ich Sie– Sie wissen das, Herr Funke – menschlich schätze. Aberes wäre natürlich gut, wenn Sie ein bisschen mehr von zu-treffenden Informationen ausgingen.Ich möchte als Beispiel das Vorkaufsrecht nennen.Warum sagen Sie nicht, dass es für die Ausübung des Vor-kaufsrechts des Mieters bisher nicht der Schriftform be-durfte? Dank der 16 Jahre Ihrer verantwortungsvollen Po-litik ließen die bisherigen Regelungen auch die mündlicheAusübung zu. Wir haben zum Schutz der Mieter dieSchriftform eingeführt. Nun behaupten Sie, das sei nichtin Ordnung. Ihre Regelung war nicht in Ordnung!
Was wir tun, ist mieterfreundlich.Wenn Sie jetzt sagen: „Jawohl, es sollte eigentlich nocheine zusätzliche Beratung durch Notare geben“, dann ent-gegne ich Ihnen: Auch das ist in Ordnung.
Aber durch eine freiwillige Beratungstätigkeit stehen dieNotare im Wort. Das ist gut so.Anstatt ehrlichkeitshalber zu sagen: „Jawohl, es warfalsch, dass wir in unserer Verantwortung die mündlicheAusübung vorgesehen haben, und wir stimmen jetzt derSchriftformregelung zu“, erzählen Sie den Menschen, wirwären in dieser Frage nicht für den Mieterschutz. Sie wis-sen doch ganz genau, dass das nicht stimmt.Lassen Sie mich einen zweiten Punkt herausgreifen– jetzt wende ich mich an Sie, lieber Herr Repnik –: Ichweiß ganz genau, dass Sie an anderer Stelle immer wiederWert darauf legen, zu sagen, dass auch die Opposition– manchmal tun Sie sogar so, als könnten Sie uns darinübertreffen, aber das ist nicht der Fall – für den Schutz derFamilien sei, und zwar gerade für den Schutz der Fami-lien, die in Ballungsräumen leben, wenig Geld haben,
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Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten15679
aber für sich und ihre Kinder eine geeignete Wohnungbrauchen. Wir sagen jetzt: Gerade für diese Familien – obin Stuttgart, Frankfurt oder München – setzen wir dieKappungsgrenze herab. Was höre ich dazu von Ihnen?Sie sprechen von Eigentumsfeindlichkeit. Herr Repnik,dies ist nahezu zynisch. Gestatten Sie, dass ich Ihnen dassage.
Wenn man für Familienpolitik ist, muss man auch dafürsein, die Familien zu schützen. Wir werden sehr genauschauen – es wird nachher eine namentliche Abstimmunggeben –, wo Sie persönlich stehen.
Im Rahmen der Förderung von Familien müssen wirden Schutz gerade für Familien mit niedrigem Einkom-men in Ballungsräumen verstärken.
Genau dies schreiben das Bundesverfassungsgericht undunsere Verfassung vor. Wenn Sie nicht mitmachen, wer-den wir dies den Familienverbänden erzählen müssen.
Mir wäre viel lieber, Sie würden mitmachen. Sie könnensich ja noch überlegen, ob Sie es nicht doch noch tun.
Aber beides geht nicht, nämlich einerseits hier zu er-klären, dies sei eigentumsfeindlich, und andererseits zusagen, Sie seien für die Familien. Das passt nicht zusam-men.
Das Gleiche ist bei den alten Menschen der Fall. DieBürgermeisterin aus Regensburg, Frau Anke – ich glaube,sie ist Mitglied der CSU –, schrieb mir schon vor Jahren,als wir angefangen haben, darüber nachzudenken, wie wirMenschen, die ins Altenheim müssen, helfen oder Men-schen, die umziehen müssen, ihre Flexibilität erhaltenkönnen – übrigens „neue Mitte“, meine Damen und Her-ren –, sie sei wirklich dankbar, dass sich nach 16 Jahren,in denen sie von der Regierungskoalition aus CDU/CSUund F.D.P. dazu nichts gehört habe, endlich jemand umdiese Menschen kümmere. Ich habe ihr gesagt: Wir tundas. Und das machen wir auch.
Wir wissen ganz genau, dass die asymmetrische Kün-digung vielen hilft. Wir wissen auch, dass sie Mieternnicht schadet, weil sich anständige Vermieter auch heuteschon nicht auf den noch geltenden Rechtszustand beru-fen, sondern gemeinsam mit ihren Mietern eine vernünf-tige Regelung treffen. Diese vernünftigen und fairen Ver-mieter nehmen wir zum Vorbild. Diese vernünftigen Ver-mieter – das sage ich Ihnen – sind das Leitbild unsererMietrechtsreform.
Dass Sie wieder dagegen sind, wird vom Deutschen Städ-tetag – Sie haben diese Organisation vorhin erwähnt – ge-nauso kritisiert wie von den Menschen, die sich ganz be-sonders um alte Menschen kümmern. Wir werden auchhier ganz genau schauen, wo Sie stehen. Denn es passtnicht zusammen, wenn Sie die Behauptung aufstellen,man wolle alten Menschen helfen, dann aber gegen unserMietrechtsreformgesetz sind.
Jetzt komme ich zum dritten Punkt, nämlich zu den Be-hinderten. Lieber Herr von Stetten, es hat mich natürlichsehr gefreut – übrigens auch das, was Sie gesagt haben,Herr Funke –, dass Sie erklärt haben, der Grundsatz derBarrierefreiheit werde von Ihnen akzeptiert und unterstri-chen. Aber wer diesen Grundsatz akzeptiert und unter-streicht, der muss unserem Mietrechtsreformgesetz zu-stimmen.
Man kann nicht sagen, man sei für die Behinderten, abergegen das Mietrechtsreformgesetz.
Deswegen sage ich Ihnen: Diese Form der Meister-schaft der gespaltenen Zungen machen wir nicht mit.
Wenn Sie hier Opposition machen und Nein sagen wollen,tut uns das Leid,
weil wir Ihnen genau wie in anderen Bereichen Beratungund Kooperation anbieten.
Wenn Sie aber nicht darauf eingehen wollen oder meinen,Sie könnten nur dann Ja sagen, wenn Ihre einseitige Kli-entelpolitik fortgeschrieben wird,
werden wir dies nach außen deutlich machen. Ich sage Ih-nen auch, dass die Menschen das nicht akzeptieren wer-den.
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Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin15680
Frau Ministerin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten
Ostrowski?
Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin der
Justiz: Gerne.
Bitte.
Frau Ministerin, ichhabe eine Frage zur Barrierefreiheit. Ihre Rede und auchdie Beiträge anderer Abgeordneter haben etwas andersgeklungen als das, was im Gesetz steht. Im Gesetz stehtnämlich erstens, dass der behinderte Mieter vom Vermie-ter die Zustimmung zu einem bedarfsgerechten Umbauverlangen kann, wenn er ein berechtigtes Interesse nach-weisen kann. Zweitens kann der Vermieter die Zustim-mung verweigern, wenn sein Interesse das Interesse desbehinderten Mieters überwiegt. Drittens müssen auch dieanderen Mieter in dem Haus gefragt werden, ob sie mitdem Umbau einverstanden sind. Viertens geht es um eineangemessene Leistung des behinderten Mieters und umden Abbau der baulichen Veränderungen, wenn er aus-zieht.Denken Sie nicht, dass man diese Punkte in den Redenkonkret ansprechen sollte, damit behinderte Menschennicht in der Illusion leben, für sie könnte es die totale Bar-rierefreiheit geben?
Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin derJustiz: Liebe Frau Ostrowski, ich glaube, dass Sie in derSache Unrecht haben; denn selbstverständlich gilt auchhier, dass ein ausgewogener Interessenausgleich erforder-lich ist. Wenn Sie einmal so freundlich wären, sich mit deneinzelnen Fällen, die zum Teil schon vom Bundesverfas-sungsgericht entschieden wurden, auseinander zu setzen,dann würden Sie sehen: Unser Gesetzentwurf wird so-wohl der Lage der Mieter als auch der Lage der Vermie-ter gerecht.
Ich teile im Übrigen die Auffassung von Frau vonRenesse, dass wir uns einer Korrektur, wenn sie sich in derPraxis als notwendig erweisen sollte – ich vermute aber,dass dieser Fall nicht eintritt –, nicht widersetzen sollten.Auch wenn die rechte Seite des Hauses nicht zustimmenwill, so verbindet uns doch das Ziel, für die Behindertenbessere Integrationsmöglichkeiten zu schaffen. DiesesZiel spiegelt sich auch im neuen Mietrecht wider.
Die neuen Regelungen sind auch gut für die Moderni-sierung und für Investitionen, weil wir – das will ich ein-mal feststellen; es ist noch nicht zum Ausdruck gekom-men – einen großen Teil unnötiger Bürokratie abbauen.Meine Damen und Herren von der Opposition, dieseBürokratie hätten Sie schon in den vergangenen 16 Jahrenabbauen können. Das wäre gut gewesen.Wir erweitern auch die Möglichkeit, die Kosten fürdie Modernisierung umzulegen. Wir sind außerordent-lich ökologisch orientiert, weil wir ganz genau wissen,dass Vermieter und Mieter ein gemeinsames Interesse anmodernen Wohnungen haben, die nach ökologischen Ge-sichtspunkten ausgerichtet werden.Die Regelungen, die wir jetzt treffen, sind nicht nurgut, sondern auch klar. Ich bedanke mich bei allen, auchbei den Rednern aus den Reihen der Opposition – ichweiß, es ist schwer, über den eigenen Schatten zu sprin-gen –, die sich lobend über die Klarheit und dieVerständlichkeit der Regelungen geäußert haben, wasberechtigt ist. Wir haben heute etwa 300 000 Prozesse, diesich mit Mietstreitigkeiten befassen.
Auch das ist ein Ergebnis der letzten 25 Jahre, in denen esnicht möglich war, eine vernünftige Mietrechtsreform zu-stande zu bringen. Wir wollen die Zahl derMietprozessedeutlich senken. Wir nehmen an, dass das nach einergewissen Anlaufzeit gelingen kann.
Sie haben übrigens so getan – über diesen Punkt mussman in der Tat reden –, als bräuchte man für den Bereichder Schönheitsreparaturen dringend neue Regelungen.Ich weiß aus vielen Gesprächen mit Ihnen und auch ausGesprächen mit Verbänden, dass Neuregelungen von derSache her nicht erforderlich sind. Die Schönheitsrepara-turen sind nämlich heute schon ausreichend geregelt. Wirhaben gerade in diesem Bereich eine Rechtsprechung,über die ich von keiner Seite Kritik gehört habe. Deswe-gen wollen wir die Schönheitsreparaturen jetzt gesetzlichnicht neu regeln. Warum sollten wir dies tun, wenn dochalle ihre Zufriedenheit mit dem jetzigen Zustand deutlichzum Ausdruck gebracht haben?
Wenn wir das getan hätten, hätten Sie uns – da bin ichmir ganz sicher –, Regelungswut vorgeworfen.
Ich möchte deswegen festhalten: Die Regelungen, die wirzu den Schönheitsreparaturen haben und die ein mieter-freundliches Leitbild enthalten, halten wir für richtig. Wirwollten sie nicht ändern, niemand wollte sie ändern, unddeswegen haben wir sie nicht geändert.
Lassen Sie mich noch auf das Thema Nebenkosten zusprechen kommen. Die Höhe der Nebenkosten kann manmit dem Mietrecht leider nicht verändern. Wir haben dasgetan, was man in diesem Zusammenhang machenkonnte: Wir haben die Transparenz erhöht. Durch die
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Berücksichtigung des Grundsatzes der Verbrauchsabhän-gigkeit geben wir den Mietern mehr Einfluss. Diese Tat-sache ist wichtig. Das trägt zu meinem Gesamturteil bei,dass dieses Gesetz notwendig und vernünftig ist, den Mie-terschutz von Familien, alten Menschen, Behinderten undLeuten, die umziehen müssen, erhöht, die Vertragsfreiheitausbaut und die Zusammenarbeit zwischen den Mieternund den Vermietern sowie zwischen ihren Interessenorga-nisationen stärkt. Es hilft schließlich der Wohnungs-wirtschaft.Sie haben nun noch eingewandt, wir hätten die Ver-wertungskündigung im Osten zulassen sollen. Darüberhaben wir in der Tat lange geredet. Es sollte aber nicht ein-fach so im Raum stehen bleiben, dass dieser Sachverhaltungeregelt und die Nichtzulassung deswegen ungerecht-fertigt sei. Sie wissen ganz genau, dass von den CDU-ge-führten Regierungen im Osten – wenn nicht, dann fragenSie bitte bei denen nach – mehr Einwendungen gegen alsUnterstützung für eine Änderung gekommen sind. Ichmöchte noch einmal sehr deutlich sagen: Mit gespaltenerZunge zu reden macht auch hier keinen Sinn. Ich glaube,wir können hier festhalten, dass solche Missbrauchsfälle,wie Sie sie geschildert haben, heute von den Gerichten un-ter Bezugnahme auf das so genannte berechtigte Interessesehr wohl unterbunden werden können und damit allengedient ist. Wir können somit sagen: Missbrauchsfälledulden wir tatsächlich nicht.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Es handelt sich umgute Regelungen. Sie müssen sich entscheiden: Wenn Siefür die Familien, die alten Menschen und die Behindertensind,
dann müssen Sie zustimmen. Wenn Sie das nicht tun,heißt das ganz klar, Sie wollen diese Regelungen nicht un-terstützen.Am Ende dieser Beratungen will ich all denen ganzherzlich danken, die in den letzten Jahren und Monatenmitgearbeitet haben: auf Länderseite insbesondere Nord-rhein-Westfalen und Niedersachsen, auf Ministeriums-seite den Mitarbeitern nicht nur im Bundesministeriumfür Justiz, sondern auch im Wohnungsbauministerium.Ich sehe hier die Staatssekretäre Großmann und Pick;beide haben sich außerordentlich stark engagiert.
Ich bedanke mich bei allen Verbänden, die uns in zahlrei-chen Runden ihre Sorgen und Wünsche mitgeteilt haben.Ich darf stellvertretend, weil ich sie hier sehe, der Präsi-dentin des Deutschen Mieterbundes danken. Sie hat übri-gens mit Unterstützung und Kritik – ob berechtigt odernicht – nicht gespart. Ich bedanke mich auch sehr bei denKolleginnen und Kollegen aus den beratenden Ausschüs-sen, aus dem Wohnungsbau-, dem Wirtschafts- und ins-besondere dem Rechtsausschuss. Ich glaube, das Gesetzist gelungen. Ich freue mich, dass es am 1. September inKraft treten kann.Herzlich Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Eduard Lintner.
Sehr geehrte Frau Prä-sidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Frau Minister, ich halte es für zu ober-flächlich, wenn Sie unsere Position mit einem „Rauch-vorhang“ vergleichen. Etliche Redner haben Ihnen ja kon-kret anhand der Bestimmungen, die Sie ändern wollen,belegt, dass dieses Gesetz tatsächlich gegen das Gebotder Ausgewogenheit verstößt. Dieses Argument kannnicht so ohne weiteres und leichthin, wie Sie es getan ha-ben, vom Tisch gewischt werden.Auch die Art des Umganges mit diesem Sachverhalt,der ja für uns alle von großer Bedeutung ist, ist ein Beweisdafür, dass Sie bei den Beratungen nach der Devise ge-handelt haben: Augen zu und durch, denn wir haben unsgegenüber einer bestimmten linken Klientel zu etwas ver-pflichtet, was wir jetzt tatsächlich auch vollziehen müs-sen.
Ich muss Ihnen auch sagen – das gilt eigentlich für dieganze Debatte –, dass von Ausgewogenheit, die Sie fürsich immer verbal in Anspruch nehmen, nur theoretischgesprochen werden kann. In der Sache handeln Sie ein-seitig. Das ist an vielen einzelnen Punkten belegt worden.Meine Damen und Herren, es steht fest: Das Mietrechtregelt nicht nur einen sehr sensiblen wirtschaftlichen Be-reich, sondern ist auch für den allgemeinen Rechtsfrie-den in der Gesellschaft von außerordentlich großerBedeutung. Deshalb waren wir stets bemüht, das Gebotder Ausgewogenheit zwischen den Interessen der Mieterund denen der Vermieter nicht zu verletzen. Dies habenwir als ein hohes politisches Gut empfunden; denn nur sokann ein ausreichender Anreiz für Investoren, im Miet-wohnungsbau Geld anzulegen, geschaffen werden. Dasbestätigen uns alle Fachleute. Nur Sie von der Koalitionwollen es einfach nicht wahrhaben und glauben.
Dabei sprechen doch die Erfolge für uns. Denn es istdamit gelungen, in den meisten Städten und Gemeindenunseres Landes bei den Mietwohnungen das Verhältniszwischen Angebot und Nachfrage insbesondere im Inte-resse der Mieter ins Lot zu bringen. Aber Sie treiben einechtes Spiel mit dem Feuer, übrigens letztlich auf Kostender Mieter, wenn die Regierungskoalition diese Miet-rechtsänderung jetzt durchpauken will. Denn Sie verlas-sen dabei den Pfad der Ausgewogenheit und schieben die
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Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin15682
Interessen der Mieter kontraproduktiv für alle, auch fürdie Mieter, in den Vordergrund.Dazu nur drei krasse Beispiele:Der neue, so genannte qualifizierte Mietspiegel istteuer und wird eine stete Quelle für Streit sein,
schon deshalb, weil es die von Ihnen als allgemein aner-kannt dargestellten wissenschaftlichen Begründungen inder Praxis gar nicht gibt.
– Natürlich.Außerdem schaffen Sie ein für Ideologen in der Kom-munalpolitik verführerisches neues Betätigungsfeld undhebeln damit gleichzeitig bewährte Instrumente, wie deneinfachen, gemeinsam von Vermietern und Mietern er-stellten Mietspiegel, praktisch aus.Besonders pikant finde ich dabei, dass die Erarbeitungund ständige Aktualisierung des qualifizierten Mietspie-gels sehr aufwendig und teuer sein wird. Diese völligüberflüssigen Kosten werden nach aller Marktwahr-scheinlichkeit von den Mietern zu tragen sein, oder dieKommunen bleiben darauf sitzen und werden Mittel undWege finden, um sich das Geld bei den Leuten wie-derzuholen.
Durch die neuen asymmetrischen Kündigungsfris-tenwird glatt negiert, dass es vergleichbare Zwangslagenwie beim Mieter auch beim Vermieter jederzeit gebenkann. Gerade darin sieht – gestern hat er es Ihnen über dieseriösen Tageszeitungen noch einmal mitgeteilt – derPräsident des Verbandes deutscher Hypothekenbankeneinen wichtigen Grund für die weiter rückläufigen Inves-titionen im Mietwohnungsbau, so gestern wörtlich nach-zulesen.Letztes Beispiel ist die Streichung der erleichtertenKündigungsmöglichkeit beim vom Vermieter selbst be-wohnten Dreifamilienhaus. Hier sehen Sie eine Regelungvor, die den verfassungsrechtlich gebotenen hochrangi-gen Vertrauensschutz gröblich verletzt – eine Quelle fürVerfassungsstreitigkeiten, kann ich Ihnen nur sagen.
Die Beispiele mögen genügen. Wir haben Sie gewarnt,aber eben nicht nur wir. Wenn Sie auf uns schon nichthören wollen, dann doch bitte auf die Warnungen der For-schungsinstitute und des Sachverständigenrats. Beide ma-chen für den unerwartet deutlichen Rückgang des Woh-nungsbaus in diesem Jahr um sage und schreibe 3,3 bis3,5 Prozent auch die Diskussion – so wörtlich – um die ge-plante Mietrechtsreform verantwortlich, wohlgemerkt:die geplante. Ihre Vorlage stellt aber eine weitere Ver-schlechterung für die Vermieter dar. Das muss und wirddiesen Abwärtstrend noch verstärken.
Im Übrigen, Frau Ministerin: Was Sie zur Familie ge-sagt haben, kann eigentlich nur als blankes Lippenbe-kenntnis bezeichnet werden.
Denn wenn man bedenkt, dass gerade die Familien unterden Preissteigerungen sozusagen azyklisch zu leiden hat-ten – insgesamt sind die Mietpreise ja gesunken, nur dieFamilien zahlen nach der Statistik für die Warmmieteheute 4 Prozent mehr, weil Sie sie über die Energiesteuerund die Ökosteuer zusätzlich ohne Ausgleich belastet ha-ben –,
dann können Sie sich nicht hier hinstellen und so tun, alsseien die Familien Ihr besonderes Anliegen.
Sie riskieren mit Ihren neuen Regelungen – das ist Ih-nen zu vielen Punkten bereits gesagt worden – auch nachMeinung der Fachleute, dass das Interesse an Investitio-nen im Mietwohnungsbau noch mehr nachlässt. Zusätz-lich belasten Sie die Bereitschaft noch durch Diskussio-nen über den Wegfall der Investitionszulage für denMietwohnungsneubau oder durch die neueste Diskussionüber eine Erhöhung der Erbschaftsteuer. Experten sagenIhnen deshalb voraus, dass zum Beispiel der Mietwoh-nungsbau in der Form des Mehrfamilienhauses dem-nächst auf unter 100 000 Wohneinheiten fallen wird. DieZahl der Baugenehmigungen, die vorliegen, bestätigt unsdas.Meine Damen und Herren, aus alldem folgt – ich fassemich jetzt kurz, weil meine Redezeit davonläuft –, wasder Kommentator in der Tageszeitung „Die Welt“ amDienstag vorhergesagt hat: Die Folgen werden zwar erstin einigen Jahren sichtbar werden, aber sie werden in ei-ner neuen Wohnungsnot bestehen. Damit provozieren Siemittelfristig, dass der heute überwiegend anzutreffendeMietermarkt zu einem Vermietermarkt wird. Das Kaputt-machen des Mietermarktes aber bedeutet, dass durch dieMacht des Faktischen der Mieterschutz, den sie dieserKlientel mit warmen Worten verkaufen wollen, letztlichleer läuft.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Alfred Hartenbach. Er ist, soweit
ich es sehe, der letzte Redner in dieser Debatte. Auch
wenn Sie alle auf die namentliche Abstimmung warten,
bitte ich Sie, den Geräuschpegel etwas zu dämpfen.
Frau Präsidentin, ich be-danke mich sehr herzlich für Ihre Unterstützung.Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Nach der heuti-gen Debatte haben wir festzustellen, dass auf der rechten
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Eduard Lintner15683
Seite des Hauses die Stunde der reuigen Sünder geschla-gen hat, denn alle haben ihre Sünden bekannt: Funke, dasser in acht Jahren nichts geschafft hat, von Stetten, Pofalla,Kansy und nun auch Herr Lintner, dass sie in den Jahrenseit der deutschen Vereinigung nichts geschafft haben.
Sie haben alles uns überlassen und wir übernehmendiese Last gerne; denn wir wissen, dass wir jetzt ein Miet-recht geschaffen haben, das man mit Fug und Recht mit derHeadline überschreiben kann: optimiert und austariert.
Es ist optimiert, weil wir all das, was dringend notwendigwar, in einem Gesetz zusammengefasst haben. Das habenSie nicht geschafft. Es ist austariert, weil wir sowohl denberechtigten Interessen der Mieter als auch den wohlver-standenen Interessen der Vermieter entgegengekommensind und beide Interessen zum Ausgleich gebracht haben.Wir könnten es natürlich so machen, wie es die F.D.P.will, indem wir ein Gesetz beschließen, das ausschließlichan marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten orientiert ist.Das wäre Ihre Masche, aber das ist mit uns nicht zu ma-chen.
Wir könnten es auch so machen, wie es die PDS will, in-dem wir eine dunkelrote, altsozialistische Romantik pfle-gen. Auch das geht nicht, denn wir müssen hier die Inte-ressen der Vermieter mit bedenken.
Wir könnten es natürlich auch so machen, wie es dieCDU/CSU will, die ein Sammelsurium aller möglichenVorschläge unterbreitet, dabei aber keinen hat, der einenähere Betrachtung wirklich verdient.Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, das Miet-recht hat neben der sozialromantischen und der markt-wirtschaftlichen eine ganz wichtige Funktion: eine so-ziale Regelungsfunktion für, wie ich eben gehört habe,60 Millionen Menschen, die entweder Vermieter oderMieter sind. Diese Funktion ist deshalb so wichtig, weilsie das Zusammenleben von Mieter und Vermieter regelt.Wir wissen doch, dass die Mehrheit der Mietverhältnissevernünftig und ordentlich funktioniert. Aber das Mietver-hältnis kann sowohl für den Vermieter zur Hölle werden,wenn er einen Mieter hat, der ihm ständig in die Querekommt, als auch für den Mieter zu einer schlimmen Höllewerden, wenn er nicht sicher sein kann, ob und unter wel-chen Bedingungen er in der Wohnung leben kann. Mit un-serer Neuregelung sorgen wir dafür, dass es dazu nichtkommt.
Wir haben dabei genau das richtige Maß getroffen. DieMieter haben eine Sicherheit, dass sie in ihrem Lebens-umfeld bleiben können, so lange sie wollen und so langesie nicht gegen Verträge verstoßen. Die Vermieter habeneine Sicherheit, dass mit dem von ihnen geschaffenenWirtschaftsgut, welches sie zur Verfügung stellen, sorg-sam umgegangen wird.Ich kann aufgrund der Kürze der Zeit nicht alle Kom-ponenten herausgreifen, aber ich denke, dies sind diewichtigsten.Jetzt möchte ich noch einen Punkt ansprechen, dermeiner Meinung nach auch wichtig ist. Nun können wirnatürlich mit dem neuen Mietrecht nicht in alle bestehen-den Mietverträge eingreifen. Dort, wo zum Beispiel hin-sichtlich der Kündigungsfrist individuelle Absprachenzwischen Mieter und Vermieter getroffen worden sind,wird es uns nicht möglich sein einzugreifen. Dort aber, wodie Mietverträge als Formelmietverträge lediglich auf diegesetzlichen Kündigungsfristen Bezug nehmen oder sieformelhaft wiederholen, wird künftig das neue Mietrechtgelten. Damit haben wir in diesem Punkt auch wieder einewichtige Neuerung geschaffen, dass sich nämlich Mieterund Vermieter auf diese neuen Bedingungen ab dem In-Kraft-Treten des Gesetzes einstellen können.
Nun ist es natürlich keineswegs so, wie meine Vorred-ner von der Opposition gesagt haben, dass alle dieseRegelung schlecht gemacht hätten. Natürlich hat derMietgerichtstag am vergangenen Wochenende in Dort-mund in seinen Presseerklärungen von Freitag noch inKenntnis des bis dahin noch nicht geänderten Rechts – dieBeteiligten hätten es wissen können, sie wussten es abernicht – eine negative Stellungnahme abgegeben, die sichaber im Verlauf der dort geführten Debatten deutlichgeändert hat.Wer zum Beispiel gestern beim Jour fixe des DeutschenAnwaltvereins hier in Berlin gewesen ist, der hat mitbe-kommen, dass die Redner der dortigen Veranstaltung die-sem Mietrecht sehr positiv gegenübergestanden haben.
Heute haben alle Münchner Abgeordneten, ob vonCSU, F.D.P., Grünen oder SPD – ob das auch für PDS-Abgeordnete zutrifft, weiß ich nicht –, einen Brief be-kommen, der einen Beschluss des Stadtrates der StadtMünchen enthält, der die Münchner Abgeordneten mehr-heitlich auffordert, dem neuen Mietrecht zuzustimmen,weil es gut und richtig ist. Das sollten Sie sich vielleichteinmal kurz überlegen.
Nun noch ein letztes Wort zu den Wehklagen der Op-position im Hinblick auf mangelnde Beteiligungsmög-lichkeiten. Es ist ja so, dass wir Sie, Herr Funke, HerrPofalla, wie anständige Ziehkinder behandelt haben.
Wir haben Ihnen alle Informationen gegeben, wir habenmit Ihnen diskutiert.
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Alfred Hartenbach15684
– Sie wollten doch gleich am Anfang wieder schmollendin die Ecke laufen, Herr Funke, wir mussten Sie mühsamzurückhalten und an den Verhandlungstisch bringen.Wenn Sie natürlich erwarten, dass wir all das, was wir inmühsamen Besprechungen untereinander und mit denVerbänden aufgebaut haben, insgesamt über Bord werfen,dann ist das auch keine Beratung. Herr Funke, ich erwartevon Berichterstattergesprächen, dass man aufeinander zu-geht. Wenn mir gesagt wird: Wenn ihr das nicht wollt,werden wir auf jeden Fall Nein sagen, wenn ihr nichtwollt, werden wir auf keinen Fall zustimmen – so ist esdoch gewesen, Herr Funke –,
dann hatten wir gar keine anderen Möglichkeiten.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, optimiert undaustariert ist das Gesetz nicht nur im Inhalt; optimiert undaustariert waren auch die Beratungen, und so sind auchdie Auswirkungen des Gesetzes. Glauben Sie doch bittenicht, dass die deutsche Bauwirtschaftwegen dieses Ge-setzes nun Mangel leiden würde.
Sie alle haben in der letzten Zeit mannigfaltig Briefe derBauinnungen bekommen. Danach krankt es an etwas ganzanderem.
Dieses ganz andere – das kann ich hier nicht ausdiskutie-ren – haben aber allein Sie aus Ihrer Regierungszeit seitder deutschen Vereinigung zu verantworten.
Dieses Überbleibsel macht der deutschen Bauwirtschaftim Moment zu schaffen. Daran werden wir etwas ändern.
Herr Kollege,
jetzt muss ich Sie doch bitten, Ihre Rede zu beenden.
Ich komme zum Ende,
verehrte Frau Präsidentin.
Ich bedanke mich, verehrte Frau Justizministerin, bei
Ihnen und Ihrem Haus sowie bei den Kolleginnen und
Kollegen von der Koalition aus allen beteiligten Aus-
schüssen sehr herzlich: bei Ihnen für die gute Unterstüt-
zung, bei den anderen für die gute Beratung. Bei Ihnen,
verehrte Frau Präsidentin, bedanke ich mich für die Ge-
duld, die Sie mit mir haben.
Vielen Dank.
Ich schließe da-mit die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Entwurf einesMietrechtsreformgesetzes der Bundesregierung auf Druck-sache 14/4553. Der Rechtsausschuss empfiehlt unterBuchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 14/5663 die Annahme des Gesetzentwurfs in der Aus-schussfassung. Dazu liegen je ein Änderungsantrag derFraktion der F.D.P. und der Fraktion der PDS vor, über diewir zunächst abstimmen.Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion derF.D.P., Drucksache 14/5669? – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Der Änderungsantrag ist abgelehnt wordenmit den Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmender F.D.P., die zugestimmt hat.Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion derPDS, Drucksache 14/5670? – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Auch dieser Änderungsantrag ist abgelehntworden mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen dieStimmen der PDS, die zugestimmt hat.Wer stimmt nun für den Gesetzentwurf in der Aus-schussfassung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – DerGesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenom-men worden mit den Stimmen der Koalitionsfraktionengegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthal-tung der PDS.Dritte Beratungund Schlussabstimmung: Die Fraktionen der SPD und desBündnisses 90/Die Grünen verlangen namentliche Ab-stimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schrift-führer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alleUrnen besetzt? – Dann eröffne ich jetzt die Abstimmung.Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seineStimme nicht abgegeben hat?
– Jetzt aber schnell!
Ich schließe jetzt die Abstimmung und bitte die Schrift-führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu be-ginnen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wirdihnen später bekannt gegeben.1)Wir setzen jetzt die Abstimmungen fort. Liebe Kolle-ginnen und Kollegen, ich muss Sie bitten, ein bisschenaufmerksam zu sein.Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag derFraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/5668 ab. Werstimmt zu? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DerEntschließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD,Bündnis 90/Die Grünen und PDS bei Enthaltung derF.D.P. gegen die Stimmen der CDU/CSU abgelehnt wor-den.Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entwurfeines Mietrechtsvereinfachungsgesetzes der Fraktion derF.D.P. auf Drucksache 14/3896. Der Rechtsausschussempfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung
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Alfred Hartenbach15685
1) Seite 15688 Dauf Drucksache 14/5663, den Gesetzentwurf abzulehnen.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera-tung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und derPDS gegen die Stimmen der F.D.P. bei Enthaltung derCDU/CSU abgelehnt worden. Damit entfällt nach unsererGeschäftsordnung die weitere Beratung.Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 3 auf:Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSUSofortige Entlassung des Bundesministers fürUmwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitJürgen Trittin– Drucksache 14/5573 –
Über diesen Antrag werden wir nachher namentlich ab-stimmen.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst derFraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Friedrich Merz.Friedrich Merz (von der CDU/CSU mitBeifall begrüßt): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Das Verhalten von Herrn Trittin, aberauch und insbesondere die Diskussion über ihn in der rot-grünen Koalition bestätigen uns in unserer Auffassung:Dieser Minister muss entlassen werden.
Er hat sich nach langem Drängen und einigen Tagen fürdie persönlich herabsetzenden Beleidigungen beim Gene-ralsekretär der CDU Deutschlands entschuldigt. Um die-sen Teil seiner Äußerungen geht es heute auch gar nichtmehr.
Heute geht es um die Frage: Welche Grundeinstellungdarf man – wir meinen: muss man – von einem Bundes-minister seinem Land, dessen Geschichte, dessen Wertenund dessen Menschen gegenüber erwarten,
einem Land, dem zu dienen wir alle verpflichtet sind unddem zu dienen die Mitglieder der Bundesregierung in be-sonderer Weise verpflichtet sind!
Die Frage, die sich dabei uns allen stellt, lautet: Dürfenwir Deutsche über 50 Jahre nach dem Ende des ZweitenWeltkrieges und über zehn Jahre nach der Wiederherstel-lung der staatlichen Einheit unseres Landes schlicht einwenig zufrieden sein? Dürfen wir auch stolz auf unserLand sein?
Darf man dies hin und wieder sogar sagen?
Ist also das eingekehrt, was Roman Herzog schon vor Jah-ren angemahnt hat, nämlich einen etwas unverkrampfte-ren Umgang mit unserer Nation?
Ich habe mich heute Morgen sehr gefreut, zu lesen, dasssich in dieser Diskussion, die wir Patriotismusdebattenennen, ein großer Mann, ein Schriftsteller, ein harter Kri-tiker zu Wort gemeldet hat. Walter Jens hat heute in einemInterview gesagt: „Ja, ich bin stolz auf dieses Land.“
Wenig später hat er hinzugefügt: „Wir wollen uns dochbitte nicht diese Begriffe von den Gegnern der Demokra-tie wegnehmen lassen.“ Er hat Recht.
Wenn das richtig ist, fragen wir uns: Was geht eigent-lich im Kopf eines Mannes vor, der geradezu reflexartigabwehrend reagiert, wenn irgendwo und irgendwann dieWörter „deutsch“ oder „Deutschland“ fallen?
Was geht eigentlich im Kopf eines Mannes vor, derGelöbnisfeiern der Bundeswehr in die Nähe des Natio-nalsozialismus rückt?
Wie kann man dann als Minister im Kabinett und als Ab-geordneter hier im Parlament für den Einsatz im Kosovostimmen und von den Soldaten der Bundeswehr verlan-gen, dass sie notfalls mit ihrem Leben für unser Land undfür den Auftrag eintreten, den wir ihnen hier im Parlamentgegeben haben? Das passt nicht zusammen, Herr Trittin!
So, wie Sie sich verhalten, und so, wie Sie sich insbeson-dere den Soldaten der Bundeswehr gegenüber äußern, istdies beschämend und eine Zumutung für die Soldaten undfür unser ganzes Land.
Nun wende niemand ein, hier handele es sich sozusa-gen um Ausrutscher, um verbale Entgleisungen.
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Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer15686
Jeder von uns steht täglich in der Gefahr, mit seinen Wor-ten zu übertreiben,
einmal einen falschen Begriff zu verwenden oder sichfalsch auszudrücken.
Meine Damen und Herren, Herr Trittin hat im Jahre1993 ein Buch mit dem Titel „Gefahr aus der Mitte“ ver-öffentlicht.
Die zentrale Botschaft dieses Buches fasse ich in einemZitat wie folgt zusammen:Das Ergebnis der ideologischen Offensive vonCDU/CSU und F.D.P. im Gefolge der deutschen Ei-nigung ist unübersehbar: Rassismus ist zum Alltag
und Wohlstandschauvinismus zum beherrschendenIdeologem geworden.
Die Bundesrepublik rutscht nach rechts.
Diese Rechtsverschiebung ist nicht von verwirrtenGlatzköpfen und reaktionären Greisen am rechtenRand der Gesellschaft bewirkt worden. Sie ist imZentrum der politischen Klasse entwickelt und um-gesetzt worden.
Welche Geisteshaltung kommt eigentlich in solchenAussagen zum Ausdruck? Ich sage es noch einmal: Dassind keine Ausrutscher oder einmaligen Entgleisungen.Es sind regelmäßig wiederkehrende Wortmeldungen, dieeinem zutiefst verwurzelten Freund-Feind-Denken ent-sprechen.Damit das an dieser Stelle auch klar wird: In der De-mokratie muss es Gegnerschaft geben, auch harte Aus-einandersetzungen um wichtige Fragen in der Sache. Aberdie Auseinandersetzungen, die wir hier im Parlamentmiteinander austragen, dürfen nie zur Feindschaft wer-den.
Ich sage noch einmal, auch auf die Zwischenrufe der SPD:Wir müssen harte Auseinandersetzungen in der Sachemiteinander austragen. Aber in diesen Wortmeldungenkommt Feindschaft zum Ausdruck.
Wir werden es deshalb auch nicht zulassen, dass der Ver-such unternommen wird, aus der so genannten Studen-tenrevolte der Jahre 1968 und 1969 jetzt im Abstand vonmehr als 30 Jahren verklärend und schwärmerisch einegroße Freiheitsbewegung zu machen.
Die politischen Anführer aus dem SDS
und den kommunistischen Gruppen an den Universitätenvertraten einen höchst autoritären politischen Anspruch ineigener Sache, eben jenen totalitären Absolutheitsan-spruch, der den Zusammenhalt in der Demokratie zer-stört.
Wer noch im Jahre 1993 so schreibt, wer 1998 so wiezitiert über die Bundeswehr redet und wer im Jahr 2001den Rechtsradikalismus in Deutschland instrumentali-siert, ihn sich selbst zunutze macht im politischen Mei-nungsstreit der Demokraten, der ist nicht nur eine Ge-fährdung und nicht nur ein Risiko für Rot-Grün, wie derBundeskanzler gesagt hat, der ist ein Risiko für das ganzeLand.
Die große Mehrheit der Deutschen identifiziert sichmit ihrer Stadt, mit ihrer Region,
auch und besonders mit ihrem Land und zunehmend auchmit Europa.
Heimat, Vaterland, Nation – das sind keine rechtsextre-men Begriffe,
sondern sie beschreiben ein natürliches Selbstverständnis,das in Deutschland gelebte Realität ist.
Wer dies in der tagespolitischen Auseinandersetzung ver-teufelt, der nimmt den Menschen ein Stück ihrer Identitätund der treibt sie aus der Mitte der Gesellschaft zu den ex-tremen Rändern. Wer deshalb wirklich den Rechtsextre-mismus bekämpfen will, der darf sich nicht von den de-mokratischen Werten und von der eigenen Nationdistanzieren,
der darf sie nicht den Feinden der Demokratie überlassen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001
Friedrich Merz15687
Erst gemeinsame Identität und emotionale Bindungschaffen die Bereitschaft, auch etwas für andere zu leis-ten. Der Stolz auf das Gemeinsame führt zum Verantwor-tungsgefühl, dieses Gemeinsame zu bewahren. Wir brau-chen ein solches Engagement der Bürger, in der Zukunftvermutlich mehr als je zuvor. Wie sollen wir denn Zu-wanderung und Integration ausländischer Mitbürger er-folgreich bewältigen,
wenn wir mit uns selbst nicht im Reinen sind? Wie könnenwir die Erziehung zu Werten und Bürgertugenden stärken,wenn die vorhandene Identität und das gewachsene Selbst-verständnis grundlegend infrage gestellt werden?
Mit dem notwendigen und unverzichtbaren Einstehenfür die eigene Nation ist keine irgendwie geartete Abwer-tung anderer Nationen und Völker verbunden. Im Gegen-teil: Nur wer sich des Eigenen vergewissert und sich seinereigenen Entwicklung und Zugehörigkeit bewusst ist, kannwirklich weltoffen sein und die Erfahrungen anderer schät-zen und integrieren. Deshalb sagen wir: Patriotismus ist einepositive Kraft für unsere Gesellschaft und für unseren Staat.
Lassen Sie mich einen Blick auf unsere integrierendeKraft zur politischen Mitte werfen. Wir werden in weni-gen Wochen den 52. Geburtstag unseres Landes begehen.36 Jahre davon haben CDU und CSU dieses Land erfolg-reich regiert.
Wir sind und wir bleiben auch in Zukunft die zur Mitte hinintegrierenden Volksparteien.
Wenn es eines Beweises bedurft hätte, dass uns dies ge-meinsam mit den Demokraten in Deutschland gelingenkann, dann war es das Wahlergebnis am letzten Sonntagin Baden-Württemberg und ist es die Tatsache, dass dieRepublikaner aus dem Landtag verschwunden sind.
So stehen wir zu unseren freiheitlichen und demokra-tischen Werten. So stehen wir in Zukunft zu unserenchristlichen, sozialen, liberalen und konservativen Wur-zeln. Wir stehen damit – anders als es Rot-Grün manch-mal wohl gerne hätte – mitten in der Gesellschaft.
Wir sind dabei auch konservativ;
denn Werte dauerhaft zu bewahren ist ein zentraler Bei-trag zum Erhalt des inneren Zusammenhaltes in unsererDemokratie. Erst dies schafft das notwendige Vertrauen inZeiten schnellen Wandels. Nur wer sich den Sinn für dasBewährte und das Innovative zugleich bewahrt, kann diegroßen Herausforderungen von Globalisierung, Biomedi-zin, Generationengerechtigkeit, Wandel der Arbeitsweltbis hin zur Bewahrung von Natur und Umwelt erfolgreichmeistern.Wir waren als Deutsche einst die verspätete Nation.Die deutsche Einheit in Frieden und Freiheit hat die langevirulente nationale Frage beantwortet. Mehr als früherkönnen wir heute Herkunftsbewusstsein und Zukunfts-bewusstsein verbinden. So können wir zur ruhigen MitteEuropas werden und mit gefestigtem Selbstbewusstseinweiter am Aufbau Europas mitarbeiten.
Die Frage nach dem nationalen Selbstverständnis, nachder eigenen Identität und nach den Werten, die unsere Ge-sellschaft zusammenhalten, ist deshalb alles andere alseine Frage der Vergangenheit. Wer zu dieser Haltung nichtfähig ist, wer so hasserfüllt über Deutschland,
über seine politischen Institutionen, über den parteipoliti-schen Gegner und damit auch über die Menschen in un-serem Land redet, der kann nicht gleichzeitig Mitglied derBundesregierung Deutschlands sein.
Bevor wir in derDebatte fortfahren, komme ich auf Tagesordnungs-punkt 3 zurück und gebe Ihnen das Ergebnis der na-mentlichen Abstimmung über den Entwurf des Miet-rechtsreformgesetzes bekannt: Es wurden 590 Stimmenabgegeben, mit Ja haben 309 Abgeordnete und mit Nein247 Abgeordnete gestimmt. Es gab 34 Enthaltungen. DerGesetzentwurf ist damit angenommen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001
Friedrich Merz15688
Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 590;davonja: 309nein: 247enthalten: 34JaSPDBrigitte AdlerGerd AndresIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHermann BachmaierErnst BahrDoris BarnettDr. Hans Peter BartelsEckhardt Barthel
Klaus Barthel
Ingrid Becker-InglauDr. Axel BergHans-Werner BertlPetra BierwirthRudolf BindigLothar Binding
Klaus BrandnerAnni Brandt-ElsweierWilli BraseDr. Eberhard Brecht
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001 15689
Rainer Brinkmann
Bernhard Brinkmann
Hans-Günter BruckmannEdelgard BulmahnUrsula BurchardtDr. Michael BürschHans Martin BuryHans Büttner
Marion Caspers-MerkWolf-Michael CatenhusenDr. Herta Däubler-GmelinChristel DeichmannKarl DillerPeter DreßenDetlef DzembritzkiDieter DzewasSebastian EdathyLudwig EichMarga ElserPeter EndersGernot ErlerPetra ErnstbergerAnnette FaßeLothar Fischer
Iris FollakNorbert FormanskiRainer FornahlHans ForsterPeter Friedrich
Lilo Friedrich
Harald FrieseAnke Fuchs
Arne FuhrmannMonika GanseforthKonrad GilgesIris GleickeGünter GloserUwe GöllnerRenate GradistanacGünter Graf
Angelika Graf
Dieter GrasedieckMonika GriefahnKerstin GrieseAchim GroßmannWolfgang Grotthaus
Hans-Joachim HackerKlaus HagemannManfred HampelChristel HanewinckelAlfred HartenbachAnke HartnagelKlaus HasenfratzNina HauerReinhold HemkerFrank HempelDr. Barbara HendricksGustav HerzogMonika HeubaumReinhold Hiller
Stephan HilsbergJelena Hoffmann
Iris Hoffmann
Ingrid HolzhüterEike HovermannChristel HummeBarbara ImhofGabriele IwersenRenate JägerJann-Peter JanssenIlse JanzDr. Uwe JensVolker Jung
Johannes KahrsUlrich KasparickSabine KaspereitSusanne KastnerUlrich KelberHans-Peter KemperKlaus KirschnerSiegrun KlemmerHans-Ulrich KloseWalter KolbowFritz Rudolf KörperKarin KortmannAnette KrammeNicolette KresslAngelika Krüger-LeißnerHorst KubatschkaErnst KüchlerUte KumpfKonrad KunickDr. Uwe KüsterWerner LabschChristine LambrechtBrigitte LangeChristian Lange
Detlev von LarcherChristine LehderWaltraud LehnRobert LeidingerKlaus LennartzDr. Elke LeonhardEckhart LeweringGötz-Peter Lohmann
Christa LörcherErika LotzDieter Maaß
Winfried ManteDirk ManzewskiTobias MarholdLothar MarkUlrike MascherChristoph MatschieHeide MattischeckMarkus MeckelUlrike MehlUlrike MertenAngelika MertensDr. Jürgen Meyer
Ursula MoggChristoph MoosbauerSiegmar MosdorfMichael Müller
Jutta Müller
Christian Müller
Franz MünteferingAndrea NahlesDr. Edith NiehuisDr. Rolf NieseDietmar NietanGünter OesinghausLeyla OnurManfred OpelHolger OrtelAdolf OstertagKurt PalisAlbrecht PapenrothDr. Martin PfaffGeorg PfannensteinJohannes PflugDr. Eckhart PickJoachim PoßKarin Rehbock-ZureichDr. Carola ReimannMargot von RenesseRenate RennebachBernd ReuterDr. Edelbert RichterGudrun RoosRené RöspelMichael Roth
Birgit Roth
Gerhard RübenkönigMarlene RupprechtThomas SauerDr. Hansjörg SchäferGudrun Schaich-WalchRudolf ScharpingBernd ScheelenDr. Hermann ScheerSiegfried SchefflerHorst SchildOtto Schily
Ulla Schmidt
Silvia Schmidt
Dagmar Schmidt
Wilhelm Schmidt
Regina Schmidt-ZadelHeinz Schmitt
Carsten SchneiderDr. Emil SchnellWalter SchölerOlaf ScholzKarsten SchönfeldFritz SchösserOttmar SchreinerGisela SchröterDr. Mathias SchubertRichard Schuhmann
Brigitte Schulte
Volkmar Schultz
Ewald SchurerDr. R. Werner SchusterDietmar Schütz
Dr. Angelica Schwall-DürenRolf SchwanitzBodo SeidenthalErika SimmDr. Sigrid Skarpelis-SperkDr. Cornelie Sonntag-WolgastWieland SorgeWolfgang SpanierDr. Margrit SpielmannJörg-Otto SpillerDr. Ditmar StaffeltAntje-Marie SteenLudwig StieglerRolf StöckelRita Streb-HesseReinhold Strobl
Dr. Peter StruckJoachim TappeJörg TaussJella TeuchnerDr. Gerald ThalheimWolfgang ThierseFranz ThönnesUta Titze-StecherAdelheid TröscherHans-Eberhard UrbaniakRüdiger VeitSimone ViolkaUte Vogt
Hans Georg WagnerDr. Konstanze WegnerWolfgang WeiermannReinhard Weis
Matthias WeisheitGunter WeißgerberDr. Ernst Ulrich vonWeizsäckerJochen WeltHildegard WesterLydia WestrichInge Wettig-DanielmeierDr. Margrit WetzelDr. Norbert WieczorekJürgen Wieczorek
Heidemarie Wieczorek-ZeulHeino Wiese
Klaus WiesehügelBrigitte Wimmer
Barbara WittigDr. Wolfgang WodargHanna Wolf
Heidemarie WrightUta ZapfDr. Christoph ZöpelPeter ZumkleyCDU/CSUHerbert FrankenhauserBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENGila Altmann
Marieluise Beck
Volker Beck
Angelika BeerMatthias BerningerGrietje Bettin
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 200115690
Annelie BuntenbachEkin DeligözDr. Thea DückertFranziska Eichstädt-BohligDr. Uschi EidHans-Josef FellAndrea Fischer
Joseph Fischer
Katrin Göring-EckardtRita GrießhaberWinfried HermannAntje HermenauUlrike HöfkenMichaele HustedtMonika KnocheDr. Angelika Köster-LoßackSteffi LemkeDr. Helmut LippeltDr. Reinhard LoskeOswald MetzgerKerstin Müller
Winfried NachtweiChrista NickelsCem ÖzdemirSimone ProbstClaudia Roth
Christine ScheelIrmingard Schewe-GerigkRezzo SchlauchAlbert Schmidt
Werner Schulz
Christian SimmertChristian SterzingJürgen TrittinDr. Antje VollmerSylvia VoßHelmut Wilhelm
Margareta Wolf
NeinCDU/CSUUlrich AdamIlse AignerDietrich AustermannNorbert BarthleDr. Wolf BauerGünter BaumannBrigitte BaumeisterMeinrad BelleDr. Sabine Bergmann-PohlOtto BernhardtHans-Dirk BierlingRenate BlankDr. Heribert BlensPeter BleserDr. Maria BöhmerSylvia BonitzJochen Borchert
Wolfgang BosbachKlaus BrähmigDr. Ralf BrauksiepePaul BreuerMonika BrudlewskyKlaus Bühler
Hartmut Büttner
Dankward BuwittCajus CaesarManfred Carstens
Leo DautzenbergWolfgang DehnelHubert DeittertAlbert DeßRenate DiemersThomas DörflingerHansjürgen DossMarie-Luise DöttMaria EichhornRainer EppelmannAnke Eymer
Ilse FalkDr. Hans Georg FaustAlbrecht FeibelUlf FinkIngrid FischbachDirk Fischer
Erich G. FritzJochen-Konrad FrommeHans-Joachim FuchtelDr. Jürgen GehbNorbert GeisDr. Heiner GeißlerGeorg GirischDr. Reinhard GöhnerPeter GötzDr. Wolfgang GötzerKurt-Dieter GrillHermann GröheManfred GrundHorst Günther
Carl-Detlev Freiherr vonHammerstein
Gerda Hasselfeldt
Klaus-Jürgen HedrichHelmut HeiderichUrsula HeinenManfred HeiseSiegfried HeliasHans Jochen HenkeErnst HinskenPeter HintzeKlaus HofbauerMartin HohmannSiegfried HornungHubert HüppeSusanne JaffkeGeorg JanovskyDr. Harald KahlBartholomäus KalbSteffen KampeterDr.-Ing. Dietmar KansyIrmgard KarwatzkiVolker KauderEckart von KlaedenUlrich KlinkertDr. Helmut KohlNorbert KönigshofenEva-Maria KorsHartmut KoschykThomas KossendeyRudolf KrausDr. Paul KrügerDr. Hermann Kues
Dr. Norbert LammertHelmut LampDr. Paul LaufsKarl-Josef LaumannVera LengsfeldPeter LetzgusUrsula LietzWalter Link
Eduard Lintner
Dr. Manfred Lischewski
Julius LouvenDr. Michael Luther
Wolfgang MeckelburgDr. Michael MeisterDr. Angela MerkelFriedrich MerzHans MichelbachMeinolf MichelsDr. Gerd MüllerBernward Müller
Elmar Müller
Bernd Neumann
Claudia NolteGünter NookeFranz ObermeierFriedhelm OstEduard OswaldNorbert Otto
Dr. Peter PaziorekAnton PfeiferDr. Friedbert PflügerBeatrix PhilippRonald PofallaRuprecht PolenzMarlies PretzlaffDr. Bernd ProtznerThomas RachelHans RaidelDr. Peter RamsauerHelmut RauberPeter RauenChrista Reichard
Katherina ReicheErika ReinhardtHans-Peter RepnikKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberFranz Romer
Heinrich-Wilhelm RonsöhrDr. Klaus RoseAdolf Roth
Dr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckVolker RüheAnita SchäferDr. Wolfgang SchäubleHartmut SchauerteHeinz SchemkenKarl-Heinz ScherhagDr. Gerhard ScheuNorbert SchindlerChristian Schmidt
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
Michael von SchmudeBirgit Schnieber-JastramDr. Andreas SchockenhoffDr. Rupert ScholzReinhard Freiherr vonSchorlemerDr. Erika SchuchardtWolfgang SchulhoffGerhard SchulzDiethard Schütze
Clemens SchwalbeDr. Christian Schwarz-SchillingWilhelm-Josef SebastianHorst SeehoferHeinz SeiffertDr. h. c. Rudolf SeitersWerner SiemannBärbel SothmannMargarete SpäteCarl-Dieter SprangerWolfgang SteigerDr. Wolfgang Freiherr vonStettenAndreas StormMax StraubingerMatthäus StreblThomas Strobl
Dr. Rita SüssmuthEdeltraut TöpferGunnar UldallArnold VaatzAngelika VolquartzDr. Theodor WaigelPeter Weiß
Gerald Weiß
Annette Widmann-MauzHeinz Wiese
Hans-Otto Wilhelm
Klaus-Peter WillschBernd WilzWilly Wimmer
Matthias WissmannWerner Wittlich
Wir setzen nun die Debatte fort. Das Wort hat der Frak-tionsvorsitzende der Sozialdemokratischen Partei, PeterStruck.Dr. Peter Struck (von der SPD und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit Beifall begrüßt): FrauPräsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Der Bundesumweltminister hat in einem Live-Intervieweine spontane Äußerung getan, die nicht akzeptabel war.
Er ist dafür öffentlich kritisiert worden, und zwar in derSache zu Recht. Auch wir haben ihn kritisiert und gesagt,dass diese Äußerung nicht in Ordnung war. Jürgen Trittinhat sich dann entschuldigt und die Äußerung zurück-genommen. Das war richtig so.Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von derOpposition, sollten das respektieren, zumal Frau Merkelund Herr Meyer bis heute nicht die Kraft hatten, sich ge-genüber dem Bundeskanzler für das „Verbrecherplakat“zu entschuldigen.
Es geht der Union auch überhaupt nicht um die Äuße-rung des Ministers, sondern in Wahrheit um eine Deu-tungshoheit über Begriffe wie Nation, Staat, Geschichte,Leitkultur, Vaterland. Die CDU/CSU will in diesen Fra-gen einen Alleinvertretungsanspruch geltend machen.Das ist anmaßend und das werden wir ihr nicht durchge-hen lassen.
Die Union glaubt, allein definieren zu können – mein Vor-redner hat das gerade deutlich gemacht –, was gut und wasschlecht für unser Land ist, was richtig und was falsch ist.Die Union grenzt aus, anstatt zu integrieren.
Wenn Sie sich hier hinstellen und – wie in der letztenDebatte – Willy Brandt scheinheilig als Kronzeuge ge-gen die Sozialdemokratie missbrauchen, dann darf ich da-ran erinnern, wie unverfroren und gehässig Ihre Vorgän-ger, Herr Kollege Merz, mit Willy Brandt, ebenso wie mitHerbert Wehner, umgegangen sind. Das dürfen Sie nichttun!
Dies war schon immer Ihre Strategie und es hat sichin den 16 Jahren der Kanzlerschaft von Helmut Kohl
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer15691
Dagmar WöhrlElke WülfingPeter Kurt WürzbachWolfgang ZeitlmannWolfgang ZöllerF.D.P.Ina Albowitz
Rainer BrüderleErnst BurgbacherJörg van EssenUlrike FlachGisela FrickPaul K. FriedhoffHorst Friedrich
Rainer FunkeDr. Wolfgang GerhardtJoachim Günther
Dr. Karlheinz GuttmacherKlaus HauptDr. Helmut HaussmannUlrich HeinrichWalter HircheDr. Werner HoyerUlrich IrmerDr. Klaus KinkelDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppJürgen KoppelinIna LenkeSabine Leutheusser-SchnarrenbergerDirk NiebelGünther Friedrich Nolting
Detlef ParrCornelia PieperDr. Günter RexrodtDr. Edzard Schmidt-JortzigMarita SehnDr. Hermann Otto SolmsCarl-Ludwig ThieleDr. Guido WesterwelleEnthaltenCDU/CSUJohannes SinghammerPDSMonika BaltDr. Dietmar BartschPetra BlässMaritta BöttcherEva Bulling-SchröterRoland ClausHeidemarie EhlertDr. Heinrich FinkDr. Ruth FuchsWolfgang GehrckeDr. Klaus GrehnDr. Gregor GysiUwe HikschUlla JelpkeSabine JüngerGerhard JüttemannDr. Heidi Knake-WernerRolf KutzmutzUrsula LötzerDr. Christa LuftHeidemarie LüthPia MaierAngela MarquardtManfred Müller
Kersten NaumannRosel NeuhäuserChristine OstrowskiPetra PauDr. Uwe-Jens RösselChristina SchenkGustav-Adolf SchurDr. Ilja SeifertDr. Winfried WolfEntschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Ver-sammlungen des Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPUAbgeordnete(r)Behrendt, Wolfgang Hornhues, Dr. Karl-Heinz Schloten, Dieter Zierer, BennoSPD CDU/CSU SPD CDU/CSUverstärkt. Der große alte Herr der Politikwissenschaft,Wilhelm Hennis, hat das treffend als die „Deformation derpolitischen Kultur“ in diesem Land durch das SystemKohl bezeichnet.
Dieses Schwarz-Weiss-Malen, dieses Freund-Feind-Den-ken hat sich tief in Ihr Bewusstsein eingebrannt. Wie ver-ächtlich hat Kohl über die, wie er sie nannte, „Sozen“ ge-sprochen. Mehr als einmal hat er in diesem Hohen Hausdie SPD als verkommen beschimpft und ihr Verrat vorge-worfen. Das ist eine Sprache, die sich selbst richtet – undSie setzen diese Sprache fort,
und zwar nach dem Motto: Wer nicht mein Freund ist, istmein Feind.Ausgerechnet dieser Mann – der Kollege Kohl –, dersich unverändert über Recht und Gesetz hinwegsetzt unddie angeblichen Spender der Schwarzgeldmillionen derCDU nicht nennt,
hat in der letzten Woche versucht, dem Bundespräsiden-ten Vorschriften darüber zu machen, welches Verhältnisdieser zu seinem Amt und zu diesem Staat haben soll. –Eine Unverfrorenheit ohne Beispiel!
Unser Herr Bundespräsident braucht keine Belehrungen,nicht von einem Gesetzesbrecher, nicht von Ihnen, HerrMerz, und auch nicht von solchen Leuten wie HerrnGoppel und Herrn Westerwelle. Herr Westerwelle, neh-men Sie das Wort von dem „Parteipräsident“ zurück!Damit täten Sie sich und unserer Demokratie einen Ge-fallen!
Ich wiederhole das, was ich schon in der letzten Wochegesagt habe: Johannes Rau vorzuwerfen, er sei kein Pa-triot, ist genauso absurd wie die Behauptung, der Papst seikein Katholik.
Im Übrigen ist solchen Leuten wie Kohl, Merz, Goppelund wie sie sonst noch alle heißen mögen entgangen, dassdas von ihnen kritisierte Zitat von Johannes Rau ein Zitatwar, das Johannes Rau von seinem AmtsvorgängerRoman Herzog wörtlich übernommen hat.
Unser Staatsoberhaupt war immer außerhalb der poli-tischen Auseinandersetzung.
Wir haben das immer respektiert. Sie, meine Damen undHerren von der Opposition, verletzten diesen Grundsatzin eklatanter und infamer Weise.
Die Arbeit, die Johannes Rau für dieses Land in fünf Jahr-zehnten in den verschiedensten Ämtern und Funktionengeleistet hat,
sowie seine Worte und Taten sind so eindeutig, dass essich verbietet, auf die Absurditäten aus der Union einzu-gehen.
Lassen Sie mich aber etwas zu dem Geist sagen, derhinter diesen Absurditäten steckt. Die Union betrachtetden Staat als Beute.
Staatsämter sind für sie Parteiämter, die ihr wie selbst-verständlich zustehen.
Sobald andere, die nicht ihrer Partei angehören, Staats-ämter innehaben, sind diese zur Kritik freigegeben. So ge-hen Sie mit dem Bundespräsidenten um, so gehen Sie mitdem Bundestagspräsidenten um. Das lassen wir Ihnennicht durchgehen.
Staatsämter werden im Gegensatz zu Ihren Vorstellungennoch immer von den Wählern vergeben. Um deren Votumgeht es in einem fairen Wettbewerb der Konzepte. Genaudas ist Ihr Problem: Sie haben keine Konzepte als Alter-native zu unserer Regierungspolitik und versuchen des-halb, diesen Mangel durch lächerliche Schauveranstal-tungen wie diese zu ersetzen.
Mit der Art, wie Sie mit Staatsämtern umgehen, verun-glimpfen Sie Personen. Das ist schon schlimm genug.Aber noch viel schlimmer für das Gemeinwesen ist: Sieschaden der Autorität der höchsten Staatsämter. Das istdas genaue Gegenteil von Patriotismus.
Im Gegensatz zu Ihnen wollen wir keine Polarisierung,wenn es um unser Land geht.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001
Dr. Peter Struck15692
Wir wollen, wie Willy Brandt es einmal gesagt hat, einVolk von guten Nachbarn sein, im Innern wie nach außen,– nicht eine zweigeteilte Gesellschaft: hier die ver-meintlichen Patrioten mit dem Unbedenklichkeitssiegel,ausgestellt von der Union und neuerdings auch von HerrnWesterwelle, dort alle anderen. Das machen wir nicht mit.
Das ist „Krampf um Deutschland“, hat selbst die derUnion wohlgesonnene „Rheinische Post“ getitelt. Sie hatvöllig Recht.
Auf dem Fundament unseres Grundgesetzes und unse-rer Rechtsordnung lassen wir jedem Bürger die Freiheit,sein Verhältnis zu Heimat, Vaterland und Nation selbst zubestimmen. Wir sind nicht für Bevormundung in dieserFrage oder gar für einen Gesinnungs- und Befindlich-keits-TÜV.
Wir sind für ein politisches Klima, das von Respekt vordem Andersdenkenden geprägt ist,
Respekt vor jedem, der unsere freiheitlich-demokratischeGrundordnung akzeptiert.
Damit werden wir den Erwartungen eines übergroßenTeils unserer Bevölkerung gerecht. Das haben wir gese-hen, als wir alle zusammen am 9. November in Berlin zueinem Aufstand der Anständigen gegen Rechtsradikalis-mus und Intoleranz aufgerufen haben.
– Dass Sie dagegen protestieren, dass Sie jetzt lachen, daszeigt Ihre wahre Gesinnungshaltung, meine Damen undHerren.
Das Echo war überwältigend: Nicht nur hier in Berlin,sondern überall im Lande – in vielen Städten und Ge-meinden – sind die Bürgerinnen und Bürger aufgestandenund haben für ein tolerantes Deutschland demonstriert.Dank der Initiativen der Kirchen, der Wirtschaft, der Ge-werkschaften und vieler anderer gesellschaftlicher Grup-pen hat sich das Bewusstsein verstärkt, dass Rechtsradi-kalismus und dumpfe rechte Töne Deutschland im Innernwie nach Außen schaden und uns keinesfalls nutzen. ImÜbrigen sehe ich darin den Grund, dass Rechtsradikalebei den Landtagswahlen am letzten Sonntag keine Chancehatten. Der Aufstand der Anständigen hat Früchte ge-tragen.
Die Menschen haben verstanden, dass dem Land mitdumpfen Sprüchen überhaupt nicht gedient ist.Das Gleiche gilt – und Sie sollten sich sehr genau über-lagen, was Sie so alles sagen – für Auseinandersetzungenüber Sprüche, die sich eine ganz bestimmte Klientel aufdie Arme tätowieren lässt. Überlegen Sie also, was Sie an-richten!
Hier im Parlament haben alle Fraktionen die Möglich-keit, zu beweisen, wie ernst es ihnen mit der Bekämpfungvon Intoleranz ist. Gerade morgen könnte auch die Unionbeweisen, wie ernst sie es mit der gemeinsamen Be-kämpfung von Rechtsextremismus, Fremdenfeindlich-keit, Antisemitismus und Gewalt meint.
Aber Sie sind ja aus dem gemeinsamen, interfraktionellenAntrag ausgeschert. Sie machen bei der Beschlussfassunggegen Rechtsextremismus ja nicht mit. Das ist bezeich-nend.
Ich will Ihnen noch Folgendes ganz deutlich sagen:Wer wie die Union den Antrag auf Verbot der NPD nichtmitträgt, hat nicht das Recht, uns den Vorwurf der man-gelnden Bekämpfung von Rechtsextremen zu machen.
Nun möchte ich noch auf die Landtagswahl in Rhein-land-Pfalz eingehen. Wie viele von Ihnen bin ich in die-sem Land unterwegs gewesen. Wenn man sieht, wie CDUund NPD Seite an Seite eine Kampagne gefahren haben,dann muss man befürchten, dass die CDU die Gefahrendurch diese Nationalisten billigend in Kauf nimmt oderzumindest unterschätzt.
Wir unterschätzen diese Gefahren nicht. Wir wollen, dassDeutschland ein tolerantes Land bleibt, in dem sich jedernach eigener Fasson wohl fühlen kann.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Guido Westerwelle.
Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrterHerr Kollege Struck, Sie haben sich in weiten Teilen Ih-rer Rede mit Äußerungen und Gegenäußerungen des
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001
Dr. Peter Struck15693
Herrn Bundespräsidenten befasst. Wenn Sie sich den An-trag, den wir Freie Demokraten unterstützen, noch einmalanschauen, dann werden Sie erkennen, dass nicht derBundespräsident kritisiert wird, sondern dass es um HerrnTrittin geht. Herr Trittin soll entlassen werden.
Es ist kein Zufall, dass Sie hier regelmäßig die Kurvekriegen. In Wahrheit haben Sie gar nicht die Absicht – dasist nachvollziehbar –, sich vor Herrn Trittin zu stellen. Siesind in Ihrem Herzen über diese Äußerungen genauso ent-setzt wie nahezu alle Kolleginnen und Kollegen hier. Esgibt in Wahrheit sieben Gründe, warum Herr Trittin nochim Amt ist: Das sind die sieben Minister, die vor ihm ge-gangen sind.
Originalzitat einer Aussage von Herrn Müntefering ineiner großen deutschen Talkshow: „Der Trittin war be-kloppt, als er das gesagt hat.“ Heute lesen wir im „Stern“ein informatives Interview des Grünen-Sprechers FritzKuhn. Frage: „Ist Trittin ein grüner Wählermagnet?“ Ant-wort: „Er ist ein guter Umweltminister.“ Frage: „Die SPDsagt: Er ist ein bekloppter Idiot.“ Antwort: „Das habe ichin der Kombination noch nicht gehört.“
Ich war mehrere Jahre Mitglied einer Koalitionsfrak-tion. Ich sage Ihnen eines: Der einzige Grund, warum dieSozialdemokraten Herrn Trittin nicht mit Freude aus demKabinett verabschieden, ist, dass der grüne Koalitions-partner sonst noch ein Stückchen mehr bröckelt und brö-selt. Es sind allein Gründe der politischen Stabilität derKoalition, die Sie dazu bewegen, an Herrn Trittin auf derRegierungsbank festzuhalten. Aber Herr Trittin hat seineAufgabe so wahrgenommen, dass er auf diesem Minister-sessel nicht bleiben darf. Er muss entlassen werden!
Sie erwecken den Eindruck, als handele es sich dabeium eine einzige spontane Entgleisung. Das war es abernicht. Am Tag nach dieser Äußerung wurde diese Ent-gleisung in einem Brief von Herrn Trittin an den KollegenMeyer – dieser Brief wurde unterzeichnet und abge-schickt – schriftlich bestätigt. Der eigentliche Punkt istdoch nicht, dass Herr Trittin kein Verhältnis zum Beneh-men hat und dass er eine Verrohung der deutschen Politikbewirkt. Das große Problem ist in Wahrheit das Denken,das hinter diesen Äußerungen steht. Das ist es, was wirFreie Demokraten kritisieren.
Wenn der deutsche Bundeskanzler in diesem Zusam-menhang – er kann heute verständlicherweise nicht hiersein – wörtlich von einer „Menschenjagd“ spricht, dannmuss ich bei allem Respekt vor dem Herrn Bundeskanz-ler sagen: Das ist eine weitere Entgleisung. Es ist dasRecht der Opposition, die Entlassung eines Ministers zubeantragen, der aus unserer Sicht nicht mehr anständig ar-beitet.
Wer, wie Herr Trittin, ein Leben lang Bäume gefällt hat,der kann nicht erwarten, dass man um ihn herum einenNaturschutzpark anlegt.
Das wird nicht passieren.Ich will mich etwas mit dem Geist auseinander setzen,der hinter Herrn Trittins Äußerungen steht. Es gibt ei-gentlich zwei, drei Gesichtspunkte, die mir wesentlich er-scheinen.Als Erstes möchte ich den Herrn BundespräsidentenTheodor Heuss – ein großer Liberaler und zweifelsohneein ganz großer Staatsmann unserer Republik – zitieren.Er sagte in seiner Antrittsrede am 12. September 1949:Wir stehen vor der großen Aufgabe, ein neues Natio-nalgefühl zu bilden.Eigentlich geht es bei dieser Debatte genau um dieseFrage. Ich habe bei dem Satz „Ich bin stolz, ein Deutscherzu sein“ den Eindruck, dass manche weniger das Wort„stolz“ als vielmehr das Wort „Deutscher“ stört.
Ich glaube, dass es ein Fehler ist, den Eindruck zu er-wecken, man könne nur auf das stolz sein, was man sel-ber geleistet habe; man dürfe nur auf das stolz sein, wasman selber gemacht habe. Genau diese semantische Ver-wirrung wird kaum verstanden und kann auch nicht ver-standen werden. Ich bin zum Beispiel stolz auf meine El-tern, obwohl ich sie nicht gemacht habe.
Ich bin zum Beispiel stolz, wenn ein Sportverein, dem ichangehöre, erfolgreich ist. Kann man denn nur als Mit-spieler stolz sein oder darf man nicht auch als Fan stolzsein?Wenn man auf sein Elternhaus stolz ist, erhebt man sichnicht über andere. Wenn man auf sein Land stolz ist, er-hebt man sich auch nicht über andere Länder.
Ich bin unverändert der Auffassung: Wer den Men-schen das Recht abspricht – das sage ich gerade als einüberzeugter Europäer –,
stolz auf das eigene Land zu sein, der entwurzelt sie.
Ich glaube, es wäre ein riesengroßer Fehler, wenn man diejungen Menschen, die 18-, 19- oder 22-Jährigen, die an
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001
Dr. Guido Westerwelle15694
diese Debatte viel unbefangener, natürlicher und unver-krampfter herangehen, diesen rechtsradikalen Stichwort-gebern überlassen würde. Nur weil Rechtsradikale dieNationalhymne singen, werde ich nicht künftig daraufverzichten.
Ich glaube auch, dass das Wort vom Verfassungspa-triotismus nicht ausreicht. Ich bin ein Verfassungspatriotund ich glaube, dass der Verfassungspatriotismus ein sehrgesunder Patriotismus ist.
Aber er ist letzten Endes ein rationaler Patriotismus. Esgeht um das rationale Verhältnis zum Grundgesetz, aberauch zu den Ideen, zu den Erfolgen und Institutionen un-seres Landes. Aber ein rationaler Patriotismus reicht nichtaus, wenn nicht auch persönliche Leidenschaft für dasGemeinwesen und für seine Menschen hinzukommt.
Deswegen möchte ich mit daran arbeiten – vielleichtmit Ihrer Hilfe – und an Sie appellieren, dass wir diesengesunden Patriotismus,
ein Stück der nationalen Identität, eben nicht den falschenDeutschen überlassen. Das ist unsere eigentliche Auf-gabe.
Ich bin auch auf Dinge in unserem Lande stolz, an de-nen ich selber wenig Anteil hatte. Ich bin zum Beispielstolz auf die Deutschen, die mit der Kerze in der HandHerrn Honecker das Fürchten gelehrt haben. Ich bin stolzdarauf, wenn beispielsweise in dieser Zeit deutsche Sol-daten im Ausland Friedenseinsätze haben. Ich bin stolzauf diese Deutschen und ich finde, man muss sich dafürnicht entschuldigen oder genieren. Das ist der eigentlicheGenerationenpunkt, die politische „correctness“, die ausIhren Worten spricht. Ihr habt heute nicht mehr die Mehr-heit. Die Mehrheit der Deutschen lässt sich nicht mehr indie rechte Ecke schieben, nur weil sie sagt: Ich bin stolzauf unser Land und auf die eigene Nation.
Dies ist der große Widerspruch, ich glaube, auch der al-ten politischen Linken. Sie meint nämlich, dass sich Stolzauf das eigene Land und Weltoffenheit gegenseitig aus-schließen.
Meine Gegenthese lautet: Dies ist genau das, was sich ge-genseitig bedingt. Wer zu seinem eigenen Land keineemotionale, herzliche Bindung empfindet, der wird mei-ner Einschätzung nach in der Regel nicht in der Lage sein,andere Nationen und Gesellschaften ausreichend zu res-pektieren.
Deswegen sage ich Ihnen: Das Denken, das hinter denAusführungen von Herrn Trittin steht, hat sich überholt.Es ist nicht mehr das Mehrheitsdenken. Jahrelang ist dieseDiskussion durch die politische „correctness“ erdrücktworden. Das ist vorbei.
Das ist das einzig Gute, das ich dieser Diskussion nachdiesen Äußerungen abgewinnen kann. Herr Trittin sollteentlassen werden. Aber die Diskussion muss weitergehen,und zwar ganz in dem Sinne, wie es Theodor Heuss ein-mal angeregt hat.
Jetzt hat dieFraktionsvorsitzende der Bündnisgrünen, Kerstin Müller,das Wort.
Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Umes gleich zu Anfang klar zu sagen: Natürlich war der Satzvon Jürgen Trittin, Kollege Meyer habe die Mentalität ei-nes Skinheads, ein politischer Fehler. Ich sage dazu: Eswar auch kein guter politischer Stil. Es war deshalb rich-tig und notwendig, dass sich Jürgen Trittin öffentlich undauch persönlich bei Laurenz Meyer dafür entschuldigthat.
Diese Entschuldigung hat Laurenz Meyer im Übrigenangenommen. Er hat heute Morgen ausdrücklich betont,die Angelegenheit sei damit für ihn persönlich erledigt.Auch Sie haben das heute erklärt, Herr Merz. Dass Sieaber trotzdem seit Wochen im Wahlkampf mit Interviews,Plakataktionen und Unterschriftensammlungen eine – ichsage es noch einmal – regelrechte Menschenjagd veran-stalten,
wie es der Bundeskanzler zu Recht beklagt hat,
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Dr. Guido Westerwelle15695
zeigt mir, dass es mit Ihrer Sorge um die demokratischeund politische Kultur in unserem Lande offensichtlichnicht weit her ist.
Ich bedauere auch deshalb sehr, dass Jürgen Trittindiesen Vorwurf gegen Ihren Generalsekretär erhobenhat, weil er einfach falsch ist. Herr Meyer ist keinSkinhead und er hat auch nicht die Mentalität einesSkinheads.
Was Ihr Generalsekretär und was Sie, meine Damenund Herren von der Union, tun, ist natürlich nicht rechts-radikal. Aber es ist dennoch hochgefährlich. Darübermüssen wir reden.
– Sie wollen doch über Jürgen Trittin und über seineÄußerung reden. Das werden wir heute tun.Glauben Sie etwa, es ist ein Zufall, dass die Republi-kaner im Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen die Kinder-statt-Inder-Parole von Jürgen Rüttgers plakatiert haben?Überrascht es Sie, dass die Republikaner in Baden-Würt-temberg ihren Wahlkampf mit dem von Ihnen in die Dis-kussion gebrachten Begriff von der deutschen Leitkulturgeführt haben?
– Doch, ich kann Ihnen das Plakat zeigen. Darüber solltensie einmal nachdenken. – Stört es Sie nicht, dass sich dieNPD in Rheinland-Pfalz mit ihren Deutsch-Stolz-Auf-klebern an Ihrer Unterschriftenkampagne gegen JürgenTrittin beteiligt hat?
Sie haben sich heute davon nicht distanziert, HerrMerz. Sie müssten wenigstens einmal darüber nachden-ken. Fakt ist – das lässt sich nun einmal nicht von derHand weisen –: Sie liefern mit solchen Kampagnen denRechten immer wieder die Stichworte für ihren Wahl-kampf. Das finde ich unverantwortlich.
Sie tun das – ich meine es wirklich sehr ernst – in einerSituation, in der wir tagtäglich mit rassistischer Gewalt inDeutschland konfrontiert sind; denn auch im letzten Jahrist die Zahl der rechtsextremistischen Straftaten leidernoch einmal um 60 Prozent gestiegen. Morgen werdenwir in diesem Hause darüber debattieren, wie wir alle ge-meinsam diese Entwicklung erfolgreich stoppen können.Ich frage Sie: Glauben Sie denn ernsthaft, man könne dieRechtsradikalen bekämpfen, indem man mit ihren Paro-len Politik macht und ihre Parolen übernimmt? Das kön-nen Sie doch nicht ernsthaft glauben.
Das gilt im Übrigen auch für Ihre verquaste National-stolzdebatte.Wie Herr Merz angekündigt hat, soll diesesThema Gegenstand der Debatte sein. Was heißt denn derSatz, der wohl, wenn es nach Ihnen ginge, in die Eidesfor-mel von Bundespräsident und Regierungsmitgliedern auf-genommen werden soll? Was bedeutet denn der Satz „Ichbin stolz, ein Deutscher zu sein“? Genau das hat HerrMeyer gesagt. Kann man stolz sein auf die Tatsache, hierzufällig als Kind deutscher Eltern geboren worden zusein?
Diese Diskussion ist interessant. Dieses „völkischeWir“, wie es Josef Joffe in dieser Woche in der „Zeit“ ge-nannt hat, grenzt aus:
alles andere, alles Fremde und die Menschen, die ohnedeutschen Pass in unserem Land leben, die aber diesesLand und diese Gesellschaft mittragen und mitgestalten.Deshalb hat Bundespräsident Johannes Rau Recht, wenner sagt – darin liegt der Unterschied, Herr Merz; das ha-ben Sie heute wieder durcheinander gebracht –: Stolzkann man nur auf die eigene Leistung beziehen, auf das,was hier geschaffen worden ist.
Wenn Herr Goppel von der CSU diese, wie ich finde,bedächtige Mahnung des Bundespräsidenten zum Anlassnimmt, sogar die Eignung von Johannes Rau als Bundes-präsident infrage zu stellen, dann möchte ich Sie von derUnion fragen: Wollen Sie demnächst einen nationalen Ge-sinnungs-TÜV einführen? Wollen Sie Roman Herzog, derschon vor vielen Jahren genau das Gleiche gesagt hat,jetzt noch nachträglich die Eignung als Bundespräsidentabsprechen?
Auch Sie, Herr Westerwelle, von den so genannten Li-beralen, springen jetzt auf diesen national-konservativenZug auf.
Als Gipfel habe ich es empfunden, dass Sie von Ver-klemmtheit schwafeln,
nachdem der Bundespräsident solch bedächtige Mahnun-gen ausgesprochen hat. Herr Kollege, ich bin davon über-
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zeugt – das meine ich sehr ernst, weil es mich politisch ge-prägt hat –, dass man vor dem Hintergrund unserer Ge-schichte bei Sprüchen, die an den Nationalstolz der Deut-schen appellieren, bedächtig und vorsichtig sein muss.Wer dies abstreitet, handelt meiner Meinung nach ge-schichtslos.
All denen, die mit der deutschen Geschichte unbefan-gen – so war auch heute wieder Ihre Formulierung – undmit dem Begriff der deutschen Nation unverkrampft um-gehen wollen, kann ich nur sagen: Ja, es ist nun einmal so:Wir als Deutsche können und sollten angesichts unsererVergangenheit nicht einfach so über unseren National-stolz schwadronieren.
Wer Unbefangenheit fordert, meint eigentlich die Ent-sorgung der Geschichte und: Lasst uns über die Vergan-genheit nicht mehr reden! Das, liebe Kolleginnen undKollegen, wird sich in Deutschland hoffentlich nichtdurchsetzen.
Nun komme ich zu Herrn Glos, der heute leider nichtanwesend ist. Er hat in der letzten Woche während der De-batte Willy Brandt als Kronzeugen dafür, dass man stolzsein darf, Deutscher zu sein, bemüht.
Willy Brandt hat aber etwas völlig anderes gesagt. Er hat1972 gesagt: „Wir können stolz sein auf unser Land.“
Er hat damit den Stolz auf die Ostverträge, die den Wegzum Frieden mit den osteuropäischen Ländern geebnethaben, und den Grundlagenvertrag mit der DDR, der zueinem Grundstein der Wiedervereinigung geworden ist,gemeint. Das entsprechende Plakat hat Herr Glos hierhochgehalten.
Dass nun ausgerechnet Sie die Leistungen der damaligenRegierung für sich instrumentalisieren, ist wirklich dasAllerletzte;
denn damals haben Sie in ähnlichen Debatten mit demVorwurf des Vaterlandsverräters und dem schlimmenSpruch von der fünften Kolonne Moskaus versucht, WillyBrandt und seine Regierung zu denunzieren. Das istungeheuerlich!
Sie sollten sich da besser zurückhalten. Willy Brandtkonnte auf diese Leistung wirklich stolz sein.
– Jetzt hören Sie mal zu! Sonst haben Sie gleich den Un-terschied zwischen den beiden Dingen immer noch nichtverstanden.
Ich sage hier sehr klar: Ich habe kein Problem, auf un-ser Land stolz zu sein.
Wir können heute auf vieles stolz sein, zum Beispiel da-rauf, dass wir beim Staatsbürgerschaftsrecht das Rechtauf Einbürgerung insbesondere für alle, die hier geborenwerden, gleich welcher Abstammung, neben das völki-sche Prinzip gestellt haben. Diese Regierung signalisiertdamit allen Menschen in dieser Gesellschaft, dass sie da-zugehören. Sie von der Union haben sich bis zuletzt mitZähnen und Klauen gegen den Abschied vom Blutsrechtgewehrt. Ich erinnere nur an die unselige Unterschriften-kampagne Ihres Kollegen Koch in Hessen. Darum geht esin der Patriotismusdebatte.
Ja, wir sind stolz auf dieses Land. Ich bin zum Beispielstolz, wenn engagierte Menschen aus Initiativen und Kir-chen Zivilcourage zeigen und Flüchtlinge vor rechtsradi-kaler Gewalt schützen.
Wir können – auch das gehört dazu – nicht stolz daraufsein, dass immer noch tagtäglich Flüchtlinge und Ob-dachlose im Namen des Deutschtums gejagt, verletzt oderauch getötet werden.
Ich sage ganz persönlich noch etwas dazu – auch dasgehört in diese Debatte –: Ich schäme mich, wenn Syna-gogen von Rechtsradikalen in Brand gesetzt werden. Ichglaube, nur wer in der Lage ist, sich für schlimme Fehl-entwicklungen in dieser Gesellschaft zu schämen,
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der kann auch ehrlich stolz auf die Leistungen unseresLandes und seiner Bürger sein.
Wir sind stolz darauf, dass mündige Bürgerinnen undBürger von ihrem Recht Gebrauch machen, für ihre Mei-nung auf die Straße zu gehen, dass Schwule und Lesbenheute in Köln, Berlin und Hamburg öffentlich ihre Para-den feiern können. Das war vor einigen Jahren nicht mög-lich.
Wir sind heute ein demokratisches, ein weltoffenes Land.Im Übrigen: Ich bin stolz darauf, dass die 68er-Gene-ration und damit zum Beispiel auch Joschka Fischer,
den Sie und die Sie so fanatisch bekämpfen, viel dazu bei-getragen haben, dass dieses Land so liberal und weltoffengeworden ist, wie es heute ist.
– Die 68er-Debatte ist wirklich Ihr Thema, nicht wahr?Es geht um die Leistungen, um die Errungenschaften.Wir sind natürlich stolz auf die umweltpolitischen Leis-tungen, die wir gemeinsam mit dem Umweltminister indieser Regierung erreicht haben, darauf, dass wir endlicheine neue Energiepolitik angepackt haben, dass wir end-lich konkrete Maßnahmen für den Klimaschutz umsetzen,damit wir das, was Sie, Frau Merkel, als Umweltminis-terin in Rio und Kioto versprochen haben, tatsächlich er-reichen können. Darauf sind wir stolz
und auf unsere Freundinnen und Freunde aus der Bür-gerbewegung der DDR. Sie können wahrhaft stolz sein,dass sie und niemand sonst mit ihrer friedlichen Revolu-tion die Diktatur überwunden haben.Wir sind auch stolz darauf, dass von Deutschland heutekeine Bedrohung mehr gegenüber unseren Nachbarn aus-geht, dass die deutsche Außenpolitik Friedenspolitik ist,
dass wir vor der historischen friedlichen VereinigungEuropas stehen. Das konnte nur mit einer Kultur derZurückhaltung, der Mäßigung und des Maßhaltens er-reicht werden.
Mit Ihrem Brachialpatriotismus
wäre weder die Entspannungspolitik der 70er-Jahrenoch der europäische Einigungsprozess möglich gewesen.
Meine Damen und Herren von der Union, Ihr KollegeHeiner Geißler hält Ihnen heute in einem Interview in der„Zeit“ Folgendes vor:Müssen jetzt die CDU-Leute schon sagen: „Ich binstolz, ein Deutscher zu sein?“ – Werden sie sonst zuApostaten? ... Christ sein, Demokrat sein ist für un-sere Identität wichtiger als nationale Selbstbefriedi-gung.Vielleicht sollten Sie sich dieses Zitat einmal zu Herzennehmen.
Lassen Sie uns – damit komme ich zum Schluss – dieDebatte über unser Land führen, darüber, wie wir es ge-stalten wollen, wie wir es liberaler und gerechter machenkönnen, wie wir zukünftigen Generationen eine intakteUmwelt hinterlassen können, und lassen Sie uns dieseunsägliche Debatte um den Deutschstolz beenden! Dennsie führt nicht weiter, sie führt in die Sackgasse. Wir brau-chen keine Ersatzdebatten, wir brauchen konstruktiveDiskussionen über die Zukunft dieses Landes. Denenwerden wir uns auch wieder zuwenden, und zwar nach-dem wir Ihren unsäglichen Antrag hier abgelehnt haben.
Das Wort hat
jetzt der Herr Kollege Claus.
Frau Präsidentin! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Die Union hat hier mit er-staunlicher Klarheit gesagt, worum es ihr wirklich geht.Deshalb verdient sie auch, zu ihrem Antrag zunächst mitaller Klarheit gesagt zu bekommen: Dieses Ansinnen leh-nen wir ab. Zu diesem Antrag sagt die sozialistische Op-position im Bundestag ein klares Nein.
Wir sagen dieses Nein, weil wir uns dem Versuch wider-setzen, das politische Koordinatensystem der Republiknach rechts zu verschieben. Darum geht es Ihnen doch inWirklichkeit.
Den Kampf um die Mitte haben Sie offenbar aufgegebenund nun versuchen Sie es auf diesem Wege.
Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Heimatliebe istkein Pachtgut der CDU.
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Kerstin Müller
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Falls Sie auch noch auf diesen Antrag stolz sein sollten,sollten Sie wissen, dass dabei eines deutlich wird: Allzuviel Stolz setzt offenbar Verstand und politische Kulturgleichermaßen außer Kraft. Das ist hier geschehen.
Damit ist natürlich nicht gemeint, dass wir mit demVergleich von Minister Trittin einverstanden wären. Erhat sich die Kritik redlich verdient und wir haben sie ihmauch mitgeteilt. Er ist hier, so meinen wir, in eine Falle deskalten Krieges getappt.
– Ja, die Fallen des kalten Krieges stehen in diesem Landeoffenbar immer noch herum.Er hat damit der Union einen lange erwarteten Anlassgeliefert. Er hat ihre Logik bedient, die lautet: Bestätigeuns das Bild, das wir von dir haben, aber es muss bitteschön ein Feindbild sein.
Damit hat Jürgen Trittin eigentlich seine Verbündetenmehr als seine politischen Gegner getroffen; er weiß dasauch. Zwar war es sehr nötig, sich bei Laurenz Meyer zuentschuldigen, aber noch nötiger wäre es eigentlich, sichbei seinen politischen Mitstreiterinnen und Mitstreiternzu entschuldigen.
Die Botschaft der Union lautet: Wir bleiben im kaltenKrieg, notfalls mit den Parolen des Rechtsextremismus.
Daran gibt es doch überhaupt keinen Zweifel mehr: Wennes eine Erkennungsmelodie der Rechtsradikalen in diesemLande gibt, dann ist es der Ausspruch „Ich bin stolz, einDeutscher zu sein“. Da liegt auch der Kern des Problems.
Herr Kollege Westerwelle, Sie haben es sich einfach zuleicht gemacht, als Sie sagten, uns unterscheide das Ver-hältnis zum Land, zur Heimat.
Es ist zwar ein scheinbar kleiner, aber doch ein wesentli-cher Unterschied, ob man seine Verbundenheit zu einemLand formuliert oder aber sie an der mehr oder wenigerzufälligen – auch noch männlichen – Mitgliedschaft zu ei-ner bestimmten Nation festmacht.Wir stellen fest: Erst hat die CDU die Parole derRechtsextremisten übernommen und nun soll diese Mo-ralauffassung auch noch dem Bundestag übergestülptwerden. Zu einer solchen Art Patriotentest oder Gesin-nungs-TÜV sagen wir ausdrücklich Nein. Das ist mit unsnicht zu machen.
Herr Kollege Glos hat gesagt, Trittin habe der CDU indi-rekt Stimmen von den Reps besorgt. Das mag richtig sein.Aber wenn das stimmt, dann stimmt auch, dass Herr LaurenzMeyer dasselbe getan hat, aber nicht indirekt, sondern direkt.
Das alles sind, wie Sie wissen, keine Betriebsunfälle imAdenauer-Haus. Ist es auch Meyer, so hat es doch Methode.Eigentlich ginge es darum, gemeinsame Anstrengun-gen um die Wiedergewinnung von Menschen für die De-mokratie zu unternehmen. Das aber tun Sie genau nicht.Sie fischen hier im Trüben, im demokratieabgewandtenSpektrum der Gesellschaft.
Wenn Herr Glos dann auch noch sagen zu müssenmeint, Herr Trittin sei eine Schande für unser Land, dannlenkt er von alledem ab, was wirklich eine Schande fürunser Land ist:
Neonazis, Antisemitismus, die zu späte, noch immerblockierte Zwangsarbeiterentschädigung. Davon lenkenSie ab, indem Sie uns auf Stolz verpflichten wollen. DasVerhältnis zu Deutschland auf Stolz zu reduzieren hieße,Scham und Sühne auszublenden. Mein Deutschlandbildist dies nicht.Dass Sie in Ihrem Zorn – darüber ist schon gesprochenworden – selbst vor dem Bundespräsidenten nicht Haltmachen, zeigt doch nur, was wirklich in Ihnen vorgeht.
Deswegen sagen wir Ihnen noch einmal: Es geht hiernicht um Jürgen Trittin, es geht um die demokratischeGrundsubstanz dieser Republik.
Allerdings stellen wir auch eines fest. Wir haben schonden Eindruck, dass der Koalitionspartner SPD gegenwär-tig den Bundesumweltminister mehr, energischer undstärker schützt als die eigene Fraktion der Grünen. Nachmeinem Eindruck offenbart sich dies hier.
Ich stelle mir die Frage, woher das kommen kann. Ichsage mir dann: Wenn jemand bei den Grünen wirklichüber Schwarz-Grün nachdenken sollte, dann wäre Trittinnatürlich ein rotes Tuch, wie immer das bei Ihnen inter-pretiert wird.
Die Union handelt mit diesem Antrag natürlich auch ineigener Sache. Die Union braucht ihr Feindbild und fragtsich: Wie können wir uns das Feindbild Trittin dauerhafterhalten? – Wir können es am besten erhalten, indem wirseine Entlassung fordern. – Deshalb haben Sie hier diesenAntrag gestellt.
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Ich hoffe, dass bei Ihnen auch ein bisschen Unbehagendarüber einsetzt, dass Sie solche Anträge stellen und sol-che Debatten hier eröffnen. Wir sagen dazu ein klaresNein.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich jetzt dem Kollegen Heiner Geißler das
Wort.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Müller,
Sie haben mich korrekt zitiert; aber Sie können mich mit
dem, was ich gesagt habe, nicht zur Verteidigung von
Jürgen Trittin in Anspruch nehmen. Das können Sie nicht
tun.
Ich bin in der Tat der Auffassung, dass es für mich
wichtig ist, Deutscher zu sein, aber ich versuche, Christ zu
sein, und ich will Demokrat sein. Die beiden letzteren
Identitäten – das sage ich auch ganz klar – sind für mich
wichtiger.
Dies entspricht dem Menschenbild, das wir haben, näm-
lich dem christlichen Menschenbild, das die Würde des
Menschen von der Zugehörigkeit zu irgendeiner Katego-
rie des Menschen unabhängig macht.
Aber dieses Menschenbild hindert mich nicht, meine
Heimat und mein Vaterland zu schätzen und zu lieben.
Das ist doch ganz selbstverständlich.
Damit uns die Prioritäten klar sind: Das Nationale ist
in der Tat kein Grundwert. Das Nationale kann sich mit je-
der Ideologie verbünden.
Die Nationalsozialisten haben sich des Nationalen
bemächtigt, sogar die Kommunisten haben sich dessen
bemächtigt. Das Nationale bekommt dann einen Sinn – so
verstehen dies im Übrigen die Franzosen –, wenn es sich
mit wirklichen Grundwerten verbindet, nämlich mit der
Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit. Dann be-
kommt das Nationale den Rang, der ihm in einer freiheit-
lichen Demokratie zukommt.
Deswegen, Jürgen Trittin, war das, was Sie gesagt ha-
ben, intellektuell unzulänglich und auch moralisch nicht
verantwortbar; denn ich kann – wenn das, was ich gesagt
habe, wahr ist – unmöglich einen Menschen wie Laurenz
Meyer, der anerkannter, überzeugter Demokrat ist und der
in seiner Weise zum Ausdruck gebracht hat, was er von
Deutschland hält, mit rassistischen Schlägern, die andere
Menschen verletzen oder töten, in einen Topf werfen. Das
dürfen Sie nicht tun!
Deswegen – dazu hätte er etwas sagen sollen – können
wir auf der Basis, wie hier von ihm argumentiert worden
ist, diese Debatte um Patriotismus wirklich nicht weiter-
führen. Wir brauchen die richtige Rangordnung. Das
Erste ist die Menschenwürde und sind die wirklichen
Grundwerte. Das Nationale kommt hinzu. Nur so gewin-
nen wir die moralische Kraft, für unser Land einzutreten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Bun-desminister für Wirtschaft und Technologie, Dr. WernerMüller.
Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaftund Technologie: Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Ich habe um das Wort gebeten, nicht etwa, weilich die verbale Entgleisung von Herrn BundesministerTrittin gegenüber Herrn Meyer in einem spontanen Ra-diointerview hier entschuldigen möchte, sondern weilmich der Antrag der Opposition auf Entlassung stört.
Denn dieser Antrag ist kein Beleg einer sachlich überzeu-genden Arbeit der Opposition, sondern leider vielmehrBeleg einer sehr bemerkenswerten Selbstgerechtigkeit.
Welche Selbstgerechtigkeit ist hier deutlich zu erken-nen? Erstens die Selbstgerechtigkeit, anzunehmen, manmache seitens der Opposition eine wesentlich bessereUmweltpolitik, als dies die Bundesregierung mit HerrnBundesminister Trittin tue. Zweitens und vor allem ist esdoch höchst selbstgerecht, wenn man meint, Herrn Bun-desminister Trittin sei hier eine verbale Entgleisung pas-siert, die in den Reihen der Opposition niemals passierenwürde.
Ich will es den Bürgerinnen und Bürgern überlassen, zuentscheiden, was inhaltlich eine schlimmere Entgleisungwar: die Äußerungen gegenüber Generalsekretär Meyer
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oder die plakative Darstellung des Herrn Bundeskanzlersals Verbrecher bzw. auf Verbrecherfotos.
Eine Entgleisung ist meines Erachtens beides. Aber dieEntgleisung von Herrn Bundesminister Trittin war diespontane Entgleisung eines Einzelnen, und die Verbre-cherfotos des Bundeskanzlers waren nicht spontane Fehl-leistungen eines Einzelnen, sondern eine kollektiv ge-plante Diffamierung des Bundeskanzlers.
Wenn Sie hier diskutieren wollen, welche Gesinnung hin-ter dieser spontanen Entgleisung von Herrn Trittin stand,müssen wir auch über die Gesinnung reden, die dahintersteht, wenn kollektive Entgleisungen geplant werden.
Ich teile vollkommen die Auffassung, dass die ersteEntschuldigung von Herrn Bundesminister Trittin nicht inOrdnung war. Man kann nicht einfach sagen: Ich habe dasgesagt, und wenn das jemand als Beleidigung empfindet,dann habe ich das nicht gewollt. – Hier war schon eine an-dere Entschuldigung notwendig; da hat die OppositionRecht. Aber die Opposition sollte auch bedenken, dass sieüber diese völlig inadäquate Entschuldigung in SachenVerbrecherfotos noch nicht hinausgekommen ist.
Inzwischen – das finde ich in Ordnung und beachtens-wert – hat Herr Meyer erklärt, Herr Trittin habe sich inaller Form entschuldigt, er akzeptiere die Entschuldigung,die Sache sei für ihn erledigt.Aber ich möchte zu meinem Gedanken zurückkom-men. Ich sprach davon, dass die Aktion mit den Verbre-cherfotos eine kollektiv geplante Tat zur Diffamierung ei-ner einzelnen Person, der des Bundeskanzlers, war. Ichhabe in der letzten Zeit auch die Diffamierung eines ge-samten Kollektivs, nämlich des Bundeskabinetts, durcheinen Einzelnen beobachtet. Der Generalsekretär derUnion, Herr Meyer – er wurde hier schon öfters erwähnt –,hat kürzlich in einer öffentlichen Rede erklärt, dass dasBundeskabinett Rotlichterfahrung brauche, um arbeits-fähig zu sein.
Ich möchte das zitieren:Frau Schmidt– so Ihr Generalsekretär Meyer –ist vermutlich nur deshalb Ministerin geworden, weildenen nach dem Abgang von Oskar Lafontaine einerfehlte, der sich im Rotlichtmilieu auskennt.
Das ist auch eine Entgleisung.
Mich stört – das sagte ich einleitend – Ihre Selbstge-rechtigkeit, die vielleicht darin begründet ist, dass wir diesim Bundeskabinett schweigend zur Kenntnis genommenhaben.Insgesamt muss ich Ihnen ehrlich sagen: Wenn mandiese Vorfälle der letzten Zeit betrachtet und sieht, wieEntgleisungen – ich will sie einmal so nennen, seien siegeplant oder ungeplant – passieren, dann fragt man sich,wieso, wenn es einmal Ihren Generalsekretär trifft, daraufein Antrag auf Entlassung folgt. Ihr Antrag auf Entlassungwäre nachvollziehbar, wenn Sie vorher Herrn Meyer ent-lassen hätten.
Weil Sie das nicht getan haben – genau genommen hättenSie die Führung entlassen müssen –,
halte ich Ihren Antrag für bemerkenswert selbstgerecht.Jetzt zu dem anderen Punkt, bei dem eine Fehldenkevorliegen könnte: wenn Sie meinen, unter Herrn Trittinund dieser Bundesregierung werde keine gute Umwelt-politik gemacht. Sicher, ich habe oftmals in großen und inkleinen Fragen meinen Streit mit Herrn Trittin über dessenkonkrete umweltpolitische Forderungen. Übrigens streitenwir uns fast nie über die umweltpolitischen Ziele, sondernüber die Wege dahin. Aber dazu muss man ganz klar er-kennen: Wer die Aufgabe hat, den Faktor Natur und seineInteressen zu vertreten, der muss in unserer Gesellschaftkräftig mit den Faktoren Kapital und Arbeit streiten.
Wir finden immer wieder vernünftige Kompromisse:bei den regenerativen Energien, bei der Kraft-Wärme-Kopplung oder bei dem schwierigen Thema Kernenergie.Und mir fällt an Herrn Trittin auf, dass er für die Kom-promisse einsteht, auch wenn ihm das in den eigenen Rei-hen gewaltigen Ärger bereitet. Ich muss Ihnen sagen: Ichschätze dieses Eintreten für Ziele und für gemeinsam ge-fundene Kompromisse. Das ist geradlinig.
Wo ist diese umweltpolitische Geradlinigkeit bei derOpposition? Ist es etwa geradlinig, wenn Sie ein Gesetzüber Dosenpfand machen, als Sie noch an der Regierungwaren, wir dieses Gesetz jetzt anwenden und Sie dieAnwendung Ihres eigenen Gesetzes kritisieren?
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Ist es etwa eine geradlinige Umweltpolitik, wenn man alsUmweltministerin an der Einführung der Ökosteuer ar-beitet – die Papiere liegen ja noch alle vor – und nun inder Opposition genau dies bekämpft?Der Faktor Natur braucht einen harten, geradlinigenVorkämpfer, gerade auch im Kabinett. So schwierig dieZusammenarbeit mit einem solchen Vorkämpfer wie Bun-desminister Trittin oft auch ist, muss ich doch in allerDeutlichkeit sagen:
Ich möchte diese Zusammenarbeit der Sache wegen nichtmissen.
Es ist noch ein Moment Redezeit.
– Es ist noch ein Moment Redezeit; danach höre ich auf. –Gestatten Sie mir, bevor ich aufhöre, doch noch wenigeWorte an die Opposition zu richten. Konzentrieren Siesich doch einfach auf den Versuch einer guten Sacharbeit!
Ich will Ihnen auch sagen, warum: damit man in Deutsch-land auch auf die Opposition stolz sein kann.
Überdenken Sie – ich bitte darum – Ihre Angriffe aufPersonen und Institutionen, wie zum Beispiel auf das Amtund die Person des Bundespräsidenten. Überdenken Siebitte auch Ihr Verlangen, kleinkariert wissen zu wollen,was Mitglieder der Bundesregierung vor 20 oder 30 Jah-ren waren, meinten und sagten. Überdenken Sie alles inallem das, was ich eingangs sagte: Ihre Selbstgerechtig-keit.
Sie können ein Zeichen setzen: Sie können schlicht undergreifend Ihren heutigen Antrag zurückziehen.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion derCDU/CSU spricht jetzt der Kollege Dr. Theodor Waigel.Dr. Theodor Waigel (von Abgeordnetender CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Frau Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist eigenar-tig, dass in den Wortmeldungen der Koalition – mit Aus-nahme in der des nicht dem Parlament und keiner Parteiangehörenden Bundeswirtschaftsministers – der NameTrittin fast nicht vorgekommen ist.
Herr Struck hat es im Rahmen einer Filibusterrede wirk-lich fertig gebracht – er versuchte Herbert Wehner zu imi-tieren; der konnte es natürlich erheblich besser –, den Na-men Trittin nicht zu nennen.Umso besser war es natürlich, dass sein Parlamentari-scher Geschäftsführer Schmidt Folgendes gesagt hat – dasist heute in der „FAZ“ nachzulesen –: „Jeder weiß, nocheinen Schuss hat er nicht frei.“ Das heißt, der Mann stehtheute auf dem Prüfstand. Sie, Herr Müller, erwarten nocheine lange Zeit der Zusammenarbeit. Dabei hat er nurnoch einen Schuss frei. Was ist das für eine Verteidigungeines Ministers durch die SPD?
Frau Müller, ich will Ihnen einmal sagen, wie manRechtsradikale am besten bekämpft: ganz sicher nicht mitder Politik der Grünen, sondern indem man ihnen Wählerwegnimmt und Themen besetzt, sodass diese keineChance haben, ihre radikalen Themen unter die Leute zubringen. Das haben wir in Bayern, in Baden-Württembergund in anderen Ländern unter Beweis gestellt.
Es geht darum, dass wir natürliche Werte wie Heimat, Na-tion und Vaterland nicht den Rechtsradikalen überlassen.Es wäre sehr gefährlich, wenn wir jenen die Chance gä-ben, diese Themen zu besetzen und damit hoffähig zuwerden. Das müssen wir verhindern!
Herr Bundesminister Müller, warum hat eigentlich nichtder Vizekanzler gesprochen? Mit welchem Auftrag sind Siehier vorgeschickt worden? Vielleicht als Kamerad?
Sie sind ja gar kein Mitglied des Parlaments. Die Frage,welche Anträge wir stellen oder nicht stellen, geht Sienichts an! Es ist unsere Angelegenheit, darüber zu ent-scheiden!
Bei den Grünen geht ein Gespenst um: die Angst vorder Vaterlandsliebe.
Ob Amerikaner, Engländer, Franzosen, Russen, Polenoder Tschechen, alle bekennen sich zu ihrer Nation, sindstolz auf die Leistungen ihres Vaterlandes und demons-
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trieren nicht nur an historischen Feiertagen oder anläss-lich von Siegen ihrer Sportler ein gesundes Nationalbe-wusstsein. Wenn wir auf uns nicht stolz sind, wenn wiruns unserer selbst nicht sicher sind, dann werden die an-deren an uns unsicher. Wenn wir das Natürlichste derWelt, nämlich den Stolz auf Heimat, Vaterland und Na-tion, nicht besäßen, wären wir geradezu eine falsche, eineunnatürliche Nation. Genau das dürfen wir in Europa undin der Welt nicht sein.
Der frühere Bundespräsident Karl Carstens zählte dieSchwäche der Bindungen an Nation und Vaterland zu denMängeln der deutschen Demokratie im ausgehenden20. Jahrhundert. Dabei stellt die Nation in den WortenMartin Walsers „im Menschenmaß das wichtigste ge-schichtliche Vorkommen“ dar.In der heutigen industriellen Massengesellschaft, diedurch eine Individualisierung der Lebensverhältnisse,durch einen Wertepluralismus und auch durch ein Nach-lassen religiöser Bindungswirkungen geprägt ist, stelltsich die Frage: Was hält das Ganze zusammen? Es sindprimär nicht universalistische Rechtsvorstellungen. DasBekenntnis zu einer alle bindenden Grundrechtsgemein-schaft ist wichtig. Aber die entscheidende Bindungswir-kung kommt nach wie vor aus dem nationalen Zusam-mengehörigkeitsgefühl. Wenn Deutschland in den letztenzehn Jahren 1 800Milliarden DM für eine große nationaleHerausforderung aufgewendet hat, dann geschah das ausnationalem Zusammengehörigkeitsgefühl, nicht aus derSolidarität der K-Gruppen.
Zur Nation als Solidaritäts- und als Schicksalsgemein-schaft gibt es bis heute keine historische Alternative. Ichlasse mich an europäischem Bewusstsein und Engage-ment von niemandem übertreffen. In den beiden Fraktio-nen CDU/CSU und F.D.P. haben wir in den letzten zehnJahren nun wirklich unter Beweis gestellt, dass wir,manchmal in schwierigster Situation, zu unserer euro-päischen Identität standen. Nur, genauso richtig ist auch,dass Europa nur entstehen kann als ein Europa der Regio-nen, der Nationen und der Vaterländer, so wie es de Gaulleschon in den 60er-Jahren formuliert hat.
Vaterlandsliebe, Patriotismus, Nationalbewusstsein:Das alles hat mit einem pervertierten Nationalismus nichtszu tun. Wir Deutsche wissen um die Irrwege unserer Ge-schichte. Wir haben unsere Lektion gelernt. Wir bekennenuns zu unserer historischen Verantwortung. Aber die Iden-tität des wiedervereinigten Deutschlands auf die Aufarbei-tung des „Tausendjährigen Reichs“ zu verengen, hieße, denDeutschen auf ewig ein bei allen anderen Nationen übli-ches und geläutertes Nationalbewusstsein vorenthalten zuwollen. Ein Volk, das geschichtlich nur von der Vergan-genheitsbewältigung lebt, kann auf Dauer keine unserenbefreundeten und benachbarten Völkern entsprechendenationale und historische Identität ausbilden.
Wenn sich heute die 68er und ihre Erben als die wah-ren Gründer der Demokratie aufspielen, dann stellen siedie Geschichte auf den Kopf. Die Neomarxisten im Um-feld der Frankfurter Schule wollten nämlich keine Demo-kratie, sondern eine Diktatur.
Wer sich lautstark zu Mao, Che Guevara und Ho Chi Minh– alles Diktatoren – bekannt und deren Lehren nachgele-sen und gebetsmühlenhaft nachgeplappert hat, der kanndoch nicht behaupten, er sei für eine Freiheitsdemokratieeingetreten.
Natürlich kann auch ein Patriot an seinem Vaterlandzweifeln, ja sogar verzweifeln. Zwei Tage vor der Kapi-tulation hat der schwäbische Dichter und PhilosophJoseph Bernhart in sein Tagebuch geschrieben:Zu Hause, als ich allein war, umfing mich dieschrecklichste Einsamkeit des Menschen ohne Va-terland.Das schrieb jemand, dem die Nationalsozialisten zwölfJahre seines Lebens genommen und den sie frontal ange-griffen hatten.Das heißt: Er und viele andere haben gespürt, was esheißt, das Vaterland zu verlieren. Sie haben gezweifeltund waren manchmal sogar verzweifelt. Sie haben ihr Va-terland aber nicht weggelegt und auch nicht weggewor-fen. Sein Vaterland kann man nicht wegwerfen.
Der Skinhead-Vergleich des Kollegen Trittin war mehrals eine rhetorische Entgleisung. Er war ein bewusster An-schlag auf die politische Kultur unseres Landes;
denn hinter seinen Äußerungen steht letztlich das Ziel, al-les, was rechts von Rot-Grün steht – von den National-liberalen bis zu den Konservativen –, in die rechtsradi-kale Ecke zu stellen und damit vom politischen Diskursauszugrenzen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Waigel,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Michael
Müller?
Nein.
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Dr. TheodorWaigel15703
Das kommt ausgerechnet aus den Kreisen, die früher imDunstkreis von K-Gruppen und Mescalero-Schmährufengestanden haben.
–
Dr. Peter Struck [SPD]: Unglaublich!)An den Herrn Bundesminister Trittin sei die Frage er-laubt: Wenn Sie nicht auf Ihr Land stolz sind, schämen Siesich dann Ihres Landes? Wie wollen Sie eigentlich deut-sche Interessen vertreten und Politik für Deutschland ge-stalten, wenn Ihnen jede Bindung zu diesem Vaterland,auf das Sie verpflichtet sind, abgeht?
Der Bundeskanzler nannte Sie ein Risiko. Die Presse zi-tiert die Grünen-Abgeordnete Rita Grießhaber mit denWorten: „Er ist so etwas wie ein politischer Quartals-säufer.“
Ich kann Ihnen versichern, dass ich mir diese unpar-lamentarischen Worte nicht zu Eigen mache.
Dem Bundeskanzler fehlt die politische Kraft, einen al-ten Kameraden fallen zu lassen.
Herr Trittin, Sie haben bei der Vereidigung geschworen,Ihre Kraft dem Wohle des deutschen Volkes zu widmenund Schaden von ihm abzuwenden.
Sie können schon aus Gründen der persönlichen Selbst-achtung dem von Ihnen geliebten Land nur noch einenDienst erweisen: Treten Sie zurück!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die letzte Rednerin indieser Debatte ist die Kollegin Anke Fuchs für die SPD-Fraktion.Anke Fuchs (SPD) (von Abgeordneten derSPD mit Beifall begrüßt): Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Eigentlich wollte ich eine sachlicheRede halten, aber jetzt gelingt mir das nicht mehr.Erst einmal möchte ich mich bei dem Kollegen Geißlerdafür bedanken, dass er Herrn Merz und Herrn Westerwelleeine so gute Nachhilfestunde gegeben hat. Wenn die ge-samte Fraktion der CDU/CSU so reden würde, wären wirein Stück weiter.
Willy Brandt hätte heute gesagt: Wir waren schon einmalweiter.Wenn man die Debatten der letzten Wochen verfolgt,muss ich sagen, dass ich ziemlich erschreckt bin.
Der Kollege Waigel hat vom Tausendjährigen Reich ge-redet und diesen Begriff nicht in Klammern gesetzt oder„so genannt“ davor gestellt. Ich hatte das Gefühl: Es warwirklich von gestern, was uns der Kollege Waigel hier ge-boten hat.
Damit dies für meine Fraktion klar ist: Herr Trittin hatsich für seine Äußerung entschuldigt. Wir sind mitei-nander der Auffassung, dass er ein erfolgreicher Umwelt-minister ist.
Deswegen sehen wir keine Veranlassung, ihn zu entlassen.
Ich finde es interessant, was Herr Müller gesagt hat: Ei-gentlich hätten Sie Herrn Meyer entlassen müssen; denner hat sich für sein Plakat mit dem Fahndungsfoto desBundeskanzlers noch nicht entschuldigt. Darauf wartenwir noch. Wir hoffen, dass Sie endlich zur Vernunft kom-men.
Wenn man Unterschriftskampagnen gegen Menschenauflegt, dann ist das Menschenjagd. Dies lassen wir mitden Mitgliedern unseres Kabinetts nicht machen. Deswe-gen lehnen wir es ab, weiter mit Ihnen darüber zu disku-tieren.
Was mich am meisten schockiert, ist die Geisteshal-tung von Herrn Westerwelle. Diese habe ich ihm gar nichtzugetraut. Irgendetwas muss von „Big Brother“ abge-färbt haben, dass Sie in einer so beengten Art und Weisediskutieren.
Ich finde es schade und will Ihnen auch sagen, warum iches schade finde: Diese Debatte ist überflüssig und findetauf einem so niedrigen und verquasten Niveau statt, dasssie den Herausforderungen unseres Landes nicht gerechtwird.
Wir haben doch in unserem Land, in Europa und der Weltetwas anderes zu tun. Ich will an zwei Sachthemen klar-machen, wie verhängnisvoll diese Debatte ist. Die Fragender europäischen Einigung sowie der Zuwanderung undIntegration werden wir mit einem dumpfen Rechtsextre-
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Dr. TheodorWaigel15704
mismus nicht packen können, sondern da sind differen-zierte Antworten gefragt.
Wie steht es mit dem Ansehen der BundesrepublikDeutschland, wenn wir uns mit diesen Themen so ausei-nander setzen? Das ist doch das Problem. Sie mögen allesanders meinen, geben aber Signale in die falsche Rich-tung.
Sie schüren die Ideen jener, die sagen: Deutsche sindbessere Menschen als andere, wir wollen unter uns sein,Ausländer raus.
Damit ermutigen Sie die Falschen und verhindern einevernünftige Politik europäischer Einwanderung.
„Leitkultur“ und „deutscher Stolz“ sind Kampfbegriffe,die unserem Ansehen schaden und der Entwicklung in Eu-ropa nicht förderlich sind.
Wir Frauen haben es gut, denn wir sind ja gar nichtgemeint, da immer vom Stolz, Deutscher zu sein, gespro-chen wird. Stolz, Deutsche zu sein, kommt gar nicht vor.Wir sehen damit wieder einmal, wie verräterisch Sprachesein kann.
Ich will auf das Zusammenleben in Europa zu spre-chen kommen. Die europäische Entwicklung ist doch dieErfolgsgeschichte unseres Landes nach dem ZweitenWeltkrieg. Darüber müssen wir mit unseren Leuten dis-kutieren. Wir müssen sie mitnehmen und überzeugen undin diesem Zusammenhang haben wir noch sehr viel Arbeitvor uns. In dieser Diskussion, Herr Merz, sind die Fragenzu stellen: Wo ist meine Identität, wo ist meine Heimat,wo ist mein Vaterland? Das gilt es einzubeziehen, abernicht mit Vokabeln, die Ausgrenzung signalisieren.
Stolz sein auf Hitler, Ulbricht oder Honecker? Nein,natürlich nicht.
Stolz sein kann man beispielsweise auf das, was wir anstabiler Demokratie, an Partnerschaft mit unseren Nach-barn, an Wohlstand für alle Menschen und an Sozialstaat-lichkeit sowie Rechtsstaatlichkeit aufgebaut haben. Dassind beispielhafte Entwicklungen, und auf die sind wirstolz. Stolz und glücklich sind wir auch darüber, dass dieMenschen in Ostdeutschland in einer friedlichen Revolu-tion die Diktatur abgeschafft haben und wir gemeinsam ineinem wiedervereinigten Deutschland den Weg nach Eu-ropa gestalten können.
Das ist es doch, was uns beflügelt, was uns motiviert, unddas ist doch das, was Willy Brandt meinte, als er sagte:Deutsche, ihr könnt stolz auf euer Land sein, weil ihr fürdie Demokratie und zum Wohle der Menschen in unseremLand etwas geleistet habt.
– Nein, vorher war es anders. Vorher war es eine rück-wärts gerichtete nationale Politik und Willy Brandt hatuns alle aus der Verengung rausgeholt und es war Befrei-ung, Zuversicht, gebrochene Geschichte, Zukunft gestal-ten und nicht auch mit alten Nazis Restauration betreiben– so wie Sie es damals getan haben.
Sie haben damals gegen die Ostverträge gekämpft; wirwissen das noch alle.
– Sie haben das angefangen und wir haben es fortgesetzt.Herr Repnik, es war in der außenpolitischen Entwicklungunseres Landes so: Zuerst hat die CDU/CSU die West-integration gegen unseren Willen betrieben, dann habenwir gegen Ihren Willen die Integration zum Osten hin er-möglicht und die Friedenspolitik gestaltet. Die jeweiligeOpposition hat dabei im Nachhinein die Regierungspoli-tik mitgetragen und dann gab es einen gemeinsamen Kon-sens. Das ist das Stückchen Kontinuität, das wir in derAußenpolitik haben. Deswegen ist es ganz gut, dass wirdaran erinnern, dass die Themen immer zunächst kontro-vers waren. Das macht auch nichts, weil wir trotzdemKontinuität und Stabilität organisiert haben.
Sie haben in diesem Zusammenhang Johannes Rauangegriffen. Ich finde das so lächerlich. Wer JohannesRau und seine Lebensleistung kennt, weiß, wie differen-ziert er mit den Themen Nationalität und Patriotismusumgeht. Einem solchen Mann zu sagen, er sei für seinAmt nicht geeignet, ist so etwas von peinlich,
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Anke Fuchs
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dass ich darüber eigentlich gar nicht mehr sprechenmöchte.
Ich sagte, wir wären schon einmal weiter gewesen.Willy Brandt hätte hinzugefügt: Ich möchte uns ein biss-chen Gelassenheit wünschen. Das gelingt heute nicht,weil alles etwas aggressiv ist.
Wir waren auch mit unseren Bundespräsidenten immerauf einer Schiene.
Sie haben Nationalität, Rechtsaußenorientierung und deut-schen Stolz nie zu ihrer Begrifflichkeit gemacht. Als GustavHeinemann gefragt wurde, ob er das Land liebe, hat er ge-antwortet: Ich liebe nicht den Staat; ich liebe meine Frau. –Das war doch herrlich und schön und es war richtig.
Ich fand es auch schön, als Roman Herzog sagte: Ichkann zur Not noch eine Landschaft lieben. Aber ich liebekeine Institution, den Staat so wenig wie beispielsweisedie Allgemeine Ortskrankenkasse.
Das sind die richtigen Vokabeln. So geht man mit diesemThema um.
Johannes Rau hat ähnliche Vokabeln benutzt. Deswegensage ich: Wir waren schon weiter. Vor dem Hintergrundunserer 50-jährigen Geschichte ist es jetzt fast so, als obEpigonen über etwas reden, von dem sie gar keine Ah-nung haben. So kommt mir das manchmal vor.
Das erste Sachthema, das ich angesprochen hatte, warEuropa und der Hinweis darauf, wie fatal es ist, wenn wirdas Ansehen Deutschlands in Europa beschädigen unddamit den europäischen Weg erschweren. Das zweiteSachthema, das ich ansprechen möchte und bei dem wirdie Menschen mitnehmen müssen und bei dem noch eingroßer Diskussionsbedarf besteht, ist die Einwanderungund Zuwanderung. Ich war sehr glücklich, nicht stolz,als Johannes Rau nach seiner Wahl zum Bundespräsiden-ten in seiner Dankesrede sagte: In Art. 1 des Grundgeset-zes heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“Er fügte hinzu: „Ganz zu Recht sagt das Grundgesetz, dieWürde des Menschen ist unantastbar und nicht nur dieWürde der Deutschen.“ Das waren seine Worte.
Das ist der Fahrplan für eine offene und tolerante Gesell-schaft, für das Zusammenleben der Menschen in unseremLand. Wir sind noch gar nicht so weit gekommen, dass wirwirklich von Integration und von einem Miteinander re-den können. Deswegen ist es so fatal, wenn der Eindruckerweckt wird: Stolzer Deutscher heißt Ausgrenzung und„Ausländer raus!“.
Lassen Sie uns Integration und Zusammenleben in unse-rem Lande zu einem wichtigen Thema der politischenDiskussion machen.
Ich fordere Sie auf: Kommen Sie zu den Sachfragenzurück! Sie werden damit nicht durchkommen, wenn Sienichts zu den Sachthemen sagen und stattdessen meyernund die Bundesregierung bekämpfen und Menschenjagdauf einzelne Mitglieder des Kabinetts machen. Das wirdnicht gelingen. Es gibt viele Fragen, auf die wir eine Ant-wort finden müssen. Ich als Sozialpolitikerin möchte Sieauffordern: Lesen Sie doch bitte noch einmal nach, was inunserem Rentenkonzept steht, und begreifen Sie endlich,dass es zukunftsorientiert ist, die eigenständige sozialeSicherung der Frau zu verbessern, was wir massiv tun. Ichsage Ihnen ganz unmissverständlich: Die Witwenversor-gung verliert für die heute unter 40-Jährigen gegenüberder eigenständigen sozialen Sicherung an Bedeutung. Sienehmen das leider nicht zur Kenntnis, weil Sie diegesellschaftlichen Veränderungen nicht akzeptieren wol-len.
Zum Schluss möchte ich Ihnen noch sagen: Ich freuemich und ich bin auch stolz darauf, dass eine sozialdemo-kratisch geführte Bundesregierung unter BundeskanzlerGerhard Schröder die Reformen durchsetzt, die Deutsch-land braucht.
Es hat viel zu lange keine Veränderungen gegeben. Wirwerden jetzt und – hoffentlich – gemeinsam für die Men-schen in der Bundesrepublik, in Europa und in der Weltjene Werte einfordern und umsetzen, die unser Grundge-setz prägen. Vor uns liegt viel Arbeit. Die verpflichtendenWerte unseres Grundgesetzes, Frieden, Freiheit und Ge-rechtigkeit, sind die Maßstäbe für Politik und Ge-sellschaft, auch in einer globalisierten Welt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Liebe Kolleginnenund Kollegen, es liegen zwei Anmeldungen für Kurz-interventionen vor. Ich bitte die Kollegin Fuchs, gegebe-nenfalls auf beide zusammen zu erwidern.Zunächst erteile ich das Wort dem KollegenDr. Theodor Waigel.
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Anke Fuchs
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Frau Kollegin
Fuchs, Sie haben mir in Ihrer Rede unterstellt, ich hätte
ohne Anführungszeichen vom Tausendjährigen Reich
gesprochen.
Ich zitiere, was ich gesagt habe: Deutschlands Geschichte
umfasst mehr als 1 000 Jahre und darf nicht auf die Jahre
des Terrors, des braunen wie des roten, eingeengt werden. –
Mir aus diesen Worten zu unterstellen, ich hätte ohne An-
führungszeichen vom Tausendjährigen Reich gesprochen,
ist eine Unverschämtheit! Ich fordere Sie auf, sich zu ent-
schuldigen und das zurückzunehmen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Westerwelle, Ihre Kurzintervention bitte.
Frau Präsidentin!
Frau Kollegin Fuchs, ich möchte zunächst einmal etwas
zu der Debatte sagen, soweit sie den Bundespräsidenten
angeht. Ich finde das bedauerlich, dass Sie – ausschließ-
lich Ihre Seite und gerade Sie persönlich; ich habe das
übrigens nicht getan – eine solche Debatte in dieses Haus
hineinholen.
– Ich habe mir das verkniffen.
Aber wenn Sie in diesem Haus etwas zu dem Herrn Bun-
despräsidenten sagen, dann will ich zwei Dinge darauf
erwidern. Als er bei seiner Rede gesagt hat, es gehe um die
Würde der Menschen und nicht nur um die Würde der
Deutschen, habe ich zu denen gezählt, die gesagt haben:
Das ist hervorragend; das ist genau das, was ich selber
fühle und denke. Wenn wir aber freitags im Bundestag
eine Debatte über die Entlassung von Herrn Trittin for-
dern – das ist das Recht der Opposition – und sich der Herr
Bundespräsident am selben Tag dazu äußert, dann muss
ich Ihnen bei allem Respekt sagen: Wenn sich der Herr
Bundespräsident in die Tagespolitik einbringt, dann muss
es das Recht jedes Demokraten sein, darauf zu erwidern.
Nichts anderes ist geschehen.
Was Sie mir an Äußerungen im Hinblick auf den Herrn
Bundespräsidenten unterstellt haben, das habe ich nicht
gesagt; lesen Sie das bitte nach.
Ich will ein Zweites sagen, und das ist genau das Ent-
scheidende. So wie Sie heute mit Herrn Kollegen Waigel
umgegangen sind, so haben Sie auch in meine Richtung
gesprochen. Wenn Sie den Eindruck erwecken, das sei
– das haben Sie ja doppelt und dreifach unterstrichen – die
Menschenjagd gegen einen Mann,
dann möchte ich Ihnen sagen, wie es mir in einem solchen
Augenblick geht: Ich finde, ich nehme als Parlamentarier
der Opposition mein Recht wahr, auf die Entlassung eines
Ministers zu drängen,
von dem ich nicht überzeugt bin. Wenn man dann solche
Begriffe wie Menschenjagd in die Debatte einführt, dann
hat das für mich Assoziationen der Geschichte, die ich mir
verbitte, meine sehr geehrten Damen und Herren!
Ich verbitte es mir, dass Sie in unsere Richtung von
dumpfem Rechtsextremismus sprechen!
Ich verbitte es mir auch, dass Sie sagen, „stolzer Deut-
scher“ bedeute „Ausländer raus!“
Es hat niemand in diesem Hause verdient, dass Sie ihn in
die rechtsradikale Ecke stellen. Bitte argumentieren Sie
nicht mit der Faschismuskeule; das ist Ihrer als Vizepräsi-
dentin dieses Hauses nicht würdig.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zur Erwiderung Frau
Kollegin Fuchs, bitte.
Herr Kollege Waigel, ichhabe es so gehört –
und mehrere mit mir. Ich schaue das aber im Protokollnach. Wenn Sie es nicht gesagt haben, entschuldige ichmich sofort. Aber ich habe es so gehört und war deswegenempört – und mehrere Kolleginnen und Kollegen eben-falls.
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– Nein, es kommt darauf an, was Sie gesagt haben; manch-mal weicht man ja auch vom Konzept ab. Auch ich habeetwas anderes erzählt, als ich vorhin aufgeschrieben habe.
Herr Kollege Waigel, nehmen Sie mir ab, dass ich es sogehört habe. Aber wir werden im Protokoll, das ja nichtgeändert werden wird, nachlesen, was Sie gesagt haben.Wenn ich etwas aufgeschnappt habe, was Sie nicht gesagthaben, entschuldige ich mich dafür.
Nun zu Herrn Westerwelle. Die Debatte nimmt ja eineschöne Entwicklung. Sie zeigt mir, dass Herr Westerwelleoffensichtlich folgende Strategie fährt: In der Öffentlich-keit darf ich sagen, was ich will, aber für das Parlamentgilt nur, was ich hier gesagt habe. Wo kommen wir dennda hin, wenn wir das, was wir außerhalb dieses Hauses öf-fentlich vertreten, hier nicht mehr rechtfertigen?
Sie haben den Bundespräsidenten, Johannes Rau, ange-griffen; deswegen verteidigen wir ihn doch. Wenn wir unsheute darin einig sind, dass es keinen Sinn macht, die Per-son Johannes Rau zu beschädigen, und dass es erst rechtkeinen Sinn macht, den Bundespräsidenten in seinem Amtzu beschädigen, dann sind wir ein Stückchen weiter.Auch wenn Sie die Auffassung vertreten, dass sich derBundespräsident nicht hätte äußern sollen, dann geht estrotzdem nicht, dass Sie ihn angreifen. Der Bundespräsi-dent ist eine Institution. Er spricht für die BundesrepublikDeutschland und für die Menschen in unserem Lande. Erist nicht jemand, der überhaupt nichts mehr sagen darf.
Was Sie gesagt haben, finde ich schon sehr seltsam. Ichsage Ihnen noch einmal: Sie haben den Bundespräsiden-ten in der Öffentlichkeit angegriffen und dagegen habe ichmich hier verwahrt.Nun zum Kern Ihres Angriffs. In einer solchen Debattemerkt man, dass wir unterschiedliche Grundpositionenhaben. Wir haben unterschiedliche Erfahrungen, unsereGefühle und unsere politischen Überzeugungen sind un-terschiedlich. Manche verbale Entgleisung rührt daher.Nehmen Sie denn nicht zur Kenntnis, dass die Rechtsra-dikalen Begriffe wie „Leitkultur“ und „deutscher Stolz“besetzen und damit Ausgrenzung – –
– Nehmen Sie das nicht zur Kenntnis? Wenn Sie das nichttun, dann müssen Sie nicht nur die „Welt“, sondern aucheinmal andere Zeitungen lesen, in denen das vernünftigdokumentiert und kommentiert wird, sodass man sicheine eigene Meinung bilden kann.
Ich mache mir Sorgen, weil ich wie Sie möchte, dasswir die demokratische Entwicklung gewaltfrei und ohnenach rechts ausscheren zu müssen vorantreiben können.Sie müssen sich darüber im Klaren sein, welche SignaleSie aussenden, wenn Sie immer wieder von „deutscherLeitkultur“ sprechen. Sie wissen doch, dass die Rechtsra-dikalen „Ausländer raus!“ fordern. Sie kennen doch dieRechtsradikalen, die sagen: Wir wollen unter uns bleiben.All diese Sprüche sind Ihnen bekannt. In Bezug auf un-sere Wortwahl müssen wir darauf achten, dass wir keinefalschen Signale von uns geben. Das müssen Sie noch ler-nen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-sprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktion der CDU/CSU auf sofortige Entlassung des Bun-desministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit, Jürgen Trittin, Drucksache 14/5573. Die Fraktion derCDU/CSU verlangt namentliche Abstimmung. Ich bittedie Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehe-nen Plätze einzunehmen. – Sind alle Urnen besetzt? – Dasist der Fall.Die Abstimmung ist eröffnet.Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seineStimme nicht abgegeben hat? – Das ist offensichtlichnicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte dieSchriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählungzu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnenspäter bekannt gegeben.1)Von den Kolleginnen und Kollegen Rita Grießhaber,Helmut Lippelt, Christa Nickels sowie Antje Vollmergibt es eine persönliche Erklärung zum Abstimmungsver-halten gemäß § 31 der Geschäftsordnung in schriftlicherForm. Der Kollege Oswald Metzger hat sich dieser Er-klärung angeschlossen.2)Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir setzen die Bera-tungen fort. Ich bitte Sie – auch die Kolleginnen und Kol-legen der F.D.P. –, umgehend Ihre Plätze einzunehmenoder den Saal zu verlassen, da es sich bei den nächsten Ta-gesordnungspunkten um einen Ohne-Debatte-Punkt mitmehreren Abstimmungen handelt.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b sowieZusatzpunkt 4 auf:20 a)Überweisungen im vereinfachten VerfahrenErste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Sozialgesetzbuchs– Neuntes Buch – Rehabilitation undTeilhabe behinderter Menschen– Drucksachen 14/5531, 14/5639 –
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001
Anke Fuchs
15708
1) Seite 15711 D2) Anlage 2Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
InnenausschussSportausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieVerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-zungHaushaltsausschussb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Staatsangehörigkeitsgesetzes– Drucksache 14/5654 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendZP 4 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
Beratung des Antrags der Abgeordneten AnnetteFaße, Hans-Günter Bruckmann, Dr. PeterDanckert, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPD sowie der Abgeordneten Helmut Wilhelm
, Albert Schmidt (Hitzhofen), Kerstin
Müller , Rezzo Schlauch und der Fraktiondes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENPotenziale im Wasserstraßentransport umwelt-und naturverträglich nutzen – Intermodalitäts-stärken– Drucksache 14/5667 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a bis 21 c auf:21. Abschließende Beratungen ohne Aussprachea) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 12.April 1999 zum Schutz des Rheins– Drucksache 14/4674 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit
– Drucksache 14/5282 –Berichterstattung:Abgeordnete Petra BierwirthKurt-Dieter GrillWinfried HermannBirgit HomburgerEva Bulling-Schröterb) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrateingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Si-cherstellung der Nachsorgepflichten bei Abfall-lagern– Drucksache 14/4926 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit
– Drucksache 14/5633 –Berichterstattung:Abgeordnete Petra BierwirthCajus Julius CaesarMichaele HustedtBirgit HomburgerEva Bulling-Schröterc) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-logie zu dem Entschließungsan-trag der Abgeordneten Ingrid Arndt-Brauer,Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der SPD sowie der AbgeordnetenKerstin Müller , Rezzo Schlauch, VolkerBeck und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN zu der Unterrichtung durch die Bun-desregierungNeunundzwanzigster Rahmenplan derGemein-schaftsaufgabe „Verbesserung der regionalenWirtschaftsstruktur“ für den Zeitraum 2000 bis2003
– Drucksachen 14/4623, 14/3250, 14/5185 –Berichterstattung:Abgeordneter Christian Müller
Wir kommen zuerst zur Abstimmung über den von derBundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu demÜbereinkommen vom 12. April 1999 zum Schutz desRheins, Drucksache 14/4674. Der Ausschuss für Umwelt,Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Druck-sache 14/5282, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bittediejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen?– Ich stelle Einstimmigkeit im Hause fest. Damit ist derGesetzentwurf angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den vom Bundes-rat eingebrachten Gesetzentwurf zur Sicherstellung derNachsorgepflichten bei Abfalllagern, Drucksache14/4926. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz undReaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 14/5633, denGesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte dieje-
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Vizepräsidentin Petra Bläss15709
nigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um dasHandzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Ent-haltung der F.D.P.-Fraktion angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist bei Enthaltung der F.D.P.-Fraktion angenommen. Wirkommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses fürWirtschaft und Technologie zu dem Entschließungsantragder Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grü-nen zum Neunundzwanzigsten Rahmenplan der Gemein-schaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirt-schaftsstruktur“, Drucksache 14/5185. Der Ausschussempfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksa-che 14/4623 anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen vonCDU/CSU und F.D.P. angenommen.Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion der CDU/CSUVerantwortung der Bundesregierung für dieBegleitumstände des ersten rot-grünen Castor-transportsIch eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kol-lege Dr. Peter Paziorek für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Zum ersten Mal seit 1997 istheute Vormittag wieder ein Castortransport von Frank-reich aus im Zwischenlager Gorleben angekommen. Dassdies möglich war, ist auch ein Verdienst der eingesetztenPolizei. Dafür gebührt allen Beamten vor Ort ein Dankdes gesamten Hauses.
Die Demonstrationen gegen die Transporte hattenfriedlich begonnen; sie haben aber dann zum Teil Formenangenommen, die eindeutig als rechtswidrig bezeichnetwerden müssen. Die Bundesregierung und die Regie-rungsparteien tragen eine große politische Mitverantwor-tung für die Eskalation durch die gewaltbereiten Täter;denn die Regierungsfraktionen haben es im Vorfeld derDemonstrationen an solchen unmissverständlichen Wor-ten fehlen lassen, wie Sie, Herr BundesinnenministerSchily, sie gestern gefunden haben.
Doch diese Äußerungen, Herr Schily, sind eindeutig zuspät gekommen.
Was Sie gestern gesagt haben, hätte schon in der vergan-genen Woche von den Regierungsvertretern mit allerDeutlichkeit gesagt werden müssen.Das rot-grüne Regierungslager antwortet auf diesenicht akzeptablen Protestaktionen in unverantwortlicherWeise zurückhaltend und parteipolitisch schlichtwegschizophren. Die Fraktionsvorsitzende der Grünen imBundestag, Frau Müller, stellt in der Öffentlichkeit einer-seits fest: „Wir müssen den Müll zurücknehmen.“ Ande-rerseits sagt sie im nächsten Satz: „Jedoch ist öffentlicherDruck notwendig, um den zwischen der rot-grünen Bun-desregierung und den Energiekonzernen vereinbartenschrittweisen Atomausstieg möglichst schnell zu schaf-fen.“Die Grünen-Parteivorsitzende, Frau Roth, lässt sich amRande der traditionellen „Stunkparade“ am Sonntag inGorleben in typisch grüner Interpretation des Grundsatz-urteils des Bundesverfassungsgerichts dahin gehend ein,dass es sich hierbei – was wir alle wissen – nicht um einVerbot des Demonstrationsrechts handle und dass be-stimmte Sitzblockaden toleriert werden müssten. DieGrünen haben sich damit nicht klar und deutlich frühzei-tig von den Vorfällen distanziert, die in den letzten Stun-den vor Gorleben passiert sind. Diese theoretische Dis-kussion im Vorfeld der Demonstrationen war überflüssigwie ein Kropf.
Diese schizophrene Haltung des Bündnisses 90/DieGrünen ist in den letzten Tagen durchgehend festzustellengewesen. Sie gleicht einem politischen Eiertanz und istmit einer verantwortungsvollen und bürgernahen Politiknicht mehr zu vereinbaren.Wir respektieren friedliche Demonstrationen. DochRot-Grün hat ein falsches Signal gegeben und hat jetztnicht den Mut, den gewalttätigen Demonstranten eindeu-tig entgegenzutreten. Rot-Grün muss den Demonstrantenoffen sagen, dass es völlig inakzeptabel ist, wenn siezukünftig beabsichtigen, mit gewaltsamen Demonstratio-nen neue Castortransporte aufzuhalten.
Die Fraktionsvorsitzende der Grünen in Niedersach-sen, Frau Harms, sieht sogar einen Erfolg der Protestak-tionen. Sie sagte nämlich, die Demonstrationen seien soheftig, dass weitere Transporte gestoppt werden müssten.Eine solche Aussage ist aufgrund des geltenden Völker-rechts und der klaren Rechtsposition völlig verantwor-tungslos.
Rot-Grün ist gefangen in ihrer über Jahre hinweg be-triebenen, völlig überzogenen Stimmungsmache gegendie Kernenergiepolitik und die Castortransporte. Die inder Bundesregierung verbreitete Angst vor der Atomener-gie ist von Rot-Grün jahrelang geradezu gepflegt worden.An die Stelle sachlicher Aufklärung über technisch hoch-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001
Vizepräsidentin Petra Bläss15710
komplizierte Systeme traten Verunglimpfung, Emo-tionalisierung und Schüren von Misstrauen gegenüber derAtomenergie. Fast jedes Mittel war hierzu tauglich, nurrationale Aufklärung über den Umgang mit dieser Tech-nik fand nicht statt.Es steht zu befürchten, dass diese Bundesregierungnicht zur Versachlichung beitragen kann, da sie vor demParadoxon steht, heute gutheißen zu müssen, was Mit-glieder des jetzigen Kabinetts in früheren Jahren verteu-felt haben.
Rot und Grün haben nicht die Kraft, sich zu der Erklärungdurchzuringen, dass ihre Argumente in der Vergangenheiteindeutig überzogen waren.Was kann man in der aktuellen Diskussion von einemUmweltminister erwarten, dessen Autorität angeschlagenist
– völlig richtig, Herr Marschewski – und der letztlich nurnoch hilflos zu dem Mittel greift, scharfe Briefe an dieBürgerinnen und Bürger des Wendlandes zu schreiben. Erist ein Umweltminister auf Bewährung. Er hat einenMaulkorb verpasst bekommen und ist deshalb von seinerAutorität her gar nicht mehr in der Lage, mit den friedli-chen Demonstranten zu diskutieren. In dieser umwelt-politischen Diskussion ist er einfach ausgefallen.
Wir haben aber eine Koalitionsregierung. Dort sindnicht nur Grüne, sondern auch Sozialdemokraten vertre-ten. Wo waren in den letzten Wochen und Tagen die kla-ren und deutlichen Worte seitens der sozialdemokrati-schen Fraktion? Wir können nur sagen: Bei der SPDherrschte in dieser Frage Funkstille. Man hatte das Ge-fühl, dass die SPD Spaß hatte, dass beim Koalitions-partner die Basis wegbrach. Dies hat man sich genüsslichangeschaut. Ich wiederhole in diesem Zusammenhang:Die Aussagen des Innenministers am gestrigen Tage wa-ren in Ordnung, aber sie kamen zu spät und somit zu ei-nem falschen Zeitpunkt.Ich sage zum Schluss: SPD und Grüne, hört mit eurenEiertänzen auf und sagt deutlich, dass es auch zukünftigkeine Alternative zu diesen Transporten gibt!
Nur dann, wenn Sie den Mut haben, sich von überzoge-nen Parolen der Vergangenheit zu distanzieren, werdengewaltbereite Demonstranten erkennen, dass sie in Sa-chen Castortransporte die Schlachten der Vergangenheitschlagen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Liebe Kolleginnenund Kollegen, bevor ich dem nächsten Redner das Worterteile, komme ich noch einmal zum Zusatzpunkt 3zurück und gebe das von den Schriftführerinnen undSchriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichenAbstimmung über den Antrag der Fraktion derCDU/CSU auf sofortige Entlassung des Bundesministersfür Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, JürgenTrittin, Drucksache 14/5573, bekannt: Abgegebene Stim-men 618. Mit Ja haben gestimmt 264 Kolleginnen undKollegen, mit Nein haben gestimmt 354 Kolleginnen undKollegen. Der Antrag ist damit abgelehnt.
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Dr. Peter Paziorek15711
Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 618;davonja: 264nein: 354JaCDU/CSUUlrich AdamIlse AignerDietrich AustermannNorbert BarthleDr. Wolf BauerGünter BaumannBrigitte BaumeisterMeinrad BelleDr. Sabine Bergmann-PohlOtto BernhardtHans-Dirk BierlingDr. Joseph-Theodor BlankRenate BlankDr. Heribert BlensPeter BleserDr. Maria BöhmerSylvia BonitzJochen Borchert
Wolfgang BosbachDr. Wolfgang BötschKlaus BrähmigDr. Ralf BrauksiepePaul BreuerMonika BrudlewskyKlaus Bühler
Hartmut Büttner
Dankward BuwittCajus CaesarManfred Carstens
Leo DautzenbergWolfgang DehnelHubert DeittertAlbert DeßRenate DiemersThomas DörflingerHansjürgen DossMarie-Luise DöttMaria EichhornRainer EppelmannAnke Eymer
Ilse FalkDr. Hans Georg FaustAlbrecht FeibelUlf FinkIngrid FischbachDirk Fischer
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
Erich G. FritzJochen-Konrad FrommeHans-Joachim FuchtelDr. Jürgen GehbNorbert GeisDr. Heiner GeißlerGeorg GirischDr. Reinhard GöhnerPeter GötzDr. Wolfgang GötzerKurt-Dieter GrillHermann GröheManfred GrundHorst Günther
Carl-Detlev Freiherr vonHammerstein
Gerda HasselfeldtNorbert Hauser
Klaus-Jürgen HedrichHelmut HeiderichUrsula HeinenManfred HeiseSiegfried Helias
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 200115712
Hans Jochen HenkeErnst HinskenPeter HintzeKlaus HofbauerMartin HohmannDr. Karl-Heinz HornhuesSiegfried HornungHubert HüppeSusanne JaffkeGeorg JanovskyDr. Harald KahlBartholomäus KalbSteffen KampeterDr.-Ing. Dietmar KansyIrmgard KarwatzkiVolker KauderEckart von KlaedenUlrich KlinkertDr. Helmut KohlNorbert KönigshofenEva-Maria KorsHartmut KoschykThomas KossendeyRudolf KrausDr. Paul KrügerDr. Hermann Kues
Dr. Norbert LammertHelmut LampDr. Paul LaufsKarl-Josef LaumannVera LengsfeldPeter LetzgusUrsula LietzWalter Link
Eduard Lintner
Dr. Manfred Lischewski
Julius LouvenDr. Michael Luther
Wolfgang MeckelburgDr. Michael MeisterDr. Angela MerkelFriedrich MerzHans MichelbachMeinolf MichelsDr. Gerd MüllerBernward Müller
Elmar Müller
Bernd Neumann
Claudia NolteGünter NookeFranz ObermeierFriedhelm OstEduard OswaldNorbert Otto
Dr. Peter PaziorekAnton PfeiferDr. Friedbert PflügerBeatrix PhilippRonald PofallaRuprecht PolenzMarlies PretzlaffDr. Bernd ProtznerThomas RachelHans RaidelDr. Peter RamsauerHelmut RauberPeter RauenChrista Reichard
Katherina ReicheErika ReinhardtHans-Peter RepnikKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberFranz Romer
Heinrich-Wilhelm RonsöhrDr. Klaus RoseKurt J. RossmanithAdolf Roth
Dr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckVolker RüheAnita SchäferDr. Wolfgang SchäubleHartmut SchauerteHeinz SchemkenKarl-Heinz ScherhagDr. Gerhard ScheuNorbert SchindlerDietmar SchleeChristian Schmidt
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
Andreas Schmidt
Michael von SchmudeBirgit Schnieber-JastramDr. Andreas SchockenhoffDr. Rupert ScholzReinhard Freiherr vonSchorlemerDr. Erika SchuchardtWolfgang SchulhoffGerhard SchulzDiethard Schütze
Clemens SchwalbeDr. Christian Schwarz-SchillingWilhelm-Josef SebastianHorst SeehoferHeinz SeiffertDr. h. c. Rudolf SeitersWerner SiemannJohannes SinghammerBärbel SothmannMargarete SpäteCarl-Dieter SprangerWolfgang SteigerErika SteinbachDr. Wolfgang Freiherr vonStettenAndreas StormDorothea Störr-RitterMax StraubingerMatthäus StreblThomas Strobl
Michael StübgenDr. Rita SüssmuthEdeltraut TöpferDr. Hans-Peter UhlGunnar UldallArnold VaatzAngelika VolquartzAndrea VoßhoffDr. Theodor WaigelPeter Weiß
Gerald Weiß
Annette Widmann-MauzHeinz Wiese
Hans-Otto Wilhelm
Klaus-Peter WillschBernd WilzWilly Wimmer
Matthias WissmannWerner WittlichDagmar WöhrlElke WülfingPeter Kurt WürzbachWolfgang ZeitlmannWolfgang ZöllerF.D.P.Ina Albowitz
Rainer BrüderleErnst BurgbacherJörg van EssenUlrike FlachGisela FrickPaul K. FriedhoffHorst Friedrich
Rainer FunkeDr. Wolfgang GerhardtJoachim Günther
Dr. Karlheinz GuttmacherKlaus HauptDr. Helmut HaussmannUlrich HeinrichWalter HircheDr. Werner HoyerUlrich IrmerDr. Klaus KinkelDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppJürgen KoppelinIna LenkeDirk NiebelGünther Friedrich Nolting
Detlef ParrCornelia PieperDr. Günter RexrodtDr. Edzard Schmidt-JortzigGerhard SchüßlerDr. Irmgard SchwaetzerMarita SehnDr. Hermann Otto SolmsDr. Max StadlerCarl-Ludwig ThieleDr. Guido WesterwelleNeinSPDBrigitte AdlerGerd AndresIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHermann BachmaierErnst BahrDoris BarnettDr. Hans Peter BartelsEckhardt Barthel
Klaus Barthel
Ingrid Becker-InglauDr. Axel BergHans-Werner BertlFriedhelm Julius BeucherPetra BierwirthRudolf BindigLothar Binding
Klaus BrandnerAnni Brandt-ElsweierWilli BraseDr. Eberhard BrechtRainer Brinkmann
Bernhard Brinkmann
Hans-Günter BruckmannEdelgard BulmahnUrsula BurchardtDr. Michael BürschHans Martin BuryHans Büttner
Marion Caspers-MerkWolf-Michael CatenhusenDr. Peter DanckertDr. Herta Däubler-GmelinChristel DeichmannKarl DillerPeter DreßenDetlef DzembritzkiDieter DzewasSebastian EdathyLudwig EichMarga ElserPeter EndersGernot ErlerPetra ErnstbergerAnnette FaßeLothar Fischer
Gabriele FograscherIris FollakNorbert FormanskiRainer FornahlHans ForsterPeter Friedrich
Lilo Friedrich
Harald FrieseAnke Fuchs
Arne FuhrmannMonika GanseforthKonrad GilgesIris GleickeGünter GloserUwe Göllner
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001 15713
Renate GradistanacGünter Graf
Angelika Graf
Dieter GrasedieckMonika GriefahnKerstin GrieseAchim GroßmannWolfgang Grotthaus
Hans-Joachim HackerKlaus HagemannManfred HampelChristel HanewinckelAlfred HartenbachAnke HartnagelKlaus HasenfratzNina HauerReinhold HemkerFrank HempelDr. Barbara HendricksGustav HerzogMonika HeubaumReinhold Hiller
Stephan HilsbergGerd HöferJelena Hoffmann
Iris Hoffmann
Frank Hofmann
Ingrid HolzhüterEike HovermannChristel HummeBarbara ImhofGabriele IwersenRenate JägerJann-Peter JanssenIlse JanzDr. Uwe JensVolker Jung
Johannes KahrsUlrich KasparickSabine KaspereitSusanne KastnerUlrich KelberHans-Peter KemperKlaus KirschnerSiegrun KlemmerHans-Ulrich KloseWalter KolbowFritz Rudolf KörperKarin KortmannAnette KrammeNicolette KresslAngelika Krüger-LeißnerHorst KubatschkaErnst KüchlerHelga Kühn-MengelUte KumpfKonrad KunickDr. Uwe KüsterWerner LabschChristine LambrechtBrigitte LangeChristian Lange
Detlev von LarcherChristine LehderWaltraud LehnRobert LeidingerKlaus LennartzDr. Elke LeonhardEckhart LeweringGötz-Peter Lohmann
Christa LörcherErika LotzDr. Christine LucygaDieter Maaß
Winfried ManteDirk ManzewskiTobias MarholdLothar MarkUlrike MascherChristoph MatschieHeide MattischeckMarkus MeckelUlrike MehlUlrike MertenAngelika MertensDr. Jürgen Meyer
Ursula MoggChristoph MoosbauerSiegmar MosdorfMichael Müller
Jutta Müller
Christian Müller
Franz MünteferingAndrea NahlesVolker Neumann
Dr. Edith NiehuisDr. Rolf NieseDietmar NietanGünter OesinghausEckhard OhlLeyla OnurManfred OpelHolger OrtelAdolf OstertagKurt PalisAlbrecht PapenrothDr. Martin PfaffGeorg PfannensteinJohannes PflugDr. Eckhart PickKarin Rehbock-ZureichDr. Carola ReimannMargot von RenesseRenate RennebachBernd ReuterDr. Edelbert RichterGudrun RoosRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Birgit Roth
Gerhard RübenkönigMarlene RupprechtThomas SauerDr. Hansjörg SchäferGudrun Schaich-WalchRudolf ScharpingBernd ScheelenDr. Hermann ScheerSiegfried SchefflerHorst SchildOtto Schily
Ulla Schmidt
Silvia Schmidt
Dagmar Schmidt
Wilhelm Schmidt
Regina Schmidt-ZadelHeinz Schmitt
Carsten SchneiderDr. Emil SchnellWalter SchölerOlaf ScholzKarsten SchönfeldFritz SchösserOttmar SchreinerGisela SchröterDr. Mathias SchubertRichard Schuhmann
Brigitte Schulte
Volkmar Schultz
Ewald SchurerDr. R. Werner SchusterDietmar Schütz
Dr. Angelica Schwall-DürenRolf SchwanitzBodo SeidenthalErika SimmDr. Sigrid Skarpelis-SperkDr. Cornelie Sonntag-WolgastWieland SorgeWolfgang SpanierDr. Margrit SpielmannJörg-Otto SpillerDr. Ditmar StaffeltAntje-Marie SteenLudwig StieglerRolf StöckelRita Streb-HesseReinhold Strobl
Dr. Peter StruckJoachim StünkerJoachim TappeJörg TaussJella TeuchnerDr. Gerald ThalheimWolfgang ThierseFranz ThönnesUta Titze-StecherAdelheid TröscherHans-Eberhard UrbaniakRüdiger VeitSimone ViolkaUte Vogt
Hans Georg WagnerDr. Konstanze WegnerWolfgang WeiermannReinhard Weis
Matthias WeisheitGunter WeißgerberDr. Ernst Ulrich vonWeizsäckerJochen WeltDr. Rainer WendHildegard WesterLydia WestrichInge Wettig-DanielmeierDr. Margrit WetzelDr. Norbert WieczorekJürgen Wieczorek
Heidemarie Wieczorek-ZeulHeino Wiese
Klaus WiesehügelBrigitte Wimmer
Barbara WittigDr. Wolfgang WodargHanna Wolf
Heidemarie WrightUta ZapfDr. Christoph ZöpelPeter ZumkleyBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENGila Altmann
Marieluise Beck
Volker Beck
Angelika BeerMatthias BerningerGrietje BettinAnnelie BuntenbachEkin DeligözDr. Thea DückertFranziska Eichstädt-BohligDr. Uschi EidHans-Josef FellAndrea Fischer
Joseph Fischer
Katrin Göring-EckardtRita GrießhaberWinfried HermannAntje HermenauUlrike HöfkenMichaele HustedtMonika KnocheDr. Angelika Köster-LoßackSteffi LemkeDr. Helmut LippeltDr. Reinhard LoskeOswald MetzgerKerstin Müller
Winfried NachtweiChrista NickelsCem ÖzdemirSimone ProbstClaudia Roth
Christine ScheelIrmingard Schewe-GerigkRezzo SchlauchAlbert Schmidt
Werner Schulz
Christian SimmertChristian SterzingHans-Christian StröbeleJürgen Trittin
Wir setzen die Aktuelle Stunde fort. Jetzt spricht derKollege Horst Kubatschka für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege, ich hattevorhin in Ihrer Rede eigentlich umweltpolitische Ein-wände erwartet. Was Sie aufgebaut haben, waren Papp-kameraden, um die es gar nicht geht.
In meinem Redebeitrag setze ich mich mit dem um-weltpolitischen Aspekt des Castortransportes auseinan-der. Die Bezeichnung der von der CDU/CSU beantragtenAktuellen Stunde ist schlicht und einfach falsch. Sie be-treiben Etikettenschwindel. Es gibt nämlich keine rot-grü-nen Castortransporte. Richtig ist, dass Rücktransporte ausLa Hague stattfinden. Der Atommüll aus der Wieder-aufbereitungsanlage muss von Deutschland zurückge-nommen werden. Den Atommüll hat nicht die rot-grüneKoalition verursacht, sondern die deutschen Kernkraft-werke.
Richtig ist: Die rot-grüne Koalition will die Castor-transporte minimieren. Dazu ist ein Konsens beim Aus-stieg aus der Kernenergie notwendig. Richtig ist: Es sinddie ersten Castortransporte während der rot-grünen Re-gierungszeit.Liebe Kolleginnen und Kollegen vor allem von derkonservativen Seite, bei dieser Diskussion werde ich denVerdacht nicht los, dass sich die CDU/CSU und die F.D.P.möglichst viel Ärger bei diesen Transporten wünschen.Ich habe in diesem Hohen Haus wiederholt ausgeführt,dass das Recht auf friedliche Demonstration besteht. Umes aber noch einmal klar zu sagen: Wir Sozialdemokratenlehnen jede Gewalt – sowohl gegen Personen als auch ge-gen Sachen – ab. Nehmen Sie das doch bitte zur Kennt-nis.
Für mich kann es nur friedliche Demonstrationen gegendie Kernenergie geben.Die Demonstrationen machen aber auch klar, dass dieNutzung der Kernenergie in weiten Teilen der Bevölke-rung abgelehnt wird. Die Demonstranten befinden sichnur am falschen Ort. Richtiger wäre es, vor die Konzerneder EVUs zu ziehen und dort lauthals dagegen zu protes-tieren, dass der Energiekonsens noch immer nicht unter-schrieben ist.
Die Mehrheit der Bevölkerung will den Ausstieg aus derKernenergie im Konsens. Die rot-grüne Koalition willdiesen Ausstieg bewerkstelligen.Eine Minderheit will den sofortigen Ausstieg aus derKernenergie. Auch bei einem sofortigen Ausstieg aus derKernenergie könnten diese Castortransporte nicht verhin-dert werden.
Verträge verlangen die Rücknahme des Atommülls ausder Wiederaufbereitungsanlage. Wir können unserenDreck nicht einfach in Frankreich abladen.
Wir sind verpflichtet, den verglasten Atommüll zurückzu-nehmen. Es ist also nicht der erste und wird leider auchnicht der letzte Castortransport bleiben. Wie schreibtJoachim Wille in einem Artikel der „Frankfurter Rund-schau“ vom 28. März dieses Jahres so richtig:
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001
Vizepräsidentin Petra Bläss15714
Dr. Antje VollmerSylvia VoßHelmut Wilhelm
Margareta Wolf
PDSMonika BaltDr. Dietmar BartschPetra BlässEva Bulling-SchröterRoland ClausHeidemarie EhlertDr. Heinrich FinkDr. Ruth FuchsWolfgang GehrckeDr. Klaus GrehnDr. Gregor GysiUwe HikschUlla JelpkeSabine JüngerGerhard JüttemannDr. Evelyn KenzlerDr. Heidi Knake-WernerRolf KutzmutzHeidi LippmannUrsula LötzerDr. Christa LuftHeidemarie LüthPia MaierAngela MarquardtManfred Müller
Kersten NaumannRosel NeuhäuserChristine OstrowskiPetra PauChristina SchenkGustav-Adolf SchurDr. Ilja SeifertDr. Winfried WolfEntschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Ver-sammlungen des Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPUAbgeordnete(r)Behrendt, Wolfgang Schloten, Dieter Zierer, BennoSPD SPD CDU/CSUDenn keine Bundesregierung, nicht einmal eine purgrüne, die mit gewendeten Energiekonzernen einenSofort-Atomausstieg ausgedealt hätte, könnte auf dieRücktransporte aus La Hague verzichten.Die Franzosen haben ein Recht auf diese Rücknahme.Die Betreiber wiederum haben ein Recht auf die Trans-portgenehmigung. Das Bundesministerium für Umwelt,Naturschutz und Reaktorsicherheit hat umfangreiche Auf-lagen erlassen. Diese Auflagen mussten erfüllt werden.Unter anderem haben die Gutachter sowohl des Öko-In-stitutes Darmstadt als auch der Gesellschaft für Anlagen-und Reaktorsicherheit diese Bedingungen überprüft.Nachdem die Auflagen erfüllt sind, muss das Bundesamtfür Strahlenschutz die Castortransporte genehmigen. Esbesteht ein Rechtsanspruch.
Die Auflagen garantieren, dass es zu keiner gesund-heitlichen Gefährdung kommt. Das halte ich für sehrwichtig.
Die Gesundheit geht vor – bei den Beschäftigten, die mitden Castoren hantieren, bei den begleitenden Polizistenund Polizistinnen, den Demonstranten sowie den Bewoh-nerinnen und Bewohnern des Wendlandes.
Die rot-grüne Koalition will durch den Konsens unteranderem erreichen: Erstens. Die Zahl der Castortrans-porte wird minimiert. Zweitens. Die Atommüllmengewird damit absehbar und kalkulierbar. Drittens. DasAtommüllproblem wird zeitlich begrenzt.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner für
die F.D.P.-Fraktion ist der Kollege Walter Hirche.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Jeder in Deutschland konnte wissen– und wusste es auch –, dass Castortransporte für dieRückführung des Atommülls aus Frankreich notwendigsind.
In jedem Fall, in der Vergangenheit wie auch jetzt, lagenrechtlich einwandfreie Genehmigungen vor.Ich bin deswegen Bundesinnenminister Schily dank-bar, dass er ganz klar gesagt hat: Es ist Rechtsbruch, wennmit Blockaden versucht wird, die Transporte zu verhin-dern. Gewalttätige Aktionen von Kriminellen müssen ent-sprechend strafrechtlich geahndet werden.
Diese gewalttätigen Aktionen waren keine Heldenta-ten, sondern sind zum Teil leider professionelle Krimina-lität und beschädigen all diejenigen, die aus Idealismusdemonstriert und nicht blockiert haben.
Die Untertunnelung von Straßen oder – wozu sogar Kol-leginnen und Kollegen vor einem Jahr aufgerufen haben –die Zerstörung von Schienen ist kriminelles Unrecht unddas muss dieses Parlament auch in aller Deutlichkeit sa-gen.
Wer sich auf edle Motive beruft und glaubt, damit jedeHandlung rechtfertigen zu können, führt ins Faustrechtdes Mittelalters zurück. Das können wir nicht zulassen.
In unserer Demokratie gibt es kein Recht, so genanntenWiderstand gegen legale Entscheidungen zu leisten. DieEinschätzung der Polizei, dass die Beteiligung der Grünenvor Ort die Situation verschärft habe, statt sie zu entspan-nen, teile ich in vollem Umfang. Die Begründung, dieheutigen Transporte seien gerechtfertigt, weil man einenKompromiss mit der Atomwirtschaft erreicht habe, erin-nert mich fatal an einen Falschparker, der sagt, er werdeim nächsten Jahr sein Auto abmelden und dürfe deswegenheute kein Bußgeld auferlegt bekommen.
Diese subjektive Interpretation ist gefährlicher Unsinn,der in den Köpfen der Demonstranten nachwirkt. Bezie-hungsreich hat eine Demonstration den Titel „Die Saatgeht auf“ gehabt. Hier geht die Saat von Begriffsverwir-rung und subjektiver Interpretation des Rechts auf: dieFrüchte dessen, was insbesondere die Grünen gesät habenund zum Teil heute noch vertreten. Wenn nämlich nur des-wegen, weil die Grünen an der Regierung sind, die Trans-porte rechtens sind, dann sind offenbar die Demonstran-ten zu blöd, um zu begreifen, dass es einen Unterschied zufrüher gibt. Die Argumentation, die Blockaden würdensich nicht gegen die Transporte, sondern gegen ein End-lager oder die Kernenergie an sich richten, ist hane-büchen. Sollen wir in diesem Zusammenhang eigentlichalle für dumm verkauft werden?
Es ist schlimm, was inzwischen in den Köpfen von Ju-gendlichen angerichtet wird. In einem Zeitungsartikel mitder Überschrift „Schüler als Widerständler“
wird geschildert, dass Jugendliche im Alter von 11, 13und 15 Jahren von Lehrern und von Eltern dazu ermun-tert werden, am Widerstand gegen diese Transporte
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001
Horst Kubatschka15715
teilzunehmen. Das ist aus meiner Sicht eine Verhetzungvon Jugendlichen und keine verantwortungsvolle Erzie-hung.
Das sage ich auch zu dem Diakon, der die Jugendlichenbegleitet und gesagt hat, sie wollten ein Rollenspiel üben:hier die Demonstranten, dort die Polizei. Bei einer sol-chen Argumentation wird vergessen, dass es – HerrKubatschka hat darauf hingewiesen – hier um genehmigteund geprüfte Transporte geht, die unser Staat legal orga-nisiert hat.Diese Jugendlichen werden letzten Endes gegen dieDemokratie und unseren Rechtsstaat aufgehetzt. Das dür-fen wir uns nicht bieten lassen.
Es ist die Saat eines Denkens aus den 70er-Jahren,
das zum Inhalt hatte, selbst zu definieren, ob man sich andas Recht hält oder nicht. Solange Sie, Herr Trittin – dasist das Problem –, nicht an der Regierung waren, warenSie gegen die Transporte und fast alles war erlaubt. Jetztsind Sie an der Regierung und jetzt ist alles ganz anders.Sie instrumentalisieren das Recht, je nachdem, ob Sie da-von Nutzen haben oder nicht. Dagegen müssen sich die-ses Parlament und diese Demokratie wehren.
Was soll denn eigentlich die Polizei von dieser Bun-desregierung halten? Der Innenminister stellt sich hintersie und der Umweltminister reklamiert – auch für die Zu-kunft, trotz der Beschlüsse und Vereinbarungen der Bun-desregierung – ein Recht auf so genannten zivilen Unge-horsam. In der eben zu Ende gegangenen Debatte habe ichdieses Argument gegen den Umweltminister vermisst.
Sie können noch zehnmal die Entlassung von HerrnTrittin ablehnen; aber wenn das Demokratieverständniseines Ministers dieser Regierung auch für die Zukunft zi-vilen Ungehorsam gegen legale Akte dieses Staates um-fasst, dann ist dies ein Bruch seines Eides auf die Verfas-sung. Das werden wir nicht hinnehmen.
Das ist eine Unterminierung der Rechtsgrundsätze.Meine Damen und Herren, es ist notwendig, gegen dieGewalttäter vorzugehen – das begrüße ich an den Äuße-rungen des Bundesinnenministers – und Schadenersatz zuverlangen, wo Schäden entstanden sind. Als Parlamentdürfen wir nicht zulassen, dass einzelne Kollegen in die-sem Hause das Rechtsbewusstsein verdrehen und dieFundamente der Demokratie zerstören. Auch in diesemZusammenhang gilt: Wehret den Anfängen!
Das feixende Begrüßen solcher Gewaltakte dürfen wirnicht hinnehmen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin
Michaele Hustedt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ja, es gab
gewalttätige Demonstranten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Einen Moment!
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der PDS-Frak-
tion, Sie wissen, dass es grundsätzlich untersagt ist, in den
Räumen und im Plenum des Deutschen Bundestages Ak-
tionen – auch mittels Verkleidungen – durchzuführen. Ich
fordere Sie hiermit auf, diese Aktion zu unterlassen, das
heißt dazu, Ihre Jacken unverzüglich wieder anzuziehen.
Ansonsten muss ich Sie des Saales verweisen.
Ich bitte jetzt um entsprechende Aufmerksamkeit für
die Kollegin Hustedt.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen der PDS, von
der Aktion Abstand zu nehmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, da Sie meiner ersten
Aufforderung nicht Folge geleistet haben, bitte ich dieje-
nigen Kolleginnen und Kollegen, die nicht bereit sind,
ihre Jacken wieder überzuziehen, den Saal zu verlassen.
Jetzt spricht Kollegin Michaele Hustedt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DieseT-Shirts sind doch wunderschön gelb. Mir gefallen sieganz gut.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001
Walter Hirche15716
Ja, es gab gewalttätige Demonstranten. Es gab 26 ver-letzte Polizisten, zwei davon schwer. Ich sage ganz klar:Das ist absolut inakzeptabel.
Gewalt gegen Sachen und natürlich Gewalt gegen Men-schen – das schadet unserer Demokratie, das schadet auchdem Anliegen der Demonstranten vor Ort.
Es ist aus meiner Sicht völlig unakzeptabel, so etwas gut-zuheißen.Aber ich sage auch, und zwar an die Adresse der Op-position: Schütten Sie nicht das Kind mit dem Bade aus.Es gab dort sehr viele Menschen, die friedlich demons-triert haben.
Das in Deutschland bestehende Recht auf Demonstra-tionsfreiheit ist ein hohes Gut. Ich war gerade in derUkraine und in Russland. Wenn ich auch in einigen Punk-ten nicht einverstanden bin, mit welchen Losungen de-monstriert worden ist – zum Beispiel „Konsens ist Non-sens“; deswegen war ich bei dieser Demonstration ja auchnicht dabei –, sage ich Ihnen dennoch: Es ist gut und nichtschlecht für eine Demokratie, wenn sich Bürger so enga-gieren und sich bei Nacht und Nebel für eine Sache ein-setzen. Deswegen ist diese Demonstration auch einGrund, in diesem Zusammenhang stolz auf die deutscheDemokratie zu sein.
Ich finde Ihre Argumentation in hohem Maße schein-heilig. Sie messen hier mit zweierlei Maß. Wenn Lastwa-genfahrer Straßen blockieren, um gegen die Ökosteuer zudemonstrieren, dann laufen Sie dort herum; schulterklop-fend verteilen Sie Ihre Aufkleber und loben die Lastwa-genfahrer für ihre Aktion des friedlichen zivilen Unge-horsams.
– Das gab es selbstverständlich.Friedliche Sitzblockaden – dazu gibt es Gerichtsur-teile – sind rechtens und gehören zum Recht auf Demons-tration. Gewalt gegen Personen, Gewalt gegen Sachensind selbstverständlich abzulehnen.
Ich bin auch stolz darauf, dass wir inzwischen einenAtomkonsens gefunden haben.
Der Atomkonsens ist der Versuch von unserer Seite, dietiefen Gräben, die Sie mit Ihrer Pro-Atom-Politik in die-ser Gesellschaft aufgerissen haben
und in deren Konsequenz wir solche Demonstrationen vorOrt haben, Schritt für Schritt wieder zuzuschütten.
Selbstverständlich ist es nicht so, dass wir damit jedenKonflikt vor Ort verhindern können, aber es ist ein Schrittaufeinander zu von beiden Seiten. Das ist auch ein Ver-dienst von Jürgen Trittin.
Deswegen wundere ich mich manchmal – –
– Ja, im Gegensatz zu Ihnen. Sie sind nicht in der Lage, diePolarisierung dieser Gesellschaft zu verhindern, sondern Siegießen immer noch Öl ins Feuer. Das werfe ich Ihnen vor.
Wenn ich Ihre Argumentation höre, denke ich manch-mal, das wären grüne Transporte. Nein – Herr Kubatschkahat es schon gesagt –, das sind von der Bundesregierunggenehmigte Transporte, aber es sind natürlich Transporteder Unternehmen, die Atomkraftwerke betreiben.Wenn es eine politische Verantwortung für diese Trans-porte gibt, dann liegt sie bei Ihnen,
weil Sie ein unsolides Entsorgungskonzept hatten, weilSie auf die Wiederaufbereitung gesetzt haben, weil Siesonst nicht gewusst hätten, wohin mit dem Müll.
Deswegen sind diese Transporte auch eine Altlast IhrerRegierungszeit. Es ist sehr bedauerlich, dass wir die Fol-gen dieser Altlast wahrscheinlich noch Jahre, wenn nichtsogar Jahrzehnte tragen müssen.
Was ist jetzt zu tun? Ich möchte fünf Punkte nennen.Erstens. Wir müssen die Atomgesetznovelle so schnellwie möglich auf den Weg bringen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001
Michaele Hustedt15717
Dazu gehört auch, dass die Stromkonzerne endlich denKonsens unterschreiben.
Das ist die entscheidende Herausforderung, die jetzt voruns steht.Zweitens. Wir müssen die Debatte über die Alternativezum Endlager Gorleben noch intensiver führen, als wir siebegonnen haben. Wir müssen sie vor allem auch stärkernoch mit den Menschen der Region führen, damit sie wis-sen, dass wir uns tatsächlich um eine Alternative zu Gor-leben bemühen. Denn es ist meine persönliche Überzeu-gung, dass Gorleben als Endlagerstandort nicht geeignetist.
Drittens. Wir müssen die Zahl der Transporte minimie-ren. Wir müssen die Zwischenlager genehmigen. Da sindauch Sie gefordert. Wer gegen Transporte ist, muss fürZwischenlager sein.Viertens. Wir müssen prüfen, ob wir die Wiederaufbe-reitung nicht schneller beenden können, als bisher ange-setzt, also vor dem Jahr 2005. Da die Wiederaufbereitungteurer ist als die Zwischenlagerung, sehe ich dafür durch-aus gute Chancen, wenn die Zwischenlager genehmigtsind.Fünftens. Wir müssen auch prüfen, ob wir, wenn dieZwischenlager genehmigt sind, die Menge des Atom-mülls, der noch in Frankreich liegt, unter Umständen auchin andere Zwischenlager bringen können; denn es kannmeines Erachtens nicht sein, dass nur Gorleben, nur dieRegion Niedersachsen dafür zuständig ist. Das wäre einZeichen dafür, dass wir die Sorgen und Ängste der Men-schen in dieser Region ernst nehmen; denn dort wird be-fürchtet, dass dieses Zwischenlager eine Vorentscheidungfür ein Endlager ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, Sie
müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss.
Ich sage sehr deutlich: Das ist keine Vorentscheidung.
Nachdem die Kriterien überprüft worden sind, werden wir
die Diskussion über Alternativen zum Endlagerstandort
Gorleben wieder aufnehmen.
Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Heidi Lippmann.
Liebe Kollegin Hustedt! Lie-ber Jürgen! Liebe Gila! Ich kann gar nicht verstehen, wieman so viel Schizophrenie überhaupt noch aushaltenkann, wie sie gerade in dieser Rede rübergekommen ist.Wer wie einige Kolleginnen und Kollegen der PDS-Fraktion in den vergangenen Tagen, vom Beginn der Pro-teste bis heute Morgen, als der Castortransport in Gorle-ben angekommen ist, im Wendland gewesen ist, hatgesehen, mit welcher Macht dort bis zur dieser Minuteversucht wird, friedlichen Widerstand zu kriminalisieren,
der hat vor Ort gesehen, wie Vermittler von Kirchen, wiedie wendländische Bevölkerung – die ja einmal aufgrundder Wahlversprechungen, die in den vergangenen Jahrengemacht wurden, Rot-Grün gewählt hat –,
wie Atomkraftgegner aus der ganzen Republik und da-rüber hinaus, wie Aktivistinnen von Robin Wood undGreenpeace, wie der Sprecher Jochen Stay von der Initia-tive „X-tausendmal quer“ mit gewaltbereiten Autonomen,mit sonstigen Kriminellen in einen Topf geworfen wur-den, der hat gesehen, mit welcher Informationspolitik derrot-grünen Bundesregierung und der Polizeiführung ver-sucht wurde, jeglichen Protest gegen die Castortransporteeinzudämmen.
Die PDS-Fraktion verurteilt dies zutiefst. Sie verstehtdie riesige Enttäuschung, die nicht nur im Wendland vor-handen ist, sondern weit darüber hinaus bei allen Atom-kraftgegnern und -gegnerinnen in diesem Land. Denndiese Enttäuschung basiert auf dem, was die Parteien derrot-grünen Koalition im Vorfeld der Bundestagswahl1998 versprochen haben.Wo ist die Umsetzung der Forderung nach dem sofor-tigen Atomausstieg geblieben? Was auf dem Tisch liegt,ist eine Vereinbarung mit der Atomlobby, die bis heutenoch nicht einmal in Gesetzesform gebracht wurde. Wasauf dem Tisch liegt, ist die Festschreibung der Laufzeitender Atomkraftwerke auf 32 Jahre. Was auf dem Tischliegt, ist kein gesichertes Zwischen- oder Endlagerkon-zept. Deswegen gehen die Leute in Gorleben, im Wend-land auf die Straße, deswegen protestieren sie mit allenmöglichen gewaltfreien Mitteln. Dies haben Sie von An-fang an zu unterbinden versucht.Wer sich hinstellt und Plakate herausgibt, auf denensteht: „Protest ja, Gewalt nein“, gleichzeitig aber nahezualle Camps verbietet und das Versammlungsrecht so mas-siv beschneidet, dass überhaupt nicht mehr die Möglichkeitbesteht, legale Protestformen am Rande der Castortrans-portstrecke zu wählen, der beschneidet demokratischeGrundrechte. Das ist umso schlimmer, als die Personen, diedies ganz aktiv vor Ort tun, vor Jahren selbst einmal in derRolle waren.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001
Michaele Hustedt15718
Lieber Jürgen Trittin, liebe Gila Altmann, beim letztenCastortransport vor vier Jahren haben wir gemeinsam inder ersten Reihe gestanden, zwischen den Polizisten undden Sitzdemonstranten. Wir haben versucht, mit der Poli-zei zu vermitteln.
Was ich in den vergangenen Tagen immer wieder gehörthabe, und zwar nicht nur von den Demonstranten, sonderninsbesondere von vielen Polizisten und Polizistinnen, diedie verfehlte Ausstiegspolitik auszubaden haben, war:Schicken Sie uns doch bitte einmal Herrn Trittin hierher!Mit dem würden wir uns gern persönlich unterhalten. –Nicht nur nach Einschätzung meiner Partei, sondern auchnach Einschätzung vieler Menschen, die dort in den ver-gangenen Tagen demonstriert und in verschiedener Formagiert haben, hat die rot-grüne Bundespolitik versagt, wasden Atomausstieg angeht.Wir fordern Sie auf: Sperren Sie nicht länger Meinun-gen weg, sondern sorgen Sie dafür, dass Ihre Forderungnach dem sofortigen Atomausstieg umgesetzt wird! Stop-pen Sie umgehend die Wiederaufbereitung! Hören Sie aufmit der Kriminalisierung von Menschen, denen Sie Ver-sprechungen gemacht haben, die Sie nicht einhalten kön-nen!
Leiten Sie den Atomausstieg ein und machen Sie endlichSchluss mit dieser Schizophrenie und dieser Verlogen-heit! Gehen Sie ins Wendland! Stellen Sie sich den Leu-ten und sagen Sie umgehend den nächsten, für Septembergeplanten Castortransport ab! Denn der Widerstand imWendland und darüber hinaus wird den längeren Atem ha-ben. Der politische Preis ist viel zu hoch, als dass Sie mitdieser Politik weitermachen können.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die SPD-Fraktion
spricht der Kollege Hans-Peter Kemper.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Seit Jahren haben wir wieder einenCastortransport gehabt, zum ersten Mal unter rot-grünerVerantwortung. Es handelt sich in der Tat um einen erstenvon mehreren Castortransporten.Bei der Energieversorgung, vor allem aber bei der Ent-sorgung sind in der Vergangenheit immer stärker wirt-schaftliche Fragen und Umweltschutzfragen, aber auchFragen der inneren Sicherheit in den Vordergrund getre-ten. Das konnten wir vor Ort feststellen. Ich bin mit meh-reren Innenpolitikern, nämlich mit Günter Graf, LiloFriedrich, Gaby Fograscher und dem Wahlkreisabge-ordneten Arne Fuhrmann, zwei Tage dort gewesen;
wir sind gestern Abend zurückgekommen. Wir haben unsvor Ort mit den Bürgern, den Demonstranten und den Po-lizeibeamten unterhalten und ich will eines sagen: Ichhabe große Achtung vor mehr als 95 Prozent der Demons-tranten,
die dort aus Verantwortung und aus Angst und Sorge vorden Gefahren für künftige Generationen gegen unbe-herrschbare Energie und gegen ungesicherte Entsorgungdemonstriert haben.Es gibt bei mir in Ahaus ein großes Zwischenlager. Ichhabe die große Erleichterung mitbekommen, die sich inder Bevölkerung breit machte, als klar wurde, dass derzunächst für März vorgesehene Transport nicht stattfin-den würde. Ich habe deswegen auch großes Verständnisdafür, wie die Menschen in Gorleben empfinden, die wis-sen, dass die Transporte auch weiterhin kommen werden.Sie sind von der Verpflichtung der Bundesrepublik, denAtommüll zurücknehmen zu müssen, in besonderer Weisebetroffen. Die Stadt Gorleben befand sich in einem Be-lagerungszustand. Die Menschen waren in ihrer Bewe-gungsfreiheit eingeschränkt, sie waren in ihrer Lebens-qualität beeinträchtigt. Die Menschen waren enttäuscht.Aber sie haben friedlich demonstriert. Das war ihr gutesRecht und dabei haben wir sie unterstützt. Anders als Sie,Herr Kollege Paziorek, es wahrgenommen haben, habensie dort mit großer Gelassenheit demonstriert.Unser besonderer Dank gilt der Polizei und dem Bun-desgrenzschutz, die in einer äußerst schwierigen SituationVerantwortungsgefühl bewiesen und Ruhe bewahrt ha-ben. Es war nicht einfach, unter solchen schwierigen Be-dingungen das Deeskalationskonzept durchzuhalten. Einebeengte räumliche Unterbringung und Dienstzeiten vonmehr als 30 Stunden stellten eine fast unhaltbare Belas-tung dar. Auch das muss in Zukunft verbessert werden. Esist soeben schon angesprochen worden: Polizeibeamtesind verletzt worden. – Aber trotz dieser Belastungen istdas Deeskalationskonzept durchgehalten worden. DenPolizeibeamten und den Beamten des Bundesgrenz-schutzes gebühren unser Dank und unsere Anerkennung.
Frau Lippmann, angesichts dessen, was Sie hier von sichgegeben haben, glaube ich, dass Sie auf der falschen Ver-anstaltung gewesen sind. Alle Beteiligten sind dort mitgroßer Verantwortung vorgegangen.Wofür wir allerdings im Gegensatz zu Ihnen kein Ver-ständnis und keine Toleranz haben, das sind die Touris-muschaoten, die sich dort aufgehalten haben. Mit Verlet-zungen von Polizeibeamten, die nichts anderes als ihrePflicht getan haben, mit Verwüstungen und mit Brandstif-tungen haben diese Menschen sich selbst disqualifiziert.Mit ihnen haben wir nichts gemein. Das waren Taten vonerheblicher krimineller Energie. Diese zum Teil schwerenStraftaten müssen mit aller Härte und Konsequenz ver-folgt werden; da bin ich mir mit unserem Innenministervöllig einig.
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Heidi Lippmann15719
Im Hinblick auf Gorleben war im Vorfeld des Trans-ports – das wurde bereits angesprochen – durch alle Ins-tanzen bis hin zum Bundesverfassungsgericht gegen dieAllgemeinverfügung der zuständigen Bezirksregierungzum Versammlungsrecht geklagt worden. Sie war fürzulässig erklärt worden. Es ist ein Irrtum Ihrerseits, zuglauben, solche Gerichtsentscheidungen könnten mit Ge-walt und Chaos revidiert werden.
Noch von der alten Regierung wurden langfristige Ver-träge abgeschlossen. Diese Verträge beinhalten die Ver-pflichtung zur Zurücknahme vieler tausend Tonnen vonAtommüll, die ins Ausland verbracht worden sind. DieserAtommüll ist in der sicheren Überzeugung und Ge-wissheit ins Ausland verbracht worden, dass wir ihn ir-gendwann wieder zurücknehmen. Bei den jetzt stattfin-denden Transporten handelt es sich um nichts anderes alsum die Erfüllung völkerrechtlicher Verträge und um dieBeseitigung der Altlasten. Außerdem war es immer ge-sellschaftlicher Konsens, dass wir uns nicht zulasten Drit-ter, also zulasten unserer ausländischen Nachbarn oderanderer Länder, entlasten würden. Wir müssen die Pro-bleme, die wir selbst geschaffen haben, auch selbst lösen.Ich wundere mich ein bisschen über die CDU. Wennsich Frau Merkel gelegentlich zu diesem Thema äußert,bin ich doch einigermaßen überrascht. Ich kann mich gutdaran erinnern, wie sie sich am 9. Mai 1998 auf demdamaligen Westfalentag der Jungen Union als Atomlob-byistin hat feiern lassen und die Atomenergie für durch-aus vertretbar erklärt hat.
Sie hat die Mitglieder der Jungen Union den Ahauser Ap-pell unterschreiben lassen.
Sie hat die jungen Menschen in die Irre geführt.Wir haben den Ausstieg aus der Atomenergie und derWiederaufarbeitung beschlossen und wir werden denAusstieg aus einer ungesicherten Technik mit nicht ab-schätzbarem Gefahrenpotenzial durchsetzen, auch wennes länger dauert, als der eine oder andere sich das ge-wünscht hat.Wir werden mit den Polizeibeamten genauso wie mitden Bürgern, die vor Ort friedlich demonstrieren, weiter-hin im Gespräch bleiben. Die Polizeibeamten müssenwissen – dies wissen sie auch –, dass sie sich auf dieseBundesregierung und auf die rot-grüne Koalition verlas-sen können. Sie wissen, dass sie nicht für ungelöste poli-tische Probleme einstehen müssen. Sie können sich daraufverlassen, dass wir ihnen den Rücken stärken und sie indieser Problemsituation nicht alleine lassen.Schönen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Hans-Otto Wilhelm.
Frau Prä-sidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! HerrKubatschka, wir haben überhaupt keine Probleme, zu ak-zeptieren, dass dies kein rot-grüner Castortransport ist. Esist unser aller Castortransport.Nur, wir hätten uns 1997 ein ähnliches Maß an Ver-ständnis erwartet.
Damals wurde aus diesem Castortransport ein Merkel-Transport gemacht und damals hatte Ihre unselige Frakti-onsvorsitzende Frau Müller behauptet, wir würden eineLegende über Chaoten erfinden, um unser Süppchen zukochen. Sie hatte sogar behauptet, dass mit einem solchenPolizeieinsatz und Kosten von 110 Millionen DM dieGrenzen des demokratischen Rechtsstaates längst über-schritten seien. Herr Innenminister, die Kosten für denEinsatz der Polizei waren jetzt genauso hoch. Haben wirheute die Grenzen des demokratischen Rechtsstaats über-schritten? Gilt das Argument von 1997 heute auch nochoder sind die Bedingungen deswegen anders, weil wireine andere Regierung haben – obwohl es unser allerCastortransport ist?
Ich bin sehr einverstanden mit Ihrer Interpretation zurGewalt. Nur, in dieser Eindeutigkeit wie bei Ihnen, FrauKollegin Hustedt, habe ich es von vielen Ihrer Kollegenbisher nicht gehört.
Gerade das war doch die Idee des so genannten gerechtenWiderstandes aus Ihren Reihen: Weil wir moralischer sindals der Rest der Welt, ist das Überschreiten des legalenRahmens gerechtfertigt. Hinter dieser Überhöhung habenSie doch Ihre Unterstützung für viele, auch für Gewalttä-ter, verdeckt. Dieser Schuld müssen Sie sich stellen. Siehaben Verantwortung übernommen.
Sie haben aus der Sorge der Leute dort Angst gemacht. Siehaben Angst geschürt.
Sie bekommen diesen Geist heute nicht mehr in die Fla-sche zurück.
Jetzt könnte man ja meinen, dass die Grünen – „Regie-rungspolitik macht vernünftig“ – einsichtig geworden
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Hans-Peter Kemper15720
seien. Wenn ich also höre, dass wir den Dreck zurückneh-men müssen, dann muss ich sagen: Das ist eine Selbst-verständlichkeit, die 1997 genauso galt. Wir müssen völ-kerrechtliche Verträge einhalten. Das ist eine ganz neueErkenntnis dieser Regierung.
– Ja, das ist mir völlig klar. Ich habe Ihre subtile Unter-scheidung, warum Sie darüber diskutieren, wohl gelesen.Es ist eine subtile Unterscheidung, die allenfalls denschwachen Zusammenhalt der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen gewährleistet, sonst aber überhaupt nichts.
Die Atomkraftgegner verkennen die Realität, sagt einleibhaftiger Staatssekretär. Auf den Bänken der Regie-rung sitzen doch die früheren Atomkraftwerkgegner. Siealle – Trittin und wie sie sonst noch heißen – haben wohlfrüher die Realität falsch eingeschätzt.
Er formuliert heute, dass die Voraussetzungen für denTransport gegeben seien; deshalb gebe es überhaupt kei-nen Anlass zu Demonstrationen. „Nur, weil jemand sei-nen Hintern auf die Straße setzt, finden wir das noch langenicht richtig“ – Originalton Trittin. Sie selbst haben dochnoch 1997 mit Ihrem Hintern im Gras gesessen. Heutesitzt er im Fond eines Dienstwagens; die Welt lässt sichbesser durch die getönten Scheiben eines Autos betrach-ten.
Wenn das wenigstens die einheitliche Meinung derGrünen wäre! Nein, man arbeitet arbeitsteilig. RebeccaHarms, Niedersachsen, sagt, Blockaden seien so etwaswie ein letztes Mittel des Menschen; Straftatbeständeseien ein letztes Mittel des Menschen. Die unselige Frak-tionsvorsitzende der Grünen, Frau Müller, sagt: Öffentli-cher Druck ist nötig. Herr Innenminister, das sind dochKoalitionspartner von Ihnen. Welchen öffentlichen Druckmeinen Sie: den Druck auf Sie, auf die Regierung, aufDemonstranten oder auf wen sonst? Ich erwarte eine Ant-wort des Innenministers, was unter diesem öffentlichenDruck zu verstehen ist.
Die Parteivorsitzende fährt mit dem Trecker durch dasWendland. Das sind doch Bilder, die die Demonstrantenirritieren – und die kriegen dann später das Kommen ver-boten.Diese Fragen müssen die in sich total zerstrittenen Grü-nen lösen. Da hilft auch ein Herr Ströbele nicht,
der Angeketteten, die nur einen Arm frei hatten – welcheine kabarettistische Situation! –, seine Visitenkarte über-reicht hat. Das ist ein bemerkenswerter Beitrag zur deut-schen Atompolitik, den er mit dem Hinweis verband, dasZeug müsse ja irgendwo hin, aber nicht ins Wendland; erwisse auch nicht so genau, wohin. Und solchen Leutensoll man die Zukunft unseres Landes anvertrauen?
Wenn ich dann noch lese, dass in den Koalitionsver-handlungen in Nordrhein-Westfalen die dortigen Grünendas Polizeieinsatzkonzept ändern wollten, unter anderemmit dem Hinweis, dass die Polizisten keine Helme mehraufziehen und die Schilde weglegen sollten, dann mussich feststellen: Das ist doch eine Aufforderung an gewalt-tätige Demonstranten, gegen unsere Polizei und derenkörperliche Unversehrtheit vorzugehen.
Diese Leute stellen sich nun hier hin und werden mit derSchizophrenie ihrer früheren Ablehnung und dem Druck,heute zustimmen zu müssen, weil sie in der Regierungbleiben wollen, nicht fertig. Dies wird auf dem Rückender Bevölkerung, insbesondere der Demonstranten aus-getragen.Ihr Parteivorsitzender hat im „Stern“-Interview, dasheute schon zitiert wurde, gesagt: Wir schaffen es noch zuwenig, in einer ganz einfachen Botschaft klarzumachen,wofür wir stehen. – Recht hat er.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Wilhelm, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.
Er soll nur
sagen: Wir stehen zu unserer Polizei und verurteilen das
Handeln der Chaoten. Oder: Wir stehen ohne Wenn und
Aber zu unserem Rechtsstaat. – Das wäre doch etwas.
Oder: Wir sind gegen jede Form von Gewalt an Personen
und Sachen, egal unter welchem überhöhten Deckmantel
sie sich versteckt. Dann werden Sie aus dem von ihm be-
schriebenen Tunnel herauskommen. Ich glaube, Sie blei-
ben drin. Deutschland würde es nicht schaden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt derBundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-cherheit, Jürgen Trittin.Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit: Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Lassen Sie mich an diesem Tag zumeinen – Frau Lippmann, Sie verstehen, dass ich Ihre An-sicht nicht teile – meinen Respekt gegenüber der über-großen Mehrheit derjenigen ausdrücken, die friedlich undgewaltfrei demonstriert haben.
Lassen Sie mich zum anderen meinen Dank für ein aufDeeskalation gerichtetes Einsatzkonzept der Polizeiaussprechen, das den einzelnen Polizeibeamtinnen undPolizeibeamten erhebliche psychische und physische
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Hans-Otto Wilhelm
15721
Leistungen und viel Zeit abverlangt hat. Ich möchte michauch für all die Überstunden bedanken und die Umsicht,mit der dort vorgegangen worden ist.
– Ich glaube, wir sind uns in diesem Hause einig, dass jedeForm von Gewalt und Verletzung von anderen strikt ab-zulehnen ist und dies durch das Recht auf De-monstrationsfreiheit nicht gedeckt ist.
Weil wir uns hierin einig sind, lassen Sie mich nocheine weitere Bemerkung zu dem machen, was Sie ange-sprochen haben, Herr Hirche. Wir tun uns allen keinenGefallen, wenn wir insinuieren, dass ziviler Ungehorsamgleich Rechtsbruch und Rechtsbruch gleich Gewalt ist.Wir tun uns allen einen Gefallen, wenn wir uns diesemProblem so nähern, wie es angemessen ist. Selbst-verständlich verstehen viele Menschen unter zivilem Un-gehorsam das Recht, auf der Straße zu sein. Dies bedeu-tet nicht automatisch Rechtsbruch.
– Nein, ich komme gleich zu dem Punkt, an dem Sie mirwieder zustimmen werden.
– Sie haben mich als „Hetzer“ bezeichnet, Herr Kollege.Ich möchte um eine Versachlichung dieser Debatte bitten.Diejenigen, die durch ihre Aktion auf den Gleisen dazubeigetragen haben, dass die Castorbehälter einen Tag spä-ter als geplant angekommen sind, haben für sich in An-spruch genommen, sie seien nicht gewalttätig. Es ist abervöllig eindeutig, – das habe ich übrigens gestern im Fern-sehen gesagt; vielleicht haben Sie es gehört oder es in ei-ner Meldung der Agentur gelesen –, dass sich diese Men-schen rechtswidrig verhalten und Rechtsbruch begangenhaben; das wissen sie auch.
Daran kann es keinen Zweifel geben.Ich möchte in dieser Debatte angesichts dieser Aktionnoch eine weitere Anmerkung machen, die mich persön-lich sehr umgetrieben hat.
Natürlich kann sich jemand als Erwachsener in Gefahrbringen. Aber ich muss ernsthaft die Frage aufwerfen – sieist auch an Robin Wood gerichtet –, ob es bei solchen Ak-tionen mit der Fürsorgepflicht zu vereinbaren ist, wenn16-Jährige in eine Situation gebracht werden, in der ihrekörperliche Unversehrtheit davon abhängt, dass die Poli-zei schnell und umsichtig den Beton entfernt. Ich formu-liere das bewusst als Frage. Ich halte ein solches Vorge-hen nicht für besonders klug.
Ich will einige Bemerkungen zu der Tatsache machen,dass Frau Lippmann und andere den Transport zum An-lass genommen haben, um – wie sie sich ausgedrückt ha-ben – gegen den Atomkonsens zu demonstrieren.
In diesem Zusammenhang möchte ich zu einer gewissenNachdenklichkeit raten.Stellen Sie sich einmal vor, es gäbe diesen Konsensnicht! Würde es diesen Rücktransport dann nicht geben?Nein, es würde ihn auch dann geben, denn die Notwen-digkeit, den Abfall von 5 200 Tonnen Schwermetall zu-rückzunehmen, existiert unabhängig vom Konsens.Was wäre, wenn wir keinen Konsens hätten?
Dann hätten wir nicht nur den Transport von 120 Castor-behältern zu bewältigen, sondern müssten möglicher-weise 200, 250 oder 300 Behälter nach Gorleben trans-portieren, weil es hinsichtlich der Wiederaufarbeitungkeine Begrenzung gäbe. Die Wirkung, die eine solcheNotwendigkeit in Gorleben hervorrufen würde, kann mansich gut vorstellen.Damit nicht genug: Wenn wir keinen Konsens hätten,müssten wir weiterhin auf ein Konzept dezentraler Zwi-schenlagerung verzichten. Wir müssten dann weiterhinAtommüll auch aus deutschen Atomkraftwerken, nämlichaus den Kraftwerken, die nicht an der Wiederaufarbeitungteilnehmen, nach Gorleben und Ahaus bringen.
Es gäbe also mehr Transporte.Wenn wir keinen Konsens hätten, hätten wir weiterhinunbefristete Betriebserlaubnisse und damit wäre weiter-hin unbegrenzt Atommüll nach Gorleben oder anderswo-hin zu verbringen.Letzte Bemerkung zu dem konkreten Fall Gorleben:Wenn wir keinen Konsens hätten, wenn wir keine Verein-barung über einen Ausstieg mit den Unternehmen hätten,dann würde in Gorleben weiter unter dem Fähnchen einervorgeblichen Erkundung der Bau eines Endlagers voran-getrieben.
– Herr Hirche, ich verstehe Sie nicht, wenn Sie so un-deutlich dazwischenrufen.
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Bundesminister Jürgen Trittin15722
Ich kann verstehen, dass Menschen sagen: Ich möchtenicht, dass Atommüll zu mir gebracht wird. Das ist ein le-gitimes Interesse, denn niemand hat gerne Atommüll inseiner Umgebung. Es ist aber nicht akzeptabel, wennnicht beachtet wird, dass wir ohne den Konsens keine Ver-minderung der Zahl der Castortransporte, keine Begren-zung der Laufzeiten und keine Beendigung des Baues desEndlagers, die nicht fachlich, sondern rein politisch be-gründet worden ist, erreicht hätten.
Es ist interessant, dass von rechts und links gleichzeitiggegen den Konsens agiert wird. Es scheint, dass an ihm et-was Richtiges ist. Wenn Frau Lippmann und Herr Hircheeiner Meinung sind, glaube ich, auf dem richtigen Weg zusein.
Das ist eine Instinktfrage.Wir haben die Rahmenbedingungen für die Rück-nahme des Mülls entscheidend verbessert. Deswegen istes auch nicht möglich, anlässlich dieses Transportes überRückverhandlungen oder über die Aufgabe dieses Kon-senses zu reden. Es muss das Ziel sein, diesen Konsensgerade im Interesse der Bevölkerung in Gorleben Wirk-lichkeit werden zu lassen.
Ich kann das aufgreifen, was Michaele Hustedt gesagthat: Es ist auch im Interesse der Industrie, dass nicht wei-ter der Eindruck entsteht, sie würde einen Konsens nichtwollen, an den sie sich – untermauert durch viele Bei-spiele – faktisch hält. Es ist an der Zeit, dass wir die An-gelegenheit in diesem Jahr rechtssicher unter Dach undFach bringen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Gehb,
bevor ich Ihnen das Wort erteile, weise ich den Ausdruck
„Hetzer“ im Zusammenhang mit der Rede des Bundesmi-
nisters Trittin ausdrücklich zurück. Sie wissen, dass es
dem Stil dieses Hauses nicht entspricht, diesbezügliche
Begriffe auf Personen zu münzen.
Ich erteile jetzt dem Kollegen Dr. Jürgen Gehb das
Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Offenbar unter dem Eindruckder soeben gewährten Bewährungszeit hat der Umwelt-minister Trittin in gelassener Art und mit leisen Tönenhier gesprochen. Das war nicht immer so.
Seine Rede am 15. November letzten Jahres hat er nachdem Zitat von F. K. Waechter begonnen: „Die größtenKritiker der Elche waren früher selber welche.“ Das warauf meinen Kollegen Kurt-Dieter Grill gemünzt. Das istnatürlich eine super Selbstcharakterisierung; denn Sie,Herr Trittin, waren Mitte der 90er-Jahre der Leitelch beiden Demonstrationen gegen die Castortransporte.
Sie haben vorhin Ihre Kolleginnen mit Heidi, Michaeleund Thea angesprochen. Sie stehen offensichtlich auchmit den Chaoten auf Du und Du.Eines muss man richtig stellen: Herr Kubatschka, Siehaben vorhin die Verantwortung der Bundesregierung fürdie rot-grünen Castortransporte angesprochen. So lautetnicht das Thema.
Man muss es genauer formulieren. Es geht um die Ver-antwortung der Bundesregierung für die Begleitumständeder Castortransporte, die eben geschildert worden sind.Bei den Transporten herrschen bürgerkriegsähnliche Zu-stände, die mitnichten mit den Zuständen zu vergleichensind, die herrschten, als die Transportunternehmer mitihren LKWs vor dem Reichstag vorgefahren sind.
Ich möchte diese Leute nicht über einen Kamm scheren mitdenen, die friedlich das grundrechtlich verbürgte Recht aufDemonstration in Anspruch genommen haben. Das tun wirnicht. Aber man muss den „Fremdenlegionären“, die für dieverheerenden Zustände rund um die Castortransporte ver-antwortlich sind, die Spitze nehmen.
Nun komme ich auf das Thema Verantwortung zu spre-chen. Außer Teilnahme und Täterschaft gibt es auch einementale Anstiftung. Wenn Herr Trittin am 15. Novemberhier im Plenum behauptet, die CDU/CSU und die F.D.P.hätten jahrelang den Atommüll ins Ausland verschobenund dies widerspreche dem geltenden Atomrecht, dannversucht er, eine rechtmäßige Handlung zu inkriminieren,also damit den Eindruck zu erwecken, als handele es sichum einen kriminellen Akt und um Unrecht. Man musswissen, dass man so latent gewaltbereiten Demonstrantensozusagen den letzten Kick gibt und dass man so dieLunte ansteckt.
Kaprizieren Sie sich nicht so darauf, dass das aus-schließlich völkerrechtliche Pflicht sei! Dass Sie, Herr
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Bundesminister Jürgen Trittin15723
Trittin, rechtsunkundig sind, haben Sie ja bereits wieder-holt unter Beweis gestellt. Aber bedenken Sie, dass Sienoch immer Mitglied der Bundesregierung sind, die am25. Januar in ihrer Antwort auf die Große Anfrage meinerKollegen – Drucksache 14/5162, Seite 15 – auf die Frage,ob die Bundesregierung die Auffassung teile, dass dieWiederaufarbeitung und die Transporte rechtmäßig seien,mit Ja geantwortet hat. Herr Trittin, dass Sie das Rechtnicht kennen, sehe ich Ihnen noch nach. Aber dass Sienicht einmal die Auffassung des Kabinetts kennen, ver-stehe ich nun wirklich nicht. Entweder sind Sie ein Di-lettant oder Sie gehen mit der Wahrheit taktisch um.
– Herr Ströbele, wenn Sie den Widerspruch nicht verstan-den haben, sollten Sie überlegen, woran das liegt. Der Wi-derspruch liegt darin, dass man natürlich die Gewaltbe-reitschaft schürt, wenn man rechtmäßige Akte derRegierung pausenlos als unrechtmäßig stigmatisiert.Auch Sie, Frau Roth, sollten gut zuhören; denn auch Siegehören zu denjenigen, die davon sprechen, dass das nichtnur illegitim, sondern illegal gewesen sei. Ich sage Ihnen:Das war immer legal. Das ist im Moment legal und dasbleibt übrigens auch nach Ihrer eigenen Atomgesetz-novelle, die ich gut kenne, ebenfalls legal. Wo liegt alsodas Problem?
Ich kann nur eines sagen: Wer den Boden für solcheProtestaktionen, wie sie im Moment stattfinden, bereitetund sich hinterher davon distanzieren möchte, der stelltsich seiner Verantwortung nicht. Wissen Sie, Herr Trittin,wenn die Romanfiguren Dr. Jekyll und Mr. Hyde nochnicht geboren wären, dann wären Sie einer der besten Vor-bilder für deren Erfindung.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt spricht der Kol-
lege Arne Fuhrmann für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Sie haben jetzt gerade einen An-schauungsunterricht darüber erteilt bekommen, wie manAggression und Gewalt auch auf verbale Art und Weiseerzeugen kann.
Das war klassisch.
– Herr Marschewski, wenn Sie irgendwann einmal lernenwürden, Ihren Mund zu halten und zuzuhören, würde dasIhren geistigen Fähigkeiten vielleicht ein bisschen wei-terhelfen.
– Herr Grill, Sie sind ja gleich dran. Was wir von Ihnenhören werden, kann ich jetzt schon vorwärts und rück-wärts beten.
Sie haben beantragt, über die Begleitumstände diesesTransports zu reden.
Das ist bisher nicht der Fall gewesen. Bisher haben Sieüber alles geredet, nur nicht über die Begleitumstände.
Sie reden über Gewalt und darüber, wie Demonstrantenpauschal diesem Rechtsstaat schaden,
wie sie pauschal gewalttätig sind und wie sie pauschal ineine Ecke gehören.
Sie machen das sogar insofern falsch und insofern auchnoch etwas dramatischer, als Sie dann den Herrn Gehb re-den lassen.
Im Wendland sind die Begleitumstände folgender-maßen: Die Menschen in der Region haben 14 Tage langeinen Zustand erlebt, den Sie alle, bis auf Herrn Grill,nicht kennen und den Sie alle, die Sie hier sitzen, durch-aus als Besetzung bezeichnen würden. Wir haben das Rie-senglück, dass Polizei und BGS in der Zwischenzeitlängst insofern aus der Schusslinie sind, als die Menschenim Wendland wissen, dass nicht die Beamten, sondernwir, die Politiker, schuld sind.
Mittlerweile gibt es eine Phase der Entspannung, dieaber nichts damit zu tun hat, dass vonseiten der Politikwesentliche Veränderungen für die Wendländer eingetre-ten seien, denn die Castoren rollen nach wie vor. Vielmehrkommt es langsam, aber sicher zwischen denen, die imWendland leben, und denen, die ihre Pflicht tun, zu einerAnnäherung. Sie haben sich beide gegenseitig nichts vor-zuwerfen. Diejenigen, die gewaltbereit sind – das sind die
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Dr. Jürgen Gehb15724
wenigsten in der Region –, sind diejenigen – das wurdevorhin schon erwähnt –, die „Gewalttourismus“ betrei-ben. Das sind wirklich die wenigsten, aber die machen esschwer.
Diese Menschen machen es auch den Bewohnern desWendlandes so unglaublich schwer, daran zu glauben,dass die Politik diese Transporte heute unter einem ande-ren Aspekt als noch vor vier Jahren vornimmt. DerAtomkonsens hätte möglicherweise bei manchem seineWirkung und seine Akzeptanz, wenn es nicht an verschie-denen Stellen immer wieder dazu käme, dass sich das Po-tenzial der Castoren immer weiter erhöht. Daran zu arbei-ten, daran mitzuwirken, auch das noch zu verbessern, isteine Aufgabe, die die rot-grüne Koalition wahrnimmt.
Durch die Bank sind wir bisher nicht glücklich mit demAtomkonsens, aber es ist der erste Schritt zu einem ge-ordneten und, wie wir hoffen, auch friedlichen Ausstiegaus der Kernenergie.
Probleme bereitet mir folgendes pauschales Vorurteil,das den Menschen im Wendland gilt: Der Castor kommt,und dann ist im Wendland die Hölle los. – Das ist Quatsch,absoluter Quatsch; eine solche „Gesetzmäßigkeit“ gibt esnicht. Das Demonstrations- und das Versammlungsrechtgelten überall. Die Proteste bei der Ökosteuer – das wurdevorhin schon erwähnt –, die nicht nur von den Kraftfah-rern, sondern auch von den Unterglasbetrieben und vonden Landwirten ausgingen, hat bei uns allen Nachdenken,aber bei weitem nicht den Verdacht ausgelöst, plötzlichwürde der Rechtsstaat blockiert oder auf den Kopf gestellt.
Wissen Sie, man kann sehr wohl darüber diskutieren, obein Autofahrer, der frühmorgens zum Dienst will, es nichtals Gewalt empfindet, wenn 50 oder 100 LKW-Fahrer dasverhindern. Diese Frage würde ich mit Ihnen gerne ein-mal diskutieren. Das Parlament sollte sich in irgendeinerForm der Aufgabe zuwenden, den Gewaltbegriff rechtlichkorrekt einzuordnen. Nicht alles, was ordnungswidrig ist,ist von vornherein Gewalt. Wir distanzieren uns von Ge-walt. Dass ich persönlich jede Art von Gewalt ablehne,habe ich in diesem Parlament von diesem Ort aus mehr-fach betont.Was mir aber überhaupt nicht gefällt, sind die Unter-stellungen, mit denen Sie immer wieder arbeiten.
Ich wünsche mir, dass Sie in dem Augenblick, da Sie ei-nen Antrag auf Durchführung einer Aktuellen Stunde stel-len,
in der Sie die Begleitumstände eines Castortransportesdiskutieren wollen, über die Begleitumstände – –
– Herr Marschewski, Sie sind schon wieder derjenige, dernicht abwarten kann.
Das ehrt Sie.
– „Nein“, sagt mein Kollege. Das ehre Sie eigentlichnicht, meint er. Er hat wahrscheinlich Recht.Ich möchte noch einen Satz in Richtung PDS sagen.Genauso wie Sie waren wir gestern und vorgestern indieser Region; wir waren dort mit fünf Personen. UmIhnen diesen Zahn zu ziehen: Wir waren dort ohneBegleitung durch die Polizei oder durch die Bezirksre-gierung.
Ich finde es schon erstaunlich, dass Sie jetzt den Versuchunternehmen, sich den Widerstand in der Region politischunter den Nagel zu reißen. Das wird Ihnen garantiert nichtgelingen.
Man ist dort eigenständig genug, um zu erkennen, worindie Chance besteht. Um es ganz klar zu sagen: Dank die-ser Regierung – nicht dank der Oppositionspartei PDS –gibt es die realistische Chance für einen Ausstieg.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Franz Obermeier.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte beginnen,indem ich meinem Herrn Vorredner antworte: Natürlichsind wir in der Lage, zwischen friedlichen Demonstran-ten und gewaltbereiten Demonstranten zu unterschei-den.
Wir unterhalten uns ausschließlich über diejenigen Typen,die mit vollem Bewusstsein Gewalt gegen Menschen undgegen Sachen anwenden. Dagegen wenden wir uns.
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Arne Fuhrmann15725
Herr Fuhrmann, Ihre Strategie wird wieder schief ge-hen, und zwar deswegen, weil sie erneut auf einem Ver-trauensbruch durch den Umweltminister aufgebaut ist. Ersuggeriert den Menschen im Wendland und in Gorleben,dass es sich bei der Erkundung des dortigen Salzstocksum den Bau des Endlagers handelt. In Wahrheit ist es einewissenschaftliche Erkundung, die noch einige Jahre fort-geführt werden müsste, bis man wirklich beurteilenkönnte, ob dieser Salzstock geeignet ist. Jetzt wird denMenschen im Wendland
– in Lüchow-Dannenberg – gesagt, dass es sich dabei umden Bau des Endlagers handelt. Deswegen werden dieMenschen diesen Vorgang in wenigen Jahren ein weiteresMal als schweren Vertrauensbruch beurteilen. Wir werdendas große Problem haben, dass dort wieder Gewaltbereit-schaft geschürt worden ist.Ich möchte den Bundeskanzler zitieren, der im Junivergangenen Jahres wortwörtlich ausgeführt hat:Das politische Bewusstsein einer ganzen Generationwurde durch die Auseinandersetzungen um die Kern-energie geprägt. Anhänger und Gegner standen ei-nander unversöhnlich gegenüber. Als in jener Nachtzum 15. Juni 2000 die Einigung erzielt war und eingrüner Umweltminister und die Chefs der Energie-wirtschaft zugestimmt hatten, da ging eine Epochegesellschaftlichen Konfliktes zu Ende.In den letzten Tagen konnten wir sehen, wie das „Ende derEpoche“ aussieht: 25 Verletzte, zwei Schwerverletzte,20 000 Polizisten. Das ist das Ende der Epoche gesell-schaftlichen Konfliktes!Wenn wir künftig über Gewalt reden und wenn wir ge-meinschaftlich gegen Gewalt demonstrieren, dann lassenSie uns bitte gegen Gewalt von links und rechts demon-strieren.
Denn das, was wir in den letzten Tagen erlebt haben, istGewalt von links.
Sie wären gut beraten, wenn Sie den Menschen inLüchow-Dannenberg und in Gorleben reinen Wein ein-schenken und ihnen sagen würden, dass in den nächstenMonaten weitere Transporte rollen müssen, weil wir denvölkerrechtlichen Verpflichtungen nachkommen müssen.
– Das hat Trittin nicht gesagt!
– Natürlich.Ich sage Ihnen noch eins: Wenn der Bundesumweltmi-nister noch einen Hauch von Mumm und Charakter in sichhätte, wäre er in den letzten Tagen dorthin gegangen, wodiese Krawalle stattfanden,
und hätte den Leuten dort gesagt: Ich habe jahrelang et-was Falsches erzählt. – Das ist die Realität. Dieser Rück-transport beruht auf völkerrechtlichen Bindungen.
Ich möchte noch etwas hinzufügen: Wir sollten uns zu-sammen überlegen, ob es den Polizisten noch zuzumutenist,
die sitzenden Demonstranten wegzutragen und sich demRisiko auszusetzen, dass sie verklagt werden, weil sie zufest zugegriffen oder möglicherweise jemanden verletzthaben.
Wir müssen uns überlegen, ob wir all das gegenüber denPolizisten und Ordnungskräften dort noch verantwortenkönnen,
denen ich herzlich für die schwere Arbeit danken möchte,die sie in den zurückliegenden Tagen bei der ganzen Ak-tion geleistet haben.Danke schön.
Das Wort hat
jetzt der Herr Bundesinnenminister, Otto Schily.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr verehrteFrau Präsidentin! Ich habe die Debatte mit Aufmerksam-keit verfolgt und möchte einen Satz zu der Kollegin vonder PDS sagen. Ich habe heute den Verfassungsschutzbe-richt vorgestellt und dabei erwähnen müssen, dass diePDS weiterhin der Beobachtung durch den Verfassungs-schutz unterliegt.
Ihr Beitrag heute bestärkt mich darin, dass wir dieseBeobachtung fortsetzen.
Denn jemand, der in dieser Weise die Auffassung vertritt,dass Recht und Gesetz nicht gelten, dass Gerichtsurteilekeinen Wert haben, der setzt sich in der Tat dem Verdachtaus, die verfassungsrechtlichen Grundsätze nicht zu ach-ten.
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Franz Obermeier15726
Ich möchte aber an diesem Tag vor allem – ich glaube,das haben die Beamten der Länderpolizeien und des Bun-desgrenzschutzes wahrlich verdient – diesen Beamtenmeinen ganz besonderen Dank aussprechen.
Sie haben in einer außerordentlich schwierigen Situationbesonnen und verantwortungsvoll gehandelt. Sie habensich übrigens um Konfliktentspannung bemüht. Man hatbei der Vorfeldarbeit sogar eine eigene Gruppe für dieseEntspannung eingesetzt. Es kann also niemand behaup-ten, dass etwa von der Polizei irgendeine Eskalation aus-gegangen ist; ganz im Gegenteil.
Wer sich einmal mit der Situation von jungen Polizei-beamten beschäftigt, die Aggressionen und Gewalttätig-keiten ausgesetzt sind, versteht, dass ich einen Satz ausmeiner Rede zum 50-jährigen Bestehen des Bundesgrenz-schutzes wiederholen möchte: Es ist in einem Rechtsstaatselbstverständlich, dass sich ein Polizeibeamter an dieVerfassung, an das Recht, an das Gesetz halten muss unddie Würde der Menschen zu achten hat, mit denen er sichin einer polizeilichen Konfliktsituation befindet. Aber ge-nauso haben auch die Polizeibeamten Anspruch auf Ach-tung ihrer Würde. Das wird manchmal vergessen.
Die Polizeibeamten haben ihre Arbeit – ich wiederholedas bewusst – verantwortlich, besonnen, klug und intelli-gent vollzogen. Ich gratuliere ihnen zu dem Erfolg, dasssie diesen Castortransport in relativ kurzer Zeit zu einemvernünftigen und guten Ende gebracht haben. Diese Leis-tung ist anzuerkennen.Ich will an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen, welcheGewalttaten verübt worden sind: Leuchtmunition ist ver-schossen worden, sodass Polizeiwagen in Brand geratensind, wodurch nicht nur schwere Sachschäden angerich-tet, sondern auch Menschenleben gefährdet wurden.Bahngelände wurde beschädigt und Anschläge mit Ha-kenkrallen wurden verübt. Schienenwege sind unterhöhltworden und Einrichtungen der Bahn sind massiv beschä-digt worden. Auch körperliche Angriffe fanden statt. Alldas sind schwerste Straftaten; es hat mit der Wahrneh-mung des Demonstrationsrechts überhaupt nichts zu tun.
Herr Kollege Paziorek, Sie haben in Ihrer Rede zwarbegrüßt, was ich gestern gesagt habe. Sie vermissen abermeine Äußerungen vorher. Ich kann von Ihnen natürlichnicht verlangen, dass Sie alle Pressemitteilungen und alleInterviews von mir zur Kenntnis nehmen.
Damit ich meine Redezeit nicht dafür opfern muss, eineentsprechende Aufstellung vorzulesen, möchte ich IhnenAuszüge aus meinen Stellungnahmen von Februar biszum Beginn der Castortransporte geben,
in denen genau das enthalten ist, was ich gestern gesagthabe. An Klarheit in meinen Äußerungen hat es wirklichnicht gefehlt.
Das sollten Sie anerkennen.
– Gut, dann brauchen wir darüber nicht mehr zu sprechen.Ich gebe Ihnen nachher die Unterlagen, in denen Sie dasalles nachlesen können.
– Auch mit Widmung.Wenn Straftaten verübt werden, dann muss der Staatdafür sorgen, dass sie nicht folgenlos bleiben. Deshalbgilt: Wo immer wir Täter identifizieren können, werdensie mit strafrechtlichen Sanktionen zu rechnen haben. Ichbitte alle, die Polizei bei diesen Ermittlungen zu unter-stützen. Es darf nicht bei Untätigkeit bleiben; es ist Un-terstützung notwendig.
Wir werden selbstverständlich auch prüfen, ob gegen-über denen, die Sachschaden angerichtet haben, zivil-rechtliche Ansprüche geltend gemacht werden können.Das heißt, diejenigen, die einen Schaden angerichtet ha-ben, müssen damit rechnen, dass sie diesen Schaden aus-gleichen müssen. Dabei umfassen die Ermittlungen nichtnur diejenigen, die solche Taten unmittelbar begangen ha-ben, sondern auch diejenigen, die dazu angestiftet oderdiese Taten geplant haben. Das wird in die Überlegungenmit einbezogen werden.Lassen Sie mich eine Bemerkung über den rechtlichenHintergrund machen, der schon angesprochen worden ist.Niemand soll sich anmaßen, Recht und Gesetz außerKraft zu setzen. Der Kollege Gehb hat behauptet, es gebeirgendwelche Widersprüche in der rechtlichen Beurtei-lung. Sie haben sich hier mächtig aufgepumpt, Herr Kol-lege.
– Entschuldigen Sie bitte, das habe ich nicht gewusst.Nehmen Sie meinen Vorwurf nicht persönlich.
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Bundesminister Otto Schily15727
Herr Kollege Gehb, lassen Sie uns die rechtliche Si-tuation sachlich betrachten. Es kann auch Recht vorlie-gen, das auf völkerrechtlichen Verbindlichkeiten beruht.Ich verstehe daher Ihren Einwand nicht. Entscheidungenkönnen gerade dann rechtmäßig sein, wenn sie auf derGrundlage völkerrechtlicher Verbindlichkeiten erfolgen.Ich glaube, da besteht kein Widerspruch. Das müsste einIrrtum Ihrerseits sein.Wir haben einen enormen Aufwand leisten müssen.Tausende von Polizeibeamten, allein mehr als 7 000 vomBundesgrenzschutz, sind im Einsatz gewesen. Es wirdaber nicht der letzte Castortransport gewesen sein.
Ich möchte daher an alle appellieren – auch weil es si-cherlich nicht die letzten friedliche Demonstrationen ge-wesen sein werden –: Wir müssen gemeinsam dafür sor-gen, dass rechtmäßige Castortransporte ohne diesengroßen Polizeieinsatz stattfinden können. Das ist unseregemeinsame Verpflichtung.
So Leid es mir tut, muss ich an dieser Stelle auch er-wähnen, dass es nicht hilfreich war, dass eine Landesmi-nisterin meinte, angesichts der Vorkommnisse um den Cas-tortransport Kritik am Bundesgrenzschutz in einemanderen Zusammenhang üben zu sollen. Der Bundes-grenzschutz hat zwar trotz der schwierigen Lage bei denCastortransporten auf meine Anordnung auch Kontin-gente für die Verhinderung von Tiertransporten über dieGrenzen wegen der Maul- und Klauenseuche zur Ver-fügung gestellt; die erste Zuständigkeit hierfür liegt je-doch nicht bei ihm, sondern bei den Zoll- und Veterinär-behörden. Ich erwarte dann, dass in einer so schwierigenSituation keine Kritik am Bundesgrenzschutz und amBundesinnenminister geübt, sondern für diese Hilfeleis-tung gedankt wird. Das sollte auch eine grüne Landesmi-nisterin wissen.
Es ist wirklich an der Zeit, dass der Gesellschaft klarwird, dass Castortransporte friedlich, ordnungsgemäß undentsprechend den rechtlichen Vorschriften vollzogen wer-den müssen. Ich gehöre übrigens zu denen, die den Atom-konsens begrüßen. Mein Verhalten steht nicht im Wider-spruch zum Atomkonsens, denn diese Lage ist durch eineverfehlte Politik, an der viele beteiligt waren – auch dieSozialdemokraten, das muss man offen zugeben –, herbei-geführt worden. Selbst der SDS ist in der 68er-Zeit für diefriedliche Nutzung der Kernenergie eingetreten.
Damals vertrat ich übrigens die Gegenposition. Ich habemeine Position relativ konsequent vertreten.Viele haben an dem Einstieg in die Kernenergie mitge-wirkt. Deshalb ist der Ausstieg relativ mühsam und zeit-aufwendig. Lassen Sie ihn uns in demokratischer, friedli-cher und rechtstaatlicher Form vollziehen. Dann sind wireinen Schritt weiter.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Kurt-Dieter Grill.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Herr Schily, ich will bewusstan das anknüpfen, was Sie hier gerade zum Schluss vor-getragen haben, und Ihnen sagen: Es gibt zwei Elementein Ihrer Rede, die ich außerordentlich begrüße. Jedochvermisse ich diese Haltung nicht nur bei den Grünen, son-dern insbesondere auch bei Ihren eigenen Parteifreunden.Es handelt sich darum, dass die Geschichte der Kernener-gie nicht mit dem Regierungswechsel 1983 beginnt, son-dern dass in den 60er- und 70er-Jahren ein gesellschaftli-cher Konsens – es gab über 90 Prozent Zustimmung – inBezug auf den Bau von Kernkraftwerken in diesem Landbestand.
Sie haben heute als Einziger einen Beitrag dazu geleistet,dass auch 90 Prozent bereit sind, die Verantwortung fürdie Entsorgung zu übernehmen.
Sie haben auch einen Beitrag dazu geleistet, dass ge-meinsam darüber nachgedacht wird, wie wir in Zukunftverfahren. Das hat aber ein paar Bedingungen: Sie könnennicht mit den Energieversorgungsunternehmen allesverabreden und die Länderverantwortung außen vor las-sen. Dies sage ich in Bezug auf die Frage, wie die Entsor-gung in der Zukunft geregelt werden soll. Die Länder ha-ben ein von der Verfassung garantiertes Recht, das von derBundesregierung missachtet worden ist.Jenseits solcher Fragen bleibt es aber dabei, dass Sievon der Union niemals die Vorwürfe hören werden, diewir, als wir Verantwortung für die Castortransporte tru-gen, hören mussten. Das ist der fundamentale Unterschiedund macht ein Stück unserer Argumentation aus. Das, waswir früher aus der Opposition gehört haben, werden Sievon uns nicht hören.
Wir werden weder einen Polizeieinsatz noch die Drahtkä-fige als Ausdruck von Polizeistaat kritisieren. Wir alsUnion werden niemals Kampagnen, wie Freunde der Grü-nen
und auch Teile der SPD, nach dem Motto fahren: „Atomgleich Tod gleich Krebs gleich CDU“. Solche Agitation,
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Bundesminister Otto Schily15728
die wir bis 1998 erlebt haben, werden Sie von uns nichthören.
Sie werden bei uns ebenso nicht erleben, dass wir auchnur in irgendeiner Wendung eine sozusagen aus dem Prin-zip des zivilen Widerstandes legitimierte Gewaltaktionbefürworten oder für richtig halten, wenn wir in irgendei-nem Teil der Politik anderer Meinung sind als diese Re-gierung. Das ist der fundamentale Unterschied zwischen1998 und 2001.
Zweitens ist es noch gar nicht lange her, dass in dieserBundesregierung genau das Gegenteil von dem entschie-den worden ist, was Sie hier heute vortragen. Was habenSPD und Grüne geschimpft, als wir darüber nachgedachthaben, Straftäter und gewalttätige Demonstranten auch fi-nanziell zur Rechenschaft zu ziehen! Es ist wenige Mo-nate her, dass Herr Trittin sich damit gebrüstet hat, dass erdie Schadensersatzklage in Höhe von 100 000 DM gegendie Besetzer des Turms im Endlager zurückgezogen hat.Das ist das falsche Signal an Gewalttäter, es kommt aberaus dieser Bundesregierung.
Deswegen denke ich, dass es, verehrte Frau Hustedt,nicht um zweierlei Maß geht. Es geht um zweierlei Wahr-heit, und zwar bei Ihnen und den Sozialdemokraten. Ichkann hier gar nicht die Fülle der Widersprüche aufzählen.Es ist jedenfalls so, Herr Kemper, dass die Unterbringungder Polizei in Lüchow-Dannenberg deswegen so schwie-rig ist, weil der der SPD angehörende Landrat ChristianZühlke die Turnhallen, die Schulen und alles andere, wasan öffentlichen Gebäuden für Unterkünfte zur Verfügungstehen könnte, der Polizei bisher verweigert hat. Das istdie Politik der SPD vor Ort.
– Schreien Sie nicht so rum.
– Herr Fuhrmann, ich würde einmal Folgendes sagen: Siegehören zu denen, die – wie Herr Trittin, Herr Schröderund viele andere – den Menschen in Lüchow-Dannen-berg versprochen haben, dass, wenn sie an die Regierungkommen, die Anlagen in Gorleben nicht mehr genutztwerden.
Heute sehen die Menschen in Lüchow-Dannenberg, dassgenau diejenigen, die ihnen das vor 1998 versprochen ha-ben, diese Anlagen ohne jede Entschuldigung, ohne jedeErklärung nutzen, als habe es nie einen anderen Sinn die-ser Anlagen gegeben. Sie bauen Ihre Entsorgung auf un-serer Vorsorge für die Zukunft unserer Kinder auf. Das istdie Wahrheit.
Herr Kollege,
Sie müssen mit Ihrer Rede leider zum Ende kommen, weil
nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung steht, die auch nicht
überschritten werden kann.
Frau Präsidentin, ich
würde gerne eine Schlussbemerkung machen.
Ich fordere Herrn Trittin auf, endlich das Gespräch mit
der Bevölkerung aufzunehmen.
Er ist der einzige Minister, der in der Verantwortung für
diese Dinge steht, der das Gespräch mit den Gemeinden
und mit der Bevölkerung im Landkreis Lüchow-Dannen-
berg verweigert hat. Dies hat es in der Geschichte des
Standortes Gorleben so noch nie gegeben.
Die Menschen in Lüchow-Dannenberg sind enttäuscht,
weil sie ohne jede Erklärung und ohne jede Entschuldi-
gung genau das Gegenteil von dem erleben, was ihnen
vor der Wahl versprochen worden ist. Sie haben die
Bürger-initiativen für Ihren Machterhalt instrumentali-
siert und jetzt verweigern Sie das Gespräch. Ich fordere
Sie auf: Stellen Sie sich vor Ort Ihrer Verantwortung!
Dann sind Sie endlich dort, wo Sie Verantwortung ha-
ben.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Michael Müller.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Otto Schily hat Recht: Es wa-ren nur wenige, die in den 60er-Jahren Nein zur Atomkraftgesagt haben. Das war damals nicht die vorherrschendeMeinung. Insofern ist es so, dass diejenigen, die damalsdagegen waren – ich kenne noch meine ersten Veröffent-lichungen aus dem Jahre 1968 –, auch heute noch eineVerantwortung haben.
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Kurt-Dieter Grill15729
Ich muss Ihnen, weil mir das doch wieder sehr starkauffällt, vor dem Hintergrund dieser Debatte sagen: EinGroßteil gerade der Leute, die kritisch zur Atomkraft ste-hen, haben doch mit dazu beigetragen, die Gewaltproble-matik zu klären. Ich kann mich noch ganz genau an dieSpaltung bei der Diskussion um Brokdorf erinnern. Ichhabe in den 70er-Jahren zusammen mit meinem Freund JoLeinen viele Demonstrationen organisiert und verant-wortlich angemeldet. Ich weiß, wie wir 1975, als die Ge-walt hoch kochte, die Demonstrationen gespalten haben:Die einen sind nach Brokdorf gegangen, die anderen nachItzehoe. Wir haben dies bewusst getan, weil wir wussten,dass der Protest gegen die Atomkraft nur dann glaubwür-dig ist, wenn er gewaltfrei ist. Dazu stehen wir auch heute.Wir lassen uns hier nicht in eine falsche Ecke stellen, auchnicht von Ihnen.
Sie betreiben hier Scharfmacherei und ich will das andrei Punkten belegen. Herr Wilhelm, Sie haben FrauMüller angegriffen und gesagt, sie habe am 12.März 1997eine ganz merkwürdige Haltung zur Gewalt an den Taggelegt. Sagen Sie bitte einmal die volle Wahrheit. Aus-gangspunkt war eine Rede von Herrn Kanther, der imKern gesagt hat, das eigentliche Problem der Gewalt sei,dass überhaupt gegen Atomkraft demonstriert werde. Da-raufhin hat aus unserer Sicht Frau Müller völlig zu Rechtgesagt, dass die übergroße Zahl der Wendländer gewalt-frei protestierten. Das ist auch richtig; wir dürfen diesePauschalisierung nicht akzeptieren.
Das war damals der Zusammenhang und da müssen Sieauch ehrlich sein. Bitte hören Sie mit dieser Schwarz-Weiß-Debatte auf!
Dasselbe gilt auch für die PDS. Ich will Ihnen nichtvorwerfen, dass Sie erst seit 1990 dabei sind. Aber dassdie PDS und ihre Vororganisation in der ökologischenoder Anti-AKW-Frage besonders glaubwürdig gewesenseien, kann man nun wirklich nicht sagen.
Kommen Sie in dieser Frage wieder ein bisschen auf denTeppich zurück und sorgen auch Sie in dieser Debattebitte für Rationalität. Ich weiß doch, wie Ihre Pendants imWesten in der Anti-AKW-Bewegung in den 70er-Jahrengesagt haben: Atomkraftwerke nein, es sei denn in VolkesHand. So einen Unsinn haben die damals vertreten!
– Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich weiß, dass Sie erstseit 1990 dabei sind, und ich weiß auch von vielen, woherSie gekommen sind. Es kann doch niemand erzählen, dasses in der DDR eine wirklich breite Bewegung gegen dieAtomkraft gegeben hätte. Nun wollen wir doch bitte dieTatsachen nicht verdrehen!
Meine Damen und Herren, der wirklich schwierigePunkt ist nicht die Frage der Transporte, sondern derSpielraum der Politik beim Atomausstieg. Diese Fragesteht dahinter. Aus meiner Sicht gibt es niemanden imRegierungslager, der nicht einen schnelleren Ausstiegwill.
– Nein, gibt es nicht. Alle im Regierungslager wollen soschnell wie möglich aus der Atomkraft heraus. Aber wirhaben es hier mit einer Branche zu tun, die wie keine an-dere aus ihrer Historie heraus rechtlich und ökonomischprivilegiert ist.
Das ist unser Kernproblem. Es ist unglaublich schwierig,aus der Atomkraft auszusteigen. Wir müssen alles tun, umden Ausstieg zu beschleunigen. Deshalb ist für uns derEinstieg in eine neue Energiepolitik so wichtig. Je über-zeugender der Einstieg ist, desto besser ist das auch fürden Ausstieg.
Die Wahrheit muss auch in folgendem Punkt gesagtwerden: Wir, die wir aus der Anti-AKW-Bewegung kom-men, sind nun wahrlich nicht für die Atomenergie verant-wortlich.
Aber wir können doch nicht im Ernst sagen, dass der vonuns in der Bundesrepublik erzeugte Atommüll irgendwoanders hinkommen soll. Nein, wir sind für die Endlage-rung bzw. Entsorgung des bei uns erzeugten Mülls ver-antwortlich und können uns um diese Verantwortungnicht herumdrücken.
Deshalb – dies müssen wir klar sagen – wird es weitereTransporte geben. Aber wir bitten die Bundesregierung,alles zu tun, damit nicht noch viele nötig werden, sondernihre Zahl so weit wie möglich reduziert wird.Lassen Sie mich noch einen letzten Satz sagen, meineDamen und Herren: Es wird ganz wichtig sein, dass wir inder Frage der Entsorgung zu einer Lösung kommen. Ichteile die Bedenken gegenüber Gorleben. Alles, was dortgeschehen ist, ist sehr kritisch zu sehen. Deshalb muss eseine rationale Debatte über ein Endlager in der Bundesre-publik geben. Hören wir deshalb auf, die Schlachten derVergangenheit zu schlagen, sondern setzen wir hierpräzise Kriterien, an denen wir uns abarbeiten können! Indieser schwierigen Situation können wir nur überzeugen,indem wir a) die Wahrheit sagen, b) alles tun, um soschnell wie möglich aus der Atomenergie heraus zu kom-
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Michael Müller
15730
men, und c) vor allem glaubwürdig unsere Ziele umset-zen. Alles andere wird uns nur als Taktik ausgelegt undbringt uns nicht weiter.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Volker Beck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst zuIhnen, Herr Grill. Ich stelle hier klar, dass sowohl derBundesumweltminister als auch seine StaatssekretärinFrau Altmann der Bürgerinitiative verschiedentlich Ge-spräche angeboten haben. Ein vereinbarter Gesprächster-min wurde von der Bürgerinitiative abgesagt. Der Minis-ter war in letzter Zeit auch mehrere Male vor Ort. Es gibtalso keineswegs eine Gesprächsverweigerung.
Das Gesprächsangebot wird auch weiter so bestehen;denn wir wollen und brauchen den Dialog.
Nach dreijähriger Pause fand in diesen Tagen erneutein Castortransport in das Zwischenlager Gorleben statt.Es ist auch ein Ausdruck einer guten demokratischen Hal-tung, aus diesem Anlass friedlich für einen schnellerenAusstieg aus der Atomenergie zu demonstrieren. DieMenschen, die dies in der Region getan haben, habenmeine tiefe Sympathie.
Für uns Grüne war es eine der wichtigsten Aussagen imWahlkampf, von dem Irrweg der Atomenergie umzu-kehren. Das Ergebnis ist der Kompromiss zwischenRegierung und Energiewirtschaft für einen Ausstieg.Ein sofortiger Ausstieg aus der Kernenergie istrechtlich nicht möglich und politisch nicht durchsetzbar.Die Entsorgung der Brennelemente ist einerseits Teil derinternationalen Verträge und andererseits natürlich auchTeil des Ausstiegskonzepts. Deutschland ist verpflichtet,die Vereinbarung einzuhalten. Das wäre selbst bei einemschnellen und sofortigen Ausstieg der Fall. Auch das istRechtstaatlichkeit: dass man zu seinen vertraglichenVerpflichtungen steht.
Wir können diese Verträge nicht außer Kraft setzen. Ichbitte all unsere Freundinnen und Freunde vor Ort, auchwenn sie sich manchmal über die Grünen ärgern mögen,zu verstehen, dass man für den Ausstieg aus der Atom-energie auch Kompromisse eingehen musste.Mich bedrücken die Bilder der letzten Tage aus demWendland. Es lässt sich nicht leugnen, dass einige vor Ortdie friedlichen Teilnehmer der Protestkundgebungen alsKulisse für ihre Gewalt missbraucht haben. Diese weni-gen erweisen dem Protest von vielen einen schlechtenDienst,
ist es doch gerade dem friedlichen Protest zu verdanken,dass aus der Gesellschaft der nötige Druck kommt, denAusstiegskompromiss gegen die nach wie vor maulendeAtomindustrie durchzusetzen.Wer für einen schnellen Ausstieg aus der Atomenergiedemonstriert, tut dies aus Sorge um die Gesundheit derBevölkerung.
Wer aber Gesundheit und Leben von Polizeibeamten oderDemonstranten durch militante Aktionen leichtfertig ge-fährdet, macht sich nicht nur strafbar, sondern hat jedeGlaubwürdigkeit in dieser Debatte verspielt. Deshalbmöchte ich auch ganz besonders den vielen Wendlände-rinnen und Wendländern danken, die in den letzten Tagenvor Ort Gewalttaten von anderen Demonstranten verhin-dert haben, die gesagt haben: „Lasst diesen Scheiß!“
Ich möchte auch den Polizeibeamten danken, die durchihr besonnenes Verhalten in bestimmten Situationen im-mer wieder zur Deeskalation beigetragen haben.Meine Damen und Herren, ein Teil des Energiekon-senses ist auch, dass es keine Festlegung auf das EndlagerGorleben gibt. Das ist sehr gut so und hilft auch denWendländerinnen und Wendländern. Ich unterstütze aus-drücklich den Vorschlag des SPD-FraktionsvorsitzendenStruck, zu prüfen, ob nicht auch die Granitvorkommen inBaden-Württemberg und Bayern geeignete Standorte fürein Endlager bieten. Wir müssen das ergebnisoffen disku-tieren.
Nur mit Rot-Grün war der Ausstieg möglich. Jede an-dere politische Konstellation hätte diesen Ausstiegskom-promiss nicht auf den Weg gebracht. Jede andere Kon-stellation würde vielmehr den Ausstieg aus dem Ausstiegbetreiben.So sehr ich hier für den Ausstiegskompromiss werbe,so klar und entschlossen verteidige ich aber auch dasRecht der Menschen im Wendland, die für eine anderePolitik demonstrieren wollen.
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Michael Müller
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Sie dürfen sich wohl gegen die Transporte – auch wennwir sie an diesem Punkt für richtig und notwendig hal-ten – wehren. Trotzdem darf man eine andere Meinungin Sachen Atompolitik haben und diese in Demonstra-tionen kundtun.Der Schutz des Grundgesetzes, sich friedlich undohne Waffen zu versammeln, gilt ohne jede Ein-schränkung auch für die Menschen im Wendland.
Wir Grünen streiten für dieses Recht selbstverständlichauch dann, wenn wir selbst diejenigen sind, die hier kri-tisiert werden.Kriminalisierung von Protest war immer dasLieblingsspiel der Regierung Kohl und Kanther. Wirmachen das ausdrücklich nicht.
Wir nehmen den Großteil der Demonstranten ausdrück-lich in Schutz gegen alle Angriffe, die auf die Legiti-mität und auch die Legalität ihres Protestes zielen. Auchwenn ich aus politischen Gründen in diesem Fall gegenBlockaden bin, lehne ich es aber entschieden ab, ge-waltfreie Blockaden generell als Gewalt zu verurteilen.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entschei-dung zur Nötigung klar gemacht, dass auch die Unter-brechung von Verkehrswegen keinesfalls automatischeine gewalttätige Nötigung sein muss.
Es gebietet die Korrektheit, diese Differenzen auch ineiner so aufgeheizten Debatte festzustellen.
Herr Kollege,
denken Sie daran: In der Aktuellen Stunde darf man
nicht länger als fünf Minuten reden.
Eine kurze Bemerkung zum Schluss. Der Castortransport
ist nun über die Bühne gegangen. Ich meine, wir sollten
diesen Einsatz auch im Innenausschuss noch einmal bi-
lanzieren, unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunk-
ten, aber auch unter den Gesichtspunkten der Deeskala-
tion und der Versammlungsfreiheit. Dabei wäre es sicher
sehr hilfreich, wenn uns das Innenministerium in Ab-
stimmung mit der niedersächsischen Landesregierung ei-
nen Bericht vorlegen könnte, anhand dessen wir diese
Fragen prüfen können.
Es ist unsere gemeinsame Verantwortung, dass diese Fra-
gen friedlich und gewaltfrei gelöst werden.
Die Aktuelle
Stunde ist damit beendet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
gierung
Tourismuspolitischer Bericht der Bundesregie-
rung
– Drucksachen 14/2473, 14/5432 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Brunhilde Irber
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Wider-
spruch höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Parlamentarische Staatssekretär Siegmar Mosdorf.
S
Frau Präsiden-tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutierenheute den Tourismuspolitischen Bericht der Bundesregie-rung, den wir bereits vor gut einem Jahr vorgelegt und inden Ausschüssen beraten haben, und besprechen insbe-sondere auch die Ausschussempfehlung zu diesem Be-richt. Der Ausschuss hat besondere Akzente gesetzt, diedie Bundesregierung gern aufgreifen möchte, teilweiseauch bereits aufgegriffen hat, zum Beispiel in der Frageder stärkeren Mittelausstattung der Deutschen Zen-trale für Tourismus für gezielte Marketingmaßnahmenzugunsten der neuen Bundesländer.Es hat in den letzten Monaten auch in ausländischenJournalen Berichte über Gewalt auf deutschen Straßenund über Rechtsradikalismus in Deutschland gegeben,teilweise sogar Warnungen vor Besuchen in Deutschland.Wir werden nicht zulassen, dass Deutschlands Ansehenbeschädigt wird, sondern werden alles tun, um das Anse-hen Deutschlands in der Welt zu festigen. Dazu gehörtauch, deutlich zu machen, dass wir diese gewalttätigenMinderheiten nicht akzeptieren. Insofern ist auch dasWahlergebnis vom letzten Sonntag ein wichtiges Signal.Gerade in den für unseren Tourismus so wichtigenQuellmärkten kommt es darauf an, Informationen zu ver-mitteln und Transparenz herzustellen. Wir können insge-samt in Deutschland auf dem Gebiet des Tourismusgegenwärtig eine gute Situation konstatieren. Das Jahr2000 wird ohne Zweifel als Rekordjahr in die Geschichtedes Tourismus eingehen. Die Zahl der Gästeankünftestieg gegenüber dem Vorjahr um 6 Prozent auf 108 Mil-lionen. Dieselbe Steigerungsrate verzeichnete die Zahlder Übernachtungen, die auf 326 Millionen gestiegen ist.Besonders erfreulich ist der Zuwachs der Zahl an Gästen
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Volker Beck
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aus dem Ausland, der bei fast 11 Prozent lag. Das ist einpositives Signal, das zeigt, dass die Menschen an der Ent-wicklung in Deutschland interessiert sind. Dass es auchgroßes Interesse an der Entwicklung in den neuen Bun-desländern gibt, beweisen die Gästezahlen in den neuenBundesländern, die noch höhere Zuwächse aufweisen.Ganz besonders erfreulich ist, dass sich in den neuen Bun-desländern jetzt „Perlen“ herausschälen, die weit überDeutschland hinaus großes Interesse auslösen.Von diesen guten Ergebnissen profitieren nicht nur dieHotels und die Gastronomie, sondern auch die umliegen-den Wirtschaftsbereiche, zum Beispiel Reiseveranstalter,Reisebüros oder Busunternehmen. Auf diese Weise habenwir im Jahr 2000 beim Umsatz des Gastgewerbes dieTrendwende erreicht: Die Zahlen, die lange rückläufigwaren, sind inzwischen wieder positiv.
Das ist ein positives Ergebnis. Auch die Beschäftigten-zahlen steigen an. Das ist ebenfalls ein wichtiges Zeichen;denn es handelt sich – das wissen wir alle – um eine sehrarbeits- und beschäftigungsintensive Branche.Die Situation hat sich insgesamt also sehr positiv ent-wickelt. Die Maßnahmen, die die Bundesregierung er-griffen hat, haben hierzu beigetragen. Dazu gehören diesteuerpolitischen Maßnahmen, aber auch eine ganzeReihe von weiteren Maßnahmen, mit denen wir Rahmen-setzungen vorgenommen haben, etwa bei der Haushalts-sanierung. Dazu gehört ganz ohne Zweifel auch die kon-tinuierliche Aufstockung der Beträge für die DeutscheZentrale für Tourismus, eine unserer wichtigsten Marke-tinginstitutionen, die einen guten Job macht; das mussman auch einmal sagen.
Die Deutsche Zentrale für Tourismus hat sich sehr gut ent-wickelt. Ihre Arbeit findet große Anerkennung. Wir sindfroh, dass wir mit dieser Agentur zusammen für Deutsch-land werben können.
– Wir wollen diesen Streit nicht wieder aufnehmen, HerrBrähmig.
Sie wollten eine Reduzierung der Mittel auf 20 Milli-onen DM.
Wir haben den Betrag wieder auf 42 Millionen DM ange-hoben. Wenn der Haushalt konsolidiert ist, haben wirmehr Spielraum. Sie selbst hatten vor, den Betrag auf20 Millionen DM zu reduzieren, und wir haben ihn auf42 Millionen DM aufgestockt.
– Das stimmt, Herr Hinsken. Das können Sie in der mit-telfristigen Finanzplanung nachlesen. Jedenfalls sind wirzufrieden damit, dass wir die Mittel aufgestockt haben.
Das ist ein wichtiges Zwischenergebnis. Je mehr wir kon-solidieren, desto mehr Spielräume gewinnen wir, um aufdiesem Sektor weitere Anstrengungen vornehmen zu kön-nen.Der Tourismus ist eine der wichtigsten Zukunftsbran-chen. Deshalb haben wir aus dem ERP-Programm fürExistenzgründungen im Tourismusgewerbe zinsgüns-tige Darlehen in Höhe von 550 Millionen DM zur Verfü-gung gestellt. Auch das ist ein wichtiger Punkt; das gehtmanchmal ein bisschen unter.
Wir haben zudem 250 Millionen DM nicht rückzahlbareZuschüsse für touristische Infrastruktur und Touris-musgewerbe aus der Regionalförderung der Gemein-schaftsaufgabe bereitgestellt.Das sind konkrete Maßnahmen, die geholfen haben.Wir haben aber auch bei der Entbürokratisierung gehol-fen. So haben wir zum Beispiel die Euro-Auszeichnung inReisekatalogen bereits ab dem 1. August 2001 gestattet.Außerdem haben wir im Hinblick auf die Preisauszeich-nung in Hotels Vereinfachungen vorgenommen.Das Jahr des Tourismus, das wir 2001 begehen, isteine nachhaltige Initiative für den Tourismus am StandortDeutschland. Wir haben auf diesem Gebiet wichtige Part-ner, die deutlich machen, dass es sich lohnt, in Deutsch-land Urlaub zu machen, und zwar nicht nur für die Deut-schen, sondern auch für viele, die aus dem Ausland zu unskommen. Wir brauchen das dringend.Wir haben das Jahr des Tourismus auch inhaltlichdurchstrukturiert, mit den Verdi-Festspielen in Berlin be-ginnend, mit den Wintersportereignissen im Schwarzwaldund mit vielen anderen Aktionen: Gesundheitsurlaub,Wandern, Rad fahren, Brauchtum und kulturelle Veran-staltungen. Das Jahr des Tourismus ist für uns alle – ichglaube, das kann ich parteiübergreifend sagen – einewichtige Initiative für den Tourismus in Deutschland, vorallem für die Beschäftigten in diesem Sektor.
– Wir haben schon viel investiert, lieber Ernst Hinsken;das wissen Sie auch. Wir haben auch Partner gewonnen,die uns ein bisschen helfen, etwa die öffentlich-rechtli-chen Fernsehanstalten, die Bundesbahn, die Lufthansaund viele andere, die sich engagieren. Das ist erfreulich;denn das Jahr des Tourismus lebt von den Initiativen vorOrt, davon, dass viele mitmachen, dass viele selber Ideenentwickeln und sich einbringen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001
Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf15733
Ein letzter Punkt. Im nächsten Jahr, dem von der UNOverkündeten Jahr des Ökotourismus, werden wir beson-dere Initiativen auf einem Gebiet ergreifen, auf dem be-reits jetzt gute Voraussetzungen bestehen. Als Beispielezu nennen sind der Fahrradtourismus, Urlaub auf demLand sowie der Campingtourismus. Bezüglich der Schaf-fung einer Umweltdachmarke befinden wir uns in letztenAbstimmungen. Auch das ist ein wichtiges Signal. Ichglaube, dass die Menschen gerade im Urlaub nicht nur aufNachhaltigkeit, sondern auch auf Qualität Wert legen.Diese Qualität finden sie am Tourismusstandort Deutsch-land. Ich finde, darauf können wir stolz sein.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Anita Schäfer.
Frau Präsidentin! Ver-ehrte Kolleginnen und Kollegen! Dass der Tourismuspo-litische Bericht der Bundesregierung statt innovativer Lö-sungsansätze für die deutsche Tourismuswirtschaft nurStatistiken enthält, haben wir bereits in der entsprechen-den Debatte im März letzten Jahres feststellen müssen.Aussagen zu den wirklich kritischen Fragen der Brancheblieben unbeantwortet.
In der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Tou-rismus erlagen die Vertreterinnen und Vertreter der SPDund der Grünen der irrigen Meinung, dass es gelungen sei,die Kaufkraft der Bevölkerung zu steigern und durchMaßnahmen zur Entlastung der Betriebe ein ausgezeich-netes Konjunkturklima für den Tourismus zu schaffen.Also, entweder haben die Regierungskoalitionäre diefalschen Berater oder sie lebten in den letzten Jahren nichtin Deutschland, sondern in einem unserer vom Tourismusverwöhnten Nachbarländer, dort, wo der Tourismuswirt-schaft vonseiten der Politik bessere Rahmenbedingungenzur Verfügung gestellt werden.
Unter diesen Bedingungen lehnt die CDU/CSU-Fraktiondie vorliegende Beschlussempfehlung ab.
Die gesamtwirtschaftliche Bedeutung der Touris-muswirtschaft als eine der wichtigsten Wachstumsbran-chen darf aber nicht unterschätzt werden. Deutschland hateinen großen Schatz von in Jahrhunderten gewachsenenKulturgütern, auf die wir stolz sein können und um die unsviele Länder beneiden. Nur, die rot-grüne Reglementie-rungswut darf den Vorfrühling im deutschen Tourismusnicht im Keime ersticken.Allein in Deutschland bietet die Branche schon heute2,8 Millionen Arbeitsplätze und über 90 000 Ausbil-dungsplätze, welche an den Standort Deutschland gebun-den sind. Bedenken Sie dabei doch einmal, was allesdurch Ihre so genannte Finanz- und Sozialpolitik gefähr-det wird: Die Tourismuswirtschaft macht einen Jahres-umsatz von sage und schreibe 275 Milliarden DM, was8 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt entspricht – und dastrotz der Politik dieser Bundesregierung. Noch keines-wegs ausgeschöpft ist das Potenzial für Arbeitsplätze undEinkommen in den Bereichen Urlaub, Freizeit und Reisenin Deutschland.Doch leider überträgt sich die positive Entwicklung derGäste- und Übernachtungszahlen in Deutschland nichtauf den Arbeitsmarkt. Das Gegenteil ist der Fall: Die Zahlder Beschäftigten im Gastgewerbe als dem wichtigstenLeistungsträger der deutschen Tourismuswirtschaft istvon Januar bis Oktober 2000 im Vergleich zum Vorjah-reszeitraum um 2,7 Prozent zurückgegangen.
Das ist nichts anderes als die Fortsetzung des negativenTrends des Jahres 1999, in welchem der Beschäftigungs-rückgang im Gastgewerbe 6,4 Prozent betrug.Die verheerenden Folgen des Jobkillers 630-Mark-Ge-setz sind bei weitem noch nicht kompensiert.
Das Gastgewerbe in unserem Lande leidet seit In-Kraft-Treten des Gesetzes am 1. April 1999 immer noch massivunter dem Verlust von weit mehr als 100 000Arbeitsplät-zen. Der entstandene Schaden kann durch die wenigenneu geschaffenen Vollzeitarbeitsverhältnisse nicht ausge-glichen werden.Laut Statistischem Bundesamt sank der Umsatz imGastgewerbe im Jahre 1999 um 1,4 Prozent, während ervon Januar bis Oktober 2000 lediglich um 1,1 Prozentstieg. Im Gaststättenbereich zeichnet sich eine katastro-phale Entwicklung ab. Hier ging der Umsatz allein vonJanuar bis Oktober 2000 um 1,8 Prozent zurück. Der Ar-beitskräftemangel durch die Neuregelung der gering-fügigen Beschäftigungsverhältnisse lässt grüßen. Für diebevorstehende Sommersaison ziehen dicke Gewitterwol-ken auf.Tourismuspolitik in Deutschland ist Mittelstandspoli-tik. Wenn man wie ich aus einem ländlich geprägtenLandkreis kommt, dann sorgt man sich besonders um diekleinen Zimmeranbieter von nebenan.
Auch die dürfen in ihrer Masse nicht unterschätzt werden.Vor allem größere Unternehmen profitieren zurzeit vonZuwächsen bei der Übernachtung im hochpreisigen Seg-ment, während kleine und mittlere Unternehmen Ein-bußen hinnehmen müssen. Leider sind hier genauere Ana-lysen nicht möglich, da Übernachtungen in Betrieben mitweniger als neun Gästebetten in Deutschland statistischnicht erfasst werden. Wirtschaftlichkeit bedeutet aberauch Bettenauslastung. Hier zeichnet sich in unseremLande ein gnadenloser Wettbewerbskampf ab. SteigendeZimmerauslastungen sind vorwiegend bei internationalenHotelgesellschaften zu verzeichnen, die gegenwärtig mitmassiven Investitionen in Deutschland ihre Kapazitäten
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Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf15734
ausweiten. Das ist im Grunde auch sehr lobenswert. Nur,für viele kleine und mittlere Unternehmen ist nicht derUmsatz, sondern der Gewinn lebensnotwendig. Geradedie Gewinne dieser Unternehmen sind aber rückläufig.
Ich hätte an dieser Stelle gern WirtschaftsministerMüller begrüßt – nichts gegen Sie, Herr Mosdorf, Sie wis-sen, dass ich Sie sehr schätze –; denn ich möchte HerrnMinister Müller zitieren.
– Ich habe es gehört.Ich zitiere:Die im europäischen Vergleich hohe Belastung desdeutschen Hotel- und Gaststättengewerbes durch dieMehrwertsteuer von 16 Prozent muss reduziert wer-den. Gerade weil für die Tourismuswirtschaft inDeutschland die europäische Dimension immerwichtiger wird, sind die gewaltigen Unterschiede beiden Mehrwertsteuersätzen in den Mitgliedsländern,die zwischen 3 und 25 Prozent schwanken, ein be-sonders großes Hindernis. Wer für mehr Urlaub inunserem Land eintritt, muss diesen handfesten Wett-bewerbsnachteil zu beseitigen versuchen.Richtig, Herr Minister Müller. Diese Worte sprechenfür sich. Aber unser Antrag zur Harmonisierung dergastgewerblichen Mehrwertsteuerwurde von Ihrer Ko-alition abgelehnt.Deutschlands Hotellerie hat unter den Gemeinschafts-ländern an belastenden Preisfaktoren wahrlich genug: diehöchsten Lohnkosten, die höchsten Lohnnebenkosten,hohe Wareneinsatzkosten, neuerdings sogar eine Öko-steuer und keinen Vorsteuerabzug mehr bei Beherbergungund Verpflegung. Gleichzeitig hat Deutschlands Hotelle-rie die geringste Rendite und als Folge davon eine viel zuniedrige Kapitalausstattung. Bei dieser Konstellation istder reguläre deutsche Mehrwertsteuersatz der berühmteTropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.
Zwölf von 15 Ländern der Europäischen Union wendenauf Beherbergung bereits den ermäßigten Mehrwertsteu-ersatz an. Mit dem geltenden Satz von 16 Prozent hatDeutschland den dritthöchsten Mehrwertsteuersatz aufHotelleistungen in der gesamten Europäischen Union.Nun noch etwas Wirtschaftspolitik: Um die wirtschaft-lichen Folgen von Ökosteuer, Änderung der Reisekosten-pauschale, Wettbewerbsverzerrungen durch unterschied-liche Mehrwertsteuersätze in der EU, Reform der630-Mark-Beschäftigungsverhältnisse und Streichungdes Vorsteuerabzugs für geschäftlich bedingte Übernach-tungs- und Verpflegungsaufwendungen aufzufangen,müssen in der Hotellerie und Gastronomie Stellen abge-baut werden; so geschehen in der jüngsten Vergangenheit.Das ist ein Teufelskreis, denn weniger Mitarbeiter bedeu-ten weniger Service, weniger Qualität und auch wenigerUmsatz. Weniger Umsatz und Mitarbeiter aber bedeutenauch geringere Staatseinnahmen und höhere Staatsausga-ben.Das Ansehen der Beschäftigten in dieser Dienstleis-tungsbranche muss dringend verbessert werden, damitjunge Menschen vermehrt die Berufe in dieser Brancheerlernen und damit deutsche Arbeitnehmer in dieser Bran-che arbeiten wollen. Ein Positionspapier der Kanzlerbera-ter Professor Streeck und Heinze zeigt auf, dass dieErmäßigung der Mehrwertsteuer sehr wohl beschäf-tigungspolitische Auswirkungen hat:Erwerbsquote und Arbeitslosenquote stehen in ei-nem unmittelbaren Zusammenhang. Dort, wo dieErwerbsquote noch ist, ist die Arbeitslosenquoteniedrig, und umgekehrt. Will Deutschland seine Ar-beitslosenquote senken, muss es seine Erwerbsquoteerhöhen. ... Der deutsche Beschäftigungszuwachs imDienstleistungssektor bleibt ... weit hinter anderenLändern zurück. Vergleicht man die Zahl der Be-schäftigten pro 1 000 Einwohner, so ergibt sichfür Deutschland gegenüber den USA ein Be-schäftigungsdefizit von 1,9 Millionen Arbeitsplätzenallein bei den freizeitbezogenen Dienstleistungen
.
Frau Kollegin,
denken bitte auch Sie an die Redezeit.
Es gibt so viel zu sagen.
Sie sehen, wie wichtig das ist.
Arbeiten wir daran, dass alles besser wird! Ich hoffe,
Frau Roth wird auf unsere Forderung eingehen, das 630-
Mark-Gesetz zurückzunehmen.
Danke schön.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Sylvia Voß.
„Stets an-derer Meinung zu sein ist das Gegenteil davon, eine eige-ne Meinung zu haben.“ Dies trifft leider auf die Opposi-tion auf der rechten Seite in diesem Hause immer wiederzu. Sie reden heute ganz anders als früher und behauptenoft sogar das Gegenteil von dem, was Sie in Ihrer Regie-rungszeit geäußert haben.Nehmen wir doch nur einmal einen Satz:Nach Auffassung der Bundesregierung sollen gering-fügige Beschäftigungsverhältnisse die Ausnahmevom Regelfall des sozialversicherungspflichtigenBeschäftigungsverhältnisses sein.Wo bleibt Ihr Beifall? Wissen Sie, woher ich dies habe?– Es steht in der Drucksache 12/8489. Sie ist vom 19. Sep-tember 1994. Wer war denn zum damaligen Zeitpunkt inDeutschland an der Regierung?
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Anita Schäfer15735
Was kümmert die Opposition ihr Geschwätz von ges-tern, wenn man heute mit dem Gegenteil der früherenAussagen so schön populistisch herumpoltern kann? Siefordern doch bei jeder passenden und vor allen Dingen beijeder unpassenden Gelegenheit, das Gesetz zur Neurege-lung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnissezurückzunehmen. Das aber hätte – das wissen Sie – dieAushöhlung der Finanzgrundlagen der Sozialversiche-rung zur Folge. Neue Arbeitsverhältnisse für fachkundi-ges Personal würden Sie auf diesem Wege nie erreichen.
Wo aber sehen Sie denn einen Weg zu einer guten Qua-lität und zu einer besseren Bezahlung in der Hotellerieund Gastronomie? Ihre platten Forderungen und Ihr kon-fuses Agieren sind wenig hilfreich. In Frankreich, Spa-nien und Italien gibt es übrigens keine Sozialversiche-rungsfreiheit. Unser Gesetz ist also zugleich als eineMaßnahme gegen Wettbewerbsverzerrungen im europä-ischen Bereich zu verstehen. Dies sollte auch Ihnen amHerzen liegen.
Wenn rot-grüne Tourismuspolitiker sagen, es gehe un-serer Tourismuswirtschaft gut – das können wir anhandvon Zahlen belegen –, dann ist es klar, dass die schwarz-gelbe Opposition anderer Meinung sein muss. Wir dürfenkeine Anerkennung erhalten, auch wenn Sie dafür dieWirklichkeit verbiegen müssen. Wer dabei jedoch über-treibt, der muss es sich zu Recht gefallen lassen, dass sichsogar die Fachpresse besorgt fragt – ich zitiere noch ein-mal –,ob die Christdemokraten die Navigationsdaten falschgelesen und im Nebel von Studien und Statistiken dieOrientierung verloren haben.
– Den können Sie gerne bekommen.So ist das eben, wenn man den TourismusstandortDeutschland partout schlecht reden will.
– Natürlich. Das tun Sie doch ständig.Als wir vor etwas mehr als einem Jahr zum ersten Malzusammentrafen, um über den Tourismuspolitischen Be-richt der Bundesregierung zu debattieren, machten Sie uns,Herr Brähmig, den Vorwurf, die Bundesregierung trage zuwenig zur Gesundung der Tourismuswirtschaft bei.
Dazu kann man nur sagen, dass der Patient zu diesemZeitpunkt gar nicht mehr so krank war, und zwar dank un-seres politischen Einsatzes.
Wir haben uns nämlich darangemacht, die Versäumnisseund Fehlentwicklungen der Tourismuspolitik der christ-lich-liberalen Koalition auszuräumen und abzuwenden.
Wir haben als eine unserer allerersten Handlungen dieMittel für die Deutsche Zentrale für Tourismus aufge-stockt, die Sie – erinnern Sie sich bitte daran – massiv kür-zen wollten. Auch das ist so ein Geschwätz von gestern.
– Herr Brähmig, es hilft überhaupt nichts, wie ein Huhnzu gackern, das ewig kakelt und mirakelt.
– Wissen Sie, Herr Hinsken, das habe ich mir selbst auf-geschrieben. Aber das bekommen Sie gar nicht hin. Siekakeln und mirakeln ständig, dass wir die Mittel für dieDZT noch stärker anheben sollten. Das würden wir gernetun. Aber Sie haben uns doch diesen maroden Scherben-haufen von Haushalt hinterlassen. Es kommt hier nichtdarauf an, wer am lautesten gackert, was Sie so gerne tun,sondern wer tatsächlich die Eier legt.
Sie haben in Bezug auf die DZT absolut gar nichts zu-stande bekommen.Zurück zu den Statistiken, durch die die CDU/CSUihre Orientierung total verloren hat: Im zurückliegendenJahr verzeichnete die Tourismuswirtschaft 6,5 Prozentmehr Gäste und 5,9 Prozent mehr Übernachtungen. Vonden ausländischen Gästen übernachteten sogar 10,9 Pro-zent mehr in unserem schönen Heimatland.
– Wissen Sie, wir führen gerade eine andere Debatte. DasWort „stolz“ kam heute schon ziemlich häufig vor. – DieGästezahlen in den neuen Ländern stiegen sogar um8,5 Prozent; bei den Übernachtungen war ein Plus von10,1 Prozent festzustellen.Die Opposition aber spricht, wider alle Orientierung,von Stagnation. Man kann nur sagen: Absurder geht daskaum, Kopfrechnen sechs.Für dieses Jahr des Tourismus werden 341,3 MillionenÜbernachtungen in Deutschland und damit ein Anstiegum 5,3 Prozent erwartet. Also, meine Damen und Herrenvon der rechten Seite: Unsere Tourismuswirtschaft stehtnicht mit einem blassen Gesicht, sondern mit roten Paus-backen da.
Aus diesem Grund teilt die rot-grüne Koalition die Be-fürchtungen der Opposition nicht. Das bedeutet aber nicht,dass wir uns einfach zufrieden zurücklehnen. Im Gegen-
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Sylvia Voß15736
teil: Mit unserem Tourismusförderungsprogramm ver-bessern wir die Rahmenbedingungen für den deutschenTourismus, speziell auch unter dem Aspekt des Umwelt-und Naturschutzes, wo Sie so lange geschlafen haben.
Abschließend möchte ich noch anmerken: Unter denReiseveranstaltern in Deutschland ist Zufriedenheit schonjetzt eine der meistbemühten Vokabeln. Ihr Ungläubigenvon der rechten Seite des Hauses hört das nicht gern; aberdas ist so. Man kann nur sagen: Macht doch einfach mit!
Helft uns, für den Tourismus in diesem Landes etwasGutes zu tun, anstatt mit Postkarten Schiffe versenken zuspielen und mit falschen SOS-Rufen die Wirtschaft diesesLandes schlecht zu reden!Danke schön.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Ernst Burgbacher.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Selbstverständlichfreuen wir uns alle über die positiven Zahlen im Deutsch-landtourismus. Wir freuen uns, dass die vielen Menschenin den Bereichen Hotels, Gaststätten, Reisebüros und vie-len touristischen Einrichtungen durch ihren Fleiß und ihreKreativität die entsprechenden Ergebnisse erreicht haben.Diese Leistung ist zuallererst deren Verdienst und nichtdas Verdienst der Politik.
Ich sage Ihnen: Die Entwicklung gibt Anlass zurFreude, aber keinen Anlass zur Euphorie; sie bietet viel-mehr Anlass, die Zahlen etwas differenzierter zu betrach-ten. In diesem Zusammenhang müssen wir leider feststel-len: Wir haben zwar im Hotelbereich insgesamt einebessere Auslastung, aber in vielen Teilen des Hotelsektors– insbesondere in den kleinen Familienhotels – große Pro-bleme. Diese lassen sich nicht mit allgemeinem Daten-material vom Tisch wischen.Wir haben im Gaststättenbereich eine ganz Besorgniserregende Entwicklung. Der DEHOGA-Konjunkturbe-richt spricht von gesunkenen Erträgen bei 38,1 Prozentaller Gaststätten, während nur bei 30,3 Prozent der Gast-stätten gestiegene Erträge zu verzeichnen sind. Man mussdiese Probleme sehen. Des Weiteren haben wir bei denReisebüros und den Reisebusunternehmen teilweise eineäußerst kritische Entwicklung zu verzeichnen. Wir müs-sen diese Tatsachen zunächst einmal sehen und dürfen sienicht mit pauschalen Daten unter den Tisch kehren.
Die F.D.P. sieht in der Tourismuspolitik drei vorran-gige Handlungsfelder:Erstens. Die Politik muss die Rahmenbedingungen sosetzen, dass private Unternehmen Gewinne machen undinvestieren können und dass touristische Unternehmen imimmer schärfer werdenden europäischen und weltweitenWettbewerb bestehen können.Zweitens. Der Deutschlandtourismus ist nicht im Bil-ligpreissegment, sondern eher durch ein gutes Preis-Leis-tungs-Verhältnis wettbewerbsfähig. Deshalb brauchenwir eine Qualitätsoffensive in Angebot und Leistung.
Drittens. Der Deutschlandtourismus braucht Struktur-reformen unter der Devise: Mehr privat und weniger Staat.
Lassen Sie mich zum ersten Punkt – richtige Rahmen-bedingungen setzen – Ausführungen machen: Die Zahlenim Deutschlandtourismus sind gut, könnten aber noch vielbesser sein, wenn die Bundesregierung nicht ständig neueHindernisse für die Tourismuswirtschaft aufbauen würde.Die Forderungen der F.D.P. in diesem Zusammenhangsind klar: Weg mit der Ökosteuer, weg mit den neuen Re-gelungen zur Scheinselbstständigkeit und Beseitigung derStrangulierung des Arbeitsmarktes durch das Teilzeit-gesetz und flächendeckende Gewerkschaftsmacht. Wich-tig sind vielmehr eine Flexibilisierung der Arbeitsmärkteund die Verlagerung der Verantwortung in die Betriebe.Das ist angesagt.
Weiterhin müssen wir Bürokratie abbauen. Wir müssenauch bedenken – ich sage Ihnen das schon seit zwei Jah-ren –:
Wir stehen ein Dreivierteljahr vor der Einführung desEuro. Natürlich wird die Tatsache, dass die Menschen inEuropa mit Euro bezahlen, den Wettbewerb wesentlichverändern und ihn auch verschärfen. Deshalb sagen Sieendlich Ja zur Einführung eines reduzierten Mehrwert-steuersatzes in der Hotellerie. Wenn Sie das nicht ma-chen, dann sind Sie dafür verantwortlich, wenn hierArbeitsplätze in großer Zahl wegfallen.
Der Deutschlandtourismus ist weitgehend von einermittelständischen Struktur geprägt. Wir müssen alles tun,um diese Struktur zu erhalten. Der Mittelstand garantiert– das ist die Wahrheit – Arbeits- und Ausbildungsplätze.Er sorgt in hohem Maße für die Attraktivität des Deutsch-landtourismus und für das positive Image des Urlaubslan-des Deutschland. Deshalb kann es nicht sein, dass dieRegierung hier eine Politik für die Großindustrie unddezidiert gegen den Mittelstand macht.
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Sylvia Voß15737
– Herr Kubatschka, hören Sie lieber zu, als ständig da-zwischenzubellen!Lassen Sie mich auf den zweiten Punkt zu sprechenkommen, die Verbesserung der Qualität. Ein qualitativ ho-hes Angebot erreichen wir dann, wenn Unternehmen Geldverdienen und dieses Geld investieren.
Wir müssen auch viel mehr in die Dienstleistungsmenta-lität und die Servicebereitschaft investieren. Lächelnmuss sich in diesem Land wieder lohnen! Deshalb fordernwir seit vielen Jahren deutliche Steuersenkungen. UnserSteuerreformkonzept liegt auf dem Tisch: 15, 25 und35 Prozent. Sie müssen dem nur endlich zustimmen. Wirbrauchen Qualitätsinitiativen, die von Staat und Wirt-schaft gemeinsam getragen werden. Ich möchte hier aufwirklich richtungsweisende Modelle in Baden-Württem-berg aufmerksam machen.Die Abschaffung der unsinnigen Trinkgeldbesteue-rung sollte endlich gelingen.
Ich möchte aus dem „vorwärts“ zitieren – es ist schön,wenn man das einmal kann –, in dem Bundeswirtschafts-minister Müller erklärt hat:Man könnte die Trinkgeldsteuer abschaffen. Ich habedas Thema schon mehrmals mit dem Finanzministerbesprochen – bisher ohne Ergebnis. Aber das heißtnicht, dass man es nicht weiter besprechen sollte.Lieber Herr Mosdorf, sagen Sie Ihrem Chef doch bitte,dass er sich nicht nur besprechen, sondern endlich auchhandeln sollte. Stimmen Sie unserem Gesetz endlich zu!
Herr Mosdorf und andere Kollegen haben auf die bes-sere Mittelausstattung der DZT hingewiesen. Ich halte esnach wie vor für schändlich, dass Herr Müller das Jahr desTourismus ausruft, aber keinen einzigen Pfennig für dieseAktion zur Verfügung stellt.
Herr Mosdorf, die bessere Mittelausstattung der DZTist ja nur eine Seite der Medaille. Die andere Seite der Me-daille ist, dass Sie bei anderen Haushaltsposten mehr ge-strichen haben. Seien Sie also ehrlich: Ihnen stehen nichtmehr, sondern weniger Mittel zur Verfügung. Man kannnicht das Jahr des Tourismus ausrufen und gleichzeitignichts für die Förderung des Tourismus in Deutschlandtun. Das ist zu wenig. Wir haben eine Riesenchance, diewir nutzen sollten.
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Das Jahr desTourismus hätte die große Chance geboten, etwas zu tun,sinnvoll zu handeln und die unsinnigen Dinge, die Sievorher getan haben, zurückzunehmen. Das Jahr des Tou-rismus steht unter dem Motto: „Reiseland Deutschland– nix wie hin!“ Ich bitte die Bundesregierung, im Jahr desTourismus sinnvolle Maßnahmen auf den Weg zu brin-gen. Herr Mosdorf, nix wie ran!
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Rosel Neuhäuser.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! In den vergangenen Diskus-sionen über den Tourismuspolitischen Bericht der Bun-desregierung ist deutlich geworden, dass Tourismuspoli-tik nicht nur ein Ressort betrifft, sondern dass vieleBereiche daran arbeiten und mit in der Verantwortung ste-hen. Ich möchte hier keine Zahlen auflisten; denn es gehtum Positionen, die man deutlich machen muss und diesich nicht unbedingt an Zahlen festmachen lassen. Es gehtin der Tourismuspolitik nämlich um einen breiten Kon-sens und den politischen Willen, die Verantwortung vonPolitik, Wirtschaft und Tourismusbranche an gemeinsa-men Zielen zu orientieren.Wir alle sind uns sicher dahin gehend einig, dass wirder Tourismuswirtschaft den Stellenwert geben sollten,der ihr zu Recht zusteht. Wenn wir in diesem Sinne dieTourismuswirtschaft leistungs- und wettbewerbsfähigergestalten wollen, benötigen wir beim Bund, bei den Län-dern, bei den Kommunen und natürlich auch in der Bran-che den politischen Willen für eine hohe Kooperations-bereitschaft.
Das heißt, es ist genau zu definieren, was das Besonderean meinem Produkt und an meiner Region ist und wo iches wie mit wem am besten vermarkten kann.Wir alle wissen, dass Mittel und Ressourcen begrenztsind. So ist es umso wichtiger, sich auf Schwerpunkte zukonzentrieren und regional übergreifende Marketingkon-zepte zu entwickeln und auszubauen. Da gibt es bereitsAnsätze. Wir brauchen nicht ein ständiges Mehr an Tou-rismus. Was wir brauchen, ist ein Mehr an Qualität, einMehr an Service und ein Mehr an Flexibilität beim Erfül-len von Gästewünschen. Ich denke, das ist ein ganz wich-tiger Faktor: Dafür braucht die Branche qualifizierteFachkräfte. Das ist übrigens nichts Neues. Jeder weiß auseigener Erfahrung: Qualität, Quantität und Kontinuitätsind und bleiben das A und O für den Tourismus und, wieich denke, nicht nur für ihn allein.
Deshalb muss diese Branche auf feste Füße gestellt wer-den. Das geht aber – auch dieses Problem spreche ichheute nicht zum ersten Mal an – nicht auf der Basis vonABM oder SAM;
vielmehr sind Festanstellungen erforderlich.
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Ernst Burgbacher15738
In diesem Zusammenhang sei aber auch gesagt:Freundlichkeit – darauf hat Herr Burgbacher eben hinge-wiesen – kann man nicht lernen; dennoch ist sie für dasGesamtbild eines Produktes nicht ganz unwesentlich. Wieoft hilft ein Lächeln über manche Klippen hinweg? Dasist nun einmal so.
Insofern bleiben aber noch viele Wünsche offen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt nach wie vorimmer wieder Grund, die Absolutheit und Einseitigkeitder Darstellung des Tourismus als des Wirtschaftsfaktorsschlechthin und der Jobmaschine schlechthin zu kritisie-ren. Ich frage Sie: Ist die Wirtschaft Partner des Tourismusoder ist der Tourismus Partner der Wirtschaft? Die Ant-wort fällt besonders schwer, wenn es um die Synergie-effekte geht. Denn am Tourismus partizipieren viele Wirt-schafts- und Dienstleistungszweige und genau dieser po-sitive Umstand erschwert die Darstellung der Tourismus-branche als des entscheidenden Wirtschaftsfaktors.Trotz der Schwerpunktsetzung auf die Wirtschaftlich-keit des Tourismus – Herr Mosdorf hat das ausführlich ge-macht – dürfen wir seine soziale Seite nicht vergessen.Kinder, junge Menschen und junge Familien haben dasgleiche Recht auf Erholung wie sozial Schwache undMenschen mit Behinderung.
Nach meinen Informationen gibt es zum Beispiel inDeutschland 700 000 Menschen, die im Rollstuhl sitzen,und circa 10 Millionen Menschen, die eine Gehbehinde-rung haben. Diese Menschen geben jährlich 3,1 Milliar-den DM für Urlaub aus. Nicht dass Sie denken, sie blei-ben zu Hause, in Deutschland! Nein, fast 90 Prozentdieser Menschen mit Behinderung verbringen ihren Ur-laub im Ausland. Ich denke, dieser Aspekt wird in derTourismuspolitik noch zu wenig beleuchtet.Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktio-nen, wie ich Sie kenne, warten Sie schon seit Beginn mei-ner Rede auf Ausführungen zu Kinder- und Jugendrei-sen. Ich möchte Sie auch heute nicht enttäuschen.
Die vorgestellten Studien auf der ITB – und nicht nur dieder PDS-Bundestagsfraktion – belegen, dass die Politikgegenüber der Branche gefordert ist. Es geht um die An-erkennung von Einrichtungen und um deren materielleund finanzielle Ausstattung. Diesem Problem sollten wiruns schnellstmöglich zuwenden.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Renate Gradistanac.
Frau Präsidentin! WerteKolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damenund Herren! Fazit des Tourismuspolitischen Berichts ist:Der Tourismus boomt. Unsere tourismuspolitischeSprecherin Bruni Irber würde sagen: Der Tourismusbrummt. Das freut nicht nur unseren „Tourismuskanzler“Gerhard Schröder, wie ihn der Bundesvorsitzende desDEHOGA, Herr Kaub, treffend bezeichnet hat, sondernauch alle Mitglieder der Tourismus-AG der SPD.
Die populistische Postkartenaktion der CDU/CSU mitder Überschrift „SOS – Stand Ort Stau im deutschen Tou-rismus“ – meine Kollegin hat es schon angesprochen –,die pathetisch die angeblich dramatische Situation desDeutschlandtourismus beschreibt, löste bei uns und beiVeranstaltern verwundertes Kopfschütteln aus.
– Herr Hinsken, gemach! Ich weiß, dass ich Sie häufigaufrege.Hier einige Stimmen:Astrid Clasen-Czaja von der TUI:Das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen.Günther Degenhardt von Neckermann Reisen:Diese Ergebnisse können wir in unserer täglichen Ar-beit nicht feststellen.Martin Katz, Geschäftsführer von Ameropa, sprichtebenfalls von nicht nachvollziehbaren Horrorszenarien.Er verzeichnet einordentliches Plus bei Umsatz und Teilnehmern unddiagnostiziert eine positive Entwicklung imDeutschlandtourismus.
Udo Schröder von der ITS ist ebenso positiv gestimmt:Wir werden in diesem Jahr sicher ein Umsatz- undGästeplus erzielen. 1999/2000 reisten 150 000 Gästemit ITS in Deutschland. Das entspricht einer Steige-rung von 14 Prozent.Sie merken, dass ich darüber lange sprechen kann.Claudia Gilles, Hauptgeschäftsführerin des DTV:Die Übernachtungszahlen zeigen, dass Deutschlandgut gefragt ist.Auch Ursula Schörcher von der DZT sagt – damitschließe ich den Reigen der Zitate aus dem „Reisebüro-Bulletin“, Nr. 10; ich sage das, falls Sie, Herr Brähmig,wissen möchten, woraus ich zitiere –, dass Deutschlandnicht aus der Mode gekommen ist.Hier die Fakten – der Staatssekretär hat schon einigegenannt –: In Deutschland hat der Tourismus einen Anteil
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Rosel Neuhäuser15739
am Bruttoinlandsprodukt von rund 8 Prozent. Die Zahlder Arbeitsplätze im Tourismus beläuft sich auf 2,8Mil-lionen, die der Ausbildungsplätze auf 91 000. Die Über-nachtungszahlen im Osten steigen überproportional an.Ich freue mich, dass die SPD-geführte Bundesregie-rung das Jahr 2001 zum „Jahr des Tourismus“ ausgerufenhat – ein Vorschlag aus der Mitte unseres Ausschusses,des Tourismusausschusses.
– Ich freue mich, dass Sie Ihren Humor wiedergefundenhaben. – Damit kann das Bewusstsein wachsen, dassDeutschland mit seinen vielfältigen Tourismusregionenein hervorragendes Tourismusland ist.
Die Sterne – übrigens nicht nur die kulinarischen – kön-nen poliert und herausgestellt werden. Die Qualitätsof-fensive kommt zur richtigen Zeit.Ich verbinde mit dem „Jahr des Tourismus“ auch denGedanken an eine Dienstleistungsgesellschaft. Dazugehören selbstverständlich Arbeitsplätze, die existenzsi-chernde Einkommen ermöglichen.
Dazu gehören nicht die 630-Mark-Jobs, die vor unseremAmtsantritt in der Branche einen Anteil von über 40 Pro-zent hatten. Dazu gehören Ausbildungsplätze, die nichtdie alarmierende Abbrecherquote von circa 40 Prozentnach sich ziehen und die es nicht mit sich bringen, dassnach Ausbildungsende 60 Prozent in andere Branchen ab-wandern.
Dazu passt ausgezeichnet – nicht Ihr Wunsch nach ei-ner Zwischenfrage –,
dass die Tourismusbranche, die mittelstandsgeprägt ist,durch unsere Steuerreform um 25 Milliarden DM entlas-tet wurde, abgesehen von den gut zugeschnittenen Mittel-standsprogrammen.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?
Lieber nicht.
– Wir kennen uns aus der praktischen Arbeit. Daher: lie-
ber nicht.
Ich wiederhole: Wir fördern – darauf sind wir stolz –
den Einsatz moderner Technologien mit 24 Kompetenz-
zentren. Ein weiteres, speziell für den Tourismus, wird in
Worms entstehen. Wir begrüßen, dass mit Viabono eine
intelligente und einheitliche Umweltdachmarke für den
Deutschlandtourismus eingeführt wird. Damit wird eine
von den Tourimuspolitikerinnen – Männer sind in diesem
Fall mit gemeint – immer wieder erhobene Forderung in
die Praxis umgesetzt. Das Konzept Viabono beruht auf
dem Ziel, eine Dachmarke für alle touristischen Segmente
zu schaffen. Es wirbt – ich zitiere – „für neue Wege für das
Reisen, für mehr Qualität, mehr Natur, mehr Spaß, mehr
Genuss“.
Das alles kann frau auch in meiner Heimat, im
Schwarzwald, zum Beispiel bei Ferien auf dem Bauern-
hof genießen. Wer von den Anbietern noch nicht fit ist,
kann mit einem Modernisierungsprogramm nachhelfen.
Das gilt auch für veraltete Privatzimmer.
Unser umfangreiches Programm zur Stärkung des Tou-
rismus in Deutschland ist auf gutem Weg, Viabono.
Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär für Ihre Unter-
stützung.
Der Herr Kol-
lege Hinsken möchte eine Kurzintervention machen.
Das ist sein Recht, wie es Ihr Recht ist, Zwischenfragen
abzulehnen.
– Nein, das tun wir nicht.
Werte Frau Präsidentin!Ich möchte mich bedanken, dass Sie diese Kurzinterven-tion zulassen, nachdem ja die Kollegin meine Zwi-schenfrage abgelehnt hat. Ich wollte nur einiges zu-rechtrücken, was sie falsch dargestellt hat.Es ist nicht von der Hand zu weisen – gerade dieHotellerie und die Gastronomie stellen das fest –, dass indiesem Bereich durch das 630-DM-Gesetz über 100 000 Ar-beitsplätze verloren gegangen sind, während gerade imHotel- und Gaststättengewerbe zum gegenwärtigen Zeit-punkt 80 000 Arbeitskräfte dringend benötigt, aber nir-gendwo gefunden werden, weil die Bedingungen hierfür,gerade was Geringverdienermöglichkeiten anbelangt, soschlecht sind, und das wirkt sich negativ aus.Eine zweite Bemerkung. Ich nehme sehr wohl auf, washier zum Jahr des Tourismus gesagt worden ist. FrauKollegin Gradistanac, wenn Sie ehrlich gewesen wären,
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Renate Gradistanac15740
dann hätten Sie gesagt, dass der Vorschlag, dieses Jahreinzuführen, von der CDU/CSU-Fraktion kam und dasssich dann dankenswerterweise der ParlamentarischeStaatssekretär Mosdorf besonders dahinter geklemmt hat,dass daraus etwas geworden ist.Bundeswirtschaftsminister Müller ist momentan land-auf, landab unterwegs, um sich damit zu rühmen, das um-gesetzt zu haben. Aber er vergisst immer, darauf zu ver-weisen, dass er nicht bereit ist, eine einzige Mark zur Ver-fügung zu stellen. Das passt nicht zusammen.
Eine dritte Bemerkung. Ich finde es richtig, wenn, wasdie Deutsche Zentrale für Tourismus betrifft, im kom-menden Haushaltsjahr wieder eine Mittelaufstockungvorgenommen wird. Auch wir von der Opposition wollendie Regierung und die sie tragenden Parteien gerade indieser Angelegenheit unterstützen. Aber ich darf schondarauf verweisen, dass bisher von den Rednern der Re-gierungsparteien, aber auch bei Ihnen, Herr StaatssekretärMosdorf, die Gunst der Stunde nicht genutzt wurde, allesdas vorzutragen, was momentan Hotellerie und Gastrono-mie auf den Nägeln brennt. Deshalb bin ich dankbar, dassKollege Burgbacher und Kollegin Schäfer aus ihrer Sichtbereits darauf verwiesen haben.Ich will hier ausdrücklich sagen, dass das, was die Kol-legin Neuhäuser hier ausgeführt hat, sehr sachbezogen war.Aber ich möchte schon betonen, vor allen Dingen anSie, verehrte Frau Kollegin Gradistanac gerichtet, dass inBezug auf die Mehrwertsteuer Bundeswirtschafts-minister Müller vor zwei Jahren bei der Eröffnung derITB lautstark verkündet hat, sich für Wettbewerbsgleich-heit innerhalb Europas einzusetzen. Angekündigt hat eres. Das hat er dann aber vergessen. Ein Rückschritt nachdem anderen. Nichts ist gemacht worden.Es ist ferner vor eineinhalb Jahren gesagt worden, dieBürokratie wird abgebaut. Was ist gemacht worden? Wie-der Ankündigungen. Vor vier Wochen haben wir es vonder neuen Mittelstandsbeauftragten erneut gehört, dasshier etwas gemacht wird. Getan wurde bisher nichts. Sokönnte diese Liste ergänzt werden.Frau Präsidentin, ich bedauere, dass Sie mir nicht mehrRedezeit einräumen können. Ich könnte noch viele Unter-lassungssünden aufführen. Diese Bundesregierung redetzwar über den Tourismus, aber sie tut relativ wenig oder garnichts für die Schaffung besserer Rahmenbedingungen.Danke.
Herzlichen Dank fürIhre Nachfragen, Herr Kollege Hinsken.
Damit habe ich die Möglichkeit, noch etwas ausführlicherauf manche Themen einzugehen.Ich glaube schon, dass Sie sich daran erinnern können,Herr Hinsken, dass während Ihrer Regierungszeit ange-dacht wurde, die DZT jährlich mit 27 Millionen DM zuunterstützen.
– Wenn Sie Siegmar Mosdorf und mir nicht glauben, dannmüssen wir im Ausschuss die Zahlen noch einmal mitei-nander durchgehen. Es ist nämlich albern, jedes Mal die-ses Spiel zu machen.
Wir haben die Mittel auf 42MillionenDM aufgestockt.Sie haben mir mehrmals unter vier Augen gesagt: Immer-hin ist es eine Aufstockung auf 42 Millionen DM.
Ich möchte Sie also bitten, diese Leistung zur Kenntnis zunehmen.Ich komme zum Thema Entbürokratisierung. Dasist ein sehr spannendes Thema, vor allen Dingen ange-sichts der Frage, wer in der Vergangenheit diese Bürokra-tie aufgebaut hat. Ich habe Herrn Dr. Homann aus demWirtschaftsministerium gefragt – er ist ein sehr guter An-sprechpartner –, ob es Vorschläge gibt, wie wir die Zu-sammenarbeit in der Praxis – es wurden beispielsweisedie IHK und sonstige Verbände angesprochen – vereinfa-chen können. Leider sind entsprechende Vorschläge nursehr zögerlich bzw. überhaupt nicht eingegangen. Ichwürde mir wünschen, dass Vorschläge aus der Praxiskämen. Ich weiß aber, dass die Bürokratie zum Teil schonabgebaut wurde. Leider haben Sie auch das noch nicht zurKenntnis genommen.
– Herr Hinsken, ich weiß, dass Sie immer sehr nervössind. Im Ausschuss haben wir manchmal darunter zu lei-den. Deswegen möchte ich Ihnen sagen: Zügeln Sie sich!Jetzt komme ich zu der Ankündigung unseres wunder-baren Wirtschaftsministers Müller.
Er hatte zwar auf der ITB davon gesprochen – darauf ha-ben Sie sich bezogen –, den Mehrwertsteuersatz zu hal-bieren. Er hat aber kurz darauf auf unserem Tourismustaggesagt, er habe in Zusammenarbeit mit anderen Mitglie-dern der Bundesregierung die Priorität auf die Unterneh-mensteuerreform gesetzt. Ich weise in diesem Zusam-menhang auf die Entlastung des Mittelstandes in Höhevon 25 Milliarden DM hin.
Herr Hinsken, ich hätte eigentlich erwartet, dass Sie mei-nen schwäbischen Humor verstehen. Ein bisschen Spaßhätte ich Ihnen zugetraut.Jetzt komme ich aber noch zu einem ernsten Thema,den 630-DM-Beschäftigungsverhältnissen. Ich habe
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Ernst Hinsken15741
vorhin davon gesprochen, dass der Anteil der 630-DM-Jobs in der Tourismusbranche bei 40 Prozent liegt.
Frau Kollegin,
Sie dürfen nicht länger als drei Minuten antworten.
Dies ist meine letzte Be-
merkung. – Ich weiß also nicht, ob man angesichts dieser
Jobs von Qualität sprechen kann. Sie wissen genau, dass
wir sie nicht abgeschafft haben. Ich will Ihnen als Beispiel
meine Tochter nennen.
Frau Kollegin,
Sie dürfen auch von Ihrer Tochter jetzt nicht mehr berich-
ten. Ihre Redezeit ist zu Ende.
Schade. – Vielen Dank.
Ich will noch
einmal, an alle Kollegen gerichtet, sagen: Kurzinterven-
tionen sind nicht dazu gedacht, dass man die Debatte wei-
terführt. Man sollte in der Regel auf einen Punkt Bezug
nehmen, auf den dann geantwortet werden kann. Ich muss
dafür sorgen, dass wir in der Debatte fortfahren. Wir sind
nämlich schon sehr in Verzug. Ich bitte alle Kolleginnen
und Kollegen um Verständnis.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Brähmig.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Erlauben Sie mir drei Vorbe-merkungen. Ich möchte von dieser Stelle aus unserer Kol-legin Irber herzliche Genesungswünsche übermitteln
und hoffe, dass sie bald wieder bei uns ist und mit uns überTourismuspolitik streiten kann.Meine zweite Vorbemerkung bezieht sich auf die an-gesprochene Kürzung der DZT-Mittel, Herr Staatssekre-tär Mosdorf. Man muss ehrlich sagen, wie diese zustandegekommen ist: 1994 hat Hemjö Klein, damals Chef derDZT, gesagt, wir brauchen keine Bundeszuweisungenund nehmen 50 Millionen DM aus der Portokasse.
Das war eine Überlegung, die zur Überbrückung eineskurzen Korridors diente. Die damalige CDU/CSU-F.D.P.-Koalition hat aber gemeinsam mit Herrn Geisendörfer inder mittelfristigen Planung bis zum Jahre 2001 eineSumme von 38 Millionen DM festgehalten.Drittens möchte ich darauf eingehen, dass unser Wirt-schaftsminister Müller bisher leider nur sehr selten imTourismusausschuss gewesen ist.
Leider ist er auch hier bei tourismuspolitischen Debattennicht anwesend. Ich wünschte mir natürlich schon, dass ersich auch einmal für die Tourismusbranche so einsetztewie bei der heutigen Entlastungsrede für seinen Minister-kollegen Trittin.
Umso mehr darf ich mich bei Ihnen, Herr Mosdorf, undbei Herrn Krüger bedanken. Ich denke, Sie machen einenguten Job, und auf uns als Opposition können Sie auf alleFälle zählen.
Meine Damen und Herren, der heute zu beratende Tou-rismuspolitische Bericht stammt aus dem Jahre 1999,der Entschließungsantrag stammt aus diesem Jahr. Ichmöchte einige grundsätzliche Mängel dieses Berichtesaufzeigen, die in Zukunft behoben werden sollten:Erstens. Künftig muss der Tourismuspolitische Berichtder Bundesregierung jährlich vorgelegt werden, um zeit-nah eine tourismuspolitische Bestandsaufnahme zu er-möglichen und der zunehmenden wirtschaftlichen Be-deutung dieser weltweiten Wachstumsbranche gerecht zuwerden.
Der vorliegende Bericht stammt von Dezember 1999 undentbehrt damit jeder Aktualität.Zweitens. Der Tourismusbericht sollte deutlich mehrfundiertes Zahlenmaterial enthalten – auf 30 Seitenist dies leider nicht zu machen –, um eine wirklichePlanungshilfe der Branche und den politisch Verantwort-lichen auf den unterschiedlichen Ebenen an die Handzu geben. Vor allem fehlen wichtige Kennzahlen zu denThemen Beschäftigungsentwicklung, Eigenkapitalaus-stattung, Gewinnsituation und Insolvenzen.
Ohne diese Zahlen zeichnet der Bericht nur ein ober-flächliches Bild der Branche.Drittens. Zu einem solchen Tourismusbericht solltennatürlich auch mehr programmatische Aussagen der Bun-desregierung zur Tourismuspolitik gehören. Der vorlie-gende Bericht beschränkt sich dagegen auf die grobe For-mulierung allgemeiner Ziele. Wie diese Ziele durchlangfristige Konzepte erreicht werden sollen, wird nichtdeutlich.
Viertens. Tourismuspolitische Berichte sollten auchdie wirklich kontrovers diskutierten Probleme der deut-schen Tourismuswirtschaft aufgreifen und konkrete Aus-sagen und Zahlen über die Auswirkungen der Steuer–, So-zial- und Arbeitsmarktpolitik aufnehmen. Mit derwissentlichen Aussparung kontroverser Themen igno-
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Renate Gradistanac15742
riert der vorliegende Bericht die tatsächliche Situation derBranche. Er enthält kein Wort zu den Belastungen derBranche durch die so genannte Ökosteuer, die Neurege-lung der 630-DM-Jobs und die Abschaffung des Vorsteu-erabzugs bei Geschäftsreisen und Geschäftsessen, um nureinige die Branche belastende Faktoren zu nennen.Zusammenfassend kann man also sagen, der vorlie-gende Tourismuspolitische Bericht der Bundesregierung
wird der Wichtigkeit der Tourismusbranche, die weltweitals Hoffnungsträger bei der Bekämpfung der Arbeitslo-sigkeit gilt, nicht annähernd gerecht.Aber Gott sei Dank verfügt die deutsche Tourismus-branche mit der CDU/CSU-Fraktion und unseren Kolle-gen von der F.D.P.-Fraktion sowie unserem Ausschuss-vorsitzenden Ernst Hinsken über Fürsprecher undverantwortliche Politiker,
die die wahren Probleme der Branche sehen und durchihre Anträge die rot-grüne Koalition zum Handeln zwin-gen. Bisher gingen fast alle tourismuspolitischen Impulsein dieser Legislaturperiode von der Opposition aus.
Einige Beispiele seien hier genannt: das schon angespro-chene Jahr des Tourismus 2001, der Antrag zur Verbesse-rung der Situation des Schaustellergewerbes und
die Initiative, die schon 1999 von der CDU/CSU-Fraktionkam, zur Vermarktung der deutschen Nationalparke.
Wir haben außerdem für eine Sensibilisierung der Pro-bleme, die die Tourismusbranche bei dem Thema Urhe-berrechte mit der GEMAhat, gesorgt. Es waren auch Ver-treter der CDU/CSU-Fraktion, die durch lokale Projekteeine Qualitätsoffensive für den deutschen Tourismus ini-tiiert haben. Das jetzt von der Bundesregierung großzügiggeförderte Modellprojekt „Qualitätstourismus in Ostbay-ern“ ist insofern nur alter Wein in neuen Schläuchen.
Es war die CDU/CSU-Fraktion, die noch vor demschleppenden Start der EXPO 2000 zusätzliche Marke-tingmittel in Höhe von 50 Millionen DM einforderte. Da-mals haben uns SPD und Grüne ausgelacht, aber dann dreiMonate selber 70 Millionen DM für zusätzliches EXPO-Marketing bereitgestellt.
Die Besucherzahlen stiegen danach deutlich an, doch dieMaßnahmen kamen leider drei Monate zu spät.Es war auch die Opposition von CDU/CSU und F.D.P.,die das Problem der Trinkgeldbesteuerung durch Anträgeauf höhere Freibeträge
bzw. Abschaffung der Besteuerung thematisiert hat. Dierot-grüne Bundesregierung musste daraufhin wieder ein-mal in aller Öffentlichkeit eines ihrer Wahlversprecheneinkassieren. Nun bin ich gespannt, wie wir dieses Themain den nächsten Wochen im Ausschuss beraten werden.Es war die F.D.P., die kritisch hinterfragt hat, wie weitdie Tourismusbranche auf die Einführung des Euros vor-bereitet ist bzw. ob bei den WettbewerbsbedingungenChancengleichheit auf dem gemeinsamen europäischenMarkt herrscht.
Womit hat die rot-grüne Bundesregierung die Touris-musbranche bisher beglückt? Mit einem Rekordergebnisfür den Deutschlandtourismus? Wirklich, im Jahr 2000verzeichnete das Beherbergungsgewerbe die Rekord-summe von 326Millionen Übernachtungen bei 108Mil-lionen Gästeankünften.
Dieser Trend setzte sich nach Aussage des StatistischenBundesamtes im Januar 2001 auch noch fort. Das Ergeb-nis sind 5 Prozent mehr Gästeübernachtungen gegenüberdem Vorjahresmonat.Wenn ich, Herr Staatssekretär Mosdorf, Ihrer Rede undIhrer Pressemitteilung vom 15. Februar 2001 glaubendarf, beansprucht die Bundesregierung dieses Ergebnisals ihren persönlichen Erfolg. Leider, sehr geehrter HerrMosdorf, haben Sie es bei dieser Pressemitteilung – wahr-scheinlich rein versehentlich – unterlassen, Statistikenüber die Beschäftigungszahlen, die Kapazitätssituationund die Umsatzsituation der Tourismusbranche zu nen-nen. In Brandenburg beispielsweise stieg die Zahl der In-solvenzen im Bereich Hotellerie und Gastronomie imletzten Jahr um 23,6 Prozent gegenüber dem Jahr 1999.
Gleichzeitig sank im Jahr 2000 die Beschäftigtenzahl imdeutschen Gastgewerbe um 2,7 Prozent. Diese Zahlen ge-hen dann anscheinend nicht auf Ihr Konto. Der von Ihnenpostulierte Branchenboom bezieht sich also einseitig aufdie Übernachtungszahlen im Beherbergungsgewerbe.Die gerade genannten Kennzahlen zur Umsatzent-wicklung im Januar 2001 widerlegen auch Ihre Behaup-tung, die Steuerreform habe tatsächlich positive Effekteauf das Konsumverhalten der Bürger. Das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung hatte be-reits im Herbst letzten Jahres darauf hingewiesen, dass dieEntlastungseffekte der von Ihnen so hoch gepriesenenSteuerreform bei gleichbleibend hohen Spritpreisen undweiterer Erhöhung der Ökosteuer an der Zapfsäule ver-puffen werden.Die von Ihnen hoch gelobte Erhöhung der Marketing-mittel für die DZT um 2,4 Millionen DM auf 42 Milli-onen DM, Herr Kollege Mosdorf, erweist sich bei nähe-rer Betrachtung als Mogelpackung. Der Haushaltstitel
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Klaus Brähmig15743
„Förderung der Leistungssteigerung im Fremdenver-kehrsgewerbe“ wird um 3,4 Millionen DM gekürzt undnur 2,4 Millionen DM werden in den DZT-Titel umge-schichtet. Diese 2,4 Millionen DM stehen nicht für dasoperative Marketing zur Verfügung, da sie durch tariflicheGehaltserhöhungen und Währungsanpassungen gegen-über dem US-Dollar aufgezehrt werden. Insofern wirddiese Maßnahme keine direkte nachhaltige Stärkung desTourismusstandortes Deutschland mit sich bringen.Wenn Sie den berechtigten Interessen der Tourismus-branche wirklich Gehör schenken wollen, kümmern Siesich doch vor der Frühjahrs- und Sommersaison um eineNeuregelung Ihrer Neuregelung der 630-DM-Jobs. DerDEHOGA funkt SOS bei diesem Thema, wie Sie in der„AHGZ“ vom 10. März 2001 nachlesen können.
Angesichts dieser Regierungspolitik behaupte ich:Trotz rot-grüner Bundesregierung
gab es die höchste Zahl an Gästeübernachtungen und einesteigende Nachfrage aus dem Ausland. Nutzen Sie dieletzten eineinhalb Jahre Ihrer Regierungszeit zu einemKurswechsel, damit der Tourismusstandort Deutschlandaus dem Stau zur freien Fahrt gelangt.
– Herr Kubatschka, hören Sie doch bitte einmal zu undschreien Sie nicht immer dazwischen.
Herr Kollege
Brähmig, Sie sind jetzt erheblich über die Zeit. Kommen
Sie bitte zum Schluss.
Einen Satz möchte ich
gerne noch sagen. – Die Branche und die vielen Arbeits-
losen können nicht bis zu unserer Regierungsübernahme
im Herbst 2002 warten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Birgit Roth.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der touris-muspolitische Bericht der Bundesregierung zeigt ganzeindeutig, welch ein enormer Wirtschaftsfaktor der Tou-rismus ist. Sein Anteil am Bruttosozialprodukt beträgtmittlerweile 8 Prozent, in ihm haben 2,8 bis 2,9 MillionenBeschäftigte eine Arbeitsstelle gefunden und die Branchestellt circa 91 000 Ausbildungsplätze zur Verfügung. Ge-rade als junge Abgeordnete ist mir ganz besonders wich-tig, dass hier Verantwortung gezeigt wird. Wir haben indiesem Bereich Zuwachsraten. Im Vergleich zum Vorjahrhaben Hotellerie und Gastronomie im Jahr 2000 13,7 Pro-zent mehr junge Menschen ausgebildet. Dafür möchte ichan dieser Stelle einfach einmal Danke schön sagen.
Die Gästezahlen sind gesteigert worden. Die Zahl derinländischen Gäste hat sich um 6 Prozent erhöht und dieZuwachsrate bei den Übernachtungen insgesamt beträgtebenfalls circa 6 Prozent. Da der Incoming-Tourismus füruns ganz besonders wichtig ist, erwähne ich auch noch dieausländischen Gäste: Hier beträgt die Zuwachsrate sogar9 bis 10 Prozent.
Der Städtetourismus boomt ebenso wie der Geschäftsrei-severkehr, wie unsere Kollegin Irber immer zu sagenpflegt. Aber auch in den neuen Bundesländern sieht essehr gut aus. In Mecklenburg-Vorpommern beträgt dieSteigerungsrate beispielsweise 15 bis 17 Prozent.All diese Fakten, die ich Ihnen eben ganz kurz aufge-zählt habe, belegen, dass die Wettbewerbsbedingungenbei uns in Ordnung sind, vor allem aber die politischenund wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die wir inden letzten zweieinhalb Jahren geschaffen haben.
Genau deswegen – Frau Kollegin Kastner hat es bereitserklärt – boomt die Branche. Die Branche hat gemerkt,dass sich in den letzten zweieinhalb Jahren durch unsereReformpolitik, durch unsere aktive Wirtschafts- und Steu-erpolitik etwas bewegt hat. Die Elemente unserer Politiksind vorhin schon erwähnt worden: Haushaltskonsolidie-rung, Abbau der Staatsverschuldung und vor allem dieEntlastung der Bürgerinnen und Bürger durch die Steuer-reform.
– Herr Hinsken, Sie wissen ganz genau, dass diese Steu-erreform ein Entlastungsvolumen von 75 Milliarden DMhat.
Wir haben es geschafft, dass diese Steuerreform auf dereinen Seite die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer so-wie die Familien, auf der anderen Seite aber auch die Un-ternehmen entlastet.
– Herr Burgbacher, wir gehen dabei davon aus, dass derMittelstand um 20 bis 25 Milliarden DM entlastet wird.
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Klaus Brähmig15744
Angesichts dessen trifft Ihr Vorwurf, die Steuerreform seimittelstandsfeindlich, in keiner Weise zu.
Gestatten Sie
ein Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?
Es ist mir eine Freude.
Frau Kollegin Roth, sind
Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass allein durch die
Einführung der Ökosteuer
ein 40-Betten-Betrieb jährlich mit mehr als 10 000 DM
zusätzlich belastet ist
und dass die Steuerreform, die Sie so rühmen, überwie-
gend am Mittelstand vorbeigeht, dass sie das Großkapital
unterstützt, während die kleineren und mittleren Betriebe
unter ihr zu leiden haben?
Sie sagten, in den neuen Bundesländern hätten wir ei-
nen Zuwachs, und nannten als Beispiel Mecklenburg-Vor-
pommern.
Deshalb frage ich Sie, worauf Sie es zurückführen, dass
wir zum Beispiel in Sachsen-Anhalt fast überhaupt keinen
Zuwachs haben.
Herr Hinsken, bei derÖkosteuer werden wir einen permanenten Dissens ha-ben; aber ich glaube, das macht nichts. Erstens zur Gleich-stellung von Ökosteuer und Benzinpreiserhöhung: Darfich Sie daran erinnern, dass in Ihrer Regierungszeit derBenzinpreis um insgesamt 53 Pfennige erhöht worden ist?Zweitens müssen Sie auch einmal erwähnen, was wir mitden Einnahmen aus der Ökosteuer machen.
Die Ökosteuer ist aufkommensneutral. Die Gelder wer-den gebraucht, um die Rente zu stabilisieren und dieBeiträge zur Rentenversicherung um 0,5 Prozent abzu-senken. Sie können nicht immer nur den einen Teil derWahrheit erzählen, sondern müssen bitte auch sagen,wofür die Gelder verwendet werden. Durch die Ökosteuerwird der Faktor Arbeit billiger.
– Herr Hinsken, lesen Sie doch einmal die Unterlagen.Zum zweiten Teil Ihrer Frage: Sie können nicht einfachzwei der neuen Bundesländer miteinander vergleichen.Mecklenburg-Vorpommern hat ganz andere touristischeRessourcen und dementsprechend auch andere Umsätze.Sie behaupten, dass der Mittelstand gefährdet sei. Ichhabe Ihnen eben zehn Beispiele für das Wachstum im Be-reich Tourismus vorgelesen. Wie kann es denn dann sein,dass die Steuerreform nicht greift oder dass es der Bran-che angeblich schlecht geht? Ich finde Ihre Argumenta-tion ganz einfach nicht stimmig.
– Ich denke, ich mache jetzt mal ein bisschen weiter.Dieses Wachstum ist auch auf eine aktive Wirtschafts-und Steuerpolitik zurückzuführen.
Frau Schäfer, ich glaube, Sie sagten, wir hätten diefalschen Berater oder seien im letzten Jahr nicht inDeutschland gewesen. Frau Schäfer, mit Verlaub: Ich binwirklich überzeugte Pfälzerin und sehr oft in der Pfalz. Ichglaube, ich brauche Ihnen nichts über Rheinland-Pfalzund darüber zu erzählen, wie die Wahlen ausgegangensind. Auch das ist wieder ein Punkt, an dem Sie sehen,dass wir wirklich eine kompetente Wirtschafts- und Steu-erpolitik machen und gute Berater haben.
Zum nächsten Punkt, dem so genannten Jobkiller630-Mark-Jobs. Meine sehr verehrten Damen und Her-ren von der Opposition, Sie wissen ganz genau, welcherMissbrauch mit den 630-Mark-Jobs getrieben worden ist.
Frau Schäfer, wenn gerade Sie als Frau so etwas an-führen, dann müssen Sie bitte auch Folgendes bedenken.Schauen Sie sich doch einfach einmal die durchschnitt-liche Rente der Frauen in den alten Bundesländern an. Sieliegt nämlich bei ungefähr 1 000 DM.
Warum ist das so? Weil Frauen unter anderem die Kindererziehen, weil Frauen auch auf der Basis der 630-Mark-Regelung arbeiten. Ich glaube, das kann es einfach nichtsein. Was wir im Tourismus brauchen, ist eine Qualitäts-offensive – das haben Sie im Übrigen auch gesagt –,
also keine 630-Mark-Jobs. Wir treten dafür ein, sozial-versicherungspflichtige Arbeitsplätze aufzubauen.
Sie haben von einer katastrophalen Entwicklung imBereich des Umsatzes der Gastronomie gesprochen. Ichwar früher selbstständig. Eine Verringerung um 1,8 Pro-zent ist wahrhaftig keine katastrophale Entwicklung, Frau
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Birgit Roth
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Schäfer. Ich bitte Sie, auch einmal die andere Seite, dasBeherbergungsgewerbe, aufzuzeigen.
Sie brauchen sich nur die Saisonumfrage Tourismus desDIHT für die Jahre 2000/2001 anzusehen. Danach sagenzum Beispiel 80 Prozent der Befragten, dass sie mit denUmsätzen zufrieden sind bzw. dass sie diese als gutempfinden. Übrigens haben auch 80 Prozent der Befrag-ten positive Erwartungen in Bezug auf das kommendeJahr.Sie wissen ganz genau, wie wichtig es für eine Bran-che ist, positive Erwartungen zu haben. Ich finde esschade, dass Sie hier versuchen, die Branche schlecht zureden.
Wir haben Sie gestern im Ausschuss aufgefordert, unse-rem Tourismusförderprogramm beizutreten, uns zu unter-stützen – für die Branche, für Deutschland.
– Nein, sie haben nicht viel gemacht.Frau Schäfer, ich möchte noch einen Punkt erwähnen.Sie haben ganz zum Schluss folgenden Satz gesagt: Undnun noch etwas zur Wirtschaftspolitik. – Frau Schäfer, derTourismus ist reine Wirtschaftspolitik. Der Tourismus hateinen Anteil von 8 Prozent am Bruttosozialprodukt.
Wir haben mittlerweile 2,8 bis 2,9 Millionen Arbeits-plätze in diesem Bereich. Das ist pure Wirtschaftspolitik.
In diesem Zusammenhang möchte ich Sie noch einmaldarum bitten, dass Sie Ihren Standpunkt überdenken.Jetzt zu Ihnen, Herr Burgbacher. Sie sprachen vonflächendeckender Gewerkschaftsmacht. Darauf möchteich einfach nur sagen: Wir haben zum Beispiel die Re-form des Betriebsverfassungsgesetzes in Angriff ge-nommen, was ich auch als richtig erachte. Sie müssenaber auch sehen, von wann das Gesetz selber stammt.Diese Reform hat 30 Jahre auf sich warten lassen müssen.Bei der Schnelligkeit, mit der sich unsere Wirtschaft be-wegt, sollten wir auch für die Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer eintreten.
– Ja, in die richtige Richtung.Ich muss Ihnen noch etwas sagen. Zu dem, was Sie inRichtung rot-grüne Reglementierungswut angeführt ha-ben, darf ich Sie darauf hinweisen, dass wir – in der nächs-ten Woche werden wir darüber auch eine Debatte im Ple-num führen – die Abschaffung des Rabattgesetzes undder Zugabeverordnung erörtern werden. Da lassen Siemich doch wieder die Frage stellen: Warum habt ihr dasnicht in den letzten 16 Jahren gemacht?
Das Rabattgesetz stammt aus dem Jahre 1933. Ich denke,auch an diesem Punkt hätte man sicherlich ansetzen kön-nen, anstatt jetzt uns, wenn wir es abschaffen, um Dere-gulierung zu erreichen, rot-grüne Reglementierungswutvorzuwerfen.
Ich muss noch auf einen weiteren Punkt zu sprechenkommen. Sie haben des Öfteren den Vorwurf erhoben,dass das Jahr des Tourismus finanziell im Grunde genom-men nicht unterstützt wird.
Ich möchte an die vorletzte Ausschusssitzung mit HerrnDr. Homann vom Wirtschaftsministerium erinnern, derganz klar gesagt hat: Das Jahr des Tourismus wird mit2,4 Millionen DM vom Wirtschaftsministerium unter-stützt.Vielen Dank.
Zu einer Kurz-
intervention erteile ich Herrn Kollegen Burgbacher das
Wort.
Liebe Frau KolleginRoth, das müssen wir doch schon noch klarstellen.Tatsache ist, dass im Bundeshaushalt kein Pfennig fürdas Jahr des Tourismus eingestellt ist. Tatsache ist, dassSie zwar die Mittel für die Deutsche Zentrale für Touris-mus, wie wir jetzt hören, für den Tourismus in den neuenLändern, für das Jahr des Tourismus und alles Möglicheerhöht haben, dass Sie aber an anderer Stelle im HaushaltTitel gestrichen und daher unter dem Strich die Mittelgekürzt haben. Es ist für das Jahr des Tourismus nicht ei-nen Pfennig im Bundeshaushalt eingestellt. Das bitte icheinfach zu akzeptieren. Dr. Homann sprach davon, dass eranderswo Mittel akquirieren will. Das finden wir ganztoll. Aber es reicht nicht, wenn der AnkündigungsministerMüller nur ankündigt und überhaupt nichts bewirkt, zuMehrwertsteuer, Trinkgeld und anderem große Presse-konferenzen veranstaltet, aber keinen Pfennig zur Unter-stützung einsetzt.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001
Birgit Roth
15746
Ich lese einfach einmal
einen Satz aus der Drucksache 14/5432 vor:
Trotz dieser Situation sowie eines erhöhten Finan-
zierungsbedarfs der DZT für das Jahr 2001 wegen
des geplanten „Jahr des Tourismus in Deutschland“
sehe der Haushaltsentwurf ... eine Erhöhung der
Bundeszuwendung um 2,4 Mio. DM vor.
So viel zu Punkt eins.
Punkt zwei, zu den Ankündigungen des Ministers. Ich
möchte in diesem Bereich nur einmal auf das Touris-
musförderprogramm verweisen. Wer hat denn insge-
samt 24 E-Commerce-Zentren in der ganzen Bundesre-
publik aufgebaut, davon eines ganz speziell für den
Tourismus, und zwar in Worms, Herr Burgbacher!
Es gibt ein Förderprogramm, insbesondere über die
KfW, für Sanierung und Modernisierung von Privat-
zimmern. Dies wird speziell unterstützt durch günstige
Zinsen. Auch dies wird im Tourismusförderprogramm
realisiert, abgedeckt durch den Haushalt des Wirtschafts-
ministeriums. Es gibt vielfältige Beispiele dafür, dass sich
einiges getan hat, Herr Burgbacher. Insofern können Sie
wirklich nicht von „Ankündigungsminister“ sprechen.
Ich schließe da-
mit die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Tourismus zu dem tourismuspolitischen Bericht
der Bundesregierung, Drucksache 14/5432 . Der
Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfeh-
lung, den Bericht auf Drucksache 14/2473 zur Kenntnis
zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dann ist das
einstimmig so angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 14/5432 empfiehlt der Ausschuss die Annahme
einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P.
bei Enthaltung der PDS angenommen worden.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und b sowie die
Zusatzpunkte 5 und 6 auf:
6. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Rehbock-Zureich, Hans-Günter Bruckmann,
Dr. Peter Danckert, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Albert
Schmidt , Franziska Eichstädt-Bohlig,
Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Die Bahnreform fortführen und die Zukunft
der Schiene in Deutschland sichern
– Drucksache 14/5665 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eduard
Oswald, Dirk Fischer , Dr.-Ing.
Dietmar Kansy, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Gewährleistung des Schienenpersonenfernver-
kehrs
– Drucksache 14/5451 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
ZP 5 Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Winfried Wolf, Eva Bulling-Schröter, Uwe
Hiksch, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Gewährleistung des Schienenpersonenfern-
– Drucksache 14/5662 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich , Dr. Karlheinz Guttmacher,
Hans-Michael Goldmann, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der F.D.P.
Eisenbahnpolitische Reformschritte zügig ein-
leiten
– Drucksache 14/5666 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Wenn Sie
einverstanden sind, ist das so beschlossen. Das ist der
Fall.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Abgeordnete Karin Rehbock-Zureich.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! „Die Bahnreform
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fortführen und die Zukunft der Schiene in Deutschland si-chern“, mit diesem Antrag betonen wir die Bedeutung, dieder Schienenverkehr in unserem Mobilitätskonzept ein-nimmt. Unser Antrag zeigt den Weg für den Schienenver-kehr der Zukunft. Das heißt, wir entwickeln die Rahmen-bedingungen für einen erfolgreichen Schienenverkehrweiter. Wir sorgen dafür, dass mehr Menschen und mehrGüter auf der Schiene transportiert werden können. DennTeile des Verkehrszuwachses der nächsten Jahre müssenwir auf die Schiene bringen, um die Funktionsfähigkeitdes Gesamtverkehrssystems zu sichern.
Dazu müssen wir die Investitionen – wir haben dies inunserem Antrag ausgeführt – auf hohem Niveau weiter-führen, vor allen Dingen mit Augenmerk auf das Be-standsnetz. Wir werden den Wettbewerb auf der Schienestärken, die internationalen Wettbewerbsbedingungenverbessern sowie Forschung und Innovation für dieSchiene fördern.Sofort nach der gewonnenen Wahl haben wir als Vo-raussetzung für die Weiterentwicklung des Schienenver-kehrs bereits 1999 wieder 7 Milliarden DM für Schienen-investitionen aufgewandt anstelle der 5,7 Milliar-den DM, die Sie 1998 in die Schiene investiert haben.In diesem Jahr haben wir 8,8 Milliarden DM bereitge-stellt. Damit ist das bei der Bahnreform zugesagte Niveau,nämlich 9 bis 10 Milliarden DM, so gut wie erreicht.
Des Weiteren stellen wir die Darlehen auf Baukosten-zuschüsse um. Während der Anteil der Darlehen unterCDU-Verantwortung noch 4 Milliarden DM ausmachte,wird er im Jahre 2001 nur noch 1,6 Milliarden DM aus-machen. Das entlastet die DB AG in den nächsten zehnJahren um mehr als 4 Milliarden DM.
Mit den Geldern des Zukunftsinvestitionsprogrammswerden in den nächsten drei Jahren über 40 000 Langsam-fahrstellen beseitigt. Diese Investitionen in das Bestands-netz sind die Grundvoraussetzung für einen wirtschaftli-chen Schienenverkehr. Zusätzlich werden wir mitdem Anti-Stau-Programm ab dem Jahre 2003 560 Milli-onen DM für Engpassbeseitigung bereitstellen.
– Ja, natürlich.Für die regionalen Netze werden im Jahre 200113,5 Milliarden DM an die Bundesländer gehen, die dieseMilliarden in Regionalverkehre investieren werden.Dies verpflichtet sie, auch jenseits der Ballungszentren,nämlich in der Fläche, für bedarfsgerechte Schienenver-kehrsleistungen zu sorgen.
Wir müssen in der Fläche, in den Regionen, an denSchnittstellen zwischen Nah- und Fernverkehr für intelli-gente zukunftsfähige Lösungen sorgen. Grundvorausset-zung werden die Regionalisierungsmittel sein, die auch inder Zukunft dynamisiert zur Verfügung gestellt werdenkönnen. Der Verkehr in der Fläche, in den Regionen hatmit 18 Prozent in den letzten Jahren die höchsten Steige-rungsraten erreicht. Dies zeigt: Der Wettbewerb auf derSchiene trägt entscheidend dazu bei, dass Zuwächse beider Personenbeförderung zu verzeichnen sind.
Jedoch müssen die Verteilung und die Verwendung derRegionalisierungsmittel in jedem Fall transparent, nach-vollziehbar und auch sachgerecht vonstatten gehen. DieEinhaltung dieser Kriterien werden wir auch in der Zu-kunft einfordern.Wir haben die Investitionen seit unserem Regierungs-antritt erhöht, ohne Schattenhaushalte zu schaffen oderneue Schulden zu machen, was man, bezogen auf die Ver-gangenheit, von Ihrer Regierung nicht sagen kann.
– So ist es.Die Investitionsmittel müssen in der Zukunft abgesi-chert sein. Dadurch wird Planungssicherheit für den wei-teren Ausbau der Schieneninfrastruktur geschaffen.Wir müssen aber auch faire Bedingungen für den Wett-bewerb auf der Schiene und für den Wettbewerb unterden Verkehrsträgern schaffen. Wir werden als erstenSchritt eine durchsetzungsfähige Regulierungsbehördeeinrichten, um den diskriminierungsfreien Zugang zumNetz für alle zu gewährleisten.
Wir haben gestern in einer Diskussion mit der DB Cargogehört, dass gerade das Konzept Mora C dazu führenwird, dass einige Gleise stillgelegt werden. Die stillgeleg-ten Gleise müssen Dritten zugänglich gemacht werden,ohne dass eine Diskriminierung stattfindet.
Wir benötigen Wettbewerb – unser Ziel ist nicht derWettbewerb an sich, sondern, mehr Verkehrsleistung aufdie Schiene zu bringen – und ein unabhängiges Netz. Sieaber sagen: Netz und Betrieb werden morgen getrennt unddann ist alles geregelt.
Wir haben uns immer dafür eingesetzt, dass für den Fallder Trennung von Netz und Betrieb, der Schaffung der
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Karin Rehbock-Zureich15748
Unabhängigkeit des Netzes, eine sorgfältige Prüfung hin-sichtlich der möglichen Organisationsformen stattfindet.
Alle Wettbewerber müssen hinsichtlich der Trassenver-gabe, der Trassenpreise und auch der Erteilung von Ge-nehmigungen gleich behandelt werden. Aber die Chancenund die Risiken unterschiedlicher Organisationsformenmüssen sorgfältig geprüft werden. Dieses genaue Hin-schauen ist ein Muss; wir können uns keinen Fehler er-lauben. Schnellschüsse wird es mit uns nicht geben. Wirkönnen nicht das Risiko eingehen, erstens die Leistungs-fähigkeit und zweitens die Sicherheit auf der Schienedurch nicht durchdachte Konzepte zu beeinträchtigen.Denn es gibt in Europa für Wettbewerb und für ein unab-hängiges Netz keine positiven Beispiele.
Die Bundesregierung hat dies aufgenommen und eineTaskforce zur Prüfung möglicher Organisationsformeneingerichtet. Wir werden der Erreichung des Zieles, mehrVerkehr auf die Schiene zu bringen, näher kommen, wennwir die bestmögliche Organisationsform im Hinblick aufdie Herstellung von Chancengleichheit realisieren.
Es wird auch darum gehen, in der Zukunft die Rahmen-bedingungen zu verbessern. Hier ist auf europäischer Ebenemit dem EU-Infrastrukturpaket der erste Schrittgetan worden. Im vergangenen Jahr ist ein wichtiger Durch-bruch für einen gesamteuropäischen Güterverkehr erzieltworden. Denn der freie Zugang von Eisenbahnverkehrsun-ternehmen zu einem transeuropäischen Güterverkehrsnetzist die Grundvoraussetzung dafür, in Zukunft Güter über-haupt auf der Schiene zu transportieren. Hier wurde ein ers-ter Schritt getan. Wir werden noch viele Schritte gehen müs-sen, damit der Schienenverkehr in Zukunft eine demStraßenverkehr vergleichbare Konkurrenz ist.
Wir werden dies nur durch einen grenzenlosen Verkehrschaffen. Das heißt, es wird keine Barrieren bei der Zoll-abfertigung und durch Lok- und Personalwechsel geben.Nur durch grenzenlosen Güterverkehr kann der Schie-nenverkehr eine konkurrenzfähige Alternative zumStraßenverkehr werden.Wir haben nationale Rahmenbedingungen geschaffen,indem wir eine Entfernungspauschale eingeführt haben,wovon Pendlerinnen und Pendler unabhängig vom Ver-kehrsmittel profitieren.
Ab 2003 werden wir eine LKW-Maut einführen. Auchdies ist ein Schritt hin zur Chancengleichheit unter denVerkehrsträgern.
Sie von der CDU/CSU haben einen Antrag und Sie vonder PDS einen Gesetzentwurf eingebracht, in denen Siedie Zugkilometer, die in Zukunft geleistet werden sollen,festschreiben wollen. Ich kann nicht verstehen, wie manauf der einen Seite per Gesetz die zu leistenden Zugkilo-meter festschreiben will und auf der anderen Seite dieTrennung von Netz und Betrieb und damit die totale Li-beralisierung fordern kann. Sie sollten einmal erklären,wie Sie diesen Widerspruch auflösen wollen. Dies war einVorschlag des Landes Baden-Württemberg im Bundesrat,den Sie in Zeiten des Wahlkampfes aufgegriffen haben.
Das kann kein Konzept der Zukunft sein. Wir wollen nichtzu einer Behördenbahn zurück, sondern eine Bahn schaf-fen, die mehr Verkehr auf der Schiene, Chancengleichheitund die Unabhängigkeit des Netzes in Verbindung mitausreichenden Investitionen vonseiten des Bundes ge-währleistet.
Regionale Netze werden in Zukunft eine verstärkteRolle im Zusammenspiel der Haupt- und Nebenstreckenspielen. Wir haben viele positive Beispiele, wie Dritte, dieaufs Netz gingen, dies besser als die DB AG organisierthaben. Wir müssen in einer Weiterentwicklung des Allge-meinen Eisenbahngesetzes dafür sorgen, dass keine Dis-kriminierung über kalte Streckenstilllegungen und Ähnli-ches stattfindet. Wir müssen auch dafür sorgen, dassstillgelegte Strecken bei ihrer Veräußerung an Dritte eineMindestqualität aufweisen; denn nur so werden wir esschaffen, neben der DBAG mehr Mitbewerber als bisherauf die Schiene zu bringen.Nur ein gutes Angebot wird sicherstellen, dass der Ver-kehrsträger Schiene eine Chance in der Zukunft hat. Ichmöchte Sie alle bitten, daran im Sinne unseres Antragesmitzuwirken und ihm, wenn wir ihn wieder einbringen,zuzustimmen; denn dann tun wir einen wichtigen Schrittin die Zukunft.Vielen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Dirk Fischer von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsi-dent! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! DasZiel, das wir alle übereinstimmend verfolgen, ist, den Ver-kehrsträger Schiene auf dem Verkehrsmarkt in Deutsch-land und Europa zu stärken; denn wir sind davon über-zeugt, dass wir nur so die verkehrspolitischenHerausforderungen und volkswirtschaftlichen Erforder-nisse bewältigen können.
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Karin Rehbock-Zureich15749
Die Anträge der CDU/CSU-Fraktion vom 15. Fe-bruar 2000 und der F.D.P.-Fraktion vom Februar 2000 lie-gen jetzt seit weit über einem Jahr auf dem Tisch. Wir ha-ben bereits am 11. Oktober des letzten Jahres einöffentliches Hearing durchgeführt. Am 4. April, also inder nächsten Woche, wollen wir im Ausschuss abschlie-ßend beraten. Kurz vor Toresschluss kommen jetzt auchdie Koalitionsfraktionen mit einem eigenen Antrag.
Ich denke, das ist reichlich spät, aber einen Wettbewerbder Ideen und Forderungen können wir beim ProblemfallSchienenverkehr gut gebrauchen. Deswegen freuen wiruns, dass auch Sie sich endlich positioniert haben.
Der Antrag der Koalition enthält neben diesen Ideenund Forderungen allerdings auch eindeutig falsche Be-hauptungen zu den Leistungen der früheren Bundesregie-rung, die wir klar zurückweisen müssen.
–
Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Aber dass dieMittel für Investitionen immer geringer wurden,konnten Sie nicht zurückweisen?)Sie tun so, als sei nichts geschehen; und dann kamen Sie.
Ich muss Ihnen in aller Deutlichkeit sagen: Diefrühere Bundesregierung hat die Entschuldung der Bun-desbahn mit 70 Milliarden DM zulasten des Bundes-haushaltes entschieden.
Wir haben einen Altlastenzuschuss von 32,5 Mil-liarden DM beschlossen. Wir haben den Produktivitäts-rückstand der Deutschen Reichsbahn mit 50 Mil-liarden DM ausgeglichen.
Wir haben die DB AG mit einem Stammkapital in Höhevon 4,2 Milliarden DM zum 1. Januar 1994 ausgestattet.Wir haben entschieden, Regionalisierungsmittel für dieNahverkehrsaufgabe in der Größenordnung von 12,4Mil-liarden DM jährlich bereitzustellen. Wir haben imRahmen des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes3,28 Milliarden DM pro Jahr und mehrere Jahre lang diedoppelte Summe ausgegeben, um im Zeitraum von 1991bis 1998 auch für den Wiederaufbau der S-Bahnen, derStadtbahnen und der Regionalbahnen in den neuen Län-dern zu sorgen. Wir haben für den Ausbau der Schiene inden neuen Bundesländern im Zeitraum von 1991 bis 199835 Milliarden DM ausgegeben.
Dabei habe ich noch gar nicht die normalen jährlichenHaushaltsleistungen für Zuschüsse und zinslose Darle-hen, für die wir immerhin die Zinslasten übernommen ha-ben, erwähnt.
Die Summe der Leistungen, die ich hier genannt habe,liegt bei weit über 200 Milliarden DM, die sozusagen ne-ben der normalen Haushaltsfinanzierung bereitgestelltworden sind. Deswegen werden Ihnen derartige Märchenwirklich nur die Leute glauben, die sich mit dieser Sachenoch niemals befasst haben. Ich finde es frivol, auf dieUnkenntnis von normalen Bürgern zu setzen, die sichnicht jeden Tag von morgens bis abends mit dem Schie-nenverkehr beschäftigen. Diese Täuschung muss zurück-gewiesen werden.
Natürlich muss jede Bundesregierung den Stab weiter-tragen. Sie müssen sich noch ganz schön anstrengen. Ichhabe hier einen Brief der Parlamentarischen Staatsse-kretärin Mertens, die anwesend ist, vor mir auf dem Pultliegen. Danach betrugen die verfügbaren Mittel für Inves-titionen in die Schiene im Jahr 2000 6,8 Milliarden DM.Davon sind 1,1 Milliarden DM nicht ausgegeben worden,sondern zur vorfristigen Tilgung der Aufwendungen einesKonzessionärs der Neubaustrecke Nürnberg–Ingolstadt–München bereitgestellt worden. Aber nach der Finan-zierungsvereinbarung sollte die Tilgung erst ab demJahr 2004 beginnen. In Wahrheit ist also aus dem Haus-halt 2000 effektiv nur eine Summe von 5,7MilliardenDMin das deutsche Schienennetz geflossen. Was erzählen Siehier eigentlich für Märchen?
Ich will etwas zu Ihren unzureichenden Ankündigun-gen sagen. Im Haushaltsentwurf 2001 hatten Sie für In-vestitionen in die Schiene 6,7 Milliarden DM eingeplant.Dann kam der warme Regen durch die Zinsersparnisseaufgrund der UMTS-Versteigerungserlöse. Damit wollenSie im Zeitraum von 2001 bis 2003 ein kleines Strohfeuervon zusätzlich jeweils 2 Milliarden DM pro Jahr veran-stalten.
Dies gibt der Bahn nicht die ausreichende Planungssi-cherheit, die Sie in Ihrem Antrag einfordern. Die Planungmuss für einen Zeitraum von 10 bis 15 Jahren angelegtwerden, damit die DB AG überhaupt – ich formuliere eseinmal so – ein teures Ingenieurbüro mit ein paar HundertLeuten aufbauen kann, sonst ist das doch abenteuerlich.
Wenn Sie so kurzfristig denken, wird sich das, was mitden 1,1 Milliarden DM im Jahr 2000 passiert ist, in denfolgenden Jahren wiederholen. Das sage ich Ihnen voraus.Denken Sie sich neue Methoden des Versteckens aus.Aber wir werden Ihnen auf die Schliche kommen.Dann haben Sie in Ihrem Antrag völlig illusorischeZiele genannt. Im Verkehrsbericht 2000 wird eine Ver-dopplung der Gütermenge auf der Schiene bis 2015 auf146 Milliarden Tonnenkilometer angekündigt, also plus100 Prozent. Der Minister redet vor der Presse nur nochvon einer Steigerung um 65 Prozent, also einem Plus von
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zwei Dritteln. Herr Mehdorn spricht, wie ich höre, nur von50 Prozent. Das heißt also – in Hamburg sagt man: Tetjemit Utsichten –, jeder macht seine eigene Prognose. Allesstimmt sowieso nicht. Wir sind dies mittlerweile sogar ge-wöhnt. Ich sage Ihnen voraus – egal ob nun eine Steige-rung um 50, 65 oder 100 Prozent erwartet wird –: Ohneschnellstmöglichen Wettbewerb im System Schiene wirdalles nicht erreicht und alles danebengehen.
Ich komme zur Selbsttäuschung in Ihrem Antrag: ImGeschäftsjahr 2000 soll die DB AG im Güterverkehr ei-nen Umsatzzuwachs von 13 Prozent erzielt haben. Selbstdie DBAG hat darauf hingewiesen, dass in diesen Umsatzdie Kooperation der DBAG mit der holländischen Staats-bahn, also der gesamte holländische Güterverkehr, einge-rechnet wurde.
Darauf wurde in der Pressekonferenz hingewiesen. Dasheißt also: Dies ist kein Zuwachs, der im deutschen Gü-terverkehrsmarkt erzielt worden ist. Es muss nach meinerAuffassung ganz klar gemacht werden, dass dies einenzugekauften Umsatz und nicht die Umsatzentwicklungauf dem deutschen Markt widerspiegelt.
Zur Steigerung der Regionalisierungsmittel: Siesprechen von einer Erhöhung von 12 Milliarden DM – inWirklichkeit waren es 12,5 Milliarden DM, 500 Milli-onen DM kann man leicht vergessen – auf jetzt 13,5 Mil-liarden DM. Das sei Ihre politische Heldentat. Mit Ver-laub: Die frühere Bundesregierung hat den Art. 106 a desGrundgesetzes neu geschaffen und zusätzlich einRegionalisierungsgesetz durchgesetzt. Danach erhaltendie Länder für den öffentlichen Personennahverkehr Zugum Zug gegen Übertragung der Aufgabenverantwortungeine dynamisierte Finanzausstattung. Das heißt also, dieMittel müssen erhöht werden, wenn nicht gleichzeitig dasGrundgesetz und das Regionalisierungsgesetz gebrochenwerden sollen. Das hat aber mit einer möglichen politi-schen Heldentat gar nichts zu tun.Sie handeln politisch widersprüchlich, indem Sie zwarsagen, Sie wollten keine Darlehen mehr, sondern nur nochBaukostenzuschüsse geben, aber im Haushalt 2001 Ver-pflichtungsermächtigungen in Höhe von 3,2 Milliar-den DM für Darlehen vorgesehen haben. Was gilt dennnun bei Ihnen? Aber zu Ihrem Trost: In Ihrem Forde-rungskatalog gibt es natürlich auch einige Punkte, die ge-meinsames politisches Handeln ermöglichen. Darüberwerden wir im Ausschuss diskutieren.Lassen Sie mich abschließend kurz unsere Ziele auf-zählen:Wir wollen erstens die Infrastruktur sichern und aus-bauen sowie die transeuropäischen Netze im Gleichklangmit der EU realisieren.Wir wollen zweitens den Wettbewerb möglichst vielerEisenbahnunternehmen mit einem diskriminierungsfreienZugang, da wir deren Investitionskraft im System Schienebrauchen. Wir wollen einen Leistungswettbewerb markt-gängiger Konzepte und Angebote. Wir wollen nicht, dasssich die DB AG als Monopolist im Kernnetz aufspielt,während die anderen Wettbewerber nur den Schrott ver-werten dürfen. Dieses läuft mit uns nicht.Wir wollen drittens keinen Rückzug aus der Fläche.Über das Gewährleistungsgesetz, das wir vorschlagenund fordern, spricht der Kollege Lintner im Anschluss.
Kommen
Sie bitte zum Schluss.
Ich komme
zum Schluss, Herr Präsident.
Der Bund muss im Rahmen seiner Gemeinwohlver-
pflichtung gemäß Art. 87 e Grundgesetz auch Besteller sein.
Wir wollen viertens die Beschleunigung der wechsel-
seitigen Öffnung der Schienennetze in Europa.
Wir wollen fünftens eine Harmonisierung der fiskali-
schen Belastungen im europäischen Eisenbahnverkehr.
Wir wollen sechstens die Wegekostenanlastung der
Verkehrsträger im nationalen und europäischen Bereich
angleichen.
Wir wollen siebtens die Trennung von Netz und Be-
trieb sowie Wettbewerb mit einem überzeugenden Lö-
sungskonzept, und zwar so schnell wie möglich, späte-
stens zum 1. Januar 2004.
Herr Kol-
lege, bitte kommen Sie zum Schluss.
Wir wollen die
Bahnreform nicht zurückdrehen, sondern ordnungspoli-
tisch sauber fortführen. So hat Schienenverkehr in
Deutschland eine Zukunftschance. Nur so hat Verkehrs-
politik in Deutschland eine Chance, erfolgreich zu sein.
Das Worthat jetzt der Kollege Albert Schmidt vom Bündnis 90/DieGrünen.Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Hier spricht nicht der böse Wolf – Kollege Wolfspricht nachher –, ich bin nur erkältet und bitte Sie umNachsicht, dass ich Sie heute mit einer dunklen Stimmebedrohen muss.
Ich versuche, es dafür umso kürzer zu machen.Ein paar Bemerkungen zu dem Zahlenfeuerwerk, dasder Kollege Fischer abgebrannt hat: Die Güterverkehrs-leistung im DB-Netz ist im vergangenen Jahr exakt um
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Dirk Fischer
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12,8 Prozent gestiegen, davon gut die Hälfte bedingtdurch Zuwächse im Bereich der DB Cargo, die andereHälfte bedingt durch die strategische Zusammenarbeitdes Unternehmens Railion mit den Benelux-Bahnen.Nachdem 40 Prozent des Güterverkehrs auf der Schieneinzwischen auf den grenzüberschreitenden Güterverkehrentfallen, ist es doch gerade der Clou an der Sache, dasswir durch Kooperation mit den Nachbarbahnen mehrMarktanteile bekommen. Das betrifft auch deutscheDestinationen, also deutsche Ziel- und Abfahrtspunkte imdeutschen Netz. Warum soll man denn solche Erfolge ver-schweigen? Wir nennen sie gerne.
Zweiter Punkt: Wenn es so wäre, Herr Kollege Fischer,dass seit 1994 in ausreichendem Umfang in das Netz in-vestiert worden wäre – ich konzediere, dass erheblicheAnstrengungen gemacht wurden, die Entschuldung undalles, was Sie aufgezählt haben, waren richtig dargestellt,es gibt nur in einem Punkt einen erheblichen Dissens –,hätten wir heute nicht die mehr als 2000 Langsam-fahrstellen. Reden Sie doch mit den Lokführern, reden Siemit den Beschäftigten der Bahn. Es kann Ihnen doch je-der bestätigen, woher die Löcher im Netz kommen. Siekommen doch nicht daher, dass zu viel investiert wordenist, sondern weil das Bestandsnetz systematisch auf Ver-schleiß gefahren worden ist. Das ist das Problem, das Sieuns hinterlassen haben.
Deshalb haben wir seit 1998 die Investitionen um50 Prozent gesteigert. Es reicht aber nicht, nur mehr Geldin die Hand zu nehmen, sondern man muss das Geld auchan der richtigen Stelle mit den richtigen Schwerpunktenausgeben.Der zweite Fehler, den wir jetzt korrigieren, war: Dasgroße Geld wurde in einigen wenigen Großprojekten ver-graben, die obendrein noch politisch schöngerechnetwurden. Diese Mehrkosten fallen uns jetzt auf die Füße.Wir haben jetzt auszubaden, was Sie uns an verlogenenBerechnungen hinterlassen haben.Ich möchte in diesem Zusammenhang sagen: Ich binnach wie vor stolz darauf – wenn schon in diesen Tagenvon Stolz die Rede ist, darf ich auch jeden Tag wenigstenseinmal stolz sein, Kollege Hasenfratz –, dass wir es trotzSchuldenabbaus, gigantischer Steuersenkungen durch dieEinkommen- und Unternehmensteuerreform und zusätz-licher Investitionsprogramme wie das ZIP geschafft ha-ben, auch für die Bahn 50 Prozent mehr Mittel zur Verfü-gung zu stellen, als es im letzten Jahr Ihrer Regierungszeitder Fall war. Das ist eine großartige Leistung.
Wir alle wollen – darüber sind wir uns sofort einig,Herr Kollege Fischer – die Investitionsmittel nicht nurüber drei Jahre, sondern über einen längeren Zeitraum aufhohem Niveau verstetigen. Sie haben völlig Recht, HerrKollege Fischer, wenn Sie sagen, dass ein Unternehmenfür die Netzplanung eine mittelfristige Finanzplanungbenötigt, die über einen Dreijahreszeitraum hinausgeht.
Ich möchte noch ein paar Sätze zu den Rahmenbedin-gungen sagen, die sich verändert haben. Die von Ihnen sogescholtene Ökosteuer hat dazu beigetragen – ich sagenicht, dass sie es alleine war –, dass die relativen Markt-chancen des Schienenverkehrs im Vergleich zum Straßen-verkehr heute deutlich besser sind. Das schlägt sich auchin den Marktanteilen nieder. Es gibt im Schienenbereicheine positive Entwicklung bei der Personenverkehrsleis-tung und auch, wie ich schon sagte, bei der Schienenver-kehrsleistung, und das bei gleichzeitig stagnierender bzw.– das habe ich gerade gelesen – sogar rückläufiger Ent-wicklung des PKW-Verkehrs. Das ist ein ermutigendesZeichen.Hinzu kommt die am 1. Januar in Kraft getretene Ent-fernungspauschale. Bahn- und Busfahren lohnen sichjetzt sogar steuerlich. Das haben wir beabsichtigt. Mit dersteuerlichen Privilegierung des Autofahrens ist Schluss.
Der nächste Punkt, den ich ansprechen möchte, ist dieLKW-Maut. Sie wird ein Übriges dazu tun, um die Markt-chancen des Schienengüterverkehrs zu verbessern.Es ist aber mit Recht darauf hingewiesen worden, dasswir jetzt über neue Strukturen diskutieren und entschei-den müssen. Ich möchte den einen oder anderen Grundansprechen, warum wir die Unabhängigkeit des Strecken-netzes von den Verkehrsbetrieben der DB für unverzicht-bar halten. Die DB Netz AG hat heute einen paradoxenAuftrag zu erfüllen: Einerseits soll laut Art. 87 e Abs. 4des Grundgesetzes ein gemeinwohlorientierter Schienen-verkehr gewährleistet werden. Andererseits soll dieDB NetzAG nach Aktienrecht gewinnorientiert, also ren-tabel, arbeiten. Diese beiden Aufgaben sind nicht immerdeckungsgleich. Das ist das Problem. Ein solch paradoxerAuftrag kann letztlich von keinem Bahnchef der Welt – ermag heißen, wie er will – erfüllt werden. Über diesen Wi-derspruch müssen wir diskutieren und wir müssen ihnauflösen. Deshalb sind wir der Auffassung, dass Schie-nenstrecken genauso wie Straßen als Teil einer am Ge-meinwohl und an der Daseinsvorsorge orientierten Infra-struktur prinzipiell nicht in der Verantwortung einesprivaten Verkehrsunternehmens liegen, sondern in öffent-licher Verantwortung bleiben sollen, und zwar dauerhaft.Die Planungshoheit sowie die Trassenvergabe und dieTrassenpreisbildung müssen in der Hand eines unabhän-gigen Netzbetreibers liegen.Den operativen Job, die Bewirtschaftung der Strecken,kann ein privates Eisenbahnunternehmen ohne weiteresmachen, aber dann im Auftrag des Eigentümers und nichtnach eigenem Gusto oder nach eigener Interpretation desgesetzlichen Auftrags. Das ist letztlich der Kern des Pro-blems: Wir brauchen eine klare Verteilung der Rollen zwi-schen Eigentümer – das ist die öffentliche Hand; ich binder Meinung, dass neben dem Bund auch die Länder be-reit sein müssen, Regionalnetze zu übernehmen, inklusive
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Finanzausstattung, und zwar dort, wo nur der klassischeNahverkehr fährt – und den Eisenbahninfrastrukturunter-nehmen, die zwar den operativen Job machen, nicht aberselber entscheiden, wann wo welche Strecke bleibt, aus-gebaut wird oder verschwindet. Das ist der Kern derganzen Auseinandersetzung.Ich bin sehr froh, dass dies alles nun einer ernsthaftenPrüfung unterzogen wird, dass in absehbarer Zeit kon-krete Organisationsmodelle als Vorschläge auf dem Tischliegen werden, über die wir diskutieren können, und dasswir dann hoffentlich gemeinsam einen Lösungsweg prä-zisieren können. Ich wünsche mir an dieser Stelle die glei-che Gemeinsamkeit wie bei der Bahnreform 1994, als wirmit einer breiten Mehrheit die damalige Reform beschlie-ßen konnten; denn nur wenn beides, Investition und Inno-vation, zusammenkommt, werden wir aus der DeutschenBahn und all ihren Konkurrenzunternehmen die erfolg-reichste Bahnlandschaft Europas machen können.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Horst Friedrich von der F.D.P.-Frak-
tion.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Wirdiskutieren heute, in einer für die Entwicklung des Ver-kehrsträgers Schiene in Deutschland durchaus interessan-ten Zeit, über vier Anträge mit unterschiedlichen Ansät-zen. Bevor ich darauf im Einzelnen eingehe, möchte ich,Herr Kollege Schmidt, darauf hinweisen, dass man zweiZahlen auseinander halten sollte. Bei aller Freude überden Zuwachs bei der DB Cargo hat dieser Zuwachs ge-rade ausgereicht, die Verteilung im Modal Split der Ver-kehrsträger in Deutschland für die Bahn nicht zu ver-schlechtern. Das ist ein Status quo.
– Doch, das sind – bei aller Freude – die Fakten.
Ich kann Ihnen auch Folgendes nicht ersparen: Immerwieder hören wir die gleiche Leier, bei der Bahnreformhabe es von Anfang an nie 10 Milliarden DM an Investi-tionsmitteln für die Bahn gegeben.
– Das ist ja nicht wahr. – 1994 standen der Bahn 10 Mil-liarden DM zur Verfügung; davon hat sie 2,4 Milliar-den DM zurückgegeben. 1995 waren 9,9 Milliarden DMim Haushalt vorgesehen. Weil erkennbar war, dass diesesGeld wiederum nicht ausgegeben werden kann, ist 1995sehr viel mit Vorausrechnungen abgedeckt worden;
der verbleibende Rest von immerhin 800 Millionen DMist dann durch die globale Minderausgabe, die wir zu er-bringen hatten, abgedeckt worden. Das geschah abernicht, weil sich die Bahn deswegen nicht gewehrt hätte;die war froh, dass sie das Geld nicht ausgeben musste,denn das konnte sie wiederum nicht. Im Jahre 2000 – da-rauf hat der Kollege Fischer ja schon hingewiesen – sindfaktisch wiederum 1,1 Milliarden DM der zur Verfügunggestellten Investitionsmittel nicht verbaut worden. HörenSie deswegen endlich mit Ihrer Märchenstunde auf, eshätte das Geld nie gegeben!
Es liegt nicht am Geld, es liegt am Nichtumsetzen derBahn. Das ist der eigentliche Punkt.Jetzt aber zu den Anträgen. Ich habe schon mehrfachausgeführt: Die damalige Regierungskommission Bahnhatte bereits darauf hingewiesen, dass die echte Tren-nung von Netz und Betrieb sinnvoll ist. Damals hat mansich mehrheitlich darauf verständigt, dieses heikle Themanicht anzufassen, und zwar zum einem um die Grundge-setzänderung zu erreichen, wofür nun einmal Zugeständ-nisse notwendig waren, und zum anderen um die Pro-bleme, die sich aus dem Zusammenlegen von DeutscherReichsbahn und der damaligen Bundesbahn ergeben ha-ben, nicht noch durch den Versuch, Netz und Betrieb zutrennen, zu überlagern.
Diese Diskussion werden wir aber jetzt führen und es gibtdazu bereits einen Antrag, in dem die Trennung von Netzund Betrieb ganz klar gefordert wird. Dieser Antrag istvon uns und stammt aus dem Februar 2000.
– Das wird Ihnen, Herr Kollege Weis, in aller Kürze vonuns vorgelegt.
Gehen wir nun auf die anderen Anträge ein. Mich er-staunt die in die gleiche Richtung gehende Argumentationvon PDS und CDU/CSU. Dass die PDS einen solchen An-satz verfolgt, überrascht mich dabei nicht;
das ist in der Politik der PDS konsequent. Diese Politikkann man teilen oder nicht, aber sie ist wenigstens konse-quent.
Aber, liebe Freunde von der Union, für die Trennung vonNetz und Betrieb zu sein und gleichzeitig vom Bund zufordern, dass er Schienenfernverkehr bestellt und dannauch noch eine Ausfallgarantie gegenüber der Bahn oderdem Erbringer übernimmt – was nichts anderes bedeutet,als dass der Bundeshaushalt für Betriebsdefizite herhaltensoll –, passt nicht zusammen. Über diesen Punkt solltenwir noch einmal nachdenken.
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Jetzt zum Antrag der SPD. Er ist sehr umfangreich; zurHälfte besteht er aus Vergangenheitsbewältigung, die unsnicht weiterbringt, weil es insofern nur darum geht,Schuldzuweisungen loszuwerden.
Sie drücken sich wiederum um die eigentlich entschei-dende Frage, nämlich um die Frage, ob Sie die Trennungvon Netz und Betrieb wollen oder nicht. Bei Ihnen ist eswie bei der Echternacher Springprozession: einen Schrittvor und zwei zurück – so wie bei Herrn Bodewig. Letzt-lich steht in Ihrem Antrag nichts, was konkret den Wegaufweist.Sie verweisen auf die so genannte Taskforce. Wennman sich einmal die Zusammensetzung dieser Taskforceanschaut, dann stellt man fest, dass ihr unter anderem derStaatssekretär Nagel, der Staatssekretär Tacke und derStaatssekretär Overhaus angehören. Dieselben Personensitzen auch im Aufsichtsrat der Bahn, im Aufsichtsrat desAufsichtsrats der Bahn und jetzt ebenfalls im Aufsichtsratder Taskforce. Was sollen sie denn eigentlich entschei-den? Sollen sie aus der Sicht des Aufsichtsrats der Bahnentscheiden
oder sollen sie aus der Sicht dessen entscheiden, der derBahn eigentlich aufzeigen soll, wie das Ganze funktio-niert? Im Zusammenhang mit Mehdorn habe ich schoneinmal von „Fröschen, die die Sümpfe trockenlegen“ ge-sprochen.Es ist bezeichnend, dass Sie auch die Überlegungen zurÄnderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes zurückge-stellt haben, und zwar angeblich so lange, bis Ihre Task-force Ergebnisse vorgelegt hat.
Ich bin einmal gespannt, wie das Ganze funktioniert.Demnächst ist Herr Mehdorn offensichtlich in derLage, das neue Trassenpreissystem vorzulegen, das erdauernd angekündigt hat.
Ich zitiere aus der „Wirtschaftswoche“:
auf die Schiene zu bringen, rechnen Mehdorns Leutein dem Papier anschaulich vor. So müsse das LandSchleswig-Holstein für die geplante Ausweitung desregionalen Schienenpersonenverkehrs um 2,26 Mil-lionen Zugkilometer nun 15,6 Millionen Mark an dieBahn-Tochter DB Netz zahlen, nach altem Preissys-tem dagegen nur sieben Millionen Mark. Auf dieseWeise, urteilen der Berliner WirtschaftsprofessorHans-Jürgen Ewers und der Hamburger Verkehrs-wissenschaftler Gottfried Ilgmann in einem unveröf-fentlichten Gutachten, verstoße DB Netz gegen daseigene Interesse, Anreize gegen die Ausdünnung vonTaktverkehren zu schaffen und damit das Netz besserzu vermarkten.Es bleibt dabei: Nur wer klar und deutlich sagt, dass esmehr Verkehr auf der Schiene nur dann gibt, wenn dasNetz endlich aus der Bahnholding herausgelöst wird, istauf dem richtigen Weg. Diese klaren Worte vermisse ichvon Ihnen, insbesondere von der Regierungskoalition.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Dr. Winfried Wolf von der
PDS-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsi-dent! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist sicher-lich wichtig, dass wir hier erneut eine Bahndebatte führen.Die vorliegenden Anträge sind sehr interessant. Ichglaube, dass in fast allen Beiträgen der Ernst der Lagenicht ausreichend dargestellt wurde.
Der Kollege Friedrich hat zu Recht darauf hingewie-sen, dass die Bahn große Teile der vorhandenen Summennicht ausgegeben hat. Es stellt sich daher die Frage,warum die Bahn trotz des Privatisierungskurses, trotz derBahnreform nicht in der Lage war, diese Beträge auszu-geben und warum sich insbesondere seit der Bahnreformder Zustand des Netzes dermaßen verschlechtert hat.Auch die Feststellungen von der SPD und von den Grü-nen, dass die Schiene zumindest in der Lage gewesen sei,ihre Anteile am Personen- und Güterverkehr zu halten,lassen sich vor dem Hintergrund der realen Verkehrszah-len nicht rechtfertigen. Die Anteile gingen Jahr für Jahrzurück. Nur im Hinblick auf die Jahre 1999 und 2000kann man behaupten, dass der Anteil stabilisiert werdenkonnte.Ich komme zum internationalen Vergleich.Wenn Sievon der SPD und von den Grünen feststellen, dass dieDeutsche Bahn auf ihrem Schienennetz die mit Abstandhöchste Fahrleistung aller europäischen Bahnen erbringe,dann entgegne ich: Das ist so, als wenn man Äpfel mitBirnen vergleicht. Beispielsweise fahren in der Schweiz,die keinen Privatisierungskurs betreibt, die SchweizerBürger dreimal so viele Kilometer mit der Bahn, obwohldieses Land viel kleiner ist. Damit ist sie – trotz des Feh-lens eines Privatisierungskurses – weit effektiver.Der Hauptgrund für diese Entwicklung besteht darin,dass die Rahmenbedingungen nicht zugunsten der Bahnsind und dass Sie die Bahn weiterhin benachteiligen. Ichkann nicht feststellen, dass es seit 1998 eine qualitativeVerbesserung gibt. Für die Bahn gilt keine Befreiung vonder Mineralölsteuer und kein halber Mehrwertsteuersatz.Dazu kommt der halbe Ökosteuersatz.Die jetzt stattfindende Debatte über die Trennung vonNetz und Betrieb ist teilweise eine Scheindebatte. Prin-zipiell könnte unserer Ansicht nach eine solche Trennung
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Horst Friedrich
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Chancengleichheit herstellen. Sie sagen aber nichts zuden Bedingungen, unter denen die Schiene mit Trassen-schutz insgesamt in Staatshand wäre, sodass sich der Staatdafür genauso wie für Straßen und für Wasserwege ver-antwortlich fühlen würde. Insofern sind die Anträge weit-gehend wie weiße Salbe, die aufgetragen werden soll.Man muss auch berücksichtigen, was die Bahn konkretvorhat. In der nächsten Zeit will die Bahn nicht etwanur einige Gleisanschlüsse stilllegen – so die PlanungMora C –, sondern ein Drittel des Bestandes abbauen. DieBistros im Personenverkehr sollen komplett abgeschafftwerden. Im nächsten Jahr soll der Rabattsatz derBahn-Card halbiert werden. Die Bahn selbst sagt, dass siedamit ungefähr 20 bis 30 Prozent ihrer Bahn-Card-Kun-den verlieren wird. All diese konkreten Vorgaben werdendem Verkehr der Bahn schaden.
Ich glaube, dass das Ganze mit dem Fahrplanwechselam 9. Juni mit dem Interregiosterben noch einmal ge-steigert werden wird, das dann beginnen und im Jahr 2003vollendet werden wird, wenn die Zuggattung Interregiokomplett abgeschafft sein wird, eine Gattung, die bis zumJahre 1995 mehr Fahrgäste auf sich vereinigen konnte alsentweder IC/EC oder ICE und die seit Mitte der 90er-Jahre bewusst kaputtgemacht wird. Sie wissen ganz ge-nau, dass ganze Regionen wie Rostock, Magdeburg,Marburg, Ostfriesland, Friedrichshafen, Lindau, Lud-wigshafen, Trier, Lübeck und Chemnitz mit dieser Politikabgehängt werden.Sie wissen ganz genau, es wird intern eingerechnet,dass mit dem Ersatz für den Interregio keineswegs Real-ersatz geschaffen wird, sondern mindestens 20 Prozentder Interregiogäste wegbleiben werden, dass Nachteileentstehen werden durch gebrochenen Verkehr, weil manumsteigen muss. Sie wissen vor allem genau aus der De-batte vorher, dass Tourismusgebiete in massivem Umfanggeschädigt werden – der Schwarzwald zum Beispiel,Mecklenburg-Vorpommern, Rügen, Oberschwaben –, dienicht mehr an den Fernverkehr angebunden werden.Sie wissen ganz genau, dass die Industrie- und Han-delskammern und Fremdenverkehrsverbände massiv beiIhnen auf der Matte stehen und sagen werden: Das könntihr nicht machen, bei uns den Interregio abzukappen. Des-wegen wird ja immer wieder versucht, Teillösungen dafürzu finden.Der Antrag der CDU zum Interregio wurde faktisch imBundesrat konkretisiert. Der Bundesratsantrag geht wei-ter und wir übernehmen ihn im Grunde. KollegeFriedrich, Ihre Parteifreunde sitzen in der baden-würt-tembergischen Regierung, Baden-Württemberg hat die-sen Antrag mit eingebracht und gesagt, wir wollen einkonkretes Gesetz haben, das den Artikel 87 e des Grund-gesetzes konkretisiert und diese Verkehrsleistungen fest-schreibt.
Deswegen bringen wir den Antrag des Bundesrates un-verändert im Bundestag ein. Einen Kommafehler habenwir korrigiert, aber sonst ist es die gleiche Form. Wir hof-fen auf die gemeinsamen Stimmen von CDU/CSU undPDS.Danke schön.
Für die
Bundesregierung hat jetzt das Wort die Parlamentarische
Staatssekretärin Angelika Mertens.
A
HerrPräsident! Meine Damen und Herren! Erinnern wir unsnoch einmal an die Ziele der Bahnreform und vielleichtauch daran, dass die Bahnreform nicht die Bahnreformder damals schwarz-gelben Regierung, sondern die Bahn-reform des Parlaments war.
– Sie ist mit großer Mehrheit hier verabschiedet worden.Ziele der Bahnreform waren: mehr Verkehr auf derSchiene, Begrenzung der Belastung des Steuerzahlers,Wirtschaftlichkeit der DBAG. Sie war auf zehn Jahre an-gelegt. Jetzt ziehen wir so etwas wie eine Zwischenbilanzund fragen uns erstens, wie weit die Ziele eigentlich er-reicht wurden, und zweitens, was getan werden muss, umdie Ziele zu erreichen, konkret: welche Weichen jetzt ge-stellt werden müssen.Klar muss auch sein: Wenn eine Bahnreform auf zehnJahre angelegt ist, können die Ziele heute noch nicht er-reicht sein, jedenfalls nicht in ihrer Gänze. Deshalb war,denke ich, die Große Anfrage, die gestellt worden ist, sehrwichtig; denn sie verlangt so eine Art politisches Control-ling von uns –, Controlling nicht im Sinne des Kontrol-lierens, sondern im Sinne des Steuerns.Ich glaube, es ist sehr wichtig, die Frage, ob Elementeder Bahnreform neu oder anders miteinander verknüpftwerden müssen, jetzt zu beantworten. Es gibt zwei Ant-worten: mehr Verkehr auf der Schiene mit dem Wettbe-werbsaspekt und Verringerung der Belastung des Steuer-zahlers mit dem Aspekt der wirtschaftlichen Bahn zuverknüpfen.
Wie weit diese Ziele jetzt schon erreicht worden sind,dazu gibt es immer eine subjektive und eine objektive Be-trachtung. Objektiv betrachtet ist die DB AG im Bench-marking nach Beförderungsleistungen – Personen undFracht – die größte Bahngesellschaft Europas. Sie hat einrelativ dichtes, vergleichsweise gut ausgebautes und auchein hochstandardisiertes sowie leistungsfähiges Netz.Subjektiv könnte die DB AG heute anders dastehen, wennin der Vergangenheit – ich sage es einmal – eben nicht sounverantwortlich mit dem Bestandsnetz umgegangenworden wäre.
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Dr. Winfried Wolf15755
Ich habe mir aus dem Pressedienst der CDU/CSU ein-mal etwas herausgesucht. Dort heißt es, dass die neue Ge-samtsumme für Schieneninvestitionen trotz der uner-warteten erheblichen UMTS-Mehrerlöse von 8,7 Mil-liarden DM immer noch weit unter dem Ansatz liegt, dermit 10 Milliarden DM jährlichen Investitionsmitteln füreine erfolgreiche Bahnreform nötig ist und der von derCDU/CSU-geführten Bundesregierung immer gewährlei-stet wurde.“
Frau Kol-
legin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Dr. Ilja Seifert von der PDS-Fraktion?
A
Ja,
bitte.
Herr
Seifert.
Frau Kollegin Mertens, Sie
sprachen gerade davon, dass es eines der Ziele war und ist,
die Bahn für mehr Menschen attraktiv zu machen. Kön-
nen Sie mir vor diesem Hintergrund sagen, wie die Bun-
desregierung die Tatsache bewertet, dass die Deutsche
Bahn AG die von der Deutschen Reichsbahn übernom-
menen Kombiwagen ersatzlos verschrottet, die sehr gut
geeignet sind, behinderten Menschen Gruppenreisen zu
ermöglichen?
A
Es
wurde vorhin schon bemerkt, dass wir die Bahnreform
sehr einvernehmlich beschlossen haben. Gemäß dieser
Bahnreform liegt das operative Geschäft bei der DB AG
und nicht beim Bund. Man kann natürlich immer fragen,
ob man sich diese Regelung gut überlegt hat. Aber man
muss trotzdem festhalten, dass der Bund für das operative
Geschäft nicht verantwortlich ist. Die Bahnreform hat
eine breite Zustimmung gefunden. Wir müssen jetzt end-
lich verinnerlichen, dass wir das operative Geschäft der
Deutschen Bahn AG und ihren Tochterunternehmen über-
lassen haben.
Frau Kol-
legin, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage des Kol-
legen Seifert?
A
Ja.
Bitte
schön.
Ich verstehe ja, dass Sie der
Meinung sind, die Bahn müsse diese Entscheidung selbst
treffen. Aber trotzdem muss doch die Bundesregierung
eine Meinung dazu haben, dass den Menschen mit
Behinderung die einzige Möglichkeit, in Gruppen zu ver-
reisen, dadurch genommen wird, dass die dazu benötigten
Wagen verschrottet werden. Sie werden noch nicht einmal
an Konkurrenzunternehmen verkauft, die diese Wagen
dann einsetzen könnten. Das kann doch nicht im Sinne der
Daseinsvorsorge für behinderte Menschen sein, für die
die Bundesregierung verantwortlich ist.
A
Herr
Kollege Seifert, ich will mich gerne erkundigen, wie die
konkrete Situation ist. Aber es ist nicht wahr, dass die
einzigen Wagen, mit denen Behinderte fahren können,
verschrottet werden.
Sie können als Behinderter die neuen ICEs jederzeit nut-
zen. Ich werde mich aber in dieser Angelegenheit erkun-
digen und in Erfahrung bringen, wie die Situation in Ihrer
Region ist. Der DB AG zu unterstellen, sie würde keine
Möglichkeit für das Reisen von Behinderten bereithalten,
ist allerdings nicht richtig.
Frau Kol-
legin Mertens, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Fischer?
A
Ichmöchte die Frage nicht zulassen, weil ich jetzt im Zusam-menhang vortragen will.Die CDU/CSU hat gesagt, sie habe die benötigten Zu-schüsse immer gewährleistet. Das ist aber nicht richtig.Herr Friedrich sprach davon, diese Mittel seien ein Jahrgewährleistet, aber von der Bahn nicht abgerufen worden.
In diesem Zusammenhang möchte ich bemerken, dass imJahre 1995 der Zuschuss 9,2 Milliarden DM und nicht9,8 Milliarden DM betrug.Ich möchte auch die anderen Zahlen nennen: Im Jahre1997 betrug der Zuschuss des Bundes 6,7 Milliarden DM,im Jahre 1998 5,7 Milliarden DM, im Jahre 1999 7 Mil-liarden DM und im Jahre 2000 6,8 Milliarden DM. Wirstehen also nicht schlechter da als Sie; denn auch Sie ha-ben in den letzten Jahren die Grenze von 10 Milliar-den DM nicht erreicht. Wir wollen aus dem Zukunfts-investitionsprogramm weitere 2 Milliarden DM für dieSchiene geben. Damit liegen wir im Jahre 2001 bei 9 Mil-liarden DM.Objektiv gesehen hat die DB AG einen Rationalisie-rungsrückstau. Subjektiv gesehen muss man einfach fest-stellen, dass die Eisenbahnerinnen und Eisenbahner eineganz hervorragende Leistung vollbracht haben. In den
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Parl. Staatssekretärin Angelika Mertens15756
50er-Jahren haben noch ungefähr eine halbe Million Men-schen in diesem Bereich gearbeitet. Nach der Zusammen-legung von Deutscher Bundesbahn und DeutscherReichsbahn waren es nur noch 345 000; heute sind es220 000 Beschäftigte.Wir sollten alle gemeinsam den Hut vor den Eisen-bahnerinnen und Eisenbahnern ziehen, die, obwohl espraktisch ein Drittel Arbeitnehmer weniger sind, heutesehr viel mehr Leistung als früher bringen.
Der Stellenabbau wird weitergehen und der Bund wirdsich seiner Verantwortung dabei nicht entziehen.Ich will noch einmal auf die Trennung von Netz undBetrieb eingehen. Ich halte diesen Ausdruck für ein we-nig unglücklich, weil er physikalisch schwer zu erklärenist. Er hat sich aber seit den 80er-Jahren so eingebürgert;deshalb muss man ihn wohl auch verwenden. Ich würdelieber von der Neutralität des Netzes sprechen.
Unser Ziel ist die Verdopplung des Güterverkehrs aufder Schiene. Ich gehe davon aus, dass DB Cargo – ichdenke, auch sie geht davon aus – dies allein nicht schaf-fen kann. Schienenverkehr zu betreiben ist teuer undbraucht deshalb eine mittelfristige Perspektive, das heißtInvestoren, aber auch DB Cargo brauchen Sicherheit. Unsgeht es nicht um Wettbewerb um dieselben Gütertrans-portleistungen, sondern um den Wettbewerb mit derStraße. So könnte auch die Straße entlastet werden oderzumindest ihre Belastung nicht weiter überproportionalzunehmen.Die Gewährleistung der Neutralität des Netzes, alsodie Trennung von Netz und Betrieb, ist eine Frage des Wieund des Wann, aber nicht mehr des Ob.
Wir werden klären lassen, welche verschiedenen Organisa-tionsmodelle es gibt und welche Vor- und Nachteile sowieFolgewirkungen sie jeweils haben, besonders im Hinblickauf die unternehmerischen, finanz- und verkehrspoliti-schen Folgen und auch im Hinblick auf das Verhältnis vonBund und Ländern.Durch die zentrale geographische Lage und die direkteVerknüpfung mit den Streckennetzen von neun Nachbar-ländern kommt dem deutschen Bahnnetz, der DB AG undden anderen Eisenbahnunternehmen eine Schlüssel-stellung für die weitere Entwicklung des Schienentrans-portes in Europa zu. Unser gemeinsames Ziel muss dochsein, unsere Unternehmen so gut wie möglich auf ein ver-eintes Europa vorzubereiten. Deshalb begrüße ich denAntrag der Koalitionsfraktionen.Vielen Dank.
Als letz-
ter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt der
Kollege Eduard Lintner von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Sehr geehrter Herr Prä-sident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damenund Herren! Lassen Sie mich eingangs eine Bemerkungzu dem Märchen machen, das hier insbesondere HerrSchmidt immer verbreitet: Die Bahn, die großzügig mitGeldern ausgestattet worden sei, habe diese auch ausge-geben. Es ist schon ein Beispiel erwähnt worden, wo1,1 Milliarden DM zurückgeflossen sind.
Diese hätten beispielsweise im Neubaubereich durchauszusätzlich investiert werden können. Stattdessen habenSie sie zur vorzeitigen Tilgung von Schulden verwendet.Das ist ein Zeichen dafür, dass die Bahn nicht in der Lagewar, sie zeitnah zu verwenden.
Ich habe aber noch ein schönes Beispiel, HerrHasenfratz, – das haben wir ganz genau recherchiert –:Für Lärmschutzinvestitionen wurden 100 Millionen DMim vorigen Jahr vorgesehen und der Bahn zur Verfügunggestellt. Tatsächlich ausgegeben wurden 14 Millio-nen DM. Wir haben nach dem Grund gefragt; die FrauParlamentarische Staatssekretärin hat es uns Gott seiDank schriftlich gegeben; deshalb kann sie dem kaum wi-dersprechen. Laut Verkehrsministerium wurden nur14 Millionen DM ausgegeben, weil es Planungsschwie-rigkeiten bei der Bahn gab.Was sich hier anhand dieses einen Beispiels dokumen-tieren lässt, gilt natürlich auch für ganz andere Größen-ordnungen im Rahmen dieses Paketes von 9 Milliar-den DM.
Geben Sie also nicht mit Beträgen an, die in Wirklichkeitgar nicht genutzt werden können! Sie können zwar15Mil-liarden DM schreiben und damit angeben. Im Endeffektwird es aber dabei bleiben, dass die Bahn pro Jahr ins Be-standsnetz ungefähr 6 bis 7 Milliarden DM – um die An-gabe genauer Zahlen drücken Sie sich ja immer herum –investieren kann. Mehr geht aufgrund der heutigen Pla-nungs- und Entwicklungskapazitäten nicht. Sie müsstenschon andere Maßnahmen ergreifen, damit eine Erhöhungauch wirklich greift.Zurück zum Thema: Der Bundesverkehrsminister undder Vorstand der Bahn haben uns ja in letzter Zeit vieleGründe geliefert, daran zu zweifeln, ob und, wenn ja, inwelchem Umfang sie die Verpflichtung nach Art. 87 eAbs. 4 des Grundgesetzes erfüllen wollen. Dabei geht es– um es auch dem Publikum einmal klar und deutlich zusagen – um die Verpflichtung des Bundes und nichtder Bahn, ein den Erfordernissen des allgemeinen Wohls
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Parl. Staatssekretärin Angelika Mertens15757
entsprechendes Angebot im Schienenpersonenfernver-kehr zu gewährleisten. Das gilt sowohl für das Netz wieauch für den Betrieb.
Deshalb sind Gedankengänge, die darauf hinauslaufen,ein Bestellermodell wie im Nahverkehr einzuführen, garnicht so abwegig. Denn die Verpflichtung können Sie inanderer Form unter Umständen gar nicht einlösen. Aberda sind wir diskussionsbereit und offen.
Dass die Zweifel berechtigt sind, zeigt beispielsweisedie Tatsache, dass die DB AG entschlossen ist, mit demInterregio ein wichtiges Zugangebot aus dem Fernver-kehr der Bahn zu streichen, ohne dass ein Ersatz dafür inSicht wäre. IC und ICE können ihn nicht ersetzen. Auchder regionale Verkehr ist dazu nicht in der Lage. Sie ken-nen seine Nachteile:
Man muss oft umsteigen und gerade Familien mit Kin-dern, ältere Menschen mit viel Gepäck oder allein fah-rende Kinder sind da natürlich stark benachteiligt. Des-wegen ist er kein Ersatz, auch wenn Sie ihn gelegentlichso anpreisen.Den zweiten Grund zum Zweifeln liefert die Bundes-regierung selber, weil sie sich nämlich beharrlich weigert,der Bahn endlich die verlangte Planungssicherheit überdas Jahr 2003 hinaus zu geben.
– Herr Weis, Sie hätten sich Ihren jetzigen Antrag glattsparen können, denn diese entscheidende Frage haben Siewieder nicht beantwortet. Wieder sprechen Sie nur vonder finanziellen Gewährleistung bis zum Jahre 2003. AberHerr Mehdorn hat es Ihnen jetzt schon so oft gesagt – undwir können uns auf ihn berufen –: Wenn man Investitio-nen im Bereich der Schiene vornehmen will, dann ist einPlanungszeitraum bis 2003 zu gering. Dafür kann mankeine Kapazitäten aufbauen.
Das heißt, Sie lassen die Bahn im Stich und bieten nichtdie notwendige Planungs- und Finanzierungssicherheit,um unsere Zweifel an der Gewährleistung des Grundge-setzauftrages zu zerstreuen.
Es gibt deshalb viel Anlass, die Initiative der beiden Bun-desländer Bayern und Baden-Württemberg zu begrüßen,
die zum Ziel hat, diese Gewährleistungsansprüche da-durch zu konkretisieren, dass künftig ein Schienenperso-nenfernverkehrsvolumen von 180 Millionen Kilometernpro Jahr gewährleistet wird. Damit entsprechen die beidenLänder außerdem einer grundgesetzlich niedergelegtenPflicht. Denn es heißt in Art. 87 e Abs. 4 ausdrücklich,dass das Nähere ein Bundesgesetz regelt. Sie haben dasbisher nicht getan.
Herr Kol-
lege Lintner, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Schmidt?
Bitte schön.
Bitte
schön, Herr Schmidt.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Herr Kollege Lintner, ich habe eine Frage zu
Ihrem Antrag, nach dem die 180 Millionen Zugkilometer
im Fernverkehr durch Bestellung gewährleistet werden
sollen. Wenn es so ist, dass ursprünglich geplant war,
19 Millionen Interregiokilometer abzuschaffen – faktisch
sind bisher noch nicht einmal 10 Millionen abgeschafft
worden und selbst die, die abgeschafft worden sind, sind
durch ICE, IC oder Regionalexpresse ersetzt worden –,
rechtfertigt dann die Kürzung dieser ohne Zweifel behal-
tenswerten Zugangebote gleich die Forderung, das ge-
samte Angebot im Fernverkehr, inklusive ICE und IC, also
sämtliche 180 Millionen Zugkilometer, auf Kosten des
Bundes zu bestellen und damit auch vom Bund bezahlen
zu lassen? Denn was kostet Ihr famoser Antrag den Bund?
Herr Kollege Schmidt,da müssten Sie sich allerdings an eine Änderung desGrundgesetzes heranwagen.
Denn die Verpflichtung, einen entsprechenden Schienen-personenfernverkehr aufrechtzuerhalten, steht im Grund-gesetz. Das ist keine Erfindung von uns.
– Gut, es heißt nicht: 180 Millionen Kilometer; darüberkann man sicher trefflich streiten. Ich will auch nicht ab-lehnen, dass darüber noch einmal geredet werden kann.Aber die gesetzlich formulierte Konkretisierung diesesGrundgesetzartikels
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Eduard Lintner15758
vermissen wir und mahnen wir an.
– Was heißt „ihr vergessen“? Der Gesetzentwurf der bei-den Länder liegt jetzt vor und wenn Sie meinen, dass dasein berechtigter Wunsch ist, dann hindert Sie niemand da-ran, ihm zuzustimmen.
Sie können aus der ganzen Diskussion in der Tat viel Un-sicherheit herausnehmen, wenn Sie sich einfach dazu be-kennen und sagen: Jawohl, wir stimmen dieser Geset-zesinitiative zu. Wir sind aber nicht für 180 Millionen Ki-lometer, sondern für 160 Millionen Kilometer. – Darüberkann man sicher reden. Aber wenn Sie die gesetzlicheVerpflichtung mittragen würden, wäre das höchst will-kommen.Meine Damen und Herren, im Übrigen sind viele IhrerZusagen an die Bahn Lippenbekenntnisse geblieben. Wirnehmen Ihnen einfach nicht ab, dass es tatsächlich ernstgemeint ist, was Sie hier dauernd beteuern, solange SieIhre „ernsthaften Absichten“ nicht in konkrete, im Haus-halt ausgewiesene Zahlen umsetzen. Hier geht es darum,dass Sie der Bahn ausreichende Mittel zur Verfügung stel-len, damit sie das, was Sie von ihr ständig verlangen, auchverwirklichen kann. Daran mangelt es bis heute. Ihr An-trag hilft uns jetzt überhaupt nicht weiter, sondern ist eineLuftnummer, die Sie früheren Luftnummern einfach hin-zufügen. Werden Sie konkret, dann sind wir gern mit vonder Partie.Vielen Dank.
Ich
schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Über-
weisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/5665,
14/5451, 14/5666 und 14/5662 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vor-
lage auf Drucksache 14/5665 soll außerdem mitberatend
an den Haushaltsausschuss überwiesen werden. Sind Sie
damit einverstanden? – Ich sehe keinen Widerspruch.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Horst Friedrich , Hans-Michael
Goldmann, Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Referenzstrecke für den Transrapid
– Drucksachen 14/2734, 14/4025 –
Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
F.D.P. vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
F.D.P. sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wi-
derspruch. Dann ist es beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Horst Friedrich für den Antragsteller, die F.D.P.-
Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Ei-gentlich ist ein Teil dessen, was in der Antwort der Bun-desregierung auf unsere Große Anfrage zur Referenz-strecke für den Transrapid angekündigt worden ist,mittlerweile zumindest teilweise geklärt. Das liegt abernicht daran, dass wir unsere Anfrage zu spät gestellt hät-ten, sondern daran, dass die Geschäftsführung es fertiggebracht hat, dass unser Antrag vom Februar 2000 fastunmittelbar danach, nämlich 13Monate später, endlich imDeutschen Bundestag debattiert werden kann. – So vielzur Einführung.Das, was noch nicht geklärt ist, was aber im Interesseeiner Investitionssicherheit sowohl für die Industrie alsauch für die Versuchsanlage im Emsland sowie die an ihrBeteiligten und vor allem von ihr Betroffenen geklärt wer-den kann, das steht in unserem Entschließungsantrag.Bezeichnenderweise ist das Wort von Dieter Vogel– damals noch in seiner Eigenschaft als Vorstandsvorsit-zender von Thyssen – wahr geworden, dass wir wahr-scheinlich gezwungen sein werden, Erfahrungen mit derTechnik des Transrapid aus, mit Verlaub, Entwicklungs-ländern zurückzukaufen. Als ich diese Äußerung vonHerrn Vogel hier vortrug, hat der Kollege Schmidt damalsin einem Zwischenruf gefragt: Merken Sie eigentlichnicht, wie peinlich diese Einlassung ist? Herr Schmidtmüsste sich im Nachhinein sowohl bei Dieter Vogel alsauch bei mir entschuldigen, denn dies ist tatsächlich ein-getreten. Der Transrapid wird – man kann hinzufügen:Gott sei Dank – in China gebaut, und zwar wahrscheinlichsehr viel schneller, als er bei uns gebaut werden könnte,und wir werden, ob es uns nun gefällt oder nicht, für un-sere Referenzstrecken, sobald sie denn ausgewählt seinwerden, die Testerfahrungen aus dem Emsland um diePraxiserfahrungen ergänzen müssen, die auf der Streckezwischen Schanghai und dem Flughafen von Schanghaigemacht werden. Ich fürchte, dass uns dieser Know-how-Transfer über die Kosten hinaus, die wir für den Bau derStrecke in China zuwenden müssen, noch einiges Geldkosten wird.Die Zeitungsstimme dazu trifft es vielleicht noch vielbesser: Ein wenig peinlich ist das Ganze schon.
Da wird im Hightechland Deutschland über mehr als20 Jahre hinweg mit einem Milliardenaufwand ein völligneues Verkehrssystem entwickelt und als dieses Systemendlich einsatzreif ist, wird es in der öffentlichen Diskus-sion zerredet und – dies füge ich hinzu – in anderen Be-reichen umgesetzt.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001
Eduard Lintner15759
Das ist eigentlich immer die Tendenz bei neuen Tech-niken in Deutschland. Ich habe in einer meiner ersten Re-den zum Transrapid 1994 darauf hingewiesen, dass auchdas Fax-Gerät in Deutschland erfunden wurde, aber in Ja-pan gebaut und umgesetzt worden ist, und dass die Nei-getechnik bei den Zügen in Deutschland entwickelt underfunden wurde und wir sie von Italien zurückkaufenmussten. Ich habe damals hinzugefügt: Ich hoffe, dass dasbeim Transrapid nicht passiert. Dies ist aber eingetreten.Was noch offen ist – das ist eigentlich die Aufgabe vonRot-Grün und an deren Erfüllung lege ich die Messlattefür die Glaubwürdigkeit an –, ist die Auswahl und dieschnelle Umsetzung der Referenzstrecken in Deutsch-land. Leider wird der Transrapid nur als Nahverkehrszugeingesetzt, obwohl er, um Klaus Daubertshäuser, denhoch geschätzten Kollegen, den Sie alle hoffentlich nochkennen, und sein Buch zu zitieren, eigentlich entwickeltworden ist, um als Verkehrsmittel im Fernverkehr einge-setzt
und nicht als Vorortzug missbraucht zu werden.Sie müssen sich endlich dazu durchringen, zu sagen,wo Sie den Transrapid in Deutschland einsetzen möchten,wenn diese Aussage von Ihnen noch gilt, was ich hoffe.Sie haben immer erklärt: Wir sind nicht gegen die Tech-nik Transrapid. Wir hatten nur etwas gegen die Streckevon Hamburg nach Berlin.
Ich bin gespannt, ob sich diese Haltung noch verfestigt,wenn sich zum Beispiel die Niederländer dafür entschei-den – noch befinden sie sich ja im Prüfungsstadium –, dieStrecke für den Transrapid von Amsterdam nach Gronin-gen zu bauen, und vielleicht eine Verlängerung von Ham-burg nach Berlin angedacht wird. Dann werden wir diesesThema erneut auf den Tisch bekommen. Ich bin gespannt,wie Sie sich dann verhalten werden.
Die eigentlich entscheidende Frage, die Sie mit derVorlage des nächsten Haushalts beantworten müssen, ist,welche Zukunftspläne Sie mit der Versuchsanlage für denTransrapid in Lathen haben. Der Vertrag, der dazu abge-schlossen ist, läuft bis zum 30. Juni 2002; er ist bishernicht verlängert worden. Sie haben es mit der Wahl diesesZeitpunkts geschafft, den EXPO-Zeitraum zu über-brücken. Die Transrapid-Versuchsanlage ist ein Außen-standort. Aber die Leute, die dort arbeiten, sind hoch qua-lifiziert und haben langfristige Verträge. Sie müssten sichin der Zwischenzeit neu orientieren. Deshalb brauchen sieendlich Planungssicherheit.Wenn es denn tatsächlich Sinn machen sollte, dieTransrapidtechnik auch in Deutschland einzusetzen – dasist ja Ihr Ziel –, dann muss jetzt klar sein, was ab dem1. Juli 2002 in Lathen passiert, wer dort noch arbeiten darfund vor allen Dingen, welche schon lange notwendigenVeränderungen an der Versuchsanlage vorgenommenwerden.Die letzte Forderung, die wir stellen: Der Transrapidist, wenn Sie glaubwürdig sind, was Sie uns dauernd er-klären, in die Bundesverkehrswegeplanung einzubezie-hen, und zwar spätestens mit der Fortschreibung desneuen Bundesverkehrswegeplanes.
Da dies aber erst nach der Bundestagswahl stattfindet,können wir es vielleicht auch selbst umsetzen.Herzlichen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Reinhold Hiller von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Herr Kollege Friedrich, Siehaben Recht: Niemand weiß so recht, weshalb es heutediese Debatte zum Transrapid geben muss; denn die Fra-gen sind bereits vor gut einem Jahr von der Bundesregie-rung beantwortet worden – scheinbar auch zu Ihrer Zu-friedenheit, da Sie keine weiteren Fragen gestellt haben.
Ich habe den Eindruck, dass die F.D.P. den Entschei-dungen der Verantwortlichen immer hinterherhechelt.Deshalb wird dies hier immer wieder zu einem Thema.
So ist zum Beispiel die ursprünglich geplante Verbin-dung zwischen Hamburg und Berlin, die erneut zu ei-nem Thema geworden ist, hier schon sehr oft besprochenworden. Die Haltung der Bundesregierung und auch derSPD-Fraktion wird bestätigt, wenn man sich nur einmaldas Verkehrsaufkommen vor Augen hält. Man kann sichauf dieser Strecke ohne Schwierigkeiten alleine im Zug-abteil aufhalten, wenn man keine Kommunikationwünscht, was ja auch ein Vorteil der Eisenbahn ist; denndiese Züge sind leer. Wenn ich mir vorstelle, dass zehn-mal so viele Personen diese Strecke mit dem Transrapidbefahren sollten, kann ich nur sagen: Es gibt Menschen,die etwas aus Fehlern lernen, aber es gibt auch Menschen,die unbelehrbar sind. Dazu zählt in diesem Fall die F.D.P.,was die Strecke Hamburg–Berlin für den Transrapid be-trifft.
Wenn Sie diese Technik ernsthaft favorisieren, dürfenSie auf keinen Fall an solchen Ideen festhalten. Dennwenn nach Ihren Planungen und nach den Vorstellungendes Konsortiums diese Strecke im Jahr 2003 fertig gestelltwäre, müsste bereits nach wenigen Monaten Konkurs an-gemeldet werden, weil das prognostizierte Aufkommenüberhaupt nicht realisierbar ist. Wenn Sie diese Technikwollen, müssen Sie die Verfahren unterstützen, die ein-vernehmlich zwischen dem Konsortium, also der In-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001
Horst Friedrich
15760
dustrie, und der Bundesregierung entwickelt worden sind,so wie wir das tun.Es liegt auch nicht im Interesse der Bahn, die Transra-pidstrecke Hamburg–Berlin wie einen Klotz ans Bein ge-bunden zu bekommen. Dies wäre zum Schaden derBahn AG gewesen. Wir sind Herrn Mehdorn dankbar,dass er in diesem Fall die Notbremse gezogen hat. Das hatuns vor Schaden bei der Eisenbahn, aber auch bei derTransrapidtechnik bewahrt.
Zur Politik gehört auch, dass man für Einsichten emp-fänglich ist. Das – so muss ich leider sagen – vermisse ichheute nicht zum ersten Mal, sondern das ist schon häufi-ger der Fall gewesen.Die Bundesregierung hat ihren Beitrag zur Förderungdieser Technik geleistet. Sie haben nicht von dem gespro-chen, was in China vereinbart wurde. – Wenn Sie jetzt ander Regierung wären, hätten Sie ein Hosianna ange-stimmt, aber jetzt ist Ihnen das keinerlei Erwähnungwert. – In China besteht die Möglichkeit, diese Technikauch in der Praxis zu erproben, und dort wohnen mehrMenschen als in der Norddeutschen Tiefebene. Das mussman einmal so nüchtern feststellen. An diesen Faktenkommen wir nicht vorbei.
Ich erinnere an die Vereinbarung des VerkehrsministersKlimmt mit dem damaligen amerikanischen Verkehrs-minister Slater. Bei solchen Unternehmungen wird ver-sucht, Elemente der Verkehrspolitik mit der Industriepo-litik zu verbinden, so wie es bei Ihnen ursprünglich auchder Fall war. Aber Sie halten jetzt ausschließlich an altenZöpfen fest.Es gibt weitere positive Elemente, die von entschei-dender Bedeutung für den Technologiestandort Deutsch-land sind. Wir sind vorangekommen. Bei der alten Bun-desregierung war es immer so, dass unmittelbar vor einerDebatte im Bundestag das große Interesse von fast jedemStaat auf der Welt am Transrapid beschworen wurde. Lei-der musste man dann feststellen, dass fast all das wie eineSeifenblase zerplatzte. Wenn man die konkrete Entwick-lung betrachtet, muss man feststellen, dass die neue Re-gierung auf diesem Gebiet wesentlich weiter vorange-kommen ist.Sie haben auch in der Antwort auf Ihre Große Anfragefestgestellt, dass es jetzt fünf konkrete Projekte gibt.Dazu möchte ich angesichts der Erfahrungen mit derStrecke Hamburg–Berlin eine Bemerkung machen. DieTechnik des Transrapid ist nicht dazu bestimmt, einenFlughafen mit einer Innenstadt zu verbinden, jedenfallslangfristig nicht.
– Nun bleiben Sie einmal ganz ruhig! Was Sie in diesemZusammenhang geleistet haben, ist nichts.
Es geht jetzt um den Antrag der F.D.P. und um die Beant-wortung der Großen Anfrage, Herr Fischer. Es wäre gut,wenn Sie nachher bestätigen könnten, was ich über dieAuslastung der Eisenbahnverbindung zwischen Hamburgund Berlin gesagt habe; denn Sie sind auch sehr häufigFahrgast auf dieser Strecke. Ich bin gespannt, ob Sie daehrlich sein werden; denn dann werden Sie zu anderenErkenntnissen kommen.Ich wollte in einem Punkt in der Tendenz gern HerrnFriedrich Recht geben: Die Technik des Transrapid ist fürlange Distanzen bestimmt, da kann sie ihre Vorzüge vollausspielen. Ich meine aber, wenn sich die kürzerenStreckenführungen bewähren werden, wird auch der Ein-stieg in lange Verbindungen möglich. Das kann man abernicht von vornherein tun, wenn die Praxiserfahrung nochfehlt.In Japan hat man dies intelligenter gelöst, indem mandie Referenzstrecke dort angesiedelt hat, wo nachher diebevölkerungsreichsten Gegenden miteinander verbundenwerden, sodass die Investitionen letztlich nicht in Gänzeverloren sind.In Bezug auf die neuen Projekte wird noch in diesemJahr eine Entscheidung getroffen werden. Das hoffe ichjedenfalls.Darüber hinaus, Herr Friedrich, werden Sie bei dennächsten Haushaltsberatungen feststellen, dass auch Geldfür Lathen vorhanden sein wird. Bis dahin ist es nichtnotwendig, dass Sie erneut eine Große Anfrage stellenoder eine Debatte zu diesem Thema beantragen.
– Natürlich können Sie das machen. Aber es bringt in derSache nichts. Sie können machen, was Sie wollen. Bisherhatte ich immer geglaubt, dass Sie mit Ihrer Politik derSache dienen wollen. Diesen Eindruck habe ich heute beiIhrer Rede leider nicht gehabt.
Es ist eine sorgfältige Prüfung aller Studien notwendig.Hamburg und Berlin haben von Ihrer Idee, dort eine Trans-rapidverbindung zu schaffen, nicht profitiert. Die Eisen-bahnverbindung ist im Vergleich zu anderen größerenStädten der Bundesrepublik die schlechteste, weil manversucht hat, eine Konkurrenz zum Transrapid frühzeitigzu vermeiden. Diese falsche Politik hat sich zulasten vonBerlin und Hamburg ausgewirkt. Deshalb freut es mich,dass mehr als 1 Milliarde DM investiert wird, um die Ge-schwindigkeit auf dieser Strecke auf über 200 Stundenki-lometer zu bringen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001
Reinhold Hiller
15761
Herr Kol-
lege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Fischer?
Nein, ich bin am
Ende meiner Ausführungen. Ich möchte nur noch mein
Schlusswort sagen.
Insgesamt gesehen – das hat die Bahndebatte gezeigt –
ist die Bahn bei der neuen Bundesregierung in guten Hän-
den. Auch die Technik für den Transrapid ist bei der rot-
grünen Regierung in guten Händen.
Herzlichen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Hermann Kues von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Hiller, ir-gendwie hat der Transrapid doch noch etwas mit Logik zutun. Sie haben eben gesagt, die Technik des Transrapid seifür lange Distanzen ausgelegt. Im gleichen Atemzug re-den Sie vom Metrorapid in Nordrhein-Westfalen. Viel in-tensiver tut das der dortige Ministerpräsident. Das passtalles nicht zusammen.
Das wird auch nicht die letzte Transrapiddebatte imBundestag sein. Der F.D.P.-Antrag ist schon etwas älter;er ist nicht eher beraten worden. Dafür gibt es vieleGründe. Der entscheidende Grund dafür ist – das müssenSie zur Kenntnis nehmen; das müssen wir immer wieder-holen –, dass es in der Koalition von SPD und Grünen rie-sengroße Widersprüche beim Thema Transrapid gibt.
Sie fahren kreuz und quer durch die Republik und er-zählen den Menschen mal dieses und mal jenes, je nach-dem, was gerade gut ankommt. Der Transrapid – deswe-gen werden wir es immer wieder thematisieren – ist undbleibt ein Paradebeispiel dafür, wie SPD und Grüne mitneuen, zukunftsweisenden Technologien, in diesem FallVerkehrstechnologien, umgehen. Reden, auch hier imBundestag, Herr Kollege Schmidt, ist das eine. Die Tatsa-chen sind das andere.
Ich habe mich manchmal gefragt, was der Verkehrsmi-nister, der 1969 im Amt war – das war Georg Leber –, undder damalige Finanzminister – das war Helmut Schmidt –,die damals die Grundentscheidung für den Transrapidgetroffen haben, wohl dazu sagen würden, dass drei Jahr-zehnte später die Nachfolgegenossen nicht nur eine vollkonzipierte Planstrecke Hamburg–Berlin kippen und350 Millionen DM Planungskosten sprichwörtlich in denSand setzen, sondern dass sie sich erneut mit großem öf-fentlichen Buhei und einem kaum glaublichen Hin undHer Gedanken über eine neue Referenzstrecke machen,die plötzlich wirtschaftlicher sein soll und für die man,wenn man den Erklärungen Glauben schenken darf, vonvornherein öffentliche Mittel in begrenzter Höhe einsetzt.Wie das alles funktionieren soll und was die sich ange-sichts der heutigen Situation wohl denken würden, daswürde mich interessieren.Ende der 80er-Jahre gab es in Niedersachsen einenMinisterpräsidentenkandidaten, der Gerhard Schröderhieß. Der hat damals die Anwohner an der zu diesem Zeit-punkt in Aussicht genommenen Referenzstrecke Ham-burg–Berlin, und zwar Ort für Ort und Dorf für Dorf, be-sucht und hat gesagt, es gebe keine wirtschaftlichenGründe gegen den Transrapid, aber aus Umweltgründenkönne man ihn nicht akzeptieren. Ende der 90er-Jahrewurden diese Umweltgründe nicht mehr aufrechterhalten.Jetzt wurden plötzlich wirtschaftliche und finanzielleAspekte ins Feld geführt.Sie schenken den Menschen keinen klaren Wein ein,weil Sie nicht wissen, was Sie wollen sollen. Ihr Redenund Handeln wird ausschließlich von vordergründigemOpportunitätsdenken bestimmt. Das war schon bei derKernenergie so; darüber haben wir heute Mittag disku-tiert. Die Quittung für dieses Auf-den-Arm-Nehmen derMenschen bekommen Sie aktuell im Wendland.Ich befürchte, dass das bei der Magnetschwebebahn-technik nicht anders sein wird. Ich will das am Beispielder Diskussion über die Referenzstrecke belegen – denndazu hat die F.D.P. einen Entschließungsantrag einge-bracht –: Im Mai und dann wieder im September 2000 er-klärte zum Beispiel die niedersächsische Landesregierung– ich habe sämtliche diesbezüglichen Zeitungsausschnittedabei –, es spreche vieles dafür, dass als eine von zweimöglichen Referenzstrecken die Strecke Leer–Olden-burg–Bremen–Hamburg, die über Groningen nachSchiphol weitergeführt werden soll, ausgewählt werde.Die Entscheidung falle noch im Jahr 2000. Der damaligeVerkehrsminister hieß Klimmt; Sie kennen ihn hoffentlichnoch. – Das war also im September 2000.Am 23. Januar 2001 erklärte der aktuelle Verkehrsmi-nister, zwei Streckenführungen oder zwei Standorte wür-den nicht nur einer zügigen, sondern – man höre undstaune – einer vertieften Machbarkeitsstudie unterzogen,nämlich der Metrorapid in Nordrhein-Westfalen, alsodie Strecke von Düsseldorf nach Dortmund, und die An-bindung des Münchener Flughafens an die MünchenerInnenstadt. Beide Projekte seien aus einer Anzahl vonvon anderen Bundesländern angemeldeten Projekten aus-gewählt worden. Auch daran könne man schon erkennen– so wurde das „vertieft“ begründet –, dass es sich um ei-ne vertiefte Machbarkeitsstudie handele. – Das war am23. Januar 2001.Am 24. Januar, einen Tag später, berichtete der von mirgeschätzte SPD-Kollege Reinhold Robbe aus Ostfries-land nach einem Gespräch mit Minister Kurt Bodewig, inKürze könne auch die Trasse Amsterdam–Gronin-gen–Bremen–Hamburg wieder in die engere Wahl kom-men. Wörtlich sagte er:
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Ich habe in der SPD-Bundestagsfraktion zahlreicheVerbündete, die mit mir diese Sache bis Hamburgdurchziehen wollen.
Weiterhin sagte er, dass Herr Bodewig der Region in ab-sehbarer Zeit diesbezüglich einen Besuch abstattenwerde. Der Besuchstermin steht mittlerweile fest. Da wirdman sich überlegen, ob man die Strecke bis Hamburgbauen will.Am 3. März dieses Jahres, also nicht einmal zwei Mo-nate später, kam Ministerpräsident Clement mit einemTross von rund 100 Begleitern in einem Sonderwagen desInterregio zur Versuchsstrecke ins Emsland, um sich denTransrapid anzusehen. Bahnchef Mehdorn war auch da-bei. – Er ist übrigens nicht mit der Bahn angereist, son-dern mit dem Hubschrauber.
Das ist ein Hinweis darauf, wie die Verkehrsverbindungenzu etwas entlegeneren Gebieten sind. – Dieser hat dort er-klärt, die Bahn werde gemeinsam mit dem Bund und demLand das Projekt realisieren. Mit der herkömmlichenRad-Schiene-Technik seien die Herausforderungen desVerkehrs in Zukunft nicht mehr zu bewältigen.
Derselbe Herr Mehdorn hatte noch im Januar 2000 imAusschuss erklärt, er könne den Transrapid in einer dichtbewohnten Region wie Deutschland nicht gebrauchen.Herr Clement hat im Hinblick auf die Finanzen erklärt– dazu haben Sie, Herr Hiller, nicht das gesagt, was hättefestgestellt werden müssen; Sie haben zwar etwas zur Ver-suchsstrecke im Emsland, aber nichts zu den Finanzen ge-sagt –, die gesamte Strecke koste 7,2 Milliarden DM.2,7 Milliarden DM müssten aus privaten Kassen fließen.Insgesamt 4,4 Milliarden DM erhoffe er sich vom Bund,90 Millionen DM wolle man vom Land – eine solcheSumme vom großen Land NRW! – beisteuern.
Herr Clement sagte weiter: Für den Fall, dass sich derBund darüber hinaus auch für den Bau der Flughafenver-bindung München durch den Transrapid entscheidensolle, müssten die Bundesmittel entsprechend aufgestocktwerden. Bereits im April dieses Jahres – April haben wirja in Kürze – werde eine deutsche Großbank ihr Finanz-gutachten vorstellen. Der Transrapid sei ein Quanten-sprung in der Verkehrstechnik. – Das war am 3. März die-ses Jahres.Am 15. März erklärte der niederländische Ministerprä-sident Kok dem niedersächsischen MinisterpräsidentenSigmar Gabriel, mit dem Bau der Transrapidstrecke Gro-ningen–Hamburg könne es erst etwas werden, wenn dieFinanzen geklärt seien. Herr Gabriel zeigte sich „in ge-wisser Hinsicht erleichtert“, dass Den Haag noch nichtendgültig entscheiden wolle. Am 16. März erklärte der-selbe Herr Gabriel – ich glaube, im Landtag –, die Chan-cen für den Bau einer Transrapidstrecke vom niederländi-schen Groningen über Leer und Oldenburg nach Hamburgseien gestiegen. Er rechne natürlich mit einer finanziellenUnterstützung von Bund und Europäischer Union; dennbeim Nord-Transrapid – so nennt er ihn – sei die euro-päische Dimension interessant.
Das alles – ich könnte noch weitere Beispiele anfüh-ren – spielt sich ab, ohne dass auch nur im Ansatz geklärtist, wie das Ganze finanziert werden soll, wie es plane-risch umgesetzt werden soll. Sie nehmen die Menschenauf den Arm.
Und solange Sie die Menschen auf den Arm nehmen, wer-den wir das hier zum Thema machen; denn das, was Sie inder Öffentlichkeit, von München über Düsseldorf bis nachHannover, vortragen, muss auch hier erörtert werden.Herr Hiller, Sie wissen ganz genau, dass sich der Ham-burger Senat noch kürzlich für die Strecke Hamburg–Ber-lin ausgesprochen hat. Sie wissen auch ganz genau, dassSie seinerzeit einen Antrag eingebracht haben, nicht eineStrecke von Hamburg bis Berlin, sondern eine Strecke vonHamburg bis zum neuen Flughafen Schönefeld anzubieten.Ihre Argumente passen nicht zusammen. Sie führen dieMenschen an der Nase herum, das ist das Ärgerliche.
Sie wollen im Grunde genommen nicht zugeben, dass dasKippen der Strecke von Hamburg nach Berlin eine gran-diose Fehlentscheidung gewesen ist. Diese Entscheidungist nicht nach sachlichen Gesichtspunkten getroffen wor-den, sondern nach rein ideologischen.Über die Wirtschaftlichkeit reden wir, wenn ich Ihre Mi-nisterpräsidenten ernst nehmen kann. – Hier wurde gesagt,das könne im Landtag von Hannover diskutiert werden. –Ihre Ministerpräsidenten, Herr Clement und Herr Gabriel– letzterer wurde vom Bundeskanzler sogar als sein poten-zieller Nachfolger dargestellt; er wird uns hier irgendwannnoch blühen –, kündigen in ihren Ländern an: Es kommenMilliardensummen vom Bund. Wenn ich Ihre Minister-präsidenten ernst nehme – das tue ich jetzt einmal –, dannmüssen Sie sich schon die Frage gefallen lassen, wie Siedas in die Finanz- und Haushaltsplanung einstellen wol-len und wie das überhaupt in den Bundesverkehrswegeplaneingebaut werden soll. Die Öffentlichkeit hat einen An-spruch auf Beantwortung dieser Frage.
Ich sage noch einmal ganz klar: Die Art und Weise, wiedie Bundesregierung und auch Sie seitens der SPD undder Grünen mit der Magnetschwebebahntechnik umge-hen, ist ein Trauerspiel. Es ist technologiepolitisch einTrauerspiel. Es ist verkehrspolitisch ein Trauerspiel. Es istumweltpolitisch ein Trauerspiel.Herzlichen Dank.
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Dr. Hermann Kues15763
Als
nächster Redner hat der Kollege Albert Schmidt vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-
legen! „Ein Trauerspiel“ habe ich gerade gehört. Ich
finde, was Sie mit dem Thema inzwischen machen, ist
eine Posse.
Womit würden wir unsere Donnerstagabende hier im Ple-
num füllen, wenn es das Thema Transrapid einmal nicht
mehr gäbe?
Was uns hier jetzt vorliegt, ist eine Große Anfrage der
F.D.P., die zehn Fragen umfasst. Als ich noch in der Op-
position war, nannte man so etwas eine Kleine Anfrage.
Die Bundesregierung hat, wie ich finde, präzise, kurz
und knackig geantwortet, und zwar schon im Au-
gust 2000. Alles, was dort steht, ist längst durch alle Zei-
tungen gegangen. Ich habe die Sache gedreht und gewen-
det, ich habe mir überlegt: Was könnte ich Neues in der
Debatte sagen, was nicht schon gesagt wurde? Ich muss
sagen: Mir ist nichts eingefallen. Wenn ich etwas Neues
hätte, hätte ich zudem keine Stimme, um Ihnen das mit-
zuteilen.
Deswegen verzichte ich auf den Rest der Redezeit und
wünsche Ihnen einen schönen Abend.
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Winfried Wolf von
der PDS-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsi-
dent! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mir
etwas Ähnliches überlegt,
aber dann, als der Kollege Dr. Kues gesprochen hat, ge-
dacht, dass es doch etwas Neues gibt. Das Neue besteht
darin, dass nicht die SPD und die Grünen jemanden an der
Nase herumführen und auch vorher, in den Jahren 1969
bis 1999, die Herren Leber, Wissmann, Krause, Müntefering
und Klimmt niemanden an der Nase herumgeführt haben.
Vielmehr war die Industrie, die hinter diesem Projekt
steht, in der Lage, jahrzehntelang diversen Parteien, Re-
gierungen, Verkehrsministern und der Öffentlichkeit per-
manent vorzugaukeln, der Transrapid würde irgendwann
ein Erfolg.
Es ist wahr, dass über das Projekt für die Strecke Ham-
burg–Berlin in Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern,
Brandenburg und Berlin – dort hatte auch immer die SPD
Regierungsverantwortung – gesagt wurde: Ja, das machen
wir. Auch der Autokanzler hat gesagt: Das ist ein sinn-
volles Projekt. – Dass das Projekt gestoppt worden ist, ist
gut. Das wurde uns lang und breit vorgerechnet. Aber die
Zahlen aus den Jahren 1999 und 2000, die zum Stopp des
Projekts geführt haben – sie stammen dankenswerter-
weise von den Grünen –, lagen im Grunde schon vor acht
oder zehn Jahren vor.
Mein Eindruck ist: Es ist teilweise noch so, dass SPD
und Grüne etwas herumeiern,
auch wenn die Entscheidung, die Strecke Hamburg–Ber-
lin nicht zu bauen, richtig ist. Es wurde nun allerdings vor-
geschlagen, den Transrapid dort einzusetzen, wo bisher
alle gesagt haben: Dort gehört er nicht hin. Dort, wo
Straßenbahnen und S-Bahnen verkehren, gehört ein
Transrapid mit einem Tempo von 400 plus X wirklich
nicht hin. Jetzt wurden aber ernsthaft Projekte vor-
geschlagen – sei es im Ruhrgebiet oder in München –, wo
der Transrapid konkret keinen Sinn macht, sondern im
Gegenteil an Zeitersparnis und Energieersparnis nichts
bringt. Auch entstünde gebrochener Verkehr. Diese Pro-
jekte wären zudem noch teurer als die herkömmliche Rad-
Schiene-Technik.
Deswegen sind wir gespannt und gelassen und werden
sehen, wie es weitergeht. Wir fordern, dass die Gelder in
diesem Bereich in die Schiene gesteckt werden. Nachdem
2,25 Milliarden DM investiert wurden, müsste der Trans-
rapid, sollte er wirklich zukunftsfähig sein, eigenständig
zukunftsfähig sein. Wir glauben, dass dies auch für
Schanghai gilt. Auch steht noch aus, dass das geltende
Magnetschwebebahnbedarfsgesetz aufgehoben wird, in
dem gesetzlich verankert ist, dass zum einen die Strecke
Hamburg–Berlin gebaut werden muss und zum anderen
dieser Bedarf nicht hinterfragt werden darf. Allein aus po-
litischen Gründen sollte man dieses Gesetz beseitigen.
Danke schön.
Ichschließe die Aussprache.Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Entschließungs-antrag auf Drucksache 14/5690 zur federführenden Bera-tung an den Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungs-wesen und zur Mitberatung an den Ausschuss fürWirtschaft und Technologie, den Ausschuss für Angele-genheiten der Europäischen Union und den Haushalts-ausschuss zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vor-schläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierung
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Künftige Gestaltung der Standortwerbung zurGewinnung ausländischer Investitionen fürDeutschland– Drucksache 14/4240 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für TourismusAusschuss für Kultur und MedienNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat derKollege Dr. Ditmar Staffelt von der SPD-Fraktion dasWort.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Ich halte die Ergebnisse,die wir in der Unterrichtung durch die Bundesregierungnachlesen können, für sehr erfreulich. Die Gestaltung derStandortwerbung ist weiter optimiert worden, die Struk-turen sind verbessert worden und die Kooperation zwi-schen den Trägern der Standortwerbung ist in sehr vielstärkerem Maße koordiniert. Letztendlich haben wir Er-gebnisse erzielt, die sich sehen lassen können. Dies gilt eserst einmal festzuhalten.
Ich finde, es ist gut, dass wir diese Standortwerbungmit unterschiedlichen Mitteln und Methoden betreiben.Im Mittelpunkt steht natürlich das Büro des Beauftragtenfür Auslandsinvestitionen. Ich halte es für gut, dass esgelungen ist, Hilmar Kopper für diese Aufgabe zu gewin-nen. Wir wissen alle, dass er als Persönlichkeit des Wirt-schaftslebens im Ausland eine hohe Reputation hat. Wirhoffen, ihn auch für die kommenden Jahre für diese fürunser Land wichtige Funktion gewinnen zu können.
Wir sind sehr zufrieden, dass es gelungen ist, beim In-dustrial Investment Council, das ja speziell für Ost-deutschland geschaffen worden ist und zahlreiche Erfolgevorzuweisen hat, die Harmonisierung der Zusammenar-beit zu verbessern. Ich will in diesem Zusammenhang aufdie vielen Aktivitäten der Wirtschaftsförderungsgesell-schaften der verschiedenen Bundesländer und der Aus-landskammern verweisen, die zusammen dazu beitragen,das Bild Deutschlands hinsichtlich seiner wirtschaftlichenStärke und Attraktivität zu verbessern.Lassen Sie mich etwas zu den Ergebnissen sagen: DieAuslandsinvestitionen in Deutschland betrugen 199710 Milliarden Euro, 1998 beliefen sie sich auf 19 Milliar-den Euro, 1999 auf 49 Milliarden Euro und im Jahre 2000wurden Investitionen ausländischer Unternehmen inDeutschland in einer Größenordnung von 200 Milliar-den Euro getätigt. Ich meine, das ist weiß Gott eine Leis-tungsbilanz, die sich sehen lassen kann. Natürlich könnenSie sagen, dass darin auch der große Übernahmedeal Vo-dafone/Mannesmann mit enthalten ist. Aber selbst wennSie den herausrechneten, wären es noch 100 Milliar-den Euro: das ist gegenüber den Ergebnissen von 1997eine Verzehnfachung. Ich glaube, Herr Uldall, Sie solltendazu mal etwas Positives sagen, wenn Sie hier das Wortergreifen.
Das Ganze kommt ja nicht von ungefähr. Wenn Sie sichin Nordamerika in den letzten Monaten mit Experten derWirtschaft, Vertretern von Unternehmen oder Vertreternder Finanzmärkte über Deutschland unterhalten haben,konnten Sie leicht feststellen, dass insbesondere die Re-formvorhaben dieser Bundesregierung – die Steuerre-form beispielsweise – wesentliche Investitionsvorbehalteder Vergangenheit abgebaut und die Finanzmärkte sowiedie Unternehmen für Deutschland verstärkt interessierthaben. Dieses Interesse hat sich auch in konkreten Inves-titionen niedergeschlagen. Das ist ein großer Erfolg auchdieser Regierung; das muss man immer wieder sagen.
Das Gleiche gilt für die Haushaltskonsolidierung– sprechen Sie auch darüber mit Wirtschaftsexperten inNordamerika – als eine Voraussetzung für die Stabilität ei-ner Volkswirtschaft. Für die Anstrengungen auf diesemGebiet besteht eine hohe Anerkennung in den VereinigtenStaaten von Amerika, Kanada und vielen anderen Län-dern. Natürlich gibt es auch Erwartungen, beispielsweisein die Umsetzung der Rentenreform. In diesem Punkt soll-ten Sie sich vielleicht in den eigenen Reihen einmal dieSporen geben, damit wir das Ganze unter Dach und Fachbekommen.
Verschiedene Branchen haben sich gut entwickelt undaufgeholt, beispielsweise die Biotechnologie, bei der wirheute an der Spitze rangieren. Weiter nenne ich den Auf-holprozess in der Informations- und Kommunikations-technologie. Wir lagen in diesem Bereich im Mittelfeldund liegen jetzt gemeinsam mit den Skandinaviern an derSpitze in Europa und haben Anschluss an Nordamerika– den Maßstab, dem wir uns zu stellen haben – gefunden.In diesem Zusammenhang finde ich es ganz wichtig, dassein Mann wie Hilmar Kopper – Herr Uldall, Sie werdensich daran erinnern – im Wirtschaftsausschuss des Bun-destages darauf hingewiesen hat, die aufgezeigten Ergeb-nisse seien nicht irgendwelche Behauptungen unter par-teipolitischem Blickwinkel. Er hat erklärt: DieseSteuerreform bedeutet für internationale Unternehmen ei-nen Durchbruch und wird Deutschland in ein ganz ande-res Licht rücken, als das bisher der Fall war.
– So ist es.
– Hören Sie doch auf! Wenn ich Sie nicht so gut kennte,müsste ich jetzt vermuten, dass hier ein Vertreter der so-zialistischen Partei von der ganz linken Seite des Hauses
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms15765
steht. Dass sich die F.D.P. über Konzernpolitik mokiert,hat Ihnen Herr Brüderle ein paar Wochen vor den letztenLandtagswahlen eingeflößt; denn ansonsten haben Siedoch immer mit allen Konzernen dieser Republik auf Duund Du gestanden. Warum grenzen Sie die Konzerne aufeinmal aus?
Wir brauchen die Konzerne genauso wie einen starkenMittelstand in unserem Lande. Wir arbeiten sowohl fürdie einen wie für die anderen, weil es gegenseitige Ab-hängigkeiten gibt und nur so Arbeitsplätze in unseremLande erhalten werden können. Lassen Sie doch Ihre Po-lemik!
Ich füge hinzu – ich bitte, das bei allen Betrachtungenüber den Standort Deutschland immer zu berücksichti-gen –: Zu den Rahmenbedingungen in unserem Landgehören auch der soziale Friede, der Umgang vonArbeitnehmern und Unternehmern miteinander, genausowie eine hohe Qualifikation der Mitarbeiterinnenund Mitarbeiter in den Unternehmen, hervorragendeBildungseinrichtungen und eine offene Gesellschaft, derwir uns stellen und für die wir Rahmenbedingungenschaffen wollen.Summa summarum glaube ich: Diese BundesrepublikDeutschland kann sich mit Recht in der Welt gut präsen-tieren. Wir freuen uns, dass die einschlägigen Institutio-nen besser als in der Vergangenheit zusammenarbeiten.Ich glaube, dass es uns aufgrund der Rahmenbedingun-gen, die wir gesetzt haben, auch in Zukunft gelingen wird,weitere wichtige Investitionen aus dem Ausland nachDeutschland zu holen. Herr Uldall, verweisen Sie gleichnicht nur auf Negatives. Sie wollen ja stolz auf unser Landsein. Das können Sie in diesem Zusammenhang auch sein.Weisen Sie also auf das Gute hin!
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Gunnar Uldall
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Ich möchte mit einem Dank anHilmar Kopper, den früheren Vorstandsvorsitzenden derDeutschen Bank, beginnen. Herr Kopper hatte im Jahre1998 auf unsere Initiative hin, die Initiative der F.D.P.-und der CDU/CSU-Fraktion,
als One-Dollar-Man die Aufgabe übernommen, für denStandort Deutschland im Ausland zu werben. – Wie sehrdas schon in Vergessenheit geraten ist, hat eben der Zwi-schenruf des Herrn Staatssekretärs gezeigt. Herr Staatsse-kretär, Sie haben vergessen, dass Sie damals, als diese Ge-schichte angeschoben wurde, noch in der Opposition unddass wir an der Regierung waren. Sie haben zwar eine po-sitive Rolle gespielt. Das rechne ich Ihnen persönlichhoch an. Aber wir wollen die Dinge nicht verzerrt dar-stellen.Wie gesagt, ich bedanke mich als Erstes bei HilmarKopper, dass er diese Aufgabe übernommen hat, und beiseiner Kollegin Frau Martens-Jeebe. Wir bedanken unsebenso bei Herrn Christoph von Rohr und Herrn Feuersteinvom Management des Industrial Investment Council, diesich ihrer Aufgabe entsprechend um die Ansiedlung vonUnternehmen in den neuen Bundesländern kümmern. Daswar angesichts der Infrastrukturdefizite, die es damals inden neuen Bundesländern gab und die es zum Teil auchnoch heute gibt, nicht immer leicht. Umso mehr freuenwir uns über die Ergebnisse der Arbeit des IIC.Die Verstärkung der Werbung um ausländische Inves-toren geht auf eine Initiative der CDU/CSU-F.D.P.-Re-gierungskoalition in der vergangenen Legislaturperiodezurück. Herr Staffelt hatte mich eben aufgefordert, ruhigeinmal mit Stolz auf etwas Positives hinzuweisen. Selbstnach den eng gefassten Kriterien der Sozialdemokratenbezüglich der Frage, wann man stolz sein darf, muss ichsagen: Herr Staatssekretär, auf diesen Punkt sind wirstolz; denn das war unser Werk. Das lassen wir uns nichtkaputtreden.
Vergessen wir nicht die damalige Situation. Ich selbsthabe einmal in Tokio 16 verschiedene Dienststellen – ichbetone: 16 verschiedene Dienststellen – gezählt, die sichum die Akquisition von Investoren für Deutschlandbemühen. Das ist eine echte teutsche Mannigfaltigkeit.Niemand weiß, an wen er sich wenden kann und wer zu-ständig ist.Deswegen entstand unser Gedanke, eine zentrale An-sprechinstitution im Ausland zu gründen. In Tokio oderNew York kennt doch kein Mensch den Unterschied zwi-schen Sachsen, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt – dortweiß man kaum, dass es den Begriff Sachsen in Deutsch-land überhaupt gibt –, da können wir doch beim bestenWillen von keinem Investor in Übersee verlangen, zwi-schen diesen drei Bundesländern zu unterscheiden. Ausdiesem Grund haben wir eine gemeinsame Institution ge-schaffen.Es ist also einiges Gutes auf den Weg gebracht worden;dennoch gibt es auch in diesem Bereich noch viel zu tun.Bei der Frage der institutionellen Vertretung Deutsch-lands im Ausland müssen wir zum Beispiel die Koordi-nierung mit den Ländern weiter verbessern. Ich weiß, dassdas angesichts unserer 16 selbstbewussten Bundesländereine schwierige Aufgabe ist; aber, Herr Staatssekretär,dann muss die Bundesregierung eben noch ihre Schular-beiten erledigen und mit großer Nachhaltigkeit, Energieund Konsequenz dafür sorgen, dass die Koordination inder Ansiedlungs- und Akquisitionsphase durch zentraleAnsprechpartner gewährleistet wird. Wenn es später da-rum geht, die Betriebe in Deutschland bis zur Produktion
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Dr. Ditmar Staffelt15766
zu begleiten, mag das von den Ländergesellschaften über-genommen werden, aber eine falsche Konkurrenz, einefalsche Eifersucht zwischen den Bundesländern ist nichtlänger vertretbar.Der Kollege Staffelt kann das, was nun folgen wird,leider nicht mehr hören, weil er schon gehen musste. Ichkann aber auch so bestätigen, dass Deutschland ein guterInvestitionsstandort ist; das ist überhaupt keine Frage. Wirkönnen mit Stolz darauf blicken, wie sich Deutschlandentwickelt hat. Die Probleme, die wir Anfang der 90er-Jahre mit der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands hat-ten, haben wir Mitte der 90er-Jahre beseitigt. Um dieWettbewerbsnachteile abzuschaffen, um überkommeneStrukturen in vielen Betrieben mancher Branchen zuüberarbeiten, waren große Anstrengungen notwendig;doch diese Arbeiten haben wir bis Mitte der 90er-Jahreabgeschlossen. Seitdem haben wir große Sprünge nachvorne gemacht. Ich will drei Branchen als Beispiele he-rausgreifen.Zum Maschinenbau:Wir erinnern uns noch genau, wel-che Probleme damals den deutschen Maschinenbau beweg-ten. In der Zwischenzeit sind die großen Strukturproblemevon den Unternehmen beiseite geräumt worden. Heute lie-gen unsere Maschinen- und Anlagenexporteure hinsichtlichihrer Leistungsfähigkeit im weltweiten Vergleich aufPlatz 1. Das ist eine große Leistung, die unsere Unterneh-men erbracht haben; darüber können wir uns freuen.
Zum Automobilbau: Erinnern wir uns an die Sorgen,die wir wegen der japanischen und amerikanischen Kon-kurrenz damals hatten! In der Zwischenzeit sieht das Bildganz anders aus: Die japanische Automobilindustrie wirduns von keinem mehr als das Musterbeispiel Nummer 1vorgehalten. Vielmehr beteiligen sich unsere Unterneh-men heute an den großen japanischen und amerikanischenAutomobilherstellern und produzieren in diesen Ländern.Insofern können wir sagen, dass die deutsche Automobil-branche die Nummer 1 in der Welt ist. Darauf können wirals Deutsche stolz sein.
Zu den Finanzdienstleistern:Auch in diesem Bereichhört man häufig, es seien die Amerikaner, die das Feld be-herrschen. Es sind aber nicht nur die Amerikaner. Die mö-gen beim Investmentbanking zwar – das ist richtig – nochvor den Deutschen liegen, aber was die Informationstech-nologie der Finanzdienstleister angeht, sind unsere Unter-nehmen Spitze. Diese Technologien haben die deutschenUnternehmen selber entwickelt. Heute können wir mitFreude zur Kenntnis nehmen, dass wir uns aus der zweitenoder dritten Reihe an die Spitze emporgearbeitet haben.Es gibt eine ganze Reihe von Branchen, die man nochnennen könnte. Deswegen kann man sagen: Die deut-schen Unternehmen haben Mitte der 90er-Jahre die Um-strukturierungen abgeschlossen. Ich zitiere einen Slogan,der damals, 1998, von uns gebraucht, aber immer be-lächelt wurde: Deutschland hat den Turnaround geschafft.
Damals sind wir nach vorne gekommen. Deutschlandsschwierige Branchen sind wieder an die Spitze gerückt.Deswegen können wir feststellen: Die harten Schnitte –erinnert sei an die Mühen und die Arbeit – wurden von derVorgängerregierung gemacht. Die Früchte kassiert heuteeine andere Regierung. So ist es im Leben nun einmal.Wir freuen uns für alle Deutschen, dass diese Politik zu ei-nem guten Ergebnis geführt hat und dass wir heute besserdastehen als früher.
Die Welt ist dennoch nicht so schön, wie sie Herr Kol-lege Staffelt gezeichnet hat. Der Anstieg des Umfangsausländischer Investitionen in Deutschland – er selbst hatdas Beispiel Vodafone genannt – ist rechentechnischdurch die Übernahme von großen Betrieben zu erklären.Wenn man das berücksichtigt, dann sieht die Welt schonganz anders aus.Wir müssen leider feststellen: Im Hinblick auf dasdeutsche Ansehen bei ausländischen Investoren ziehenwieder einige Wolken am Himmel auf. Das Wichtigste indiesem Zusammenhang ist das Betriebsverfassungsge-setz. In Amerika schaut man auf ein solches Gesetzge-bungswerk mit völligem Unverständnis. Man verfolgtnicht, was im Einzelnen dahinter steht. In Bezug auf dasMitbestimmungsmodell – in dieser Form gibt es das inAmerika oder in anderen Ländern in Übersee gar nicht;man hat es dort nie verstanden – hört man dort nur, dasses von den Deutschen nicht nur nicht eingeschränkt, son-dern sogar noch ausgebaut wird.Dadurch werden die Akquisitionsbemühungen unserervor Ort operierenden guten Leute wesentlich erschwert.Dies gilt erst recht, wenn die Mitbestimmungsregelungender EU Platz greifen, nach denen die Art der Mitbestim-mung in einem Unternehmen vom Sitz des Konzerns ab-hängig ist. Die Konsequenz wird sein, dass man seinenKonzernsitz nicht nach Deutschland, sondern ins Auslandverlegt. Deswegen fordere ich die Bundesregierung auf,sich ganz intensiv dafür einzusetzen, eine flexiblere Lö-sung zu finden, damit die Konzernspitzen nicht ausDeutschland in andere Länder abwandern.
Weitere dunkle Wolken ziehen am Himmel mit derVerlängerung des Postmonopols auf. Es geht in keinenamerikanischen Kopf hinein, dass von dieser Regierungdas Postmonopol in Deutschland nicht nur nicht abge-schafft, sondern sogar noch verlängert wird.Das, was sich jetzt negativ abzeichnet, muss verhindertwerden. Hoffentlich ist es zum Teil nicht schon zu spät.Für die Regierung und für die Koalition bestehen zumBeispiel noch Handlungsmöglichkeiten, was die Libera-lisierung des Arbeitsmarktes angeht. In anderen Län-dern versteht kein Mensch die deutschen Regelungen; siesind so kompliziert, dass noch nicht einmal wir Deutschesie richtig verstehen können. Wie soll man dann in Ame-rika Verständnis für diese Dinge haben?Als Letztes möchte ich Folgendes sagen: Wir müssenin Deutschland von der übermäßigen Betonung des Kon-sums wegkommen und wir müssen die Investitionen in
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001
Gunnar Uldall15767
Deutschland verstärken. Es ist doch geradezu grotesk,dass in einem Land wie Mecklenburg-Vorpommern 2Mil-liarden DM für Investitionen ausgegeben werden,während gleichzeitig die gleiche Summe für Arbeitsbe-schaffungsmaßnahmen, also für schlichten Konsum, zurVerfügung gestellt wird.
Wir können uns das auf Dauer in Deutschland nicht er-lauben.Es gibt eine Reihe von Punkten, mit denen wir zufrie-den sein können. Ich denke an den guten organisatori-schen Aufbau. Damit meine ich zum Beispiel den Beauf-tragten für Auslandsinvestitionen oder die Tätigkeit desIIC. Diese positiven Effekte werden aber durch ver-schlechterte wirtschaftspolitische Rahmenbedingungenbeeinträchtigt. Wer mehr für die Ansiedlung in Deutsch-land tun will, muss vor allen Dingen auf eine gute Wirt-schaftspolitik achten.
Alsnächster Redner hat der Kollege Werner Schulz, Bünd-nis 90/Die Grünen, das Wort.Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kol-lege Uldall, was Sie sich wirklich gutschreiben können,ist die Berufung des Beauftragten für Auslandsinvestitio-nen 1998. Das war, glaube ich, eine der letzten Amts-handlungen der Regierung Kohl und, wenn man so will,vielleicht auch späte Einsicht; denn es ist ja ein Wunschaller Fraktionen gewesen, verstärkt etwas für die Werbungdes Standortes zu tun und sich verstärkt um die Akquirie-rung von Auslandsinvestitionen zu kümmern. Aber Sieglauben doch nicht im Ernst, dass Sie das allein mit derEinrichtung eines einzelnen Büros und mit der Benen-nung einer honorigen, bekannten, renommierten Persön-lichkeit hinbekommen würden. Wenn hier die Rahmenbe-dingungen nicht stimmen würden, wenn hier, was Sie alsLetztes gesagt haben, nicht eine positiv ausstrahlendeWirtschaftspolitik da wäre, würden normalerweise dieausländischen Investoren nicht auf diesen Standortschauen. Tatsache ist doch, dass nach langen Jahren derDornröschenschlaf vorbei ist, dass der Standort Deutsch-land aus diesem Dornröschenschlaf wieder erwacht istund dass vor allen Dingen die Wirtschaftspolitik, dieHaushaltskonsolidierung, die Steuerreform und viele De-regulierungsmaßnahmen dazu beigetragen haben, wiederverstärkt ausländische Investitionen zufließen zu lassen,dass die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Stand-ortes Deutschland deutlich verbessert worden ist und wirim Grunde genommen diesen Reformstau Schritt fürSchritt aufgelöst haben und dass man wieder auf Deutsch-land schaut, weil es sich lohnt, in Deutschland zu inves-tieren.Das trifft natürlich auch auf das zu, was durch das In-dustrial Investment Council, das IIC, in Abstimmung mitden Auslandshandelskammern und der Wirtschaft geleis-tet worden ist. Ich glaube, dass auch die Abstimmung, dieKoordinierung bei der Werbung von Auslandsinvestitio-nen verbessert worden ist.Auf der anderen Seite muss man aber feststellen, dassauch die Konkurrenz nicht schläft, im Gegenteil. Wennman die finanzielle Ausstattung unserer Werbung sieht,dann muss man feststellen, dass sich das doch noch aufsehr niedrigem Niveau bewegt. Die Ausstattung ver-gleichbarer Einrichtungen unserer europäischen Konkur-renten ist ungleich besser. Das gilt selbst dann, wenn mandas Büro von Herrn Kopper und das IIC zusammen be-trachtet. Hier ist durchaus Nachholbedarf festzustellen,eine Aufgabe, die übrigens zwischen Bund und Länderngelöst werden muss. Die Standortwerbung ist ja dochmehr oder weniger eine Aufgabe der Länder und Kom-munen, auch wenn der Bund hier wichtige Unterstützungleistet und eine entscheidende Anlaufstelle errichtet hat.Wichtiger und wünschenswert ist, dass sich auch dieLänder daran beteiligen, dass die Aktivitäten der Länderkoordiniert werden, nicht nur weil der Bundesrechnungs-hof das angemerkt hat, sondern weil ja vor allen Dingendie Länder von dieser Anlaufstelle profitieren. Ich hoffe,dass die Entscheidungen dazu noch in diesem Jahre fallenwerden, und hoffe auch, dass die aufgetretenen Differen-zen lösbar sind, so wie sich das angedeutet hat.Ich glaube aber auch, dass die strategische Ausrichtunghinsichtlich der Werbung von Auslandsinvestitionenüberprüft werden und viel stärker beispielsweise auf dieBereiche Telekommunikation, E-Commerce, Medizin-technik und Dienstleistungen fokussiert werden muss,weil hier vor allem die Erstinvestitionen für uns sehrwichtig sind.Der Standort Deutschland ist heute wieder ein attrakti-ver Standort. Er bietet hoch qualifizierte Arbeitnehmer,eine überragende Infrastruktur – das hat sich herumge-sprochen –, viele innovative Unternehmen und vor allemRechtssicherheit. Ich glaube, auch das sind wichtige Stand-ortfaktoren, die dazu beitragen, dass uns hier wieder ver-stärkt ausländische Investitionen zufließen.Das gilt auch für die neuen Bundesländer. Das muss ichausdrücklich betonen. Die neuen Bundesländer stellen einGebiet dar, in das zu investieren sich lohnt, nicht nurdurch die bevorstehende Osterweiterung, wodurch sichhier eine europäische Verbindungsregion aufbaut, son-dern auch in Bezug auf das, was wir dort schon investierthaben, was dort im Grunde genommen an Vorleistungenerbracht worden ist. Wer heute in diese neuen Bundeslän-der investiert, der investiert in eine der dynamischsten Re-gionen Europas, der investiert letzten Endes in die Zu-kunft Deutschlands. Gerade hier kann man feststellen,dass sich eine positive Tendenz abzeichnet. Der Fluss vonausländischen Direktinvestitionen in die neuen Bundes-länder hat zugenommen. Das ist doch zumindest ein posi-tives Zeichen.Ich danke ihnen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001
Gunnar Uldall15768
Als
nächster Redner hat der Kollege Walter Hirche von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Eine Debatte, in der sich die Fraktionen die-
ses Hauses im Grundsatz einig sind, dass man die Dinge
gemeinsam anpacken muss, ist positiv zu bewerten. Wenn
wir in Zukunft diesen Weg nicht gemeinsam weitergehen,
dann würden wir die Bemühungen um Stärkung der Aus-
landsinvestitionen in Deutschland torpedieren. Daran
kann keiner ein Interesse haben.
Wenn man sich den umfangreichen Bericht der Bun-
desregierung anschaut, dann kann man allein aufgrund
der Daten feststellen – Gründung des IIC, des Industrial
Investment Councils, im Jahre 1996 und Berufung des
Beauftragten im Jahre 1998 –, dass die entscheidenden
Weichenstellungen von der letzten Bundesregierung aus
CDU/CSU und F.D.P. vorgenommen worden sind. Herr
Uldall hat schon darauf hingewiesen, dass in der Regel
eine gewisse Zeit zwischen Säen und Ernten vergeht. Das
war auch hier der Fall.
Die Kooperation innen und außen muss natürlich im-
mer weiter verbessert werden. Mein Eindruck ist, dass in
der Kooperation außen Verbesserungen nach wie vor er-
forderlich sind. Es ist richtig, dass die Botschaften heute
anders arbeiten, als dies früher der Fall war. Das ist ein Ver-
dienst von Klaus Kinkel, der sich in den letzten Jahren sehr
stark für eine Zusammenarbeit eingesetzt hat. Die Außen-
handelskammern arbeiten nun mit den Botschaften zu-
sammen. Auch andere Aktivitäten – Stichwort „Area Ma-
nager“ – wurden zusammengefasst, indem gemeinsame
Anlaufstellen geschaffen wurden. Die Situation ist in eini-
gen Ländern allerdings noch verbesserungsfähig.
Wenn Sie sich einmal die Zahlen für das Haushaltsjahr
2000 anschauen, dann können Sie feststellen, dass der
Bund 4 Millionen DM für den Beauftragten und 11 Milli-
onen DM für das IIC bereitstellt. Unseren Ausgaben in
Höhe von 15 Millionen DM stehen zum Beispiel 60 Mil-
lionen DM gegenüber, die ein Land wie Großbritannien in
die Standortwerbung investiert. Diesen Unterschied muss
man zur Kenntnis nehmen.
Man muss aber noch einen anderen Punkt beachten.
Nach meiner Einschätzung – ich sage das unter anderem
aus meiner Erfahrung als Wirtschaftsminister in zwei
Bundesländern – ist das Verhältnis von Bund und Ländern
in diesem Bereich nach wie vor nicht optimal. Dieses Ver-
hältnis lässt sich überhaupt nur teilweise verbessern; denn
jeder Landeswirtschaftsminister hat natürlich ein Inte-
resse daran, für seine Region Vorteile herauszuholen. Ein
Botschafter in Japan hat mir nach der Wiedervereinigung
einmal gesagt, das Problem sei, dass das Jahr nur 12 Mo-
nate habe, aber wir 16 Bundesländer haben. Das heißt, es
wird eng, wenn alle Bundesländer versuchen, sich bei je-
der Gelegenheit zu präsentieren. Deswegen müssen wir
versuchen, die Zusammenarbeit auf praktische Weise zu
gestalten, ohne irgendjemandem Vorwürfe zu machen. Ich
gebe zu, dass das nicht ganz einfach ist.
Ich stimme auch ohne weiteres zu, dass letzten Endes
die Fundamentaldaten entscheidend sind, warum Unter-
nehmen nach Deutschland kommen. Man muss sich fol-
gende Fragen stellen: Gibt es Marktchancen für die Pro-
dukte? In welcher Zeit nach Kauf oder Errichtung eines
Betriebs kann man mit dem neuen Produkt am Markt
sein? Wie sieht die Kostensituation aus? Gar keine Frage,
dies ist – Herr Staffelt hat vorhin meinen Zwischenruf et-
was missverstanden – das Entscheidende. Ich bin der Mei-
nung, dass die Änderungen im Körperschaftsteuerge-
setz – Körperschaftsteuer bei Veräußerungen herunter auf
null – attraktivere Rahmenbedingungen für Investitionen
schaffen.
Herr Uldall hat noch einen weiteren Punkt angespro-
chen: Die Liberalisierung, die wir in verschiedenen Be-
reichen durchgeführt haben, hat natürlich Kapital ins
Land gelockt. Wenn Sie aber das Postmonopol verlängern
und wenn Sie in anderen Bereichen versuchen, die Libe-
ralisierung rückgängig zu machen, dann werden Sie das
Gegenteil von dem bewirken, was für die Schaffung at-
traktiver Rahmenbedingungen notwendig wäre. Die
OECD kommt zu dem Schluss, dass das deutsche Ar-
beitsrecht weltweit gesehen unflexibel ist. Es ist somit ein
Investitionshemmnis.
Auch unsere typisch deutschen Genehmigungsver-
fahren – da sollten wir uns nichts vormachen – wirken
sich hemmend auf Investitionen aus. Statt uns aufzuraf-
fen, die für Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung
geltenden Sonderbestimmungen auf ganz Deutschland zu
übertragen, haben wir die Verfahren im Osten an die behä-
bigen Verfahren im Westen angepasst. Wir müssen uns ge-
meinsam für Veränderungen einsetzen. Die Genehmi-
gungsverfahren dauern zu lange, um angesichts der
Konkurrenzsituation weiterzukommen.
Ein Punkt sollte noch stärker beachtet werden, Herr
Staatssekretär. Ich habe in der Vergangenheit im Rahmen
meiner Tätigkeit immer dann die besten Erfahrungen ge-
macht, wenn ich im Ausland bei ausländischen Investo-
ren, die schon in Deutschland sind, für den Standort
Deutschland geworben habe.
Dieser Ansatz scheint mir in den Konzepten ungenü-
gend zu sein. Es ist sinnvoll, neue Verbündete zu suchen,
um insgesamt mehr Effizienz zu erreichen. Auch die Tat-
sache, dass Deutschland im Hinblick auf die Erweiterung
der EU nach Mittel- und Osteuropa besondere Vorzüge
hat, nützt vielleicht uns allen.
Wir brauchen nämlich diese Investitionen, um mehr
Arbeitsplätze in Deutschland zu schaffen. Das ist doch,
wie ich denke, unser gemeinsames Ziel. Hier sind wir auf
einem guten Wege.
Ich gebe das
Wort dem Kollegen Rolf Kutzmutz für die Fraktion der
PDS.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Im Zusammenhang mit der Suche nach
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001 15769
ausländischen Investoren für Deutschland stehen für michdrei Fragen im Vordergrund:Erstens. Die Präsentation von „www.invest-in-ger-many.de“ im Internet, die ich mir gestern angeschaut habe,
erschien mir übersichtlich, prägnant, aktuell und auch be-nutzerfreundlich.
Sehen das aber auch die potenziellen Investoren und dieAdressaten so? Oder gibt es noch etwas zu tun bzw. zuverändern? Von der Beantwortung dieser Fragen hängtschließlich ab, wie die Investorenwerbung in nächsterZeit inhaltlich ausgerichtet und finanziell ausgestattetwerden muss.Zweitens. Es ist bekannt, dass der Vertrag von HilmarKopper im Juni endet. Es stellt sich die Frage: Verlängert erihn oder findet man einen anderen bekannten Manager, derähnlich engagiert und erfolgreich Unternehmensansiedlun-gen in Deutschland bewirbt? An dieser Stelle ist mehrfachbildlich von Saat und Ernte gesprochen worden. Es istwahr – ich will mich damit in keinster Weise bei der Regie-rung anbiedern –, dass Herr Mosdorf persönlich sehr großenAnteil daran hatte, dass diese Stelle überhaupt geschaffenwurde. Er hat dafür schon dicke Bretter bohren müssen.
Drittens. Seit 1997 wurden genannte SED-Millionenfür die Akquise von Projekten in Ostdeutschland einge-setzt. Dieses Geld wird bis zum Jahresende aufgebrauchtsein. Wird dann das dort zweifellos aufgebaute Know-how weiter finanziert oder zerstreut es sich in alle Winde?Das ist eine wichtige Frage.Nun zu unserem Standpunkt: Wir halten eine einzigeAnlauf- und Informationsstelle für potenzielle Inves-toren, die auch Werbung zentral aus einer Hand koordi-niert, im internationalen Wettbewerb für unverzichtbar.Damit wird nicht gegen den Föderalismusgrundsatz ver-stoßen; schließlich wird der Wirtschaftsförderung derLänder nichts weggenommen. Im Gegenteil, dadurchwerden ihre Chancen verbessert.
Entscheidend ist übrigens nicht die Größe einer Einrich-tung, sondern ihre Effizienz. Aber die Herstellung von Ef-fizienz kostet eben auch Geld.Es geht nicht nur um eine tolle Standortwerbung, son-dern in erster Linie um die tatsächlichen Rahmenbedin-gungen vor Ort. Anlocken ist nämlich das eine; das Haltenvon Investoren das andere. Auch die 60 Millionen DM,Herr Hirche, die England für diese Aufgabe aufbringt, ha-ben nicht verhindern können, dass in den letzten zwei Jah-ren dort große Werke geschlossen wurden und InvestorenEngland wieder verlassen haben. Auch dies ist ein Beispieldafür, dass es uns hier um Effizienz gehen muss.
Es stellt sich für uns die Frage, ob ein weiteres Neben-einander von Bundesbeauftragten und Industrial Invest-ment Council auf Dauer wirkungsvoll und sinnvoll ist.Zum einen haben sich die Entwicklungspotenziale derneuen Länder mittlerweile so ausdifferenziert, dass einegemeinsame Dachmarke wohl kaum noch zur Investoren-werbung beiträgt; zumindest wird es damit nicht gelingen,dass alle Länder tatsächlich gleichermaßen von den Akti-vitäten profitieren werden. Zum anderen gibt es bei einerZusammenführung von Institutionen immer auch Syner-gieeffekte. Warum werden also nicht beide Institutionenverschmolzen und dann auch vom Bund allein bezahlt?Dies bitte ich als Frage bzw. als Vorschlag zu betrachten,nicht als Forderung. Dieses durchzusetzen, hätten wir so-wieso nicht die Kraft.Auf alle Fälle muss die künftige Gestaltung der Inves-torenwerbung schnell und ernsthaft in den Ausschüssenberaten werden. Die Unterrichtung durch die Bundesre-gierung ist dafür eine gute Grundlage. Es müssen aberauch eigene wirkungsvolle Vorschläge gemacht und Be-schlüsse für die Zukunft dieses wirtschaftspolitisch wich-tigen Gegenstandes gefasst werden, und das möglichst– das möchte ich allen ans Herz legen – vor den nächstenHaushaltsberatungen.Danke schön.
Das Wort
hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesmi-
nister für Wirtschaft und Technologie, Siegmar Mosdorf.
S
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den letzten zehn Jah-ren hat sich die Weltwirtschaft fundamental verändert.Lassen Sie sich folgende Zahlen einfach noch einmal aufder Zunge zergehen: Das Weltsozialprodukt ist in denletzten zehn Jahren im Schnitt um 3,5 Prozent gewachsen;gleichzeitig ist der Welthandel um 7 Prozent und sind dieFinanzdienstleistungen um 12 Prozent gewachsen; dieweltweiten Direktinvestitionen aber sind um 26 Prozentgestiegen. Das zeigt auf, dass sich die weltwirtschaft-lichen Strukturen fundamental verändern.In der Nachkriegszeit galt das alte klassische Exportmo-dell. Es gab eine Megafabrik, von der aus die ganze Weltbedient worden ist. Heute geht das so nicht mehr, weil dieAbsatzländer Wert darauf legen, dass bei ihnen auch pro-duziert wird. Das Ergebnis ist, dass man dezentral produ-ziert und in quasi transnationalen Unternehmen zentralsteuert. Diese neue Entwicklung führt dazu, dass nicht nurMercedes in Tuscaloosa und Heinrich von Pierer von Sie-mens in China investieren, sondern auch die Asiaten undNordamerikaner auf dem europäischen Kontinent Fabri-ken bauen, um hier präsent zu sein.Das ist ein bisschen das Geheimnis der Entwicklungbei den Direktinvestitionen, die enorm gestiegen sind.Man muss sich vorstellen: Der weltweite Zufluss von Di-rektinvestitionen beträgt 865 Milliarden DM im Jahr. Daskennzeichnet die ganz grundlegende Umwälzung der
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001
Rolf Kutzmutz15770
weltwirtschaftlichen Systeme der vergangenen 50 Jahrein den letzten zehn Jahren.Wir haben darauf reagiert. Ich bin dem KollegenKutzmutz dankbar dafür, dass er Gunnar Uldall, weilbeide zu dem Zeitpunkt im Wirtschaftsausschuss warenund das genau mitbekommen haben, noch einmal daraufhingewiesen hat, dass wir bereits in einem sehr frühenStadium vorgeschlagen haben, eine Agentur zu schaffen,die sich direkt um ausländische Investoren kümmert. An-gesichts der Tatsache, dass die Grande Nation eine Agen-tur gegründet hat, die einen englischen Namen hat – „In-vest in France“; es ist ganz ungewöhnlich, dass dieFranzosen so etwas zulassen und viel Geld dafür auf-wenden, ebenso wie die Briten –, mussten auch wir so et-was machen.Herr Hirche, bei aller Wertschätzung: Herr Rexrodt hatlange dagegengehalten – Herr Uldall wird sich daran er-innern – und gesagt, das bräuchten wir nicht.
– Nein, es geht nicht um IIC; das ist eine andere Sache. Esgeht um die Kopper-Geschichte. Erst im Sommer 1998, inder Schlussphase der Regierung Kohl, bestand nach etli-chen Gesprächen Einvernehmen, dass das eine vernünf-tige Lösung ist.Ich bin sehr dankbar dafür, dass sich Herr Kopper dazubereit erklärt hat, diese wichtige Aufgabe zu übernehmen.Ich glaube, wir alle sind dankbar dafür. Ich freue mich,Ihnen jetzt auch mitteilen zu können, dass wir – das wardie Frage von Herrn Kutzmutz – den Vertrag mit HerrnKopper verlängert haben, weil wir glauben, dass er einenguten Namen hat und dass er uns im Ausland gut vertre-ten kann, weil er von der Sache etwas versteht, weil erkompetent ist und weil er mit seinem guten Leumund imAusland Investorengespräche führen kann, die kein ande-rer führen könnte. Das hat auch durchaus Wirkung.
Dafür, dass er das macht, gilt es wirklich Dank zu sagen.Ich nehme aber gerne den Gedanken von Herrn Hircheauf: Warum soll man nicht amerikanische oder asiatischeInvestoren, die bei uns erfolgreich investiert haben undsich in Deutschland wohlfühlen, bei Präsentationen inihren Heimatregionen zeigen: Es macht Sinn, bei uns zuinvestieren und sich hier zu engagieren?Die Zahlen sind eindrucksvoll. Wir haben im letztenJahr in Deutschland so viele Direktinvestitionen gehabtwie in den gesamten 90er-Jahren nicht. Selbst wenn manden Anteil von Vodafone abzieht, haben wir noch immerein erhebliches Volumen nach Deutschland geholt. Ange-sichts der Veränderungen der Weltwirtschaft müssen un-sere Bemühungen aber weitergehen. Deshalb ist es gut,dass wir regelmäßig diesen Bericht für den Wirtschafts-ausschuss und auch für das Parlament machen.Die Dachmarke „Investieren in Deutschland“ hat, ne-ben vielen anderen Dingen, auch der Verbesserung derRahmenbedingungen, mit dazu beigetragen, dass die läh-mende Standortdiskussion, die wir Anfang der 90er-Jahre hatten – manche werden sich noch daran erinnern –,als es Wirtschaftsführer gegeben hat, die in Tokio oderNew York negativ über den Standort Deutschland geredethaben, nicht mehr existiert. Das hilft uns sicher allen. In-sofern können wir mit der Entwicklung zufrieden sein, diewir insgesamt erlebt haben.
Jetzt komme ich zum IIC, das eine gute Arbeit macht.Herr Kutzmutz hat auch in Bezug darauf die Frage ge-stellt, wie es weitergeht. Wir haben eine Brücke gebaut,sodass das IIC jetzt bis zum Jahr 2004 fortgesetzt werdenkann. Unsere Perspektive ist allerdings – das stimmtdurchaus mit der Richtung überein, die Sie genannt ha-ben; auch die Sozialdemokraten sehen das so –, diese Ein-heiten zusammenzuführen. Werner Schulz hat eben dieFrage aufgeworfen, wie man das effizient gestalten kann.Ich glaube, es macht Sinn, auf mittlere Sicht beide Ein-heiten zusammenzuführen und so etwas wie eine Agenturmit einem guten Kopf, der diese Agentur dann weltweitrepräsentieren kann, zu schaffen. „Kopper plus IIC“ wäreeine gute Plattform der Zukunft.Im Moment ist das IIC eine wichtige Einrichtung, dieuns – vor allen Dingen den neuen Bundesländern – hilft,in dem schwierigen Wettbewerb zu bestehen. Wir solltengemeinsam versuchen, alles zu tun, um diese Entwick-lung fortzusetzen, und auch gemeinsam die Zusammenar-beit zwischen der Einheit, die Hilmar Kopper vertritt, unddem suchen, was das IIC leistet.Wir haben enorme Ergebnisse erzielt. 60 ausländischeInvestoren sind nach Deutschland gekommen; das Inves-titionsvolumen beträgt rund 4,2 Milliarden DM. Dazu hatdas IIC einen wichtigen Beitrag geleistet. Insofern könnenwir, meine Damen und Herren, mit der Gesamtentwick-lung zufrieden sein, wenn auch nicht so zufrieden, dasswir nicht immer wieder neue Ideen und neue Impulsebrauchten. Die Weltwirtschaft ist heute eine Wettbe-werbsarena mit 30 hoch entwickelten Volkswirtschaften.Wir müssen uns in dieser Arena behaupten. Deshalb ist esganz wichtig, dass wir diesen Kurs fortsetzen und dabeineue Ideen aufnehmen.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich schließedie Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/4240 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Das Haus ist damiteinverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 und Zusatzpunkt 7auf:9. Beratung des Antrags der Abgeordneten DagmarWöhrl, Christian Schmidt , WolfgangBörnsen , weiterer Abgeordneter undder Fraktion der CDU/CSU
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001
Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf15771
Strukturpolitische Verantwortung für Bundes-wehrstandorte übernehmen, die die Bundesre-gierung schließen oder verkleinern will– Drucksache 14/5550 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
VerteidigungsausschussAuschuss für Angelegenheiten der neuen LänderHaushaltsausschussZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten GüntherFriedrich Nolting, Ina Albowitz, HildebrechtBraun , weiterer Abgeordneter und derFraktion der F.D.P.Hilfe durch den Bund für die von Reduzierungund Schließung betroffenen Bundeswehrstand-orte ist unverzichtbar– Drucksache 14/5467 –Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst für dieCDU/CSU-Fraktion dem Kollegen Kurt Rossmanith dasWort.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Zur Begründung und Darstellungdieses Antrages ist es erforderlich, dass wir uns zunächsteinmal daran erinnern – manche haben das in der gesam-ten Euphorie scheinbar schon wieder vergessen –, warumes dieses Antrages bedurfte: wegen einer nicht vorstellba-ren Reduzierung unserer Streitkräfte durch diese Bun-desregierung.In der Tat ist die Lage der Bundeswehr dramatisch.Schon heute wird die Bündnisfähigkeit unseres Landesinfrage gestellt. Generalinspekteur Kujat hat öffentlichbeklagt, dass der gegenwärtige Zustand der Bundeswehrnicht mehr tragbar sei, und zweifelt bereits an der mi-litärischen Fähigkeit Deutschlands, seinen internationa-len Verpflichtungen nachzukommen. Diese Bundesregie-rung, meine sehr verehrten Damen und Herren, betreibtSicherheitspolitik nach Kassenlage und verstößt damitfundamental gegen die sicherheits- und außenpolitischenInteressen unseres Landes; denn die von der Bundes-regierung beschlossene massive Reduzierung der Bun-deswehr und die damit natürlich verbundenen Standort-schließungen sind rein finanzpolitisch motiviert.Verteidigungsminister Scharping hat in der Vergangen-heit wiederholt erklärt, dass die Bundeswehr auch nachihrer Reduzierung in der Fläche präsent bleiben werde.
Das Gegenteil ist nun eingetreten. Weite Landstriche, vorallem in Bayern, aber auch in Schleswig-Holstein, Meck-lenburg-Vorpommern und anderen Bundesländern, wer-den künftig „bundeswehrfreie Zonen“ sein. Dies ist, wieich finde, mehr als bedauerlich,
nicht nur für die dortige Bevölkerung, sondern insbeson-dere für jene Regionen, in denen die Soldaten der Bun-deswehr stets willkommen waren und in denen es, wie invielen Standortgemeinden in Bayern, eine jahrzehnte-lange Tradition des positiven Miteinanders gegeben hat.Doch auch für die Bundeswehr wird, nicht zuletzt mitBlick auf die künftige Rekrutierung von Nachwuchskräf-ten, ein nicht wieder gut zu machender Schaden entste-hen. Die Bundeswehr wird schlicht und einfach in derFläche nicht mehr präsent sein. In Gutsherrenmanier – derBundesverteidigungsminister befand es nicht für nötig,vorher mit den betroffenen Kommunen zu sprechen –wurde unter den Standorten eine rigorose Kahlschlags-politik betrieben. Unter dem Diktat des Finanzministersist Minister Scharping zu einem Vollstrecker traditionellgrüner Forderungen geworden. Die Grünen freuen sichnatürlich darüber.Jetzt muss es darum gehen, die schwerwiegenden wirt-schaftlichen und sozialen Folgen in den betroffenen Ge-meinden ohne große Verwerfungen zu bewältigen. Die vonder Bundesregierung beabsichtigte Reduzierung der Bun-deswehr um über 100 000 Soldaten und zivile Mitarbeite-rinnen und Mitarbeiter hat gravierende Folgen für die wirt-schaftliche und soziale Lage der betroffenen Kommunen.Die Standortschließungen und Standortreduzierungenerfolgen vorwiegend in strukturschwächeren Regionen.Kriterien wie Wirtschaftskraft und Arbeitsmarkt – vorhervon Verteidigungsminister Scharping groß hervorgeho-ben – haben überhaupt keine erkennbare Berücksichti-gung gefunden.
Für die konkret betroffenen Gemeinden sind die Fol-gen teilweise unübersehbar. Kaufkraft wird in erhebli-chem Umfang verloren gehen, Wohnungsleerstand undArbeitslosigkeit drohen, die Gemeindehaushalte werdenerhebliche Einbußen zu verkraften haben.
Selbstverständlich erwarten wir vom Bundesverteidi-gungsminister, dass er seiner Fürsorgepflicht auch gegen-über den Angehörigen der Bundeswehr nachkommt. Des-wegen darf es reduzierungsbedingte Kündigungen ebensowenig geben wie unzumutbare Versetzungen.
Es ist vielleicht in diesem Zusammenhang nur ein Ne-benaspekt, aber ich möchte dennoch erneut darauf hin-weisen, dass gerade der Freistaat Bayern überproportionalvon Scharpings Reduzierungspaket betroffen ist. Die bun-desweite Reduzierung des Personalumfangs der Bundes-wehr beläuft sich auf rund 14,4 Prozent; in Bayern liegtsie bei rund 19 Prozent. Bundesweit werden, wie wir wis-sen, 39 Standorte geschlossen, davon allein 13 – ein Drit-tel – in Bayern.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters15772
Ich möchte deshalb die Situation anhand eines Bei-spiels, der Schließung des Fliegerhorstes in Memmin-gerberg in meinem Wahlkreis deutlich machen, der amstärksten betroffen ist. 2 350 Beschäftigte werden durchdie Schließung ihren derzeitigen Arbeitsplatz verlieren,darunter 650 zivile Beschäftigte. Der Fliegerhorst ist fürdie Region ein sehr bedeutender Wirtschaftsfaktor. Durchseine Aufträge an die heimische Wirtschaft sichert er zahl-reiche Arbeitsplätze.Der Memminger Oberbürgermeister Dr. Ivo Holzinger,SPD, weist darauf hin, dass im Raum Memmingen durchdie Schließung des Standortes Kaufkraft in Höhe von250 Millionen DM jährlich verloren gehen wird. Betrof-fen sein werden jedoch nicht nur Arbeitsplätze im Hand-werk, im Handel oder im sonstigen Gewerbe. Der SPD-Oberbürgermeister von Memmingen befürchtet beispiels-weise, dass auch in Schulen, Berufsschulen und vor allemin Kindergärten massenweise Arbeitsplätze verloren ge-hen werden.Dies alles betrifft nicht nur die Regionen, in denenStandorte geschlossen werden. Es betrifft natürlich auchjene Kommunen – wie zum Beispiel die NachbarstadtSonthofen –, in denen die massive Reduzierung des Stand-ortes de facto einer Schließung gleichkommt.Für die Folgen der Standortschließungen trägt allein dieBundesregierung die Verantwortung. Sie muss sich nunauch dieser Verantwortung stellen. Es kann nicht angehen,meine sehr verehrten Damen und Herren, dass die Stand-ortgemeinden jetzt im Regen stehen gelassen werden.
Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, ein um-fassendes Konversionsprogramm aufzulegen, das dieSchaffung neuer Arbeitsplätze in den betroffenen Regio-nen unterstützt und eine sinnvolle Nutzung aufgegebenerStandorte erleichtert. Die Bundesregierung muss Finan-zierungshilfen für Investitionen in die Schaffung und Er-haltung von Arbeitsplätzen insbesondere in struktur-schwachen Räumen, die vom Truppenabbau besondersbetroffen sind, gewähren.
Die zu leistenden Finanzhilfen müssen auch den Ausbauder wirtschaftsnahen Infrastruktur wie zum Beispiel dieUmwandlung von Bundeswehrgelände in Gewerbege-biete umfassen.Das Ganze darf natürlich auch nicht von oben nach un-ten erfolgen. Vielmehr muss sich die Bundesregierung beider Ausgestaltung des Konversionsprogramms und beider Festlegung der konkreten Maßnahmen mit den betrof-fenen Kommunen und mit den jeweiligen Landesregie-rungen abstimmen und deren Vorschläge berücksichtigen.Es geht nicht an, dass man solche Maßnahmen ohne jedenKommentar und über die Köpfe der Betroffenen hinweganordnet, wie das bei den Schließungen geschehen ist.Angesichts der größten Finanzmisere der Bundeswehrseit ihrem Bestehen – ebenfalls das zweifelhafte Verdienstder rot-grünen Bundesregierung – darf die Finanzierungdieses Maßnahmenkatalogs natürlich nicht zulasten desVerteidigungshaushalts gehen.Lassen Sie mich am Schluss noch dies darlegen: DieFolgenbewältigung ist nicht nur in der Zuständigkeit desVerteidigungsministers oder der betroffenen Kommunen.Die SPD-geführte Bundesregierung hat sich für einePolitik der Einsparungen, Reduzierungen und Standort-schließungen entschieden. Sie allein und niemand andersist für die Folgen verantwortlich. In den von der Kahl-schlagpolitik betroffenen Standortgemeinden muss siesich nun auch dieser Verantwortung stellen.
Nun spricht
für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatsse-
kretär Siegmar Mosdorf.
S
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Neustrukturierungder Bundeswehr ist ein komplexer Planungsvorgang. WieSie wissen, Herr Rossmanith, ist das keine einfache Ver-anstaltung.Die Beurteilung von Standorten für die zukünftige Sta-tionierung erfolgte auf der Basis umfangreicher Kriterien,insbesondere auch unter Berücksichtigung von arbeits-markt- und strukturpolitischen Überlegungen. Darüberhinaus hat das Bundesverteidigungsministerium die Mi-nisterpräsidenten der Länder direkt beteiligt.Trotz aller Bemühungen werden Belastungen für dieSoldaten und Zivilbeschäftigten sowie mittelbar auch fürdie Region nicht zu vermeiden sein. Das muss man ehr-lich zugeben, wenn man den Leuten nicht die Unwahrheitsagen will. Wir haben großes Verständnis für die Sorgender betroffenen Menschen in den Regionen. Die Bundes-regierung wird deshalb ihr Mögliches tun, um zu helfen.Die Veränderungen treten, wie Sie wissen, nicht sofortin Kraft, sondern werden zum Großteil in den Jahren 2002bis 2004 vollzogen. Die Umsetzung soll bis 2006 abge-schlossen werden. Jetzt ist es wichtig, dass die Akteurevor Ort, die politisch Verantwortlichen und die Vertreterder Wirtschaft, Konzepte und Nutzungsmöglichkeitenfür die frei werdenden Liegenschaften erarbeiten.Herr Rossmanith, Sie haben in Bayern einen sehr ge-schickten Wirtschaftsminister. Er hat gestern bereits di-rekten Kontakt mit Walter Kolbow aufgenommen, umprüfen zu lassen, ob man den Gemeinden vorrangiges Zu-griffsrecht einräumen kann, um bei den Liegenschaftendirekt etwas tun zu können. Herr Staatssekretär Kolbowhat mir gesagt, er finde das sehr überlegenswert und wollees in seinem Haus prüfen. Direkte Gespräche mit demWirtschaftsminister von Bayern sind da der vernünftigsteWeg.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte ein Bei-spiel nennen. Ich habe heute mit Herrn Wagner von Debi-tel zu Mittag gegessen. Er hat mir berichtet, was in
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001
Kurt J. Rossmanith15773
Kaiserslautern mit frei werdenden Liegenschaften derAlliierten gemacht wird.
Sie kennen ihn wahrscheinlich nicht. Aber ich kann Ihnennur raten, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Debitel hat inKaiserslautern auf einer solchen Liegenschaft ein Call-Center mit inzwischen 70 Beschäftigten errichtet. Die Lie-genschaft wurde Debitel zur Verfügung gestellt. Man hatdas Dienstleistungspersonal des zivilen Bereichs für ebendieses Call-Center genutzt. Das ist ein vernünftiger Weg.Solche und ähnliche Wege kann man gehen, wenn man di-rekt helfen will. Primär ist es die Aufgabe der regional Ver-antwortlichen, jetzt solche Initiativen zu ergreifen. Dassdies gelingen kann, zeigt eine ganze Reihe erfolgreicherKonversionsprojekte. Es gibt auch in meiner unmittelbarenUmgebung, in der Nähe von Stuttgart, ähnliche Beispiele.Die wirtschaftlichen Auswirkungen von Standort-schließungen und Dienstpostenreduzierungen sind regio-nal unterschiedlich. In strukturschwachen Gebieten mitohnehin hoher Arbeitslosigkeit wirken zusätzliche Effektetendenziell belastender als in prosperierenden Regionen.Ich möchte daher zunächst klarstellen, dass die struktur-schwachen Regionen unterdurchschnittlich von den Ver-änderungen betroffen werden. Die Bundeswehr bleibt inder Fläche weiterhin präsent. Die relative Präsenz in wirt-schaftlich schwachen Gebieten steigt sogar leicht an.
Ich bitte um Verständnis, dass ich hier nicht auf die ein-zelnen Dienstpostenveränderungen und Standortreduzie-rungen eingehen kann. Hierzu habe ich bereits im Aus-schuss für Wirtschaft und Technologie mit der KolleginSchulte zusammen Stellung genommen. Außerdem wer-den wir einen gemeinsamen Bericht erstellen.Nach der föderalen Aufgabenverteilung des Grundge-setzes liegt die regionalpolitische Flankierung in ersterLinie in der Zuständigkeit der Länder. Aber wir werdendas gesamte Instrumentarium, auch das der Bundesregie-rung, in unsere Überlegungen einbeziehen. Der Bund be-teiligt sich an dieser Aufgabe, insbesondere im Rahmender Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserungder regionalen Wirtschaftsstruktur“.
– Ich weiß nicht, wie lange Sie dabei sind. Aber auf jedenFall kostet das eine ganze Menge.
Dieses Geld steht zur Verfügung.
Es liegt nun in der Verantwortung der Länder, die re-gionalen Förderschwerpunkte zu identifizieren und zufokussieren.
Wir haben die entsprechenden Mittel im Rahmen die-ser GA zur Verfügung gestellt. Das wissen Sie. Das giltnicht nur für die neuen, sondern auch für die alten Bun-desländer. Beispielsweise können im Rahmen derInfrastrukturförderung die Umstrukturierungen derehemals militärisch genutzten Liegenschaften in Gewer-begebiete, der Ausbau von Technologie- und Gründerzen-tren für KMUs oder die Errichtung von Einrichtungen derberuflichen Bildung besonders gefördert werden. Für dieGA-Ost stehen im Bundeshaushalt für das Jahr 2001 Bar-mittel in Höhe von 1,992 Milliarden DM zur Verfügung.
– Schon dafür. Seien Sie bitte fair.
– Ja, aber die Entscheidung über die Verwendung dieserMittel ist Ländersache. Jetzt können die Länder fokussierenund sagen, in welchen Gebieten sie besondere Anstrengun-gen unternehmen möchten.
Dies obliegt den Ländern. Ich weiß auch, dass die Ver-antwortlichen in den Ländern darüber schon jetzt nach-denken. Sie fangen an zu überlegen, in welche Richtungsie diese Mittel – das gleiche gilt auch für Verpflich-tungsermächtigungen in Höhe von 1,5 Milliarden DM –konzentrieren werden. Wir haben einen Gesamtplan biszum Jahr 2006 festgelegt;
aber innerhalb dieses Planes gibt es selbstverständlichMöglichkeiten zu fokussieren.
Herr Kol-
lege Mosdorf, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Ab-
geordneten Adam?
S
Gerne, Herr
Adam.
Herr Staatssekretär, was
darf ich meinem Ministerpräsidenten in Mecklenburg-
Vorpommern, Herrn Ringstorff, berichten, der am 23. die-
ses Monats, nachdem er Einrichtungen der Bundeswehr
besucht hat, in der Zeitung berichtete, dass er sich um
Bundeshilfen bemühen möchte? Was darf ich ihm sagen?
S
Der Minister-präsident des Landes Mecklenburg-Vorpommern hat ei-nen so guten Draht zur Bundesregierung, dass ich Sie,Herr Adam, nicht als Briefträger verwenden möchte.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001
Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf15774
Es wäre nicht angemessen, Sie als einen leibhaftigen Bun-destagsabgeordneten als Briefträger zu verwenden.
Deshalb sage ich Ihnen, was ich ihm im Namen derBundesregierung antworte. Die Antwort lautet, dass wirim Bundeshaushalt für das Jahr 2001
Barmittel in Höhe von 1,992 Milliarden DM
für die GA-Ost zur Verfügung gestellt haben und die Mit-tel auch zu diesem Zweck verwendet werden können.Meine Damen und Herren, wir haben auch für denWesten Barmittel zur Verfügung gestellt.
– Seien Sie vorsichtig! Sie haben sich schon einmal mitBegriffen unglücklich in Szene gesetzt. Es gibt diesesGeld. Wenn Sie das nicht wissen, kann ich es Ihnen nach-her erläutern.Jedes Land kann entsprechende Fokussierungen vor-nehmen. Herr Rossmanith weiß, wovon ich rede. DieLänder entscheiden, wo diese Mittel eingesetzt werden.Deshalb füge ich eines hinzu: Wir haben darüber hinausUnterstützungsmöglichkeiten im Rahmen anderer Poli-tikbereiche geschaffen, zum Beispiel bei der Städte-bauförderung, bei der Verkehrspolitik, bei der Arbeits-marktförderung, bei der Mittelstandsförderung und beientsprechenden Landesprogrammen, die vom Bund er-gänzt werden.Es gibt also Möglichkeiten, entsprechende Konzentra-tionen jetzt auch zielgenau in solchen regionalen Gebie-ten vorzunehmen, die davon besonders betroffen sind.Der Bund jedenfalls strebt wieder an, die frei werdendenLiegenschaften – das ist ein ganz wichtiger Punkt, derschon nach der Wiedervereinigung eine wichtige Rollegespielt hat – so schnell wie möglich einer zivilen An-schlussnutzung zur Verfügung zu stellen.Dabei steht ein Verkauf der nicht für andere Bundes-aufgaben benötigten Liegenschaften im Vordergrund. Wirhaben ausdrücklich festgestellt, dass dort, wo wir die Lie-genschaften nicht direkt selber brauchen, der Verkauf imVordergrund steht. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Umdies zu erleichtern, bestehen Altlastenregelungen.Damitsollen auf dem Grundstücksmarkt und bei Investoren be-stehende Vorbehalte gegenüber ehemals militärisch ge-nutzten Anlagen abgebaut werden.Entscheidend aber werden das Engagement und dasZusammenspiel der regionalen Akteure sein, die schonjetzt über die Frage nachdenken sollten – ich weiß, dassviele Oberbürgermeister das auch tun –, wie sinnvoller-weise genau in diesem Bereich Gewerbeparks, Existenz-gründungszentren oder ähnliche Dinge angesiedelt wer-den können und wie dies zu einer Revitalisierung führenkann, die man vielleicht schon lange vorhatte, die aber einStück weit blockiert war, weil man bestimmte Grund-stücke nicht zur Verfügung hatte.Die ganze Angelegenheit ist schwierig. Wir müssen da-mit gemeinsam umgehen. Die Instrumentarien, die unsauf Bundesebene zur Verfügung stehen, wollen wir volleinsetzen. Das, was möglich ist, um im Bereich der Lie-genschaften flexibel zu helfen, werden wir tun. Denn derBundesregierung liegt daran, bei diesen LiegenschaftenFortschritte zu erzielen. Deshalb wird es zu einer Partner-schaft mit den Regionen, aber auch mit den Bundeslän-dern kommen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile
dem Kollegen Günther Nolting für die Fraktion der F.D.P.
das Wort.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Herr Staatssekretär Mosdorf,Sie haben hier über die Bundeswehrreform gesprochen.Dazu sage ich Ihnen: Die Bundeswehrreform desVerteidigungsministers ist halbherzig. Trotz schreienderWehrungerechtigkeit und nicht mehr vorhandener sicher-heitspolitischer Notwendigkeit wird an der allgemeinenWehrpflicht festgehalten. Die Personalreduzierungen sindnicht ausreichend. Es wird falsch strukturiert und auf-grund der massiven Kürzungen im Verteidigungshaushaltist die Bundeswehr unverantwortbar unterfinanziert.Anerkannte Fachleute und Institute warfen der F.D.P.1999 vor, dass unser Modell mit dem von uns berechne-ten Finanzplafond nicht finanzierbar sei. Sie hielten es fürausgeschlossen, eine auftragsbezogen ausgebildete undmodern ausgerüstete Bundeswehr bestehend aus260 000 Soldaten und 90 000 Zivilbediensteten mit einemHaushaltsumfang von 49 Milliarden DM zu finanzieren.Es ist für mich völlig schleierhaft, wie der jetzigeVerteidigungsminister Ausrüstungs-, Ausbildungs-, Infra-struktur- und Personalkosten für eine um rund 25 000 Sol-daten größere Bundeswehr als von der F.D.P. vorgeschla-gen aus einer Kasse bezahlen will, die rund4 Milliarden DM weniger aufweist, als die F.D.P. für ihrBundeswehrmodell der Zukunft für notwendig erachtet.Während die Binnenwirkungen der Bundeswehrre-form vorrangig durch den Verteidigungsminister zu ver-antworten sind, fallen die Außenwirkungen auf die ge-samte Bundesregierung zurück. Damit bin ich wiederbeim Ressortkonzept Stationierung. Dieses Konzeptwird erhebliche volkswirtschaftliche Konsequenzen undtief greifende arbeits- und strukturpolitische Einschnittefür die betroffenen Kommunen mit sich bringen.In den Standortgemeinden haben sich speziell aufdie Bundeswehr ausgerichtete Wirtschaftsstrukturen
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001
Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf15775
entwickelt. Es sind im Einzelhandel und im Handwerkstreitkräfteorientierte Märkte sowie regionale Abhängig-keiten zwischen der Bundeswehr und den kleinen undmittelständischen Unternehmen entstanden. Dies bedarfim Zuge des vorgesehenen Truppenabbaus einer gezieltenregionalökonomischen Anpassung.Der Verteidigungsminister und die Bundesregierunglehnen es jedoch grundsätzlich ab, den von Schließungund Kürzung betroffenen Kommunen Finanzhilfen zurKonversion zukommen zu lassen. Auch heute wurde hierwieder kein Konzept vorgestellt. Herr Mosdorf, was Siehier vorgetragen haben, ist nichts Neues. Sie sind über-haupt nicht auf die aktuelle Lage in den betroffenen Re-gionen eingegangen.
Dazu sage ich Ihnen: Es ist ein Skandal, wie sich derVerteidigungsminister und die Bundesregierung aus derVerantwortung stehlen. Es gibt keine zusätzliche Mark fürdie betroffenen Regionen. Herr Mosdorf, das haben Sie inIhrer Rede herausgestellt.
Erlauben Sie mir, meine Damen und Herren, auf daseinzugehen, was frühere Bundesregierungen – auch dieder 90er-Jahre – gemacht haben. Ich möchte dies vor al-len Dingen deshalb würdigen, weil die jetzige Regierungeigenes Versagen gern auf die Vorgängerregierungen ab-zuschieben pflegt.Ich möchte daran erinnern, dass es die Bundesregie-rungen von CDU/CSU und F.D.P. waren, die bei denStrukturveränderungen der Bundeswehr Anfang der 90er-Jahre ein Sonderprogramm „Gemeinschaftsaufgaben“aufgelegt haben. Die entsprechenden Bundeswehr-standorte haben 1993 und 1994 7 Milliarden DM zusätz-lich zur Verfügung gestellt bekommen. Herr Mosdorf, da-ran müssen Sie sich messen lassen.
Diese Regierung und vor allen Dingen MinisterScharping lieben große Worte. Sie müssen den großenWorten aber endlich große Taten folgen lassen. FordernSie beim Bundeskanzler die für die Bundeswehr überle-benswichtige deutliche Erhöhung des Verteidigungshaus-haltes ein! Lassen Sie sich auch nicht erst von Gerichtenzur Aussetzung der Wehrpflicht zwingen! Ersparen Sieden Streitkräften eine weitere Reform in den nächstenJahren! Setzen Sie sich beim Bundeskanzler für eine An-schubfinanzierung und für ein Konversionsprogrammein!Für die F.D.P. fordere ich die Bundesregierung auf,Herr Mosdorf, sofort ein Sonderprogramm einzuleiten,welches den von Standortschließung bzw. -reduzierungbetroffenen Kommunen hilft, die wirtschaftlichen undstrukturellen Folgen zu mildern. Es liegt ein entsprechen-der Antrag der F.D.P. vor. Ich hoffe, dass dieser auch dieUnterstützung im Ausschuss und dann hier im Plenumfindet.Lassen Sie mich zum Schluss noch eines sagen: ImZuge der Standortschließung bzw. -reduzierung sind be-triebsbedingte Kündigungen zu vermeiden. Sozialver-trägliche Lösungen für die betroffenen Zivilbedienstetensind zu finden. Notwendige Arbeitsplatzveränderungensind sozial abzufedern. Ich denke, die Zivilbedienstetenhaben einen Anspruch und warten auch darauf, dass end-lich etwas passiert. Auch hier sind Sie gefordert, HerrMosdorf.Vielen Dank.
Nun spricht
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollege
Hans-Josef Fell.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!Ich denke, wir sind uns alle einig: Eine Bundeswehrreformist ein notwendiger Schritt hin zu einer modernisiertenBundeswehr. Aber, meine Damen und Herren von derUnion und der F.D.P., eine Modernisierung im Rahmen derangestrebten Haushaltskonsolidierung kann nur mit einerVerkleinerung der Bundeswehr erfolgen. Wie wollen Siedenn sonst die Finanzmittel für die Modernisierung zumBeispiel in der Ausrüstung beschaffen?Verkleinerung heißt in der letzten Konsequenz aberauch, dass es Standortschließungen geben wird. Für diebetroffenen Kommunen gilt es Hilfe zu schaffen. Sie dür-fen nicht alleine gelassen werden.
Deshalb lassen Sie uns nun gemeinsam die Chancen einerzivilen Nutzung der zu schließenden Standorte heraus-stellen.
In diesen Zielen, denke ich, stimmen wir alle in diesemHohen Haus überein.
Dafür hat der Bund auch Mitverantwortung zu tragen; sohaben wir es in der Koalitionsvereinbarung festgeschrieben.
– Herr Rossmanith, vergessen Sie doch bitte nicht die Ver-gangenheit. 58 Standortschließungen heute entsprechenvon der Größenordnung her nicht der Schließung von vie-len hundert Liegenschaften, die unter Ihrer Regierungs-verantwortung beschlossen wurde.
Eine Reduzierung des Militär- und Zivilpersonals umrund 90 000 Stellen entspricht nicht dem Abzug von700 000 Soldaten unter Ihrer Regierungsverantwortung.So nämlich sahen die Konsequenzen der Streitkräftere-duzierungen der 90er-Jahre aus. Die Regionen hatten
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001
Günther Friedrich Nolting15776
damals mit viel weitreichenderen wirtschafts- und auchumweltpolitischen Problemen zu kämpfen als heute.
Damit will ich nicht die heutigen Schwierigkeitenkleinreden. Die betroffenen Kommunen haben sie zu be-wältigen. Aber unter Ihrer Regierung waren die Reduk-tionen, mit denen die Kommunen damals zu kämpfen hat-ten, wesentlich größer als heute. Was soll also die ganzeAufregung von heute? Ich muss mich schon fragen: Wel-che Konzepte zur Abfederung dieser strukturpolitischenSchwierigkeiten haben Sie denn damals entwickelt? HerrNolting, der Skandal, von dem Sie vorhin sprachen, fälltnatürlich ein ganzes Stück weit auf Sie zurück; denn trotzdes umfangreichen Truppenabbaus hat es keinen eigenenKonversionsfonds des Bundes gegeben. Bündnis 90/DieGrünen forderten ihn damals – vergeblich.Trotz harter Konsequenzen für die Regionen brachtedie alte Bundesregierung keine gesetzliche Regelung zurBewältigung des Konversionsprozesses zustande. Bünd-nis 90/Die Grünen brachten 1994 ein Bundeskonversi-onsgesetz ein, welches Sie ablehnten.
Meinte die alte Bundesregierung damals mit aktiverStrukturpolitik und Unterstützung der Regionen vielleichtdie pauschalierte Überlassung von 2 Prozent mehr Um-satzsteuer für die Länder? Wohl kaum. Zwar standen denLändern frei verfügbare Mittel in erheblichem Umfangzur Verfügung;
aber die Umsatzsteuermehreinnahmen verteilten sichnach Einwohnerzahl und nicht nach Betroffenheit vonTruppenabbau und nach Strukturschwäche der Region.Bayern beispielsweise war mit einem unterproportionalenAnteil von Standortschließungen überproportional vonden Mehrwertsteuereinnahmen begünstigt. Aber was ge-schah damals mit den Mitteln in Bayern? Fragen Sie ein-mal bei den Kommunen nach. Ich komme aus einer Kom-mune, die damals hart betroffen war. Ich weiß als Stadtrat,dass dort nichts ankam.
Nordrhein-Westfalen und Brandenburg – das sind übri-gens rot-grün regierte Länder – entwickelten Landeskon-versionsprogramme. Sie waren sehr erfolgreich.
Lassen Sie uns das jetzt gemeinsam besser machen.Wir halten die Vorschläge, die Sie in Ihren Anträgen ge-macht haben, für teilweise sehr interessant und auch kor-rekt.
Stellen wir den Regionen dem Ausmaß der Betroffenheitentsprechende Hilfen zur Seite. Wir von Bündnis 90/DieGrünen halten es jedenfalls für sinnvoll, dass beispiels-weise ein Bundeskonversionsbeauftragter als Vermitt-ler und Koordinator zwischen Bund, Ländern, Kommu-nen und Investoren berufen wird.
Wir meinen, dass der bestehende Gebäudebestand fürBildungseinrichtungen, sozialen Wohnungsbedarf undGewerbebedarf genutzt werden kann, dass die Konversi-onsflächen für den Städtebau verwendet werden könnenund dass die betroffenen Regionen zielgerichtet Förder-mittel aus Regionalstrukturprogrammen benötigen. Diesmuss keine Aufstockung der Haushaltsmittel bedeuten,sondern kann auch durch Umschichtungen erfolgen.
Der Bund hat aus grüner Sicht auch Verantwortung fürdie Altlastenbefreiung zu tragen, sodass eine zivile undumweltgerechte Nachnutzung kontaminierter Liegen-schaften möglich ist. Ermöglichen wir doch die Einrich-tung von Naturschutz- oder Landschaftsparks auf ehema-ligen militärischen Übungsflächen. Besonders dort habensich einzigartige Biotopverbundsysteme herausgebildet,da das Gelände über Jahrzehnte nicht bebaut und nur par-tiell genutzt worden ist.
Nutzen wir bestehende Bundesförderprogramme, umInvestitionen in Konversionsflächen und Gebäude zusätz-lich zu erleichtern. Dies soll besonders wachstumsinten-sive Investitionen begünstigen, die nicht nur einearbeitsplatzschaffende, sondern auch eine ökologischeZielsetzung verfolgen, zum Beispiel Investitionen zurEnergieeinsparung, zur Erzeugung von erneuerbarenEnergien und für den ökologischen Landbau. Die ent-sprechenden Rahmenbedingungen haben wir bereits ge-schaffen. Wir fordern natürlich auch die Länder undbesonders die Kommunen auf, eigene kreative Nachnut-zungskonzepte zu entwickeln; denn nur die Regionenselbst wissen am besten, wofür ein geschlossener Stand-ort zivil genutzt werden kann.
Mit solchen Maßnahmen können wir den Regionen imaktuellen Konversionsprozess mehr und effektivere Hilfezur Seite stellen, als es die alte Bundesregierung in ihrerersten umfangreichen Konversionsetappe getan hat. Nut-zen wir die Chancen, die uns die zivile Nachnutzung mi-litärischer Liegenschaften bietet. Auf der einen Seite kön-nen Arbeitsplätze in neu angesiedelten Unternehmenentstehen. Arbeitsplätze können aber auch durch das Her-richten der Liegenschaften, zum Beispiel für Bauunter-nehmen, entstehen. Damit können die betroffenen Regio-nen ihre Wirtschaftskraft nachhaltig stärken. Auf deranderen Seite können unsere Umweltbedingungen durchdie Beseitigung militärischer Altlasten und durch die
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001
Hans-Josef Fell15777
künftige Vermeidung von militärisch bedingten Umwelt-belastungen wie Flug- und Schießlärm verbessert werden,aber auch durch die Rückgabe von Liegenschaften zurSchaffung von Natur und Parkflächen.Lassen Sie uns die gemeinsamen Chancen der Stand-ortschließungen nutzen. Lassen Sie uns dabei im Sinneder ökologischen Modernisierung nicht nur zum Schutzeunserer natürlichen Lebensgrundlagen beitragen, sondernauch gleichzeitig Arbeitsplätze schaffen und die Regionenwirtschaftlich stärken.
Bündnis 90/Die Grünen wollen die betroffenen Kommu-nen nicht alleine lassen.
Der Kollege
Kutzmutz ist schon im Anmarsch. Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Es ist – Ihnenfällt das wahrscheinlich gar nicht mehr auf – schon ein ei-genartiges Schauspiel eines Rollenwechsels, das hierstattfindet. In ihren Anträgen fordern CDU/CSU undF.D.P. ein Bundeskonversionsprogramm. Genau das ha-ben Sie als Regierungskoalition immer abgelehnt: DieLänder hätten schließlich bei dem Steuerkompromiss An-fang der 90er-Jahre von der Mehrwertsteuererhöhung2 Prozentpunkte abbekommen und daraus seien die Mehr-belastungen durch den Truppenabbau zu finanzieren.SPD und Grüne haben in ihren Oppositionstagen– lang, lang ist es her – die Verantwortung des Bundes beider Abfederung der Folgen von Rüstungsminderung im-mer vehement eingefordert. Rudolf Scharping und Frak-tion verlangten am 6. November 1996 ein Konversions-programm des Bundes.
Heute verlangt Rudolf Scharping kein Konversionspro-gramm mehr, sondern beispielsweise 500 Millionen DMfür den Ausbau des früheren sowjetischen Übungsplatzesin der Kyritz-Ruppiner Heide. Dabei klagen die meistenAnliegergemeinden nicht nur gegen eine erneute militäri-sche Nutzung, sie haben auch Konversionskonzepte er-arbeitet, die jedoch durch den Wiedereinzug des Militärsim wahrsten Sinne des Wortes bombardiert werden. Esliegt eine absurde politische Gefechtslage vor, die abereine mögliche Finanzierungsquelle des unverzichtbarenBundesprogramms aufzeigt.In der Sache, liebe Kolleginnen und Kollegen von derCDU/CSU, ist Ihr Antrag insoweit zu unterstützen, als esnicht angehen kann, dass die Bundesregierung eine Ver-kleinerung der Bundeswehr verordnet, die Städte, Ge-meinden, Kreise und Länder mit deren Folgen aber im Re-gen stehen lässt.
Herr Fell hat eben gesagt, wir dürften die Betroffenennicht alleine lassen. Wir fordern, frei werdende Mitteldafür zu nutzen, die Abrüstung sozial- und umweltver-träglich zu gestalten.
AuchKreativität, Herr Fell, kostet Geld. Mit Kreativitätallein hat es noch nicht einmal ein Modeschöpfer weit ge-bracht. Auch bei der Bundeswehr lösen sich die Problemenicht von alleine. Deshalb fordern wir ein Abrüstungs- undKonversionskonzept, das den Abbau der Streitkräfte mitgezielter regionaler Wirtschaftsförderung verbindet.Die für die Wirtschaftsförderung vor Ort zuständigen Stel-len brauchen ganz schnell belastbare Daten darüber, wannein Objekt in welchem infrastrukturellen Zustand von derBundeswehr geräumt wird. Es geht um Personal, Qualifi-kation und vieles andere mehr.
Wir brauchen einen Konversionsfonds des Bundes, undzwar nicht zuletzt deshalb, weil die EU-Förderung derKonversion gerade ausläuft. Niedersachsen hat eine Bun-desratsinitiative gestartet, die von Mecklenburg-Vorpom-mern unterstützt wird. Wer hindert die Bundesregierung da-ran, entsprechende Mittel für diesen Zweck einzustellen?Bei dem Umfang der Förderung muss nach meiner Auffas-sung die tatsächliche Strukturschwäche der Region undnicht nur der militärische Verlust einkalkuliert werden.Ich habe das Ressortkonzept Stationierung einmalnach Ländern aufgeschlüsselt und den Anteil der einzel-nen Länder an den vorgesehenen Dienstposten mit ihremAnteil an der Bevölkerung und der Bruttowertschöpfungverglichen. Das Ergebnis war, dass auch nach der neuenBundeswehrstruktur alle westdeutschen Flächenländer– mit Ausnahme von Hessen und Baden-Württemberg,die ja vergleichsweise kräftige Regionen sind – nach wievor überproportional viel vom Wirtschaftsfaktor Militärprofitieren werden. Diese Feststellung bedeutet keines-wegs einen Appell, mehr Bundeswehr in den Osten zubringen. Es braucht also kein Bayer zu fürchten, er müssenach Eggesin.
– Sie kennen Eggesin nicht.Konversion und die Herausforderungen der Regional-und Strukturpolitik sind zwei Seiten einer Medaille. Wasspricht eigentlich dagegen, zu versuchen, die Problemedes Bundeswehrabzuges im Zusammenhang mit den Pro-blemen aus der EU-Osterweiterung zu lösen, bei der eineSonderförderung für die an den bisherigen EU-Außen-grenzen liegenden Regionen unverzichtbar ist?
Wie die Programme heißen, ist letztendlich egal. Ent-scheidend bleibt allein, dass den von einem Strukturwan-del betroffenen Menschen und Regionen tragfähige Per-spektiven geboten werden müssen.Danke schön.
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Hans-Josef Fell15778
Nun spricht
der Kollege Christian Müller für die Fraktion der SPD.
Herr Präsident!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich– erstens – unterstreichen, was der Kollege Mosdorf be-reits zum Ausdruck gebracht hat: Es ist für die betroffe-nen Regionen keine leichte Aufgabe, mit den Folgen ei-nes Strukturwandels – gleich welcher Art, natürlich auchbedingt durch die Schließung von Bundeswehrstand-orten – umzugehen. Die Forderung, dies auch parlamen-tarisch zu behandeln, ist sicherlich berechtigt. Trotzdemwird uns die Schilderung der Einzelfälle, die man hiernatürlich komplett vornehmen könnte, vermutlich nichtallzu weit bringen.Lassen Sie mich – zweitens – ein Wort zu einigen De-battenbeiträgen sagen. Wir werden sicherlich nicht in derLage sein, hier erneut über die Bundeswehrreform zu de-battieren. Eine Neuauflage dieser Debatte ist nicht mög-lich. Das steht nur unseren Kollegen Verteidigungspoliti-kern zu. Außerdem ist über diese Reform reichlichdiskutiert worden.
– Nun beruhigen Sie sich wieder! – Trotzdem sei an die-ser Stelle auf ein paar Dinge hingewiesen, die hinter derDebatte über die Bundesreform stehen.Der Bericht des Wirtschaftsausschusses hat uns ge-zeigt, dass die Rationalisierungspotenziale letztendlichnoch nicht voll ausgeschöpft wurden, sodass man festhal-ten muss: Auch strukturpolitische Verantwortung hat beidem jetzigen Standortkonzept offenbar eine Rolle ge-spielt. Das möchte ich unterstreichen.Speziell Herr Kutzmutz hat einige Anmerkungen zumThema Rollenwechsel gemacht. Wenn man nachforscht,wird man sicherlich auch auf die Antwort auf eine GroßeAnfrage der SPD – Drucksache 13/4747 – zum ThemaKonversion stoßen. Finanzminister Theo Waigel hat da-mals gesagt:Aus der Zuständigkeit des Bundes für die Verteidigungergibt sich entgegen der Anfrage keine verfassungs-rechtliche Zuständigkeit des Bundes, Maßnahmen hin-sichtlich der Auswirkungen der Konversion zu treffen.Nach harten Verhandlungen im Vermittlungsausschusskam dann das zustande, was Herr Fell und Herr Kutzmutzbereits erwähnten.
Letztendlich konnten durch die Erhöhung des Anteils derLänder am Mehrwertsteueraufkommen von 35 Prozentauf 37 Prozent 2 Prozent für die Konversion verwendetwerden.
Sie dürften sich sicherlich auch noch daran erinnern, dassdie Mittel, die den Ländern im Zuge der Erhöhung desMehrwertsteuersatzes von 14 Prozent auf 15 Prozentzusätzlich zur Verfügung standen, ebenfalls in den Kon-versionsprozess einfließen durften. Zum Thema der pro-portionalen, unterproportionalen oder überproportionalenNutzung hat der Kollege Fell, glaube ich, das Notwendigegesagt.Sie reden zwar immer von 7 Milliarden DM. Aberwenn Sie genau nachrechnen, dann werden Sie feststel-len, dass insgesamt 39 Milliarden DM zur Verfügung ste-hen, die in den Konversionsprozess eingespeist werdenkönnen. Diese Mittel sind nach unserer Regierungsüber-nahme nicht gestrichen worden. Sie stehen bis heute zurVerfügung. Herr Rossmanith, auf Bayern entfallen davonimmerhin 5,8 Milliarden DM. Das sind 700 Mil-lionen DM im Jahr. Das ist nicht gerade wenig.
– Ich hoffe, Sie wollen mit Ihrem Zwischenruf nicht zumAusdruck bringen, dass die Konversion nun ein für alleMal abgeschlossen sei, weil sie schon damals begonnenwurde. Konversion wird immer eine Aufgabe sein, sooder so.Ich möchte darauf nicht näher eingehen, weil ichglaube, dass die Debatte darüber viel zu kurz greift, undweil wir uns aus den verschiedensten Gründen struktur-politischen Herausforderungen – die Konversion ist nureine davon – im Grunde genommen permanent stellenmüssen, und zwar auch in Zukunft.Vor welchen Herausforderungen stehen wir? Wir ste-hen vor der Herausforderung der Globalisierung – die eu-ropäische Wirtschafts- und Währungsunion gehört ge-nauso dazu –, die den Wettbewerb der Standorteverschärft. Wir stehen vor der Herausforderung, dieStrukturdefizite in Ostdeutschland, die bis heute nochnicht ausgeglichen werden konnten, zu beseitigen. Wirstehen des Weiteren vor der Herausforderung des überre-gionalen Wettbewerbs, von dem insbesondere die ost-deutschen Standorte betroffen sind. Wir werden in Kürzedurch die EU-Osterweiterung einen weiteren Schub inRichtung Strukturwandel erhalten. Wir sind in einerPhase, in der es um die Umorientierung der Agrarpolitikgeht; auch das ist ein Strukturwandel im ländlichen Raum.Wenn man all das einmal zusammennimmt, wird man zuder Ansicht gelangen müssen, dass man auf einzelne Her-ausforderungen nicht jeweils mit Einzel- und Sonderpro-grammen reagieren kann.
Vielmehr muss man die Ansätze nutzen und verstärken,über die man verfügen kann.Natürlich ist die Frage, ob gerade die Problemregionenden Strukturwandel aus eigener Kraft zuwege bringen,besonders heikel. Deswegen haben wir bereits in unsereneuropapolitischen Anträgen zum Ausdruck gebracht, dassBund und Länder eine verstärkte Verantwortung für dieModeration, die Koordinierung und auch die Begleitung
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des Strukturwandels in den Regionen übernehmen müs-sen. Das halte ich für besonders wichtig.Im Übrigen haben wir ein bewährtes strukturpoliti-sches Instrumentarium, das wir zur Anwendung bringenkönnen. Ich erwähne in diesem Zusammenhang die diver-sen Gemeinschaftsaufgaben von der Verbesserung derregionalen Wirtschaftsstruktur über Agrarstruktur, Hoch-schulbau, Forschungsförderung, Städtebau, Innovations-technologieförderung, Mittelstandsförderung, beruflicheBildung bis hin zum Arbeitsmarkt und so weiter. Wir ha-ben es nicht nötig, Neues zu erfinden und dadurch sprich-wörtlich die Gießkanne mit Mitteln zu füllen, die nichtzielgerichtet verteilt werden können.
Vielmehr kommt es darauf an, die strukturpolitischenSchwerpunkte zu definieren und Prioritäten zu setzen.Natürlich müssen wir die wirksamsten Instrumente finan-ziell stärken und die Förderprogramme besser aufeinanderabstimmen, sodass der Erfolg auf Projektebene durch einebessere Koordination erreicht werden kann. Ich denke,wir haben noch immer den eklatanten Mangel, dass dieverschiedenen raumwirksamen Politikansätze des Bundesund der Länder zu schlecht koordiniert werden. Das istdoch ein politischer Denkansatz, mit dem wir uns einmalgenauer beschäftigen sollten.
– Ich fürchte, das fehlte gerade noch. Wenn Sie das wün-schen, müssen Sie erst einmal eine Wahl gewinnen, dannkönnen Sie das ja vielleicht werden.
Wir haben zum Ausdruck gebracht, dass wir auch indiesem Zusammenhang darauf achten müssen, dass wirdie Instrumente zur gewerblichen Förderung in Brüsselmit Blick auf das Beihilferecht absichern müssen und dasswir dafür sorgen müssen, vernünftige Spielräume für na-tionale Programme zu behalten. Das ist eine der Aufgabenund Herausforderungen, die uns gerade beim europä-ischen Einigungsprozess ins Haus stehen.Aus diesen Gründen darf man durchaus etwas über dieFinanzierungsmöglichkeiten nachdenken. Die Konzen-tration der Mittel innerhalb der Programme und der GAwird sicherlich auf Grenzen stoßen. Denn wo man kon-zentriert, wird man zwangsläufig an anderer Stelle eineLücke hinterlassen. Deswegen wird man so begrenzte Er-folge haben, aber nicht eine allgemeine Lösung finden.Wichtiger wäre es – ich denke, Sie könnten das ruhig ein-mal in Ihre Überlegungen einbeziehen –, darüber nach-zudenken, wie man eine sinnvolle Umschichtung zwi-schen konsumtiven und investiven Aufgaben zustandebekommt, was in diesem Zusammenhang sehr sinnvollwäre. Auch der Übergang von strukturkonservierendenhin zu strukturverbessernden Maßnahmen gehört zu denMitteln, die wir selbst dann noch haben, wenn wirHaushaltskonsolidierung als ein wesentliches Prinzip un-serer Politik festschreiben müssen.
Neben all dem brauchen wir, denke ich, mehr Klarheitin Förderprogrammen; die Beseitigung von Parallelförde-rung und Überschneidungen kann ebenfalls einen Beitragdazu leisten. Dann können wir darüber reden, wie aufdiese Art und Weise zusätzliche Mittel für die wirksams-ten Instrumente, die wir zur Behebung struktureller Defi-zite benötigen, organisiert werden können.Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen: Nichtneue Programme sind die Lösung des Problems,
sondern die bessere Koordinierung und Ausstattung unse-rer bewährten strukturpolitischen Programme. Deswegenkann man Ihre Forderung nach einem Konversionspro-gramm, was heute in verschiedenen Varianten vorgetra-gen wurde, nur ablehnen.
Für die
CDU/CSU-Fraktion gebe ich das Wort dem Kollegen
Wolfgang Börnsen.
HerrPräsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! ChristianMüller hat Recht: In der Vergangenheit sind von derKoalition aus CDU/CSU und F.D.P. Mittel für die Kon-version ausgegeben worden, und zwar durch die Verbes-serung der Umsatzsteueranteile und der Mehrwertsteuer-anteile für die Bundesländer.
Das bedeutet, dass die Länder und die Kommunen 7 Mil-liarden DM mehr aus dem Umsatzsteueraufkommen und32Milliarden DM mehr aus dem Mehrwertsteueraufkom-men bekamen. Insgesamt bekamen die Länder und dieKommunen also 39 Milliarden DM, um die durch denAuszug der Bundeswehr entstandenen Probleme auszu-gleichen. Heute gibt es dagegen keine einzige müdeMark.
Es ist schon fast vergessen, dass der 16. Februar 2001für 60 000 Soldaten und für 45 000 zivile Mitarbeiter einschwarzer Tag war. Über 200 Kommunen – die kleinen
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001
Christian Müller
15780
dürfen nicht vergessen werden – leiden darunter, dass dieBundeswehr aus den dortigen Standorten abgezogenwird.
Herr Kol-
lege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
Hans Büttner?
Nein,
im Augenblick nicht. Ich möchte erst einmal im Zusam-
menhang vortragen.
Ich spreche deshalb von einem schwarzen Tag, weil
nicht nur die Betroffenen auf einmal merkten, dass es für
sie ernst wird, sondern auch deshalb, weil klar wurde, dass
hinter diesem Abzug kein Konzept steht.
Man weiß nicht, wie es weitergehen wird. Nichts geht
weiter!
Heute ist noch einmal deutlich geworden: Es gibt keine
Stellungnahme zu einer Konversion, weder vom Verteidi-
gungsminister noch vom Finanzminister noch vom Bun-
deskanzler – Fehlanzeige! So zu handeln, nenne ich ver-
antwortungslos.
Au
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der Hauptteil des Abzuges findet in strukturschwachenRegionen statt. Dort gibt es einen Verlust an Kaufkraftund einen Wegfall an Arbeitsplätzen.Das und nichts an-deres ist die Wirklichkeit.
Nach meiner Auffassung geht der Kasernenabbauschon vom Grundsatz her zu weit: Die Personalstärke derBundeswehr und ihre materielle Ausstattung müssen sichan sicherheitspolitischen und nicht an finanzpolitischenErwägungen orientieren. 1990 betrug derVerteidigungs-haushalt noch 57,5 Milliarden DM; im Jahr 2000 beliefer sich auf 45,3 Milliarden DM und in diesem Jahr beträgter 44,8 Milliarden DM, so wenig wie nie zuvor. Das istnicht zu verantworten. Eichel diktiert, Scharping reagiert.
Nach Auffassung der Union – sie wird internationalgeteilt – dürfte die Bundeswehr in diesem Umfang garnicht reduziert werden. Wenn wir noch regierten, dannständen nicht 60 000 militärische und 45 000 zivileDienstposten zur Disposition. Nicht nur das Ausmaß, son-dern auch die Umsetzung ist in vielen Teilen militärischfragwürdig und wirtschaftlich unvertretbar. Der Verteidi-gungsminister sagte, der Bundeswehrabbau müsse ausge-wogen sein. Doch Bayern – mit 15 000 Dienstposten –und Schleswig-Holstein – mit 10 000 Dienstposten – wer-den überproportional belastet. Das ist ungerechtfertigt!
Arbeitsmarkt und Wirtschaftskraft, so der Verteidi-gungsminister, seien bei der Kasernenauswahl entschei-dende Maßstäbe. Ich nenne das Beispiel Bundeswehrstand-ort Schleswig: Das Bataillon – hochmodern ausgestattetund bestens untergebracht – verfügt über hervorragende In-frastrukturbedingungen. Es erfüllt zudem die zentralenFunktionen des Katastrophenschutzes für Schleswig-Hol-stein und Hamburg. Mit der faktischen Schließung werdender Stadt an der Schlei 10 Prozent ihrer fast 13 000 Arbeits-plätze und 22 Millionen DM ihrer Kaufkraft genommen.
Es wird auf eine Kaserne verzichtet, die man in den letz-ten zehn Jahren für 20 Millionen DM ausgebaut hat undin der zusätzlich 710 Soldaten aufgenommen werdenkönnten. Nach der neuen Planung soll wenige Kilometerweiter westlich eine neue Kaserne aufgebaut werden. Dashat mit Einsparen nichts zu tun. Das ist „Scharping-Schilda“ in Reinkultur.
Der Abzug der Soldaten aus der Schlei-Stadt entsprichtnicht militärischen Absichten. 42 Hektar Liegenschaften,günstig direkt am Wasser gelegen, könnten zu einerGoldader für die GEBB werden; sie verfügt darüber.Diese Gesellschaft, seit sechs Monaten im Amt, soll be-reits in diesem Jahr 1 Milliarde DM einnehmen. Es wer-den faktisch nur 300 Millionen DM. Dafür bleibt aber dasEinkommen der Präsidentin, einer ehemaligen SPD-Se-natorin, konstant. 600 000 DM verdient sie im Jahr.Außerdem bekommt sie eine Gewinnbeteiligung. Dakönnte man ironisch sagen: Dann wird ihr Gehalt sicherdurch das Tagegeld stabilisiert, das man den Kosovo-Sol-daten von 180 DM auf 155 DM reduzieren will. Das istdie Wirklichkeit und die Gerechtigkeit in unserem Land!
Nehmen Sie ein zweites Beispiel, das von Basepohlund Eggesin in Mecklenburg-Vorpommern. Die Arbeits-losigkeit beträgt 25 Prozent.
Jeder Vierte findet keine Arbeit. Trotzdem schließt Rot-Grün die Standorte. Eine der strukturschwächsten Regio-nen in Deutschland, die sich gerade zu entwickeln be-ginnt, wird platt gemacht. Nach Aussage meines KollegenUlrich Adam kommt es nicht nur zu einem Kaufkraftver-lust von 30 Millionen DM jährlich, sondern die Kasernenhaben im Aufbau 80 Millionen DM gekostet. Das nenneich volkswirtschaftlich unsinnig und skandalös.
Zusammenfassend ist festzustellen: Hier wird ruck-zuck reduziert. Es gibt kein schlüssiges Handlungskon-zept, weder für die 105 000 betroffenen Menschen noch
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für die Kommunen. Es ist eine Reform ohne Verantwor-tung für die Folgen. Es fehlt immer noch ein gesamtstaat-liches Konzept zur Kompensation des Bundeswehrab-baus. Erforderlich ist ein faires Konversionsprogramm.Das gibt es nicht. Erforderlich sind Mittel für die Investi-tionen. Die gibt es nicht. Erforderlich sind auch vernünf-tige Maßnahmen für die Zivilverwaltung.Verdi, die neue Gewerkschaft, beklagt den Abbau von7 000 zivilen Dienstposten allein für Mecklenburg-Vor-pommern und Schleswig-Holstein. Sie kritisiert die rot-grünen Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes und sagt:Sie blockieren alle Tarifverhandlungen, sie sind hinhal-tend, unmodern und gleichgültig. Sie beklagt die fehlendeArbeitsplatzzusage und – das wird Sie besonders interes-sieren – seit vorgestern sind die Verhandlungen abgebro-chen, weil die öffentlichen Arbeitgeber blockiert haben.Die jetzigen zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr werdenvon ihrem obersten Chef im Regen stehen gelassen.
Im jüngsten Brief zum Tarifvertrag Konvers werdenunverhüllt Kampfmaßnahmen angedroht. Das ist in derGeschichte der Bundesrepublik einmalig: Zivilbeschäf-tigte der Bundeswehr gehen auf die Straße. Das hat es inDeutschland noch nie gegeben! Das ist eine ganz großeEnttäuschung, die sich da breit macht, ein Protest gegen-über dem Bundesverteidigungsminister.Ich will, Herr Präsident, zum Schluss auf ein Dilemmaaufmerksam machen, –
Aber bitte in
zwei Sätzen.
– in
dem sich der Bundesverteidigungsminister befindet. Er
befindet sich in einer Sandwichposition zwischen Eichel,
der weniger Geld für die Wehr will, und dem Teil der Grü-
nen, der die Bundeswehr abschaffen will. Das Resultat
sind Reformen, die auf Sand gebaut sind.
Damit
schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/5550 und 14/5467 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Das
Haus ist damit einverstanden, dann sind die Überweisun-
gen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung und Ergänzung des Anspruchs- und
– Drucksache 14/5640 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Innenausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe für die Bundesre-
gierung der Parlamentarischen Staatssekretärin im Bun-
desministerium für Arbeit und Sozialordnung, der Kolle-
gin Ulrike Mascher, das Wort.
U
Herr Präsident!
Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kollegen! Liebe
Kolleginnen! Der zur Beratung anstehende Regierungs-
entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung und
Ergänzung des Anspruchs- und Anwartschaftsüber-
führungsgesetzes setzt die zwingenden Vorgaben des
Bundesverfassungsgerichtes um.
– Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz, ab-
gekürzt AAÜG, Herr Koppelin.
Ich hatte da-
mit vorhin ebenfalls Probleme.
U
Das Gericht hatmit seinen Urteilen vom 28. April 1999 den Gesetzgeberbeauftragt, verfassungswidrige Teile der Überleitung derZusatz- und Sonderversorgungssysteme der DDR in dasbundesdeutsche Rentenrecht dem Grundgesetz entspre-chend zu ändern. Gleichzeitig hat das Gericht aber dieGrundsatzentscheidung des Gesetzgebers bestätigt, dieAnsprüche und Anwartschaften aus Zusatz- und Sonder-versorgungssystemen in die Rentenversicherung zu über-führen und dabei die systematischen Grenzen, zum Bei-spiel die Beitragsbemessungsgrenze, zu beachten.Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerich-tes und die konkretisierende Rechtsprechung für eine ver-fassungskonforme Regelung des Bundessozialgerichteshaben in einem ausgesprochen kontrovers und heftig dis-kutierten Bereich des deutschen Einigungsprozesses dienotwendige Klärung bewirkt. Es ist zu hoffen, dass dieszum Rechtsfrieden beiträgt. Bei der Umsetzung der Vor-gaben der Gerichte für eine verfassungskonforme Rege-lung der Überführung lässt sich der Gesetzgeber von derbefriedenden Funktion dieser Entscheidungen leiten undsetzt eins zu eins die zwingenden Vorgaben des Gerichtsverbindlich um.Der Gesetzentwurf regelt Folgendes: Der Vertrauens-schutz für die rentennahen Jahrgänge wird auf den Zeit-raum bis zum 30. Juni 1995 ausgedehnt. Die in verfas-sungskonformer Auslegung geforderte Dynamisierungdes besitzgeschützten Zahlbetrages wird entsprechend der
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Auslegung des Bundessozialgerichtes mit den Anpas-sungswerten der alten Bundesländer durchgeführt. DieZahlbetragsbegrenzung wird für die „nicht systemna-hen“ Zusatzversorgungssysteme aufgehoben. Im Übrigenbleibt die Zahlbetragsbegrenzung 2 010 DM für Sonder-versorgungs- und „systemnahe“ Zusatzversorgungssys-teme bestehen.Die Zahlbetragsbegrenzung für das Versorgungssys-tem des Ministeriums für Staatssicherheit bzw. des Amtesfür Nationale Sicherheit wird verfassungskonform ent-sprechend den Bestimmungen des Volkskammergesetzesüber die Aufhebung der Versorgungsordnung des ehema-ligen Ministeriums für Staatssicherheit bzw. des Amtesfür Nationale Sicherheit ausgestaltet.Die Entgeltbegrenzung für sonstige staatsnah tätigeZusatz- und Sonderversorgte, wie dies im Rentenüberlei-tungs-Ergänzungsgesetz von 1993 vorgesehen war, wirdnach Maßgabe des Urteils des Bundesverfassungsgerich-tes aufgehoben. Die Entgeltbegrenzung für die Bemes-sungsgrundlage zur Rentenberechnung für Angehörigedes Versorgungssystems des Ministeriums für Staatssi-cherheit bzw. des Amtes für Nationale Sicherheit wird von70 Prozent auf 100 Prozent des Durchschnittentgeltes an-gehoben.Entsprechend den Vorgaben des Bundessozialgerichteswird die Neuberechnung von Bestandsrenten zum Zeit-punkt der Rentenüberleitung im Wege der Vergleichsbe-rechnung vorgenommen.Das alles mag Ihnen höchst fachchinesisch erscheinen,hat aber für die betroffenen Menschen ganz erheblicheAuswirkungen. Ich hoffe, dass das zur befriedenden Wir-kung der Urteile beiträgt.
Bestandteil des Änderungsgesetzes sind darüber hi-naus Regelungen zu den Beschäftigungszeiten bei derDeutschen Reichsbahn und bei der Deutschen Post, dieEntscheidungen des Bundessozialgerichtes vom 10. No-vember 1998 über die Anrechnung des Arbeitsverdienstesoberhalb von 600 Mark für Beschäftigungszeiten bei derDeutschen Reichsbahn und der Deutschen Post berück-sichtigen. Dabei wird klargestellt, dass auch für Beschäf-tigungszeiten bei der Deutschen Reichsbahn und derDeutschen Post bei der Rentenberechnung grundsätzlichnur der erzielte Arbeitsverdienst, für den tatsächlichBeiträge gezahlt worden sind, in die Ermittlung der Ent-geltpunkte eingeht.Für Beschäftigungszeiten bei der Deutschen Reichs-bahn oder bei der Deutschen Post vom 1. März 1971 bis31. Dezember 1973 soll bei der Rentenberechnung gene-rell das tatsächlich erzielte Arbeitsentgelt auch ohneBeachtung der Beitragszahlung zur freiwilligen Zusatz-rentenversicherung der ehemaligen DDR, der FZR, be-rücksichtigt werden.Darüber hinaus – das wird die Reichsbahner und Post-ler besonders freuen – soll für Versicherte, die am 31. De-zember 1973 bereits zehn Jahre bei der Deutschen Reichs-bahn oder bei der Deutschen Post beschäftigt gewesensind, im Zeitraum vom 1. Januar 1974 bis 30. Juni 1990ein Arbeitsverdienst bis zu 1 250 Mark monatlich eben-falls ohne Beitragszahlung zur FZR berücksichti-gungsfähig sein.Ich denke, die Vertreter der Reichsbahner und der Post-ler haben mit einer unermüdlichen Lobbyarbeit, aber auchmit Unterstützung von Bundestagsabgeordneten der SPDund auch der anderen Fraktionen
daran mitgearbeitet. – Allerdings haben Sie die Chance,Veränderungen vorzunehmen, leider nicht genutzt, als Siean der Regierung waren.
Alle haben aber dazu beigetragen und ich denke, dieReichsbahner und Postler können auf ihr Ergebnis stolzsein.
Für all diese Korrekturen werden vom Bund und vonden neuen Bundesländern erhebliche finanzielle Leis-tungen erbracht. Ich kann nur noch einmal sagen: Ichhoffe sehr, dass die Umsetzung dieser Urteile zu einerweiteren Befriedung der schwierigen Debatte über diesenTeil der Rentenversicherung führt und dass damit insge-samt gesehen wird, welch große sozialpolitische Leistungdie Überführung des Rentenversicherungssystems derDDR in das der Bundesrepublik zum Nutzen der Rentne-rinnen und Rentner war.Danke.
Für die
Fraktion der CDU/CSU spricht nun die Kollegin Claudia
Nolte.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Diejenigen, die uns schon vorJahren gesagt haben, dass uns die Rentenüberleitung nochlange Kopfzerbrechen und Bauchschmerzen bereitenwird, haben Recht behalten. Dass dies ein der jetzigenBundesregierung sehr unangenehmes Thema ist, siehtman allein daran, dass das Gesetz erst jetzt eingebrachtwurde, um unliebsame Diskussionen vor den Landtags-wahlen zu verhindern.
Sie haben wenig Zeit, um die Verfassungsgerichtsurteileumzusetzen. Wir haben eine sehr knappe Beratungszeit.Dieses Gesetz ist nicht nur im Westen, sondern auf-grund des Regelungsinhaltes auch im Osten problematisch
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Parl. Staatssekretärin Ulrike Mascher15783
zu vermitteln. Auch bei uns fragen sich viele, warum aus-gerechnet diejenigen – nämlich die Mitarbeiter des MfS– jetzt mehr Rente erhalten sollen, obwohl viele Men-schen, die keine Chance hatten, anständige Rentenan-wartschaften zu erwirtschaften, gar nichts erhalten.
Deshalb sage ich für unsere Fraktion: Bei allen Detailfra-gen dieses Gesetzentwurfs ist ein Punkt ganz entschei-dend. Es ist für uns nicht akzeptabel, dass wir uns aus-schließlich um die Renten von MfS-Mitarbeiternkümmern, ohne etwas für die zu tun, die Opfer dieses Sys-tems gewesen sind.
Für uns ist ganz entscheidend und wichtig, dass wir unsum diese Personengruppe kümmern. Deshalb haben wirschon im Juni des letzten Jahres das Dritte SED-Un-rechtsbereinigungsgesetz eingebracht.
Wir wären sehr dankbar, wenn Sie uns in diesem Punktfolgen würden. Erst wenn wir an dieser Stelle befriedi-gende Lösungen haben, können wir davon sprechen, dasswir zum Rechtsfrieden in der Rentenüberführung beitra-gen konnten.
So schmerzhaft manches in den Urteilen auch war,sind sie doch für uns bindend. Deshalb sind wir umsoüberraschter, dass die Bundesregierung in den Punkten,wo tatsächlich Handlungsbedarf besteht, hinter den Urtei-len zurückbleibt und nicht die Chance nutzt, Ungerech-tigkeiten abzubauen.
Ich denke hier insbesondere an die Regelung für Hoch-schullehrer und Professoren. Frau Mascher, ich weißnicht, woher Sie die Hoffnung auf Rechtsfrieden nehmen.Denn die Briefe, die ich bekomme, bekommen auch Sie.Die Problempunkte sind also allen hier im Hause sehrwohl bekannt. Lassen Sie mich einige davon ansprechen.Das Bundesverfassungsgericht sagt eindeutig: Die Dy-namisierung hat ab dem 1. Januar 1992 zu erfolgen. DerGesetzentwurf sieht demgegenüber eine Dynamisierungab dem 1. Juli 1992 vor, was dazu führt, dass den betroffe-nen Hochschullehrern eine Steigerung um 6,84 Prozentnicht zuerkannt wird, die alle anderen Rentner bekommenhaben, um die zusätzliche Belastung durch die Kranken-versicherungsbeiträge, die es damals gegeben hat, aus-zugleichen.
– Nein. – Es geht um die Frage, ob Sie bereit sind, in denEntwurf entsprechende Regelungen aufzunehmen.Noch gravierender ist – das steht in einem offenen Wi-derspruch zum Bundesverfassungsgerichtsurteil –, dassdie Bestandsrenten für zusatzversorgte ehemalige Wis-senschaftler der DDR nicht gemäß der RentenanpassungOst, sondern der Rentenanpassung West errechnet wer-den. Wir wissen alle, wie die Lohnanpassungen ausgese-hen haben und dass sich daraus für die neuen Bundeslän-der logischerweise ganz andere Rentenanpassungenergeben haben. Deshalb frage ich mich, warum ausge-rechnet diese Personengruppe jetzt außen vor gelassenwird.
Das Bundesverfassungsgericht hat in der Erläuterungzum Leiturteil sinngemäß ganz klar gesagt: Der an die be-rufliche Stellung anknüpfende Lebensstandard und damitauch der Abstand zwischen zusatzversorgten und normalversorgten Rentnern soll aufrechterhalten werden.Ich finde es unerklärlich, warum das Bundessozialge-richt hier hinter dem Urteil des Bundesverfassungsge-richts zurückgeblieben ist und eine andere Lösungvorgeschlagen hat, nämlich Rentenanpassung nach West-standard, obwohl dieses Urteil nach dem BVG-Urteil ge-fällt wurde und Verfassungsgerichtsurteile eigentlichauch für das BSG bindend sind. Für mich besteht da er-heblicher Erklärungsbedarf. Ich hoffe, wir bekommen inden Beratungen darauf eine Antwort.Genauso frage ich die Bundesregierung, warum siesich hier im Bewusstsein dessen auf das BSG-Urteil undnicht auf das Bundesverfassungsgerichtsurteil stützt.Auch da hoffe ich, dass wir bei den Beratungen eine ent-sprechende Erklärung bekommen; denn die Einbußen, diedaraus entstehen, sind – das kann sich jeder schnell aus-rechnen – erheblich.Eine ebenfalls unkorrekte Umsetzung des Urteils er-folgt bei der Vergleichsabrechnung nach dem 20-Jahres-Zeitraum vor Eintritt des Versicherungsfalls. Der Gesetz-entwurf sieht vor, dass all die berücksichtigungsfähigenArbeitsentgelte, die vor dem 1. März 1971 erworbenwurden, auf 600 DM zu begrenzen sind. Auch das schafftwieder Ungleichheiten in ein und derselben Gruppe; dennje älter jemand ist, umso mehr Jahre fallen in diesen Zeit-raum und umso schlechter steht er gegenüber seinen jün-geren Kollegen da.So weit zu den Punkten, bei denen der Gesetzentwurfdeutlich hinter dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtszurückbleibt. Es gibt aber durchaus auch Handlungsbe-darf, der nicht mit Urteilen abgedeckt ist, den man hier je-doch sehr wohl aufgreifen könnte,
der aber nicht aufgegriffen wird. Da möchte ich in beson-derer Weise auf die Zugangsrentner eingehen. Wir allehaben gehofft, dass die Lohnangleichungen ein anderesTempo haben würden. Wir haben zunächst eine Über-gangsregelung bis Mitte 1995 geschaffen, sehen heute
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Claudia Nolte15784
aber alle, dass das längst nicht ausreicht. Die Zugangs-rentner haben in keiner Weise irgendeine Zahlbetragsga-rantie und werden eine erheblich schlechtere Rente be-kommen als ihre Berufskollegen, auch innerhalb desOstens, einmal ganz abgesehen von einem Vergleichzum Westen. Deshalb bin ich sehr dafür, dass die Bereit-schaft aufgebracht wird, zu prüfen, inwieweit man hiereine Verlängerung der Übergangsregelung schaffenkönnte.Frau Mascher hat die Fragen im Zusammenhang mitden Reichsbahnern und den Postlern angesprochen.Hier begrüße ich ausdrücklich die gefundene Regelung.Im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung ist hierRechtsfrieden hergestellt worden und es ist gemacht wor-den, was gemacht werden musste.Nun wissen wir, dass andere Berufsgruppen ebenfallseinen 1,5fachen Steigerungssatz hatten, wenn auch ausanderen Gründen. Ich denke hier an das mittlere medizi-nische Fachpersonal, das einen anerkannten Beruf, aberrelativ geringe Löhne hatte und den Steigerungssatz des-halb als Ausgleich zugebilligt bekommen hat. Auch hierdie Frage, wie man eigentlich vermitteln will, dass dieserSteigerungssatz bei Ihnen keine Berücksichtigung findet,und die Bitte um Prüfung dieses Punktes.Auch bei den Reichsbahnern muss noch etwas hinzu-gefügt werden. Wir wissen alle, dass den Reichsbahnern –analog zum Versorgungssystem der Deutschen Bundesbahn– eine betriebliche Altersversorgung zugestanden hat.
– Ich sage ja: Das war ein Betrachtungsfehler von uns. –Komischerweise ist bei der Zusammenführung beider,Reichsbahn und Bundesbahn, das Versorgungssystem derReichsbahner im Gegensatz zu dem der Bundesbahneraufgelöst worden. Allerdings haben die Menschen dortAnwartschaften erworben. Es gibt eigentlich keinenGrund, sie ihnen vorzuenthalten. Das ist allerdings einPunkt, der nicht im Rahmen der gesetzlichen Rentenver-sicherung geklärt werden kann, sondern er muss außer-halb der Rentenversicherung vom für das Eisenbahner-vermögen zuständigen Rechtsnachfolger geklärt werden.Das Finanzministerium und das Verkehrsministeriumsind hier angesprochen, diese betriebliche Versorgung zuregeln.Ich möchte deshalb für uns festhalten, dass wir demGesetzentwurf, wie er jetzt vorliegt, nicht zustimmenkönnen. Ich bin gespannt auf die Beratungen, die wir an-schließend haben werden.Danke.
Die Kolle-
gin Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen, gibt
ihre Rede zu Protokoll.1) Deswegen erteile ich jetzt der
Kollegin Dr. Irmgard Schwaetzer für die F.D.P.-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Entwurfder Bundesregierung für ein Zweites Änderungsgesetz zumAAÜG wird nicht die befriedende Wirkung haben, die dieStaatssekretärin hier als Wunsch in den Raum gestellt hat.
Das ist nicht zu erwarten; möglicherweise geht es auchgar nicht.Wir müssen uns immer vor Augen halten, dass dieÜberführung des sehr komplizierten DDR-Rentenrechtsmit seinen ungeheuer vielen und komplizierten Zusatz-versorgungen und seinen differenzierten Anspruchsvor-aussetzungen in unser westdeutsches Rentenrecht einerSisyphusarbeit gleichkommt.
– Die damalige Opposition war dabei. Aber es war allenauch schon damals klar, dass die seinerzeit beschlossenenRegelungen zum Verfassungsgericht gehen würden – dasist dann auch passiert –, und es war damals abzusehen,dass eine ganze Reihe der Regelungen, die zwar den Ge-fühlen der Menschen entsprachen, vor allem der Men-schen, die sich mit dem alten DDR-System nicht solidari-siert hatten, möglicherweise verfassungsrechtlich keinenBestand haben würden. Dies hat uns das Bundesverfas-sungsgericht in der Tat bescheinigt: Bei den berücksichti-gungsfähigen Arbeitsentgelten müssen Begrenzungenaufgehoben und angehoben werden, auch müssen Zahlbe-tragsbegrenzungen aufgehoben und angehoben werden.Zu Ihrem Zwischenruf, Frau Kollegin: Wir bekennenuns ausdrücklich dazu. Natürlich ist das damals gemein-sam verabschiedet worden.
– Etwas anderes wäre damals undenkbar gewesen.Gleichwohl geht es jetzt darum, dass wir uns darauf eini-gen – möglicherweise werden wir uns auch nicht daraufeinigen; Sie sind in der Regierung und mussten eine Vor-lage machen –,
die Dinge zu ändern, die wir damals in einer Weise gere-gelt haben, die das Rechtsempfinden derer, die zu den Op-fern gehört haben, berücksichtigte, aber der verfassungs-rechtlichen Prüfung nicht standgehalten hat.Wir erkennen an, dass sich die Bundesregierung sehreng an das gehalten hat, was das Verfassungsgericht vor-gegeben hat. Es gibt eine Reihe von Punkten, bei denenman sehr wohl darüber debattieren muss, ob die Bundes-regierung weit genug gegangen ist. Das betrifft vor allenDingen die Versorgung der Professoren.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist dringend erfor-derlich, ganz speziell zu diesem Tatbestand eine Anhö-rung im Ausschuss durchzuführen,
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Claudia Nolte15785
1) Anlage 3damit wir angesichts dieser komplizierten Materie die Po-sition der Betroffenen in Erfahrung bringen können.
Ich kann mir gut vorstellen, dass Ihnen das nicht gefällt;
denn Sie wissen heute schon, dass Sie mit Ihrer Mehrheitletztlich die Verantwortung für eine Regelung überneh-men müssen, die die Betroffenen natürlich nicht zufriedenstellt.
Dass Sie lieber mit etwas anderem in Sachsen-AnhaltWahlkampf machen würden, ist auch völlig klar.Deswegen biete ich als Oppositionspolitikerin an, dasswir uns im Rahmen einer Anhörung noch einmal ausführ-lich darüber unterhalten,
wie die einzelnen Vorgaben des Verfassungsgerichtes um-gesetzt werden. Wir sind gesprächsbereit;
aber die Verantwortung müssen letztendlich Sie selber tra-gen.
Meine Damen und Herren, die Kosten der Neurege-lung sind mit circa 1 Milliarde DM, aufgeteilt zwischenden neuen Ländern und dem Bund, so ausgefallen, dassman durchaus überlegen könnte, ob an der einen oder an-deren Stelle Verbesserungen möglich, wenn nicht gar not-wendig sind.Wir – ich sage das noch einmal – sind auf jeden Fallzu Gesprächen bereit. Dieser Gesetzentwurf kommt spätgenug, denn das Verfassungsgericht hat uns den30. Juni 2001 als Termin, zu dem diese Vorgaben desVerfassungsgerichtes umgesetzt sein müssen, gesetzt.Wir sind bereit, dieses Gesetz nicht im Schweinsgalopp,aber konstruktiv zu begleiten, damit wir dann mögli-cherweise doch zu einer Regelung kommen, der – si-cherlich mit Ausnahme der PDS – alle Fraktionen, die daseigentliche Überleitungsrecht getragen haben, zustim-men können.Danke schön.
Für die
Fraktion der PDS spricht die Kollegin Monika Balt.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Die Debatte erweckt den Eindruck, als ver-teile die Regierung Almosen, die sie sich vom Munde ab-gespart habe.
– Nein! – Unter Verletzung des Einigungsvertrages unddes Grundgesetzes wurde das Rentenrecht missbraucht,um Hunderttausenden DDR-Bürgern aus politischen Mo-tiven willkürlich die Renten zu kürzen. Warnende Stim-men, die es bereits 1991 zur Genüge gab,
wurden nicht erhört. Viele Menschen sind seit elf Jahrenum einen Teil ihrer Ansprüche betrogen.Auch das uns jetzt vorliegende AAÜG-Änderungs-gesetz ist wahrlich kein Ruhmesblatt für den DeutschenBundestag. Urteile des Bundesverfassungsgerichts brach-ten das Konzept des bisherigen AAÜG zum Scheitern undbescheinigten dem Gesetzgeber verfassungswidriges Han-deln. Der nun von der Bundesregierung vorgelegte Ge-setzentwurf kann von den Abgeordneten der PDS nichtakzeptiert werden,
weil er wegen unzulässiger pauschaler Rentenkürzung nochimmer im Widerspruch zu Art. 3 des Grundgesetzes steht.
Außerdem verlangen wir Änderungen bei der Dynamisie-rung der besitzgeschützten Freibeträge. Das sind für unsdie Hauptpunkte, die die Interessen der Betroffenen wi-derspiegeln.
Dazu gehört übrigens auch das Rentenstrafrecht, dasvom Bundesverfassungsgericht mit klaren und entschie-denen Worten verworfen worden ist. Im Klartext heißtdas: Staatsnähe bedeutet nicht automatisch, dass über-höhte Arbeitsentgelte gezahlt wurden.Diese und andere gleich lautende Aussagen gelten invollem Umfang auch für die noch heute bestehende will-kürliche Rentenkürzung bei Personen, die in der DDR alsAbteilungsleiter in Ministerien gearbeitet oder in der Ar-mee oder der Polizei als höhere Offiziere gedient haben.Ich frage die Kolleginnen Ulrike Mascher und AndreaFischer, warum sie 1995 so entschieden gegen das Ren-tenstrafrecht und alle Entgeltbegrenzungen unterhalb derBeitragsbemessungsgrenze aufgetreten sind und heute,nachdem sie nicht mehr einer Oppositions-, sondern einerRegierungspartei angehören, die verfassungswidrige Pra-xis der Regierung unter Helmut Kohl fortsetzen wollen.
Auch die seit 1997 neu geregelte Rentenkürzung fürAbteilungsleiter und höhere Offiziere ist nicht nur deshalbverfassungswidrig, weil es nachweisbar laut Gutachtenim Staatsapparat der DDR keine überhöhten Gehälter ge-geben hat,
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Dr. Irmgard Schwaetzer15786
sondern auch deshalb, weil diese Regelung pauschal undunterschiedslos für Abteilungsleiter,
für hoch qualifizierte Spezialisten und Wissenschaftler,für Mediziner, die als Kreisärzte oder Kreistierärzte instaatlichen Einrichtungen gearbeitet haben, gilt. Alle wer-den in einen Topf geworfen und ihre Rente wird pauschalauf die Durchschnittsrente gekürzt.Die PDS hält es für erforderlich, § 6 Abs. 2 und 3 imAAÜG ersatzlos zu streichen und § 7 AAÜG in der vonISOR vorgeschlagenen Weise zu korrigieren. Gerade weiles in der deutschen Geschichte unrühmliche Beispieledafür gegeben hat, dass das Sozialrecht als Strafrecht miss-braucht wurde, appelliere ich an Rot und Grün, mit dieserPraxis im AAÜG nun wirklich Schluss zu machen.
Kehren wir zurück zu einer Rentengesetzgebung, die po-litisch wertneutral ist und nur tatsächlich gezahlte Ent-gelte und Beiträge bewertet.Danke.
Für die
Fraktion der SPD spricht die Kollegin Renate Jäger.
Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Als wir 1991 im Bundestag damit be-fasst waren, das ostdeutsche Rentensystem in das west-deutsche zu überführen, hatten wir es mit grundsätzlichunterschiedlichen Systemen zu tun. In der DDR gab es ne-ben der Sozialversicherung und der freiwilligen Zusatz-versorgung eine große Anzahl an Zusatz- und Sonder-versorgungssystemen, die bestimmten Personengruppenvorbehalten waren und deren Leistungsniveau deutlichüber dem der Rentenversicherung lag.Bereits die letzte frei gewählte Volkskammer hatte einZusatzversorgungssystem beschlossen und die Höchstbe-träge für die Renten aus den staatsnahen Zusatzversor-gungssystemen wie dem des Staatsapparates und der Par-teien auf 2 010 DM und die aus dem System derStaatssicherheit auf 990 DM begrenzt. Auch für die Son-derversorgungssysteme – das betraf Nationale Volksar-mee, Polizei und Zoll – erfolgte eine Begrenzung der Ren-ten auf 2 010 DM. Es war ausdrücklicher Wille der letztenfrei gewählten Volkskammer, dass Personen, die einen be-sonderen Beitrag zur Aufrechterhaltung oder zur Stärkungdes politischen Systems der DDR geleistet hatten und vondiesem Staat besonders begünstigt waren, nicht auch nochüberdurchschnittlich hohe Renten erzielen sollten.Mit dem Rentenüberleitungsgesetz 1991 wurdendie in den Zusatzversorgungssystemen erworbenen An-wartschaften in die gesetzliche Rentenversicherung derBundesrepublik überführt. Diese damals getroffeneSystementscheidung ist vom Bundesverfassungsgerichtgrundsätzlich akzeptiert worden. Ebenso hatte vorher dasBundessozialgericht bereits mehrfach diese Systement-scheidung für verfassungsmäßig erklärt. Der Bundestagkonnte Regelungen im Prinzip nur im Rahmen der ge-setzlichen Rentenversicherung treffen. Der Bundestaghatte nicht das Recht, zum Zwecke der Überführung in be-rufsständische Versorgungswerke einzugreifen. Er hatteauch nicht das Recht, zum Zwecke der Überführung in dieBeamtenversorgung der Länder einzugreifen.Wenn nun einige betroffene Berufsgruppen heute nochfordern, dass ihr in der DDR zurückgelegtes Erwerbs-leben nach der Wiedervereinigung so zu stellen ist, als obes in den alten Bundesländern zurückgelegt worden wäre,ist das zwar aus ihrer Sicht verständlich, doch hätte dieseine enorme finanzielle Belastung bedeutet, die natürlichzulasten der Versicherten in den alten und den neuen Bun-desländern gegangen wäre – mit allen negativen Folgen.
Auch bei den Renten derjenigen, die vor 1990 in den West-teil der Bundesrepublik übergesiedelt sind, werden in derRentenversicherung nur Einkünfte bis zur Beitragsbe-messungsgrenze berücksichtigt.Problematisch waren damals im Rentenüberleitungs-gesetz die Ausnahmeentscheidungen zu den Sonderver-sorgten im Staatsapparat, in den Parteien, in der Nationa-len Volksarmee, der Volkspolizei und der Staatssicherheit.Bei deren Rentenberechnung wurde das zu berücksichti-gende Einkommen auf das Durchschnittsentgelt begrenzt,bei hauptamtlichen Mitarbeitern der Staatssicherheit so-gar auf das 0,7-fache des Durchschnittsentgelts, also nocheinmal von der Bundesregierung alten Schlages unter dievon der Volkskammer beschlossene Höhe heruntergefah-ren.In den Novellierungen von 1993 und 1996 wurden dieBegrenzungsregelungen modifiziert und die Einkom-mensbegrenzungen für einen großen Teil der Betroffenenganz aufgehoben. Trotzdem blieb es bei etlichen nichtverfassungsgemäßen Regelungen in diesem Bereich derKürzungen, die nunmehr von der von SPD und Grünengeführten Regierung in Ordnung zu bringen sind.Zu den einzelnen Maßnahmen hat Frau Mascher hin-reichende Ausführungen gemacht. Auf eine Sache möchteich aber noch besonders hinweisen: Klar als generellerFehler der alten, konservativen Regierung erkennbar wardamals das „Herummodeln“ an den garantierten Zahlbe-trägen, die die frei gewählte Volkskammer festgelegthatte.
Damit wurden grobe Eingriffe in den Bestandsschutz vor-genommen. Zu diesem Fehlerpaket gehörte auch die Ab-schmelzung der garantieren Zahlbeträge im Rahmen derDynamisierung.Dies hätte wahrlich schon 1996 geregelt werden können.
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Monika Balt15787
Die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Anhe-bung der Entgelte für ehemalige Mitarbeiter der Staatssi-cherheit von 70 auf 100 Prozent des Durchschnittsver-dienstes hat verständlicherweise die Opferverbände aufden Plan gerufen. Um die Relationen zwischen den Ent-schädigungen der Opfer und den Renten ihrer Verursachereinigermaßen zu wahren, hat die Bundesregierung bereitsdie Kapitalentschädigung für die Opfer auf 600 DM er-höht. Das ist Ihnen hoffentlich nicht entgangen, FrauNolte.
Außerdem hat sie den Fonds der Stiftung für ehemaligepolitische Häftlinge um 5 Millionen DM aufgestockt.
Im Rahmen der Beratungen zum vorliegenden Gesetz-entwurf hat der Bundesrat einen Zuschlag an Entgelt-punkten für Verfolgungszeiten vorgeschlagen, den zuprüfen, die Bundesregierung ebenfalls zugesagt hat. Hin-sichtlich der Renten bei der Deutschen Reichsbahn undder Post haben wir deutliche Leistungsverbesserungen er-reicht. Auch die Vertreter der Gewerkschaften von Eisen-bahn und Post haben sich zu diesen Vorschlägen positivgeäußert.Obwohl es – Herr Grund, hören Sie gut zu – diese glei-chen Argumentationen ja auch in den Gesprächen zu Re-gierungszeiten der Koalition von CDU/CSU und F.D.P.gegeben hat – wir haben ja auch an den Gesprächen mitden Gewerkschaften teilgenommen –, hat Ihre Regierungkeine Regelung zustande gebracht.
Ganz speziell möchte ich Ihnen, liebe Kolleginnen undKollegen von der rechten Seite des Hauses, sagen: WennSie uns schon die politische Verantwortung für die jetztnotwendigen Korrekturen und Nachzahlungsverpflich-tungen hinterlassen haben, dann erwarte ich von Ihnen,dass Sie konstruktiv an den Beratungen teilnehmen,
dass Sie keine neuen ideologischen Gräben aufreißen unddass Sie auch mit den finanziellen Belastungen für Bundund Länder verantwortungsvoll umgehen.Danke schön.
Ich schließe
die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 14/5640 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Das Haus ist da-
mit einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurNeurege-
lung von Beschränkungen des Brief-, Post- und
Fernmeldegeheimnisses
– Drucksache 14/5655 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Die Kolleginnen und Kollegen Wolfgang Zeitlmann,
CDU/CSU, Hans-Christian Ströbele, Bündnis 90/Die
Grünen, Professor Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, F.D.P.,
Ulla Jelpke, PDS, und für die Bundesregierung der Parla-
mentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper geben
ihre Reden zu Protokoll.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 14/5655 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Anderweitige Vor-
schläge liegen nicht vor. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Christina Schenk, Christine Ostrowski,
Monika Balt, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines
... Gesetzes zur Änderung des Dritten Buches
– Drucksache 14/3227 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Sozialordnung
– Drucksache 14/5354 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dirk Niebel
Die Kolleginnen und Kollegen Renate Rennebach,
SPD, Heinz Schemken, CDU/CSU, Ekin Deligöz, Bünd-
nis 90/Die Grünen, und Dirk Niebel, F.D.P., geben ihre
Reden zu Protokoll.2)
Das Wort hat für die Fraktion der PDS die Kollegin
Christina Schenk.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Es kann schon einmal vorkommen, dassbei einer großen Reform wie der des Arbeitsförderungsge-setzes ungewollt Fehler passieren. Das ist zu entschuldigen.Nicht aber ist zu entschuldigen, wenn diese Fehler zwar er-kannt, aber nicht umgehend behoben werden.
Der Fehler im Arbeitsförderungsrecht, auf den wir mitunserem Gesetzentwurf, der heute hier abschließendberaten wird, hinweisen, führt dazu, dass Menschen un-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001
Renate Jäger15788
1) Anlage 42) Anlage 5gerechtfertigt von ihnen zustehenden Leistungen ausge-schlossen werden. Die 1998 in Kraft getretene Neurege-lung im Arbeitsförderungsgesetz hat zur Folge, dassFrauen bzw. Männer unter bestimmten Umständen ihreElternzeit mit dem Verlust ihrer Ansprüche auf Arbeitslo-sengeld oder -hilfe bezahlen.Ich gehe davon aus, dass die Mehrheit hier im Haus dasnicht gewollt hat. Es kann auch nicht angehen, dass Väterund Mütter zwar ein Recht auf eine dreijährige Elternzeithaben, die Wahrnehmung dieses Rechts aber zum Er-löschen von erworbenen Ansprüchen auf Leistungen derArbeitslosenversicherung führen kann, also mit Leis-tungsentzug bestraft wird.Die Sachlage ist, so meine ich, übersichtlich und aucheinfach zu korrigieren: Nach dem alten Arbeitsförde-rungsgesetz waren Zeiten des Bezugs von Mutter-schafts- und Erziehungsgeld mit versicherungspflichtigenBeschäftigungen gleichgestellt. Die vor dem Erziehungs-urlaub erworbenen Ansprüche auf Arbeitslosengeld undArbeitslosenhilfe blieben so erhalten.Mit der Einführung des SGB III wurden diese Rege-lungen aufgehoben. Stattdessen wurden Erlöschensfris-ten für den Bezug von Arbeitslosengeld und Arbeitslo-senhilfe eingeführt. Der Anspruch auf Arbeitslosengelderlischt – ich möchte Ihnen das hier noch einmal ins Ge-dächtnis rufen –, wenn seit seiner Entstehung mehr alsvier Jahre vergangen sind. In der Realität sieht es dann soaus, dass eine Frau, die aus der Arbeitslosigkeit heraus inden Erziehungsurlaub bzw. in die Elternzeit wechselt undin dieser Zeit ein zweites Kind bekommt und auch für die-ses die ihr zustehende Elternzeit wahrnimmt, anschlie-ßend ihren Restanspruch auf Arbeitslosengeld verliert.Sie landet also in der Sozialhilfe oder in der finanziellenAbhängigkeit vom Partner.Die Folgen sind fatal: Wer kein Arbeitslosengeld be-zieht, ist auch vom Zugang zu den arbeitsmarktpoliti-schen Maßnahmen ausgeschlossen. Diese sind aber nur zuoft Voraussetzung für den Wiedereinstieg in den Arbeits-markt.Noch schlimmer ist es hinsichtlich der Arbeitslosen-hilfe. Hier erlischt der Anspruch bereits nach drei Jahren,also bereits bei der vollständigen Inanspruchnahme desErziehungsurlaubes bzw. der Elternzeit für ein Kind.Das Problem lässt sich sehr einfach aus der Welt schaf-fen, indem die Fristen für das Erlöschen der Ansprücheauf Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe in Zeiten desMutterschutzes und des Erziehungsurlaubes verlängertwerden. Restansprüche auf Arbeitslosengeld und Arbeits-losenhilfe blieben auf diese Weise erhalten und könntennach Ablauf der Elternzeit geltend gemacht werden.Im Familienausschuss und im Arbeitsausschuss warensich alle Fraktionen darin einig – es war für mich sehrmerkwürdig, das zu erleben –, dass die dargestellte Situa-tion der Korrektur bedarf. Von allen Seiten wurde unse-rem Lösungsvorschlag bescheinigt, dass er in die richtigeRichtung geht.
Statt aber die Reparatur des SGB III sofort in Angriff zunehmen, verweisen SPD und Grüne auf die oftmals an-gekündigte, aber noch immer nicht vorgelegte Gesamtre-form des SGB III. Wann diese kommt, ist nach wie vorvöllig offen. Ich frage Sie: Was schadet es denn, wenn einoffensichtlicher Fehler im SGB III jetzt behoben wird?Das hindert Sie doch in keiner Weise daran, zu einem spä-teren Zeitpunkt, zu dem Sie dazu in der Lage sind, die Ge-samtreform vorzulegen, die Sie angekündigt haben.Bei der CDU/CSU ist die Sache noch pikanter. Sie hatin den Ausschüssen gegen unseren Gesetzentwurf ge-stimmt, obwohl auch sie meinte, dass er in die richtigeRichtung gehe. Das ist insofern interessant, als der Bun-desrat morgen auf Initiative des CDU-geführten Sachsenüber einen ähnlich lautenden Gesetzentwurf berät. Dahererwarte ich von der CDU/CSU, dass sie unserem Gesetz-entwurf heute zustimmt.
Wenn sie das nicht tut, kann ich das nicht anders interpre-tieren, als dass es ihr vorrangig um Schaufensterpolitikgeht und nicht wirklich um die Lösung der Probleme derMenschen in unserem Land.
Unser Gesetzentwurf bietet die Gelegenheit, eine vonallen Parteien als ungerecht erkannte Regelung unkom-pliziert aus der Welt zu schaffen und somit den betroffe-nen Frauen bzw. Männern die ihnen zustehenden Leis-tungsansprüche zukommen zu lassen. Lassen Sie also– ich wende mich damit an alle Fraktionen, meine natür-lich ausgenommen – Ihre parteitaktischen Spielchen undstimmen Sie unserem Gesetzesvorschlag zu!Danke schön.
Wir kom-
men zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Frak-
tion der PDS zur Änderung des Dritten Buches Sozialge-
setzbuch, Drucksache 14/3227. Der Ausschuss für Arbeit
und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 14/5354,
den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen
des Hauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die wei-
tere Beratung.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Freitag, den 30. März 2001, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.