Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001
Christina Schenk
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Adam, Ulrich CDU/CSU 29.03.2001**
Behrendt, Wolfgang SPD 29.03.2001***
Berninger, Matthias BÜNDNIS 90/ 29.03.2001
DIE GRÜNEN
Bodewig, Kurt SPD 29.03.2001
Glos, Michael CDU/CSU 29.03.2001
Goldmann, F.D.P. 29.03.2001
Hans-Michael
Heil, Hubertus SPD 29.03.2001
Hempelmann, Rolf SPD 29.03.2001
Heyne, Kristin BÜNDNIS 90/ 29.03.2001
DIE GRÜNEN
Holetschek, Klaus CDU/CSU 29.03.2001
Dr. Hornhues, CDU/CSU 29.03.2001***
Karl-Heinz
Hörster, Joachim CDU/CSU 29.03.2001
Ibrügger, Lothar SPD 29.03.2001
Irber, Brunhilde SPD 29.03.2001
Dr. Kahl, Harald CDU/CSU 29.03.2001
Klappert, Marianne SPD 29.03.2001
Lensing, Werner CDU/CSU 29.03.2001
Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 29.03.2001
Erich
Neumann (Gotha), SPD 29.03.2001
Gerhard
Robbe, Reinhold SPD 29.03.2001
Schloten, Dieter SPD 29.03.2001
Schmidbauer, Bernd CDU/CSU 29.03.2001
Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 29.03.2001
Hans Peter
Schröder, Gerhard SPD 29.03.2001
Dr. Schuster, SPD 29.03.2001
R. Werner
Dr. Thomae, Dieter F.D.P. 29.03.2001
Dr. Tiemann, Susanne CDU/CSU 29.03.2001
Dr. Volmer, Ludger BÜNDNIS 90/ 29.03.2001
DIE GRÜNEN
Wegener, Hedi SPD 29.03.2001
Wiefelspütz, Dieter SPD 29.03.2001
Wistuba, Engelbert SPD 29.03.2001
Wohlleben, Verena SPD 29.03.2001
Wolf, Aribert CDU/CSU 29.03.2001
Zierer, Benno CDU/CSU 29.03.2001**
** für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung des Europarates
*** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union
***** für die Teilnahe an der 105. Jahreskonferenz der Interparla-
mentarischen Union
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Rita Grießhaber, Dr. Helmut
Lippelt, Christa Nickels, Dr. Antje Vollmer,
Hans-Josef Fell, Oswald Metzger (alle BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über
den Antrag: Sofortige Entlassung des Bundesmi-
nisters für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-
cherheit Jürgen Trittin (Drucksache 14/5573)
Wir lehnen den vorliegenden Antrag ab, weil wir nach
unserem Parlamentsverständnis es weder der Opposition
noch dem Kanzler überlassen wollen, die Auseinander-
setzungen mit bündnisgrünen Mitgliedern des Kabinetts
zu führen.
Im Übrigen lehnen wir eine Stil der Auseinanderset-
zungen ab, der politische Gegner in ihrer Person herab-
würdigt.
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurf eines Zweiten Geset-
zes zur Änderung und Ergänzung des An-
spruchs- und Anwartschaftsüberführungsgeset-
zes (2.AAÜG-Änderungsgesetz – 2.AAÜG-ÄndG)
(Tagesordnungspunkt 10)
Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Das hier vorliegende 2. AAÜG-ÄndG wurde auf
entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlagen zum Stenographischen Bericht
*****
Grundlage der Urteile des Bundesverfassungsgerichts
erarbeitet. Wir halten uns damit streng an die Vorgaben
des Gerichturteils des Bundesverfassungsgerichts. Der
Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat am
28. April 1999 zur Verfassungsmäßigkeit der Über-
führung von Ansprüchen und Anwartschaften aus Zusatz-
und Sonderversorgungssystemen der DDR in die gesetz-
liche Rentenversicherung vier Urteile verkündet. Das Leit-
urteil setzt sich mit der Verfassungsmäßigkeit der Sys-
tementscheidung – Überführung in die gesetzliche Ren-
tenversicherung –, die weiteren drei Urteile setzen sich
mit der Zahlbetrags- und Entgeltbegrenzung des AAÜG
sowie mit der Regelung des § 307b SGB VI auseinander.
Um klar zu stellen: Die so genannte Systementschei-
dung wurde vom Bundesverfassungsgericht gebilligt und
wird auch von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nicht
infrage gestellt. Denn nach den Vorgaben des Einigungs-
vertrages wurden die in den Zusatz- und Sonderversor-
gungssystemen der DDR erworbenen Ansprüche und An-
wartschaften in die gesetzliche Rentenversicherung
überführt. Wir sehen es als folgerichtig und gerecht an,
dass die in der Rentenversicherung geltenden Grundsätze,
Renten auf Basis der versicherten Entgelte eines ganzen
Lebens zu zahlen, auch auf Personen angewandt werden,
die in der DDR in Zusatz oder Sonderversorgungssyste-
men versichert waren.
Was bedeutet dieses Gesetz und wem nützt dieses Ge-
setz? Das Gesetz sieht, wie vom Bundesverfassungsge-
richt vorgeschrieben, Leistungsverbesserungen bei den
rentenrechtlichen Beschäftigungszeiten bei der Deut-
schen Reichsbahn und der Deutschen Post vor. Künftig
sollen für von März 1971 bis Dezember 1973 bei der
Deutschen Reichsbahn oder der Deutschen Post zurück-
gelegte Beschäftigungszeiten bis zu 1 250 DM monatlich
anrechenbar sein. Für Personen, die am 1. Januar 1974 be-
reits zehn Jahre in einem der beiden Bereiche beschäftigt
waren, soll ein Arbeitsverdienst bis zu dieser Höhe sogar
bis Juni 1990 anrechenbar sein. Das kostet natürlich auch
Geld. Die vom Bundesverfassungsgericht vorgegebenen
Leistungsverbesserungen führen bei Bund und bei den
Ländern zu Mehrausgaben für Nachzahlungen bis zum
30. April 1999 in Höhe von rund 690 Millionen DM und
zu laufenden, jährlichen Mehraufwendungen in Höhe von
rund 325 Millionen DM.
In Hunderten von Briefen, die wir in den letzten Mo-
naten bekommen haben, wird uns vorgeworfen, wir be-
trieben ein „Rentenstrafrecht“. Ich möchte die Gegen-
frage stellen: Sollen wir wirklich gerade diejenigen, die in
der ehemaliger DDR schon privilegiert waren, belohnen?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist der Grund,
warum wir nicht, wie es hier von der PDS gefordert wird,
über die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts hi-
nausgehen und weitere Verbesserungen für ehemalig Pri-
vilegierte beschließen. Wir haben in diesem Gesetz Ver-
besserungen vorgesehen, die uns das Urteil zwingend
vorgibt.
Sie haben alle in den letzten Wochen die Schlagzeilen
in der Bildzeitung gesehen, die genau ausgerechnet ha-
ben, wie viel Rente Margot Honecker, Egon Krenz und
Markus Wolf mehr bekommen. Ich darf Sie daran erin-
nern, dass Margot Honecker 45 000 DM bzw. 400 DM
und Markus Wolf 30 000 DM mehr Rente bekommen sol-
len. Ich frage noch mal: Wollen wir hier noch eins drauf-
setzen, wie es die PDS fordert? Steht nicht die Lösung viel
drängenderer Probleme an, wie die Beseitigung der Ar-
beitslosigkeit im Osten, die Bereitstellung einer intakten
Infrastruktur und eine gute Aus- und Weiterbildung für die
Jungen? Bündnis 90/Die Grünen sind der Meinung, eine
Besserstellung der Privilegierten ist nicht vertretbar, so-
lange eine angemessene Entschädigung der Opfer des
SED-Regimes noch aussteht. Liebe Kolleginnen und Kol-
legen, der richtige Blickwinkel für diese Debatte ist der
Blickwinkel der Opfer. Auch die Union hat sich für eine
stärkere rentenrechtliche Aufwertung von Opfern ausge-
sprochen. Wie ist Ihre kritische Haltung jetzt zu verste-
hen?
Der PDS ist das im Gesetz Enthaltene noch nicht ge-
nug und vertritt diejenigen, denen das hier im Gesetz Ent-
haltene noch nicht genug ist. Damit macht sie sich zum
Vertreter der Interessen der vormals Privilegierten, zum
Teil auch der Täter. Die PDS fordert ausdrücklich, dass
die „Eigentumspositionen der Betroffenen im Verhältnis
zu den übrigen Rentnern im Osten“ gehalten werden müs-
sen und dass wir als der Gesetzgeber dafür Sorge zu tra-
gen haben. Dafür ein Beispiel: Die PDS fordert die Dy-
namisierung des besitzgeschützten Betrags also der
Rente, die aus Gründen des Vertrauensschutzes auf
Grundlage des Rechts der DDR gezahlt wird – mit dem
aktuellen Rentenwert Ost ab 1. Januar 1992 statt ab
1. Juli 1992. Dies würde zu einer deutlich stärkeren Stei-
gerung führen als bei einer Dynamisierung gemäß dem
Rentenwert West. Das BSG hat hierzu eine klare Ent-
scheidung getroffen und die Dynamisierung mit dem Ren-
tenwert West vorgeschlagen. Eine Dynamisierung mit
dem Rentenwert Ost kommt allein deshalb nicht in Be-
tracht, weil der Zahlbetrag der Rente solange besitzge-
schützt sein sollte, wie sich durch die Verbesserung der
wirtschaftlichen Situation in den neuen Bundesländern
auch höhere Renten nach dem SGB VI ergeben hätten.
Nebenbei bemerkt: Die Dynamisierung der Renten ist
kein Strukturmerkmal der Versicherung der DDR. Die
Forderung nach der Dynamisierung mit dem Rentenwert
Ost zeigt, dass die PDS will, dass das Rentenrecht der
DDR dann zum Zuge kommen soll, wenn es für die Be-
troffenen besser wäre. Wenn es höhere Renten verspricht,
berufen Sie sich gerne auf das Rentenrecht der BRD.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie müssen sich hier
entscheiden und sich nicht aus den unterschiedlichen Ku-
chen immer nur die Rosinen herauspicken wollen.
Ich möchte im Folgenden auf einige andere Kern-
punkte des Gesetzes eingehen: Ein Punkt, der heftig um-
stritten ist, ist die Entgeltbegrenzung von MfSlern. Der
Gesetzentwurf sieht vor, dass die berücksichtigungsfähi-
gen Entgelte für ehemalige Mitarbeiter des MfS entspre-
chend den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts von
70 Prozent auf 100 Prozent des Durchschnittseinkom-
mens angehoben werden. Das Bundesverfassungsgericht
hat festgestellt, dass nicht davon ausgegangen werden
kann, dass Arbeitsentgelte beim Ministerium für Staatssi-
cherheit schon dann überhöht waren, wenn sie 70 Prozent
des Durchschnittsentgeltes betrugen. Die Bundesregie-
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rung folgt hier den Vorgaben des Gerichts. Die PDS
schlägt vor, die Entgelte für Angehörige des MfS nicht in
vorgesehener Weise zu begrenzen. Sie möchte die Hälfte
des Entgelts, welches das Durchschnittseinkommen über-
steigt, rentenwirksam werden lassen. Dies würde zu einer
deutlichen rentenrechtlichen Besserstellung der An-
gehörigen des MfS führen. Genau dieser Punkt, der die
Besserstellung von ehemaligen Stasi-Mitarbeitern bedeu-
ten würde, ist für uns nicht nachvollziehbar.
Auch bei der Entgeltbegrenzung bei Personen, die
staatsnahe Funktionen ausgeübt haben, hat das Bundes-
verfassungsgericht die geltende Entgeltbegrenzung nicht
verworfen. An dieser Bestimmung wollen wir auch fest-
halten, solange das Gericht hier eine eindeutige Festle-
gung trifft. Hier muss genau differenziert werden. Eine
Abgrenzung muss objektiv geschehen. Deshalb muss das
Gericht hier eine Abgrenzung vornehmen. Ich sage hier
noch einmal deutlich: Es ist nicht Ziel der Fraktion, die
Einkommenssituation ehemaliger Staatsnaher zu verbes-
sern. Wir betreiben nicht Lobbyarbeit für ehemalige
Stasi-Mitarbeiter. Wir setzen die Vorgaben des Bundes-
verfassungsgerichts um.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetze zur
Neuregelung von Beschränkungen des Brief-,
Post- und Fernmeldegeheimnisses (Tagesord-
nungspunkt 12)
Wolfgang Zeitlmann (CDU/CSU): Der Gesetzent-
wurf der Bundesregierung zur Neuregelung von Be-
schränkungen des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis-
ses liegt seit dem 26. März 2001, also seit drei Tagen vor.
Der Bundesrat hat in seiner Sitzung am 9. März 2001 zu
dem Entwurf Stellung genommen und Empfehlungen
ausgesprochen. In ihrer Gegenäußerung hat die Bundes-
regierung praktisch alle Änderungsvorschläge des Bun-
desrates abgelehnt.
Auch wenn die vorgesehenen Änderungen des Geset-
zes im Wesentlichen zu begrüßen sind, gibt es doch einige
Punkte, die noch verbessert werden müssen. Mit dem vor-
liegenden Gesetzentwurf sind Änderungen des G-10-
BND-Gesetzes, der Fernmeldeverkehr- Überwachungs-
Verordnung und weiterer Gesetze vorgesehen. Entschei-
dend sind die Änderungen im G-10-Gesetz.
Hier ist zu begrüßen, dass der Katalog von Straftaten in
§ 3 erweitert wird und Individualkontrollen ermöglicht
werden, wenn tatsächlich Anhaltspunkte den Verdacht der
Begehung begründen. Die Erweiterung reicht aber nicht
aus. Zwar wurden der Tatbestand der Volksverhetzung
und einige andere in § 129a StGB genannte Straftaten
aufgenommen. Außerdem ist jetzt auch klargestellt, dass
die im Rahmen des G 10 gewonnenen Erkenntnisse auch
zur Vorbereitung und Durchführung von Verbotsverfah-
ren bei verfassungswidrigen Parteien und extremistischen
Vereinen genutzt werden können. Es ist aber nicht nach-
vollziehbar, warum die Überwachung bei schwersten
Straftaten nicht möglich sein soll. Während bei Mord- und
Totschlagsdelikten, erpresserischem Menschenraub und
Geiselnahme, Brandstiftung, beim Herbeiführen einer
Sprengstoffexplosion, bei gefährlichen absichtlichen Ein-
griffen in den Bahn-, Schiffs- und Luftverkehr, bei beson-
ders schweren Fällen der Störung öffentlicher Betriebe
und bei Angriffen auf den Luft- und Seeverkehr die Über-
wachung möglich ist, soll bei den Straftaten Völkermord,
Zerstörung wichtiger Arbeitsmittel, Herbeiführung einer
Explosion durch Kernenergie, gemeingefährliche Vergif-
tung, gefährlicher Eingriff in den Bahn-, Schiffs- und
Luftverkehr und den nicht besonders schweren Fällen der
Störung öffentlicher Betriebe eine Überwachung nicht ge-
rechtfertigt sein.
In der Begründung des Gesetzentwurfs, warum § 315
Abs. 3 StGB – gefährlicher Eingriff in den Bahn-, Schiffs-
und Luftverkehr – aufgenommen wurde, werden über
50 gefährliche Eingriffe in den Bahnverkehr durch mili-
tante Linksextremisten, die Hakenkrallen und Wurfanker
zur Störung von Castortransporten eingesetzt haben, ge-
nannt. Auch das Untergraben von Gleiskörpern – etwas,
was gerade bei diesem Castortransport wieder geschehen
ist – muss in der einfachen Begehungsform aufgenommen
werden und nicht in der qualifizierten, die nur in Abs. 3
vorgesehen ist. Das muss insbesondere auch unter dem
Aspekt gesagt werden, dass heutzutage praktisch jeder ein
Handy hat. So können vielleicht die Saboteure des Cas-
tortransports leichter gefasst werden.
Die aktuellen Ereignisse um den Castortransport pas-
sen auch gut, um auf § 4 – Prüf-, Kennzeichnungs- und
Löschungspflichten, Übermittlungen, Zweckbindung –
einzugehen. Es ist zu begrüßen, dass personenbezogene
Daten aus G-10-Maßnahmen in Zukunft nach § 4 Abs. 2
insgesamt verwendet werden dürfen. Es ist aber nicht
konsequent, die präventive Übermittlung personenbezo-
gener Daten auf das Ziel der Verhinderung und Auf-
klärung von bestimmten Straftaten zu begrenzen. Wir ha-
ben bisher die Auffassung vertreten, dass der bisherige
§ 7 Abs. 3 G 10 lediglich ein teilweises Übermittlungs-
verbot zu repressiven Zwecken beinhaltet, die Übermitt-
lung zu präventiven Zwecken aber nach den allgemeinen
Übermittlungsregeln der Verfassungsschutzgesetze er-
folgt. § 4 Abs. 3 Nr. 3 erklärt nun die Übermittlung zur
Vorbereitung und Durchführung von Partei- und Vereins-
verboten ausdrücklich für zulässig. Das ist zu begrüßen.
Bei der jetzt vorgesehenen Formulierung wäre jedoch die
Übermittlung von Erkenntnissen, dass zum Beispiel an-
lässlich einer geplanten Versammlung schwerer Landfrie-
densbruch geplant wird, nicht zulässig. Es wäre demnach
auch nicht zulässig, Erkenntnisse zu übermitteln, wonach
ein bestimmter Skinhead eine bestimmte andere Person
überfallen und körperlich misshandeln will.
Die Begrenzung der Übermittlung von verfassungs-
schutzrelevanten Informationen zwischen den Verfassungs-
schutzbehörden auf bestimmte Straftatenkomplexe geht
ebenso fehl. Das gilt auch für den Verweis auf § 7 Abs. 4,
der dazu führt, dass die Befugnis zur Übermittlung zum
Zwecke der Strafverfolgung zu sehr begrenzt ist. Zu-
mindest die Möglichkeit der Datenübermittlung zur Straf-
verfolgung nach §§ 234, 234a StGB – Menschenraub,
Verschleppung –, § 310 StGB – Vorbereitung von
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Explosions- und Strahlenverbrechen – und § 92a AuslG –
gewerbs- oder bandenmäßiges Einschleusen von Auslän-
dern – muss zulässig bleiben.
Zusammenfassend lässt sich also sagen: Mit der Vor-
lage dieses Gesetzentwurfs ist zum einen der Entschei-
dung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juli 1999
Rechnung getragen worden. Die Gewährleistung des
Schutzes personenbezogener Daten ist insoweit ver-
schärft worden. Allerdings ist der ganz große Wurf mit
dieser Novelle noch nicht gelungen. In einigen Punkten
besteht noch Änderungsbedarf. In den Ausschussberatun-
gen wird dies sicherlich noch näher zu erörtern sein.
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Der vorliegende Änderungsentwurf zum so ge-
nannten G 10 ist ein vertretbarer Kompromiss zwischen
Sicherheits- und Datenschutzinteressen.
Gegenüber dem geltenden Recht bringt die Novelle
deutliche Verbesserungen, gestaltet die bestehenden Ab-
hörbefugnisse der Dienste grundgesetzkonform und stärkt
den Schutz des Grundrechts der Bürgerinnen und Bürger
auf informationelle Selbstbestimmung erheblich. Die Ko-
alition kommt damit einer Verpflichtung nach, die das
Bundesverfassungsgericht dem Parlament aufgegeben
hatte, weil die bisherigen gesetzlichen Regelungen ver-
fassungswidrig sind.
Die Gesetzesnovelle schafft in der Sache keine ent-
scheidend neuen Abhörbefugnisse. Teilweise wurde jetzt
kritisiert, der Entwurf ermögliche dem Verfassungsschutz
eine Überwachung Einzelner nun auch anlässlich von
Straftaten jenseits der Staatsschutzdelikte, insbesondere
beim Verdacht der Volksverhetzung. Dies war jedoch
– leider – ganz überwiegend bereits nach geltendem Recht
möglich. So kann der Verfassungsschutz die Kommuni-
kation Einzelner schon heute anlässlich des Verdachts so-
gar irgendeines Delikts bei vermutetem Gemeinschafts-
bezug überwachen, wenn durch die befürchteten
Straftaten die demokratische Grundordnung oder die
staatliche Existenz gefährdet sind. Nur unter dieser ein-
schränkenden Voraussetzung einer konkreten Gefahr, die
in der Praxis nur bei gemeinschaftlichem Handeln mehre-
rer erfüllt sein wird, ermöglicht nun auch die Gesetzesno-
velle Überwachungsmaßnahmen im Falle einiger Kapi-
taldelikte und der Volksverhetzung: Diese muss aber
schwerwiegend und geeignet sein, den öffentlichen Frie-
den zu stören, was bloßes Kneipengeläster und Ähnliches
als Anlass ausschließt.
Die Datenschutzregelungen und die Kontrollbefug-
nisse der G-10-Kommission sowie des Parlamentarischen
Kontrollgremiums wurden über das vom Bundesverfas-
sungsgericht geforderte Maß hinaus erheblich ausgewei-
tet. Wir Grünen empfinden als sehr befriedigend, dass
auch die Bundesländer ihre Kontrollregelungen diesem
Standard anpassen müssen.
Erstaunlich finden wir die aus der F.D.P. – unter ande-
rem von der ehemaligen Bundesjustizministerin – nun
geäußerte Kritik, die Grünen gäben mit ihrer Zustimmung
zu der Novelle ihre rechtsstaatlichen Überzeugungen auf.
Bei aller Hochachtung für den seinerzeitigen Rücktritt
von Frau Leutheusser-Schnarrenberger als persönlichen
Protest gegen den Großen Lauschangriff muss an Folgen-
des erinnert werden: Es war ausgerechnet ihre F.D.P., die
jenen Erweiterungen der G-10-Abhörbefugnisse 1994 im
Bundestag zu der Mehrheit verhalf, welche das Bundes-
verfassungsgericht fünf Jahre später als verfassungswid-
rig aufgehoben hat. Die F.D.P. hat daher das in Teilen ver-
fassungswidrige Gesetz zu verantworten, welches
Rot-Grün nun verfassungskonform gestalten muss. In der
F.D.P. wird offenbar auf ein sehr kurzes Gedächtnis der
Öffentlichkeit gebaut.
Soweit der Bundesrat nun auf den Entwurf draufsatteln
will und die Überwachungsbefugnisse sowie Datenver-
wertungsbefugnisse erheblich auszuweiten verlangte,
haben wir diesen Angriff auf das informationelle Selbst-
bestimmungsgrundrecht zurückweisen müssen. Die Be-
schränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses
muß die seltene Ausnahme bleiben und darf nicht zur
Standardmaßnahme der Sicherheitsbehörden mutieren.
Die Anwendung des überarbeiteten Gesetzes muss ge-
nau beobachtet und kritisch begleitet werden. Eine Er-
höhung von Zahl und Umfang der Telekommunikations-
überwachung darf nicht sein. Die G-10-Kommission kann
ihre Aufgabe, die Anlässe und die Ergebnisse der Über-
wachung genau zu überprüfen, nun viel besser erfüllen.
Sich daraus etwa ergebende Korrekturen müssen zeitnah
erfolgen. Bündnis 90/Die Grünen unterstützen den Vor-
schlag des Bundesbeauftragten für Datenschutz, die neu-
gefassten Befugnisse zunächst auf kurze Dauer befristet
zu erproben.
Dieser und weitere Verbesserungsforderungen insbe-
sondere der Datenschutzbeauftragten von Bund und Län-
dern werden in den Ausschussberatungen ernsthaft weiter
zu prüfen sein. Dazu gehören die Vorschläge: die Be-
nachrichtigungspflicht gegenüber Betroffenen noch strik-
ter zu gestalten; dem Bundestagsplenum und dem Parla-
mentarischen Kontrollgremium noch detaillierter über
Anlass, Umfang, Dauer, Ergebnis und Kosten der ange-
ordneten Überwachungsmaßnahmen sowie über die Be-
nachrichtigung der Betroffenen zu berichten; Überwa-
chungen von mutmaßlichen Einzeltätern und losen
Gruppierungen jenseits der Staatsschutzdelikte im enge-
ren Sinne noch deutlicher auszuschließen; eine Übermitt-
lung von G-10-Erkenntnissen nur dem erhebenden Ge-
heimdienst selbst unter strikterer Zweckbindung zu
gestatten und Ausnahmen der dabei vom Bundesverfas-
sungsgericht geforderten Kennzeichnung der G-10-Er-
kenntnisse zu streichen; die Voraussetzungen sowie Be-
fristungen für die Überwachung in Geiselnahmefällen zu
verengen und noch deutlicher von der Einhaltung zwi-
schenstaatlicher Regelungen abhängig zu machen; die
Obergrenze der strategischen Fernmeldeüberwachung
von höchstens 20 Prozent der internationalen Fernmelde-
beziehungen herabzusenken.
Bei der Neugestaltung all dieser Detailregelung besteht
die grüne Grundüberzeugung fort, dass generell Existenz
und Tätigkeit der Geheimdienste laufend auf dem Prüf-
stand bleiben muss, um die Freiheit der Bürger und Trans-
parenz der Gesellschaft zu wahren.
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Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (F.D.P.): Manche Ge-
setzesvorhaben kommen so harmlos daher, dass man
schon genau hinsehen muss, um zu erkennen, was sich
wirklich dahinter verbirgt. So ist es auch hier. Wir lesen
nämlich im Vorblatt unter „Problem und Ziel“, dass es bei
dem Gesetzentwurf vorwiegend darum gehe, den Bean-
standungen des Bundesverfassungsgerichts an der vom
Bundesnachrichtendienst durchgeführten strategischen
Fernmeldeüberwachung Rechnung zu tragen. Das mache
eine Änderung des so genannten G-10-Gesetzes in der Tat
zwingend notwendig.
Weiter heißt es dann: „Zugleich sollen Änderungen im
Hinblick auf die fortschreitende technische Entwicklung
vorgenommen und Lücken des bisherigen Gesetzes ge-
schlossen werden.“
Das klingt zunächst einleuchtend und vernünftig. Es ist
aber – das wissen wir alle – in der Politik ein durchaus
gängiges Muster: Zunächst wird das Vorhandensein einer
Lücke behauptet und dann gesagt, dass die selbstver-
ständlich der Schließung bedarf.
Schaut man sich näher an, was die rot grünen
„Lückenschließer“ vorgelegt haben, stellt sich nämlich
heraus, dass es sich unter anderem um ganz erhebliche Er-
weiterungen der nachrichtendienstlichen Überwachungs-
möglichkeiten handelt und – was noch schwerer wiegt –
um die Verkürzung der Rechte von Betroffenen. Dies er-
staunt vor allem bei den Grünen. Wir sind ja im Laufe Ih-
rer Regierungszeit einiges an politischen Verrenkungsü-
bungen gewohnt; aber man wundert sich dennoch immer
wieder.
Die neue Parteivorsitzende Claudia Roth hat vor noch
nicht allzu langer Zeit in einer Pressemitteilung vehement
die Auflösung des Bundesnachrichtendienstes, einer
„ebenso gefährlichen wie überflüssigen Behörde“ gefor-
dert. Jetzt wollen sie und ihre grünen Freunde mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf dem BND zusätzliche
Überwachungsmöglichkeiten einräumen. Einen solchen
Sinneswandel erlebt man selbst bei den Grünen nicht alle
Tage.
Lassen Sie mich noch einige wenige grundsätzliche
Bemerkungen zu dem Gesetzentwurf machen, die mir
wichtig erscheinen. Man erkennt zwar einen gewissen
Fortschritt darin, dass einige datenschutzrechtliche Ver-
besserungen vorgenommen werden und die Kontrolle
durch die einschlägigen parlamentarischen Gremien auf-
gewertet wird. Damit rechtfertigt die Bundesregierung
auch die zusätzlichen Befugnisse der Dienste, etwa durch
Ausweitung des Straftatenkatalogs oder das Abhören
durch den BND bei Gefährdung von Personen im Aus-
land.
Es ist aber – ich sage das mit aller Vorsicht – mögli-
cherweise ein Trugschluss zu glauben, dass man damit die
Waage im Gleichgewicht hielte. Wir müssen uns doch
wirklich fragen, wie effektiv die parlamentarische Kon-
trolle tatsächlich ist und überhaupt sein kann. Das gilt ja
auch für andere Eingriffe in den Kommunikationsverkehr,
zum Beispiel die Telefonüberwachung. Wie realistisch ist
es, dass ein Kontrolleur – sei es ein parlamentarisches
Gremium, sei es aber auch ein Richter – eine Überwa-
chungsmaßnahme ablehnt oder beendet, wenn er nur den
Vortrag der Ämter hören kann? Die Frage ist also, ob die
Rechnung „mehr Eingriffsbefugnisse gegen Verbesse-
rung der Kontrolle“ tatsächlich aufgeht.
Ein anderer wichtiger Punkt betrifft die Wiederein-
führung der so genannten Fünfjahresfrist bei der Mittei-
lung an Betroffene, die die alte Koalition insbesondere auf
Drängen der F.D.P. 1994 aus dem Gesetz gestrichen hatte.
Man muss diese Regelung im Zusammenhang mit dem
Ausschluss des Rechtsweges in § 13 des Entwurfs lesen.
Der Betroffene kann nämlich auch dann rechtlich nichts
mehr unternehmen, wenn er zwar von den Abhörmaßnah-
men nicht unterrichtet wurde, davon aber auf anderem
Wege erfahren hat. Diese Kontrollbeschneidung ist für die
F.D.P. nicht akzeptabel und hier kann ich meine Verwun-
derung über die angebliche Rechtsstaatspartei Die Grü-
nen nur noch verstärken.
Insgesamt werden die beteiligten Ausschüsse noch viel
Detailarbeit mit dem Gesetzentwurf haben. Aber wir müs-
sen uns auch einmal sehr grundsätzlich mit dem Thema
Überwachung der Kommunikation einschließlich der
neuen Medien und des so genannten Lauschangriffs be-
fassen. In Deutschland wird zuviel abgehört und die Kon-
trollen sind durchaus verbesserungswürdig. Vielleicht
gibt der vorliegende Entwurf Gelegenheit, dieser Frage
intensiver nachzugehen.
Ulla Jelpke (PDS): Das hier vorgelegte Gesetz ist ein
großer Schritt in Richtung Überwachungsstaat und ein
schlimmer Rückschlag für die Bürgerrechte. Die Regie-
rung behauptet, sie korrigiere nur die Regelungen für
Brief-, Post- und Fernmeldekontrolle, die das Verfas-
sungsgericht 1999 beanstandet hatte, und ändere nur Re-
gelungen, die durch die technologische Entwicklung
überholt sind. Das ist eine glatte Täuschung der Öffent-
lichkeit.
Wenn das Gesetz in der vorliegenden Fassung in Kraft
tritt, dann haben sie den Weg frei gemacht für eine Aus-
spionierung und Überwachung der Bürgerinnen und Bür-
ger durch die Geheimdienste, wie wir sie seit Gründung
der Bundesrepublik Deutschland noch nie hatten. Dann
wird in einem Ausmaß abgehört, werden Briefe und Pa-
kete in einem Ausmaß geöffnet, Faxe und E-Mails mitge-
schnitten wie vermutlich in keinem anderen Land der
Welt.
Erst Ende des letzten Jahres hat der Bundesbeauftragte
für den Datenschutz, Herr Jacob, einen – ich zitiere –
„dramatischen Anstieg“ der Telefonüberwachungen fest-
gestellt. 12 600 Telefonüberwachungen waren da für 1999
gemeldet worden. Um eine Vergleichszahl zu nennen:
1973 hatte es nur 104 Telefonüberwachungen gegeben.
Mit anderen Worten: 1999 wurden schon nach dem alten
Gesetz 120 mal so viele Telefone abgehört wie zur hohen
Zeit der Verfolgung von RAF, Palästinensern und anderen
Oppositionsgruppen Anfang der 70er-Jahre. Die Zahl die-
ser Überwachungen steigt derzeit jährlich um 30 Prozent.
Alle vier Jahre verdreifacht sich also schon jetzt die Zahl
der Lauschangriffe.
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Diese Regierung ist angetreten mit der Ankündigung,
sie wolle die staatliche Überwachung der Bürger ein-
schränken und Grundrechte ausbauen. Die Grünen sind
sogar einmal entstanden als eine Partei gegen den Über-
wachungsstaat. Und jetzt? Jetzt wollen sie die Überwa-
chung des Brief-, Post- und Fernmeldeverkehrs mindes-
tens verdoppeln, vermutlich aber um ein Vielfaches
erhöhen.
Sie wollen das Trennungsgebot zwischen der Polizei,
die dem Legalitätsprinzip unterliegt, und Geheimdiens-
ten, die fast alles dürfen und von fast niemandem kon-
trolliert werden, in einem Ausmaß außer Kraft setzen wie
noch nie in dieser Geschichte. Die Durchbrechung dieses
Trennungsgebots wird in Zukunft nicht mehr Ausnahme,
sondern Regel sein.
Bis 1994 durfte der Bundesnachrichtendienst Telefon-
gespräche nur abhören bei Gefahr eines bewaffneten An-
griffs oder einer vergleichbaren Bedrohung des demokra-
tischen Rechtsstaates. Es war schon schlimm genug, dass
1994 das berüchtigte Verbrechensbekämpfungsgesetz des
inzwischen ebenso berüchtigten Innenministers Kanther
diese Beschränkung aufgehoben und für zahlreiche wei-
tere Verdachtsgründe das Abhören erlaubt hat.
Mit dem jetzigen Gesetz aber korrigieren SPD und
Grüne diese falsche, obrigkeitsstaatliche Entwicklung
nicht im Geringsten. Im Gegenteil, Sie treiben sie auf die
Spitze.
Jetzt sollen die Geheimdienste sogar beim einfachen
Verdacht auf Verstöße gegen das Vereinsrecht, auf Ver-
stöße gegen das Ausländergesetz und auf Volksverhet-
zung private Briefe und Pakete aufmachen, Telefonate,
Faxe und E-Mails abhören und belauschen dürfen. Bis
heute darf der Bundesnachrichtendienst maximal 10 Pro-
zent des gesamten Telefonverkehrs überwachen. Sie wol-
len diesen Anteil auf 20 Prozent verdoppeln.
Die Deutsche Vereinigung für Datenschutz und der Re-
publikanische Anwältinnen- und Anwälteverein hat be-
reits Mitte Februar zu ihrem Gesetzentwurf richtig fest-
gestellt: „Nicht das Gesetz, sondern das Budget der
Dienste beschreibt in Zukunft die Grenzen des heimlichen
Abhörens. ... Die Novellierung des Artikel 10-Gesetzes ist
damit aus Sicht der Bürgerinnenrechte keine Trendwende
in der bundesrepublikanischen Sicherheitsgesetzgebung,
wie sie nach der Kohl/Kanther-Ära notwendig gewesen
wäre.“ Auch das ist leider wahr.
Gegen das alte G-10-Gesetz ist noch eine Beschwerde
vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
anhängig. Sie warten noch nicht einmal den Ausgang des
Verfahrens ab, so eilig haben sie es mit dem Ausbau des
Überwachungsstaats und dem Abbau von Bürgerrechten.
Ein letzter Punkt: Ich habe im Vorfeld dieser Beratun-
gen die Regierung nach dem Ausmaß der Eingriffe in das
Brief-, Post und Fernmeldegeheimnis in den letzten zehn
Jahren gefragt. Die Regierung hat mir die Antwort auf fast
alle wichtigen Fragen verweigert mit dem Hinweis auf
eine angeblich „notwendige Geheimhaltung“. Ich finde
das eine Ungeheuerlichkeit. Sie wollen offensichtlich
nicht nur die Quellen und die Arbeitsweise der Geheim-
dienste geheim halten. Sie wollen geheim halten, in wel-
chem Ausmaß die Bürgerinnen und Bürger schon jetzt
von den Geheimdiensten ausgespäht und belauscht wer-
den. Sie wollen geheim halten, in welchem Ausmaß die
Geheimdienste schon jetzt Grundrechte einschränken und
verletzen.
Eine solche Geheimhaltung ist mit einer demokrati-
schen Gesellschaft unvereinbar. Sie ist unvereinbar mit
dem Transparenzgebot für alles staatliche Handeln und
mit einer Kontrolle der Exekutive durch das Parlament.
Wie sollen wir eigentlich über dieses neue Gesetz disku-
tieren, das Ausmaß der dadurch ausgelösten Grundrechts-
eingriffe bewerten und beurteilen, wenn uns solche Infor-
mationen verweigert werden?
Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, zu erfahren,
wie viele private Briefe, Päckchen und Pakete von Polizei
und Geheimdiensten aufgemacht werden, wie viele pri-
vate Faxe von Beamten heimlich gelesen, wie viele Tele-
fonate und E-Mails heimlich mitgeschnitten und mit-
gehört werden.
Wer solche Auskünfte verweigert, hat Dreck am
Stecken, der hat etwas zu verbergen. Das aufzudecken
und die Bürgerinnen und Bürger im Land über solche
Dinge zu informieren gehört zu den Grundpflichten jeder
Opposition und wir werden dieser Grundpflicht nach-
kommen.
Fritz Rudolf Körper, Parlamentarischer Staatssekretär
beim Bundesminister des Innern: Sie beraten heute den vom
Bundesminister des Innern vorgelegten Gesetzentwurf zur
Neuregelung von Beschränkungen des Brief-, Post- und
Fernmeldegeheimnisses. Kernstück des Entwurfs ist die
Neufassung des Artikel-10-Gesetzes.
Anlass dieser Neufassung ist die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juli 1999. Das Ge-
richt hatte darin einige Bestimmungen des G-10-Gesetzes
im Bereich der vom Bundesnachrichtendienst durchge-
führten strategischen Fernmeldekontrollen beanstandet.
Die Richter hatten dem Gesetzgeber zur Herstellung eines
verfassungsmäßigen Zustandes eine Frist bis zum 30. Juni
2001 gesetzt.
Der vorliegende Gesetzentwurf trägt diesen Beanstan-
dungen Rechnung. Mit der Neufassung des G 10-Geset-
zes werden vor allem die Anforderungen an den Umgang
der beteiligten Behörden mit personenbezogenen Daten
verschärft. Für alle Übermittlungsvorgänge gilt nun eine
Protokollierungspflicht. Zusätzlich haben erhebende und
empfangende Stellen künftig unverzüglich und in Abstän-
den von höchstens sechs Monaten zu prüfen, ob die Da-
ten erforderlich sind; anderenfalls sind sie zu löschen.
Das Bundesverfassungsgericht hatte nur den Bereich
der strategischen Fernmeldekontrolle geprüft. Gleich-
wohl sind in der Neufassung die Regelungen über den
Umgang mit personenbezogenen Daten auch für den Be-
reich der Individualanordnungen übernommen worden.
Ich halte dies für eine richtungsweisende, datenschutz-
freundliche Entscheidung.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 200115796
(C)
(D)
(A)
(B)
Die bisherige Regelung, wonach der Bundesnachrich-
tendienst innerhalb eines Zeitraums von drei Monaten
personenbezogene Daten ohne Mitteilung an den Betrof-
fenen nutzen durfte, wurde gestrichen. Damit werden die
Rechte der Betroffenen wesentlich gestärkt. Nach der
Neufassung kann von einer Mitteilung nur abgesehen
werden, wenn die Daten sogleich nach ihrer Erhebung un-
verzüglich gelöscht wurden.
Darüber hinaus werden die Vorschriften über die Kon-
trolltätigkeit der G-10-Kommission erweitert, die alle
Maßnahmen nach diesem Gesetz zu überwachen hat, von
der Anordnung bis zur Erhebung, Verarbeitung und Nut-
zung personenbezogener Daten durch Dienste des Bun-
des. Damit wird eine umfängliche Kontrollbefugnis
festgeschrieben, die eine restriktive Anwendung der Maß-
nahmen nach dem G 10 gewährleistet; dadurch wird eben-
falls der Schutz der Betroffenen gestärkt. Zugleich wird
festgeschrieben, dass der Kommission die für die Erfül-
lung ihrer Aufgaben notwendige Personal- und Sachaus-
stattung zur Verfügung zu stellen ist.
Das Gesetzesvorhaben soll aber zugleich zum Anlass
genommen werden, zwischenzeitlich erkannte Lücken
des bisherigen Gesetzes zu schließen.
Eine wesentliche Änderung erfolgt im Hinblick auf die
fortschreitende technologische Entwicklung im Bereich
der leitungsgebundenen internationalen Telekommunika-
tion. Nach dem Gesetzentwurf soll künftig die strategi-
sche Fernmeldekontrolle bei durch Lichtwellenleiter ge-
bündelt übertragener internationaler Telekommunikation
zulässig sein.
Weiterhin wird eine Regelung zu Aufklärungsmaßnah-
men im Zusammenhang mit kriminellen, Leib oder Leben
bedrohenden Geiselnahmen im Ausland eingefügt. Damit
wird eine Lücke des bisherigen Gesetzes geschlossen. Bei
der Beantragung einer Beschränkungsmaßnahme anläss-
lich der Geiselnahme auf der Insel Jolo musste sehr rasch
die Zustimmung des Parlamentarischen Kontrollgremi-
ums eingeholt werden. Dieser Fall wird jetzt gesetzlich
geregelt. Hierbei ist jedoch die Zustimmung des Gremi-
ums wegen der Bedeutung des Grundrechtseingriffs von
einer Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder ab-
hängig; außerdem tritt die Entscheidung spätestens nach
zwei Monaten außer Kraft.
Ferner wird der Straftatenkatalog, der zwingende Vo-
raussetzung im Bereich der. Individualkontrolle ist, ge-
ringfügig erweitert. So wird der Tatbestand der Volksver-
hetzung – § 130 StGB – aufgenommen; damit folgt die
Bundesregierung auch einer Bitte der Innenministerkon-
ferenz vom 11. Juni 1999. Weiterhin wird der Straftaten-
katalog durch einige der in § 129 a StGB enthaltenen De-
likte, beispielsweise Mord und Totschlag – §§ 211, 212
StGB –, erpresserischer Menschenraub – § 239 a StGB –,
Geiselnahme – § 239 b StGB – oder das Herbeiführen ei-
ner Sprengstoffexplosion – § 308 Abs. 1 und 3 StGB –, er-
gänzt, soweit diese sich gegen die freiheitliche demokra-
tische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des
Bundes oder eines Landes richten. Dies ist erforderlich,
um auch Straftaten gewaltbereiter, extremistischer Ein-
zeltäter oder loser Gruppierungen erfassen zu können.
Dies war nach der bisherigen Rechtslage nicht möglich,
weil § 129 a StGB das Vorliegen einer fest gefügten ter-
roristischen Vereinigung voraussetzt.
In der Novelle wird weiterhin ausdrücklich klarge-
stellt, dass die im Rahmen des G 10 gewonnenen Er-
kenntnisse auch zur Vorbereitung und Durchführung von
Verbotsverfahren bei verfassungswidrigen Parteien und
extremistischen Vereinen genutzt werden können. Im
letzteren Fall werden vor allem Erkenntnisse über Struk-
turen zu verbietender Gruppierungen benötigt, die auf an-
derem Wege häufig nicht oder erst im Zuge von vereins-
rechtlichen Durchsuchungsmaßnahmen bei Funktionären
festgestellt werden können. Es entspricht ohnedies dem
Gesetzeszweck, drohende Gefahren für die freiheitliche
demokratische Grundordnung oder den Bestand oder die
Sicherheit des Bundes oder eines Landes abzuwehren. Im
Verbotsverfahren gegen die NPD wird die Bundesregie-
rung von dieser Regelung keinen Gebrauch machen. Die
ohne Maßnahmen nach dem G-10-Gesetz gewonnenen
Erkenntnisse über die NPD reichen aus, um den Verbots-
antrag umfassend zu stützen.
Schließlich enthält der Gesetzentwurf eine Änderung
des Gesetzes über den Bundesnachrichtendienst. Damit
wird erreicht, dass inländische Behörden den Bundes-
nachrichtendienst auch von sich aus über einschlägige
Gefahrenbereiche unterrichten können, ohne dass der
Bundesnachrichtendienst hierum ersuchen muss.
Insgesamt stellt der vorliegende Entwurf eine gelun-
gene Weiterentwicklung des bisherigen G 10 dar, die den
Vorstellungen des Bundesverfassungsgerichts wie auch
dem heutigen Datenschutzverständnis entspricht.
In den vor uns liegenden Ausschussberatungen wird
man sich mit den Vorstellungen des Bundesrates ausei-
nandersetzen, der am 9. März 2001 eine Fülle von Ände-
rungs- und Ergänzungsvorschlägen zu dem Regierungs-
entwurf gemacht hat. Bei einer Reihe dieser Vorschläge
handelt es sich um sinnvolle Ergänzungen, die die Bun-
desregierung ohne weiteres übernehmen kann.
In vielen anderen Fällen aber kann die Bundesregie-
rung die Vorschläge der Länder nicht übernehmen. So
kann zum Beispiel der Wunsch, alle in § 129 a StGB auf-
geführten Straftaten in den Katalog der Überwachungs-
tatbestände bei den Individualkontrollen aufzunehmen,
nicht erfüllt werden. Eine derartige Erweiterung würde
die Homogenität des Straftatenkataloges sprengen und
den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Grundrecht-
seingriffen missachten. Ebenso kann der Wunsch der Län-
der, bei der Weitergabe gewonnener Erkenntnisse den
weit gefassten Katalog des § 100 a StPO zugrunde zu le-
gen, nicht akzeptiert werden. Das Bundesverfassungsge-
richt hat eine strenge Neuordnung der bisher zulässigen
Weiterleitungstatbestände gefordert. Die Aufnahme aller,
schon im bisherigen G 10 nicht enthaltenen Tatbestände
des § 100 a StPO, wäre nach Auffassung der Bundesre-
gierung unverhältnismäßig.
Ich bin sicher, dass es uns gemeinsam gelingen wird,
eine Neufassung des G 10 zu beschließen, die den Vor-
stellungen aller Beteiligten Rechnung trägt.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001 15797
(C)
(D)
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(B)
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines ... Gesetzes zur
Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch
(... SGB III – Änderungsgesetz – ... SGB III-
ÄndG) (Tagesordnungspunkt 13)
Renate Rennebach (SPD): Moderne Arbeitsmarkt-
politik heißt, aktive Beschäftigungsförderung zu betrei-
ben und zu finanzieren und nicht einfach nur Arbeitslo-
sigkeit zu verwalten. Eine gute Konjunkturlage, wie sie
zurzeit besteht – hier sind wir uns alle einig – reicht nicht
aus, um das Hauptproblem Arbeitslosigkeit in unserer Ge-
sellschaft zu bekämpfen. Vielmehr ist die konsequente
Modernisierung der Arbeitsmarktförderung die Achilles-
ferse einer nachhaltigen Bekämpfung der Erwerbslosig-
keit und hat somit auch für die Bundesregierung oberste
Priorität. Danach richtet sich auch die von der Regie-
rungskoalition verfolgte Änderungspolitik des SGB III.
Um eine Reform hin zu einer aktiven Beschäftigungs-
politik vorzulegen, die ihren Namen auch verdient und
dem Anspruch der sozialen Gerechtigkeit entspricht.
Dafür brauchen wir eine gründliche und verantwortungs-
volle Abwägung der Bedürfnisse aller Betroffenen. Das
wird leider von vielen übersehen, denen die dringend an-
stehende Reform des Arbeitsförderungsrechts nicht
schnell genug geht.
Eine Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes ist aber
vor allem auch mit einem radikalen Umdenken in der
Arbeitsförderungspolitik verbunden: Die Philosophie
der Beschäftigungspolitik muss geändert und an die Er-
fordernisse einer modernen Industriegesellschaft ange-
passt werden. Dazu gehört auch, über den Tellerrand un-
serer Landesgrenzen – etwa zu unseren Nachbarstaaten
Holland und Dänemark – zu schauen und von liebgewon-
nenen Gewohnheiten Abschied zu nehmen, ein Gedanke
mit dem sich vor allem die Opposition – Stichwort „Teil-
zeitarbeit“ – noch nicht so recht vertraut machen kann.
Unsere Nachbarn Holland und Dänemark führen uns
schon seit einigen Jahren vor, dass so genannte problema-
tische Zielgruppen wie Geringqualifizierte oder ältere
Langzeitarbeitslose sehr wohl in den Arbeitsmarkt inte-
griert werden können. Am Beispiel der von der Bundes-
regierung übernommenen Jobrotation, die in Dänemark
seit Jahren erfolgreich realisiert wird, zeigt sich, dass es
sich lohnt, den Werkzeugkasten zu entrümpeln und den
Mut zu haben, ausgetretene Pfade zu verlassen und zu
neuen Mitteln zu greifen. So und nur so wird eine gerech-
tere Verteilung vorhandener Arbeit in unserer Gesell-
schaft erreicht.
Die Bundesregierung ist hier mit der geplanten Reform
im Sinne einer Überprüfung und Weiterentwicklung des
arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums zur Bekämp-
fung der Arbeitslosigkeit auf dem richtigen Weg.
Schon mit dem SGB-III-Vorschaltgesetz ist die Ar-
beitsmarktpolitik bereits zum 1. August 1999 praxisge-
rechter gestaltet worden. Das zeigt sich in vielen Details
wie etwa der eingangs erwähnten verbesserten Zielgrup-
penförderung oder der Verwaltungsvereinfachung zuguns-
ten der Vermeidung unnötiger Bürokratie für Arbeitsäm-
ter und Betroffene zugleich. Die abschließende Reform
der Arbeitsförderung wird zum 1. Januar 2002 nach
gründlicher Vorbereitung und Einbeziehung aller gesell-
schaftlich relevanten Gruppen erfolgen.
Lassen Sie uns eine Reform auf den Weg bringen, die
eher durch ihre innere Stringenz als durch das Tempo ih-
res Zustandekommens besticht. Es gilt, endlich wieder
Verlässlichkeit und Planungssicherheit für die Träger und
die Betroffenen der Arbeitsmarktpolitik zu schaffen und
nicht nach der uns allen noch präsenten „Stop and Go-Me-
thode“ der Kohl-Regierung zu verfahren, nach der bei-
spielsweise Ausgaben für ABM kurz vor der Bundestags-
wahl noch mal in die Höhe getrieben werden.
Eine Reformierung der Arbeitsförderung zwingt uns
zur Anhörung aller Betroffenen und gesellschaftlich rele-
vanten Gruppen. Dazu zählen auch die Frauen und das
Thema Vereinbarkeit von Kindererziehung, Beruf und so-
zialer Absicherung – eine Herausforderung, die im Übri-
gen nicht nur von der Arbeits- und Sozialpolitik, sondern
auch von der Bildungs- und Steuerpolitik adäquate Ant-
worten verlangt. Wir stellen uns dieser Herausforderung.
Eine soziale Benachteiligung von Frauen – und Män-
nern –, die vor ihrem Erziehungsgeldbezug und ihrer Er-
ziehungszeit – Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe
bezogen haben – da sind wir uns mit den Kolleginnen und
Kollegen von der PDS einig –, ist nicht mehr hinnehmbar.
Insofern geht Ihr Entwurf zumindest in die richtige Rich-
tung. Aber Ihr hier vorliegender Beitrag zur Reform des
SGB III – § 147 SGB III: Frist für das Erlöschen des An-
spruchs auf Arbeitslosengeld und § 196 SGB III: Frist für
das Erlöschen des Anspruchs auf Arbeitslosenhilfe – hat
einen ganz entscheidenden Haken: Ihre Änderungsvor-
schläge berücksichtigen nicht die anderen gesellschaftlich
relevanten Personengruppen. Was ist mit den Interessen
von Personen, die ihre Angehörigen pflegen oder unseren
Mitbürgern, die zeitweise erwerbsunfähig sind? Auch
diese Personengruppen – das kann niemand bezweifeln –
haben ein schützenswertes Interesse daran, ihren Leis-
tungsanspruch nicht zu verlieren. Hier gilt ohne Wenn und
Aber der Gleichheitsgrundsatz, wie ihn unser Grundgesetz
gebietet. Sie sehen: Zu einer grundlegenden Reform unse-
rer Beschäftigungspolitik reicht es nicht aus, an der einen
oder anderen Schraube zu drehen. Vielmehr gilt es, das
Problem in seiner Gesamtheit zu erkennen und nicht nur
vorübergehende Kosmetik zur Verwaltung von Arbeitslo-
sigkeit zu betreiben. Eine Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik,
die nur darauf aus ist, schnellatmig Partikularinteressen zu
bedienen, verliert schnell das Gemeinwohl aus dem Auge
und im Übrigen auch seine Glaubwürdigkeit.
Genau aus diesem Grund wird in der Koalitionsar-
beitsgruppe SGB III zusammen mit dem BMA ausgiebig
und unter Abwägung aller Interessen auch über die Pro-
blematik des Arbeitslosenversicherungsschutzes nach der
Kindererziehung diskutiert. Ein Eckpunktepapier der
Bundesregierung, das auch diesen komplexen Bereich
thematisiert, wird Anfang Mai diesen Jahres auf dem
Tisch liegen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 200115798
(C)
(D)
(A)
(B)
Ich möchte daher noch mal eindringlichst an Sie ap-
pellieren: Lassen Sie uns durch Abwägung der Interes-
sen aller bedeutsamen Gruppen in unserer Gesellschaft
– dazu zählt im Übrigen auch das von der PDS so viel
geschmähte Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wett-
bewerbsfähigkeit – eine sozial gerechte Reform auf den
Weg bringen, die ihren Namen auch verdient hat. Vor
Schnellschüssen, die Anliegen wichtiger Betroffener un-
ter den Tisch fallen lassen, sei an dieser Stelle ausdrück-
lich gewarnt. Ansonsten droht die dringend anstehende
Änderung des Arbeitsförderungsrechts zur einem Reför-
mchen statt zu einer Reform zu werden. Aus diesem si-
cher für alle verständlichen Grund lehnen wir den An-
trag ab.
Heinz Schemken (CDU/CSU): Der Entwurf des Ge-
setzes zur Änderung des SGB III sieht vor, dass im Rah-
men des § 147 SGB III sichergestellt werden soll, dass der
Anspruch auf Arbeitslosengeld auch bei der Geburt von
zwei und mehr Kindern und anschließendem Erziehungs-
urlaub erhalten bleibt. Mit der vorgeschlagenen Änderung
soll der Anspruch auf Arbeitslosenhilfe nach Zeiten des
Mutterschutzes und des Erziehungsurlaubs erhalten blei-
ben.
Durch die gleichmäßige Berücksichtigung von Mutter-
schutz und Kindererziehungszeiten sowie die einheitliche
Verlängerung der Fristen, die zum Erlöschen von An-
sprüchen auf Entgeltersatzleistungen – Arbeitslosengeld
und Arbeitslosenhilfe – führen, werden bei der Bundes-
anstalt für Arbeit Mehrkosten in nicht näher zu beziffern-
dem Umfang entstehen. Gleichzeitig werden die Kom-
munalhaushalte entlastet, da der Personenkreis, der nach
dem SGB III anspruchsberechtigt ist, erweitert wird und
ein Teil dieser Personen dadurch aus dem Leistungsbezug
nach dem Bundessozialhilfegesetz fällt.
Insgesamt geht es darum, die Fristen für das Erlöschen
der Ansprüche auf Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe
um die Zeiten des Mutterschutzes und des Erziehungsgel-
des zu verlängern.
Für die Bundesanstalt für Arbeit entstehen nicht quan-
tifizierbare Kosten. Allerdings würden die Kommunen
entlastet, weil weniger Personen durch die Sozialhilfe ge-
stützt werden müssen.
Der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung wie auch
der mitberatende Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend haben diesen Gesetzentwurf der PDS mehr-
heitlich abgelehnt. Die Ausschussmehrheiten plädierten
dafür, den Sachverhalt im Zuge der geplanten Reform des
SGB III im Zusammenhang mit ähnlich gelagerten Pro-
blemen zu lösen.
Wir mahnen hier nachdrücklich die Reform des Ar-
beitsförderungsgesetzes an. Da sich im Arbeitsmarkt
nichts Entscheidendes bewegt und die Arbeitslosigkeit
weiter bei der Marke um 4 Millionen verharrt, muss die
Koalition von SPD und Grünen hier endlich Farbe beken-
nen. Wir brauchen hier Instrumente, die insbesondere bei
der Langzeitarbeitslosigkeit wirksam ansetzen. Dabei
geht es um die örtlichen Initiativen vom Arbeitsamt und
Kommunen.
Wir werden mit den Hemmnissen im Arbeitsmarkt, wie
sie durch Rot-Grün mit der Rücknahme von Gesetzen, die
gerade die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse för-
derten, entstehen und mit den Belastungen, zum Beispiel
durch den Rechtsanspruch auf Teilzeit gerade für mittel-
ständische Betriebe, nicht weiterkommen. Wenn schon
bei kräftigem Wachstum die Arbeitslosigkeit kaum abge-
baut wird, wie soll das erst bei einer sich abschwächenden
Konjunktur werden? Und wenn sich was bewegt, dann ist
das nur von statistischer Größe. Deutschland kriegt den
hohen Arbeitslosensockel einfach nicht weg.
Gleichzeitig war der „Mismatch“ nie so groß wie
heute: Dem Heer der Arbeitslosen steht eine wachsende
Zahl von Betrieben gegenüber, die ihre offenen Stellen
nicht besetzen können.
Das Thema der Langzeitarbeitslosigkeit erhält in die-
sem Zusammenhang seine dramatische Wirkung für den
Betroffenen, vor allem für den mit Kindern.
Über 1,4 Millionen Menschen sind immer noch länger
als ein Jahr arbeitslos. 60 Prozent aller Langzeitarbeitslo-
sen sind älter als 45 Jahre. 77 Prozent der Langzeitarbeits-
losen in den jungen Bundesländern sind Frauen. Dabei han-
delt es sich überwiegend sogar um qualifizierte Arbeitslose.
Die Sozialpartner haben die Verlängerung des Bundes-
programms zur Eingliederung von Langzeitarbeitslosen
durch die ehemalige CDU-geführte Bundesregierung bis
zum Jahre 2001 begrüßt. Mithilfe dieses Programms
konnten von 1985 bis 1998 über 300 000 Menschen eine
Beschäftigung finden.
Seit April 1997 gibt es den Eingliederungsvertrag für
Langzeitarbeitslose, denn Betriebe tun sich häufig
schwer, Langzeitarbeitslose einzustellen. Sie fürchten, bei
Krankheit oder bei Nichteignung diese nur schwer wieder
entlassen zu können.
Durch den neuartigen Eingliederungsvertrag, der der
Zustimmung des Arbeitsamtes bedarf und bis zu sechs
Monate zur Einarbeitung und Qualifizierung gelten kann,
wird ein Sonderarbeitsverhältnis geschaffen, mit dem der
Arbeitgeber von diesen Risiken entlastet wird. Das Ar-
beitsamt erstattet die Aufwendungen für die Lohnfortzah-
lung und kann zusätzlich Lohnkostenzuschüsse ge-
währen. Die Arbeitgeber nutzen dieses Instrument
allerdings nur im geringen Umfang.
Trainingsmaßnahmen können notwendige Kenntnisse
und Fähigkeiten zur Verbesserung der Einstellungschan-
cen vermitteln, aber auch zur Eignungsfeststellung und
Prüfung der Arbeitsbereitschaft und Arbeitsfähigkeit ge-
nutzt werden. Wir möchten deshalb mit Nachdruck darauf
drängen, dass wir diese Ungereimtheiten recht bald aus-
räumen. Daher sehen wir schon dieses Anliegen; aber es
sollte in den Gesamtzusammenhang gestellt werden.
Im Übrigen gibt es auch eine Initiative des Freistaates
Sachsen in dieser Sache im Bundesrat. Diese zielt auf die
Novellierung des AFG ab.
Darauf drängen auch wir und deshalb können wir heute
einer Zustimmung nicht folgen. Wir lehnen deshalb diese
Gesetzesinitiative der PDS ab.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2001 15799
(C)
(D)
(A)
(B)
Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der An-
trag der PDS greift ein wichtiges Problem auf: Nach be-
stimmten Fristen, in denen die entsprechenden Leistun-
gen nicht bezogen werden, erlöschen die Ansprüche auf
Arbeitslosengeld und auf Arbeitslosenhilfe. Wenn jemand
also einen entsprechenden Anspruch hat, ihn aber vier
Jahre lang nicht realisiert, erlischt dieser Anspruch. Das
ist im Prinzip eine vernünftige Regelung und wenn je-
mand drei Jahre Erziehungsurlaub hat, ist diese Regelung
auch kein Problem.
Schwierig wird es allerdings, wenn Eltern am Stück bei
Gewährung von Arbeitslosengeld mehr als vier Jahre und
bei Gewährung von der Arbeitslosenhilfe mehr als drei
Jahre Erziehungsurlaub beziehungsweise Elternzeit in
Anspruch nehmen und wenn sie im Anschluss an diese Er-
ziehungszeit arbeitslos sind. Dann kann es – bei zwei und
mehr Kindern – passieren, dass sie auf Sozialhilfe ange-
wiesen sind, statt dass sie ihre vor der Geburt ihrer Kin-
der erworbenen Ansprüche auf Arbeitslosengeld und Ar-
beitslosenhilfe realisieren. Das ist natürlich nicht im
Sinne des Erfinders.
Kinder dürfen kein Sozialhilferisiko sein. Das wollen
wir gewährleisten, indem wir den Familienleistungsaus-
gleich weiter verbessern, das Kindergeld weiter erhöhen
und die Kinderarmut gezielt bekämpfen. Das müssen wir
aber auch gewährleisten, indem wir unsinnige Regelun-
gen beseitigen, welche die gegenüber der Sozialhilfe vor-
rangigen Ansprüche schwächen. Dies ist bei den hier mo-
nierten Paragraphen eindeutig der Fall. Deshalb müssen
diese Paragraphen entsprechend geändert werden.
Wir haben in der Koalition eine gemeinsame Arbeits-
gruppe zur SGB III-Reform eingerichtet, die sich mit die-
sem und mit vielen anderen Problemen auseinander setzt –
mit nach vorne weisenden, innovativen Ansätzen. Dabei
haben wir festgestellt: Der in dem PDS-Antrag angespro-
chene Sachverhalt ist nicht nur richtig erkannt, auch der
vorgeschlagene Lösungsweg weist in die richtige Rich-
tung. Wir müssen aber auch sehen: Weil wir eine Reihe
von ähnlich gelagerten und widersprüchlichen Fällen ha-
ben, weil wir zusätzlich grundsätzliche Veränderungen
beim SGB III in Angriff nehmen, macht es mehr Sinn,
eine Reform aus einem Guss zu machen, zumal die Ko-
alition ihre Reformvorschläge zeitnah vorlegen wird.
Wir lehnen den PDS-Antrag deshalb also nicht aus in-
haltlichen Gründen ab, sondern weil wir eine Reform aus
einem Guss und weil wir ein in sich stimmiges Projekt
wollen, das keine neuen Widersprüche produziert und alle
problematischen Fälle regelt. Dass dies Sinn macht,
macht allein schon der Umstand klar, dass die PDS gleich
zwei Lösungsvorschläge unterbreitet. Welcher der beste
ist, wird sich im Zusammenhang mit anderen Fragen im
Rahmen der SGB III-Reform erweisen. Deshalb sagen
wir: Eine baldige SGB-Reform statt ein Stückwerk – das
ist das, was den Menschen am meisten dient.
Dirk Niebel (F.D.P.): Der hier vorliegende Antrag,
Mutterschutz- und Elternzeit in die Anspruchszeiten für
die Arbeitslosenversicherung aufzunehmen, hat sicher-
lich seine Berechtigung. Es kann nicht sein, dass Frauen
und Männer aufgrund von Eltern- und Erziehungszeiten
ihre Ansprüche auf Arbeitslosengeld und Arbeitslosen-
hilfe verlieren.
Die PDS hat als Lösung vorgeschlagen, die Elternzeit
in die Versicherungspflicht aufzunehmen. Dies wäre jetzt
aber wieder nur die Gegenmaßnahme für einen Einzelfall
und passt in das Flickwerk von Rot-Grün.
Die zusätzlichen Beiträge würden darüber hinaus die
Steuerzahler und die Bundesanstalt für Arbeit mit Kosten
in ungeklärter Höhe belasten. Die F.D.P.-Fraktion kämpft
seit Monaten für eine Senkung der Beiträge zur Arbeits-
losenversicherung. Wir stimmen zusätzlichen Belastun-
gen für die Beitragszahler und Mehrausgaben der Bun-
desanstalt für Arbeit nicht zu.
Das Argument, dass bei In-Kraft-Treten des Antrags
die Kommunen bei der Sozialhilfe entlastet werden, zeigt
wieder einmal den Verschiebebahnhof bei den beiden
steuerfinanzierten Leistungen Arbeitslosenhilfe und So-
zialhilfe auf.
Die F.D.P. wird deshalb dem Deutschen Bundestag
einen Antrag auf Zusammenfassung der steuerfinanzier-
ten Leistung Arbeitslosenhilfe mit der ebenfalls steuerfi-
nanzierten Sozialhilfe vorlegen. Dadurch wird nicht nur
dieser Verschiebebahnhof beendet. Durch die Verschlan-
kung von Behörden und den Abbau von bürokratischem
Aufwand werden erhebliche Einsparungen ermöglicht.
Bisher kostet der Verwaltungsapparat 15 Milliarden DM
jährlich, davon rund 7 Milliarden DM allein die Verwal-
tung der beiden Leistungen Arbeitslosen- und Sozialhilfe.
Kinder dürfen nicht zum Armutsrisiko werden. Die
F.D.P. ist unter anderem deshalb die Partei der sozialen
Verantwortung, weil wir Elternschaft und berufliche
Tätigkeit in Einklang bringen wollen: Wir setzen daher
große Hoffnung in die Reform des SGB III, die ja von der
rot-grünen Regierung seit Beginn der Legislaturperiode
angekündigt wird. Im Rahmen des Gesamtkonzeptes, das
wir konstruktiv begleiten werden, muss auch das hier vor-
liegende Thema zufriedenstellend gelöst werden.
Die F.D.P.-Bundestagsfraktion lehnt deshalb diesen
Antrag als Einzelfalllösung ab. Wir fordern, dass die Bun-
desregierung endlich ihre Versprechungen wahr macht
und den Entwurf zur Reform des Arbeitsförderungsrechts
vorlegt. Und bitte legen Sie uns nicht wieder Flickwerk
vor, sondern endlich einmal handwerklich solide Arbeit.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 161. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 200115800
(C)
(D)
(A)
(B)
Druck: MuK. Medien- und Kommunikations GmbH, Berlin