Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 sowie Zusatz-
punkt 9 auf:
15. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
zu den Ergebnissen des Europäischen Rates
Nizza
ZP 9 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union zu der
Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung des Europäischen Parlaments
mit seinen Vorschlägen für die Regierungskon-
)
Die Europäische Union wird zum Jahresbeginn 2003 inder Lage sein, erste Neumitglieder aufzunehmen.Nach der Schaffung des finanziellen Rahmens durchdie Agenda 2000 unter deutscher Präsidentschaft hat dieEuropäische Union die zweite und damit letzte noch aus-stehende Vorbedingung für die Beitritte neuer Mitgliedererfüllt. Damit tritt der Erweiterungsprozess in ein neuesStadium. Wir verlassen die Ebene, die bislang aus abs-trakten Deklarationen und dem technischen Abgleich vonVerhandlungspositionen bestand. Von nun an geht es da-rum, konkrete und für beide Seiten tragfähige Lösungenin teilweise sehr schwierigen Sachfragen zu finden.Ich bin am Tag vor dem Beginn des Gipfels in Nizzasehr bewusst zu unseren polnischen Nachbarn und Freun-den nach Warschau gefahren. Gemeinsam haben wir da andas Lebenswerk von Willy Brandt erinnert. So wieAdenauer der Architekt der Aussöhnung mit unserenwestlichen Nachbarn war, so ist die Öffnung der Europä-ischen Union nach Mittel- und Südosteuropa ohne dieFriedenspolitik Willy Brandts nicht denkbar.
Er hat den Grundstein dafür gelegt, dass heute in Eu-ropa, wie er es in einem anderen Zusammenhang einmalformuliert hat, zusammenwachsen kann, was zusammen-gehört. Unsere Nachbarn in Mittel- und Osteuropa habendie deutsche Einigung von Beginn an mit Sympathie be-gleitet. Ohne ihre Mithilfe wäre sie wohl erst viel späterund unter sehr viel schwierigeren Bedingungen Wirklich-keit geworden. Niemand in Mittel- und Osteuropa hat da-für von uns Deutschen jemals Dankbarkeit oder eine Ge-genleistung eingefordert. Trotzdem haben wir Deutschenicht vergessen, was unsere Nachbarn und Freunde zurstaatlichen Einheit unseres Landes beigetragen haben.14111
144. SitzungBerlin, Freitag, den 19. Januar 2001Beginn: 9.00 Uhr
Nicht zuletzt deshalb weiß Deutschland um seine beson-dere Verantwortung für das Gelingen des Erweiterungs-prozesses. Die Freunde und Partner in Mittel- und Osteu-ropa können also auf uns zählen.Im Bewusstsein dieser Verantwortung bin ich im De-zember von Warschau nach Nizza gefahren und habemich dort mit aller Kraft für eine faire Behandlung ge-rade auch jener Länder eingesetzt, die nicht mit amVerhandlungstisch saßen. Glaubwürdig und wirkungs-voll konnte ich das nur tun, weil wir Deutsche in Nizzaeben nicht die nationale Karte gespielt, sondern ein füralle Beteiligten akzeptables und gutes Ergebnis für Eu-ropa gewollt haben.
Dass wir mit dieser Haltung auch im Hinblick auf deut-sche Anliegen gleichwohl ein sehr befriedigendes Ergeb-nis erzielt haben, unterstreicht nur, dass dieser Ansatzrichtig war.Meine Damen und Herren, nicht alle Hoffnungen, mitdenen wir nach Nizza gegangen sind, haben sich am Endeerfüllt. Wir hätten uns durchaus ein weiter reichendes Er-gebnis etwa beim Übergang zu Mehrheitsentscheidun-gen im Rat vorstellen können. Dass das nicht gelungen ist,ist bedauerlich. Gleichwohl muss man anmerken, dassauch wir in einigen Punkten politischen Grund hatten, zusagen, dass Mehrheitsentscheidungen noch nicht möglichseien. Insofern haben wir nicht mit dem Finger auf anderezu zeigen, sondern auch uns selbst zu sehen.
– Sie können ja gleich von dieser Stelle aus erklären, dassSie etwa in der Asylfrage sofort zu Mehrheitsentschei-dungen übergehen wollen. Ich bin sehr gespannt darauf,Herr Haussmann, ob Sie das wirklich wollen.
– Es reicht mir ja, wenn Sie lachen.
Trotzdem fällt meine Bewertung des Gesamtergebnis-ses von Nizza positiv aus. Ich wiederhole, dass das ent-scheidende und zentrale Ziel erreicht wurde: Die Europä-ische Union ist ab 2003 erweiterungsfähig. Nun liegt es anden Kandidatenländern selbst, das Ziel, beitrittsfähig zuwerden, durch eigene Anstrengungen zu erreichen. DieseAnstrengungen können und werden wir unterstützen; wirkönnen sie aber nicht ersetzen.Auf deutsch-italienische Initiative hin hat die Regie-rungskonferenz außerdem den Rahmen für die Zeit nachNizza abgesteckt. Damit ist klargestellt, dass die Diskus-sion über Europa weitergehen wird. Viele Fragen stellensich in diesem Zusammenhang. Ich nenne nur die Kom-petenzabgrenzung zwischen nationaler und europäischerEbene, die Gewaltenteilung zwischen den Brüsseler Insti-tutionen, den künftigen Status der Grundrechte-Charta,die Vereinfachung der Verträge oder auch die Rolle dernationalen Parlamente.Niemand muss uns darüber belehren, wie wichtig dieBeantwortung dieser Fragen ist. Gerade deshalb habenwir uns in Nizza und auch davor so hartnäckig undschließlich erfolgreich für eine umfassende Regierungs-konferenz 2004 eingesetzt. Wenn wir diesen Fragen – eshandelt sich um europäische Verfassungsfragen – schon inNizza hätten noch näher treten wollen oder sie gar hättenlösen wollen, dann säßen wir wohl heute noch dort unddann würden die Beitrittskandidaten mit Fug und Rechtan unserer Bereitschaft zweifeln, die Türen der Europä-ischen Union für neue Mitglieder tatsächlich aufzustoßen.Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Es ist nur fair und red-lich, die Kandidaten an der Diskussion über diese und an-dere Zukunftsfragen und an der Regierungskonferenz2004 zu beteiligen.
Zur Debatte steht nämlich die Ausgestaltung der Europä-ischen Union, der auch diese Länder in wenigen Jahrenangehören werden.Aber nicht nur die Kandidatenländer müssen wir ein-beziehen. Die Brücke zur Regierungskonferenz 2004kann nur eine breite öffentliche Diskussion im Vorfelddieser Konferenz schlagen. Es ist schlicht wahr, dass dieMenschen immer weniger etwas mit einem Europa aufRezept, verordnet von der Weltgeschichte, anfangen kön-nen. Sie wünschen sich stattdessen ein Europa der besse-ren Argumente, die man ihnen auch nahe bringt. Wir brau-chen also eine europäische Öffentlichkeit. Dafür müssenwir neue Formen der Beteiligung und der politischen De-batte finden. Erste Vorarbeiten hierfür werden schon un-ter schwedischem Vorsitz beginnen, der hierfür – undnatürlich für seine Arbeit überhaupt – unsere volle Unter-stützung hat. Dies habe ich dem amtierenden Ratspräsi-denten Persson zugesagt, als ich ihn über meine Reisenach Moskau und das Treffen mit Präsident Putin unter-richtet habe.Die Europäische Union ist ein realer und wichtiger Fak-tor bei der Ausgestaltung der internationalen Ordnung. Indiesem Sinne werden wir auch das transatlantische Ver-hältnis mit dem neuen amerikanischen Präsidenten GeorgeW. Bush gut und fruchtbar weiterentwickeln. Das steht füruns fest und daran ist auch nicht zu rütteln.Die europäische Einigung ist kein abstraktes Großpro-jekt mehr, das sich hinter verschlossenen Türen im fernenBrüssel oder in den Köpfen einiger Technokraten abspielt.Spätestens mit dem Übergang zum Euro im nächsten Ja-nuar wird Europa für die Menschen im wahrsten Sinnedes Wortes greifbar werden. Der Euro in Gestalt vonMünzen und Scheinen wird das Bewusstsein der Bürge-rinnen und Bürger, zu einem Europa zu gehören, viel-leicht stärker prägen als jeder Integrationsschritt vorher.
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Bundeskanzler Gerhard Schröder14112
Das wird natürlich – das ist auch verständlich – dazuführen, dass die Menschen noch mehr Rechenschaft da-rüber verlangen werden, wer in Europa was auf welcherGrundlage und mit welchem Recht entscheidet. DieVerantwortlichkeiten im Geflecht zwischen den BrüsselerInstitutionen, den nationalen Regierungen und Parlamen-ten und den Regionen müssen klar und zurechenbar sein.Die jüngsten Erfahrungen im Umgang mit BSE unter-streichen diesen Ansatz ausdrücklich.
Unser Drängen auf eine klare Abgrenzung der Kompe-tenzen zwischen der europäischen Ebene und den Mit-gliedstaaten ist deshalb alles andere als eine vertragstech-nische Fleißarbeit. Es geht im Kern darum, das Fundamentder Legitimität europäischer Entscheidungen freizulegenund, wo nötig, neu zu bestimmen.
Übrigens freue ich mich, dass in dieser Frage sehr weit-gehend Übereinstimmung zwischen der Bundesregierungund den Ländern besteht, und zwar unabhängig von derFrage, wie sie, parteipolitisch gesehen, regiert werden.Wir werden die Zusammenarbeit in dieser Frage weitervertiefen und werden im Vorfeld der Regierungskonfe-renz 2004 und sicherlich auch während dieser Konferenzin engem Kontakt mit den deutschen Ländern operieren.Wir wissen, es muss nicht alles und jedes in Brüssel ent-schieden werden. Wo es Sinn macht, Entscheidungen aufdie nationale oder auch regionale Ebene zurückzuholen,darf es kein Tabu sein, auch darüber nachzudenken undentsprechend zu verfahren.
Umgekehrt muss aber auch klar sein: Kompetenz-abgrenzung ist keine Einbahnstraße. Wo die europäischenLösungen bessere sind, müssen die europäischen Lösun-gen auch verwirklicht werden. Das BSE-Problem zumBeispiel hat eine europäische Dimension. Aber wir stehenzugleich in nationaler Verantwortung. Dies gilt für denBund; aber das gilt auch für die Länder.
Die Bundesregierung hat erste notwendige Konse-quenzen gezogen. Diesen klaren Kurs einer verbraucher-orientierten Ausrichtung der Landwirtschaft werden wirauch auf europäischer Ebene weiter vertreten.Die Politik muss Befürchtungen und Sorgen der Bür-gerinnen und Bürger ernst nehmen. Zwar ist es so, dasseine breite Mehrheit in unserem Land die Erweiterung derEuropäischen Union unterstützt. Sie wissen, dass dieErweiterung uns politisch wie wirtschaftlich immenseChancen bietet.
Alle in Europa werden von der Erweiterung profitieren,ich füge hinzu: erst recht wir Deutschen.Auf der anderen Seite wird die Erweiterung aber, zeit-lich begrenzt und bezogen auf bestimmte Regionen, auchVerwerfungen mit sich bringen – auch das muss man aus-sprechen –, Verwerfungen, die wir nicht mit dem Verweisauf die Großartigkeit des Projektes wegdrücken, verdrän-gen oder auch nur verharmlosen dürfen; vielmehr müssendiese Verwerfungen und die daraus resultierenden Belas-tungen klar bezeichnet werden und dafür müssenHandlungsoptionen entwickelt werden. Wir müssen kon-sequent und frühzeitig gegensteuern und Verwerfungenabfedern. Gerade auf die Grenzregionen kommen Anpas-sungsprozesse zu. Wir wollen dabei helfen, diese zu be-wältigen.
Aber nicht nur die Bundesregierung will helfen, sie zubewältigen; in Nizza ist es auf deutsche und österreichi-sche Initiative hin gelungen, die Möglichkeiten zur För-derung der Grenzregionen festzuschreiben. Ich denke, dasist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.Von ausschlaggebender Bedeutung für den Arbeits-markt und für den Strukturwandel wird aber sein, dass wirdas Problem der Freizügigkeit von Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmern richtig lösen. Käme es im Zuge derErweiterung zu sofortiger umfassender Arbeitnehmer-freizügigkeit, wären wir mit verstärktem Zuzug nachDeutschland konfrontiert. Angesichts der noch immer vielzu hohen Arbeitslosigkeit wird die Aufnahmefähigkeitdes deutschen Arbeitsmarktes bis auf weiteres erheblicheingeschränkt sein.Wir wissen aber auch, dass in den nächsten Jahren im-mer mehr Arbeitnehmer aus dem Arbeitsmarkt ausscheidenwerden. Im nächsten Jahrzehnt wird diese demographischbedingte Verringerung des Erwerbspersonenpotenzials beiuns zunehmend spürbar werden. Spätestens dann werdenwir Zuwanderung dringend benötigen, um unseren Le-bensstandard zu halten, aber auch um unsere sozialen Si-cherungssysteme zu finanzieren.Die richtige Lösung für das aktuelle Problem der Frei-zügigkeit kann also nur eine befristete Übergangsrege-lung sein. Vernünftige Übergangsregelungen liegen abergenauso im Interesse der Beitrittskandidaten. Sie verhin-dern soziale Spannungen und gewährleisten, dass Kandi-datenländer ihre dringend benötigten qualifiziertestenFachkräfte nicht verlieren.Eine derartige Übergangsregelung ist übrigens nichtsNeues in Europa. Auch bei der Erweiterung der Union umSpanien und Portugal 1985 gab es die Sorge um eine zuhohe Einwanderung billiger Arbeitskräfte. Damals wurde,ebenso wie im Fall Griechenlands, eine siebenjährigeÜbergangsfrist bis zur Gewährung der vollen Arbeitneh-merfreizügigkeit beschlossen.Der Investitions- und Wachstumsschub, den Spanienund Portugal durch den Beitritt erhielten, führte danndazu, dass die spanischen und portugiesischen Arbeits-kräfte zu Hause dringender gebraucht wurden als im Aus-land. Ich bin überzeugt: Eine ähnliche wirtschaftliche Dy-namik kann es in Mittel- und Osteuropa nach dem Beitrittwieder geben.
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Bundeskanzler Gerhard Schröder14113
Die Erfahrungen aus den damaligen Beitritten sind ein-deutig: Wir brauchen Übergangsregelungen mit nicht we-niger, sondern mit mehr Flexibilität, und zwar einer Fle-xibilität zugunsten der alten und zugunsten der neuenMitgliedstaaten. Dabei gilt der Grundsatz: Kein Kandida-tenland darf diskriminiert werden, aber Differenzierungenmüssen möglich sein.Ich habe deshalb am 18. Dezember 2000 für die Er-weiterungsverhandlungen ein Fünf-Punkte-Konzept zurFreizügigkeit vorgeschlagen:Erstens. Eine angemessene Übergangsfrist mit einerBeschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit für siebenJahre.Zweitens. Ein flexibles Modell, das die Verkürzung derÜbergangsfrist für einzelne Beitrittsländer zulässt. Hierzusind Pflichtüberprüfungen, also eine Art von Besichti-gungsterminen, nach fünf Jahren erforderlich.Drittens. Auf Antrag könnte bei geeigneten Kandida-ten, wenn die Voraussetzungen vorliegen, bereits vorhereine Aufhebung der Beschränkungen erfolgen.Viertens. Bei allgemeinem und fachlichem Arbeits-kräftemangel in den alten Mitgliedstaaten können diesegemäß jeweiligem nationalen Recht bereits während derÜbergangszeit kontrollierte Zugangsmöglichkeiten schaf-fen; das heißt: Flexibilität auch für unsere EU-Partner.Fünftens. Parallel dazu brauchen wir schließlich für dieDauer der Übergangsfrist eine Einschränkung der Dienst-leistungsfreiheit in einigen Teilbereichen, insbesondere inder Bauwirtschaft und im Handwerk.Die Reaktion der Bürgerinnen und Bürger auf dieseVorschläge bestärkt mich in der Überzeugung, dass wirsehr wohl Unterstützung für den Erweiterungsprozess fin-den, wenn wir die Anliegen und Sorgen der Menschen inder eben gekennzeichneten Weise auch wirklich ernstnehmen. Genau das tut die Bundesregierung.
Denjenigen, die dieses Konzept kritisiert haben oderweiterhin kritisieren, sage ich: Wir brauchen eine Legiti-mation für den Erweiterungsprozess. Das gilt vor allenDingen für die Grenzregionen. Ohne diese Legitimationund ohne Übergangsfristen wird es wirklich sehr schwie-rig werden, die notwendige Zustimmung zu finden. Wiralle miteinander haben nichts davon, wenn wir die Er-weiterung nicht mit den Bürgerinnen und Bürgern, son-dern gegen die vor allen Dingen Betroffenen durchsetzenwürden.
Übrigens sind auch die ersten Reaktionen der Partnerin der Europäischen Union, einiger Beitrittskandidatenund der Kommission durchaus ermutigend. Das ist wahr-scheinlich auch deshalb so, weil die Beitrittskandidatenselbst für Bereiche, die ihnen besondere Sorgen machen,Übergangsfristen einfordern werden, vielleicht sogar wei-ter reichende als diejenigen, die ich genannt habe. In die-sem Punkt zueinander zu kommen ist Aufgabe des Ver-handlungsprozesses, den der deutsche Kommissar GünterVerheugen für die Kommission und damit für den Rat zuführen hat. Ich bin zuversichtlich, dass wir auf der Basisdieses Konzeptes eine Lösung finden können und werden.Meine Damen und Herren, Beitrittsverhandlungen undVerfassungsdiskussion, Erweiterung und Vertiefung – dassind die großen Themen, die die Europa-Diskussion inden kommenden Jahren prägen werden. Am Ende diesesJahrzehnts werden wir in einem anderen Europa leben. InNizza hat das alte Europa die Tür aufgestoßen zum neuenEuropa. Dieses Europa wird in der Welt mit einer Stimmesprechen und auf dem Fundament einer gemeinsamen undstabilen Währung ruhen. Es wird größer sein, muss aberzugleich auch politisch enger verflochten sein und nachmeiner Überzeugung über eine verfassungsmäßige Grund-lage verfügen. Der Weg dorthin ergibt sich keineswegszwangsläufig. Wir werden um dieses neue Europa wirk-lich weiter kämpfen müssen. Unser entscheidender Part-ner dabei war und ist Frankreich. Wir werden uns alsoauch in den kommenden Wochen und Monaten eng mitParis abstimmen.Warum geht es im Kern? Ich will es zuspitzen: Erwei-terung und Vertiefung sind kein Gegensatz. Im Gegenteil,die Erweiterung ist ohne weitere Integrationsschritte aufDauer nicht machbar. Ich bin fest davon überzeugt.
Nur die weitere konsequente Vertiefung wird den zentri-fugalen Kräften in einer größeren Union entgegenwirkenkönnen. Deutschland ist dazu bereit, Frankreich auch.Präsident Chirac hat dies in seiner großen Rede hier imvergangenen Jahr sehr deutlich gemacht. Wir brauchenalso weitere mutige Integrationsschritte. Zugleich müssenwir die Kommission stärken. Diese Aufgabe ist nur imdeutsch-französischen Schulterschluss zu lösen.
Mit diesem Ziel werden Außenminister Fischer und icham 31. Januar nach Straßburg zum Treffen mit unserenfranzösischen Freunden fahren. Europa, denke ich, zähltauf Deutschland und zählt auf Frankreich. Diese Erwar-tungen werden wir nicht enttäuschen.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wortdem Kollegen Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion.Friedrich Merz (von der CDU/CSU mitBeifall begrüßt): Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Erwartungsgemäß haben Sie, HerrBundeskanzler, das Ergebnis des Europäischen Rates vonNizza positiv bewertet.
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Bundeskanzler Gerhard Schröder14114
Wir schließen uns demgegenüber dem Urteil an, das fastalle europapolitisch erfahrenen und sachkundigen Be-obachter abgegeben haben und das auch in den Medien– nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa – ganzüberwiegend abgegeben worden ist.Die Vorbereitungen dieses Treffens der europäischenStaats- und Regierungschefs waren so schlecht wie seltenzuvor. Die Verhandlungen waren geprägt von egoistischen,nationalen Interessen, und das Ergebnis ist ernüchternd;fast könnte man sagen: Es ist geradezu deprimierend.
Noch nie hat ein Gipfel der europäischen Staats- undRegierungschefs so lange gedauert und noch nie ist so we-nig dabei herausgekommen.
Herr Bundeskanzler, Sie haben gerade von dieser Stelleaus mit treuherzigem Gesicht all die Aufgaben beschrie-ben, die Sie in Nizza eigentlich erledigen wollten.
Sie haben uns zu dem, was alles gemacht werden muss,heute Morgen genau dasselbe gesagt, was Sie uns vorNizza gesagt haben. Im Abstand von einigen Wochenkönnte man es so zusammenfassen: Der kleinste gemein-same Nenner der Einzelinteressen bestimmt Inhalt, Um-fang und Grenzen dessen, was in Europa zurzeit möglichist. Europa ist gegenwärtig erkennbar ohne politischeFührung.
Nun sind die Ursachen dafür sicherlich sehr vielfältig.Fortschritt in Europa zu erreichen, Erweiterung undVertiefung gleichzeitig zu begründen fällt offenkundigschwer; vielleicht fällt es sogar schwerer als in früherenZeiten. Aber wäre es angesichts dieses Befundes nicht not-wendig gewesen, die Gründe für die Probleme, die wir inder Europäischen Union gegenwärtig haben, etwas sorg-fältiger zu untersuchen, als dies heute Morgen in IhrerRegierungserklärung geschehen ist? Wäre es nicht geradenach den Erfahrungen von Nizza angezeigt gewesen, auchüber die Methode des Fortschritts für Europa nachzuden-ken und konkrete Vorschläge für die Zukunft zu machen?Herr Bundeskanzler, Sie sind, so meine ich jedenfalls,über mindestens zwei Ursachen der Probleme, die die Eu-ropäische Union gegenwärtig hat, einfach hinweggegan-gen. Fortschritt in Europa – das wissen wir aus jahrzehn-telanger Erfahrung – ist immer nur dann möglich, wennDeutschland und Frankreich gemeinsame Schritte gehenund dabei auch Initiativen ergreifen. Jedenfalls müssensich diese beiden Gründungsländer der EuropäischenUnion einig sein. Aber seit Ihrem Regierungsantritt vorzwei Jahren ist das deutsch-französische Verhältnis soschlecht, wie es seit Abschluss des Elysée-Vertrages vor38 Jahren nicht gewesen ist.
Zu allem Überfluss haben Sie, Herr Bundeskanzler,zehn Tage vor Nizza hier im Deutschen Bundestag in ei-ner Regierungserklärung ein größeres Stimmengewichtim Rat gegenüber Frankreich zur entscheidenden Frage– nicht zu einer von vielen, sondern zur entscheidendenFrage – des institutionellen Gleichgewichts und der insti-tutionellen Reformen gemacht. Sie mussten damit schei-tern und Sie sind damit gescheitert und haben damit denGipfel in Nizza ohne Not belastet und überfrachtet.Die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, sind dochklar: Es gibt überall enttäuschte Erwartungen, der Ver-druss über Europa weicht nicht etwa einer neuen Zuver-sicht, sondern europäisches Handeln findet offenkundigimmer mehr gegen den erklärten Willen eines größerenTeils der Bevölkerung statt. Müssen wir uns nicht darüberim Klaren sein, dass gerade in offenen und demokrati-schen Gesellschaften solche fundamentalen Veränderun-gen nicht gegen die, sondern nur mit den Menschen zu er-zielen sind?Nun sprechen Sie in Ihrer Regierungserklärung – si-cherlich mit guten Gründen – von der Notwendigkeit, eineeuropäische Öffentlichkeit herzustellen. Ich stimme Ih-nen ausdrücklich zu, dass dies notwendig ist. Aber, HerrBundeskanzler, wie wollen Sie denn Öffentlichkeit her-stellen, die doch ein Mindestmaß an Verstehen wenigstensder interessierten Öffentlichkeit voraussetzt, wenn diehandelnden Akteure in Nizza zum Schluss selbst gar nichtmehr wussten und auch nicht mehr verstanden, was sie daeigentlich beschlossen haben?
Bis zum heutigen Tage, fast sechs Wochen nach Ab-schluss des Vertrages, streiten die Beteiligten um Einzel-heiten, die sie doch in Nizza so einvernehmlich beschlos-sen haben wollen.Unser Fazit lautet daher: Die Fragen bezüglich der in-stitutionellen Reform, die in Nizza auf der Tagesord-nung standen und deren Beantwortung von der Bundesre-gierung als Voraussetzung für das Funktionieren einerUnion mit 25 oder 27 Mitgliedern bezeichnet worden ist,sind nicht wirklich beantwortet worden. Wir haben esauch nach Nizza leider mit so genannten „leftovers“, mitnicht gelösten großen Problemen, zu tun.Lassen Sie mich konkrete Beispiele nennen, HerrAußenminister. Das Abstimmungsverfahren im Rat istkomplizierter denn je zuvor,
sodass es der interessierten europäischen Öffentlichkeitnicht einleuchtend erklärt werden kann. Rund 70 Gegen-stände müssen im Rat nach wie vor einstimmig entschie-den werden. Dabei waren wir uns doch einig, dass geradebei der Abkehr vom Erfordernis der Einstimmigkeit einDurchbruch notwendig gewesen wäre. 20, möglicher-weise bis zu 27 Kommissare werden in Zukunft in der Eu-ropäischen Kommission Verantwortung tragen.
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Friedrich Merz14115
Was aber aus meiner Sicht noch schwerwiegender ist:Das Europäische Parlament wird möglicherweise bis zu900 Mitglieder haben. Es wird der Fall auftreten, dassgrößere Staaten, die neu hinzukommen, weniger Mandateerhalten als kleinere Staaten, die heute schon Mitglied derEuropäischen Union sind. Sie können doch nicht im Ernstbehaupten, dass dies nun der große Erfolg war, den wiruns alle von Nizza erhofft hatten und der auch nötig ge-wesen wäre.
Bei aller notwendigen und berechtigten Kritik will ichdie wenigen positiven Ergebnisse des Europäischen Ratesvon Nizza nicht verschweigen.
Wenn es diese Ergebnisse nicht gäbe und wenn wir dieTragweite von Nizza für die Erweiterung der Europä-ischen Union nicht zu bedenken hätten, dann wäre dieEntscheidung über Zustimmung oder Ablehnung der Ra-tifikation des Vertrages längst gefallen. Es ist in diesemZusammenhang natürlich positiv festzustellen, dass dieProklamation einer Europäischen Grundrechte-Charta gelungen ist. Wir bewerten es auch durchaus po-sitiv, dass die verstärkte Zusammenarbeit vereinfachtworden ist. Ich bin auch mit Ihnen, Herr Bundeskanzler,der Auffassung, dass es richtig war, den Zeitplan und denInhalt eines Post-Nizza-Prozesses festzulegen.Ich will Ihnen zu dem Zeitplan aber ausdrücklich sa-gen: Wir halten es für einen großen politischen Fehler,dass die Staats- und Regierungschefs in Nizza beschlos-sen haben, diesen Prozess erst im Jahre 2004 zu beginnen.
Die weitere Diskussion in der Europäischen Union unddie Vorbereitungen für einen nächsten Schritt lassen unsaber keine Zeit bis zum Jahre 2004. Diese Arbeiten müs-sen heute, im Jahre 2001, beginnen.
Das Minimalergebnis von Nizza bedeutet zunächst,dass die Europäische Union ihr Versprechen, bis zum1. Januar 2003 die notwendigen institutionellen Reformenfür die Aufnahme neuer Mitglieder anzupacken, nichtvollständig eingelöst hat. Wir dürfen aber die Versäum-nisse von Nizza nicht auf dem Rücken der neuen Bei-trittsländer austragen. Wenn also der Erweiterungsfahr-plan eingehalten werden soll – wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wollen ihn einhalten, weil wirnicht nur um die ökonomische, sondern auch um die poli-tische Dimension der Osterweiterung der EuropäischenUnion wissen –, dann sind Nachbesserungen unverzicht-bar.
Es geht dabei nicht nur um die ungelösten institutionellenFragen. Es geht eben auch um die seit dem Berliner EU-Gipfel vom März 1999 bis heute nicht wirklich umge-setzten Reformentscheidungen in der gemeinsamenAgrarpolitik. Es geht auch um die finanzielle Absicherungder Osterweiterung.Lassen Sie mich aber noch einmal auf den so genann-ten Post-Nizza-Prozess zurückkommen, also auf das, wasnach dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs vonNizza nun zu geschehen hat. Nach der Reform ist vor derReform. Dies ist eine der wenigen positiven Botschaftenvon Nizza. Wir begrüßen daher die Erklärung zur Zukunftder Union. Wir begrüßen insbesondere den Beschluss,eine weitere Konferenz durchzuführen, um die Zustän-digkeitsverteilung zwischen der Europäischen Union undden Mitgliedstaaten, die Neugestaltung der Verträge, dieRolle auch der nationalen Parlamente in der ArchitekturEuropas und den Status der Charta der Grundrechte fest-zulegen.Europa braucht, wie wir es seit langem fordern, einenVerfassungsvertrag. Aber welche Inhalte soll denn einsolcher Verfassungsvertrag haben? Die Antwort auf dieFrage nach den Inhalten eines solchen europäischenVerfassungsvertrages sind die Staats- und Regierungs-chefs in Nizza ebenfalls schuldig geblieben.Die wichtigste Frage lautet: Wozu brauchen wir Eu-ropa und wie viel Europa wollen wir? Es geht um das ge-netische Programm der Europäischen Union. WelchesSelbstverständnis, welches Ziel soll die EuropäischeUnion haben und wie sollen ihre Grenzen definiert wer-den? Ist eine Union mit möglicherweise 27 oder gar mehrMitgliedern als ein homogener Staatenverbund mit glei-chen Rechten und gleichen Pflichten für alle überhauptnoch zusammenzuhalten?
Der Hinweis auf Kerneuropa, den Wolfgang Schäubleund Karl Lamers schon 1994 gegeben haben, ist damalsbei vielen auf große Vorbehalte gestoßen.
Heute ist uns allen klar, dass das Europa der sechsGründungsmitglieder nicht nur institutionell und poli-tisch, sondern auch in seiner Werteorientierung ein ande-res Europa war als das heutige oder das künftige. UnsereFrage lautet: Muss der Kerneuropagedanke nicht zwin-gend zum unverzichtbaren Strukturmerkmal einer Euro-päischen Union der Zukunft werden?Ein weiterer Baustein wird die Kompetenzabgrenzungsein. Europa ist dort stark, wo es sich auf die Aufgabenkonzentriert, die im gemeinsamen Handeln der Europäerbesser gelöst werden können als im nationalen Allein-gang. Maßstab für uns bleibt dabei das Subsidiaritäts-prinzip. Zu den wesentlichen Aufgaben der EuropäischenUnion gehören zum Beispiel die Sicherung des Binnen-marktes, aber ganz gewiss auch die Außenpolitik, die Si-cherheitspolitik und die Verteidigungspolitik, außerdem,Herr Bundeskanzler, die Asyl- und Flüchtlingspolitik undgrenzüberschreitender Umweltschutz. Demgegenübergehören – das müsste uns doch eigentlich klar sein – Be-reiche wie zum Beispiel Beschäftigung, Bildung, Ge-sundheit, Sport, Fremdenverkehr, Raumordnung – alles
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Bereiche, um die sich die Europäische Kommission zumTeil sehr intensiv kümmert – eindeutig in die nationaleVerantwortung.
Nach den Erfahrungen mit Regierungskonferenzen– Nizza steht da nicht allein – mehren sich die Stimmen,die fordern, das Projekt des europäischen Verfassungs-vertrages nicht erneut den Regierungen zu übertragen.
Aus dem Europäischen Parlament hören wir sogar dieForderung, den Regierungen die Verantwortung für allekünftigen europäischen Reformprojekte zu entziehen.Herr Bundeskanzler, auch das ist ein Hinweis auf das Er-gebnis von Nizza und darauf, welchen Eindruck Sie dortbei den Parlamentariern hinterlassen haben.
Ich sage jedenfalls: Für die Ausarbeitung eines euro-päischen Verfassungsvertrages macht es Sinn, darübernachzudenken, ob denn nicht etwa nach dem Vorbild desGrundrechtekonvents erneut ein Projekt auf die Tages-ordnung gesetzt wird, das für eine umfassende Beteili-gung der Parlamente, natürlich der Regierungen, aberauch der Nichtregierungsorganisationen und vor allemder Bürger der Europäischen Union genügend Raumschafft.
Wenn wir uns einem solchen Verfassungsvertrag nähern,dann will ich doch daran erinnern, wie die ersten Worteder amerikanischen Verfassung lauten. Dort steht: „We,the people“ – wir, das Volk – und nicht: „We, the govern-ment“, wir, die Regierung.
Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal darauf hin-weisen: Diese Aufgaben der Europäischen Union duldenkeinen Aufschub bis in das Jahr 2004. Wir wollen ein star-kes, ein handlungsfähiges Europa dort, wo die europä-ische Handlungsfähigkeit unseren gemeinsamen europä-ischen Interessen entspricht. Je besser und je früher diesgelingt, umso mehr wird Europa die Zustimmung derMenschen gewinnen, sie auch dort zurückgewinnen, wosie verloren gegangen ist, und umso besser wird es in Zu-kunft um Demokratie, Freiheit, Frieden, Wohlstand undGerechtigkeit in Europa bestellt sein.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Joachim Poß, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Heute Morgen sollte es eigentlich um die Zu-kunft Europas gehen, nicht um eine Polemik gegen dieBundesregierung, Herr Merz.
Ich weiß nicht, wie man nach der Regierungserklärungdes Bundeskanzlers so grundlegend das Thema verfehlenkann.
Aber Sie haben schon im letzten Satz Ihrer Rede im De-zember angekündigt, woran Sie die Bundesregierung, ins-besondere den Bundeskanzler, messen würden. Das ha-ben Sie hier einzulösen versucht. Sie haben damals zuverstehen gegeben, dass Sie möglicherweise unzurei-chende Fortschritte ausschließlich der Bundesregierungzur Last legen würden. Herr Merz, Sie übertünchen damitdie Orientierungslosigkeit Ihrer Partei. Wir werden ja se-hen, ob auf Ihrem Landesparteitag in Nordrhein-West-falen der Antrag gegen die Ratifizierung der Beschlüssevon Nizza eine Mehrheit erhalten wird. Das wird eineganz spannende Frage sein, Herr Merz. Wir werden genaubeobachten, wie Sie dort agieren werden, ob Sie zum Bei-spiel ein solches Risiko in Kauf nehmen werden.Sie brauchen, was die Haltung der CDU/CSU angeht,nur die Tickermeldungen vom 11. Dezember zu nehmen:„Nach Nizza geht es voran“, das war die Reaktion derCSU, und zwar von Herrn Goppel. Bei Reuters war zu le-sen: „Gipfelergebnis löst in der Union gegensätzlichesEcho aus. Während CSU-Chef Edmund Stoiber von ei-nem entscheidenden Schritt nach vorn sprach, übte dieCDU-Vorsitzende Angela Merkel scharfe Kritik. Dergroße Wurf für Europa ist nicht gelungen, sagte FrauMerkel.“
Herr Merz hat sich damals in dem Sinne geäußert, wie esheute Morgen hier wieder zu hören war.Nein, meine Damen und Herren von der CDU/CSU,bei den unbestreitbaren Verdiensten, die Sie und insbe-sondere der ehemalige Bundeskanzler in der Europapoli-tik haben, machen Sie es sich mit einer solchen Rede, wiesie Herr Merz heute Morgen hier gehalten hat, viel zu ein-fach. Das ist eigentlich unter Ihrem Niveau.
Sie kritisieren den Zeitpunkt 2004, Herr Merz. Wir sindmitten im Post-Nizza-Prozess. Jeder Schritt, der dazustattfindet – der Bundeskanzler hat von einigen gespro-chen –, ist Bestandteil dieses Prozesses. So viel hätten Siein der Tat im Europaparlament lernen können, Herr Merz.
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Sie wiederholen die strategischen Fehler, die Sie schon imletzten Jahr gemacht haben.Zunächst einmal ist doch festzuhalten: Die Bundesre-gierung hat in Nizza gut verhandelt, und zwar im europä-ischen wie im deutschen Interesse.
– Herr Hausmann, Sie und andere wissen es doch: Sie hatdas erreicht, was in dieser konkreten Verhandlungssitua-tion möglich war. Leider konnte auch die Bundesregie-rung nicht verhindern, dass das Ergebnis von Nizza hinterunseren Erwartungen zurückgeblieben ist. Aber ohne dasgroße Engagement von Bundeskanzler Gerhard Schröderwären die Fortschritte noch geringer gewesen. Das wirdallmählich überall in Europa anerkannt, meine Damenund Herren.
– Ich komme darauf noch zurück.Man muss so ehrlich und realistisch sein anzuerken-nen, dass nur durch die Einigung in letzter Minute einScheitern des Gipfel von Nizza verhindert werden konnte.Die Strategie der Bundesregierung und der anderenRegierungen, ein Scheitern des Gipfel auf jeden Fall zuverhindern, war richtig. Ein Scheitern hätte niemandemgenutzt und der europäischen Integration mit Sicherheitgeschadet.In der Tat haben die Ergebnisse, wenn man sie sichkonkret anschaut, nicht die nötige umfassende institutio-nelle Reform der EU gebracht, und der Bundeskanzlerhat das in seiner Regierungserklärung überhaupt nichtverschwiegen. Insoweit haben die Kritiker des Ergebnis-ses von Nizza sicherlich Recht. Aber die Ergebnisse vonNizza werden ausreichen, um die Vertiefung und Er-weiterung der Europäischen Union voranzutreiben.Wenn diese Änderungen ratifiziert werden, gibt es keineformellen Hindernisse auf dem Weg zur Erweiterung derEU mehr.Also: Das drängendste Ziel des Gipfels von Nizza, dieVoraussetzungen für die Erweiterung zu schaffen, wurdedamit erreicht. Das wird in den Beitrittsländern so gese-hen und auch entsprechend beurteilt. Deswegen wird derGipfel insgesamt positiv bewertet. Insbesondere in Ost-europa wird die Verhandlungsführung der Bundesregie-rung und des Bundeskanzlers sehr gewürdigt, nicht zu-letzt in Polen. Darauf können wir stolz sein.
Die im Einzelnen erzielten Ergebnisse sind differenziertzu betrachten. Die Fortschritte beim Übergang zu Abstim-mungen mit qualifizierter Mehrheit im Rat werden die Ar-beit der EU befördern und uns ohne Frage weiterbringen,
sind aber insgesamt zu gering, Herr Haussmann. Insbe-sondere in den Bereichen Steuern, Gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik,
Sozialpolitik, bei den Strukturfonds und der gemeinsa-men Handelspolitik sind die erzielten Ergebnisse nichtausreichend.
Dass die Anwendung der verstärkten Zusammenar-beit, das heißt die Möglichkeit, dass Mitgliedstaaten imRahmen der EU Integrationsfortschritte machen können,ohne dass alle Mitgliedstaaten daran mitwirken, verbes-sert worden ist, ist zu begrüßen. Hier sind wir einenSchritt weitergekommen. Das werden Sie sicherlich ak-zeptieren.Beschlüsse im Ministerrat werden durch die neuenEntscheidungsverfahren nicht einfacher. Aber hierzusage ich – Herr Merz hat sich schon darauf eingelas-sen –: Eine fundierte Bewertung dieser Frage ist erstdann möglich, wenn erste Erfahrungen mit den modifi-zierten Entscheidungsprozeduren gesammelt wordensind.Die Tage von Nizza haben uns allen im Parlament, un-seren Kollegen im Europäischen Parlament wie auch denBürgerinnen und Bürgern in Europa mit fast schmerzhaf-ter Deutlichkeit gezeigt, wie schwierig es ist, in derEuropäischen Union derzeit substanzielle Fortschritte zuerzielen. Dabei ist es nur bedingt eine Entschuldigung,dass es in Nizza um nichts Geringeres als die Teilungbzw. Neuaufteilung von Macht und Einfluss zwischenden Mitgliedstaaten und den unterschiedlichen Institutio-nen ging.Leider – das hat Nizza gezeigt, das will niemand weg-diskutieren – spielen nationale Egoismen immer nocheine zu bestimmende Rolle, während eigentlich die Ein-sicht in die Notwendigkeit einer schnellen grundlegendenReform der Europäischen Union und ihrer Institutionenvorherrschen müsste.
Deshalb werden wir zunächst einmal mit den erzieltenErgebnissen leben müssen. Vor diesem Hintergrund ist esmit Sicherheit nicht hilfreich, aus Unzufriedenheit das Er-gebnis von Nizza als unzureichend abzulehnen. Ichglaube nicht, dass sich der Europäische Rat durch eineNichtratifizierung der Nizza-Ergebnisse zu größerenFortschritten beim Umbau der Europäischen Union undihrer Institutionen bewegen ließe.
Im Gegenteil: Divergierende Tendenzen in der EU wür-den, Herr Haussmann, vermutlich weiter gestärkt.
Noch schlimmer ist, dass eine Nichtratifizierung einhistorisch verheerendes Signal an die Beitrittsländer
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wäre. Auch Sie von der F.D.P. können das nicht wollen,Herr Haussmann,
weil dies mit Sicherheit einen Aufschub des Erweite-rungsprozesses nach sich ziehen würde. Angesichts vonNizza in Larmoyanz zu verfallen oder Europaskepsis zukultivieren ist keine Haltung, die den Herausforderungender Zukunft gerecht würde. Die Beitrittskandidaten habenein Recht darauf, dass die Europäische Union den Bei-trittsprozess mit Vernunft, Augenmaß, aber auch mitganzer Kraft weiterführt.Die Ergebnisse von Nizza sind nicht das letzte Wort.Der Prozess der inneren Reform der Europäischen Unionmuss weitergehen. Dies war nicht nur der ausdrücklicheund einvernehmliche Wille der Staats- und Regierungs-chefs in Nizza, sondern manifestiert sich in der Verein-barung einer weiteren Regierungskonferenz im Jah-re 2004 über die notwendige Weiterentwicklung der euro-päischen Verträge. Darüber sind wir uns im Parlamentdoch fast alle einig. Auch diesen Teil der Beschlüsse müs-sen Sie einmal zur Kenntnis nehmen und würdigen. DieForderungen, die hier aufgenommen wurden, sind dochauch aus Ihren Reihen gekommen. Sie untergraben mitdem, was Herr Merz hier heute Morgen gesagt hat, in derSubstanz Ihre eigenen Forderungen.
Die Vereinbarung dieser Regierungskonferenz, bei derdie Grundfragen der europäischen Integration im Vorder-grund stehen sollen, war unser Ziel und ist damit aus-drücklich als Erfolg zu werten. Dem bayerischen Minis-terpräsidenten Stoiber ist zuzustimmen, wenn er die großeRelevanz des Post-Nizza-Prozesses und der Regierungs-konferenz von 2004 für die deutschen Länder und dendeutschen Föderalismus betont.
– Herr Waigel, dass Ihnen das nicht passt, kann ich nach-vollziehen angesichts der inneren Gemengelage und Ge-fühlslage, die bei Ihnen bzw. in der CSU sehr wahr-scheinlich nach wie vor anzutreffen ist.Ohne die umfassende Klärung der Frage, welche Auf-gaben die Europäische Union in Relation zu ihren Mit-gliedstaaten überhaupt haben soll, könnte sich die EUüberfordern. Denn die Erweiterung macht eine Überprü-fung des Aufgabenzuschnitts dringend erforderlich. DieEuropäische Union – auch da sind wir uns fast einig; daswird im Konkreten aber noch zu diskutieren sein – musssich auf die Aufgaben konzentrieren, die einen europä-ischen Mehrwert mit sich bringen, also auf die Aufgaben,die die Nationalstaaten in einer globalisierten Welt alleinnicht mehr zufriedenstellend bewältigen können. Diederzeitige Gewaltenteilung zwischen Europäischer Kom-mission, Europäischem Rat, Europäischem Parlamentund den nationalen Parlamenten ist keine Basis für einbürgernahes und umfassend demokratisches Europa.Auch hier müssen wir 2004 den Durchbruch schaffen, umdie augenfälligen Defizite in Bezug auf die demokratischeLegitimierung und die Bürgernähe der EU endlich abzu-bauen.
Es wäre ein großer Fehler, davon auszugehen, dass diegrundlegende Frage, wie die Europäische Union in Zu-kunft aussehen soll, nur die Flure in Brüssel und Straß-burg sowie die europapolitischen Zirkel und nicht auchdie Köpfe und Herzen der Bürgerinnen und Bürger in Eu-ropa immer stärker beschäftigt.
Die Menschen beschäftigen sich damit. Sie haben abereine Wahrnehmung von Europa, die nicht in unserem ge-meinsamen Interesse liegen sollte. Ich jedenfalls hieltees – darauf weise ich nach der heutigen Rede von HerrnMerz hin; ich dachte eigentlich, das Problem sei ausge-standen – für verfehlt und unverantwortlich, wenn die hierim Deutschen Bundestag vertretenen Parteien die vor unsliegenden europapolitischen Aufgaben nicht als gemein-same Verantwortung auffassen würden und wenn die inder Bevölkerung existierenden Unsicherheiten und Ängs-te über den weiteren Weg Europas zu Wahlkampfzweckeninstrumentalisiert würden. Das wäre unverantwortlich.
Was wir brauchen – dem stellen wir uns; das tun derBundeskanzler, der Bundesaußenminister und hoffentlichalle Parteien –, ist ein breiter europapolitischer Diskurs,der die Regierungskonferenz von 2004 und die notwendi-gen grundlegenden Richtungsentscheidungen konstruktivvorbereitet. Wir sind aufgerufen, für Europa mit Worten,aber auch und vor allem mit Taten nachhaltige Überzeu-gungsarbeit zu leisten. Denn ohne Bürgerinnen und Bür-ger, die von Europa wirklich überzeugt sind, wird ein ver-eintes, demokratisches und solidarisches Europa nichtentstehen können.In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal anden Ausruf von Jean Monnet erinnern: „Wir einigen keineStaaten; wir führen Menschen zusammen.“ Ich bitte Sie:Lassen Sie uns das gemeinsam in den nächsten Jahren hiervom deutschen Parlament aus umsetzen.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Helmut Haussmann, F.D.P.-Fraktion.
Sehr verehrter HerrPräsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Damit esüberhaupt keinen Zweifel an der Haltung der FreienDemokraten gibt: Ich spreche hier für die Fraktion, die
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seit Jahrzehnten unbeirrt für die WiedervereinigungEuropas eingetreten ist. Wir haben in der Ära Brandt/Scheel gegen den Widerstand vieler Konservativer inDeutschland die neue Ostpolitik mit durchgesetzt. Wir ha-ben in der Ära Kohl/Genscher ohne wirkliche Unterstüt-zung von Sozialdemokraten und Grünen die einheitlicheeuropäische Währung durchgesetzt.
Unser liberaler Außenminister Klaus Kinkel hat in derletzten Beitrittsrunde gezeigt, dass sich die Erweiterungund die Vertiefung Europas nie ausschließen dürfen. Ichkann mit Stolz feststellen: Keine Fraktion im DeutschenBundestag hat sich in den letzten zehn Jahren so konse-quent, aber auch so aktiv für die Osterweiterung derUnion, also für die Wiedervereinigung Europas, einge-setzt.
An dieser unserer Überzeugung, dass wir die Osterweite-rung der Europäischen Union pünktlich brauchen unddass wir mit den vagen Zeitplänen der Bundesregierungunzufrieden sind, hat sich kein Jota geändert und wird sichkein Jota ändern.Gerade weil wir so aktiv für die Osterweiterung derEuropäischen Union eintreten, ist das Ergebnis vonNizza für uns so enttäuschend. Richtig ist: Wer für dieErweiterung ist, kann dem Vertragsentwurf von Nizza inder bisher bekannten Form nicht einfach zustimmen.
Wenn Sie heute in der „FAZ“ lesen, dass der früherePräsident des Europäischen Parlaments, der von mir hochgeschätzte SPD-Kollege Hänsch, wörtlich sagt: „Seit vie-len Jahrzehnten gab es in Europa keinen so miserablenVertragsentwurf“, sollten Sie mit Ihrem Jubel der Zustim-mung vorsichtig sein.
Es ist eine schwache Leistung, die bereits in Berlinschwach begann. Die wirklichen Anhänger der europä-ischen Integration – bei Ihnen, letztlich auch bei den Grü-nen und der Union – wissen das auch ganz genau. HerrFischer, Sie haben das völlig zu Recht im Sonderaus-schuss gesagt. Wenn Sie heute noch in der Oppositionwären, wären Sie doch der Erste gewesen, der diesen Ver-trag in der vorliegenden Form scharf angegriffen hätte,und zwar aus europäischer Überzeugung zu Recht.
Der Gipfel von Nizza war zunächst eine große Chancefür Vertiefung und Erweiterung. Sie wurde vertan undman muss heute fragen – das hat sich schon in Berlin ab-gezeichnet –: Was ist aus dem wirklich positiven deut-schen Markenzeichen „europäische Integration“ derfrüheren Regierung Kohl/Kinkel inzwischen geworden?Das ist nicht nur eine nationale Betrachtung, sondern aucheine internationale.Das gemeinsame Ziel im Europaausschuss des Parla-ments war: Nizza muss gleichzeitig Handlungsfähigkeitund Effizienz verbessern sowie die demokratische Le-gitimation stärken. Diese Ziele wurden definitiv nicht er-reicht. Entscheidend war, dass manche Staats- und Regie-rungschefs – zuletzt auch Bundeskanzler Schröder imDeutschen Bundestag – leider die Bevölkerungszahlender Mitgliedsländer in den Vordergrund gestellt haben.Wer die Situation in Frankreich ein bisschen beurteilenkann, weiß, was dies in Frankreich bedeutet. Herr Merz,Sie sind zu Recht darauf eingegangen. Jeder Regierungs-chef ließ sich für kleinliche nationale Erfolge feiern. Esgab in Nizza niemanden, der für wirkliche Integrations-fortschritte nationale Egoismen aufgegeben hätte.
In der Bundesrepublik Deutschland, dem größten LandEuropas, richtet sich ein solcher Vorwurf naturgemäß ge-gen die Bundesregierung. Sie ist der besonderen Verant-wortung der Deutschen für die Wiedervereinigung derEuropäer nicht gerecht geworden. Herr Fischer, Sie erhal-ten hier die Quittung dafür, dass Sie sich in europäischeVisionen verstiegen und um das harte Brot der täglichenArbeit in Europa zu wenig gekümmert haben, sodass dasdeutsch-französische Verhältnis gestört ist.
Mehr als ein Schulterzucken von AußenministerFischer oder Bundeskanzler Schröder darüber, dass sichnicht alle Hoffnungen erfüllt hätten, war nicht drin. Daszeigt, dass man zu wenig Hoffnungen hatte. Zu der Be-merkung von Bundeskanzler Schröder, nicht alle Hoff-nungen hätten sich erfüllt, muss man sagen: Es waren vonAnfang an schwache Hoffnungen und nicht einmal die ha-ben sich erfüllt.Bezüglich der Osterweiterung sage ich Ihnen Folgen-des voraus: Die Gegner der Osterweiterung werden denmangelnden Einstieg in Mehrheitsentscheidungen zuweiteren Verzögerungen missbrauchen. Darin liegt diegroße Gefahr für die Osterweiterung.
Antieuropäische Kräfte sowohl in den derzeitigen alsauch in den künftigen Mitgliedstaaten werden ermuntert,über das Vetorecht ihrer Regierungen europäische Ent-scheidungen zu blockieren. Die Erweiterung Europasbraucht gleichzeitig den Übergang zu Mehrheitsentschei-dungen. Sie können Europa mit 25 Mitgliedstaaten nichtvoranbringen, wenn im Prinzip das Vetorecht gilt.
Die Lösung kann nur darin liegen, dass man die Er-gebnisse von Nizza verbessert. Im Europäischen Parla-ment gibt es nur ein Thema: Was kann man tun, um den
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Vertrag von Nizza zu verbessern und ihn so zustim-mungsfähig zu machen?Mit dieser kritischen Haltung, Herr Fischer – Sie wer-den ja gleich reden –, sind wir nicht alleine. Wir befindenuns in allerbester Gesellschaft führender europäischerIntegrationsforscher, aller wesentlichen Vertreter im Eu-ropaparlament, aber auch der Kommissare, die wieVerheugen mutig sind und sagen: Das Ergebnis von Nizzareicht nicht aus. Der Versuch, uns in die Ecke derjenigenzu stellen, die die Erweiterung angeblich verzögern odergar verhindern wollen, ist daher absolut grotesk.
Das Gegenteil ist der Fall: Gerade weil wir eine schnelleErweiterung wollen, können wir den Ergebnissen vonNizza nicht zustimmen. Wir werden uns zusammen mitdem Europäischen Parlament an dem Post-Nizza-Prozessbeteiligen, um den Vertrag von Nizza durch Nachbesse-rungen zustimmungsfähig zu machen.Nun ist politische Führung in der Europapolitik mehrdenn je gefragt. Herr Bundeskanzler, Herr Außenminister,Sie als Vertreter des wichtigsten und größten Staates inEuropa müssen dieser Verantwortung gerecht werden.Deutschland muss auch in Zukunft der Anwalt der euro-päischen Wiedervereinigung bleiben. Stellen Sie sichbitte in die Tradition ehemaliger Bundeskanzler, aberauch ehemaliger Außenminister, denen wir so viele Fort-schritte in Europa verdanken. Bringen Sie zunächst dasVerhältnis zu Frankreich wieder in Ordnung.
Wir alle sollten hier ein kritisches Zeichen setzen, dasswir mit dem Ergebnis von Nizza im Interesse Europas nichtzufrieden sind. Beteiligen wir uns an der Verbesserung desVertrages von Nizza, damit er zustimmungsfähig wird!Vielen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Außenminister Joseph Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es entsprichtder Tradition des Hauses, dass in einer Europade-batte – bei anderen Debatten lässt sich anhand des klarenPro und Kontras genau verfolgen, wo die Fraktionsgren-zen verlaufen – ein Stück weit quer zu den politischen La-gern diskutiert wird, weil das Europathema kein par-teipolitisches Thema ist. Herr Merz, ich finde es schade,dass Sie hier im Grunde genommen versuchen, Innenpo-litik zu machen. Deshalb lassen Sie mich bei der Bewer-tung der Ergebnisse von Nizza eine klare Gegenpositionzu Ihnen beziehen: „Der Gipfel von Nizza war ein wich-tiger und entscheidender Schritt auf dem Weg zur europä-ischen Einigung. Insofern war er durchaus ein Erfolg.“
– Ja, das sagte Edmund Stoiber in der 758. Sitzung desBundesrates am 21. Dezember 2000.Sie können nicht kritisieren, dass es in Europa an poli-tischer Führung mangele. Fragen Sie sich lieber einmalselbst, wie es um die Führung in Ihrer Fraktion bestellt ist,wenn Sie sich anschauen, welche Haltung die CDU/CSUeinnimmt.
Herr Kollege Haussmann, ich komme auf die Fragezurück, weshalb man eigentlich das Ergebnis von Nizzakritisiert. Kritisiert man das Ergebnis, weil es einem indem einen oder anderen Punkt nicht zusagt oder weil manmeint, dass es nicht ausreichend sei? Kritisiert man es undlehnt man es unter dem Gesichtspunkt ab: Wir wollen esnicht? Wäre es nicht angemessener – das Parlament kannin seiner Kritik weiter gehen als die Bundesregierung, diein die europäische Kompromissstruktur eingebunden ist –,konstruktiv zu kritisieren? Ich möchte Sie nur darauf hin-weisen, dass der Bundesrat und die Ministerpräsidentenoffensichtlich die klügere Variante gewählt haben unddies auch zu entsprechenden Erträgen im Vorfeld vonNizza geführt hat. Das ist der entscheidende Unterschied.Gestatten Sie mir, an diesem Punkt klipp und klar zusagen: Der europäische Einigungsprozess entscheidetüber die Zukunft aller Mitgliedstaaten im 21. Jahrhundert.Deswegen wird es ganz entscheidend darauf ankommen,dass wir diesen Einigungsprozess unter dem Gesichts-punkt der großen historischen Herausforderung der Er-weiterung voranbringen. Das hatte der Gipfel von Nizzazu leisten und er hat es auch geleistet.
– Das werde ich Ihnen gleich noch erklären. – Nizza hatentscheidende Fortschritte gebracht – der Bundeskanzlerhat diese dargestellt –, nämlich in der Frage einer wesent-lich handhabbarerer verstärkten Zusammenarbeit und inder Definition des Post-Nizza-Prozesses inklusive derAbschlussperspektive für das Jahr 2004.Wenn man dann noch den ersten Schritt hinzunimmt,nämlich die Annahme der Grundrechte-Charta auf der po-litischen Ebene, die Erwartung, dass der Beschluss, dergefasst wurde, 2004 faktisch auf einen Verfassungspro-zess zur Kompetenzfrage hinausläuft – in Verbindung mitder Grundrechte-Charta –, und wenn man dann noch dieKomponente der verstärkten Zusammenarbeit hinzu-nimmt und sieht, dass wir am 1. Januar des kommendenJahres die Euro-Einführung haben, dass wir die begin-nende Erweiterung haben und dass wir im Vorfeld von2006 auch die Notwendigkeit eines neuen Finanzkom-promisses haben werden, dann kann ich Ihnen nur sagen:Wenn Sie diese Parameter anlegen und betrachten, wasNizza geleistet hat, gleichzeitig aber fordern, dass wir dasdeutsch-französische Verhältnis wieder in Ordnungbringen und Nizza ablehnen sollen, dann müssen Sie mireinmal erklären, wie Sie das jenseits des Zustands derSchizophrenie zusammenbringen wollen.
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Sie zitieren Herrn Hänsch – ich habe den Artikel heuteMorgen auch gelesen –, Sie zitieren aber nicht den fran-zösischen Außenminister. Wenn wir sagen würden, Nizzaist gescheitert, und wenn wir die Position der F.D.P. über-nehmen würden, wir wollten einen neuen Gipfel, weilNizza gescheitert sei, wäre das für das deutsch-franzö-sische Verhältnis so ziemlich das Schlimmste, was eineBundesregierung machen könnte.
Herr Haussmann, Sie sind viel zu klug, um so etwas zufordern. Das gilt auch für Ihre Fraktion; es gibt bei Ihnengenügend erfahrene Außenpolitiker. Herr Kollege Kinkelweiß nur zu gut, worauf so etwas hinauslaufen würde unddass es jenseits oppositioneller Rhetorik und Forderungenschlichtweg eine Katastrophe wäre, wenn wir so vorgehenwürden. Insofern ist diese Forderung nicht nur nicht klug,sondern sie ist gegen die Interessen Deutschlands, sie istgegen das Interesse, ein gutes deutsch-französisches Ver-hältnis zu haben, und sie ist gegen die europäischen In-teressen gerichtet. Daher lehnen wir sie ab.
Meine Damen und Herren, was hatte Nizza tatsächlichzu leisten? Herr Kollege Merz, es tut mir Leid: Nizza hatteall das, was Sie dem Bundeskanzler vorgeworfen haben– was die Vertiefungsperspektive betrifft –, nicht zu leis-ten. Was Nizza zu leisten hatte, war die Abarbeitung der„leftovers“, die Sie genannt haben. Sie sind aber nicht aufein einziges „leftover“ eingegangen. Gehen wir einmaldie einzelnen Punkte durch; ich möchte mich nicht in Po-lemik erschöpfen, sondern wirklich diskutieren.Sie haben den Punkt der Mehrheitsentscheidung ge-nannt. Der Bundeskanzler hat in der Abschlusspressekon-ferenz gesagt – er hat es wiederholt und ich habe es in derSondersitzung des Europaausschusses auch gesagt –, wirhätten uns in diesem Punkt durchaus ein ambitionierteresErgebnis gewünscht.
– Nein, ich bestätige Sie nicht, sondern ich möchte, dasswir jetzt ernsthaft über das Problem diskutieren. Zweigroße Problembereiche standen dem entgegen. Das kön-nen Sie nicht bei der Bundesregierung abladen; denn wirwaren willens, hier weiter zu gehen, haben aber keineEinstimmigkeit dafür bekommen.Der erste große Problembereich ist das, was man mitFinanz- und Steuerpolitik beschreiben kann. Großbri-tannien hat von Anfang an und auch schon im Vorfeldklargemacht, dass seine Bewegungsspielräume auf die-sem Gebiet minimal sind. Das ist ein Faktum, das Sienicht bei der Bundesregierung abladen können. Ein zwei-tes Ziel von uns war, Mehrheitsentscheidungen in der Au-ßenhandelspolitik zu bekommen. Das wiederum wurdevon anderen Partnern an die Bewegung in der Steuerfragegeknüpft. Das war die Situation.Die Bundesregierung war im europäischen Interessebereit, bei beiden Punkten weiter zu gehen und Bewegunghineinzubekommen und auch in anderen Bereichen nochdraufzulegen. Der Bundeskanzler hat dies in verschiede-nen Gesprächen angeboten. Dass wir das nicht durchset-zen konnten, können Sie jetzt als Versagen der Bundesre-gierung kritisieren. Aber das ist doch irreal. Man kannsich die Dinge doch nicht sozusagen schöner träumen, alssie tatsächlich sind.
– Herr Haussmann, kommen Sie mir jetzt nicht mit„früher“.
Sie können natürlich sagen: Wenn eine christlich-liberaleKoalition in Nizza gewesen wäre, dann hätte Gott derHerr ein Einsehen gehabt und ein Wunder gewirkt, sodasssich die steuerpolitischen Positionen anderer Mitglied-staaten plötzlich verändert hätten.
– Herr Kollege Hintze, ich sehe, dass uns die christlicheHerkunft verbindet. Uns Katholiken ist der Wunderglaubein der Theologie durchaus zu Eigen, aber nicht in der Po-litik. Glauben Sie mir! Das wissen Sie doch auch.
Der zweite Punkt, den Sie, Herr Kollege Merz, ange-sprochen haben, war die Größe der Kommission. DieBundesregierung hat gemeinsam mit der französischenRegierung von Anfang an gesagt, wir wünschen uns einekleinere Kommission. Aber das ist kein „leftover“. Diekleinen Länder haben sich mit ihrer Forderung durchge-setzt. Sonst hätte es in Nizza kein Ergebnis gegeben. DieF.D.P. bezieht ja diese Position: Kein Ergebnis ist besserals dieses Ergebnis. Das ist die Konsequenz der Positionder F.D.P. in Bezug auf die Ablehnung. Das muss manwissen.
Die Europäische Volkspartei wird dies ja als größteFraktion im Europaparlament mit entscheiden.
Insofern: Herr Kollege Merz, man begegnet sich, auchhier im Deutschen Bundestag, immer zweimal. Eine ent-sprechende Rede werden Sie nach der Ratifizierung nocheinmal halten müssen.
Ich gehe davon aus, dass die EVP und auch Sie, dieCDU/CSU, der Ratifizierung als gute Europäer und ge-tragen von der europäischen Orientierung trotz aller Kri-tik, die Sie äußern und die wir teilweise auch nachvoll-ziehen können, zustimmen werden. Davon gehe ich festaus.
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Bundesminister Joseph Fischer14122
Insofern möchte ich hier den konstruktiven Ansatz fort-setzen.Wir hätten uns eine kleinere Kommission gewünscht.Aber das war mit den kleinen Mitgliedstaaten nichtmachbar. Nun wird der Bundesregierung vorgehalten: Ihrmüsst die kleinen Mitgliedstaaten pflegen. Das ist richtig.Der Bundeskanzler hat wirklich sehr viele Reisen ge-macht.
– Mit Österreich besteht eine schöne Initiative in Bezugauf die Grenzregionen. Herr Haussmann, wären Sie dabeigewesen, hätten Sie richtig gestört, als wir da zusammen-gesessen haben.
Wenn Sie da immer wieder gesagt hätten, ihr mögt euchnicht, hätten sie bei diesem Gipfel richtig gestört.
Denn die Kooperation zwischen der österreichischen undder deutschen Delegation war hervorragend, durch keineSprachbarriere getrübt und von vielen gemeinsamen In-teressen getragen und geprägt.
Dies ist in einer gemeinsamen Initiative zum Ausdruckgekommen, an deren Verwirklichung wir gemeinsamesInteresse haben.
– Herr Waigel, vergessen wir es.
– Nein.
– Ich mache doch keine Show, sondern ich versuche, aufIhre Argumente einzugehen.
– Herr Merz, immer, wenn Ihnen nichts mehr einfällt undwenn Ihnen in einer lebendigen parlamentarischen Kon-troverse die Sachargumente ausgehen, dann sprechen Sievon Show.
Herr Minister, gestat-
ten Sie eine kleine Zwischenbemerkung.
Zwischenrufe sind erlaubt. Aber, Herr Waigel, zu ru-
fen: „Herr Präsident, der lügt!“, ist jenseits der zwischen
uns vereinbarten Regeln.
Herr Präsident, ich habe diesen Zwischenruf in diesemFall nicht als aggressiv und ernst gemeint empfunden. In-sofern halte ich selbst ihn für nicht rügenswert. Aber dasist meine ganz persönliche Meinung.
Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.Herr Merz, in den europäischen Fragen geht es mir– das wissen Sie – wirklich nicht um Show. Sie mögendas, was wir erreicht haben, kritisieren. Aber werfen Siemir in diesen Punkten nicht Show vor, nur weil ich nichtdieselbe langweilige Rhetorik wie andere habe, die hiervorgetragen haben. Hören Sie doch auf!
– Nein, ich meine Ihren Oppositionsführer. Ich habe vieleJahre Regierungserklärungen von dem in europäischenFragen von mir sehr geschätzten Dr. Helmut Kohl alsBundeskanzler morgens um 9 Uhr miterlebt. Daher weißich, wie lebendig diese Regierungserklärung heute Mor-gen war. Mein Gedächtnis funktioniert sehr gut.
Zur Sache: Der entscheidende Punkt ist doch, dass diekleinen Mitgliedstaaten je einen Sitz wollten. Daher wareine kleinere Kommission nicht durchsetzbar. Auch hierhandelt es sich also nicht um ein „leftover“.
– Aber Sie haben gesagt, dies sei ein „leftover“.
– Nein, das Problem ist nicht ungelöst. Wir werden eineKommission in der Größenordnung der Mitgliedstaatenhaben, das heißt mit maximal 27 Mitgliedern. Dies läuftzwar auf eine größere innere Differenzierung hinaus, aberes ist – im Gegensatz zu Amsterdam – kein „leftover“, wieSie es behauptet haben. Das ist für mich der entscheidendePunkt.
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Der dritte Punkt betrifft das Abstimmungsverfahren.Ich kann Ihnen sagen: Die Bundesregierung hätte sich dasVerfahren der doppelten Mehrheit gewünscht. Das warunsere Position,
und zwar deswegen, weil die Prinzipien der Staatenmehr-heit – das Prinzip des Staatenverbundes – und der Bevöl-kerungsmehrheit – das demokratische Prinzip des Bürger-europas in der Europäischen Union – die Mehrheitsregelneines sich integrierenden bzw. eines, wie ich hoffe, einesTages die politische Einheit erreichenden Europas be-stimmen. Die Position der Bundesregierung war, die bei-den Grundprinzipien – Staatengleichheit und Gleichheitder Bürgerinnen und Bürger – zur Geltung zu bringen.
Das setzt angesichts der Größendifferenzen eine gewisseGewichtung voraus. Das konnten wir nicht durchsetzen.
Auf der anderen Seite wird gesagt – wir teilen dieseAuffassung –, dass das deutsch-französische Verhältnisfür die Bundesregierung und für die Koalition – dasselbegilt für die Vorgängerregierungen – unverzichtbar ist.
Es ist das Schwungrad der europäischen Einigung.
Insofern müssen wir für Positionen unseres Partners Ver-ständnis haben, selbst wenn sie nicht die unsrigen sind,und wir müssen einen gemeinsamen Weg finden.
Wir hielten den Vorschlag der französischen Präsident-schaft für das Abstimmungsverfahren – es beinhaltet einentsprechendes Sicherheitsnetz – für einen Kompromiss,der unter dem Gesichtspunkt der Funktionalität, aber auchdes Staatenprinzips und des Demokratieprinzips nicht nurvertretbar ist, sondern auch unsere Billigung gefundenhat. Dieses Abstimmungsverfahren ist kein „leftover“.Die Voraussetzungen, um die Erweiterung jetzt beginnenzu können, sind damit geschaffen worden.Allein die Reaktion in den Kandidatenstaaten machtdoch klar, wie viel Hoffnung damit verbunden wird. Des-wegen werbe ich emphatisch für die Ratifizierung. Alsüberzeugter Integrationist, als überzeugter Europäer weißich selbst, dass viele Hoffnungen in Nizza nicht in Erfül-lung gegangen sind. Gleichzeitig hat Nizza aber eine ent-scheidende Voraussetzung für den Erweiterungsprozessgeschaffen, den wir jetzt zügig vorantreiben müssen. Esist zu lange gewartet worden. Gerade die F.D.P. hat immerwieder zu Recht darauf hingewiesen, dass endlich Nägelmit Köpfen gemacht werden müssen, das heißt, dass Er-weiterung stattfindet.
– Herr Haussmann, wir werden keine Erweiterung be-kommen, wenn dieser Vertrag abgelehnt wird. Das istdoch die Konsequenz.Ich komme auf die Chancen des Post-Nizza-Prozes-ses zu sprechen, was die Vertiefung betrifft. Herr Merz,Sie haben dem Bundeskanzler offensichtlich nicht zu-gehört. In der Rede des Bundeskanzlers steckte eine pro-grammatische Orientierung im Hinblick auf die nächstenSchritte.
– Nicht „sehr verborgen“! – Ich sage Ihnen: Gerade per-spektivisch gesehen sind die weiteren Schritte hin zur po-litischen Integration von entscheidender Bedeutung. Dasgilt zum Beispiel für die Frage der Kompetenzabgren-zung. Darüber Einigkeit zu erzielen wird im Post-Nizza-Prozess ein verdammt schweres Unterfangen werden.Kompetenzabgrenzung lässt sich leicht fordern, aber dieUmsetzung ist – man denke an die unterschiedlichen na-tionalen Traditionen und Interessen – alles andere als ein-fach. Gerade die großen Fraktionen im Europaparlamentwerden merken, wie schwierig es in der Praxis sein wird,dieses Thema durchzudeklinieren.Als letzten Punkt möchte ich das deutsch-franzö-sische Verhältnis ansprechen. Ich habe vorhin schon ge-sagt – der Bundeskanzler hat es nachdrücklich unterstri-chen –: Ich finde es unfair, was alles in den Medien undvon Teilen unserer Öffentlichkeit bei der französischenPräsidentschaft abgeladen wurde. Es gab einen Wider-streit der nationalen Interessen.Manches in Nizza erinnerte gerade uns Deutsche anden Versuch der alten Westbundesländer, sich im Prozessder Erweiterung – es ging damals um den Länderfinanz-ausgleich – zu arrondieren. Mir kam das alles, was inNizza geschah, sehr bekannt vor, weil ich damals selbstMitglied einer Landesregierung war. Die alte Union hatversucht, sich gewissermaßen ihrer selbst vor der großenhistorischen Aufgabe der Erweiterung zu vergewissern.Als die alten Westbundesländer versuchten, ihre Inte-ressen zu arrondieren, hat das den Einigungsprozess nichtaufgehalten. Es war ein Schritt, der vollzogen wurde. Die-sem Schritt folgten weitere. Wie wir gesehen haben, wardieser Prozess – bei allem, was es zu kritisieren gibt – sehrerfolgreich.Das alles bei der französischen Präsidentschaft abzula-den finde ich unfair. Die französische Präsidentschafthatte eine extrem schwierige Aufgabe in einem extremschwierigen Umfeld zu erfüllen. Das muss man wissen.Wenn uns an einem guten deutsch-französischen Ver-hältnis liegt, müssen wir auch und gerade in einer solchenschwierigen Situation zu unseren französischen Freundenund Partnern stehen. Die Bundesregierung tut dies. Füruns ist das deutsch-französische Verhältnis ein unver-
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Bundesminister Joseph Fischer14124
zichtbares Fundament des europäischen Einigungspro-zesses, an dem wir weiterarbeiten.
Ich erteile dem Kolle-
gen Roland Claus, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr ver-ehrten Damen und Herren! Erinnern wir uns an die letzteRegierungserklärung des Bundeskanzlers vor dem Gipfelin Nizza: Er hat hier vor dem Deutschen Bundestag sehrbehutsam und bedächtig seine Erwartungen formuliert.Das brachte ihm dann den Vorwurf ein, er agiere leiden-schaftslos, und zwar ausgerechnet vom Erfinder der deut-schen Leidenschaftskultur, Friedrich Merz. Aber ichglaube, dem Kanzler war schon damals klar, dass man dieErwartungen nicht zu hoch stecken darf. Er hat wohl ge-ahnt, dass es nicht so toll wird. Auch wir meinen, dass dieOsterweiterung der Europäischen Union, zu der wir aus-drücklich stehen, kein Thema für kurzschlüssige Antwor-ten auf schwierige Fragen ist.
Mit dem Gipfel war wohl nur Edmund Stoiber so rich-tig zufrieden. Ich frage mich jetzt, wie das mit der von derUnion vorgetragenen Kritik zusammenpasst. Ich sehenatürlich auch schon den langen Anlauf des KollegenFriedrich Merz zu der Rolle rückwärts, die er dann antre-ten wird, wenn es um die Ratifizierung geht.Wir wollen eine andere Frage stellen, meine Damenund Herren. Versetzen Sie sich einmal in die Lage eineseuropafreundlichen Fernsehzuschauers, der versucht hat,den Nizza-Prozess in den Medien zu verfolgen. Für ihnwar dieser Vorgang quälend: nicht so sehr, weil es sichhier um schwierige und andauernde Prozesse handelt,sondern weil er seine Probleme in dem nicht wiederfand,was seine Regierung dort verhandelte.
Dass dies das Problem von Nizza war, haben auch vieleKommentatoren gesagt.Nun wird dem geneigten Fernsehzuschauer, der viel-leicht auch heute die Rede des Kanzlers gehört hat, ge-sagt, es werde eigentlich alles gut, wenn er die Regierungnur weiter gewähren lasse. Dass dieser Mensch in Kon-flikte kommt, werden Sie doch wohl eingestehen; ichfinde, Sie haben es auch schon eingestanden. Das Pro-blem ist also, dass sowohl die großen Erwartungen alsauch die Sorgen von Bürgerinnen und Bürgern im Zu-sammenhang mit einer erweiterten Union hier zu wenigvorkamen. Auf die Ängste wird zu wenig eingegangenund die Hoffnungen werden zu wenig aufgegriffen.
Nizza war insofern für sehr viele Bürgerinnen und Bürgerein Technokratenakt. Die Lust auf Europa hat das nichtgestärkt.Die PDS tritt nachdrücklich für die Osterweiterung derEuropäischen Union ein. Wir sagen allerdings: Wer dieOsterweiterung will, muss den Nizza-Vertrag ablehnenund ihn nachbessern. Das Ja der PDS zur Grundrechte-Charta ist ein Beleg dafür, dass wir keine europafeind-lichen Gesellen sind. Wie Sie wissen, ist für die Linkenjedes Ja über die eigenen Positionen hinaus ein großerSchritt, und wir bekennen uns zu diesem Ja. Ich räumeauch ein, dass wir es gegenüber unseren osteuropäischenFreunden mit der Ablehnung des Nizza-Vertrages schwerhaben. Aber wir meinen, es ist besser, eine schwierige Si-tuation einzugestehen und anzunehmen, als falsche Hoff-nungen zu wecken.
Es gibt bekanntlich auch bei der deutschen Vereinigungnicht nur Schokoladenseiten.Für die PDS ist die verabschiedete Sozialagenda nichtakzeptabel. Faktisch ist in Verbindung mit den ungelöstenProblemen der Stimmengewichtung ein ständiges Veto-recht im Sinne von Sozialdumping festgeschrieben. Ebensosind wir gegen den Einstieg in eine Militärmacht mit eu-ropäischen Eingreiftruppen. Bei den Problemen der Stim-mengewichtung im Ministerrat wurde in Nizza mit derEntscheidung für die dreifache Mehrheit die Flucht insUndurchschaubare angetreten. Wenn Ihnen bei der Stim-menauszählung einmal ein Computer abstürzt, dann guteNacht!Ich möchte noch auf einen besonders bemerkenswer-ten Aspekt der Regierungserklärung eingehen. Die Bezie-hungen zu Polen und Frankreich bildeten den Rahmender Rede des Bundeskanzlers. Wenn damit die Selbstkri-tik verbunden ist, für das deutsch-französische Verhältnismehr zu tun, um es auf den erforderlichen Kooperations-stand zu bringen, geht das in Ordnung. Ich habe aber indiesem Zusammenhang auch eine Hoffnung: Die histo-rische Aussöhnung mit Frankreich war für die Aussöh-nung mit dem Westen entscheidend. Ebenso historischentscheidend sollte und könnte die Aussöhnung mit Polensein; sie könnte das Signal für eine neue Dimension derVerbindung mit dem Osten werden.
Sie knüpfen dabei zu Recht an Willy Brandt an. Polenkann dann eine Brücke zwischen dem Westen und demOsten im vereinten Europa werden. Diese Vision kannWirklichkeit werden, wenn Polen nicht ein Katzentisch inder Festung Westeuropa eingeräumt wird, sondern ihmChancen, zur Brücke in einem neuen Europa zu werden,eröffnet werden.
Im Übrigen: Die Tschechen, die Slowaken, die Ungarnund die Ukrainer werden das nicht übel nehmen, sondernsehr wohl verstehen.Herr Bundeskanzler, Sie haben Ihre Hoffnungen für eingeeintes Europa vorgestellt und die Schwierigkeiten nichtausgeblendet. Sie sagen Ja zum Vertrag von Nizza, wirnicht. Die Osterweiterung der EU wird die sozialistischeOpposition im Bundestag jedoch weiterhin konstruktivunterstützen. Kritik kann bekanntlich auch sehr hilfreichsein.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2001
Bundesminister Joseph Fischer14125
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich der Kollegin Leutheusser-Schnarren-
berger das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte
mich doch noch einmal zu dem äußern, Herr Außenminis-
ter, was Sie zur Bewertung der bisherigen Position der
F.D.P. gesagt haben.
Die F.D.P.-Fraktion hat aufgrund ihrer historischen
Verdienste und ihrer inneren Überzeugung ein großes In-
teresse daran, dass der Osterweiterungsprozess gelingt,
ohne dass sich die Europäische Union in ihrer inneren
Verfasstheit in eine Rückwärtsbewegung begibt. Wir wol-
len, dass sich die europäische Integration an dem Ziel ori-
entiert, dass wir auch einmal eine europäische Verfassung
bekommen, wie auch immer sie dann intern ausgebildet
sein mag. Davon war unser Einsatz für die Grundrechte-
Charta gekennzeichnet, die im Moment in der Schublade
liegt, aber 2004 vielleicht Gegenstand des Vertrages wer-
den soll.
Uns treibt im Moment die Sorge um, Herr Außenmi-
nister, ob wir mit dem, was jetzt als Ergebnis von Nizza
vorliegt, eine einigermaßen sichere Grundlage für den Er-
weiterungsprozess schaffen können. Dass es in einigen
Punkten Ergebnisse gegeben hat, ist klar; sonst hätte man
sich nicht so lange auf diesen Prozess vorbereitet und
auch nicht mehrere Tage lang nach einer Lösung suchen
müssen.
Es ist wohl auch unstreitig, dass es nach wie vor er-
hebliche Defizite gibt. Wir als Parlament, auch als F.D.P.-
Fraktion, müssen uns fragen, was wir in der Phase nach
Nizza tun können, um nachzubessern und die Risiken ei-
nes möglichen Rückschlages gering zu halten bzw. aus-
zuschließen. Das ist unser Anliegen. Das ist unsere Posi-
tion.
Ich wollte das noch einmal deutlich machen, weil wir
nicht in die Ecke derjenigen gehören, die sagen: Gott sei
Dank haben wir jetzt einen Vorwand dafür, uns aus dem
europäischen Integrationsprozess auszuklinken.
Herr Minister, Sie ha-
ben die Gelegenheit zur Reaktion.
Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, ich möchte
mich für Ihre Erläuterung, was die Haltung der F.D.P.-
Fraktion betrifft, ausdrücklich bedanken.
Was die Sache, das Ziel, das Sie erläutert haben, an-
geht, so sehe ich null Unterschied zu dem, was die Bun-
desregierung und – so nehme ich an – große Teile aller
Fraktionen hier vertreten, nämlich dass der Erweite-
rungsprozess nicht zu einem Rückschritt bei der Integra-
tion führen darf. Da stimme ich Ihnen ohne jede Ein-
schränkung zu. Dies wäre eine fatale, rückwärts laufende
und meines Erachtens den Erweiterungsprozess beschädi-
gende Konsequenz.
Insofern war die Herstellung des Zusammenhangs von
Vertiefung und Erweiterung, wie ihn auch Mitglieder der
früheren Bundesregierungen immer wieder formuliert ha-
ben, kein rhetorischer Trick, um sich scheinbar aus-
schließende Ziele unter einen Hut zu bringen, sondern in
der Sache gerechtfertigt. Davon bin ich überzeugt.
Es gibt in der Europäischen Union der 15 unterschied-
liche Sichtweisen zu den Ergebnissen von Nizza. Ich habe
neulich mit einem französischen Kollegen in Paris eine
sehr vertiefende und sehr gute Diskussion geführt. Und
ich sage Ihnen – die Bundesregierung sieht es als ihre ihre
Aufgabe an, dem Parlament diese Botschaft zu vermit-
teln –: Wir müssen Acht geben, nicht nur unsere Sicht zu
sehen. Die französische Regierung, aber auch die franzö-
sische Öffentlichkeit nehmen teilweise eine unterschied-
liche Bewertung vor. Wir dürfen jetzt durch die Bewer-
tung von Nizza nicht ein zusätzliches deutsch-fran-
zösisches Problem heraufbeschwören, denn sonst erhal-
ten wir mit Sicherheit das negative Ergebnis, vor dem wir
uns gemeinsam fürchten. Das ist es, worum es mir geht.
Wenn ich hier als Abgeordneter säße – Kollege
Haussmann hat es ja gesagt –, würde ich doch nicht er-
warten, dass die Ergebnisse nicht kritisiert werden. Im
Gegenteil: Es ist die Pflicht der Abgeordneten zu kritisie-
ren; das hilft uns auch. Aber unsere gemeinsame Perspek-
tive muss die Ratifikation sein. Wenn wir jetzt in Paris sa-
gen müssten: „Unser Parlament hat gesagt, es ist mit den
Ergebnissen unzufrieden“, würde das zu einem schweren
Konflikt mit Frankreich führen. Wir können 2002 nicht
sagen: Wir wollen eine neue Regierungskonferenz. Ich
hielte das auch in der Sache nicht für richtig.
Allein dieses Argument müsste Sie doch sehr nach-
denklich machen, gerade auch vor dem Hintergrund der
großartigen europapolitischen Tradition Ihrer Partei und
der Außenminister, die Sie gestellt haben, und die Sie zu
Recht unterstreichen. Insofern appeliere ich nochmals an
die Freien Demokraten zuzustimmen.
Ich weiß, bei Amsterdam hatten wir die gleiche Situation.
Hätte das Ergebnis von unserer Stimme abgehangen, hätte
ich selbstverständlich trotz meiner Bedenken zugestimmt,
weil ich ein Scheitern eines Europavertrages im Deut-
schen Bundestag mit meiner Stimme niemals zugelassen
hätte, auch nicht in der Opposition. Ich weiß also um die
Verführung, abzulehnen. Aber Sie sollten gerade auf-
grund der ganz anderen, längeren Tradition Ihrer Partei
und Fraktion, aufgrund der großartigen europapolitischen
Tradition der Außenminister, die Sie, angefangen von
Walter Scheel, gestellt haben, ernsthaft darüber nachden-
ken, ob Sie nicht gerade aus diesem Grund besondere Ver-
pflichtung haben. Deswegen werbe ich für die Zustim-
mung zur Ratifizierung auch und gerade der liberalen
Partei.
Ich erteile das Wortdem Kollegen Peter Hintze, CDU/CSU-Fraktion.Peter Hintze (von Abgeordneten derCDU/CSU mit Beifall begrüßt): Herr Präsident! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Wir haben eben alle
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 200114126
mitverfolgt, wie positiv der Herr Bundesaußenministerdie Ergebnisse des Gipfels von Nizza bewertet hat. Jederim Saal kann sich bestimmt ganz gut ausmalen, wie einOppositionsredner Joseph Fischer an diesem Tag und andieser Stelle über die Ergebnisse von Nizza gesprochenhätte, wenn eine CDU/CSU-geführte Regierung mit ei-nem derart dürftigen Ergebnis vor das Plenum dieses Hau-ses getreten wäre, liebe Freunde.
Die Frage ist: Hat unsere Regierung bei dieser Regie-rungskonferenz versagt?
– Kollege Erler ruft markig in den Raum: Nein!
Das historische Versäumnis von Nizza ist, dass hin-ter den Beschlüssen keine Vision erkennbar ist. WennMonnet, Schuman, Adenauer, de Gasperi und andereso gehandelt hätten, dann hätte es nie europäische Ge-meinschaften gegeben und dann hätten wir immernoch keine Europäische Union. – Dieses vernichtendeUrteil über die handelnden sozialdemokratischen Regie-rungschefs in Europa hat Ihnen Ihr Parteifreund undAbgeordneter, der frühere Präsident des EuropäischenParlaments, Hänsch, bei seiner Rede im EuropäischenParlament ins Stammbuch geschrieben. Die Aussage lau-tet: Die Regierungschefs heute haben vor der historischenAufgabe versagt.
– Das will ich gerne tun.Nizza hatte vier kardinale Konstruktionsfehler, dierasch überwunden werden müssen, damit die Osterweite-rung gelingt.Erster Konstruktionsfehler: Die Unübersichtlichkeitder Verträge nimmt zu. Um einen wichtigen Beitrag zurHandlungsfähigkeit leisten zu können, sollten die Ver-träge einfacher und transparenter werden. Herausgekom-men ist aber wachsende Undurchsichtigkeit. Man schauesich nur die Vorschriften über die verstärkte Zusammen-arbeit oder den Außenhandel an. Wo Vereinfachung Notgetan hätte, ist es komplizierter geworden. Das ist so, alswollten die europäischen Rechtsetzer die hawkingscheTheorie von der fortschreitenden Unordnung durch ihreTexte belegen.
Europa wird erst dann wieder Zustimmung finden, wenndas politische Geschehen in Brüssel und Straßburg trans-parenter wird. Um dieses zu erreichen, fehlte in Nizza dieKraft.Ich möchte noch einen anderen Gedanken anführen: Eshaben nicht nur die Regierungschefs in Nizza versagt,sondern schon im Vorfeld hat man versagt. Diese Regie-rungskonferenz wurde miserabel vorbereitet und konntein der Tat in Nizza selbst nicht mehr repariert werden.Wenn man dieses erreicht hätte, wäre das Wunder einge-treten, das der Bundesaußenminister erwähnt hat. Das warnicht zu erwarten. Die Methode der Regierungskonfe-renz hat sich erschöpft. Wir müssen sie durch eine kreati-vere Methode ersetzen. Die nationalen Regierungschefs– heute hier Bundeskanzler Schröder – feiern ihre kleinenPyrrhussiege, während Europa durch das geschwächtwird, was sie meinen erstritten zu haben.
Diesen Zusammenhang haben auch die Kollegen von derF.D.P. angesprochen. Die Osterweiterung ist eine großehistorische und moralische Aufgabe. Sie muss aber auchpraktisch geschultert und mit kreativem Geist gefüllt wer-den. Diese Aufgabe müssen wir jetzt dringend, und zwarschneller als geplant, angehen. Wir brauchen den Verfas-sungsvertrag, wir brauchen eine Erarbeitungsform wie beider Grundrechte-Charta und wir brauchen klare, visionäreund kräftige Entscheidungen.
Ein zweiter Konstruktionsfehler von Nizza ist: Die par-lamentarische Demokratie und die Gewaltenteilung sindnur auf niedrigem Niveau verwirklicht. Warum sind denndie Bürger über das frustriert, was in Europa passiert? Siesind frustriert, weil sie keine Einflussmöglichkeiten se-hen. Wenn ihnen die Regierung in einem Land nicht passt,können sie sie abwählen. Wir haben das schmerzlich er-lebt. Auch Sie werden es vielleicht schmerzlich erleben.Das finden die Bürger aber gut.In Europa können sie wählen, was sie wollen, esscheint nichts zu passieren. Das müssen wir ändern. Wirmüssen dem Europäischen Parlament das Recht geben,den Präsidenten der Kommission zu wählen, und die Bür-ger müssen das Recht haben, die Kommission auf diesemWege wieder abzuwählen, wenn ihnen das Geschehen inBrüssel nicht passt. Deswegen muss die Konstruktion ver-ändert werden. Zu Zeiten der 68er hieß es: „Alle Machtden Räten!“, heute heißt es: „Alle Macht dem Rat!“ DerRat ist ein Geheimparlament, das hinter verschlossenenTüren tagt. Das muss geändert werden. Er muss zu einerzweiten Kammer werden und öffentlich tagen. Die Leutemüssen verfolgen können, was geschieht. Seit dem Ora-kel von Delphi gab es in Europa keine so undurchsichtigeEntscheidungsinstanz wie den Ministerrat der Europä-ischen Union. Das wollen wir ändern.
Dritter Konstruktionsfehler: Die Entscheidungsver-fahren werden immer komplizierter. Die Staats- und Re-gierungschefs haben etwas Tolles geschafft. Sie haben ge-sagt: Wenn mehr dazukommen, müssen wir es nochkomplizierter machen. Das Quorum für Mehrheitsent-scheidungen steigt von 71 auf über 74 Prozent. Damitwerden im Grunde die minimalen Fortschritte, die man
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Peter Hintze14127
bei dem Übergang von dem Prinzip der Einstimmigkeitzum Prinzip der qualifizierten Mehrheit erreicht hat, adabsurdum geführt. Die Echternacher Springprozession istgegenüber Europa eine fortschrittliche Veranstaltung. Dahieß es: zwei Schritte vor, ein Schritt zurück. In Nizza lautetedas Motto: ein Schritt vor, zwei Schritte zurück. – Das ist derGrund, warum wir das Ergebnis von Nizza kritisieren.
Es gehört übrigens zu den Rätseln der schröderschenRegierungskunst, warum der Kanzler die Frage derStimmgewichtung Deutschlands vor der Konferenz inNizza im Deutschen Bundestag zu der entscheidendenFrage erklärt hat, um dann am Ende in Nizza kläglich ein-zuknicken. Jetzt muss er den Bürgern erklären, wieso dieStimmgewichtung zwischen anderen Ländern fein austa-riert wird, während die Größe Deutschlands gegenüberkleineren aber keine Rolle spielt, und wie der Sand ausdem deutsch-französischen Getriebe wieder herauszube-kommen ist.Es ist schon interessant, dass um die Stimmgewichtungim Ministerrat mit Zähnen und Klauen gekämpft wurde,während die Sitze im Europäischen Parlament mit leich-ter Hand verteilt wurden, mit so leichter Hand übrigens,dass Belgien und Portugal im Europäischen Parlamentmehr Sitze als Tschechien und Ungarn bekommen, ob-wohl beide größer sind als Belgien und Portugal. Das istkein fairer Umgang mit Kandidatenstaaten aus Mittel-und Osteuropa. Diese haben sich nicht für die Demokra-tie entschieden, um von Westeuropa dann schlecht behan-delt zu werden, liebe Freunde. Das ist Politik nach Guts-herrenart!
Der vierte Konstruktionsfehler: Es fehlt die große Li-nie. Es ist vieles im Einzelnen vereinbart worden, es istauch manches Ordentliche vereinbart worden. Ich nenneden Post-Nizza-Prozess und die verstärkte Zusammen-arbeit. Leider bleibt das alles Stückwerk, weil ein leiten-des Prinzip, eine leitende Idee oder eine leitende Visionfehlt.Was kann der Deutsche Bundestag tun? Was kann diedeutsche Regierung tun? Wir können darauf drängen, dassdie schlechten Entscheidungen von Nizza schnell nach-gebessert werden. Die Ungerechtigkeit gegenüber Un-garn und Tschechien muss noch vor der Unterschrift kor-rigiert werden. Ich führe sie darauf zurück, dass dies zuspäter Stunde, mitten in der Nacht, festgelegt worden ist.Herr Bundeskanzler, ich möchte Sie dennoch fragen, wiees dazu kommen konnte. Der Bundesaußenminister zeigtesich im Ausschuss überrascht, so, als habe er noch garnicht gesehen, dass Belgien und Portugal Tschechien undUngarn vorgezogen werden, dass sie mehr Sitze im Euro-päischen Parlament bekommen, obwohl sie weniger Ein-wohner haben.Wir sollten als Deutscher Bundestag mit der Ratifizie-rung warten, bis im Europäische Parlament abschließenddarüber gesprochen worden ist. Wir sind es den Parla-mentskollegen in Europa schuldig, dass wir auch auf ihrVotum hören. Die Staats- und Regierungschefs haben sieschlecht genug behandelt. Wir sollten unsere Kollegenbesser behandeln.Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Günter Gloser, SPD-Fraktion
Herr Präsident! Verehrte Kol-leginnen und Kollegen! Die SPD-Bundestagsfraktion istfür die Erweiterung der Europäischen Union. Sie istfür die endgültige Überwindung der Spaltung Europas.Deshalb wird sie dem Vertrag von Nizza zustimmen.
Herr Kollege Hintze, natürlich sind auch wir für ver-einfachte Verträge. Aber wir sind gegen Vereinfachungenin der Politik, so wie sie Ihr Fraktionsvorsitzender in sei-nen heutigen Ausführungen vorgetragen hat und so wieSie und der Kollege Haussmann sie heute ebenfalls vor-getragen haben. Man sollte dies vermeiden, vor allem,wenn man diesen Prozess über Monate hinweg in dementsprechenden Fachausschuss begleitet hat. Deshalbmöchte ich noch auf ein paar Punkte eingehen.Der Bundeskanzler hat zu Recht gesagt, diese Bundes-regierung sei mit einem sehr ehrgeizigen Programm in dieVerhandlungen gegangen. Damit es – auch für die Öf-fentlichkeit – deutlich wird: Wir in diesem Parlament ha-ben bis auf wenige Ausnahmen diesem ambitioniertenProgramm zugestimmt. Eine gemeinsame Initiative die-ses Parlamentes hat es nicht gegeben, aber in den ent-sprechenden Debatten im Deutschen Bundestag und inden Ausschüssen gab es große Übereinstimmung. Das,was jetzt – auch in der heutigen Debatte – gesagt wird,spiegelt den Prozess nicht wider. Genau so, wie heute derBundeskanzler und der Bundesaußenminister den Nizza-Gipfel bewertet haben, nämlich ehrlich und kritisch, istauch die Diskussion abgelaufen. Wir haben – das mussman einmal festhalten – die Signale, die von Nizza geradeim Hinblick auf die osteuropäischen Länder ausgegangensind, erkannt.Ich war zum Zeitpunkt dieses Gipfels in Warschau. Mirist dort noch einmal ganz deutlich geworden, welchenStellenwert die Bundesregierung in den Verhandlungengehabt hat und dass sich die Bundesregierung für dieInteressen aller Beitrittskandidaten eingesetzt und sichnicht – wie kürzlich die CSU auf ihrer Tagung – zu be-stimmten Äußerungen verstiegen hat. Sie hat beispiels-weise nicht über einen isolierten Beitritt Ungarns speku-liert. Nein, die Bundesregierung war Fürsprecher allerosteuropäischen Beitrittskandidaten.Meine sehr verehrten Damen und Herren, natürlichmüssen wir auch über bestimmte Defizite diskutieren, die
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aus der Regierungskonferenz von Nizza resultieren. Diesist ebenfalls ein wichtiger Punkt, der eine breitere Öffent-lichkeit finden müsste. Ich glaube allerdings, dass wir allein diesem Parlament in den nächsten Wochen und Mona-ten auch die Möglichkeit haben werden, im Hinblick aufdie Regierungskonferenz 2004 über diese Bereiche zu de-battieren.In diesem Zusammenhang möchte ich nur zwei Punktedeutlich herausstellen und ich freue mich, dass der Bun-deskanzler diese in seiner heutigen Regierungserklärungebenfalls deutlich gemacht hat. So hat er gesagt, dass erdie Kandidatenländer an der Diskussion über die Zu-kunftsfähigkeit der Europäischen Union beteiligenwill, obwohl noch kein Beitritt stattgefunden hat. Ichfinde, dies ist ein gutes, dies ist ein deutliches Zeichen andie Beitrittsländer.
Ich nenne einen weiteren Punkt, der in allen Fraktionendiskutiert worden ist, und schließe mich denjenigen an,die den Ablauf solcher Regierungskonferenzen kritisie-ren. Ich mache es mir aber nicht so einfach, wie Sie, HerrHaussmann, es sich teilweise gemacht haben, nach demMotto: Die Konferenz war nicht gut vorbereitet; da istnicht richtig verhandelt worden.
Was Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger vorhin inBezug auf die Grundrechte-Charta gesagt hat, sollte unsveranlassen, ernsthaft darüber nachzudenken, wie derKonvent ein Modell sein könnte, eine größere Beteiligungder Parlamente an einem solchen Prozess sicherzustellen.Ich sage aber auch ganz bewusst: Man sollte sich nicht derIllusion hingeben, zu glauben, die Möglichkeiten, die die-ser Konvent bei der Erarbeitung der Grundrechte-Charta gut genutzt hat, seien eins zu eins auf die Er-arbeitung eines Verfassungsvertrages zu übertragen. Indiesem Bereich wird es ganz bewusst verengte Diskus-sionen in vielen nationalen Parlamenten geben. Trotzdemsollten wir Mut zum Risiko haben und versuchen, bei derVorbereitung der Regierungskonferenz die Arbeit diesesKonvents zum Vorbild zu nehmen.Aufgrund der Diskussionen muss ich noch folgendenPunkt erwähnen: Es wird immer davon gesprochen, dassdie Bürgerinnen und Bürger wenig Akzeptanz für diesesEuropa und für die Europäische Union zeigen. Wir müs-sen uns in der Tat überlegen, wer in dieser EuropäischenUnion was machen soll. Wir müssen die Frage beantwor-ten: Welche Aufgaben sind auf der nationalen Ebene undwelche Aufgaben sind von den Ländern, von den Regio-nen und den Kommunen zu leisten?Andererseits ist es sicherlich wichtig, auch zu klären,welche Aufgaben die Institutionen untereinander haben.Wir sollten nicht immer wieder davon sprechen, dass wirdie Bürgerinnen und Bürger bei diesem Prozess mitneh-men müssen. Wir sollten einfach einmal organisieren,dass sie an diesem Prozess beteiligt werden können. Dazugibt es verschiedene Möglichkeiten.Lassen Sie mich noch folgenden sehr wichtigen Punktanführen – der Bundeskanzler hat ihn schon ausgeführt –die EU-Erweiterung. Ich möchte diesen Punkt aber mehrunter dem Aspekt der Innenpolitik behandeln. Es war eindeutliches Signal, das auf der Konferenz in Brighton ge-geben wurde, was die Freizügigkeit für die Arbeitnehme-rinnen und Arbeitnehmer betrifft. Aber es gibt noch vieleandere Bereiche. Wir müssen den Erweiterungsprozessauch innenpolitisch flankieren. Wir wissen um die Chan-cen und wir wissen bereits heute um die Erfolge diesesProzesses. Wir wissen auch, inwieweit Deutschland Vor-teile aus diesem Prozess ziehen kann. Wir wissen aller-dings auch um die Risiken. Ich appelliere hier insbeson-dere an einen Teil der Kolleginnen und Kollegen derCDU/CSU-Fraktion: Nutzen Sie die Risiken und dieÄngste, die mit bestimmten Prozessen verbunden sind,nicht für Wahlkampfzwecke aus! Ergreifen Sie vielmehrgemeinsam mit uns Initiativen, um diese Risiken politischbeherrschbar sind zu machen!
Wenn wir diesen Prozess gestalten und eine Öffent-lichkeit herstellen wollen, dann genügt es nicht, wenn wirim Deutschen Bundestag oder in den entsprechendenLänderparlamenten diskutieren und Hearings durch-führen. Gerade Nizza hat gezeigt, dass wir manchmalnicht genau Bescheid darüber wissen, welche Prozesse inden anderen Ländern stattfinden. Es gibt beispielsweise inGroßbritannien und in den skandinavischen Ländern an-dere Vorstellungen über eine europäische Verfassung.
Es gibt in einzelnen Ländern andere Vorstellungen da-rüber, wie zum Beispiel die Sozialsysteme finanziert wer-den sollen und wie die Ausländerpolitik formuliert werdensoll. Es ist wichtig, einen über die Grenzen hinausgehen-den Diskurs zu organisieren, um einander besser zu ver-stehen. Ich glaube, hier besteht noch ein größerer Nach-holbedarf.Herr Haussmann, Sie haben vorgetragen, warum dieFreien Demokraten
diesem Vertrag nicht zustimmen werden. Ich erinnere indiesem Zusammenhang an eine Diskussion, die wir voreinigen Jahren in diesem Parlament zum AmsterdamerVertrag geführt haben.
Eine Kollegin aus Ihrer Fraktion hat in dieser Debatte aus-geführt:Ich kann für die F.D.P.-Bundestagsfraktion nur er-klären: Wir werden nach sorgfältiger Analyse undPrüfung dem Vertrag von Amsterdam zustimmen,
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auch wenn wir nicht verkennen, dass es wünschens-wert gewesen wäre, ein Mehr an institutionellenReformen schon in diesem Vertragswerk zu verein-baren.Die Rednerin fährt an anderer Stelle fort:Eine Ablehnung des Vertrages von Amsterdamwürde wirklich einen Stillstand bedeuten, würde einZurückschreiten bedeuten, würde bedeuten, dass dieVerbesserungen, die im Vertrag vereinbart wordensind ... nicht kommen werden. Das wäre nicht nur einRückschritt für den Integrationsprozess Europas.Vielmehr würde das ja erst recht die Erweiterungs-prozesse behindern.Es war Frau Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die dasin einer Debatte des Deutschen Bundestages 1997 gesagthat. Was damals gegolten hat, gilt auch heute.Vor dem Hintergrund dieser Beitrittsperspektive emp-fehle ich Ihnen, Herr Kollege Haussmann, aber auch Ih-rer Fraktion, diesen Antrag zurückzuziehen und die Bei-trittsperspektive im Bundestag in großem Konsens zueröffnen.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Gerd Müller, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Diese Woche hat gezeigt: Die Bun-desregierung ist angeschlagen,
nicht nur innen-, sondern auch europa- und außenpoli-tisch.
Es stellt sich die Frage: Können wir uns in dieser für Eu-ropa entscheidenden Phase einen angeschlagenen Außen-minister leisten?
Wird Joseph Fischer vor dem Hintergrund der Ereignissedieser Woche im Ausland noch als deutscher Verhand-lungspartner akzeptiert?
Ich meine: nein. Er kann die deutsche Führungsrollenicht mehr wahrnehmen. Außerdem ist er im vergangenenJahr – es ist traurig, aber wahr – auf der europäischenEbene im Ministerrat abgetaucht.
Das kann sich Deutschland nicht leisten.
Herr Gloser, ich stimme Ihnen zu: Wir müssen einenneuen Ansatz finden, auch die Bürger und Bürgerinnen ander europäischen Diskussion teilhaben zu lassen. Leiderhat Nizza die Dinge weiter verkompliziert. Die Bürgerblicken nicht mehr durch: Wer entscheidet wann, wo,was? Stichwort BSE: Sind die Schuldigen in der Europä-ischen Kommission, im Ministerrat oder in der Bundesre-gierung?
Wir brauchen einen anderen Ansatz. Die Themen müssenwieder in den Deutschen Bundestag. Wir müssen in derEuropäischen Union mehr Demokratie wagen. Dazu mussdas nationale Parlament einen wesentlichen Beitrag leis-ten.Die CSU wird in den nächsten Wochen ein Gutachtenzur Frage der zukünftigen Mitwirkung des DeutschenBundestages bei der europäischen Rechtsetzung vorle-gen. Wir brauchen ein maßgebliches Mitwirkungsrechtbei der europäischen Rechtsetzung.Herr Gloser, ich nehme das Stichwort COSAC auf.Natürlich brauchen wir auch eine andere Form der Zu-sammenarbeit der nationalen Parlamente in Europa. DieCOSAC muss weiterentwickelt werden. Dieses Themakann man allerdings in vier oder fünf Minuten inhaltlichnicht ausreichend diskutieren.Zu Nizza. Das Ergebnis von Nizza ist nicht befriedi-gend. Die Frage der Kompetenzabgrenzung – wasmacht Brüssel, was verantwortet Deutschland, was wirdvon den Ländern und was von den Kommunen verant-wortet? – soll jetzt angegangen werden, nicht 2004. Diesist ein Kernpunkt des Ergebnisses von Nizza. Wir stellenmit Freude fest: Diese Forderung der CSU, über Jahrehinweg erhoben, soll nun endlich umgesetzt werden.Wenn ich die heutige Debatte und den Vertrag – natür-lich im Lichte der Auseinandersetzung in der Entste-hungsphase – abwäge, denke ich, dass wir am Ende zu ei-ner Ratifizierung kommen müssen. Wir werden zu einerRatifizierung kommen, denn wir können uns nicht weiterezwei Jahre Ratifizierungsdebatten leisten. Wir müssennach vorne gehen und offensiv die Voraussetzungen fürdie Erweiterung schaffen. Auf die entscheidenden Fragenin diesem Zusammenhang hat die Bundesregierung nochkeine Antworten. Es gibt neue „leftovers“; sie hat neue„leftovers“ geschaffen.Die Bürgerinnen und Bürger – nicht nur in Deutsch-land, sondern auch in den Beitrittsstaaten – wollen wis-sen, wie das neue Finanzsystem in der EuropäischenUnion ausschaut. Wie wird die Osterweiterung finanziert?Im Augenblick ist der Finanzansatz vollkommen unzurei-chend. Die Osterweiterung ist bisher nicht finanziert. Esgibt kein Konzept der Bundesregierung, welchen Weg siebeschreiten will.Zur Agenda 2000. Wir brauchen eine grundlegendeReform der Agrar- und Strukturpolitik in der Europä-ischen Union. Die CDU/CSU hat bereits vor zwei JahrenVorschläge für die Agenda-2000-Verhandlungen vorgelegt.Ich nehme als Stichworte die nationale Kofinanzierung
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Günter Gloser14130
und die Deckelung der Finanzförderung der Großbe-triebe. Sie sind bei der Agenda 2000 in die Richtung mar-schiert, die Großbetriebe in Europa zu präferieren. Heute,im Angesicht der nationalen BSE-Debatte rudern Siezurück und nehmen unseren Begriff der flächen-deckenden, der bäuerlichen Landwirtschaft auf, die Sie inden letzten zwei Jahren mit aller Massivität getroffen undzu zerstören versucht haben.
Wo ist Ihr Konzept einer zukunftsweisenden Agenda fürdie Agrar- und Strukturpolitik?Die Bürgerinnen und Bürger wollen ein gerechtesSystem der Verteilung der Asyl- und Flüchtlingsströmein der Europäischen Union. Hier handelt es sich um ein„leftover“ der Schröder-Regierung.Die entscheidende Frage ist: Ist die Europäische Unionnach Nizza erweiterungsfähig? Ich meine: unter be-stimmten Voraussetzungen – ja. Wir müssen – ich kanndas nur noch kurz ansprechen – aber zu einer Differenzie-rung bei den Beitrittsstaaten kommen. Die Kriterien sind dieGrundlage. Der Erweiterungsprozess darf nicht überdehntwerden. Der Beschluss, die EU um zwölf Staaten auszu-weiten, war ein grundlegender Fehler, auch, dass sogar derTürkei ein Angebot unterbreitet wurde.
Hier brauchen wir einen neuen Denkansatz. Nicht jedesLand, das eine europäische Perspektive sucht, kann Voll-mitglied der Europäischen Union werden. Diesen Län-dern müssen Möglichkeiten einer abgestuften Integrationgeboten werden.
Ich denke dabei zum Beispiel an die Ukraine und an denBalkan. Wir können Europa nicht bis zum Ural ausdeh-nen, ohne zu sagen, wie das funktionieren soll.Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Problemder Bundesregierung ist: Die Lösung dieser zentralen Pro-bleme wird nicht angegangen. Der Kanzler hat kein euro-päisches Gewicht. Der Außenminister ist angeschlagen.Deutschland fehlt eine handlungsfähige, erfolgreiche Re-gierung zur Durchsetzung deutscher Interessen in Europa.Danke schön.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Markus Meckel, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Kol-leginnen und Kollegen! Herr Müller, mein Eindruck ist,dass Sie unter einem großen Wirklichkeitsverlust lei-den.
Wenn Sie berücksichtigen, bei welchen wichtigen Punk-ten, von denen wir alle gesagt haben, dass sie für uns zen-tral sind, wir vorangekommen sind, können Sie Ihr Urteilin keiner Weise belegen.Obwohl wir gemeinsam gern mehr durchbekommenhätten – das ist gar keine Frage, das ist auch deutlich dar-gestellt worden –, müssen wir eindeutig feststellen: Dieswar ein historischer und entscheidender Schritt, weil vonnun an das Tor für die Erweiterung offen ist. Das ist diePerspektive, aus der dies betrachtet werden muss. Dies istzehn Jahre nach den Umbrüchen in Europa wahrhaftigeine historische Perspektive.Sie haben eben davon gesprochen, dass Joschka Fischerdie deutsche Führungsrolle nicht mehr wahrnehmenkönne. Ich kann Ihnen nur sagen: Er will sie auch gar nichtwahrnehmen. Wir wollen keine deutsche Führungsrolle,sondern unseren Platz in diesem integrierten Europa.
.
Mit Führungsrolle hat das aber nichts zu tun. Wir habenuns schon einmal die Hörner daran gestoßen und ganz Eu-ropa ins Verderben geführt.Ein anderer Begriff, der in diesem Zusammenhang im-mer wieder falsch benutzt wird , ist der Begriff der euro-päischen Wiedervereinigung.Wir alle wollen eine euro-päische Vereinigung, aber ein „Wieder“ gibt es in dieserFrage nicht. Es gibt keinen historischen Zustand, zu demwir in irgendeiner Weise zurückkönnten oder -wollten.Wir wollen etwas Neues schaffen: ein Europa der Inte-gration, der Freiheit und der Demokratie. Leider habenwir dies in der Vergangenheit so nicht gehabt.
Was jetzt getan werden muss – ich denke, das ist einwesentlicher Erfolg –, ist, die Zeit bis zur Erweiterung,das heißt bis zur Teilnahme der ersten Staaten an der Eu-ropawahl im Jahr 2004, zu nutzen. Das ist ein ungeheuerehrgeiziger und wichtiger Schritt, der gemeinsam von denMitgliedstaaten als Zielvorstellung geäußert worden ist.Dies macht zugleich deutlich: In den Köpfen der Men-schen in den Beitrittsstaaten wird die Identifikation mitEuropa in dem halben Jahr zuvor verstärkt, weil es indiesen Ländern einen Europawahlkampf geben wird. Diesist für das gemeinsame Bewusstsein in Europa ungeheuerwichtig.
Natürlich ist dies ehrgeizig in Bezug auf die Verhand-lungen. Es bewirkt einen ungeheuren Druck bei denBeitrittsstaaten. Dieser Druck darf nicht nachlassen. DieAufgaben sind nach wie vor groß. Wir alle kennen dieschwierigen Bereiche. Aber ich sage gleichzeitig: Auchuns selbst trifft dieser Druck; denn bei jedem einzelnenKapitel und Punkt, über die verhandelt wird, müssen wiruns als Mitgliedstaaten auf eine gemeinsame Position
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2001
Dr. Gerd Müller14131
einigen. Wir wissen alle, dass dies vor den Wahlen in derEuropäischen Union nicht einfach wird. Aber dies istein zentrales Anliegen. Wir werden uns bemühen müs-sen, möglichst schnell eigene klare Positionen heraus-zuarbeiten.
Ein anderer Punkt ist mir ebenfalls wichtig, den wirgegenüber den Kandidatenstaaten zur Sprache bringenwollen. In den letzten Jahren haben immer wieder dieFrage des Beitritts, der Zeitpunkt des Beitritts eine zen-trale Rolle gespielt. Ich hoffe, dass wir jetzt nicht mehrimmer nur über die Einzelheiten des Beitritts reden, son-dern auch über die Perspektive Europas und über dieGestaltung des künftigen Europas verhandeln. Das ist einPerspektivenwechsel, der durch Nizza ermöglicht wordenist und den wir wahrnehmen müssen.Auch ist es gut, wenn wir in bilateralen Gesprächenversuchen, ein solches Ziel zu erreichen. Wir haben zumBeispiel im Rahmen der deutsch-polnischen Parlamen-tariergruppe geplant, im ersten Halbjahr dieses Jahres eingemeinsames Europapapier zu verfassen, das zwar keinvon den Parlamenten verabschiedetes Papier ist, aber denVersuch darstellt, Positionen abzustimmen und gemein-sam Fragen zu formulieren. Dabei wird man erkennenkönnen, wie unsere gemeinsame Vorstellung von Europaaussieht.Ich möchte noch einmal auf die innenpolitische Per-spektive zurückkommen, die Herr Gloser schon ange-sprochen hat. Es ist wichtig, die Ängste und Befürchtun-gen, die es in unserer Bevölkerung gibt, ernst zu nehmen.Dies müssen wir auf zweierlei Weise tun, wobei wir deut-lich zwischen irrationalen Ängsten, die auf Unkenntnisberuhen und durch übertriebene Thesen hervorgerufensind, und realen Ängsten differenzieren sollten. Wir brau-chen Informationen. Ich danke der Bundesregierung
und den vielen Initiativen, die durch Informationen deut-lich machen, dass viele dieser Befürchtungen irreal sindund dass die Gefahren nicht so sind, wie sie oft dargestelltwerden.
Es lässt sich natürlich nicht leugnen, dass es insbe-sondere in den Grenzregionen zu Belastungen kommt.Hier ist es zu begrüßen, dass es – dieser Punkt ist schonangesprochen worden – durch eine gemeinsame Initiativemit Österreich gelungen ist, deutlich zu machen – das hatHerr Verheugen als zuständiger Kommissar schonangekündigt –, dass diese Grenzregionen eine besondereUnterstützung brauchen. Dazu gehört natürlich zum einenGeld. Dies darf den Rahmen der Agenda 2000 nicht spren-gen, aber es gibt noch Mittel, auf die man zurückgreifenkann. Zum anderen ist es wichtig, dass es durch eine Flexi-bilisierung des Beihilferechtes ermöglicht wird, dass Na-tionalstaaten – bei uns sind auch die Länder ange-sprochen – in diesen Regionen tätig werden.
Die Bundesregierung plant entsprechende Schritte. Siewerden am 6. Februar dieses Jahres die Gelegenheithaben, eine Rede des Bundeskanzlers zu hören, in der ererste Überlegungen der Bundesregierung zur Förderungder Grenzregionen vorgetragen wird. Wir brauchen gera-de in diesem Bereich eine regionale Wirtschaftspolitik.Dazu laufen die Vorbereitungen.Ich möchte nun einen Punkt ansprechen, der im Rah-men der Integration noch nicht erwähnt wurde, und zwardie Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik undinsbesondere die europäische Sicherheits- und Verteidi-gungspolitik. Dabei geht es nicht, wie manche in Zeitun-gen immer wieder schreiben, um eine europäischeArmee – darauf möchte ich noch einmal deutlich hin-weisen –, also nicht darum, dass Europa jetzt aufrüstenwill. Es geht vielmehr um ein gemeinsames europäischesHandeln in den Fragen der Krisenprävention und desKrisenmanagements.Wir sollten ernst nehmen, dass auch der UN-General-sekretär die Bedeutung der Europäischen Union in diesenFragen anerkannt hat und ständige und engere Koopera-tionen zwischen den UN und der Europäischen Union an-strebt. Bis Ende dieses Jahres sollen sowohl im zivilen alsauch im militärischen Bereich erste operative Einsatz-fähigkeiten in Bezug auf das EU-Krisenmanagementgeschaffen werden. Da ist wahrhaftig eine ganze Mengezu tun.Der Vorteil der Europäischen Union in diesen Fragenist, dass wir anders als bei der NATO, der OSZE oder denUN verschiedene Kapazitäten zusammenführen können,und zwar politische, wirtschaftliche und die in Zukunftaufgebauten militärischen Kapazitäten, um die Krisen-prävention bzw. – wenn nicht anders möglich – das Mana-gement der Bewältigung von Krisen möglichst kon-zeptionell und im abgestimmten Handeln umzusetzen.Dies ist eine ganz zentrale europäische Aufgabe. Hier sindwir wesentliche Schritte vorangekommen.Neben dem Aufbau der dafür nötigen Institutionen istdas Wichtigste der politische Wille. Hier sind alle Betei-ligten gefordert. Hier kann man gerade angesichts desGipfels in Nizza und angesichts der Vergangenheit die Be-fürchtungen haben, ob es uns Europäern gelingt, gemein-sam handlungsfähig zu werden.Es gibt in Europa, in Deutschland und auch unter unseinige, die dem amerikanischen Handeln gegenüber, dasmanchmal durchaus unilateral ist, skeptisch eingestelltsind und sagen: Dies sollte nicht sein. – Gleichzeitig müs-sen wir uns aber fragen, ob wir als Europäer in diesen Fra-gen zu gemeinsamem Handeln fähig sind. Denn nur dann,wenn dies der Fall ist, werden wir gegenüber Amerika einentsprechendes Gewicht einbringen können. So werdenwir die transatlantische Zusammenarbeit auch in Sicher-heitsfragen stärken. Dies ist nicht, wie manche in Amerikadenken, ein Widerspruch. Es ist unsere zentrale Aufgabe,bei deren Bewältigung wir auch auf dem Gipfel in Nizzaein Stück weit vorangekommen sind und wofür wir inZukunft noch einiges zu tun haben.Ich danke Ihnen.
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Markus Meckel14132
Ich schließe die Aus-sprache.Herr Kollege Hirche, Sie fragten vorhin, wo der Bun-desaußenminister sei. Der Bundesaußenminister hat sichbeim Bundestagspräsidenten entschuldigt: Er nimmt amNeujahrsempfang des Diplomatischen Korps beimBundespräsidenten teil.
– Hier wurde nach dem Bundesaußenminister gefragt. Ichhabe Ihnen hiermit erläutert, dass er sich ausdrücklich ent-schuldigt hat.Wir kommen zu den Abstimmungen, und zwar zumEntschließungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf Druck-sache 14/5084. Wer stimmt für diesen Entschließungs-antrag der F.D.P.? – Die Gegenprobe! – Enthaltungen? –Der Antrag ist abgelehnt.Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angele-genheiten der Europäischen Union zu der Entschließungdes Europäischen Parlaments mit seinen Vorschlägen fürdie Regierungskonferenz, Drucksache 14/4980. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! –Enthaltungen? – Bei Gegenstimmen der CDU/CSU-Frak-tion und Enthaltung der F.D.P. ist die Beschlussempfeh-lung angenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:Erste Beratung des von den Fraktionen der SPDund des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Sozialgesetzbuchs –Neuntes Buch – Rehabilitation undTeilhabe behinderter Menschen– Drucksache 14/5074 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
InnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenVerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungHaushaltsausschussIch erlaube mir an die Bundesregierung folgende An-regung: Da wir alle nicht wissen müssen, in welchemKapitel des Sozialgesetzbuches was enthalten ist, ist esschön, dass in Klammern hinzugefügt worden ist, umwelches Thema es sich handelt, nämlich um den Bereichder Rehabilitation. Es wäre gut, wenn man in Zukunftebenso verfahren würde. Ich weiß natürlich, worum essich handelt; denn ich bin Sozialpolitikerin. Da uns alledies interessiert, wage ich, diese Anregung zu geben.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. Ich höre keinenWiderspruch. – Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bun-desminister für Arbeit, Walter Riester, das Wort.Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-zialordnung: Frau Präsidentin! Zunächst einmal herzli-chen Dank für die Anregung, ich werde sie aufgreifen.Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegendenNeunten Buch Sozialgesetzbuch zur Rehabilitationmacht die Bundesregierung in der Politik für behinderteund mit behinderten Menschen ihren zweiten Schritt. Denersten Schritt haben wir im letzten Jahr gemacht, indemwir das Schwerbehindertengesetz verändert haben, undzwar zusammen mit den Verbänden der Behinderten, derWirtschaft, den Gewerkschaften und behinderten Men-schen. Ich darf Ihnen kurz bilanzieren: Unser Ziel war undist es, in zwei Jahren 50 000 zusätzliche Arbeitsmög-lichkeiten für behinderte Menschen auf dem ersten Ar-beitsmarkt zu schaffen. Eine erste Zwischenbilanz: DieArbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen ist im Ver-gleich mit dem Dezember des zurückliegenden Jahres um13 000 zurückgegangen. Was mich fast noch mehr freut:Die Vermittlungsquote ist um 30 Prozent gestiegen.
Mit der Vorlage des Neunten Buches Sozialgesetzbuchgehen wir nun konsequent weiter, indem wir uns dafüreinsetzen, dass zur Fürsorge für behinderte Menschenüberall dort, wo es möglich ist, eine Politik entwickeltwird, die behinderte Menschen in die Lage versetzt,selbstverantwortlich ihr Leben zu bewältigen.
Dabei geht es in einem ersten Schritt darum, dieVielfalt der Angebote der Leistungsträger zu bündeln unddie zum Teil mühsamen Behördengänge, die gemachtwerden müssen, um Leistungen zu erhalten, zu verein-fachen und so die Dienstleistungen zum Menschen zubringen. Dies werden wir dadurch erreichen, dass wir aufKreisebene Servicestellen einrichten – die ersten Signaleder Leistungsträger zeigen, dass sie mitmachen –, in de-nen Leistung koordiniert angeboten wird und in denen be-hinderte und von Behinderung bedrohte Menschen Infor-mationen bekommen können. Damit hören die Wege vonPontius zu Pilatus auf, damit hört auf, dass man sich vorGerichten darüber streitet, wie weit Zuständigkeit derLeistungsträger geht. Wir möchten, dass die Dienstleis-tung zum Menschen kommt.
Im Sinne einer eigenverantwortlichen Unterstützungmöchten wir, dass diese Leistungen als Wunsch- undWahlrecht ausgestaltet werden und Leistungen dort, woes sinnvoll ist, als Geldleistungen gewährt werden kön-nen. Wir werden darüber hinaus Modellprojekte entwi-ckeln, mit denen geprüft werden soll, ob diese Leistungen
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auch in eigenen Budgets ausgewiesen werden können.Wir möchten damit den unterschiedlichen Interessen undden unterschiedlichen Voraussetzungen, die Menschenmit Behinderungen einbringen, auch bei den LeistungenRechnung tragen.Dies ist ein weiterer wichtiger Schritt, der durch einendritten Punkt ergänzt wird: Wir wollen eine die Trägerübergreifende Qualitätssicherung der Leistung herbei-führen. Insgesamt wollen wir: Dienstleistung zum Men-schen bringen, ein Wahlrecht der Leistung und eine dieTräger übergreifende Qualitätssicherung.
Konsequent muss die Leistung der medizinischen Re-habilitation und der Eingliederung in den Arbeitsprozessdurch die Leistungen der Träger der Sozialhilfe und deröffentlichen Jugendhilfe ergänzt werden. Wir werden sieeinbeziehen, um die Gesamtheit der Rehabilitation imNeunten Buch Sozialgesetzbuch zusammenzufassen.Dabei werden wir die Leistungen der Sozialhilfe weiter-hin als nachrangige Leistungen vorsehen, wollen sie aberintegrieren, um den Leistungsanspruch in seiner Gesamt-heit zu fasssen und Übersichtlichkeit herbeizuführen.Bei den Leistungen der Sozialhilfe für die medizini-sche Rehabilitation und die Eingliederung wollen wir aufdie Bedürftigkeitsprüfung verzichten und damit sicher-stellen, dass von Geburt an Behinderte nicht anders be-handelt werden als Menschen, die nach einem Unfall,zum Beispiel im Kindergarten, behindert werden. Auchhier muss für Gleichheit gesorgt werden.Nächster Punkt. In dem von mir angesprochenenSchwerbehindertengesetz haben wir erstmals festgelegt,dass schwerbehinderte Menschen bei der Eingliederungin den Arbeitsprozess Unterstützung durch eine Arbeits-assistenz bekommen, und zwar dort, wo es dringendnotwendig und erforderlich ist. Diese Regelung wollenwir im Neunten Buch Sozialgesetzbuch konsequent auchauf andere Leistungsträger ausdehnen; denn ohne Ar-beitsassistenz ist es für viele schwerbehinderte Menschennicht möglich, den entsprechenden Weg zu gehen.
Ein nächster wichtiger Punkt, den wir im Gesetz regelnwollen, betrifft die Menschen, die gehörlos sind. Gehör-lose Menschen werden zukünftig einen Rechtsanspruchauf Unterstützung haben, damit sie sich auf den Ämternund bei Inanspruchnahme von Leistungen in der Laut-und Gebärdensprache verständlich machen können; dennohne Unterstützung bleibt ein Leistungsangebot fürgehörlose Menschen sinnlos. Sie werden dadurch in derLage sein, sich in der Laut- und Gebärdensprache ver-ständlich zu machen.
Damit gehen wir in der Politik für und – ich betone –mit behinderten Menschen einen neuen und entscheiden-den Schritt, und zwar nicht nur quantitativ, sondern auchqualitativ. Mir ist dies sehr wichtig. Wir werden – ichkündige das schon an – als weiteren Schritt das Gleich-stellungsgesetz angehen, indem wir den dritten Teil desbetroffenen Bereichs für und mit behinderten Menschenregeln. Ich bin mir sehr sicher, dass wir unsere Gesell-schaft durch diese rechtlichen Schritte und vor allemdurch eine veränderte Praxis menschlicher gestalten. EineGesellschaft zeichnet sich dadurch aus, wie insgesamtmiteinander umgegangen wird und wie mit Behinderun-gen und Nichtbehinderungen umgegangen wird.
Für die CDU/CSU-
Fraktion erteile ich das Wort der Kollegin Claudia Nolte.
Sehr geehrte Frau Präsi-dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht heute inder Tat um ein sehr entscheidendes Gesetz in der Behin-dertenpolitik, ein Gesetz, um das lange gerungen wurdeund das die Chance bietet, dass sich der Paradigmen-wechsel, den wir in den letzten Jahren in der Behinder-tenpolitik verfolgen konnten, in einem Gesetz nieder-schlägt.
Das ist ein weiterer Schritt in der Rehabilitation und derEingliederung von Menschen mit schweren Behinderun-gen.Ich bedaure es sehr, dass es in unserer Regierungszeitnicht gelungen ist, ein SGB IX auf den Weg zu bringen.
Liebe Kollegen von der SPD und von den Grünen, beinäherer Betrachtung des Gesetzgebungsverfahrens unddessen, was wir jetzt vor uns haben, ahne ich langsam,warum uns das nicht gelungen ist. Wir hatten einfach zuhohe Ansprüche.
Auch die Ansprüche und Erwartungen der Behinderten-verbände waren damals deutlich höher als heute.
Um was geht es uns beim SGB IX? Derzeit gibt es einleistungsfähiges Eingliederungs- und Rehabilitations-recht mit hohen Leistungsansprüchen. Wir haben einge-spielte Verfahren der Selbstverwaltung und kompetenteInteressensvertretungen im Bereich der Behinderten-organisationen und -verbände. Eigentlich ist das heutigeSystem gut. Das vorhandene gegliederte System sichertKompetenz, Leistungsfähigkeit und Wettbewerb. Aberdas Problem ist, dass das verzweigte System für den Be-troffenen intransparent ist, dass er gar nicht so recht weiß,welche Leistungsansprüche er hat, dass dieses Systemsehr stark vom Fürsorgegedanken und weniger von derEinsicht geprägt ist, dem Betroffenen vor allem ein selbst-bestimmtes Leben zu ermöglichen.
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Bundesminister Walter Riester14134
Außerdem gibt es oft ein Nebeneinander und wenigerein Miteinander der Reha-Träger. Dort, wo die Kompe-tenzen unklar sind, gibt es sehr lange Verfahrenswege.Deshalb muss es doch in einer neuen Kodifizierungdes Rehabilitations- und Eingliederungsrechtes darumgehen, größere Transparenz sicherzustellen, den Betrof-fenen mehr Wahlfreiheit zu ermöglichen, eine bessereZusammenarbeit von Leistungsträgern, Einrichtungenund Betroffenen zu bewerkstelligen sowie eine höhere Ef-fizienz zu erreichen. Das erfordert ein Stück weit aucheine bessere Abstimmung der einzelnen Leistungsgesetzeaufeinander.Zudem gab es zu unserer Zeit auch noch die Erwartung,dass mit einem SGB IX auch Leistungsverbesserungenverbunden sind. Diesen Zahn hat uns die jetzige Koalitionschon bei der Festlegung der Eckpunkte gezogen. DiesenErwartungen ist sie durch den Finanzierungsvorbehaltkonsequent entgegengetreten.
Das also ist gar nicht erst angedacht worden.
Aber auch bezüglich der anderen Ziele, über die es indiesem Haus eigentlich eine große Übereinstimmunggibt, hat dieses Gesetz die Erwartungen überhaupt nichterfüllt.
Die Regelungen werden komplizierter, sie werden nichttransparenter, sondern undurchsichtiger,
und sie sind mit einer größeren Bürokratie verbunden.Durch die Einführung neuer unbestimmter Rechtsbegriffegibt es auch neue Unsicherheiten. Es wird also erst einenlangen Weg durch die Instanzen geben, bis klar ist, wel-ches Recht neu kodifiziert wurde.
Zudem sind Ansätze vorhanden, die deutlich machen,dass hier eine andere Philosophie zum Tragen kommt:weniger Selbstverwaltung und mehr staatlicher Dirigis-mus.Auch vom Gesetzestechnischen her finde ich den Ent-wurf höchst unbefriedigend. Viele Inhalte werden inVerordnungen abgeschoben. Man muss sich das einmalvorstellen: Allein in das erste Kapitel haben Sie16 Verordnungsermächtigungen hineingeschrieben. EinParlament, das das mit sich machen lässt, macht sich baldselbst überflüssig.
Letztlich fehlt diesem Entwurf die Vision eines moder-nen Rehabilitationsrechtes. Eigentlich schreiben Sie denStatus quo fest; Sie machen lediglich aus zwei Gesetzeneines. So wird zum Beispiel nicht deutlich, wie dieSelbstbestimmung des Betroffenen sichergestellt werdensoll. Wie wollen Sie dem Prinzip „ambulant vor stationär“zur Durchsetzung verhelfen? Sie schreiben das zwarhinein, aber machen nicht deutlich, wie das praktischeVerfahren aussehen soll.
– Ja, die Regelung zum Wunsch- und Wahlrecht ist ge-kennzeichnet von dem Bemühen, es allen recht machen zuwollen: den Leistungsträgern, die bezahlen müssen, denEinrichtungen, deren Existenz gesichert sein soll, aberauch den Betroffenen.
So kommt eine Wischiwaschi-Lösung heraus, bei derüberhaupt nicht klar wird, wo Sie stehen. Letztendlichscheuen Sie den Streit mit den etablierten Einrichtungen.Diese fehlende Vision wird am deutlichsten, wenn mansich das Gesetzgebungsverfahren anschaut. Es gabkeinen Entwurf, von dem Sie sagen konnten: Das ist unserKonzept, damit ist uns ein großer Wurf gelungen.Stattdessen haben Sie eine Flut von Gesetzentwürfen pro-duziert, mit einer Halbwertzeit, die am Ende drei Wochenbetrug.
Man ist überhaupt nicht mehr mitgekommen. Anhand derÄnderungen, die gegenüber dem Vorgängerentwurf vor-genommen wurden, konnte man ziemlich genau sehen,wer der letzte Gesprächspartner des Ministeriums war.
Sie müssten doch selber eine Konzeption haben, anstattzu versuchen, alles glatt zu ziehen und es jedem rechtmachen zu wollen. Wie wir wissen, kommt dabei am Endenichts Gescheites heraus.
– Im Gegensatz zu Ihnen habe ich sogar jeden Ände-rungsentwurf gelesen, lieber Herr Kollege.Ich sage für die CDU/CSU-Fraktion noch einmal ganzdeutlich: Wir halten ein Sozialgesetzbuch IX für richtigund notwendig. Dazu gehört meines Erachtens, dass dieverschiedenen Leistungsgesetze aufeinander abgestimmtwerden – ein Ansatz, der in diesem Gesetzentwurf fehlt.Ebenso ist es unumgänglich, eine befriedigende Lösungfür die Eingliederungshilfe zu finden, insbesondere fürdie Frage des Nachranggrundsatzes.Es gab einmal eine Opposition aus SPD und Grünen,die vehement ein Leistungsgesetz für Menschen mit
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Claudia Nolte14135
Behinderung forderte. Tun Sie es doch jetzt, wo Sie eskönnen, verdammt noch mal!
Die Sozialhilfeträger zu Rehaträgern zu erklären,sie aber ausdrücklich im Bundessozialhilfegesetz zu be-lassen – sodass man dann natürlich auch den Prinzipiendes Bundessozialhilfegesetzes unterworfen ist –, ist einerder eklatantesten Konstruktionsfehler in diesem Gesetz-entwurf. Dadurch kann es am Ende keine befriedigendeLösung geben. Das wird auch nicht dadurch besser, dassSie auf die ursprünglich geplanten Verschlechterungen imSozialhilferecht schlussendlich verzichten.Ein weiterer problematischer Punkt – es kam dazuschon ein Zwischenruf – sind die Servicestellen. Ich un-terstelle einmal, sie sind gut gemeint. Aber bekanntlich istdas Gegenteil von gut nicht böse oder schlecht, sonderngut gemeint. Was bedeutet das in der Konsequenz? DieServicestellen sollen beraten und unterstützen, sie sollenentscheidungsreife Vorlagen für die Rehaträger erar-beiten. Sie müssen also professionell arbeiten, haben aberkeine Entscheidungskompetenz. Diese können sie auchnicht haben, weil letztendlich die Rehaträger entscheidenmüssen, denn sie sind diejenigen, die das Geld geben. Siekönnen nicht Finanz- und Entscheidungsverantwortungtrennen.Dies bedeutet aber letztendlich, dass die Servicestellenzur Barriere werden. Es kommt zu einem höheren Zeit-aufwand, zu mehr Bürokratie, weil eine Stelle erst einmalalles vorab regelt, was am Ende der Rehaträger noch ein-mal regelt. Dies führt zu mehr Frust bei den Betroffenen,aber auch bei denjenigen, die in den Servicestellen und beiden Rehaträgern arbeiten. Reibungsverluste sind vorpro-grammiert. Die Akten werden von einem zum anderengeschoben werden und jeder wird sagen: Wir sehen garnicht ein, wie die anderen das entschieden haben. – Sokann es nicht funktionieren.
Frau Kollegin, den-
ken Sie bitte an die Redezeit.
Ich komme zum Schluss.
Die Kollegen geben mir eine Minute ihrer Redezeit ab.
Ich möchte meinen Gedanken noch zu Ende führen.
Wenn Sie das nicht wollen, müssten die Servicestellen
Entscheidungskompetenz bekommen. Aber dann müssten
Sie sich vom gegliederten System verabschieden, hätten
ein Einheitssystem und müssten dafür sorgen, dass Ent-
scheidungs- und Finanzkompetenz zusammenfallen.
Es ist nicht zu verhehlen, dass das ganze Gesetz von
solchen Tendenzen gekennzeichnet ist: mehr Kompetenz
der BAR, mehr Kompetenz und mehr Mitspracherechte
der Länder und der Bundesregierung bei der Ver-
sorgungsplanung. Diese Tendenzen heißen wir nicht gut.
Ich bedaure sehr, dass unser Angebot zur Zusammen-
arbeit von Ihnen zu keinem Moment ernsthaft geprüft
oder gar angenommen worden ist. Ich weiß nicht, wie wir
im Laufe der Beratung unsere grundsätzlichen Bedenken
ausräumen wollen. Wir haben ein wenig den Eindruck,
dass Sie dieses Gesetz gern im Windschatten der Debatte
über die Rente und die Mitbestimmung still durchziehen
wollen.
Ich hoffe, dass es uns trotzdem im Zuge der Beratungen
gelingt, die groben Schnitzer aus diesem Gesetz zu ent-
fernen.
Vielen Dank.
Nun erteile ich derKollegin Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen,das Wort.
legen! Ich glaube nicht, dass ausgerechnet dieses Gesetzsich dazu eignet, es im Windschatten über die Bühne zubringen. Wir haben darüber auch sehr offen und viel dis-kutiert.Behindert ist man nicht, behindert wird man – die Bun-desregierung hat sich zum Ziel gesetzt, diesem ein Endezu bereiten. Ich freue mich, dass wir nach der bereits voll-zogenen und längst überfälligen Novelle des Schwerbe-hindertengesetzes heute das nächste große Reformprojektauf den Weg bringen, das wir Menschen mit Handicap inunserer Koalitionsvereinbarung versprochen haben.
Das SGB IX steht für die Zusammenführung und Ver-einfachung des Rehabilitationsrechts.
Sie haben selbst gerade zugegeben, dass es diesen An-spruch auch tatsächlich erfüllt. Seit vielen Jahren, ja fastschon Jahrzehnten, wurden immer wieder Bemühungengestartet, die Rehabilitationsleistungen in einem neuenSozialgesetzbuch zusammenzuführen und so zu verein-heitlichen. Ich bin sehr froh, dass uns dies nach nur ein-einhalb Jahren Vorbereitungszeit und Diskussion – wirsind die erste Bundesregierung überhaupt; auch daraufhaben Sie gerade verwiesen – gelungen ist.Es ist den beiden Regierungsfraktionen nicht alleingelungen. Sie haben es vielmehr durch intensive Zusam-menarbeit mit den Behindertenverbänden, den Selbsthil-feinitiativen und mit vielen einzelnen Menschen mitHandicap geschafft, denen wir zu danken haben, dass sieunsere Arbeit stets kritisch und konstruktiv begleitethaben.
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Claudia Nolte14136
Vielfach wurden die Hürden beschrieben, die behin-derte Menschen aufgrund der unterschiedlichen Regelun-gen und Zuständigkeiten zu überwinden haben, um Hilfenzu bekommen, natürlich ganz zu schweigen von den Hür-den, die ihnen das Leben sowieso schon bereitet. Mitdiesem Gesetz vereinfachen wir nicht nur das Rehabilita-tionsrecht durch die Zusammenführung in einem zen-tralen Gesetzbuch, sondern garantieren vor allem schnelleund verlässliche Bearbeitungszeiten.
Genau dazu schaffen wir die Service- und Beratungsstel-len. Ich denke, dass das Ziel erreicht wird. Ich glaubeauch, dass viele darauf sehr lange gewartet haben und jetztzu Recht froh sind.
Meines Erachtens wurden gerade die viel zu langenWartezeiten völlig zu Recht kritisiert. Es wurde kritisiert,dass sich Zuständigkeiten überschneiden und dasseinzelne Rehabilitationsschritte nicht nahtlos ineinanderübergehen. Rehabilitation ist nun einmal ein dynamischerProzess und die zum Teil lebensnotwendigen Bedarfe vonMenschen lassen sich nicht durch Gesetzbücher begren-zen und sie enden nicht an den Türen einzelner Institutio-nen.Ich möchte den Befürchtungen einiger Rehaträger ent-gegentreten, dass es mit der Einrichtung gemeinsamerServicestellen darum gehe, Zuständigkeiten zu entziehenoder einen neuen Verwaltungsapparat zu schaffen. Es gehtvielmehr darum, vorhandene Ressourcen zu bündeln.Dazu zählt für uns neben den bereits verankerten Reha-trägern vor allem die Behindertenselbsthilfe, die in dieKoordinations- und Beratungstätigkeit zukünftig ver-stärkt einbezogen wird. Auch das ist ein wirklich neuerSchritt.Wir begrüßen – der Minister hat darauf hingewiesen –,dass nach dem Bundessozialhilfegesetz in Zukunft bei derberuflichen und medizinischen Rehabilitation die Be-dürftigkeitsprüfung entfällt. Für viele in den Werkstät-ten beschäftigte behinderte Menschen bedeutet das, dasssie ihren Arbeitsplatz in der Werkstatt mit ihrem Einkom-men endlich nicht mehr mitfinanzieren müssen. Entfallenwird damit ebenso die von vielen als entwürdigend emp-fundene Antragstellung und Überprüfung persönlicherLebensverhältnisse.Damit beenden wir endlich die bislang bestehende Un-gerechtigkeit im Leistungsrecht, das immer zwischenMenschen, die von Geburt an behindert sind, und Men-schen, die erst im späteren Leben, zum Beispiel durch ei-nen Unfall oder eine Erkrankung, zu Behinderten wurden,unterschieden hat. Auch hier wird deutlich: Die Situationder Menschen mit Handicap steht im Mittelpunkt unsererPolitik.
Darüber hinaus haben wir im SGB IX endlich eine Lö-sung der Umwidmungsproblematik der Behindertenein-richtungen gefunden. Kein Mensch mit Behinderung darfaus Kostengründen aus einer Einrichtung der Behinder-tenhilfe in eine Pflegeeinrichtung verlegt werden. Das ha-ben wir seit vielen Jahren fraktionsübergreifend gefor-dert. Wenn, so sagt dieser Gesetzentwurf, die notwendigePflege in der Einrichtung nicht geleistet werden kann undeine Verlegung aus medizinischen Gründen in eine andereEinrichtung notwendig ist, dann wird das nicht über denKopf des oder der Betroffenen hinweg entschieden. Beiden Verhandlungen der Einrichtungsträger muss auch derWunsch des Menschen mit Behinderung berücksichtigtwerden. Das ist ein großer Erfolg in Richtung Selbstbe-stimmung.
Bündnis 90/Die Grünen haben sich besonders dafürstark gemacht, dass neben der Kompetenz der verschie-denen Rehabilitationsfachgebiete nun auch die bisherweitgehend ungenutzte und nicht selten an den Rand ge-drängte Ressource der Selbsthilfe und des Expertentumsder Betroffenen in den Rehabilitationsprozess einge-bracht und gleichberechtigt behandelt wird. Viele Be-richte von Betroffenen zeigen, dass es gerade das Zusam-mentreffen und die vielen kleinen Tipps andererBetroffener waren, die sie motiviert haben, mit ihrer Be-hinderung besser umzugehen, neue Herausforderungenanzunehmen und sich der persönlichen Situation oder derBürokratie nicht ausgeliefert zu fühlen.Ein anderer für uns vom Bündnis 90/Die Grünen zen-traler Aspekt dieses Gesetzentwurfs ist die Stärkung derWahlfreiheit von Menschen mit einem Handicap. Wennwir es mit der Förderung eines selbstbestimmten Lebensvon behinderten Menschen ernst meinen, dann müssenwir uns von überkommenen paternalistischen Herange-hensweisen in der Behindertenpolitik und in der Behin-dertenarbeit Schritt für Schritt verabschieden.
Behinderte Menschen und deren Angehörige müssen wirstattdessen als kompetente und auch kritische Kundinnenund Kunden von Dienstleistungen begreifen.
Die Eröffnung der Inanspruchnahme eines persönlichenBudgets sowie die damit verbundene Möglichkeit derSelbstorganisation und der selbstbestimmten Wahl derHilfen ist ein echter Quantensprung in der deutschen Be-hindertenpolitik in Richtung Selbstbestimmung.
„Persönliches Budget“ darf aber kein anderer Aus-druck für „Einsparungen“ sein. Es ist wie die Sachleistungein Leistungsangebot, das die Rehabilitation und die För-derung eines selbstbestimmten Lebens von Menschen mitBehinderung zum Ziel hat. Vor allem geht es uns darum,ein weiteres Instrument für die Stärkung der Wahlfreiheit
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Katrin Göring-Eckardt14137
der Betroffenen zu schaffen, sodass auch weiterhin dieWahl zwischen verschiedenen Formen der Inanspruch-nahme von Leistungen besteht. Hierbei wird das persön-liche Budget in Zukunft ein wichtiges Instrument sein.Wir begrüßen es außerordentlich, dass das SGB IX fürden Bereich des Sozialrechtes die deutsche Gebärden-sprache bzw. die lautsprachbegleitenden Gebärden alsSprache der gehörlosen und ertaubten Menschen aner-kennt. Das bedeutet, dass sie zukünftig bei allen Beratun-gen, zum Beispiel beim Arztbesuch, einen Gebärdenspra-chedolmetscher oder eine -dolmetscherin hinzuziehenkönnen. Das ist ein bedeutsamer Schritt für gehörlose undertaubte Menschen und ein längst überfälliger Schritt ineine moderne Gesellschaft ohne Barrieren.
Das SGB IX ist der erste Schritt, Art. 3 Abs. 3 desGrundgesetzes „Niemand darf wegen seiner Behinderungbenachteiligt werden“ umzusetzen. Wo das Sozialrechtbetroffen ist, haben wir einen Antidiskriminierungs-grundsatz mit der nötigen Beweislastumkehr eingeführt.Wenn also zum Beispiel ein Arbeitgeber in Zukunft einenBeschäftigten nicht einstellt, dann muss er gegebenenfallsbegründen, dass diese Absage nichts mit der Behinderungdes Arbeitsuchenden zu tun hatte. Auch hier handelt essich um einen großen Fortschritt. Das gilt ebenso für dieVerbesserung der Situation von Frauen mit Behinde-rungen oder von allein erziehenden Müttern oder Väternmit behinderten Kindern.Auch wenn die finanziellen Rahmenbedingungen – da-rauf ist hingewiesen worden – es nicht erlaubt haben, alleWünsche aufzugreifen, so haben wir es hier dennoch miteinem ganz klaren Abbau von Barrieren im Sozialrecht zutun. Wir befinden uns auf einem gutem Weg, was dieSchaffung von 50 000 neuen Arbeitsplätzen für behin-derte Menschen angeht, und Sie können sicher sein, dasssich meine Fraktion auch mit allem Nachdruck dafür ein-setzen wird, dass ein Antidiskriminierungsgesetz fürMenschen mit Behinderungen geschaffen wird.
Das Vertrauen, das wir bei Menschen mit Behinde-rungen geschaffen haben, sollten wir nicht leichtfertigaufs Spiel setzen. Es kann nicht sein, dass wir auf der ei-nen Seite hier und heute gemeinsam unser Engagementfür behinderte Menschen kundtun und auf der anderenSeite den Menschen, für die wir nun Antidiskriminie-rungsregelungen durchsetzen, das Lebensrecht abspre-chen.
Wir müssen uns zu unseren ethischen Grundwerten be-kennen und zur Kenntnis nehmen, dass wir Familien mitden abstrakten Versprechungen der Gentechnik zuneh-mend verunsichern.
Natürlich wünschen sich Eltern ein gesundes Kind. Dochwer bestimmt überhaupt noch, wie viele vorgeburtlicheUntersuchungen eine Frau über sich ergehen lassen muss,um herauszufinden, wie gesund das Kind in ihr ist? Mög-licherweise wird festgestellt, dass das Kind behindert seinwird. Müssen dann nicht wir Politiker, aber auch unsereGesellschaft alles daran setzen, dass die Beantwortungder Frage, ob das Kind auch wirklich ausgetragen wird,nicht davon abhängt, ob die Gesellschaft alle notwendigeUnterstützung und Begleitung anbieten kann?
Ich wünsche mir, dass gesellschaftliches Miteinandervon Menschen mit Behinderung und Menschen ohne Be-hinderung eine Bereicherung für beide Seiten bleibt, undbedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Nun erteile ich dem
Kollegen Dr. Heinrich Kolb für die F.D.P.-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte ist derzumindest vorläufige Abschluss eines Verfahrens, das ichin zehn Jahren in diesem Hohen Haus noch nicht erlebthabe und das mir rückblickend wie ein Selbstfindungs-prozess der rot-grünen Koalition vorkommt.
Von der Koalitionsvereinbarung bis heute haben Sie sichzwei Jahre lang über Eckpunkte, mehrere Diskussions-entwürfe, einen Vor-Referentenentwurf und den jetzigenGesetzentwurf der Koalitionsfraktionen in einem sehrzähen Verfahren von Ihren überaus ehrgeizigen Zielenverabschiedet. Sie legen heute – ich muss es leider so sa-gen – ein Sammelsurium von Vorschriften vor, das vielebehinderte Menschen und Verbände mit Recht als enttäu-schend empfinden. Der große Wurf ist es in jedem Fallenicht.
Dass die Bundesregierung, obwohl BundesministerWalter Riester den Entwurf gestern der Presse vorgestellthat, sich das Vorhaben nicht per Kabinettsbeschluss zu Ei-gen gemacht hat, unterstreicht in besonderer Weise dieQualität der Vorlage. Herr Minister Riester, auch die ge-ringe Begeisterung, mit der Sie den Gesetzentwurf heutehier eingeführt haben, ist darauf ein Hinweis.
Meine Damen und Herren, die behinderten Menschenin unserem Lande haben lange auf dieses Gesetz gewar-tet. Sie haben sehr viele Vorschläge ein- und sehr viel Ge-duld aufgebracht. Belohnt werden sie dafür leider nicht.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2001
Katrin Göring-Eckardt14138
Ich will einige Punkte nennen. Das Wahl- und Wunsch-recht der behinderten Menschen zwischen Geld- undSachleistungen – ein begehrter Wunsch der Betroffenen –wurde gewährt, aber nur eingeschränkt. Voraussetzung istgleiche Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit. Der Nach-weis ist vom Behinderten zu erbringen, was im Einzelfallnur schwer gelingen wird.Was das persönliche Budget angeht, so wird es nur dieErprobung im Modellvorhaben geben. Das Ob und Wieentscheidet allein der Rehabilitationsträger. Das ist – dasmuss ich sagen – nach den vielen vollmundigen Ankündi-gungen und Erklärungen aus den Reihen der Koalitioneine große Enttäuschung für die Betroffenen.Schon diese beiden Punkte zeigen: Das rot-grüne Glau-bensbekenntnis zieht sich bedauerlicherweise auch durchdas SGB IX. Den Menschen wird nicht zugetraut, dass sieselbst am besten wissen, was gut für sie ist. Für rot-grünePolitiker kann und muss das – so sieht es aus – nur derStaat entscheiden. Sie wollen normierte Einheitsleistun-gen. In dem Bemühen um die Einheitlichkeit der Leis-tungserbringung weisen sie die Planung und Steuerungdes gesamten Leistungsgeschehens den Rehabilitati-onsträgern zu. Die freien Träger von Diensten und Ein-richtungen werden in ihrem Entwurf zu rein ausführendenStellen degradiert.Für uns aber ist die Ausrichtung auch des SGB IX anden schon im Bundessozialhilfegesetz und SGB XI be-währten Grundsätzen der Subsidiarität und des Wettbe-werbs unverzichtbar.
Die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinde-rung erfordert Wahlfreiheit, das heißt die Möglichkeit, auseiner möglichst großen Vielfalt von Angeboten freier, imWettbewerb stehender Leistungserbringer auszuwählen.Wir haben die große Sorge, liebe Kolleginnen und Kol-legen, dass mit Ihrer Konzeption gerade für die Menschenmit schweren geistigen und mit mehrfachen Behinderun-gen und auch für deren Eltern keine Verbesserungen er-reicht werden. Ich sage das wegen des auch weiterhingeltenden, ja zementierten Grundsatzes der Nachran-gigkeit der Sozialhilfe. Ich sage das auch wegen der Fest-schreibung der lebenslangen Unterhaltspflicht für Elternstationär betreuter Menschen mit schwerster geistigerbzw. mehrfacher Behinderung. Diese Eltern, die oft jahr-zehntelang ihr schwerst behindertes Kind zu Hause be-treut und versorgt haben, müssen – wie andere Elternnicht behinderter Kindern auch – irgendwann einmal dasGefühl haben dürfen, aus der Pflicht zum Unterhalt ent-lassen zu werden, Vermögen ansparen und eine Altersver-sorgung aufbauen zu können, die in etwa dem Niveau ver-gleichbarer Eltern nicht behinderter Kinder entsprechen.Wir unterstützen jedenfalls die Forderung, die Heran-ziehung unterhaltspflichtiger Eltern für die Kosten derBetreuung, Förderung und Pflege ihrer behinderten Söhneund Töchter auf den Zeitraum bis zur Vollendung des27. Lebensjahres zu begrenzen.
Lassen Sie mich auf einen anderen Punkt zu sprechenkommen. Die zwangsweise Schaffung der örtlichen Ser-vicestellen der Rehaträger nach § 23 SGB IX bis Ende2002 ist unglücklich. Sie wird wohl – das steht zu be-fürchten – nur Kosten verursachen und in Wirklichkeitnichts bringen. Ich frage: Was soll der Zwang, wo sichdoch die Kostenträger der Reha bereits auf eine weitge-hende freiwillige Zusammenarbeit verständigt haben undwenn am Ende und zuletzt doch wieder der einzelne Re-haträger entscheidet? Ich stimme Frau Nolte zu: Hier wirdnur unnötige Bürokratie geschaffen.
Ihr Gesetzentwurf beinhaltet erhebliche rechtliche undfinanzielle Risiken. Die Sozialhilfeträger werden auf ei-nen Schlag Rehaträger. Abgrenzungsschwierigkeitensind vorprogrammiert. Das gesamte soziale Leistungssys-tem wird von heute auf morgen geändert, ohne dass vor-her in ausreichendem Umfang verfassungsrechtliche oderfinanzielle Überprüfungen vorgenommen worden wären.Das Rehasystem, meine Damen und Herren von Rot-Grün, ist auf die Sozialhilfe, die sich als lebenslangeEingliederungshilfe für Behinderte von kurzfristigen Re-hamaßnahmen unterscheidet, nicht zu übertragen. Leis-tungsverschlechterungen können daher nicht ausge-schlossen werden; eine vollständige Bauchlandung derKoalition mit ihrem Vorschlag übrigens ebenfalls nicht.Leider gilt – ich sagte das bereits – auch weiterhin derNachranggrundsatz des Bundessozialhilfegesetzes. Dasist deswegen bedauerlich, weil damit auch in Zukunftnicht ausgeschlossen werden kann, dass behinderte Men-schen in Pflegeeinrichtungen abgeschoben werden, umLeistungen aus der Pflegeversicherung zu beziehen. Dazutragen auch die Abgrenzungsschwierigkeiten zwischenBundessozialhilfegesetz und Pflegeversicherung bei. Aufdie Klärung dieses Punktes werden wir in den kommen-den Beratungen besonders achten.Immerhin wird für die erwerbsfähigen Menschen mitBehinderung das wichtige Thema Arbeitsassistenzenendlich geregelt. Aber die schwerstbehinderten Menschenin den Werkstätten haben wieder das Nachsehen, wieschon zuvor beim Gesetz zur Bekämpfung der Arbeitslo-sigkeit Schwerbehinderter. Sie gehen leer aus.Im Übrigen ist festzustellen, dass sich durch den ge-samten Gesetzentwurf ein roter Faden von Ungereimthei-ten und programmierten Fehlentwicklungen zieht. So istzum Beispiel nach § 29 SGB IX die Förderung von Selbst-hilfegruppen, -organisationen, oder Kontaktstellen vorge-sehen. Die gleiche Bestimmung findet sich in § 20 Abs. 4SGB V. Wer soll denn nun was fördern? Oder erhaltendiese Gruppen etwa Geld aus beiden Töpfen?In § 18 SGB IX ist vorgesehen, dass Sachleistungender Rehabilitation auch im Ausland erbracht werden kön-nen, wenn dort gleiche Qualität und Wirksamkeit billigergeleistet werden können. Aber ich frage Sie: Warum nurim Ausland? Warum wird der Vorrang der Belegung derEigeneinrichtungen durch die Rentenversicherungsträgernicht beseitigt?
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Dr. Heinrich L. Kolb14139
Wenn im Ausland Sachleistungen der Rehabilitation beinachgewiesener Wirtschaftlichkeit erbracht werden kön-nen, warum verwehren Sie das dann privaten Kliniken imInland?
Es bleibt festzuhalten: Der jetzt vorliegende Gesetz-entwurf für ein SGB IX bleibt hinter den Erwartungen derbehinderten Menschen zurück. Er beseitigt nicht denNachranggrundsatz der Sozialhilfe. Er bringt zu wenig fürdie Behinderten in den Werkstätten und für ihre Familien.Er schafft eine Fülle von Unsicherheiten für die Rehabili-tations- und Sozialhilfeträger.Ich schlage Ihnen vor, mit dem gesamten Entwurf nocheinmal in die interne Beratung zu gehen. Es hat mehrereDiskussionsentwürfe gegeben. Da erwartet man fastschon einen zweiten Referentenentwurf. Wenn Sie das al-lerdings nicht tun, dann erwartet uns eine Menge Arbeitim Ausschuss, um den Entwurf der Realität und den Be-dürfnissen der Menschen anzupassen. Um der Sache undum der Menschen willen sind wir aber auch dazu bereit.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Dr. Ilja Seifert, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine liebenKolleginnen und Kollegen! Die große Umwälzung derbevormundenden Behindertenpolitik findet heute wirk-lich nicht statt. Aber, à la bonne heure: Erstmalig liegt eindiskutabler Entwurf auf dem Tisch des Hauses. Alle Ach-tung! Sie wollen das Finalitätsprinzip einführen unddurchsetzen. Sie wollen dem Wunsch- und WahlrechtGeltung verschaffen. Sie wollen die Zuständigkeitenklären. Sie wollen sogar einen Anspruch der Selbsthilfeauf Förderung durchsetzen.Nur, wenn Sie schon Finalitätsprinzip sagen, warumsagen Sie dann nicht klipp und klar: gleiche Leistung beigleichartiger Beeinträchtigung, unabhängig von Art undUrsache der Beeinträchtigung? Wenn Sie Wunsch- undWahlrecht sagen, warum schaffen Sie den § 3 a des BSHG,den Heimeinweisungsparagraphen, nicht ab? Da könnenwir über das Wunsch- und Wahlrecht reden.
Was zu den Zuständigkeiten zu sagen ist, haben dieKolleginnen und Kollegen der anderen Opposition bereitsgesagt. Was die Förderung der Selbsthilfe angeht: Wanngibt es denn endlich eine institutionelle Grundausstattung,wenigstens für das Telefon und die Miete eines Raumes?Wo bleiben denn die umfassenden Klagerechte nicht nurfür dieses Gesetz?Zum Titel. Also, ich bin sehr für Teilhabe von Men-schen mit Behinderungen am Leben der Gemeinschaft.Wenn Sie diesen Begriff aber inflationär gebrauchen, ent-wertet er. Das ist so bei Inflation. Es reicht nicht aus, denBegriff „Rehabilitation“ einfach durch „Teilhabe“ zu er-setzen, wenn man den Inhalt nicht mitverändert.Machen Sie doch wenigstens den kleinen Schritt undsagen Sie: In Zukunft muss es zwei Berichte geben, einenBericht zur Entwicklung der Teilhabechancen von Men-schen mit Behinderungen am Leben der Gemeinschaftund einen anderen Bericht, der die Entwicklung der Re-habilitation darstellt. Beides zusammen zu sehen ist aberfalsch.Es ist hier bereits mehrfach gesagt worden: Um einLeistungsgesetz handelt es sich leider nicht. Das, was wirwirklich bräuchten, kommt nicht. Aber Sie hätten wenigs-tens in bestimmten, relativ kleinen Bereichen etwas tunkönnen. Zum Beispiel gibt es keine Verbesserung für er-wachsene behinderte Menschen in der Familie; Herr Kolbwies darauf hin. Es gibt keine Verbesserungen für Men-schen im Förderbereich der Werkstätten für Behinderte.An eine Herausnahme der Eingliederungshilfe aus demBSHG ist nicht gedacht. Das wäre wirklich etwas Gutes.Vielleicht – ich biete das an – können wir in der weite-ren Diskussion dieses SGB IX wenigstens in ganz kleinenSchritten hin zu einem Leistungsgesetz entwickeln. Da-mit wäre nämlich die materielle Ausgestaltung des von Ih-nen angekündigten Gleichstellungsgesetzes, das bürger-rechtorientiert sein muss, gegeben. In dieser Hinsichtbiete ich Ihnen ausdrücklich konstruktive Zusammenar-beit an. Aber, meine lieben Kolleginnen und Kollegen aufder Regierungsbank und von den Koalitionsparteien, eineschleichende Aushöhlung des gerade vor einem halbenJahr beschlossenen Schwerbehindertengesetzes durchdieses SGB IX gibt es mit uns nicht. Versucht das bittenicht!
– Lesen Sie es doch einmal! – Wenn dort ganz unter derHand die Prüfpflicht der Arbeitgeber, ob ein Platz mit ei-nem schwerbehinderten Menschen besetzt werden kann,abgeschafft wird – das können Sie nachlesen –, dann istdas, gelinde gesagt, ein wenig unfair.Es reicht ebenfalls nicht aus, wenn Arbeitsassistenznur ein einziges Mal erwähnt wird und eben nicht präzi-siert, sondern unter den Kostenvorbehalt der Mittel für dieAusgleichsabgabe gestellt wird. Damit wird sozusagender Schwarze Peter den Hauptfürsorgestellen zugescho-ben. Der Rechtsanspruch auf Arbeitsassistenz ist ein ho-hes Gut, das im Schwerbehindertengesetz verankertwurde. Sie müssen aber irgendwann einmal sagen, wie Siesich die Ausgestaltung dieser Arbeitsassistenz vorstellen.Der Kollegin Nolte stimme ich ausdrücklich zu, dass esnicht ausreicht, alles mit Verordnungsermächtigungen zumachen. Entweder beharren wir auf unserem Recht alsGesetzgeber oder wir sagen: Die Regierung kann machen,was sie will.
Das ist aber nicht mein Verständnis von parlamentarischerDemokratie.
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Dr. Heinrich L. Kolb14140
Es gibt akzeptable und diskutable Ansätze, aber wennSie nicht ein wenig zulegen, indem Sie die Mitwirkung derBetroffenen institutionell stärken und Leistungen anbieten,die wir in der Gesellschaft wirklich brauchen, dann kannnicht mehr von Teilhabe die Rede sein, sondern nur nochvon geteilter Aufmerksamkeit. Das brauchen wir nicht.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und hoffe,dass wir zu einer vernünftigen, guten und erfolgreichenDiskussion kommen.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Silvia Schmidt, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte FrauPräsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!Zwanzig Jahre warten unsere Mitbürger und Mitbürgerin-nen mit Behinderungen und zwanzig Jahre warten Ver-bände und Interessenvertretungen schon auf ein Sozialge-setzbuch IX. Wir setzen das lang geforderte und längstüberfällige Gesetz endlich um. Wir nehmen den Gleich-stellungsauftrag in Art. 3 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzesund Art. XIII des Vertrages von Amsterdam nicht nurernst, sondern sozialdemokratische Politik übernimmthier eindeutig Verantwortung.
Behinderte Menschen sind Experten in eigener Sachemit Fähigkeiten und Kompetenzen. Es gilt, Möglichkei-ten zu schaffen, damit diese endlich wahrgenommen wer-den können. Unser Entwurf eines SGB IX stellt einenmassiven Wendepunkt in der Behindertenpolitik dar. Po-litik für behinderte Menschen wird durch Politik von undmit ihnen abgelöst. Das ist ein entscheidendes Ereignisund damit ereignet sich tatsächlich der geforderte Para-digmenwechsel. Dieser Entwurf, Herr Kolb, findet hoheAnerkennung bei allen betroffenen Verbänden.
– Lesen Sie bitte einmal in der Fachliteratur nach, welcheHaltung die jeweiligen Verbände und Vereine einnehmen.Endlich finden wir in der Behindertenpolitik internatio-nalen Anschluss. Wir reagieren auf die Grundrech-te-Charta der EU und auf Diskussionen innerhalb derWeltgesundheitsorganisation um einen neuen Begriff derBehinderung.
Meine Damen und Herren, liebe Mitbürger und Mit-bürgerinnen, im Mittelpunkt unseres Neuanfangs steht eininnovatives Rehabilitationsmanagement. Die einzu-richtenden Servicestellen sollen ein optimales Manage-ment im Sinne der behinderten Menschen garantieren.Unsere Behindertenpolitik ist eine Politik der Bewegungund der Weiterentwicklung.
Die Politik des Stillstandes, Herr Meckelburg, hat einEnde.
– Warten Sie noch eine Weile! – Man denke nur an denletzten Entwurf unserer Vorgängerregierung zumSGB IX, der ohne Diskussion am grünen Tisch entstandenist und 1993 von den Verbänden und Betroffenen zumgrößten Teil abgelehnt und verworfen wurde. Das sindwahrscheinlich die hohe Verantwortung und die hohenAnsprüche, die Sie, Frau Nolte, vorhin erwähnt haben.Die Betroffenen wollten Ihren Gesetzentwurf nicht. DieAnsprüche waren wahrscheinlich zu hoch.
Seither sind von Ihnen nur Ankündigungen zu hören ge-wesen.
Wir haben das Gespräch mit den Verbänden und allenBeteiligten wieder aufgenommen. Unser Wahlverspre-chen und die Koalitionsvereinbarungen mündeten in Dis-kussionen mit den Betroffenen, Verbänden und Trägern,sie führten zu einer gemeinsamen Entwicklung der Eck-punkte und zu insgesamt sechs Arbeitsentwürfen zumSGB IX. In größtmöglicher partizipativer Demokratie ha-ben wir einen breiten Konsens erreicht. In diesem Sinneappelliere ich an Sie, meine Damen und Herren, die beider Realisierung und Umsetzung des SGB IX mit in derVerantwortung stehen, mitzuarbeiten. Damit meine ichausdrücklich auch die verehrten Kolleginnen und Kolle-gen von der Opposition.Die Teilhabe von behinderten Menschen ist eine ge-samtgesellschaftliche Aufgabe und darf nicht durch inter-fraktionelle Grabenkämpfe blockiert werden. Gemeinsamund im Sinne eines breiten gesellschaftlichen Konsensesmüssen wir innovative Wege beschreiten. Es ist fatal, kon-traproduktive Ängste zu schüren, wo Lösungen gefragtsind. So gehen wir davon aus, dass die Umsetzung desSGB IX die Kommunen langfristig nicht zusätzlich be-lasten wird. Mittelfristig wird sie die Kommunen sogarentlasten. Die Entbürokratisierung, das heißt verkürzteBearbeitungszeiten, werden dazu führen, dass Kosten ein-gespart werden.Natürlich bedaure ich, dass das Problem des Rückgriffsauf das Privatvermögen im Sozialhilferecht noch nichtumfassend gelöst ist. Das werden wir aber erst mit einergenerellen Reform der Sozialhilfe ändern können.
Aber der erste Schritt ist bereits getan: Die Bedürftigkeits-prüfung bei Leistungen der Sozialhilfeträger zur medizi-nischen Rehabilitation und zur Teilhabe am Arbeitslebeneinschließlich der Leistungen im Arbeitsbereich aner-kannter Werkstätten entfällt.Meine Damen und Herren, ich möchte noch kurz zweiBeispiele aus unserem Gesetzentwurf hervorheben, die
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Dr. Ilja Seifert14141
zeigen, dass sich eine bürgernahe Modernisierung des So-zialstaates an den Bedürfnissen und Nachfragen behin-derter Menschen orientiert und nicht an den Anbietern so-zialstaatlicher Leistungen.Das Anliegen der Betroffenen wird zukünftig im Mit-telpunkt stehen. In Diskussionsrunden und in einem regenMeinungsaustausch und nicht zuletzt in unseren Werk-stattgesprächen haben wir die Berücksichtigung besonde-rer Probleme und Bedürfnisse von behinderten Frauenim Gesetzentwurf festgeschrieben.
Die Zeiten, in denen Frauen Bittstellerinnen und Almosen-empfängerinnen waren, angewiesen auf soziale Brotkru-men einer Wohlstandsgesellschaft, sind mit dem von unseingeleiteten Paradigmenwechsel in der Behindertenpoli-tik endlich vorbei.
Unsere sozialdemokratische Reformpolitik setzt auf dasPrinzip des Empowerments. Betroffene Frauen werden zuExpertinnen in eigener Sache und damit zu Beteiligten.
Die Interessenvertretungen behinderter Frauen werden inallen beratenden Gremien mitbestimmen, Herr Meckelburg.Behinderte Frauen mit Erziehungspflichten erhalten einenRechtsanspruch auf Teilzeitarbeit und einen Rechtsan-spruch auf Arbeitsassistenz. Behinderte Frauen werden inZukunft durch geeignete wohnortnahe Angebote gleicheChancen im Erwerbsleben erhalten. Betroffene Frauen se-hen sich im täglichen Leben immer noch ständig mitDiskriminierungen konfrontiert. Rollstuhlfahrerinnenschilderten mir sexuelle Belästigungen. Um es ganz deut-lich zu sagen: Diese Frauen können ihre unerträglicheHilflosigkeit und ihre Ängste kaum verarbeiten. Die Er-weiterung des Rehabilitationssportes ist nur eine der zahl-reichen Möglichkeiten, diese Frauengruppe zu unterstüt-zen und ihr Selbstbewusstsein zu stärken.Es wurde vorhin das Stichwort „Leistungsgesetz“ indie Debatte eingebracht. Am Rande bemerkt – die ebenangesprochenen Leistungen sind ebenfalls zusätzlicheLeistungen –: Es wird auch Mittel für Haushaltshilfen undfür Reise- und Verpflegungskosten geben.Abschließend möchte ich noch auf ein Kernstück un-seres Reformwerkes, nämlich auf die Früherkennungund Frühförderung als Komplexleistung, eingehen.Erstmals sind nicht ärztliche psychologische, heilpädago-gische, sozialpädiatrische und psychosoziale Leistungen,verbunden mit der Beratung von Eltern, in der medizini-schen Rehabilitation möglich. Die Resonanz auf § 30, dereinen deutlichen Richtungswechsel aufzeigt, ist nicht nurbei allen Verbänden und in der Fachwissenschaft, sonderngerade auch bei den betroffenen Eltern äußerst positiv.Bitte nehmen Sie das zur Kenntnis.Herr Kolb, in diesem Zusammenhang möchte ich er-wähnen, dass der neue § 40 a BSHG eindeutig klarstellt,dass die Eingliederungshilfe in einer Behindertenein-richtung die Pflege mit umfasst. Damit hat das Abschie-ben von Schwerstbehinderten in Pflegeheime endlich einEnde. Verschiebebahnhöfe wird es nicht mehr geben.
– Prüfen Sie das!Unsere behinderten Mitbürger und Mitbürgerinnen,auch Menschen mit temporärer Behinderung und ältereMenschen, werden nicht mehr in die Rolle der Hilfesu-chenden gedrängt; denn das Leitmotiv sozialdemokrati-scher Behindertenpolitik ist: Teilhabe und Selbstbestim-mung sowie Bürgerrechte für alle.Lassen Sie uns den eingeschlagenen Weg gemeinsamgehen, damit Integration und Selbstbestimmung behin-derter Menschen nicht nur ein Versprechen ist, sondernzur Selbstverständlichkeit in unserer Zivilgesellschaftwird.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nun der
Kollege Matthäus Strebl, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Prä-sidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Beider Gestaltung eines Sozialgesetzbuches IX – Rehabilita-tion und Teilhabe behinderter Menschen – darf es, somöchte ich feststellen, für uns alle, unabhängig von derFraktionsangehörigkeit, nur ein Leitmotiv geben: Wiekönnen die Beteiligungschancen der rund 7 Millionen be-hinderten Menschen deutlich verbessert werden? Waskönnen wir für die Mitwirkungsmöglichkeiten ihrer An-gehörigen tun?Weit mehr als die Hälfte der Betroffenen ist aus Krank-heitsgründen schwerbehindert. Die deutlich verlängerteLebenszeit führt dazu, dass das Risiko der Behinderungund der Pflegebedürftigkeit weiter zunimmt. Auch derRehabilitationsbedarf wird sich erhöhen. Die von CDU/CSU und F.D.P. geführte Bundesregierung hatte bereitserste Antworten darauf gegeben: das verfassungsrechtli-che Diskriminierungsverbot von 1994 und die Pflege-versicherung von 1995.Ich hatte gehofft, dass wir auf dieser Basis das SGB IXgemeinsam aufbauen würden. Doch Ihre Signale warengänzlich andere – dazu will ich eine kurze Rückschau hal-ten –, wie ich auch der bisherigen Debatte entnehmenkonnte: Sie verschieben Kosten der Krankenversicherungauf die Pflegeversicherung, senken massiv die Beiträgevon Arbeitslosen zur Pflegeversicherung und verursachendadurch jährliche Verluste von etwa 400 Millionen DMbei der Pflegeversicherung.
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Silvia Schmidt
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Die unter Norbert Blüm – daran möchte ich erinnern –komfortabel aufgebauten Rücklagen drohen nun vonWalter Riester verscherbelt zu werden. Doch Sie spielenbeim SGB IX weiter auf Zeit: Noch im Wahlkampf 1998haben Sie den Menschen ein Leistungsgesetz des Bundesversprochen, das – ich zähle jetzt die einzelnen Punkteauf – die Rechtslage wesentlich vereinfachen, mehr Über-schaubarkeit und Effizienz sicherstellen und die Lage derbetroffenen Menschen verbessern sollte.
Falls Sie es nicht wissen sollten: Heute sind wir im drit-ten Amtsjahr Ihrer Regierung. Was vorliegt, ist viel Pa-pier. Aber von den hehren Absichten ist wenig übrig ge-blieben. Es ist ebenfalls festzustellen: Von der rot-grünenKoalition wird bisher eine Behindertenpolitik mit be-schränkter Hoffnung betrieben.
Ich wiederhole: Im Bundestagswahlkampf von 1998 ha-ben Sie den Menschen ein Bundesleistungsgesetz ver-sprochen.
Mit Ihrer Vorlage zementieren Sie aber weitgehend diebestehenden Verhältnisse, die von allen Seiten unstrittigals dringend reformbedürftig angesehen werden, verehrteFrau Kollegin Schmidt. Sie nehmen zumeist nur kleineVeränderungen im Eingliederungsrecht vor, eine Prosa– so möchte ich feststellen – mit vielen Worten und klei-nen Taten.Im Bundestagswahlkampf 1998 versprachen Sie weni-ger Bürokratie und mehr Effizienz. In Ihrer Vorlage for-dern Sie den Aufbau neuer Behördenstrukturen, die nebenden bestehenden Organisationen arbeiten sollen. Völligunklar sind der Status und die Kompetenzen, die dieserQuasibehörde zugestanden werden sollen. Arbeiten Sieneben vorhandenen Einrichtungen oder mit diesen zu-sammen? Das ist hier die Frage.Unter dem Strich stelle ich daher fest: Nicht weniger,sondern mehr Bürokratie ist das Ergebnis Ihrer so ge-nannten Reform. Der VDR rechnet allein mit rund300 Millionen DM an zusätzlichen Verwaltungskosten.Ich fordere Sie auf: Geben Sie dieses Geld den Betroffe-nen und den Verbänden, statt es in eine neue Bürokratiefließen zu lassen.
Dies wäre eine wirkliche Verbesserung der Beteiligungs-chancen behinderter Menschen.Wir haben in Bayern sehr frühzeitig mit den Betroffe-nen und ihren Verbänden über das heutige Projekt ge-sprochen. Im Frühjahr des Jahres 2000 haben wir in Mün-chen eine Anhörung dazu durchgeführt, verehrte FrauKollegin Schmidt. Alle eingeladenen Verbände – Caritas,Blindenbund, die Lebenshilfe, die Diakonie, das RoteKreuz, um nur einige zu nennen – haben uns klare Vor-stellungen mitgegeben. Sie wünschen ein einheitlichesBundesleistungsgesetz, das die behindert geborenen unddie später von Behinderung betroffenen Menschen ohneBedürftigkeitsprüfung und Rückgriff auf Vermögens-werte gleichstellt. Viele Menschen mit Behinderung oderauch chronisch erkrankte Menschen empfinden die Ein-kommens- und Vermögensprüfung nach dem Sozial-hilferecht zu Recht als diskriminierend.Ich sage es noch einmal ausdrücklich: Wir unterstützenSie bei der Gestaltung eines einheitlichen Leistungsgeset-zes, wie Sie es vor der Wahl versprochen haben. HandelnSie jetzt, sonst fühlen sich die Verbände und der be-troffene Personenkreis von Ihnen getäuscht und ent-täuscht.Die Betroffenenverbände wünschen eine größereÜberschaubarkeit und eine Vereinfachung des Behinder-tenrechts. Weiter sollten die Anspruchsvoraussetzungenbei den verschiedenen Trägern vereinfacht und harmoni-siert werden. Dies kann ich bei den über 300 Seiten, dieuns von Ihnen geliefert wurden, nicht feststellen. Schaf-fen Sie keine neuen Hürden, sondern verfahren Sie nachdem Modell, dass die vorhandenen Einrichtungen ver-netzt werden und stärker kooperieren. Danach sollte dieerste angelaufene Station gemeinsam mit dem Betroffe-nen ein Konzept erarbeiten und dieses dann mit dem Re-habilitationsträger abstimmen. Das funktioniert aber nurmit einem einheitlichen Bundesleistungsgesetz, weilsonst wieder Abgrenzungsprobleme und Rechtsirritatio-nen auftreten werden.Alle Verbände, die wir angehört haben, waren sichdarin einig, dass es bei der zu erwartenden demographi-schen Entwicklung keine Deckelung der bisherigen Aus-gaben geben darf, wenn nicht notwendige Leistungen ge-strichen und das heutige Hilfeniveau für die behindertenMenschen unterlaufen werden sollen.Verehrte Frau Kollegin Schmidt, schon bei der Budge-tierung im Gesundheitswesen haben Sie den Kern einerZweiklassenmedizin gelegt. Ich bin gespannt, wie dieneue Bundesgesundheitsministerin in Zukunft hier ver-fahren wird. Das gleiche Schicksal droht nun auch bei denBeteiligungschancen behinderter Menschen.Die Union und auch die CDU/CSU-Fraktion wollenein neues SGB IX. Wir sind bereit, im Deutschen Bun-destag, aber auch mit den Bundesländern dafür zu streitenund unseren Teil dazu beizutragen, dass zwischen Bundund Ländern eine faire Finanzierung vereinbart wird.
Achten Sie bitte auf
die Redezeit.
Betrachten Sie unsereKritik als konstruktiven Beitrag und als Mitwirkung andem ehrgeizigen Ziel, eine gerechte Teilhabe behinder-ter Menschen zu erreichen.Deshalb appelliere ich an die Koalition: Zeigen Siemehr Mut und ziehen Sie das vorgelegte Konzept der Mit-telmäßigkeit zurück. Hören Sie auf die Betroffenen undihre Verbände. Dann wird es in diesem Plenum eine große
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Matthäus Strebl14143
Mehrheit für das dringend erforderliche Sozialgesetzbuchgeben. Wir alle sind das den betroffenen Menschen schul-dig.
Das Wort hat nun derBeauftragte der Bundesregierung für die Belange der Be-hinderten, Karl-Hermann Haack.Karl-Hermann Haack,Beauftragter der Bundesregie-rung für die Belange der Behinderten: Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte michauf einige Argumente konzentrieren, die hier von der Op-position vorgebracht worden sind.Als Erstes möchte ich feststellen: Herr Kolb, Sie sindein politischer Schnarchhahn.
Am Mittwoch ist im Kabinett das SGB IX beschlossenworden und Sie stellen sich zwei Tage später hier hin undbehaupten, dieses SGB IX sei gar nicht beschlossen. Es istbeschlossen. Sie haben am Mittwoch geschlafen.
Als Zweites, Frau Nolte, möchte ich Ihnen sagen, auchIhnen allen von der schwarz-gelben Zunft: Die Behinder-tenverbände, die Wohlfahrtsverbände, die Kirchen stim-men diesem Gesetzentwurf zu.
Wir hatten vor einigen Tagen in Potsdam eine abschlie-ßende Sitzung mit der Bundesarbeitsgemeinschaft derFreien Wohlfahrtspflege und den Behindertenorganisatio-nen. Sie haben diesem Gesetz zugestimmt.
Die Bundesvorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsver-bandes, Frau Stolterfoht, hat dabei gesagt, dieses SGB IXsei der innovative, qualitative Sprung im Umbau des So-zialstaates.
Das heißt mit anderen Worten, Sie haben während der Er-stellung dieses Gesetzentwurfs gar nicht den Prozess mit-bekommen, dem wir uns gestellt haben.
In der alten Koalition haben Sie dreimal versucht, einSGB IX zu schaffen. Sie sind daran in Ihrer alten Koali-tion gescheitert, weil Sie das mit den sieben sozialen Si-cherungssystemen hinter verschlossenen Türen ohne dieBetroffenen auskungeln wollten. Da haben Ihnen die Be-troffenenverbände erklärt: So nicht!Wir haben den Paradigmenwechsel begonnen, indemwir die Betroffenen und ihre Verbände Schritt fürSchritt einbezogen haben. Kein Punkt – ob das persönli-che Budget als Modellversuch, ob die Wahlfreiheit, ob dieServicestellen, ob die Arbeitsassistenzen –, der die Qua-lität dieser neuen Politik deutlich macht, ist ohne die Be-troffenen erarbeitet worden. Dazu hat es Workshops ge-geben, dazu haben wir Vorschläge erarbeitet.
Das erklärt Ihre Uneinsichtigkeit in die neue Qualität, dasNichtverständnis der neuen Qualität von Gesetzgebungdieser Koalition, dass wir Schritt für Schritt Entwürfe vor-gelegt haben.
Wir haben die jeweiligen Ergebnisse von Wochenbera-tungen und Tagesberatungen veröffentlicht. Ich bin derAbteilung V im Bundesministerium für Arbeit und So-zialordnung dankbar dafür, dass sie das immer wieder neuformuliert und zur Diskussion gestellt hat, mit der Maß-gabe, von allen, die davon betroffen sind, die daran inte-ressiert sind, Rückmeldungen zu erbitten. Diese Rück-meldungen sind gekommen. Also sage ich: Sie sind dabei.Jetzt komme ich zu drei Punkten. Der erste Punkt: FrauNolte beklagt „dunkle Begriffe“. In sieben sozialen Si-cherungssystemen, die sich mit den Belangen von behin-derten Menschen, von Rehabilitanden beschäftigen, gibtes sieben unterschiedliche Begrifflichkeiten, sieben un-terschiedliche Verfahren für Leistungsgewährung, siebenunterschiedliche Zugangswege. Dies wird nun vereinheit-licht. Dass die Versicherungssysteme an dieser Frage keinGefallen haben, dass sie gern weiter in ihrem Garten gär-teln, ist doch logisch.
Aber wir haben ihnen gesagt: Die Regelung geschieht aufder Grundlage eines Begriffs, der auf der Ebene der WHOgeprägt worden ist, des Begriffs der gesellschaftlichenTeilhabe. Damit lösen wir uns aus über 100-jähriger Tra-dition, Behinderung als Krankheit zu begreifen.
Nein, meine Damen und Herren, behindert sind wir alleoder wir werden es. Behinderung ist zu beschreiben mit„fehlender Kompetenz“, mit „Defiziten“. Wir gleichendas jetzt aus, indem wir Kompetenzen stärken und Ein-gliederung ermöglichen. Das ist das Neue.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2001
Matthäus Strebl14144
Herr Kollege, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Schwaetzer?
Karl-Hermann Haack,Beauftragter der Bundesregie-
rung für die Belange der Behinderten: Bitte, Frau Kolle-
gin, nur zu.
Herr Kollege, bei
dem großen Behindertenkongress, den Sie veranstaltet
haben, kam in der Diskussion ganz klar heraus, dass diese
Servicestellen nur dann sinnvoll sind,
wenn sie tatsächlich die Entscheidung der Rehabilitati-
onsträger vorwegnehmen könnten. Sehen Sie in irgendei-
ner Weise eine Möglichkeit, dies durchzusetzen? Ist es
nicht richtig, was von Behindertenverbänden formuliert
worden ist, dass diese Servicestellen eine reine Augenwi-
scherei sind und eine Doppelarbeit bedeuten, weil sich die
Rehaträger natürlich nicht die letzte Entscheidung vor-
wegnehmen lassen?
Karl-Hermann Haack,Beauftragter der Bundesregie-
rung für die Belange der Behinderten: Ich fange gleich mit
diesem Punkt an. Als Erstes hatte ich gesagt, dass wir eine
neue Begrifflichkeit haben. Als Zweites komme ich jetzt
zu den Servicestellen. Bisher – das hat der Minister schon
gesagt – läuft ein Mensch mit rehabilitativen Ansprüchen
von Pontius zu Pilatus. Ich gebe Ihnen hierzu einige Zah-
len an die Hand: 52 Prozent der Menschen wohnen auf
dem Land. Das heißt, die Menschen, die auf dem Land
wohnen, gehen von der Stadt A zur Gemeinde B und zum
Kreishaus C, um dort ihre Leistungen zu erbitten.
Jetzt fassen wir dies in den Servicestellen zusammen.
Der Grundsatz heißt nun: Die Dienstleistung folgt dem
Menschen und nicht der Mensch der Dienstleistung.
Dies hat zur Konsequenz, dass die Servicestellen auf
Landkreisebene eingerichtet werden. Die Leistungen
werden somit ortsnah und zeitnah erbracht. Innerhalb ei-
ner zeitlichen Begrenzung muss entschieden werden,
sonst hat der Rehabilitand das Recht, selbstständig Leis-
tungen in Anspruch zu nehmen und die Rechnung bezah-
len zu lassen.
Als Drittes: Einmal entschieden ist immer entschieden.
Ein anderer Systemträger darf die Biografie eines Behin-
derten nicht neu interpretieren. Auch damit ist Feier-
abend.
Nun komme ich zu Ihrer Frage. An diesem Verfahren
haben die Versicherungssysteme kein Gefallen gefunden.
Ich nenne in diesem Zusammenhang Frau Nolte, die von
den Rechtsverordnungen spricht. Genau das ist der Punkt:
Wir möchten ein System haben, das auf der Ebene der
Selbstverwaltung funktioniert und ortsnah, zeitnah und
kompetent ist – das kann jeweils vernetzt sein. Man ist da-
bei, ein solches System zu etablieren.
Ich habe mich gestern mit den Vorständen der BfA, der
Unfall- und der Krankenversicherung getroffen. Sie ha-
ben mir versprochen: Zum 1. Juli dieses Jahres wird die-
ses System stehen. Also bewegen wir uns in die richtige
Richtung. Es ist entschieden: Wenn die Servicestelle die
Entscheidung des Rehaträgers vorbereitet hat, dann wird
sie auf dieser Grundlage erfolgen.
Herr Kollege, ich darf
Sie einen Augenblick unterbrechen. Ich möchte ungern
die Debatte zu sehr verlängern. Herr Koppelin, Sie haben
eine Zusatzfrage?
– Nein, diese gestatte ich Ihnen nicht mehr, weil Frei-
tagnachmittag ist.
– Das kann ich entscheiden. – Wollen Sie jetzt eine Zwi-
schenfrage stellen oder nicht?
Dann formulieren Sie jetzt eine Frage. – Das kann ich ent-
scheiden, Herr Kollege. Da bin ich mir sicher. Ich glaube,
es ist im Sinne des Ablaufs der heutigen Debatte. Ich bin
für Lebendigkeit und Zwischenrufe. Aber wir sollten uns
bemühen, die Debatte nicht allzu sehr zu verlängern. Des-
wegen habe ich auch die Redezeit von Herrn Haack wie-
der laufen lassen, um einigermaßen im Zeitplan zu blei-
ben. Dafür bitte ich um Verständnis.
Jetzt hat der Kollege Koppelin das Wort zu einer Zwi-
schenfrage.
– Auch Herr Haack darf nicht überziehen. Er hat Ihre
Frage beantwortet, auch wenn Sie mit der Antwort nicht
zufrieden sind. Während er auf Ihre Frage geantwortet
hat, habe ich seine Redezeit gestoppt. Das sind die Spiel-
regeln dieser Geschäftsordnung.
Jetzt hat der Kollege Koppelin das Wort. Bitte sehr.
Da ich nicht die Gelegen-heit zu einer Kurzintervention bekomme – ich bitte umVerständnis dafür, dass ich das bedaure – und gern etwaszu dem Stil der Rede gesagt hätte – darüber werden wir an
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anderer Stelle reden müssen –, darf ich folgende Frage anSie richten.
– Es geht schon wieder los. Sie sind nicht in der Lage, ein-mal zuzuhören.Ich möchte gerne folgende Frage stellen, weil ich michzum Thema der Behinderten sehr engagiere.
– Ich denke, Sie sollten sich Ihre Kommentare sparen undzuhören.
Das können Sie anscheinend nicht.
Ich frage Sie: Finden Sie als Behindertenbeauftragterder Bundesregierung den Stil, in dem Sie heute Ihre Redehalten, in Ordnung? Ist es nicht so, dass es bei aller poli-tischen Auseinandersetzung – diese muss natürlich vonder Bundesregierung und allen Fraktionen geführt wer-den – Aufgabe des Behindertenbeauftragten der Bundes-regierung sein muss, die Interessen der Fraktionen zumWohle der Behinderten zusammenzuführen und nicht dasSprachrohr einer Partei und der grobe Klotz zu sein, derauf die Oppositionsfraktionen einschlägt? Ich sehe – se-hen Sie das nicht auch so? – Ihre Aufgabe darin, diejeni-gen, die sich in allen Fraktionen zum Wohle der Behin-derten engagieren, zusammenzuführen. Finden Sie nichtauch, dass Ihre Rede heute völlig daneben ist?
Jetzt hat Kollege
Haack das Wort zur Beantwortung dieser Frage. Bitte
sehr.
Karl-Hermann Haack,Beauftragter der Bundesregie-
rung für die Belange der Behinderten: Herr Koppelin, es
liegt vom 19. Mai 2000 eine Entschließung vor, in der
exakt das steht, was wir heute realisieren. Das haben Sie
einmütig mitbeschlossen.
Jetzt sagen Sie – wir müssen uns das anhören –, dass es
nicht richtig ist, dass das SGB IX die Zustimmung der be-
teiligten Verbände und Organisationen findet.
Herr Kolb behauptet zudem, es liege kein entsprechender
Kabinettsbeschluss vor.
Ich erkläre Ihnen jetzt den Weg, den wir hier vorsehen:
Nach der geplanten Anhörung werde ich den Vorschlag zu
einer gemeinsamen Sitzung aller Beauftragtem und Be-
richterstatter der hier im Hause vertretenen politischen
Parteien über diesen Gesetzentwurf machen, mit der Maß-
gabe, zu einer einheitlichen Beschlussfassung zu kom-
men.
Nur, angesichts dessen, dass Sie hier sagen, es liege
kein Kabinettsbeschluss vor, das seien nur Rechtsverord-
nungen und die Verbände stimmten dem Vorhaben nicht
zu, muss die Musik auch einmal von einer anderen Seite
gespielt werden.
Das bin ich den Kolleginnen und Kollegen der Koalition,
die an diesem Thema Woche für Woche gearbeitet haben,
und den Damen und Herren aus den betroffenen Verbän-
den und Organisationen schuldig, die nach Berlin ge-
kommen sind und gesagt haben: Wir arbeiten mit Ihnen
zusammen.
Frau Kollegin, fallsSie mir mit diesem Zuruf Parteilichkeit vorwerfen, weiseich diesen Vorwurf zurück. Das ist nicht in Ordnung. Ichbemühe mich um einen vernünftigen Ablauf. Ich über-lege, was ein „Schnarchhahn“ eigentlich sein soll. Dazuwerde ich nichts Weiteres sagen. Aber ich verwahre michdagegen, dass Sie mir unterstellen, ich sei in der Amts-führung parteilich. Das Präsidium hat auch darauf zu ach-ten, dass der Ablauf der parlamentarischen Beratung ver-nünftig vonstatten geht. Darum bemühe ich mich.
Herr Kollege, jetzt haben Sie das Wort. Ihre Redezeitläuft wieder.Karl-Hermann Haack,Beauftragter der Bundesregie-rung für die Belange der Behinderten: Ich möchte nun aufden dritten qualitativen Sprung, auf das Thema Wahlfrei-heit, zu sprechen kommen. Das bisherige System war da-durch geprägt, dass gesagt wurde: Der Mensch mit Be-hinderungen ist ein Objekt der Fürsorge. – Nun soll ihmein selbstbestimmtes Leben ermöglicht werden.An dieser Stelle möchte ich zunächst einmal den Orga-nisationen und Gruppen einen ausdrücklichen Dank aus-sprechen, die sich in der Vergangenheit, in den letzten50 bis 100 Jahren, Menschen mit Behinderungen zuge-wandt haben und ihnen im Rahmen des Fürsorgegedan-kens ein angemessenes Leben ermöglicht haben und dienach den vielen Gesprächen der letzten Zeit bereit sind,mit uns gemeinsam voranzugehen.
Ich sage Ihnen hier vor dem Deutschen Bundestag:Dieser Paradigmenwechsel wird nicht nach dem Prinzip
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„Entweder-oder“, sondern nach dem Prinzip „Sowohl-als-auch“ organisiert werden. Dies bedeutet im Klartext:Alle diejenigen, die als Betroffene oder als Nichtbetrof-fene in der Sache engagiert sind, werden gemeinsam dienächsten Schritte organisieren.Ein weiterer Punkt: Wahlfreiheit bedeutet konsequen-terweise auch, Arbeitsassistenzen zur Verfügung zu stel-len. Hier ist festgestellt worden, dass die Einrichtung vonArbeitsassistenzen auch für Werkstätten und für den vor-gelagerten Werkstattbereich gelten müsste.
In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dass nachder Eingliederungsverordnung an Werkstätten und ge-schützte Einrichtungen Pauschalen gezahlt werden, diedie Arbeitsassistenz ersetzen. Insofern erübrigt es sich, fürdiesen Bereich zusätzlich Geld im Zusammenhang mitder Arbeitsassistenz zur Verfügung zu stellen.Was heißt Arbeitsassistenz? Ein Gehörloser hat nun dieMöglichkeit, im Rahmen seines betrieblichen Ablaufeseinen Gebärdendolmetscher zur Seite gestellt zu bekom-men. Ein Blinder bzw. ein Sehbehinderter hat nun dieMöglichkeit, eine Vorlesekraft zur Verfügung gestellt zubekommen. Ein Rollstuhlfahrer bzw. ein Querschnitts-gelähmter hat die Möglichkeit, an Werktagen eine Arbeits-assistenz zur Verfügung gestellt zu bekommen. Bisherwar es so, dass dies per Antrag bei der Hauptfürsorgestellegenehmigt werden musste. Jetzt besteht hier ein Rechts-anspruch.Ich denke, dass das ein Beispiel dafür ist, dass wir ver-suchen, in den Lebensentwürfen von Menschen mit Be-hinderungen den emanzipativen Gedanken einzuführenbzw. auf eine sichere Grundlage zu stellen.
Abschließend zum Thema Bedürftigkeitsprüfung – eshandelt sich bei der Eingliederungshilfe um einen Betragvon 16 Milliarden DM –: In den diesbezüglichen Ver-handlungen mit dem Finanzministerium hatten wir fol-gendes Modell entwickelt: 15 Milliarden DM fließenin die Neuformulierung des Bund-Länder-Finanzaus-gleiches ein, werden aber als Nulllinie definiert. Dasheißt, die Länder müssen akzeptieren, dass der Anteil, densie bisher im Rahmen des Bundessozialhilfegesetzes ha-ben tragen müssen, verrechnet wird. Der Bund bezahltdann den Aufwuchs für die späteren Jahre.Das ist vom Bundesfinanzminister und den finanzpoli-tischen Sprechern der Länder nicht akzeptiert worden.Deswegen haben wir den Weg gewählt, im Hinblick aufdie Diskussionen in den kommenden Jahren einen Türöff-ner zu suchen, indem wir die medizinische und beruflicheRehabilitation, die aus der Eingliederungshilfe bezahltwird und bisher dem Bedürftigkeitsprinzip unterworfenwar, von der Heranziehung von Einkommen und Vermö-gen freistellen.
Herr Kollege, Sie
müssen jetzt zum Schluss kommen.
Karl-Hermann Haack,Beauftragter der Bundesregie-
rung für die Belange der Behinderten: Schlusssatz: Die in
dem Gesetz enthaltenen Übergangsfristen haben den
Sinn, den Gesetzgeber und die Beteiligten zu zwingen,
Rechenschaft über das abzulegen, was wir an neuen In-
strumenten in das Gesetz hineingenommen haben, um
dann eine weitere Diskussion zu ermöglichen.
Herzlichen Dank.
Als letzter Redner in
dieser Debatte hat der Kollege Peter Weiß für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsi-dentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zu einigemvon dem, was über eine angeblich neue Zeit in der Behin-dertenpolitik gesagt worden ist, möchte ich eingangs fest-stellen: Politik und Gesellschaft setzen sich nicht erst seitdieser Legislaturperiode für unsere Mitbürgerinnen undMitbürger mit Behinderungen ein. Was bei uns inDeutschland an ambulanten Diensten, Werkstätten undWohnheimen für Behinderte in den letzten 20 Jahren ge-schaffen worden ist, kann sich sehen lassen und zeugt da-von, wie sich Politik und Gesellschaft für die behindertenMitbürgerinnen und Mitbürger einsetzen.
Richtig ist, Frau Kollegin, dass ebenfalls seit Jahrzehn-ten zu Recht der dringende Wunsch besteht, das Recht derRehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen in einneues, umfassendes Sozialgesetzbuch zu überführen. HerrHaack, es ist richtig, dass die Betroffenen und die Ver-bände die Neufassung des Sozialgesetzbuches begrüßen.Sie müssen aber auch zugeben – das haben Sie verschwie-gen –, dass alle sachlichen Kritikpunkte, die in der heuti-gen Debatte vorgetragen wurden, von den Verbänden undBetroffenen nach wie vor geäußert und nicht durch ihre all-gemeine Zustimmung zum SGB IX ersetzt werden. Dashaben Sie leider verschwiegen.
Eine weitere Anmerkung. Ich empfinde es als gut,wenn in einer Debatte über ein Sozialgesetzbuch mit un-endlich vielen organisatorischen Regelungen zur Selbst-vergewisserung auch etwas über die ethischen Grundla-gen, die uns in der Behindertenpolitik leiten, gesagt wird.Deswegen begrüße ich, was Frau Kollegin Göring-Eckardt zum Schluss ihrer Rede vorgetragen hat. Nur,Frau Göring-Eckardt, mittlerweile kommen mir Zweifelan der Haltung der Bundesregierung insgesamt, nachdemder neue Kulturstaatsminister Nida-Rümelin mit seinen
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Äußerungen zur Neudefinition der Menschenwürde ge-nau das Gegenteil zum Ausdruck gebracht hat. Wenn dieMenschenwürde, die in unserem Grundgesetz garantiertist – uns Politikern ist die Verpflichtung auferlegt, sie inunserem Handeln und in unserer Politik zu achten –, soumdefiniert wird, dass Menschenwürde nur noch dem zu-stehen soll, der über die bewusste Fähigkeit verfügt,Selbstachtung zu empfinden,
dann ist das nicht mehr die Menschenwürde, die die Vä-ter unseres Grundgesetzes gemeint haben.
Nun beklagen sich die Koalition sowie der Herr Bun-desbeauftragte und der Herr Bundesminister über die Kri-tik am SGB IX. Nur die Messlatte hat Rot-Grün hochgehängt.
– So ist es, sie sind unten durch gelaufen.Vor der Bundestagswahl haben Sie erklärt – ich darf zi-tieren –:Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich für die Schaf-fung eines eigenen Leistungsgesetzes ausgespro-chen. … Bündnis 90/Die Grünen treten dafür ein,den ganzheitlichen Charakter der Behindertenhilfezu erhalten. Wir fordern ein eigenes Leistungsgesetzfür Behinderte …So war es in der „Lebenshilfe Zeitung“ vor der Bundes-tagswahl zu lesen.Das ist Ihre Messlatte. Vor dieser großen und – wie ichzugeben muss – schwierigen Aufgabenstellung hat dieKoalition bei der Vorlage ihres Gesetzentwurfes versagt.
Den Elementen, die Sie mit diesem Gesetzentwurf än-dern, fehlt schlichtweg die Logik.Im Rahmen der Rentenreform wollen Sie ein so ge-nanntes Grundsicherungsgesetz durch das Parlamentbringen. Behinderte Menschen sollen zur Sicherung ihresLebensunterhalts Sozialhilfe – die neue Bezeichnung heißt:bedarfsorientierte Grundsicherung – bekommen. Die El-tern des erwachsenen Behinderten werden beim Unterhaltnicht mehr herangezogen. Aber für die Leistungen, dieaufgrund der Behinderung im Rahmen der Eingliede-rungshilfe notwendig werden, soll weiterhin die Sozial-hilfe zuständig sein. Wenn es Ihnen mit der Forderungnach einem Leistungsgesetz ernst gewesen wäre, dannhätten Sie doch zuallererst diejenigen Leistungen, dieMenschen aufgrund ihrer Behinderung dringend benöti-gen, aus der Sozialhilfe herausnehmen und in ein Leis-tungsgesetz überführen müssen.
Die gebotene Gleichstellung von Behinderten mit Nicht-behinderten verpflichtet den Gesetzgeber doch, zualler-erst die Nachteile, die der Behinderte aufgrund seiner Be-hinderung hat, auszugleichen.
Besonders widersinnig ist, dass gerade erwachseneMenschen mit Behinderungen bzw. deren Eltern zurDeckung der Kosten der für sie notwendigen Hilfen he-rangezogen werden sollen, wenn sie so schwer behindertsind, dass sie nicht in einer Werkstätte für Behinderte ar-beiten können. Dass Sie innerhalb der Gruppe der Men-schen mit Behinderungen eine neue Klassengesellschafterrichten, dass Sie ausgerechnet diejenigen, die besondersauf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind, nämlich dieSchwerst- und Mehrfachbehinderten, benachteiligen, istvöllig unverständlich.
Des Weiteren hat man erwartet, dass die bestehendenProbleme der Abgrenzung zwischen der Pflegeversiche-rung und der Sozialhilfe durch das neue Gesetz gelöstwerden. Hier wird mit dem Gesetzentwurf in der Tat fürKlarstellungen gesorgt. Aber eine generelle Klärung wirdwiederum vermieden. Die Klärung dieser Frage wird inder Zukunft immer dringender werden, weil auch die Zahlalt gewordener Menschen mit Behinderungen in dennächsten Jahren zunehmen wird. Dies werden Mitbürge-rinnen und Mitbürger sein, die in Werkstätten für Be-hinderte gearbeitet und durch Beitragszahlungen in diePflegekasse einen eigenen Anspruch an die Pflegeversi-cherung erworben haben.Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt und un-terstützt grundsätzlich das Vorhaben, ein Sozialgesetz-buch IX zu schaffen. Doch mit dem jetzt von der Bundes-regierung vorgelegten Entwurf wird dieses Ziel leider nurungenügend erreicht.
Letztlich ist das neue Gesetz nur ein zusätzliches Dach fürdie weiterhin nebeneinander bestehenden Gesetze. Fürdiejenigen, die mit diesem Gesetz umgehen müssen, ma-chen Sie die Anwendung nicht einfacher, wie Sie es ver-sprochen haben, sondern eher komplizierter.
Sie bringen sich vor allem in Schwierigkeiten, weil Sieden zentralen Punkt bei der Reform des Behinderten-rechts, nämlich die Überführung der Eingliederungshilfeaus dem Bundessozialhilfegesetz in ein eigenes Leis-tungsgesetz für Behinderte, entgegen Ihren Wahlverspre-chungen und Ankündigungen nicht anpacken.
Deswegen ist zu diesem Gesetzentwurf festzustellen:Probleme nicht gelöst, mehr Bürokratie! Mit diesem Ge-setzentwurf machen Sie eigentlich niemanden so rechtglücklich, wahrscheinlich sich selber auch nicht. Sie ma-chen weder die Menschen mit Behinderungen noch derenEltern, noch die vielen engagierten Pädagogen und Pfle-gekräfte glücklich, die in den Einrichtungen und Dienstengroßartige Leistungen für unsere behinderten Mitbürger
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PeterWeiß
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und damit auch für die Gesellschaft erbringen. Für einsolch wichtiges Gesetzgebungsvorhaben sollte gelten:Wenn man etwas richtig machen will, dann muss manganze Sachen machen. Halbe Sachen sollte man liebergleich bleiben lassen.Vielen Dank.
Ich schließe die Aus-
sprache.
Bevor ich abstimmen lasse, möchte ich jeden bitten,
darüber nachzudenken, was er von dem Wort „Schnarch-
hahn“ hält. Ich halte diesen Ausdruck zwar nicht für par-
lamentarisch; aber ich weiß nicht genau, was ich mir da-
runter vorstellen soll.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 14/5074 zur federführenden Beratung an den
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung und zur Mitbe-
ratung an den Innenausschuss, den Rechtsausschuss, den
Finanzausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Tech-
nologie, den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft
und Forsten, den Verteidigungsausschuss, den Ausschuss
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, den Ausschuss
für Gesundheit, den Ausschuss für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen, den Ausschuss für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung und den Haushaltsaus-
schuss zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden?
– Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen.
Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 17 sowie Zusatz-
punkt 10 auf:
17. Beratung der Beschlussempfehlungen und der
– zu dem Antrag der Abgeordneten Paul Breuer,
Ulrich Adam, Georg Janovsky, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Zukunft der Bundeswehr
– zu dem Antrag der Abgeordneten Günther
der Fraktion der F.D.P.
Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr sichern –
Wehrpflicht aussetzen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Heidi
Lippmann, Wolfgang Gehrcke, Uwe Hiksch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Zukunft durch Abrüstung – Für eine grund-
legende Reform der Bundeswehr
– Drucksachen 14/3775, 14/4256, 14/4174,
14/5087, 14/5088, 14/5089 –
Berichterstattung:
Abgeordente Peter Zumkley
Paul Breuer
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Günther
Friedrich Nolting, Dirk Niebel, Birgit Homburger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Wehrpflicht aussetzen
– Drucksache 14/5078 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Als erstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen
Reinhold Robbe für die SPD-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsiden-tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Debatteüber die Zukunft der Bundeswehr wird im Augenblick einwenig überschattet von anderen Themen der Verteidi-gungs- und der Sicherheitspolitik, wozu ganz sicher auchdie Diskussion über die Verwendung von uranhaltigerMunition im Zusammenhang mit NATO-Kampfeinsätzengehört, die wir gestern hier im Hause geführt haben. Trotz-dem ist es nach meiner Auffassung gut, dass wir heutenoch einmal Gelegenheit haben, jenes Thema zu behan-deln, das aus den verschiedensten Gründen zu den heraus-ragendsten in der deutschen Öffentlichkeit zählt.Die Strukturreform der Bundeswehr gehört zu dengrößten Reformprojekten in der deutschen Nachkriegsge-schichte. Noch nie zuvor wurde eine so umfassende Er-neuerung von Grund auf für einen Bereich des öffentlichenLebens in Angriff genommen. Auch wenn es in der Ver-gangenheit bei der Bundeswehr viele Anpassungen, Um-schichtungen, Verkleinerungen und Veränderungen gege-ben hat, so stehen wir jetzt vor der Aufgabe, das Heer, dieLuftwaffe, die Marine sowie den Sanitätsdienst vollkom-men neu auszurichten und fit zu machen für die Zukunft.
Von dieser Reform werden mehr Menschen betroffensein als von irgendeiner anderen grundlegenden Verände-rung sowohl im privatwirtschaftlichen wie im öffentli-chen Bereich. Man muss sich immer wieder vor Augenführen, dass es sich bei der Bundeswehr um den größtenöffentlichen Arbeitgeber handelt, der Hunderttausendevon Menschen zwischen Flensburg und Garmisch-Par-tenkirchen sowie zwischen Aachen und Görlitz in Brotund Arbeit hält. Nicht zuletzt deshalb ist die Reform derBundeswehr nicht nur in aller Munde, sondern beschäftigtintensiv alle Ebenen des privaten, aber auch des öffentli-chen Lebens.Die Notwendigkeit für diese große Reform liegt auf derHand. Altbundespräsident Richard von Weizsäcker hat inseinem uns vorliegenden Bericht aus meiner Sicht sehrzutreffend darauf hingewiesen und analysiert, dass dieBundeswehr des Jahres 2000 vor dem Hintergrund derveränderten Sicherheitslage in Europa und in der Welt zugroß, falsch zusammengesetzt und zunehmend unmodernsei. In ihrer heutigen Struktur habe die Bundeswehr, soheißt es bei von Weizsäcker, keine Zukunft. VeraltetesMaterial schmälere die Einsatzfähigkeit und treibe dieBetriebskosten in die Höhe.
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PeterWeiß
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Dies sind nur die wichtigsten Feststellungen derWeizsäcker-Kommission zum Status quo der deutschenArmee. Aus dieser Lagebeurteilung ergeben sich jetztReformnotwendigkeiten, die der Bundesverteidigungs-minister zwischenzeitlich konkretisiert hat. Hierbei bil-den drei große Themenbereiche das Fundament für die inAngriff genommene Reform:Erstens geht es um die Investition in die Fähigkeitender Menschen, es geht um die bestmögliche Aus- undFortbildung des Personals, um umfassende Verbesserun-gen zur Steigerung der Attraktivität des Dienstes sowieum die Reform von Besoldungs- und Laufbahnstrukturen.Zweitens geht es um den Erwerb neuer Fähigkeitendurch leistungsfähigere Strukturen sowie um die Moder-nisierung von Material und Ausrüstung.Drittens schließlich geht es auch um eine grundlegendeReform der Wehrverwaltung und eine weit gehendeUmgestaltung der Beschaffungs-, Verwaltungs- und Be-triebsprozesse einschließlich einer völlig verändertenAufgabenverteilung und einer Zusammenarbeit mit derdeutschen Wirtschaft.Dieser letzte Punkt ist gerade deshalb so interessant,weil hier im Grunde wirkliches Neuland betreten wird:Der Bundesverteidigungsminister will durch modernesManagement eine Konzentration der Streitkräfte auf ihremilitärischen Kernaufgaben erreichen und dadurch Spiel-räume für die dringend notwendigen Investitionen schaf-fen.Bei allen unterschiedlichen Bewertungen dessen, wasdie Weizsäcker-Kommission erarbeitet und die Bundesre-gierung an Konsequenzen daraus entwickelt hat, gibt eszu den grundsätzlichen Fragen der Strukturreform eigent-lich eine breite Übereinstimmung im Parlament, wennman einmal davon absieht, was die PDS dazu sagt. Aberdas interessiert mich an dieser Stelle eigentlich weniger.Nun will ich selbstverständlich die Probleme nichtklein reden, die die CDU/CSU beim Personalumfang, beider Finanzausstattung und auch beim vorgelegten Tempo,mit dem die Bundeswehrreform in Angriff genommenwurde, erkennt. Ebenso wenig will ich unter den Tischkehren, dass die F.D.P.-Fraktion die Strukturreform zumAnlass nehmen möchte, die Wehrpflicht abzuschaffen,respektive auszusetzen.
Opposition wie Koalition bekennen sich aber eindeu-tig zur Notwendigkeit der Reform und betrachten es auchals eine nationale Aufgabe, in dieser wichtigen Frage einwenig mehr über den parteipolitischen Tellerrand zublicken, als dies bei anderen Fragen der Fall ist.Wir haben in der Debatte über die Strukturreform nun-mehr eine Phase erreicht, in der es nach Vorlage der so ge-nannten Grobplanung jetzt um die Feinplanung und damitauch um Standortentscheidungen geht. Hier ist natürlichfast jede Kollegin und jeder Kollege im Deutschen Bun-destag tangiert, sofern es in ihrem oder seinem Wahlkreiseine Bundeswehreinrichtung bzw. einen Bundeswehr-standort gibt.Gewisse Presseveröffentlichungen über mögliche Stand-ortschließungen haben uns einen Vorgeschmack auf dasgegeben, was uns in den kommenden Wochen voraus-sichtlich noch ins Haus stehen wird. Es liegt in der Naturder Sache, dass dann, wenn über Standortschließungen öf-fentlich spekuliert wird, sofort alle Bürgermeister, Land-räte, Industrie- und Handelskammern und öffentlichenInstitutionen lautstark Protest einlegen. Derartige Aufge-regtheiten lassen sich nicht vermeiden, auch wenn derBundesverteidigungsminister hier zum hundertsten Malerklärt hat, dass alle bisherigen Veröffentlichungen überangebliche Schließungen allein auf Spekulationen beru-hen.
Das ist zunächst einmal ein Stochern im Nebel und hatnicht unbedingt etwas mit dem zu tun, was wir vielleichtnoch Ende dieses Monats vom Minister konkret hörenwerden.Für die Bundeswehrangehörigen, für die Repräsen-tanten der betroffenen Standorte und nicht zuletzt auch füruns als Parlamentarier ist es wichtig zu wissen, dass derEntscheidungsprozess im Hinblick auf den Umfang derkünftigen Standorte völlig transparent und für jedermannnachvollziehbar gestaltet wird.
Ebenso wichtig ist die Tatsache, dass für den Bundes-verteidigungsminister die Fürsorgepflicht gegenüberden Angehörigen der Bundeswehr an erster Stelle steht.Die Standortentscheidungen werden also nicht nach Guts-herrenart getroffen oder gar von irgendwelchen politi-schen Konstellationen vor Ort oder auf Landesebene ab-hängig gemacht.Die Kriterien des Verteidigungsministers sind seit lan-ger Zeit bekannt.
Deshalb will ich als Vertreter eines großen ländlichenFlächenwahlkreises mit vielen Bundeswehrstandorten un-terstreichen, wie wichtig es ist, lieber Peter Ramsauer, dassneben militärischen Notwendigkeiten auch betriebswirt-schaftliche Erfordernisse, die Verantwortung gegenüberder Fläche und die Auswirkungen von Standortent-scheidungen auf die wirtschaftliche und arbeitsmarktpoli-tische Situation in einer Region berücksichtigt werden. Ichdenke, das muss ganz oben anstehen.
Unabhängig davon hat Bundesminister Scharping ges-tern noch einmal alle Mitglieder dieses Hauses ausdrück-lich schriftlich gebeten, ihm gegebenenfalls zusätzlicheKriterien für die Standortentscheidungen zu nennen, da-mit er diese noch berücksichtigen kann.
Eine gleiche Aufforderung ist auch an die Ministerpräsi-denten der Länder ergangen.
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Reinhold Robbe14150
Mit der Bekanntgabe der Standortentscheidungen wer-den alle offenen Fragen beseitigt werden, die sich in nach-vollziehbarer Weise die Soldaten, die Zivilbeschäftigtenund alle direkt oder indirekt Betroffenen und Verantwort-lichen im Laufe der zurückliegenden Wochen gestellthaben. Auch wenn die Umsetzung der Standortentschei-dungen nicht von heute auf morgen stattfinden kann,bringt die Gewissheit über die Zukunft der Standorte denBetroffenen jene Planungssicherheit, die sie mit Rechterwarten.Unsere Aufgabe, liebe Kolleginnen und Kollegen, alsMitglieder dieses Hauses wird darin bestehen, die weitereEntwicklung in den Standorten persönlich intensiv und imRahmen unserer parlamentarischen Möglichkeiten zu be-gleiten. Dies dient zum einen einer vernünftigen Umset-zung der Reform und bietet zum anderen die Möglichkeit,gegenüber den Soldatinnen und Soldaten sowie den Zi-vilbeschäftigten unsere besondere Verbundenheit mit derBundeswehr und mit den dort tätigen Menschen zu doku-mentieren.Ich danke sehr für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun der
Kollege Kurt Rossmanith für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber KollegeRobbe, wir alle in diesem Hohen Hause sind uns darüberim Klaren, dass die neuen sicherheitspolitischen Heraus-forderungen und auch unsere internationalen Verpflich-tungen, die wir gegenüber der NATO, der EuropäischenUnion und den Vereinten Nationen haben, eine moderne,einsatzfähige und durchhaltefähige Bundeswehr notwen-dig machen.Wir werfen Ihnen vor, dass die Veränderungen der in-ternationalen Sicherheit und der technologischen Mög-lichkeiten für Sie nicht der entscheidende Maßstab für dieUmstrukturierung unserer Streitkräfte sind; entscheidendsind vielmehr einzig und allein die Finanzen, die die Bun-desregierung einzusparen gedenkt. Unser Bundesministerder Verteidigung ist für diese Einsparungen mitverant-wortlich; denn die Bundesregierung hat den Haushalt ge-meinsam beschlossen. Verehrter Herr Minister Scharping,Sie haben das sicherheitspolitische Feld schlicht und ein-fach dem Bundesminister der Finanzen, Eichel, überlas-sen. Diese Tatsache kann man nicht hinnehmen.
Sie und nicht der Bundesminister der Finanzen, der Ihnenfür diese Aufgabe die entsprechenden Mittel zur Verfü-gung stellen muss, tragen Verantwortung für die Sicher-heits- und für die Verteidigungspolitik in unserem Lande.Würde sich die Bundeswehrreform nicht nur verbal,sondern auch inhaltlich und methodisch auf Scharnhorstbeziehen, dann könnte und dürfte sie gar nicht von derKassenlage ausgehen. Sie müsste sich zuallererst nach derDefinition der außen- und sicherheitspolitischen Inte-ressenlage unseres Landes richten. Diese Leistung ist bis-her weder von Ihnen, Herr Bundesminister Scharping,noch vom Bundesaußenminister erbracht worden. Nur aufdieser Grundlage finden unsere Streitkräfte ihr Selbstver-ständnis und ihre Rolle als wichtigstes Instrument unsererSicherheitspolitik.
Stattdessen diktiert in der SPD-geführten Bundesregie-rung der Finanzminister einem in der Zwischenzeit auchpolitisch angeschlagenen Verteidigungsminister Umfangund Struktur der Streitkräfte. Dieser wiederum verordneteine Reform und lässt gleichzeitig viele Fragen hinsicht-lich Ausrüstung, Umfang, Auftrag und Selbstverständnisunserer Bundeswehr offen. Das Ganze wird ohne einevertiefte Diskussion in Parlament und Öffentlichkeitdurchgezogen, so schlicht und einfach nach dem Motto:Warum soll man über die Zukunft der Bundeswehr debat-tieren, wenn das einzige Argument sowieso nur die Kas-senlage ist?Ich stelle deshalb fest, dass diese Bundesregierung bis-her in keiner Weise ihrer Pflicht nachgekommen ist, einesicherheitspolitische Begründung für die laufende Redu-zierung der Bundeswehr zu liefern.
An die Stelle einer echten Reform ist wegen unzureichen-der Finanzmittel eine bloße Sparaktion durch Rationali-sierung, Privatisierung, Truppenreduzierung und Stand-ortschließungen getreten. Die Bundeswehr wird weiterverkleinert und eine Vielzahl von Standorten wird ge-schlossen.Der Verteidigungshaushalt sinkt permanent und derVerteidigungsminister versucht vergeblich, über den Aus-verkauf von Liegenschaften Geld hereinzubekommen.Allerdings ist jedem schon jetzt klar, dass die Erwartun-gen, die an die laufenden Privatisierungs- und Rationa-lisierungsmaßnahmen des Verteidigungsministers ge-stellt werden, in keiner Weise auch nur annähernd erfülltwerden.Gleichzeitig soll aber die Bundeswehr – zumindest ver-bal – modernisiert werden und es werden militärische Ein-greifkräfte für die Vereinten Nationen und auch das größteKontingent für die zu schaffende EU-Eingreiftruppe ge-meldet. Dass dem Bundesminister der Verteidigung dasGeld dafür nicht gegeben wird und wir bereits heute anGrenzen stoßen, was die Auftragserfüllung in Bosnien undim Kosovo anbelangt, spielt dabei offensichtlich keineallzu große Rolle. Die haushaltspolitischen Realitäten,Herr Bundesminister Scharping, stimmen in keiner Weisemit den verteidigungspolitischen Verpflichtungen überein,die Sie und diese Bundesregierung eingegangen sind. Hierbeginnt für mich außen- und sicherheitspolitisches Aben-teurertum; denn die Bundesregierung ist internationaleVerpflichtungen bei der NATO, bei der EuropäischenUnion und bei den Vereinten Nationen eingegangen, dieweder personell noch strukturell, materiell und finanziellabgesichert sind.
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Reinhold Robbe14151
Wir haben von Wildbad Kreuth aus bewusst die Stand-ortfrage angestoßen, weil wir von der miserablen Infor-mationspolitik des Bundesministeriums der Verteidi-gung genug haben und es an der Zeit ist, dass auch einmaldie betroffenen Gemeinden Gehör finden.
Noch im letzten Sommer haben Sie, Herr Bundesmi-nister Scharping, öffentlich und, wie man jetzt weiß, wi-der besseres Wissen nicht nur einmal, sondern in allenmöglichen Diskussionsrunden versichert, wenn über-haupt würden nur Kleinstandorte bis zu einer Dienstpos-tenzahl von 50 Personen von der Bundeswehrreform be-troffen sein, größere Standorte würden nicht geschlossenund die Bundeswehr bleibe in der Fläche erhalten. Genaudas Gegenteil tun Sie nun:
Ohne die betroffenen Kommunen zu beteiligen und ohneRücksprache mit den Ländern – es werden einfach Tref-fen vereinbart, auf denen man das Konzept darstellt undden Ländern sagt, entweder sie akzeptierten es oder sieakzeptierten es nicht – wird in einem geheimen Küchen-kabinett ein Plan entwickelt,
der eine Vielzahl von Standorten massiven Reduzierun-gen aussetzt. Ich nenne bei uns im Allgäu nur das Jagd-bombergeschwader 34, das auch noch den schönen Na-men „Allgäu“ trägt; es soll schlicht und einfachgeschlossen werden. Davon wären 1 500 Personen be-troffen. Von Sonthofen soll das ABC-Abwehrbataillon ab-gezogen werden; auch soll die dortige Feldjägerschule– das müssen Sie mir einmal erklären – nach Hannoververlegt werden.
Wenn Herr Kollege Robbe sagt, Herr Scharping gehenicht nach Gutsherrenart vor, dann frage ich, wonachdenn dann. Soll die Feldjägerschule dem GutsherrenSchröder näher gebracht werden, wenn Sie sie nach Han-nover verlegen?
Glauben Sie mir: Wir werden uns diesem Kahlschlagmassiv widersetzen.
Wir, die CDU und CSU, haben uns immer als die beidenParteien verstanden – wir tun dies auch in Zukunft –, fürdie Außen- und Sicherheitspolitik ein ganz wesentlichesElement des Handelns ist.
Deshalb werden wir einen Kahlschlag nicht hinnehmen,
was die Standorte anbelangt, und auch keinen Kahlschlagin unserer Sicherheits- und Außenpolitik.Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin
Angelika Beer.
FrauPräsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir dis-kutieren heute – durchaus nicht zum ersten Mal, Herr Kol-lege Rossmanith – in einer wichtigen Zeit der Entschei-dungen über die Zukunft der Bundeswehr. Einewesentliche Entscheidung bewegt die Öffentlichkeit undwird von der Opposition, wie eben vorgeführt wurde, inpopulistischer Manier aufgebauscht.
– Es ist gut, dass wir hier auch noch lachen können.So, wie Sie versuchen, mit der Standortfrage Wahl-kampf zu machen und Punkte in Ihren Wahlkreisen zusammeln, tun Sie weder der Bundeswehr noch den Stand-orten, noch den Kommunen einen Gefallen;
Sie schaffen vielmehr ein Klima der Panik und der Re-formverweigerung. Unter dem Strich kann man eigentlichnur sagen, dass Sie sich der Zukunft der Bundeswehr ge-nerell in den Weg stellen.
Es kommt jetzt darauf an, Planungssicherheit für diekommenden Jahre zu schaffen. Ich habe neulich mit ei-nem ehemaligen General gesprochen.
Er sagte: Frau Beer, jeder Politiker, der das Wort in denMund nimmt, wird vom Militär belächelt; denn wir habendiverse Reformen geplant und durchzusetzen versuchtund nie ist eine Planung mit Sicherheit durchgesetzt wor-den.Unser politisches Ziel als Koalition ist es – deswegensind wir auch Kompromisse eingegangen –, endlich diesePlanungssicherheit zu schaffen. Dazu gehört eine offene,aber sehr differenzierte, verantwortliche Diskussion überdie Standorte; denn die Standortentscheidung wird Pla-nungssicherheit geben, weil für die Standorte, die erhal-ten bleiben, signalisiert wird, dass dort nicht gleich wie-der nachgebessert werden muss.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2001
Kurt J. Rossmanith14152
Die Kriterien für die Entscheidungen sind bekannt.Nachdem die Grobplanung bereits vorgelegt worden istund in Kürze die Feinplanung vorliegen wird, könnenwir meiner Ansicht nach davon ausgehen, dass dieseEntscheidung nach wirtschaftlichen, sozialverträglichen,aber auch militärtechnischen Kriterien getroffen wird.Am 29. Januar werden wir über die Entscheidung des Mi-nisteriums unterrichtet und weiter diskutieren.Die Bundeswehr ist weder Selbstzweck noch darf sieals strukturpolitische Maßnahme benutzt werden, wo sichdies nicht mit sicherheitspolitischen Entscheidungen undKriterien vereinbaren lässt. Dass dies in den vergangenenJahren in verschiedenen Bundesländern anders gehand-habt wurde, macht die Situation schwierig, ändert abernichts an der grundsätzlichen Lage heute.Die Neuausrichtung der Bundeswehr ist sicherheitspo-litisch begründet. Sie ist begründet in der günstigen si-cherheitspolitischen Ausgangssituation.
Sie muss die Aufgabenstellungen der Bundeswehr imRahmen der internationalen Organisationen, wie derUNO, der NATO und der Europäischen Union, berück-sichtigen und ist damit auch Bestandteil der Entnationali-sierung der Sicherheitspolitik.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Beer,
gestatten Sie eine Frage des Kollegen Braun?
Nein,danke.
Diese Aufgaben sind eingebettet in eine Konzeptionder Gewaltprävention. Dies soll helfen, Gewalt zu ver-hindern. Prävention kann – das sehen wir gerade imKosovo und in Bosnien – auch Konfliktnachsorge sein.Die Grundsatzentscheidung für diese Reform wurdevom Kabinett am 14. Juni gefällt. Jetzt kommen die Kon-kretisierungen.
Logische Konsequenz der Neuausrichtung und der Redu-zierung der Bundeswehr ist die Überprüfung der Stand-orte und die Schließung von Liegenschaften und Stand-orten dort, wo sie nicht mehr benötigt werden.
Wir Grüne werden – das war insbesondere unser An-liegen – diese Standortreduzierung auch als Chance be-greifen. Unsere Koalition hat sich dazu bekannt, dassKonversion auch Bundesaufgabe ist. Was die Reduzie-rung in den letzten Jahren angeht, so bestätigen heutenicht wenige Kommunen, dass durch die Förderung vonKonversionsprojekten ein Gewinn für die Region erzieltwerden konnte. Gleiches wollen wir in den nächsten Mo-naten und Jahren ebenfalls umsetzen.
Es ist bekannt, verehrte Damen und Herren, dass wirals Grüne weiter gehen wollten, sogar weiter als dieWeizsäcker-Kommission. Wir haben gesagt, dass wirkeine Aufwuchsfähigkeit von 500 000 Soldaten mehrbrauchen, weil wir in einer entspannten sicherheitspoliti-schen Situation leben, und dass in Zukunft andere Aufga-ben wahrgenommen werden sollten. Wir sind für eineFreiwilligenarmee.Aber wir sehen, dass eine Reform einoffener Prozess ist.
– Ich sage natürlich etwas zur Wehrpflicht. – Wir werdenIhrem populistischen Antrag heute nicht zustimmen, weilwir uns darauf geeinigt haben, einen anderen Weg zu ge-hen.
Wir werden aber natürlich in Zukunft weiter über dieFrage der Wehrpflicht diskutieren; denn wir haben – dasist ein Wesentliches, von Ihnen verschwiegenes Element,Herr Rossmanith – einen Riesenreformschritt getan: Seitdem 1. Januar 2001 können Frauen freiwillig in allen Be-reichen der Bundeswehr ihren Dienst leisten.Wir werdendie Diskussion führen, ob der Zwang für Männer ange-sichts der Freiwilligkeit für Frauen weiter aufrechtzuer-halten ist.
Unsere Position ist bekannt, aber das ist doch nicht der ak-tuelle Streit. Wir werden vielmehr einen Schritt nach demanderen gehen, und zwar gemeinsam.
Die Freiwilligkeit ist unumstritten. Freiwilligkeit istdas Ziel unserer Gesellschaft.
Die freiwillige Übernahme von gesellschaftlichen Auf-gaben ist das Hauptaugenmerk für die Jugendlichenheute. Dort werden wir weiter unseren Weg gehen.
Ich will noch etwas dazu sagen, warum ich auch denzweiten Antrag von Ihnen ablehne.
Sie haben sich zwar inzwischen an die Weizsäcker-Kommission angenähert – das finde ich gut, weil dieWeizsäcker-Kommission nicht ihren Stellenwert imEntscheidungsprozess des Kabinetts gefunden hat –, aberSie wollen mehr Geld. Ich sage Ihnen: Wir haben eine An-schubfinanzierung für die Reform bereitgestellt.
Wir haben eine Anschubfinanzierung sichergestellt. MehrGeld wird es nicht geben. Vielmehr werden wir alle
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Angelika Beer14153
Bemühungen des Bundesministers unterstützen, mit de-nen er versucht, Geld effizienter auszugeben, als es dieBundesregierung bislang unter Herrn Kohl getan hat.
Ich komme zum Schluss.
Die Bundeswehr, ihre Angehörigen, die betroffenenGemeinden und Regionen stehen vor schwierigen Zeiten.Das wollen wir hier überhaupt nicht verniedlichen. Ge-rade vor dem Hintergrund der internen Umwälzungen undder zukünftigen Aufgaben bitte ich Sie ausdrücklich umUnterstützung – statt plattem Populismus, wie eben vor-getragen –
und darum, diese Reformen im Interesse aller, auch im In-teresse des Parlaments, ernst zu nehmen und die Diffe-renzen, die Sie ja zugestanden bekommen, hier politischauszutragen, aber nicht auf dem Rücken der Kommunenund erst recht nicht auf dem Rücken der Soldaten. DieseDemagogie sollten Sie beenden; denn sie ist ein Schrittnach hinten und nicht ein Schritt nach vorne.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat Kollege
Günther Nolting für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsiden-tin! Meine Damen und Herren!Das forsche Plädoyer aus der bürgerlichen Mitte istein wichtiger Impuls für den gärenden Erkennt-nisprozess der Gesellschaft, den der mutlose Vertei-digungsminister gern unterbinden würde, der sichaber nicht stoppen lässt:
Die Wehrpflicht hat ausgedient.Diese Aussage stammt nicht aus den Reihen der F.D.P.,sondern aus der „Braunschweiger Zeitung“ vom Septem-ber letzten Jahres, nach dem Beschluss des F.D.P.-Bun-desparteitages zur Aussetzung der Wehrpflicht. Ichglaube, besser kann man es nicht sagen.
Denn hier hat sich die F.D.P. bei einem zentralenThemengebiet erneut an die Spitze eines Prozesses grund-legender, gesellschaftlicher Neuordnung gestellt.
Wenn ich heute die Kollegin Beer höre, die sich wiedereinmal vollmundig für die Abschaffung der Wehrpflichtausspricht, in der Koalition mit der SPD aber ausdrück-lich für die Beibehaltung der Wehrpflicht stimmt, so kannich das nur als doppelzüngig, als Wählerbetrug, als infambezeichnen.
Es offenbart in aller Deutlichkeit, Frau Kollegin Beer, wiedie Grünen ihre früheren Überzeugungen nur der purenMacht wegen wieder einmal über Bord werfen.
Es ist den Grünen vollkommen gleich, wohin die SPD dasSchiff steuert – Hauptsache, sie sind dabei, und sei es alsblinder Passagier.
Altbundespräsident Herzog stellte bereits vor mehr alsfünf Jahren fest, dass der demokratische Rechtsstaat demjungen Mann die Wehrpflicht nur dann auferlegen darf,wenn es die äußere Sicherheit des Staates wirklich erfor-dert. Ob dies in der heutigen Zeit noch zutreffend ist,stellte sein Nachfolger, Bundespräsident Rau, vor weni-gen Wochen ebenfalls in Frage.
Der Herr Wehrbeauftragte hat vor diesem Hohen Hausnach reiflicher Überlegung die Empfehlung gegeben, dievon Bundesverteidigungsminister Scharping getroffeneEntscheidung zur Beibehaltung der Wehrpflicht einer kri-tischen Überprüfung zu unterziehen.
– Doch, so hat er es gesagt. – Die objektive Analyse zeigt,dass es für die Bundesrepublik keinen objektiven sicher-heitspolitischen Grund mehr gibt, der den gravierendenEingriff in die Freiheitsrechte junger Männer in Form derWehrpflicht rechtfertigen würde.
Meine Damen und Herren, wir dürfen nicht die Armeeerhalten, die wir gewöhnt sind, sondern müssen die Ar-mee aufstellen, die wir benötigen – so formulierte einstGeneral de Gaulle. Ich denke, dies ist auch heute noch ak-tuell.
Wer die Veränderungen in der sicherheitspolitischen Lagein Europa nicht erkennt, wird Schwierigkeiten haben, dieBundeswehr für die Erfüllung künftiger Aufgaben fit zumachen. Wir hinken bereits heute in diesem Bereich hin-ter den meisten unserer Verbündeten her; und der Abstandnimmt zu. Ein grundsätzliches Umsteuern angesichts die-
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Angelika Beer14154
ses Prozesses schafft aber Rot-Grün gerade auch in derWehrpflichtfrage nicht.Was macht der Herr Verteidigungsminister?
Herr Scharping betätigte sich lange Zeit als Ankündi-gungsminister; eine Ankündigung jagte die nächste. Dannmutierte er zum Bremser der überfälligen Bundeswehrre-form und jetzt spielt er die Rolle eines Abwiegelungs- undVerschleierungsministers. Das wird beim Thema Uran-munition und in der Stationierungsfrage offensichtlich.
20 000 Wehrpflichtige weniger gibt es allein in diesemJahr in der Bundeswehr. Herr Minister Scharping, das istdie totale Bankrotterklärung Ihrer Bundeswehrreform.
Das Leerlaufen ganzer Bataillone und Standorte hat nureinen einzigen Grund. Der Grund ist Ihr Chaoshaushalt,der schon seit seiner Einbringung in das Parlament nurzwei Parameter kennt: eine überzogene Ausgabenseiteund eine unseriöse Einnahmenseite.
Herr Minister, Sie werden bald Ihren finanzpolitischenOffenbarungseid leisten müssen.
Nein, meine Damen und Herren, in Deutschland darf dieFrage der Wehrform nicht von der Kassenlage abhängiggemacht werden. Daher fordern wir Sie auf: Statten Siedie Bundeswehr mit den finanziellen Mitteln aus, die füreine wirkliche Reform notwendig sind. Dann kann zumBeispiel für eine solide Anschubfinanzierung, für einewirkliche Attraktivitätssteigerung und für eine auftrags-gerechte Ausstattung gesorgt werden.
Die F.D.P. stellt sich den Herausforderungen der Zu-kunft an die Streitkräfte. Wir geben ein klares Bekenntniszur Aussetzung der Wehrpflicht ab, aber eben nicht zu de-ren Abschaffung. Gleichzeitig stellen wir uns aber auchder Verantwortung in punkto Gewinnung geeignetenNachwuchses für die Bundeswehr und wollen andere Vor-teile der Wehrpflichtarmee beibehalten, die es ja zwei-felsohne gibt. Wir sind für eine intelligente Reform derBundeswehr, ganz im Sinne der Empfehlungen derWeizsäcker-Kommission.
Folgerichtig, Herr Kollege Robbe, plädieren wir für dieSchaffung von 30 000 Haushaltsstellen für Kurzzeitsol-daten mit einer Dienstzeit von 12 bis 24Monaten, eine an-gemessene Besoldung und die Option – bei Vorliegen ent-sprechender Eignung und Leistung –, den Dienst in derBundeswehr verlängern zu können.Eigentlich müsste Ihnen, Herr Kollege Scharping,schon heute der Angstschweiß auf der Stirn stehen.
Sie werden nämlich in kurzer Zeit wieder von den Rea-litäten eingeholt werden, die Sie heute noch beharrlichleugnen, gerade so wie bereits bei dem Thema „Frauen inden Streitkräften“.
Denn auch in der Frage der Wehrgerechtigkeit wird derpolitische Kurs der rot-grünen Bundesregierung wiedereinmal durch eine Gerichtsentscheidung bestimmt wer-den, nicht durch eine auf sachgerechter Analyse der Fak-ten beruhende politische Entscheidung, wie sie auch derHerr Bundespräsident angemahnt hat. Das stellt Ihrer rot-grünen Politik ein Armutszeugnis aus.
Die Wehrpflicht ist nicht nur sicherheitspolitisch nichtmehr geboten, sie ist auch in höchstem Maße ungerecht.
Nach dem Modell der rot-grünen Bundesregierung wer-den in Zukunft nur wenig mehr als 20 Prozent der jungenMänner zum Wehrdienst und gut 30 Prozent zum Zivil-dienst, also dem Ersatzdienst, herangezogen werden.Über 40 Prozent hingegen werden überhaupt keinenPflichtdienst für den Staat leisten müssen. Dass in Zu-kunft der Ersatzdienst die Wehrpflicht legitimiert, kannnicht richtig sein. Dies geht an der Verfassungsrealitätvorbei.
Meine Damen und Herren, die Bundeswehr eignet sichwahrlich nicht als Experimentierfeld.
Herr Minister, ich fordere Sie auf: Schaffen Sie hier Klar-heit und stürzen Sie die Bundeswehr nicht in kurzer Zeiterneut in eine Struktur- und Organisationsdiskussion.Auf den Punkt gebracht: Die Bundeswehr muss drin-gend reformiert werden. Dazu bedarf es einer ausreichen-den Anschubfinanzierung, einer dauerhaften Erhöhungdes Wehretats um 2 Milliarden DM, eines Programmge-setzes und ganz zweifelsfrei der Aussetzung der Wehr-pflicht. Wir haben heute entsprechende Anträge gestellt.Ich bitte Sie um Zustimmung.
Herr Minister, Sie haben uns am gestrigen Tage an-geschrieben. Ich habe dieses Schreiben zur zukünftigen
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Günther Friedrich Nolting14155
Stationierung zur Kenntnis genommen. Sie sprechendarin von einer Auflistung der Kriterien. Diese sind zwarim Ausschuss vorgetragen worden, schriftlich haben wirsie jedoch noch nicht erhalten. Wir wissen auch nicht,welche Vorstellungen Sie haben. Insofern habe ich IhrSchreiben mit Verwunderung aufgenommen. Offen-sichtlich wollen Sie jetzt in allerkürzester Zeit das Parla-ment doch noch beteiligen. Sie setzen uns eine Frist vonwenigen Tagen, nämlich bis zum 24. Januar. Ich habe Sieschon vor der Einsetzung der Weizsäcker-Kommissionaufgefordert, das Parlament zu beteiligen. Das haben Sieabgelehnt.
Sie haben das Parlament auch an der Grobplanung nichtbeteiligt und an der gegenwärtigen Feinplanung beteili-gen Sie das Parlament ebenfalls nicht.
Sie haben Ihre Entscheidungen zum Teil zuerst den Me-dienvertretern vorgestellt und nicht dem Parlament. Inso-fern können Sie von uns nicht erwarten, dass wir uns indieser kritischen Stationierungsfrage, die Sie als Regie-rung allein zu entscheiden haben, sozusagen einkaufenlassen. Dieses Spiel werden wir nicht mitmachen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Nolting,
Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Frau Präsiden-
tin, ich komme zum Schluss. – Nicht das Parlament re-
giert, sondern es kontrolliert die Regierung. Dieser Kon-
trolle werden wir auch in Zukunft nachkommen.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Heidi Lippmann
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Der Kollege Nolting hat gerade auf dasundemokratische Verfahren hingewiesen. Ich kann sa-gen: Die drei Anträge aus den Oppositionsparteien, die hiervorliegen, haben eine Gemeinsamkeit.
für die Abschaffung der Wehrpflicht ein. Die Wehr-pflicht oder der ersatzweise Zivildienst sind nicht nur aus
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Günther Friedrich Nolting14156
sicherheitspolitischen Gründen Relikte aus Zeiten desKalten Krieges, sondern auch ohne jeglichen demokrati-schen Wert. Spätestens bei der Grundgesetzänderung,durch die den Frauen der Dienst an der Waffe ermöglichtwurde, hätte man die Wehrpflicht abschaffen oder zumin-dest aussetzen müssen. Dieses Versäumnis muss dringendbeseitigt werden. Wenn nämlich junge Männer nach wievor gezwungen werden, einen Zwangsdienst zu verrich-ten, entspricht dies nicht dem Gleichheitsgrundsatz. Es istvielmehr undemokratisch und diskriminierend.Halten Sie nicht länger – Herr Nolting hat es schon ge-sagt – aus sozialpolitischen Gründen an der Wehrpflichtfest, weil Sie die Zivildienstleistenden brauchen, sondernschaffen Sie endlich die dringend erforderlichen dauer-haften Arbeitsplätze, damit die bisherige Arbeit der Zivil-dienstleistenden erledigt werden kann!
Lassen Sie mich noch einmal auf die Debatte zurück-kommen, die wir gestern hier geführt haben. Diese zeigt,wie dringend erforderlich eine fundierte Auswertung desgrundgesetz- und völkerrechtswidrigen NATO-Angriffs-krieges gegen die Bundesrepublik Jugoslawien ist, nichtnur, was den Einsatz von Munition und Waffensystemenbetrifft, sondern insbesondere auch hinsichtlich der Ursa-chen. Das Fazit, das Sie alle hier im Hause aus diesemKrieg gezogen haben, entspricht ausschließlich militäri-schem Denken und zieht sich wie ein roter Faden auchdurch die Debatte über den Bundeswehrumbau. Es gehtIhnen nicht darum, eine umfassende Ursachen- und Feh-leranalyse zu betreiben, sondern lediglich darum, die mi-litärischen Defizite für künftige Einsätze auszugleichen.Das ist nicht nur ein falscher, sondern auch – abgesehenvon den unzähligen Milliarden DM, die dieser Weg kos-ten wird – ein gefährlicher und ein tödlicher Weg.Lassen Sie uns endlich über die Ursachen und Fehlerreden, zum Beispiel über die Interpretation der Ereignissevon Racak, die von Ihnen allen ohne fundiertes Hinter-grundwissen innerhalb von wenigen Stunden zum Massa-ker erklärt wurden und so letztendlich neben anderen Fak-toren zum Auslöser des NATO-Angriffes wurden! LegenSie dem Parlament und der Öffentlichkeit umgehend eineAnalyse und Bilanz vor, die vielleicht einen kleinenHauch von Selbstkritik und etwas weniger Selbstherrlich-keit enthält, Herr Minister Scharping! Machen Sie endlichSchluss damit, mit den Wählern und den Medien wie mitkleinen Kindern umzugehen, wie die „FAZ“ gesternschrieb.Die deutsche Beteiligung an dem NATO-Angriffskriegwar damals nicht humanitär und sie ist auch heute nichthumanitär.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Lippmann,
Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Mein letzter Satz. – Kom-
men Sie endlich zur Vernunft! Statt militärischer Op-
tionen und qualitativer Aufrüstung brauchen wir den
Ausbau ziviler Instrumente zur Konfliktlösung und -ver-
meidung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der nächste Redner ist
der Kollege Manfred Opel für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehrverehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Zukunft derBundeswehr ist zugleich die Zukunft unserer Sicherheit.Weil dies so ist, hätte ich – nicht nur ich, sondern sicher-lich auch die Bundeswehr, die Bürgerinnen und Bürger,die Gemeinden, die Sie angesprochen haben – erwartet,dass hier ein großer visionärer Wurf vor uns ausgebreitetwird, wie denn die Opposition alles anders, alles bessermachen würde als die Bundesregierung. Was ich gehörthabe, waren nur Verunsicherung, Kritikasterei, Kleinkrä-merei, aber überhaupt nichts von einem eigenen Konzept.
– Herr Nolting, ich bin sehr gerne bereit, auf Sie persön-lich einzugehen, weil Sie hier Ihre Fraktion vertreten ha-ben.
Sie haben den Antrag der CDU/CSU mit keinem Wort er-wähnt.
Sie haben nicht erwähnt, dass Sie diesen Antrag im Ver-teidigungsausschuss abgelehnt haben. Stattdessen ma-chen Sie uns glauben, Sie würden mit der CDU/CSUübereinstimmen. Das tun Sie aber gar nicht.
Dann haben Sie die „Braunschweiger Zeitung“ zitiertund so getan, als sei das ein Zitat, auf dem Sie sich ausru-hen können. Ich möchte in aller Bescheidenheit daran er-innern, dass Sie, verehrter Herr Nolting, auf jenem Par-teitag, den Sie zitiert haben, gegen den Antrag, den Siehier verteidigen, gestimmt haben.
Sie waren immer für die Wehrpflicht und nicht dagegen.Heute tun Sie so, als seien Sie der Vormann der Gegnerder Wehrpflicht gewesen. Aber das ist nicht der Fall.
Das weiß die Bundeswehr und das wissen wir.Das ist keine Politik; so sollten wir alle uns in die-sem Parlament nicht bewegen. Sie sollten sich zu dem
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Heidi Lippmann14157
bekennen, was Sie immer gesagt haben, und nicht so tun,als seien Sie schon immer der Vorreiter einer ganz ande-ren Politik gewesen; denn diese haben Sie selbst jahrelangnicht mitgetragen.
Hier wird so getan, als sei diese Bundesregierung derInnovation in der Bundeswehr nicht zugeneigt. Genau dasGegenteil ist der Fall. Ich erinnere daran, dass jahrelangversucht wurde, so etwas wie eine Streitkräftebasis he-rauszuarbeiten. Es wurde versucht, das zusammenzufas-sen, was den Friedensauftrag der Bundeswehr ausmacht.Diese Bundesregierung hat es in kurzer Zeit geschafft, ei-nen eigenen Inspekteur der Streitkräftebasis zu schaffenund dadurch die Streitkräfte zu entlasten. Jahrelang habender Bundeswehr-Verband und wir gefordert, man solle ei-nen eigenen Schüleretat einführen, um die Truppe zu ent-lasten. Genau dies hat der Minister in seinem berühmtenEckpfeilerpapier gemacht und das ist richtig so. Er hatauch ein Controlling eingeführt, das wir jahrelang gefor-dert haben; Sie haben das nicht getan. Außerdem hat ereinen so genannten IT-Direktor, einen Direktor für Infor-mationstechnologie, eingesetzt, damit die vielen Hun-derte Insellösungen, die in Ihre Verantwortung fallen,endlich überwunden werden können.Das zeigt, dass diese Bundesregierung gehandelt hat.Sie ist weitergegangen und hat sich nicht darum geschert,was es um sie herum an Verunsicherung gab.Da der Kollege Rossmanith hier so getan hat, als seidiese Bundesregierung nicht in der Lage, den Bundes-wehretat zu finanzieren,
möchte ich daran erinnern, dass ein Finanzminister aus Ih-rer Partei im Verteidigungsetat einfach gestrichen hat.
Er hat Haushaltssicherungsgesetze gemacht. Ich weiß,wie Herr Breuer damals Sturm dagegen gelaufen ist. Siesind auch dagegen Sturm gelaufen, den Umfang der Bun-deswehr von 370 000 auf 340 000 zu reduzieren. Und wasist passiert? Kein Mensch hat auf Sie gehört. Rühe undWaigel haben gemacht, was sie wollten, und haben auf dieSicherheitspolitiker der Union überhaupt nicht gehört.
Sie haben einige Befürchtungen geäußert, die schlichtund einfach nicht wahr sind.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rossmanith?
Mit größtem Vergnügen, Frau
Präsidentin!
Lieber Kollege
Opel, sind Sie bereit, die Zahlen, die ich Ihnen jetzt nen-
nen werde, auch entsprechend zu bestätigen, weil es halt
die Fakten sind und sie bereits die Ist-Ergebnisse darstel-
len? Der Verteidigungshaushalt lag im Jahre 1996 bei
47,2 Milliarden DM, der Haushalt 2000 bei 45,3 Milliar-
den DM, und der Haushalt für das Jahr 2001 liegt derzeit
bei 46,8 Milliarden DM. Hier sind aber bereits die 2 Mil-
liarden DM für den Bosnien- und den Kosovo-Einsatz aus
dem Einzelplan 60 eingeflossen.
Herr Kollege Rossmanith, ich
bin bereit, Ihnen zu bestätigen, dass Sie einen Schulden-
berg von 1 504 Milliarden DM hinterlassen haben, der im
Haushalt 2000 82 Milliarden DM Zinsen, also einen
Schuldendienst bedeutet, der fast doppelt so hoch ist wie
der Verteidigungshaushalt, sodass wir für Zinsen bezah-
len müssen und nicht für das bezahlen können, was wir ei-
gentlich wollen, für unsere Bundeswehr. Das kann ich Ih-
nen gern bestätigen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Opel, es
gibt eine zweite Frage des Kollegen Rossmanith.
Gern, wenn sie von der glei-
chen Qualität ist.
Herr Kollege
Opel, ist Ihnen bekannt, dass im Jahre 1990 unser Land
mit großer Dankbarkeit die Wiedervereinigung erlangt hat
und dass daher enorme Kosten, jährlich bis zu 150 Milli-
arden DM Nettotransfers in die neuen Bundesländer,
übernommen werden mussten,
um die Hinterlassenschaften des real existierenden Sozia-
lismus nach und nach zu beseitigen?
Herr Kollege, Sie wissen ganzgenau, dass mir das sehr nahe ist und dass mir das bewusstist.
Nur, Herr Kollege, Sie wissen, dass wir einen Solida-ritätszuschlag erhoben haben und dass dies nicht die Bun-desregierung, sondern die Bürgerinnen und Bürger diesesLandes bezahlen. Ihre Darstellung ist schlicht und einfachfalsch. Schon vor 1990 sind Sie in den Schuldenstaat ge-gangen und danach taten Sie es auch. Dazu sollten Siesich bekennen, das wäre wenigstens ehrlich.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir habendie Gleichgewichtigkeit von Streitkräften und Verwaltungin der Bundeswehr zu beachten. Wenn wir von Bundes-
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Manfred Opel14158
wehr sprechen, sprechen wir von beidem. Wir sprechenvon der Gesamtbundeswehr und auch von der Peripherie,von den Gemeinden.Der Minister ist kritisiert worden, weil er gestern ge-nau das machte, was Sie immer gefordert haben. Er hatIhnen die Chance gegeben, Herr Nolting, zu einem Kri-terienkatalog beizutragen. Diesen Kriterienkatalog müs-sen Sie doch kennen. Sie brauchen nur die Protokolle desVerteidigungsausschusses zu lesen, dann wissen Sie das.Auf der einen Seite tun Sie so, als würde der Minister Sienicht teilhaben lassen. Aber auf der anderen Seite lehnenSie es ab mitzuwirken, wenn er Sie teilhaben lässt.
Sie können doch nicht so tun, als hätte die Bundes-wehrreform Sie überfallen. Sie haben das Weizsäcker-Gutachten, das Eckwertepapier, das Eckpfeilerpapier, Siehaben alle Daten. Tragen Sie endlich dazu bei, seien Siekonstruktiv! Ich bemerke, dass Sie destruktiv sind. Diesbedauere ich sehr. Das hat die Bundeswehr nicht verdient,Herr Nolting.
Ich möchte Sie daran erinnern, dass diese Bundeswehr ei-nen völlig neuen Auftrag hat. Frau Lippmann – Sie ist leiderjetzt nicht da –, diese Bundeswehr ist keine Interventionsar-mee. Die Bundeswehr hat den neuen Schwerpunkt Bündnis-verteidigung. Wir waren über Jahre Sicherheitsempfänger.Jetzt haben wir die Möglichkeit, Sicherheitsgeber zu sein.Dies bedeutet, dass wir die gesamte Bundeswehr umstruktu-rieren müssen. Von einer Interventionsarmee zu reden istdaher gänzlich falsch.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, es gibt
eine Zwischenfrage des Kollegen Nolting.
Mit dem größten Vergnügen,
Frau Präsidentin.
Herr Kollege
Opel, ist Ihnen bekannt, dass es eine Weizsäcker-Kom-
mission gegeben hat, in der aktive Politiker nicht mitge-
arbeitet haben und – aus der Sicht des Ministers – gar
nicht mitarbeiten sollten?
Ist Ihnen bekannt, dass das Parlament, als es um die Grob-
planung ging, nicht in die Planung einbezogen wurde? Ist
Ihnen bekannt, dass bei der Feinausplanung, die stattfand,
das Parlament wieder nicht beteiligt wurde,
dass bei den Standortentscheidungen des Ministers das
Parlament im Vorfeld nicht beteiligt wurde und dass uns
jetzt eine Frist von wenigen Tagen gesetzt wurde, in der
wir uns beteiligen sollen? Wir werden damit unter erheb-
lichen Druck gesetzt und sollen offenbar eingekauft wer-
den. Ist Ihnen das alles bekannt?
Herr Kollege Nolting, es gibt
verantwortliches Regierungshandeln. Dafür haben wir
eine Regierung. Ich bin dankbar, dass diese Regierung
ihre Verantwortung wahrgenommen hat.
Jetzt aber zu dem Punkt „Beteiligung des Parla-
mentes“. Wir haben in der Opposition jahrelang eine par-
lamentarische Wehrstrukturkommission gefordert. Sie
haben diese immer abgelehnt. Das ist die ganze Wahrheit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Opel, es
gibt eine Frage der Kollegin Lippmann.
Ich verweise darauf, dass dies die letzte Frage ist, die
ich bei diesem Redner zulasse. Es ist bereits 13.30 Uhr
und wir haben noch zwei weitere Tagesordnungspunkte.
Frau Kollegin Lippmann, bitte.
Herr Kollege Opel, Sie ha-
ben mich gerade direkt angesprochen und darauf hinge-
wiesen, dass wir nicht länger Sicherheitsnehmer, sondern
Sicherheitsgeber seien. Ich frage Sie in Anbetracht der
gestrigen Debatte, die wir geführt haben, ganz konkret:
Wem geben wir welche Sicherheit und vor allem in wel-
cher Form? Haben wir den Menschen, die Sie damals in
Jugoslawien bombardiert haben, Sicherheit gegeben?
Halten Sie nach wie vor an der Interpretation des „hu-
manitären Krieges“ fest? Ist das Sicherheit, die wir
geben? Geben wir durch die derzeitigen Planungen den
Soldaten und vor allem ihren Familien Sicherheit? In
welcher Form garantieren wir diese Sicherheit?
Sind Sie nicht vielmehr der Auffassung, dass wir durch
Krisenprävention und mit nicht militärischen Mitteln
Sicherheit geben müssten,
wozu der Umbau der Bundeswehr und ihr Engagement in
der WEU und der NATO sicherlich nicht gehören?
Verehrte Frau Lippmann, einesist richtig: Die Krisenprävention – einschließlich nichtmilitärischer Mittel – ist vordringlich. Wir wollen denFrieden ohne den Einsatz von Militär.Aber ich muss Ihnen auch sagen: Wir leben in Sicher-heit. Wir erkennen den Wert der Sicherheit nicht, so langesie vorhanden ist. Wir spüren diesen ihren Wert erst, wennsie gefährdet oder nicht mehr vorhanden ist. Diese Sicher-heit haben wir durch unsere Bundeswehr und vor allemaufgrund unserer Alliierten lange Zeit bewahrt.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2001
Manfred Opel14159
Sowohl Art. 5 des NATO-Vertrages wie auch desWEU-Vertrages legt fest, dass wir uns gegenseitig beiste-hen. Lange genug haben uns die Alliierten beigestanden.Wir wollen in Zukunft den Alliierten beistehen, vor allemin der vergrößerten NATO. Das ist unsere Aufgabe. Dasheißt, dass wir in Zukunft Sicherheitsgeber sein werden.Das bedeutet, dass wir die Bundeswehr umstrukturierenmüssen.
Wir haben weiter eine völlig neue Operationsführung.Wir haben sie deswegen, weil das Gefecht schnellergeworden ist. Bei jedem Wetter und zu jeder Tageszeitmuss man einsatzbereit sein. Dies bedeutet eine völligneue Führung in den Streitkräften. Mit unseren Streit-kräften müssen wir uns weiterentwickeln. Das hat auchAuswirkungen auf die Struktur und die Stationierung.Wir haben auch eine neue Technologie, die mehr Präzi-sion, mehr Datenverarbeitung und eine verbesserte Ein-satzfähigkeit nach sich zieht. Dies bedingt eine neueStruktur. Eine neue Struktur hat zwangsläufig eine neueStationierung zur Folge. Es ist völlig egal, wie groß dieGeldmittel für die Bundeswehr sind. Jeder in der politi-schen Verantwortung hätte eine Umstrukturierungvornehmen müssen. Es gehört eben auch zur Wahrheit,dass man sich dazu bekennt. Und es gehört zur Zukunftder Bundeswehr, dass man dies tut.Wir alle gemeinsam – die Gemeinden, die Soldaten, dieBundeswehrangehörigen in Zivil und vor allen Dingenwir in diesem Hohen Hause – müssen diese Umstruk-turierung mittragen. Wir müssen zur Sicherheit der Bun-deswehrangehörigen und ihrer Familien und nicht zu ihrerVerunsicherung beitragen. Das ist unsere Aufgabe, die imZentrum dessen steht, was von der Politik erwartet wird.
– Verehrter Herr Breuer, mit Ihrem Zwischenruf machenSie genau das Gegenteil. Wir versuchen dadurch, dass wireine klare Zeitvorgabe für unsere Entscheidung haben,klarzumachen
– lassen Sie mich doch einfach ausreden –, dass wir einemit den Gemeinden und Ländern abgestimmte Politikwollen. Der Minister hat mit dem Ministerpräsidentengesprochen. Er hat Ihnen alles das dargestellt, was auf derTagesordnung steht.
– Sie mögen es nicht wahrgenommen haben. Aber das istIhr Problem. Alle anderen, zum Beispiel die Soldaten,haben es wahrgenommen.
Wenn man mit Kommandeuren und Soldaten spricht,dann sagen diese, dass sie Ihre Verunsicherungskampagneüberhaupt nicht verstehen. Sie haben zur Bundesregie-rung und zum Verteidigungsminister Vertrauen.Unbeschadet dessen, welche Klänge man heute ausdem Bundeswehr-Verband hört – dies bedauere ich aus-drücklich; ich bin seit 1958 Mitglied dieses Verbandesund habe solche Klänge noch nie gehört –,
wird die Bundeswehr die Zukunft gewinnen. Wir werdendie Zukunft der Bundeswehr garantieren und damit dieSicherheit unseres Landes.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der nächste Redner
für die CDU/CSU ist der Kollege Thomas Kossendey.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will mit meinemBeitrag auf zwei Aspekte eingehen, die heute noch garnicht erwähnt worden sind: die Situation der Zivilbediens-teten und die Kooperation der Bundeswehr mit der Wirt-schaft.Lassen Sie mich zu Anfang feststellen, Herr Minister:Was das Ziel angeht, stimmen wir mit Ihnen überein. Wirwollen mehr als früher – das haben wir seit Beginn der90er-Jahre deutlich gemacht – den Sachverstand derWirtschaft in die Bundeswehr hineintragen und wirwollen die Auftragserfüllung der Bundeswehr durch dieöffentliche Hand auf das sachlich und rechtlichnotwendige Maß beschränken. Sosehr wir uns aber indiesen Zielen einig sein mögen, so sehr haben wir Zweifelangesichts des Weges, den Sie in diesem Zusammenhangeingeschlagen haben. Lassen Sie mich das an drei Pro-blemkreisen verdeutlichen.Zunächst zum Stichwort Zivilbedienstete.Unseres Er-achtens haben Sie sich – unklugerweise – unter einenZeitdruck gesetzt, der Sie geradezu zwingt, Fehler zumachen, Enttäuschungen zu provozieren und Verun-sicherung zu schaffen. Wer in den nächsten Jahren über40 000 Zivilbedienstete einsparen will, der gerät schnellin die Situation, dass er einsparen muss, koste es, was eswolle. Dies trifft umso mehr zu, als die einzusparendeZahl der Zivilbediensteten nicht das Ergebnis einer Pla-nung ist, sondern letztendlich eher einer Vorgabe des Fi-nanzministers folgt.Sie sagen im Hinblick auf die Zivilbediensteten zumBeispiel: Eine so weit gehende Arbeitsplatzgarantie, wieich sie ihnen gebe, haben sie noch nie gehabt. Was dieVertreter der Gewerkschaften bei den jetzt stattfindendenTarifverhandlungen allerdings erleben, ist, dass das poli-tische Versprechen, das Sie gegeben haben, von IhrenVertretern in den Tarifkommissionen nicht akzeptiertwird. Sie haben im Gegenteil in den ersten Besprechun-gen mit den Tarifpartnern deutlich gemacht, dass das In-nenministerium einer Arbeitsplatzgarantie, wie sie die
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2001
Manfred Opel14160
Bediensteten erwarten, nie zustimmen wird. Das muss dieMitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei der Bundeswehrverunsichern.Sie sollten zur Kenntnis nehmen, dass es sich beidiesen Mitarbeitern nicht um Kostenstellen mit zweiOhren handelt, sondern um Menschen, die zusammen mitihren Familien in Sorge sind um ihren Arbeitsplatz.
Wenn diese spüren, dass über sie nur verfügt wird, stattdass mit ihnen gesprochen wird, dann lähmt das die Mo-tivation.
Wenn Sie darüber hinaus keine Gelegenheit ungenutztlassen, die Leistung dieser Mitarbeiter in ein falschesLicht zu rücken bzw. sie manchmal sogar der Lächer-lichkeit auszusetzen, muss das demotivierend wirken. Ichwill Ihnen dafür ein Beispiel nennen. Auf der Komman-deurtagung haben Sie, Herr Minister Scharping, gesagt– ich zitiere wörtlich –:Kürzlich erzählten mir Menschen,– natürlich anonym –ich solle mir mal die WBV in München etwasgenauer angucken. Das habe ich dann getan. Da ar-beiten etwas über 900 Menschen auf deutlich über80 000 qm Büroflächen. Das ist unwirtschaftlich.Und auch das ist nur ein Beispiel für manches andere,das ich erwähnen könnte.Tatsache ist: Das Bundeswehrverwaltungszentrumin München hat eine Gebäudenutzfläche von circa88 000Quadratmetern. Sämtliche überbauten Flächen, alsoBüros, Flure, Keller, Toiletten und Wirtschaftsräume, sinddarin enthalten. In diesem Bundeswehrverwaltungszen-trum arbeiten außer der Wehrbereichsverwaltung nochzehn weitere Dienststellen: die Standortverwaltung, dasKreiswehrersatzamt, das Rechenzentrum, die MAD-Stelle,das Truppendienstgericht usw. Die Wehrbereichsverwal-tung VI hat für sich allein eine Hauptnutzfläche von15 000 Quadratmetern, was bei 900 Bediensteten genauden Vorgaben entspricht, die Ihr Ministerkollege in demdafür zuständigen Ressort vorgegeben hat.
Ich finde, wer auf diese Art und Weise über die Zivilbe-diensteten spricht, macht sich nicht unbedingt verdientum sie. Lassen Sie doch diese rhetorischen Taschenspie-lertricks. Sie helfen Ihnen und uns nicht und sie verun-sichern die Menschen.
Besser wäre es, Herr Minister, Sie würden dieBeispiele ernst nehmen, die gezeigt haben, dass man Geldund Personal sparen kann, wenn man intern optimiert undinvestiert, und zwar entsprechend dem Grundsatz, denRichard von Weizsäcker in seinem viel zitierten Berichtangeführt hat: Sparen kostet. So ist zum Beispiel in derStandortverwaltung in Schwanewede 1994 unter VolkerRühe ein Optimierungsmodell ins Werk gesetzt worden,das den Bediensteten die Möglichkeit gegeben hat, nacheiner Investition von 2,3 Millionen DM selber zu sparen.Nachdem diese Investition getätigt worden ist, wird indieser Standortverwaltung jedes Jahr ein Betrag vonungefähr 2,4 Millionen DM eingespart. Das zeigt sehrdeutlich, wie wichtig es ist, zunächst eine Anschub-finanzierung zu geben, wenn man sparen will. Für einesolche Anschubfinanzierung ist in Ihrem Haushalt aberweniger Geld vorgesehen, als notwendig wäre. Letzt-endlich spüren die Menschen, dass Anspruch und Wirk-lichkeit auseinander klaffen. Und das verunsichert.Genauso verhält es sich bei der Kooperation mit derWirtschaft. Es haben zwei große Festveranstaltungenstattgefunden. Der Kanzler und Sie haben sich im Ram-penlicht zusammen mit der deutschen Industrie gesonnt –das ist für Sozialdemokraten zugegebenermaßen ein fan-tastisches Erlebnis. Solche Veranstaltungen helfen aller-dings der deutschen Wirtschaft nicht in dem Maße, wie siees erhofft hat. Es sind Kooperationsverträge unter-schrieben worden; Sie sagen, es hätten über 600 Firmenunterschrieben. Wenn man aber fragt, was diese Firmenkonkret von diesen Verträgen haben, wird uns mitgeteilt,vielleicht zwei Dutzend dieser Firmen hätten Verträge mitder Bundeswehr geschlossen.
In den Bereichen, in denen Sie Möglichkeiten einer al-ternativen Finanzierung hätten – Sie persönlich habenvielleicht keine Berührungsängste –, ist Ihr Ministeriumnoch zu sehr im alten Denken verhaftet, um die Chancen,die es dort gibt, wirklich zu nutzen. Ich will als Beispielenur das Wehrforschungsschiff und den Aufklärungssatel-liten nennen.
– Verehrter Herr Kollege Zumkley, Ihr Zwischenruf istnicht von der Qualität, wie ich es von Ihren sonstigenBeiträgen kenne. Streichen Sie ihn einfach wieder!
Es wird häufig eingewandt, das Grundgesetz stündeeiner Privatisierung entgegen. Herr Minister, Sie wollteneine Gesellschaft gründen, die dazu in der Lage ist, dieBundeswehr nach privatwirtschaftlichen Gesichtspunk-ten aufzumöbeln. Ich glaube, diese Gesellschaft wärebesser erst gegründet worden, nachdem Sie mit demSachverstand Ihres Hauses den rechtlichen Rahmenabgesteckt hätten. Im Augenblick ist Frau Fugmann-Heesing, die ich als kompetente Geschäftsführerin dieserGesellschaft schätze, dabei, den rechtlichen Rahmen, indem sie arbeiten kann, selbst auszuloten. Das kann nichtin Ordnung sein. Sie sollten den Sachverstand IhresHauses und der nachgeordneten Behörden viel intensivernutzen, als das in der Vergangenheit geschehen ist.Im Zusammenhang mit dem Beispiel GEBB bitte ichSie zu überlegen: Sie wollen, dass Ihnen die GEBB durchGrundstücksverkäufe in diesem Jahr einen Betrag von
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Thomas Kossendey14161
nahezu 1 Milliarde DM für den Haushalt erwirtschaftet.Ohne dieses Geld wäre der Spielraum für Investitionensehr klein. Sind denn die Grundstücke, die verkauft wer-den sollen, schon identifiziert? Sind sie schon einmal be-wertet worden? Wer aus den Kreisen der deutschen In-dustrie oder der deutschen Makler solche Grundstückekaufen will, wird klugerweise bis zum Jahresende warten,weil dann Ihre finanzielle Situation immer prekärer wirdund möglicherweise eine Situation eintritt, in der über denPreis noch verhandelt werden kann.Manches von dem, was Sie angefangen haben, istschön und richtig gedacht, in manchen Fällen haben Sienur Ansätze weitergedacht, die schon vorhanden waren.Die Wege sind mir allerdings noch viel zu verschlungen,um wirklich erfolgreich zum Ziel zu führen. Herr Minis-ter, ich sage Ihnen sehr deutlich: Wir bieten Ihnen aus-drücklich an, an diesem Thema gemeinsam weiterzuar-beiten. Es ist ein viel zu wichtiges Thema, mit demWeichen für die Zukunft der Bundeswehr gestellt werden,als dass wir es nur einer Partei dieses Hauses überlassensollten. Sie müssen sich aber ernsthaft bemühen, die Pläneins Werk zu setzen.Ich nenne Ihnen als Beispiel nur das Marinearsenal inWilhelmshaven. Hier könnten wir den Dreiklang von In-dustrie, militärischen und zivilen Mitarbeitern ganz primadurchexerzieren. Im Arsenal ist eine Menge an Vorleistun-gen erbracht worden; die Strukturen sind flacher gewor-den, es sind nahezu die Hälfte der ursprünglichen Dienst-posten eingespart worden. Es bietet sich für eine intensiveund verbesserte Kooperation mit der Wirtschaft an. Wirsollten einmal gemeinsam im Ausschuss erörtern, wie wirvor dem Hintergrund dieses Beispiels die Kooperationzwischen Bundeswehr und Wirtschaft erfolgreich prak-tizieren können.Zum Schluss eine persönliche Bemerkung: Dieseschwierige Arbeit für die Bundeswehr, für die Mitarbei-terinnen und Mitarbeiter im zivilen und militärischenBereich, erfordert in den kommenden Jahren die unge-teilte Aufmerksamkeit des Ministers. Die Menschen inder Bundeswehr werden große Belastungen auf sichnehmen müssen; manche Karriereplanung wird jäh unter-brochen und mancher Lebenslauf wird sich nicht so re-alisieren lassen, wie er geplant war. Ich glaube, es ist nichtgerade sehr motivierend, wenn die betroffenen Menschen,die in schwierigen Situationen stecken, im Fernsehen hö-ren, dass Sie in den letzten Monaten gelernt haben, eineAkte auch einmal etwas früher aus der Hand zu legen.Nein, diese Menschen müssen das Gefühl haben, dass Siedas Heft fest in der Hand haben und dass Ihre politischeAufmerksamkeit ungeteilt den Sorgen und Problemen derMenschen gilt, die in der Bundeswehr für unsere Sicher-heit sorgen.Schönen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kompliment, Herr
Kollege, genau auf die Minute. Nächster Redner für die
Fraktion der Bündnisgrünen ist der Kollege Winfried
Nachtwei.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ZurDiskussion und Abstimmung stehen heute mehrere An-träge der versammelten, aber sehr uneinigen Opposition.
Beiträge zur Debatte über die anstehende Bundeswehr-reform, die selbstverständlich der öffentlichen und kritis-chen Begleitung bedarf, sind grundsätzlich zu begrüßen.Die militärpolitische Debatte wird und wurde auch indiesem Haus immer wieder durch viel parteipolitischesGetöse geprägt. Herr Breuer, Sie gehörten zu denjenigen,die dazu sehr viel beigetragen haben. Aber die heutigenAnträge belegen erstaunlicherweise, dass es in relativ vie-len Punkten Konsens gibt. Wahrscheinlich war der Kon-sens in diesem Hause – wenn man es historisch betrach-tet – noch nie so groß. Wegen der Kürze der Zeit kann ichallerdings nur auf die Differenzen eingehen.
Die CDU/CSU votiert für eine geringfügige Redu-zierung des Bundeswehrumfanges und für einen Anstiegder Militärausgaben. Wie Sie das mit ihrem Anspruch,den Bundeshaushalt zu konsolidieren, vereinbaren wollen,lassen Sie wohlweislich unausgesprochen.
Die F.D.P. orientiert sich in ihrem Antrag stark am – zuRecht gelobten – Bericht der Weizsäcker-Kommission.Das macht ihn um einiges diskussionswürdiger. Wenn dieF.D.P. sagt, die Wehrpflicht sei „sicherheitspolitisch nichtmehr zwingend erforderlich“, dann hat sie nach bündnis-grüner, aber bekanntlich nicht nach regierungsamtlicherAuffassung Recht.
– Herr Nolting, Sie blasen sich hier immer so fantastischauf, als hätten Sie völlig vergessen, dass es einen kleinenUnterschied zwischen Parteipositionen, Fraktionspositio-nen und Kompromisspositionen gibt, die man in Koali-tionen vereinbaren muss. Das hat nichts mit Unglaub-würdigkeit zu tun. Das ist normaler Parlamentarismus,sonst gar nichts.
Wenn Sie gestatten, gehe ich weiter auf Sie ein, HerrNolting. Immerhin sind Sie derjenige in Ihrer Fraktiongewesen, der zumindest bis zum Sommer letzten Jahresbesonders eifrig durch die Lande gezogen ist und immerwieder verkündet hat: Die Wehrpflicht ist sicherheits-politisch unverzichtbar. Ich frage Sie: Was hat sich seitdem letzten Sommer sicherheitspolitisch so grundlegendfür die Bundesrepublik geändert,
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Thomas Kossendey14162
dass Sie jetzt zu der entgegengesetzten Schlussfolgerungkommen? Sie verstehen, dass hier der Eindruck sehr naheliegt, dass nicht Sachargumente und gewandelte Überzeu-gungen eine Rolle gespielt haben, sondern das bekannteFähnlein im parteipolitischen Winde. In diesem Zusam-menhang ist mir die Auffassung Ihres Kollegen van Essen,der überzeugter Reserveoffizier ist, aufgefallen. Ich teilesie zwar nicht, aber er hat Respekt verdient, weil er anseiner Überzeugung festgehalten hat.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Nachtwei, der Kollege Nolting möchte eine Zwischen-
frage stellen.
Nein, wir brauchen keine weiteren Aufblasveranstaltun-
gen.
Der PDS-Antrag sollte genauer zur Kenntnis genom-
men werden. Die PDS erkennt nämlich erstmalig den
Verteidigungsauftrag der Bundeswehr auch im Bünd-
niszusammenhang an. Ich vermute, dass die meisten
PDS-Anhänger davon noch gar nichts wissen; denn wenn
sie es wüssten, wären viele von ihnen sicherlich sehr irri-
tiert. Allerdings werden im PDS-Antrag die Konsequen-
zen verschwiegen. Bündnisverteidigung ist heute und in
Zukunft nicht ohne hochmobile und flexible Kräfte
möglich, also nicht ohne die Fähigkeiten, die fast mit den-
jenigen deckungsgleich sind, die man für so genannte
Kriseneinsätze benötigt.
Es ist allerdings auffällig, dass sich die drei Opposi-
tionsfraktionen in ihren Anträgen genau in diesem Punkt
ausschweigen, nämlich über den Auftrag der Krisenbe-
wältigung, der ja eigentlich im Mittelpunkt der laufenden
Bundeswehrreform steht. Die PDS erteilt ihm ganz kate-
gorisch eine Absage und setzt militärische Krisenbewälti-
gung im Grunde mit imperialistischem Interventionismus
gleich. Sie negieren dabei allerdings Kleinigkeiten, näm-
lich zum Beispiel die zurzeit unverzichtbare Rolle von
SFOR und KFOR auf dem Balkan, ohne die es keine
Gewalteindämmung gäbe. Eine kategorische Absage
Ihrerseits liefe darauf hinaus, Blauhelmtruppen überall
– vom Golan bis Zypern – abzuziehen. Das allerdings
wären Gewaltförderungsmaßnahmen nach PDS-Art.
CDU/CSU und F.D.P. dagegen kommen im Grunde
nicht über die übliche Terminologie zur militärischen
Krisenbewältigung hinaus und verpassen damit die
Chance, die zu Recht viel geforderte große Debatte zur
Bundeswehrreform etwas voranzubringen. Dabei drän-
gen sich doch die großen und bisher nicht geklärten Fra-
gen auf – Sie entschuldigen, wenn ich mich in diesen
Punkten im Plenum ab und zu wiederhole; aber da dies auf
so wenig Widerhall stößt, muss man das ab und zu wieder-
holen.
Wir schaffen keine Interventionsarmee, wohl aber eine
interventionsfähige Armee.
Gleichzeitig wollen wir nicht von einer militärpolitischen
Zurückhaltung, die Tradition der Bundeswehr ist, ab-
rücken. Darin besteht hier Einigkeit.
Ehrlicherweise müssen wir allerdings sagen: Die Absicht
alleine reicht nicht. Vielmehr brauchen wir eine genauere
Klärung und Verständigung über die Voraussetzungen,
Ziele und Grenzen von Kriseneinsätzen.
Angesichts der Nachgeschichte des Kosovo-Krieges
stellt sich vermehrt die Frage, wie künftig bei multilate-
ralen Kriseneinsätzen der Primat der Politik und die par-
lamentarische Kontrolle wirksam gestärkt werden kön-
nen. Dies ist auch im Zusammenhang mit der Diskussion
um uranhaltige Munition und der Frage, ob möglicher-
weise gar ein Anteil Plutonium enthalten ist, ein sehr
wichtiger Punkt.
Und schließlich: Die Integration der Bundeswehr in die
Gesellschaft ist eine demokratische und rechtstaatliche
Errungenschaft der Bundesrepublik. Daher geht es auch
um die Frage: Wie kann diese Errungenschaft bewahrt
und stabilisiert werden angesichts einer ganz anderen Re-
alität, was die Einsätze der Bundeswehr angeht, an-
gesichts einer real schrumpfenden Wehrpflicht und an-
gesichts weiterer Standortschließungen?
Wir als Sicherheitspolitikerinnen und -politiker können
uns nicht damit begnügen, dass Fragen der Bundeswehr
nur dann breites öffentliches Interesse finden, wenn
sozusagen bestimmte Nerven der Gesellschaft betroffen
sind –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Nachtwei, Sie müssen zum Schluss kommen.
– ja, ich komme zum Schluss –, also zum Beispiel die re-
gionale Betroffenheit durch Standortschließungen, die
schwer einzuschätzenden Gesundheitsrisiken durch Strah-
len, Munitionsreste usw.
In einigen Wochen wird die Bundesregierung ihr
Weißbuch zur Sicherheitspolitik vorlegen. Das ist eine
vorzügliche Gelegenheit, über sicherheitspolitische Zu-
kunftsfragen breit zu diskutieren, zu mehr Klärung und
Verständigung zu kommen. Dazu sollten alle Fraktionen
ihren Beitrag leisten.
Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen Günther
Nolting, F.D.P.-Fraktion.
Herr KollegeNachtwei, wir haben ja in den vergangenen Jahren
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Winfried Nachtwei14163
verschiedene Veranstaltungen gemeinsam besucht undhaben dort gemeinsam diskutiert. Wir beide mögen diesicherheitspolitische Lage unterschiedlich einschätzen.Die Mehrheit meiner Partei ist der Auffassung – Sie ha-ben das ja zitiert –, dass die Wehrpflicht aufgrund der si-cherheitspolitischen Lage, die sich ja nun wirklich ver-bessert hat, nicht mehr zwingend notwendig ist.Herr Kollege Nachtwei, Sie werden sich allerdingsdaran erinnern können, dass ich immer gesagt habe: DieWehrpflicht ist dann infrage gestellt, wenn Wehr-gerechtigkeit nicht mehr gegeben ist. Mit dem Modell,das jetzt von Rot-Grün präsentiert wird, bewegen wir unsauf eine absolute Wehrungerechtigkeit zu.
Sie werden sich daran erinnern können, dass ich auchimmer gesagt habe: Der Grundwehrdienst muss dieWehrpflicht legitimieren und nicht der Ersatzdienst. Nachdem rot-grünen Modell aber wird es pro Jahr bedeutendmehr Zivildienstleistende als Grundwehrdienstleistendegeben. Das heißt, in Zukunft legitimiert sich die Wehr-pflicht aus dem Ersatzdienst. Das kann nicht richtig sein.Auch früher habe ich immer erklärt, dass dann dieWehrpflicht nicht mehr zu halten ist.Ein letzter Punkt: Ich möchte nicht, dass das Bun-desverfassungsgericht in dieser Frage eine Entscheidungtrifft, die wir als Parlament nachvollziehen müssen. Ichmöchte, dass politische Entscheidungen hier im Parla-ment getroffen werden, so wie das der Herr Bundespräsi-dent auf der Kommandeurtagung angemahnt hat.In diesem Sinne habe ich meine Ausführungen hier fürdie F.D.P.-Fraktion gemacht. Sie können mir nicht irgend-welche Dinge unterstellen. Ich habe diese Meinung in denvergangenen Jahren immer vertreten. Es ist leider sogekommen, wie ich es früher befürchtet habe. Deswegenplädiere auch ich mittlerweile für ein Aussetzen derWehrpflicht; nichts anderes.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Nachtwei, möchten Sie erwidern?
– Der Kollege verzichtet auf eine Erwiderung.
Ich erteile jetzt dem Kollegen Paul Breuer für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Wir reden hier über die Bundeswehr,ein absolut sensibles und wichtiges Instrument der deut-schen Außen- und Sicherheitspolitik, dem wir Deutschensehr viel verdanken. Deswegen sollte man diese Debattenicht an einem frühen Freitagnachmittag führen. DieseDebatte gehört eigentlich ins Zentrum einer Sitzungswo-che.Herr Kollege Opel, ich nehme gern auf, was Sie vorhinhinsichtlich meiner Bemühungen in den 90er-Jahrengesagt haben. Das haben Sie gar nicht falsch dargestellt.Ich habe in den 90er-Jahren davor gewarnt, voreilig dieBundeswehr zu verkleinern und ihr finanziell den Bodenzu entziehen; denn ich war der Meinung, dass in Deutsch-land viel zu viel über die Friedensdividende und viel zuwenig über die sicherheitspolitische Rolle des ver-einigten Deutschlands in der Mitte Europas als Sicher-heits- und Stabilitätsanker für unseren Kontinent geredetwurde.Die Frage ist, ob wir im Vorfeld der heutigen Debattegenügend über unsere sicherheitspolitische Rolle geredethaben. Haben wir, haben Sie, Herr Minister Scharping, derdeutschen Öffentlichkeit klargemacht, dass es Risikengibt, für die wir Vorsorge leisten müssen? Es gibt Risikenin Europa, um Europa und darüber hinaus, die sich nega-tiv auf unsere Stabilität hier vor der Haustür auswirkenkönnen. Ich bezweifle, ob diese Diskussion überhaupt ver-antwortlich genug geführt worden ist.Die sicherheitspolitische Diskussion ist ausgeblieben,das Pferd ist vom Schwanz her aufgezäumt worden. Eswurde über Geld, aber nicht über die Begründung für dieInvestitionen und die Reform geredet. Das ist ein Versa-gen des Bundesverteidigungsministers Scharping.
Sie wissen, dass wir hinsichtlich der Zielsetzung inmanchen Punkten übereinstimmen, aber ich zweifle sehrstark an der Richtigkeit Ihrer Strategie.Ich habe mir noch einmal einen Artikel in der „Süd-deutschen Zeitung“ vom 4. Oktober 1999 hervorgeholt. Indiesem Artikel wird über die legendäre Tagung in Deci-monannu, Sardinien, berichtet.
Auf dieser legendären Tagung tritt Herr Scharping auf– ich komme gleich zu Zitaten – und sagt sehr deutlich:Bei den eingegangenen sicherheitspolitischen Verpflich-tungen gegenüber der Europäischen Union und der NATOergäben sich für die Bundeswehr in den nächsten zehnJahren Mehrkosten in Höhe von 20 Milliarden DM. Dazukämen noch zwischen 10 und 20 Milliarden DM, die sichdurch den Investitionsstau der vergangenen Jahre ange-häuft hätten. Das heißt, 30 bis 40 Milliarden DM in zehnJahren, sprich 3 bis 4 Milliarden DM plus pro Jahr.Zum Sparen bei der Bundeswehr und den gleichzeitiggestiegenen Anforderungen sagte Scharping damals – ichzitiere –:Wenn man beides erreichen will, kann man die Bun-deswehr auch gleich einstellen. Das ist dann ehr-licher.Wenn man also gleichzeitig sparen und die Vertrags-verpflichtungen erfüllen will – sagt Scharping –, kannman die Bundeswehr einstellen. Ich stelle jetzt fest: Es istleider das geschehen, wovor Scharping gewarnt hat.
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Günther Friedrich Nolting14164
Die Vertragsverpflichtungen gegenüber der NATO, inEuropa und gegenüber der UNO sind eingegangen wor-den und gleichzeitig wird der Verteidigungshaushalt immittelfristigen Finanzrahmen in einer unverantwortlichenArt und Weise herabgefahren.
Herr Scharping, was nun? Das ist die Situation, in der Siesich jetzt befinden.Jetzt gehe ich einmal auf die Risiken und den deut-schen Beitrag ein. Hinsichtlich des anstehenden Umbausder Bundeswehr besteht Übereinstimmung darüber, dassdie Einsatzfähigkeit, die Verfügbarkeit und die Durchhal-tefähigkeit der Streitkräfte erhöht werden müssen. Wirsagen dazu – das geht aus unserem Antrag deutlich her-vor; dort kann man es nachlesen –: Wir müssen die Er-höhung der Krisenreaktionsfähigkeit mit einer nach wievor notwendigen Vorsorge auf dem Gebiet der Landes-verteidigungsfähigkeit verbinden, die mit der Bündnis-verteidigung fest verklammert ist.Wie sieht die Realität aus? Zur Realität gehört – es gehtum unsere Mitverantwortung – der StabilitätsankerDeutschland. Realität ist, dass wir unsere Bündnisver-pflichtungen in der Zukunft nicht einhalten können. HerrScharping hat der NATO zugesagt, dass wir Deutschenein Divisionsäquivalent für die Dauer eines Jahres abstel-len, und zwar in einem NATO-Partnerland. HerrScharping, ich sage Ihnen voraus: Bei den jetzt anstehen-den Planungen wird sich erweisen, dass Sie eine halbeDivision für ein halbes Jahr aufstellen können und dassSie den eingegangenen Vertrag nicht erfüllen.
Herr Scharping, was nun? Als Nächstes stellt sich fürmich die Frage der personellen Ressourcen und der damitverbundenen Vorsorge.Ich komme zurWehrpflicht. Ich teile das, was Kolle-gen der SPD eben zur Wehrpflicht gesagt haben: DieWehrpflicht ist ein wesentlicher Bestandteil der sicher-heitspolitischen Vorsorge für die Zukunft. Die Wehr-pflicht schafft die Möglichkeit, dass sich die Bundeswehran veränderte sicherheitspolitische Situationen anpassenkann. Was die F.D.P. macht, ist nichts anderes als umfal-len. Kollege Günther Nolting, du verbiegst dich hier in ei-ner Art und Weise, die ich nicht verstehen kann.
Der Umgang mit der Wehrpflicht vonseiten der SPD istjedoch nicht in Ordnung. Ein zu starkes Absenken der An-zahl der Wehrpflichtigen führt dazu, dass Wehrungerech-tigkeit entsteht und die Legitimationsbasis für die Wehr-pflicht immer schwieriger wird. Das muss leider gesagtwerden.
Es muss Wehrgerechtigkeit herrschen und es muss Vor-sorge geleistet werden. Sie leisten dem Missverständnisjunger Leute Vorschub, es komme auf ihren Beitrag fürdie deutsche Sicherheit nicht mehr an. Das ist ein riesigerFehler.
Deswegen sagen wir: Wenn es 30 000 Stellen für Wehr-pflichtige mehr gibt, dann herrschen Glaubwürdigkeitund Gerechtigkeit. Herr Scharping, bessern Sie nach!
Was die Finanzausstattung angeht, so sagen wir: Manwird mittelfristig über die – nach heutigem Geldwert be-rechnet – 50-Milliarden-DM-Grenze hinausgehen müs-sen. Hier ist gesagt worden: Nennen Sie doch die Finan-zierung! – Ich sage Ihnen einmal eines: Die mittelfristigeFinanzplanung sieht als zukünftige Finanzbasis der Bun-deswehr knapp 44Milliarden DM vor. Jeder Experte sagt:Wenn man die Bundeswehr modernisieren und sie ver-nünftig, überlegen ausstatten will, reicht das bei weitemnicht aus. Wenn das nicht geschieht, können wir aufgrundunserer Verantwortung keinen deutschen Soldaten in ir-gendeinen Einsatz schicken; das müssen Sie verstehen.Das ist nicht möglich, wenn man gleichzeitig an dieser Fi-nanzbasis festhält.Wenn Sie fragen: „Wo nehmt ihr das Geld her?“, dannantworte ich: Herr Zumkley und andere Kollegen, derUnterschiedsbetrag von 6 bis 7 Milliarden DM pro Jahrentspricht in etwa der Differenz in der Steuerschätzungfür ein halbes Jahr. Wenn Sie es bei einem Bundeshaus-halt von über 450 Milliarden DM nicht schaffen, diesenDifferenzbetrag für die Stabilitätspolitik Deutschlandsaufzubringen, dann frage ich: Wozu sind Sie überhauptnoch in der Lage? Das muss doch deutlich gesagtwerden.
Die großen Versprechungen des Bundesverteidigungs-ministers Scharping im Hinblick auf die Programme zurVerbesserung der sozialen Attraktivität der Bundes-wehr stehen ebenfalls auf dem Prüfstand. Ich habe einSchreiben aus dem Bundesfinanzministerium vom27. Dezember 2000 an den Bundesminister des Innerendabei. Mein lieber Georg Pfannenstein, ich bindavon überzeugt: Auch Sie besitzen das Schreiben. Indiesem Schreiben wird deutlich, dass der Kabinettsbe-schluss – es gebe ein Attraktivitätsprogramm; die Solda-ten der Bundeswehr bekämen eine bessere Finanzaus-stattung, bessere Start- und Aufstiegschancen –, auf denSie sich berufen, Herr Scharping, Lug und Trug ist. Hierwird deutlich, dass der Finanzminister eine völlig andereLinie als Sie fährt. Was kommt, ist keine Verbesserung inden Aufstiegschancen und der Attraktivität. Den Solda-ten droht vielmehr eine Verschlechterung, ein Eingriff inihre Heilfürsorge.
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Paul Breuer14165
Herr Minister, Sie stehen in der Gefahr, über Ihreheutige Unglaubwürdigkeit hinaus auch künftig in derBundeswehr unglaubwürdig zu werden. Sie stehen in derGefahr, Ihrer Verantwortung überhaupt nicht gerecht zuwerden, was den Umbau der Bundeswehr angeht. Hiermuss Aufklärung geleistet werden. Tun Sie es heute amRednerpult des Deutschen Bundestages!Ich bedanke mich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt der
Bundesminister der Verteidigung, Rudolf Scharping.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Wer eine Diskussion über die Zukunft der Bundes-wehr führen will, führt eine Diskussion über die Zukunftder Sicherheit unseres Landes, seiner Partner und seinerFreunde. Die Bundeswehr selbst hat zu dieser Sicherheitin den vergangenen Jahrzehnten zuverlässig, gut, verant-wortungsbewusst, leistungsstark und motiviert beigetra-gen.
Es wäre auch gut, wenn jeder hier in diesem Hause diesakzeptierte.Die Zukunft der Bundeswehr bestimmt sich zunächstdurch die Veränderungen, die eingetreten sind und diejedenfalls in großen Teilen positiv sind. Sie bestimmtsich auch durch die Aufgaben, die sich daraus ergeben:äußere Sicherheit gemeinsam zu gewährleisten, Koope-ration mit Partnern zu suchen, wo immer möglich, zumBeispiel mit Russland, und im Übrigen zur Krisen-prävention und Krisenbewältigung fähig zu sein. DieAufgaben sind unverändert, die Situation ist allerdingsgrundlegend verändert. Folglich braucht man dafür auchneue Fähigkeiten.Dem trägt die Entscheidung der Bundesregierung vom14. Juni des Jahres 2000 Rechnung. Ich bedanke mich aus-drücklich bei den Kollegen Robbe, Opel und Nachtwei,dass sie auf diese Umstände hingewiesen haben. Ohne einesolche grundsätzliche Orientierung und, wie ich hoffe,Übereinstimmung ist die Zukunft der Bundeswehr nicht zugestalten.
Auf der Grundlage dieser jetzt grob umrissenen Situa-tionsbeschreibung ist mehreres zu tun. Im Rahmen derGrobausplanung, also der Festlegung der grundsätzli-chen Strukturen, sind dann Entscheidungen getroffenworden. Sie sind übrigens auch hier im Deutschen Bun-destag debattiert worden. Bedauerlicherweise hat die Op-position zu großen Teilen die damals zur Verfügung ste-hende Redezeit – ich füge hinzu: bei einer günstigerenDebattenzeit – mit Standort- und Gelddebatten anstatt mitaußen- und sicherheitspolitischen Debatten verbracht.
Insofern sollten Sie, Herr Kollege Breuer, nicht beklagen,was Sie selbst angerichtet haben, sondern Ihr Verhaltenändern.Wir haben in der Zeit seit der letzten Regierungser-klärung und den Entscheidungen über die grundlegendenStrukturen der Streitkräfte Folgendes gemacht: Wir habeneine Priorisierungskonferenz zu den Rüstungsvorhabendurchgeführt. Daraus entsteht ein Material- und Ausrüs-tungskonzept, das Ende des Monats oder im Februar2001 vorliegen wird. Obwohl es in erstaunlich kurzer Zeitvorliegen wird, ist es sehr gründlich erarbeitet worden.
Wir werden zum gleichen Zeitpunkt einen Bundes-wehrplan vorlegen. Ich verbinde das mit der Bemerkung,dass Sie 1997/98 einen Bundeswehrplan gegen den sach-verständigen Rat der Militärs nicht vorgelegt haben, dassSie den Bundestag mit einem so genannten Datenberg ab-gespeist haben und dass Sie auf diese Weise verschleiernwollten, was Ihnen ehemalige Spitzenmilitärs gerne undim Zweifel öffentlich bestätigen, dass Sie die Lücke zwi-schen Ihren politischen Vorstellungen hinsichtlich Finan-zen sowie Investitionen und Ausrüstungserfordernissender Bundeswehr im Wahlkampf 1998 nicht sichtbar wer-den lassen wollten. Das ist auch eine Tatsache.
Im Übrigen werden wir in den ersten Märztagen einenGesetzentwurf vorlegen, in dem alle erforderlichen Ver-änderungen zum Wehrdienstgesetz, zur Laufbahnverord-nung, zum Soldatengesetz usw. enthalten sein werden.Herr Kollege Breuer, ich will Ihnen Ihr Engagementnicht absprechen. Aber es wird nicht dadurch glaubwür-diger, dass Sie damals zum sachlich Falschen hörbar ge-schwiegen haben, weil es die parteipolitisch Richtigen ge-tan haben, während Sie sich heute zum sachlich Richtigendröhnend auf Nebenkriegsschauplätzen äußern, weil esdie angeblich parteipolitisch Falschen tun.
– Ich habe gesagt „hörbar geschwiegen“. Sie haben zumsachlich Falschen hörbar geschwiegen, während Sie sichjetzt zum sachlich Richtigen dröhnend auf Nebenkriegs-schauplätzen bewegen.Sie hätten vorher eine Frage stellen können; das ist un-ter Kollegen ab und zu üblich.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2001
Paul Breuer14166
Dann hätte ich Sie darüber informiert, dass ich Kenntnisvon dem Schreiben eines Unterabteilungsleiters aus demBundesfinanzministerium vom 27. Dezember habe, dassich darüber am vergangenen Dienstagabend mit dem Bun-desfinanzminister gesprochen habe, dass der Bundesfi-nanzminister, der Bundesinnenminister und der Bundes-verteidigungsminister sich einig sind, dass nicht diesesSchreiben der Maßstab der Gesetzgebung ist, sondern derBeschluss der Bundesregierung vom 14. Juni 2000.
Im Übrigen: Wenn Sie damit fortfahren, das Verhalteneines illoyalen Beamten, dem Sie auch eine Informationverdanken – das ist Teil der Illoyalität –, zum Anlass zunehmen, hier im Parlament Anklage gegen die Regierungzu erheben, anstatt vorher zu fragen, wie der Sachstandwirklich ist, dann betreiben Sie genau die Verunsicherung,die Sie hinterher lautstark und dröhnend beklagen.
Ich habe hier schon mehrfach vorgetragen, wie dieZahlen zum Haushalt sind. Daher will ich es jetzt nicht imEinzelnen darstellen.Damit sind wir bei dem Thema Feinausplanung, alsoder genauen Festlegung dessen, was auf der Grundlageder Entscheidungen über die Strukturen der Bundeswehrim Einzelnen zu tun sein wird. Sie wissen, dass ich in1999 und 2000 25 Anhörungen mit Kompaniechefs,Kompaniefeldwebeln, Bataillonskommandeuren und vie-len anderen durchgeführt habe. Ein Ergebnis dieser An-hörungen und der Gespräche mit den militärischen Stäbenwar, dass es angesichts der Einsatzerfordernisse der Bun-deswehr dringend notwendig ist, die innere Stärke dermilitärischen Einheiten zu verbessern, also beispielsweisedie von Kompanien und Bataillonen. Das werden wir tun.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Minister, es gibt
den Wunsch nach einer Zwischenfrage des Kollegen Paul
Breuer. Lassen Sie sie zu?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Vermutlich bezieht sie sich auf einen zurückliegenden
Sachverhalt. Deswegen habe ich in diesem Fall aus-
nahmsweise nicht die Absicht, sie zuzulassen. – Sie müs-
sen schneller reagieren, Herr Kollege Breuer.
Es ist also notwendig, die militärischen Einheiten,
Kompanien und Bataillone, zu stärken. Das hat mit dem
zu tun, was die Militärs Führerdichte nennen. Ferner muss
die Verbindung von Ausbildungsmöglichkeiten und Ein-
satznotwendigkeiten verbessert werden. Auch das hat et-
was damit zu tun, wie eine Brigade, wie ein Bataillon im
Einzelnen zusammengesetzt ist.
Das Ergebnis dieser Anhörungen mit mehreren Tau-
send Angehörigen in den Streitkräften und der Erörterun-
gen mit den militärischen Stäben hat dazu geführt, dass
wir entsprechende Entscheidungen im Rahmen der Fest-
legung der so genannten Feinstrukturen der Streitkräfte
treffen werden. Das verbessert die Ausbildungsmöglich-
keiten.
Herr Kollege Breuer, ich setze mich mit der Bundes-
wehr auseinander. Da müssen Sie nicht lachen.
– Ich stehe Ihnen gerne für ein Gespräch zur Verfügung.
Aber es tut mir Leid: Sie brauchen zu lange, um aus einem
Sachverhalt, den ich schildere, eine Zwischenfrage zu
entwickeln.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Stichwort ist ge-
fallen: Es besteht ein weiterer Wunsch nach einer Zwi-
schenfrage.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Aber gerne.
– Das ist der Kollege Braun.
Herr Minis-
ter Scharping, Sie sprechen von verbesserten Ausbil-
dungsmöglichkeiten als einem Motiv für die Feinauspla-
nung, wie sie in den nächsten Tagen veröffentlicht werden
wird. Nun pfeifen es die Spatzen von allen Dächern, dass
Teil dieser Feinausplanung die Verlegung der Schule für
Feldjäger und Stabsdienst von der Generaloberst-Beck-
Kaserne von Sonthofen nach Hannover sein soll. Ich frage
Sie: Gehen Sie wirklich davon aus, dass die Schule – übri-
gens die Schule, in der die ersten Lehrgänge der Bundes-
wehr überhaupt stattgefunden haben – sich dort nicht be-
währt hat oder dass es für die Soldaten, die dort in einer
ganz besonderen Umgebung ihre Ausbildung bekommen,
besser wäre, nach Hannover versetzt zu werden? Oder
stehen nicht in Wirklichkeit andere Erwägungen im Hin-
tergrund, vielleicht die Überlegung, dass ein besonderer
Zuwachs an Sicherheit durch Bundeswehrfeldjäger in
dieser Stadt, die sich früher als Stadt der Chaostage einen
Namen erworben hat, notwendig sei?
Ich darf auch gleich meine Zusatzfrage stellen. Können
wir über diese Entscheidung eventuell noch einmal re-
den? Denn eine solche Entscheidung widerspricht den an-
deren Kriterien Ihres Konzepts, wonach es nämlich darauf
ankommt, wie viele freigesetzte Soldaten und Zivilbe-
dienstete eine Region aufnehmen kann.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Braun, ich stimme Ihnen ausdrücklich zu,dass man Kriterien sorgfältig und zuverlässig entwickelnund dann auch anwenden muss. Ich habe mehrfach öf-fentlich, auch im Parlament, über diese Kriterien gespro-chen. Ich lade Sie herzlich ein, Vorschläge wie diesenzu machen. Ich nehme diesen selbstverständlich an. So-weit es weitere Vorschläge hinsichtlich der Kriterien undihrer Anwendung gibt – es gibt ja einige Kollegen im
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Deutschen Bundestag, die mir solche Vorschläge machen –,sage ich Ihnen zu, dass diese sorgfältig geprüft und mit ei-ner begründeten Entscheidung versehen werden. DasGanze geschieht nicht par ordre du mufti. Wir werdenüber den Inhalt der Entscheidung sinnvoll miteinander re-den können.Wenn Sie gestatten, komme ich noch einmal auf diewichtigen Punkte der inneren Stärke der Einheiten undder Verbindung von Ausbildung, Einsatzerfordernissen,Nachwuchsgewinnung usw. zurück. Ich will Ihnen hierausdrücklich ankündigen, dass es entsprechend den Er-gebnissen der Grobausplanung auch zu Anpassungender Personalumfänge kommen wird.Vor diesem Hintergrund werden Sie vielleicht noch et-was besser verstehen, dass man zunächst einmal wissenmuss, wie es bei der Bundeswehr insgesamt aussieht:Welche Umfänge hat sie? Was sind ihre Aufgaben? Wiewerden diese wahrgenommen? Man muss erst einmalwissen, was zu stationieren ist, bevor man anfängt zu sta-tionieren. In diesem letzten Prozess befinden wir uns zur-zeit. Ich bedanke mich bei den Fraktionen ausdrücklichfür das Einverständnis. Ich habe auch angeregt, am Mon-tag, dem 29. Januar 2001, eine Sondersitzung des Vertei-digungsausschusses durchzuführen, um über dieses Res-sortkonzept zureden.Wir werden auch offiziell die Ministerpräsidenten ein-beziehen. Das ist in einer ersten Runde geschehen und eswird auch eine zweite Runde geben. Wir werden ebenfallsmit Gemeinden reden; das weiß jeder. Insofern gibt esklare Kriterien: militärische Kriterien, Kriterien in derPersonalführung und -fürsorge, Kriterien im zivilen Um-feld der Standorte, Kriterien im finanziellen und wirt-schaftlichen Bereich, neben dem, was das Grundraster– wenn ich das einmal so sagen darf – bildet. Das sind inerster Linie die militärischen Erfordernisse, beispiels-weise die Nähe zu Übungs- und Ausbildungsstätten, dieinternationale, multinationale Einbettung der Bundes-wehr, die sich daraus ergebenden Einheiten und Verbände,wie die deutsch-französische Brigade, das deutsch-nie-derländische Korps, die amerikanisch-deutschen Einhei-ten, das dänisch-polnisch-deutsche Korps usw. DieseFixpunkte sind vorhanden. Aus ihnen kann man etwasVernünftiges entwickeln.Wer, soweit es um Stationierungsfragen geht, den Ein-druck zu erwecken versucht, das Ganze sei gewisser-maßen einer x-beliebigen politischen Willkür ausgelie-fert, der liegt schlicht falsch.Herr Kollege Kossendey, ich möchte dem ausdrückli-chen Dank für die zurzeit jedenfalls von manchen in derCDU/CSU geübte ruhige Tonlage und sachlich abgewo-gene Erörterung noch etwas hinzufügen, das mit Ihnenund Ihren Bemerkungen zu tun hat; denn dies soll ja eineDebatte sein: Selbstverständlich haben auch die zivilenMitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundeswehr An-spruch auf die gleiche Fürsorge. Dieser Anspruch wirdauch eingelöst werden.Die Frage der Reduzierung der Zahl von Dienstposten– ich habe auch darauf im Deutschen Bundestag hier undda hingewiesen – darf nicht mit der Beseitigung oder Re-duzierung der Zahl von Arbeitsplätzen verwechselt wer-den. Die Kooperation mit der Wirtschaft wird dazuführen, dass ein Teil dieser Arbeitsplätze nicht mehr beider Bundeswehr, sondern in kooperativen Firmen zwi-schen Bundeswehr und privaten Unternehmen angesie-delt sein wird.
– Die Größenordnung, Herr Kollege Kossendey, ist nichtaus der Luft gegriffen. Sie wissen so gut wie ich, dass manin den 80er- und 90er-Jahren – jedenfalls noch vor derdeutschen Einheit – ein entsprechendes Verhältnis vonmilitärischen und zivilen Angehörigen der Bundeswehrhatte. Das war durchaus begründet und nicht aus der Luftgegriffen; das war durch vielfältige Entwicklungen undArgumente untermauert.
Wir müssen ungefähr zu dem damaligen Verhältnis zu-rückkehren. Ich entnehme Ihrer Gestik, dass Sie dem imGrunde genommen zustimmen. Wenn es sich aber so ver-hält, dann ist die Größenordnung richtig gewählt.Ich will im Übrigen noch einmal darauf aufmerksammachen, dass ich ganz bewusst dafür plädiert habe – Gottsei Dank ist die Bundesregierung dem gefolgt –, nicht ei-nen Zeitpunkt zu nennen, an dem diese Zahl von Dienst-posten erreicht sein muss.
Das haben Sie bei Ihrer Argumentation womöglich über-sehen. Das hat damit zu tun – genau das wurde ja auch vonIhrer Seite gesagt –, dass erst der Umfang, die Qualitätund die Intensität der Kooperation sowie auch das Voran-kommen der Modernisierungsprozesse in der Verwaltungder Bundeswehr darüber entscheiden, in welchem Zeit-raum diese Zahl von Dienstposten erreicht werden kann.Ich werde also bei den hier zu treffenden Entscheidungenganz sorgfältig darauf achten, so wie übrigens auch beiden Veräußerungen, dass nicht das kurzfristige Interessedie langfristige Nachhaltigkeit und Verlässlichkeit be-schädigt.
Meine Damen und Herren, da ich vermute, dass Siemich ansonsten erneut fälschlicherweise einer mangel-haften Informationspolitik zeihen würden, möchte ich Siezum Abschluss meiner Bemerkungen noch über etwasinformieren, was nicht unmittelbar mit dem Gegenstandder Debatte zu tun hat, aber mit der Diskussion um Streit-kräfte insgesamt schon. Ich habe heute am späten Mittagdurch einen Anruf von USAREUR – wo überprüft wird,ob und in welchem Umfang es möglicherweise Unfällemit DU-Munition gegeben hat – Folgendes erfahren: Esist davon auszugehen, dass es am 28. Februar 1985 einensolchen Unfall in Schweinfurt gegeben hat. Es ist davonauszugehen, dass 1986 in Grafenwöhr versehentlich DU-Munition verschossen worden ist. Es wird geprüft, ob einKampfpanzer auf dem Truppenübungsplatz Grafenwöhr,der 1988 ausgebrannt ist, möglicherweise DU-Munitionenthielt. Es muss überprüft werden, ob ein Kampfpanzer
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in Gollhofen, der 1988 ausgebrannt ist, DU-Munition ent-hielt. Dasselbe ist für Vorfälle zu überprüfen, die sich1981 in Fulda und im März 1982 in Lampertheim ereig-neten, und schließlich für Vorfälle, die sich im September1988 in Oberaltertheim und 1990 in Wildflecken ereigne-ten. Zuletzt ist zu überprüfen, ob es 1985 in Garlstedt-Al-tenwede zu einem irrtümlichen Verschuss kam.Ich sage Ihnen das deshalb, weil ich hier nicht nocheinmal eine Diskussion erleben möchte nach dem Motto:Der informiert uns nicht.
Das hat nie gestimmt und wird auch in Zukunft nie so pas-sieren.
Deshalb will ich auch darauf verzichten, diese Faktennoch einmal mit den Antworten zu konfrontieren, die1995 und 1997 auf die Anfragen des KollegenPfannenstein gegeben wurden. Das können Sie selber tun.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-sprache.Wir kommen zu den Abstimmungen und dabei zuerstzu den Beschlussempfehlungen des Verteidigungsaus-schusses.Wir kommen zur Beschlussempfehlung zu dem Antragder Fraktion der CDU/CSU zur Zukunft der Bundeswehrauf Drucksache 14/5087. Der Ausschuss empfiehlt, denAntrag auf Drucksache 14/3775 abzulehnen. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal-tungen? – Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stim-men der CDU/CSU-Fraktion angenommen.Wir kommen zur Beschlussempfehlung zu dem Antragder Fraktion der F.D.P. mit dem Titel „Zukunftsfähigkeitder Bundeswehr sichern – Wehrpflicht aussetzen“ aufDrucksache 14/5088. Der Ausschuss empfiehlt, den An-trag auf Drucksache 14/4256 abzulehnen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmender F.D.P.-Fraktion angenommen.Wir kommen zur Beschlussempfehlung zu dem Antragder Fraktion der PDS mit dem Titel „Zukunft durch Ab-rüstung – Für eine grundlegende Reform der Bundes-wehr“ auf Drucksache 14/5089. Der Ausschuss empfiehlt,den Antrag auf Drucksache 14/4174 abzulehnen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist gegen dieStimmen der PDS-Fraktion angenommen.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/5078 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Die Überweisung ist so be-schlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Ge-setzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialge-
– Drucksache 14/4053 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Arbeit und Sozialordnung
– Drucksache 14/5095 –Berichterstattung:Abgeordnete Renate JägerHierzu liegen ein Änderungsantrag der Fraktion derF.D.P. und ein Entschließungsantrag der Fraktion der PDSvor.Die Kolleginnen und Kollegen Renate Jäger, HeinzSchemken, Ekin Deligöz, Dr. Irmgard Schwaetzer sowiePia Maier haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) – Ichstelle größtes Einverständnis des Hauses fest.Wir kommen daher sofort zur Abstimmung, und zwarüber den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Ände-rung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch in der Aus-schussfassung. Es handelt sich hierbei um die Drucksa-chen 14/4053 und 14/5095.Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der F.D.P.auf Drucksache 14/5111 vor, über den wir zuerst abstim-men. Wer stimmt für den Änderungsantrag der F.D.P.? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ände-rungsantrag ist gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion beiEnthaltung der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt.Wer stimmt für den Gesetzentwurf in der Ausschuss-fassung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetz-entwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Der Gesetzentwurf ist damit gegen dieStimmen der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P.angenommen.Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent-schließungsantrag der Fraktion der PDS auf Druck-sache 14/5096. Wer stimmt für diesen Entschlie-ßungsantrag? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Ent-schließungsantrag ist gegen die Stimmen der PDS-Frak-tion abgelehnt.
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Bundesminister Rudolf Scharping14169
1) Anlage 3Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
ordneten Hildebrecht Braun , ErnstBurgbacher, Jörg van Essen, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion der F.D.P. zu der Großen An-frage der Abgeordneten Ernst Burgbacher, KlausHaupt, Jürgen Türk, weiterer Abgeordneten undder Fraktion der F.D.P.Wettbewerbsbedingungen für die deutscheTourismuswirtschaft im Euro-Land– Drucksachen 14/591, 14/1079, 14/1159,14/4704 –Berichterstattung:Abgeordnete Ernst BurgbacherNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in dieser De-batte ist für die F.D.P.-Fraktion der Kollege ErnstBurgbacher.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Wir debattieren überdas Thema Tourismus wieder am Freitagnachmittag. DerSaal füllt sich. Wir bleiben noch hier und geben mit die-ser von der F.D.P. beantragten Debatte den parlamentari-schen Startschuss für das Jahr des Tourismus.Darüber, dass dieses Jahr des Tourismus notwendig ist,gab es große Übereinstimmung. Ich denke, unser Antrag,der Ihnen heute vorliegt, kann im Jahr des Tourismus auchder Regierung und dem Parlament eine Handlungsanwei-sung geben. Er weist insbesondere auf eine Problematikhin, die in aller Regel viel zu wenig beachtet wird:Zum 1. Januar 2002 wird der Euro als Bargeld einge-führt werden. Dies wird den Wettbewerb gerade im Tou-rismus radikal verändern. Wir Liberalen waren an derSpitze der Befürworter des Euro. Wenn mehr Wettbewerbherrscht, so ist dies gut für die Verbraucher.
Aber dann müssen wir unsere Anbieter, vom Familienbe-trieb in der Gastronomie bis hin zum Reiseveranstalter,auch in die Lage versetzen, diesem Wettbewerb standzu-halten. Hierfür besteht politischer Handlungsbedarf. Inso-weit muss eine Menge von Vorschriften überprüft, müs-sen Wettbewerbshindernisse abgebaut werden. Darumgeht es.Ganz konkret: Unsere Tourismuswirtschaft ist in vielenPunkten benachteiligt. Ich nenne als erstes Beispiel – auchdas steht in unserem Antrag – die Mehrwertsteuersätzein der Hotellerie. Es kann doch nicht sein, dass bei ein-heitlicher Währung der Gast in einem Hotel in Straßburg5 Prozent und in Kehl – wenn er über die Rheinbrücke ge-gangen ist – 16 Prozent Mehrwertsteuer zahlen muss. Daskann angesichts des europäischen Wettbewerbs nicht sein.Deshalb appelliere ich an Sie: Stimmen Sie endlich demreduzierten Mehrwertsteuersatz für die Hotellerie zu!
Es kann auch nicht sein, dass die Ökosteuer weitereBelastungen mit sich bringt. Ich will an dieser Stelle nichtmehr auf das Prinzip der Ökosteuer eingehen. Aber ichmuss schon feststellen, dass die deutsche Bustouristik ineinem harten Konkurrenzkampf mit ihren ausländischenund EU-Wettbewerbern steht. Wenn Sie sich zum Beispielden Wettbewerb der baden-württembergischen Busunter-nehmer mit ihren französischen Konkurrenten anschauen,dann können Sie feststellen, dass die Belastungen für sieaufgrund der Ökosteuer ständig steigen und dass es aufder französischen Seite noch Subventionen gibt. Das be-deutet, dass unsere Busunternehmer in diesem Wettbe-werb praktisch nicht mehr mithalten können.
Deshalb fordere ich Sie auf: Weg mit dieser Ökosteuer!Zumindest sollte es einen Verzicht auf weitere Erhöhun-gen geben.
Die Tatsache, dass Sie das ökologisch sinnvolle Ver-kehrsmittel Bus noch bestrafen, zeigt, wie schizophrendas Prinzip der Ökosteuer überhaupt ist.
Wir von der F.D.P. versuchen massiv, Sie dazu zu be-wegen, die unsägliche Trinkgeldbesteuerung endlichabzuschaffen.
– Wenn ich einer jungen Dame oder einem jungen HerrnTrinkgeld für guten Service gebe, dann möchte ich nicht,dass davon das Finanzamt, die BfA oder die AOK profi-tiert.
Wir reden im Augenblick über die Wettbewerbsfähigkeit.Lieber Kollege Brecht, in Frankreich soll nach Aussageder Bundesregierung das Trinkgeld besteuert werden. Ichhabe aber weder einen Betroffenen noch einen Politikerantreffen können, der ein entsprechendes Gesetz kennt. Eswird eben in der Praxis nicht angewandt. Darum geht esdoch.Ich sage Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen vonder SPD: Ich freue mich sehr, dass immer mehr von Ihnensich – auch öffentlich – auf den Weg hin zu F.D.P.-Posi-tionen begeben.
Es ist im Übrigen immer gut, sich der F.D.P. anzunähern.
Ich sage Ihnen deshalb: Gehen Sie auf diesem Weg wei-ter! Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dassSie unseren vernünftigen Antrag vielleicht doch unter-stützen.
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Vizepräsidentin Petra Bläss14170
An die Adresse der Kolleginnen und Kollegen von derCDU/CSU sage ich: Die von Ihnen angestrebte Erhöhungder Freibeträge löst das Problem nicht und sie ist im Übri-gen auch systemfremd. Wir müssen endlich gesetzlichfestlegen, dass Trinkgeld eine Schenkung für eine guteLeistung ist und nicht mit dem Einkommen besteuertwerden darf.
Wir müssen ein Weiteres tun – ich plädiere nachdrück-lich dafür –: Nutzen wir doch die Einführung des Eurodazu, unsere Gesetze, Vorschriften und Standards vorbe-haltlos daraufhin zu überprüfen, was notwendig und wasEU-wettbewerbstauglich ist! Schaffen wir all die Rege-lungen ab, die diesen Wettbewerb behindern! Ich glaube,das wäre in der Tat Supersprit für unsere deutsche Wirt-schaft.
Lassen Sie mich in aller Kürze einen letzten Punkt an-sprechen. Wir brauchen Bewegung auf dem Arbeits-markt. Deshalb appelliere ich an Sie: Wenn Sie dem Ein-wanderungsbegrenzungsgesetz der F.D.P. zustimmen,dann brauchen wir die von Ihren propagierte Green Cardnicht mehr. So schaffen wir Freiraum für die deutscheWirtschaft.Wirtschaftsminister Müller hat viel angekündigt. Erspricht laufend davon, was er für den Tourismus alles tunwill. Er hat aber leider in keinem einzigen Punkt bishergehandelt. Er hat sich heute in der „Welt“ gegen eine Aus-weitung der Betriebsratsgremien im Rahmen der Novel-lierung des Betriebsverfassungsgesetzes ausgesprochen.Der DGB geht schon vehement dagegen an. Lieber HerrMüller, wir werden Ihr Handeln beobachten. Es reichtnicht aus, nur anzukündigen. Jetzt muss endlich gehandeltwerden.Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Birgit Roth.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Das Thema„Wettbewerbsbedingungen für die deutsche Tourismus-wirtschaft im Euro-Land“ ist für uns Sozialdemokratin-nen und Sozialdemokraten, für uns Tourismus- und Wirt-schaftspolitiker von ganz enormer Bedeutung. Denn derTourismus ist eine der wachsenden Dienstleistungs-branchen, die wir haben, weil sich die Wettbewerbsbe-dingungen in den letzten beiden Jahren ganz klar verbes-sert haben.
Der Tourismus hat ein ganz enormes Wachstums- undBeschäftigungspotenzial, weil sich die Wettbewerbsbe-dingungen verbessert haben, weil Reformen durchgeführtworden sind – wir beide wissen ganz genau, dass es in denletzten Jahren einen großen Reformstau gab, und wir ha-ben damit aufgeräumt –, weil es wieder eine andere Stim-mung gibt.
Ich möchte Ihnen im Folgenden anhand von Faktenund Zahlen zeigen, dass sich die wirtschaftlichen und po-litischen Rahmenbedingungen bei uns verbessert haben.Sie wissen ganz genau, dass der Tourismusbereichmittlerweile einen Anteil von 8 Prozent am Bruttosozial-produkt hat. Allein diese Zahl spricht für sich. Wir habenmittlerweile 2,8 Millionen Arbeitsplätze in diesem Be-reich. Was für mich als junge Abgeordnete ganz beson-ders wichtig ist: Wir gehen davon aus, dass der Touris-mussektor circa 90 000 Ausbildungsplätze bereitstellt.
Da wollen Sie sagen, dass die Wettbewerbsbedingungenhier nicht stimmig seien? Das passt doch nicht zueinander.Ich möchte an dieser Stelle die Gelegenheit ergreifen,den vielen mittelständischen Betrieben in der Tourismus-branche zu danken, dass sie ihre Verantwortung geradegegenüber der Jugend annehmen.
Denn Jugend braucht eine Zukunft, Jugend braucht Aus-bildungsplätze und Jugend braucht eine Perspektive.Doch zurück zu den Fakten, Herr Burgbacher:
Die Beherbergungsbetriebe hatten 1999 über 100 Milli-onen Gäste. Das ist eine Steigerung gegenüber dem Vor-jahr um 5,6 Prozent. Nehmen Sie die Übernachtungen.Bei den Übernachtungen liegen wir bei ungefähr 308Mil-lionen. Auch hier haben wir eine Steigerung, und zwarvon ungefähr 4,6 Prozent. Nehmen Sie die Zahl derAnkünfte von ausländischen Gästen. Hier haben wir eineSteigerung von circa 8,8 Prozent. Bei den Übernachtun-gen von ausländischen Gästen haben wir einen Zuwachsgegenüber dem letzten Jahr von 9 Prozentpunkten.
– Danke schön für die Zustimmung! Sie haben es genauauf den Punkt gebracht.
Besser hätte ich es nicht sagen können.Schauen Sie sich die Inlandsreisen an. Auch hier ver-zeichnen wir einen deutlichen Anstieg. Nehmen Sie denGeschäftsreiseverkehr. Hier haben wir die gleichen Stei-gerungsraten. Sie können auch einen Bereich wie denStädtetourismus herausgreifen, zum Beispiel Berlin.Berlin ist natürlich Hauptstadt und eine Stadt mit sehrgroßer Vielfalt, keine Frage. In Berlin haben wir bei denZahlen der Gäste und der Übernachtungen zweistelligeZuwächse zu verzeichnen.
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Ernst Burgbacher14171
Wie kann es denn, wenn ich Ihnen hier alle möglichenBereiche aufzählen kann, die Steigerungen gegenüberdem Vorjahr aufweisen können, sein, dass die Wettbe-werbsbedingungen nicht in Ordnung sind? Das passt dochnicht zusammen.Die Entwicklungen, die ich gerade angeschnitten habe,sind auch das Ergebnis der rot-grünen Reformpolitik derletzten zwei Jahre, durch die sich viel bewegt hat.
Denn wir, Herr Burgbacher, machen eine aktive Wirt-schafts- und Finanzpolitik. Wir haben die Staatsverschul-dung reduziert. Wir haben eine Steuerreform durchge-führt, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Familienund die Unternehmen gleichermaßen entlastet.
Wir gehen von einem ungefähren Entlastungsvolumenvon ungefähr 75 Milliarden DM aus. Das ist aktive Wirt-schaftspolitik. Da sagen Sie, die Wettbewerbsbedingun-gen in diesem Lande würden nicht stimmen!Nehmen wir die Prognosen für dieses Jahr. Wir gehendavon aus, dass wir auch dieses Jahr ein Wirtschafts-wachstum von 2,8 Prozentpunkten haben werden.
Auch das ist im Vergleich zu den letzten Jahren keinschwaches Ergebnis.Oder nehmen Sie die Zahlen der Arbeitslosigkeit. ImVergleich zu den letzten fünf Jahren haben wir folgendeSituation: Es ist ein Tiefstand erreicht worden. Natürlichgenügt der momentane Abbau der Arbeitslosigkeit nochnicht. Aber wir stellen uns weiterhin der Herausforde-rung, diese zu reduzieren. Ich weiß noch ganz genau: Vorzwei, zweieinhalb Jahren war die Schmerzgrenze von4 Millionen Arbeitslosen erreicht, wenn nicht sogar über-schritten. Deswegen meine ich: Wir sind genau auf demrichtigen Weg. Schauen Sie sich die Zahlen und die Fak-ten an!
Mit Verlaub, werte Kolleginnen und Kollegen von derF.D.P., wenn ich mir die Beschlussempfehlung anschaue,die vor uns liegt, konstatiere ich: Dem Ganzen gingen eineGroße Anfrage und ein Entschließungsantrag voraus. Vonden ursprünglichen Kritikpunkten sind nicht sehr vieleübrig geblieben. Ich kann das jetzt in zwei Richtungen in-terpretieren: Entweder haben wir Sie mit unseren Positio-nen überzeugt
oder wir haben in den letzten zwei Jahren enorm viel vondem abgearbeitet, was Sie in den letzten 16 Jahren nichtgemacht haben.
Stichwort Trinkgeldbesteuerung: Herr Burgbacher,wann ist denn die Trinkgeldbesteuerung realisiert wor-den? Da muss ich einfach auch die Frage stellen: Warumhaben Sie denn während der letzten Legislaturperiode dieTrinkgeldbesteuerung nicht abgeschafft? Ich glaube, sokommen wir hier nicht weiter.Was Sie auch immer kritisieren, ist die Änderung beiden 630-Mark-Beschäftigungsverhältnissen. Sie wis-sen, ich teile Ihre Kritik an dieser Stelle in keiner Art undWeise. Aber ich möchte Sie noch einmal an den Miss-brauch erinnern, der in diesem Bereich vorgefallen ist.Hier musste etwas geändert werden.
Sind wir uns nicht alle darin einig, dass die entschei-dende Herausforderung gerade auch im Tourismusbereichdie Servicequalität ist? Denn Deutschland ist Hochpreis-land, auch für den Urlauber. Das Entscheidende wird dieServicequalität sein, die wir jetzt und in den nächsten Jah-ren anbieten werden. Wird ein Betrieb, der mit gut ausge-bildetem Fachpersonal arbeitet, nicht einen besseren Ser-vice anbieten können als ein Betrieb, der mit sehr vielen630-Mark-Beschäftigten arbeitet, zu dem eine perma-nente Fluktuation zu verzeichnen ist?Sie kritisieren auch, dass jetzt Flexibilität nicht mehrvorhanden sei. Sie wissen ganz genau, dass es Ausnah-meregelungen für Engpässe in der Hochsaison gibt, sei esfür das Gastronomiegewerbe, sei es für die Landwirt-schaft, nämlich die 50-Tage-Regelung. Ich bitte auch, diesin Rechnung zu stellen.Um das Tourismusgewerbe und den TourismusstandortDeutschland weiterhin zu fördern, ist dieses Jahr zum„Jahr des Tourismus“ ausgerufen worden. Dabei stehendie Vernetzung und Vermarktung von unterschiedlichentouristischen Highlights in den einzelnen Bundesländernim Vordergrund, natürlich auch in Zusammenarbeit und inAbsprache mit der Tourismuswirtschaft.Sie haben Minister Müller angesprochen und sind aufganz andere Bereiche gekommen.
– In diesem Sinne möchte ich auch eine Bemerkung ma-chen. Ich halte nicht viel davon, zu sagen, Herr Müllerhabe nur angekündigt. Nehmen Sie nur einmal die Ener-giepolitik. Gerade auf diesem Felde hat er sehr viel be-wegt. Wenn ich auf die Regierungsbank schaue, sehe ichFrau Staatssekretärin Wolf. Dass wir jetzt eine Mittel-standsbeauftragte haben, kann ich nur voll unterstützen.Ich danke Herrn Minister Müller, dass er dem Mittelstanddiese politische Bedeutung zumisst und dass wir hier eineneue Stelle haben.
Ich meine, wir sind gerade im Bereich der Tourismus-wirtschaft auf dem besten Wege. Dieser Bereich hat einepositive Perspektive. Auch die Politik der letzten zwei
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Birgit Roth
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Jahre hat dies unterstützt und sie wird es weiter unter-stützen.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die CDU/CSU
spricht jetzt der Kollege Ernst Hinsken.
Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Verehrte Frau Präsidentin! Die meis-ten haben bereits den „Heimtourismus“ angetreten.
Einige interessierte Kolleginnen und Kollegen sind nochanwesend. Ich meine, es ist wert, auf das von der F.D.P.gestellte Thema „Wettbewerbsbedingungen für die deut-sche Tourismuswirtschaft im Euro-Land“ einzugehen.Aber bevor ich das tue, möchte ich Ihnen, Frau Wolf,herzlich gratulieren. Sie sind zur neuen Parlamentari-schen Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium berufenworden. Sie tragen nun Verantwortung auch für den Mit-telstand. Ich wünsche Ihnen eine allzeit glückliche Hand,darf aber schon bei dieser Gelegenheit darauf verweisen,dass wir Sie sehr kritisch begleiten und prüfen werden, obdas, was Sie früher gesagt haben, jetzt, wenn Sie der Exe-kutive angehören, auch umgesetzt wird. Alles Gute undauf gute Zusammenarbeit!
Nun möchte ich insbesondere auf das eingehen, wasFrau Kollegin Roth aus ihrer Sicht vorgetragen hat, undmanches geraderücken. Liebe Frau Kollegin Roth, ichpflichte Ihnen bei, wenn Sie darauf verweisen, dass ge-rade der Tourismus ein wichtiger Wirtschaftsbereich ist.Das, was Sie ausgeführt haben, müsste noch durch die In-formation ergänzt werden, dass in dieser Wirtschafts-sparte über 100 000Ausbildungsplätze nicht nur bereitge-stellt werden, sondern auch besetzt sind.Es ist auch nicht von der Hand zu weisen, dass derAnteil an der Bruttowertschöpfung bei circa 300 Milli-arden DM liegt. Aber um was geht es vor allen Dingen beidieser Debatte? Der Kollege Burgbacher hat bereits da-rauf verwiesen. Es geht darum, Rahmenbedingungen indem sich verfestigenden Europa zu schaffen, damit wirmit dieser „Leitökonomie der Zukunft“, wie die Touris-muswirtschaft bezeichnet wird, auch weiterhin dabeisind.
Wenn innerhalb Europas in den nächsten zehn Jahrenzu den 25MillionenArbeitsplätzen 2,5MillionenArbeits-plätze hinzukommen, dann hoffe und wünsche ich, dassdie Bundesrepublik Deutschland in der Hotellerie, Gas-tronomie und allem, was zu diesem Bereich zählt, mit400 000 bis 450 000 Arbeitsplätzen dabei ist. Das wirdaber nur der Fall sein, wenn die Rahmenbedingungenstimmen. Bei ihnen liegt einiges im Argen.
Sie kennen sicherlich alle den Film mit dem Titel:„Denn sie wissen nicht, was sie tun“. Ich erwähne diesenTitel deshalb, weil ich genau das Gegenteil von demmeine, verehrte Frau Kollegin Roth, was Sie eben ausge-führt haben. Man muss feststellen, dass zutrifft, was derTitel dieses Films besagt, dass scheinbar einige von Ihnen– sogar die Mehrheit – nicht wissen, was sie tun; denndem Mittelstand wird ein Negativum nach dem anderenaufgebürdet:
630-DM-Regelung, Ökosteuer, Recht auf Teilzeit, Novel-lierung des Betriebsverfassungsgesetzes und, und, und.Ich frage mich: Wissen Sie denn überhaupt, was Sie tun?
– Nein, das wissen Sie nicht.
Sie würden sonst nicht solche blumigen Reden halten undsich weigern, Maßnahmen zu ergreifen, die erforderlichsind, damit sich die Tourismuswirtschaft in der Bundes-republik Deutschland weiterhin entfalten kann.
Es gibt eben Landesteile, in denen der Tourismus von ent-scheidender Bedeutung ist, wie zum Beispiel in meinerHeimat oder in der meines Kollegen Kurt Rossmanith imAllgäu. In diesen Regionen ist er ein bedeutender Wirt-schaftsfaktor, den man nicht vernachlässigen kann. Viel-mehr braucht er Rahmenbedingungen, damit das Ganzeweiterhin läuft.Frau Kollegin Roth, ich wundere mich nicht – das istdas Gegenteil von dem, was Sie ausgeführt haben –, dasstrotz der Gäste- und Übernachtungszahlen die Tourismus-wirtschaft in Deutschland einfach nicht richtig in Fahrtkommt. Lassen Sie mich zur Lage feststellen: Die Zahlunserer Gäste ist im Jahr 1999 gegenüber dem Vorjahr um6 Prozent gestiegen und hat erstmals die Zahl von100 Millionen überschritten. Die Übernachtungszahlensind um 4,6 Prozent auf insgesamt 308 Millionen Über-nachtungen gestiegen. Nun möchte ich nicht den Ver-gleich mit Spanien oder Griechenland ziehen, wo die Zahl– prozentual gesehen – doppelt so hoch ist. Es ist nichtvon der Hand zu weisen: Diese Zahlen sind bestechend.Aber ich möchte auf etwas verweisen, weil Sie vorhinmit Ihren Aussagen nicht ganz richtig lagen. Deshalb giltes, diese zurechtzurücken. Die Zahl der Beschäftigtenim Gastgewerbe ist im Gegensatz zu den Übernach-tungszahlen im ersten Halbjahr des Jahres 2000 um3,7 Prozent zurückgegangen. Weiterhin sehe ich mitgroßer Sorge, dass 42 Prozent aller Gastronomiebetriebein der Bundesrepublik Deutschland trotz guter Umsatz-entwicklung Ertragsverluste verzeichnen mussten. Auchdas kann nicht wegdiskutiert werden, verehrte Frau Wolf.Gerade aufgrund dieser Zahlen sehen Sie, was Sie tunmüssen, um dem Mittelstand den notwendigen Schub zu
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Birgit Roth
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geben, damit er nach vorne kommt. Wenn jetzt im Wirt-sch
Rede von: Unbekanntinfo_outline
„Quantität sticht Qualität“, son-dern dann sollte auch die Qualität erhöht werden. Mansollte sich hier gegenseitig ergänzen, Ideen aufnehmenund etwas bewegen.Wenn man mit den betroffenen Verbänden und den ver-antwortlichen Unternehmen spricht,
dann stellt man fest, dass sehr vieles im Argen liegt. DieUmfrage des Dehoga im Sommer 2000, die in seinemKonjunkturbericht veröffentlicht wurde, hat zum Beispielergeben, dass vor allem kleine und mittlere gastronomi-sche Betriebe massiv von Existenzsorgen und -nöten ge-plagt sind.Auch bei dieser Debatte muss man sich natürlich fragen:Worauf ist das zurückzuführen? Was sind die eigentlichenUrsachen? Auf der einen Seite beklagt der Deutsche Hotel-und Gaststättenverband, dass ihm 80 000Mitarbeiter fehlen.
Auf der anderen Seite ist festzustellen, dass allein seitApril 1999 100 000 nebenberuflich Beschäftigte von derBildfläche verschwunden sind. Das bewegt mich.Vorhin wurde davon gesprochen, dass der Tourismusein wichtiger Wirtschaftszweig ist. Dem ist meines Er-achtens hinzuzufügen: Die Zahl der Übernachtungen– diese Zahl ist für den Tourismusbereich wichtig – würdesich erhöhen, wenn man auch diejenigen erfassen würde,die in Hotels und Herbergen übernachten, die weniger alsneun Betten haben.Ich habe mir die Arbeit gemacht, das einmal hochzu-rechnen, und bin auf folgende Zahlen gekommen:
– Richtig, das haben wir im Ausschuss schon gehört, FrauVoß. Aber hier wurde noch nicht darauf hingewiesen. Ichrichte mich hier ja nicht an Sie, die Sie im Ausschuss, dernicht öffentlich tagt, sicherlich ab und zu ganz gut auf-passen. Dies muss hier im Plenum noch einmal dargestelltwerden. – Circa 50 bis 70 Millionen zusätzliche Über-nachtungen sind zu verzeichnen. Auch das ist ein bedeu-tender Wirtschaftsfaktor. Wenn man nämlich eine Über-nachtung mit 80 DM ansetzt – auf dem Lande ist das nochso billig, Frau Schnieber-Jastram; da kostet eine Über-nachtung nicht so viel wie in Hamburg –
und dies hochrechnet, dann kommt man auf einen Betragvon ungefähr 5 bis 6 Milliarden DM.Ich habe hier die Möglichkeit, all das aufzugreifen, wasnegativ ist. In diesem Zusammenhang ist natürlich nichtvon der Hand zu weisen, was Hotellerie und Gastronomieund die gesamte Tourismuswirtschaft erneut beunruhigt:die Novelle des Betriebsverfassungsgesetzes.Dazu mussich Ihnen sagen: Wir werden höllisch aufpassen, dass hiernicht Maßnahmen ergriffen werden und Gesetzesvorla-gen durchgehen, die insbesondere die kleinen und mittle-ren Betriebe schädigen und das Selbstständigsein nichtmehr interessant machen. Da müssen wir vor allem heran;dies brennt uns besonders auf den Nägeln.
Lassen Sie mich darauf verweisen, dass nicht nur eineNovelle des Betriebsverfassungsgesetzes ins Haus steht,sondern dass vor allen Dingen auch die Ökosteuer – ichbin dankbar, dass Kollege Burgbacher sie angesprochenhat – eine große Belastung ist. Den meisten Mitbürgern istüberhaupt nicht bewusst, dass ein mittelständischer Be-trieb allein durch die Ökosteuer jährlich mit ungefähr10 000 DM zusätzlich belastet wird.
– Das ist eine zusätzliche Belastung.Herr Kollege Kubatschka, hinzu kommt, dass die Öko-steuer, die die Betriebe belastet, zu einer Mineralölsteu-ererhöhung geführt hat. Wenn ein Hamburger, Frau Kol-legin Schnieber-Jastram, bereit ist, zu mir oder zu KurtRossmanith ins Allgäu bzw. in den Bayerischen Wald oderin den Schwarzwald zu fahren,
und wenn er 1 000 Kilometer hin und 1 000 Kilometerzurückfährt – vielleicht kommen noch ein paar Kilometerhinzu –, dann hat er bei einem Spritverbrauch von 10 Li-ter pro 100 Kilometer allein aufgrund der Ökosteuer42 DM mehr zu zahlen.
Wissen Sie, was das ist? – Das ist dreimal Schweinebra-ten umsonst. So muss das gesehen werden. Das ist Politikgegen den kleinen Mann und gegen den Mittelstand. Dasmuss hier angesprochen werden. Darum pflichte ichHerrn Kollegen Burgbacher bei: Diese Ökosteuer mussweg, und zwar lieber heute als morgen.
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Ein weiteres Un-gemach droht durch die ersatzlose Streichung des Ra-battgesetzes und der Zugabeverordnung. In diesem Zu-sammenhang ist vor allem zu sehen, dass kleine undmittlere Betriebe nicht in der Lage sind, eine breite Ange-botspalette zugrunde zu legen. Hier ist man auf die Güterbeschränkt, die man anbietet. Diese Tatsache beinhaltet,dass man von der Abschaffung des Rabattgesetzes nega-tiv tangiert wird. Deshalb bin ich gegen eine ersatzloseStreichung. Diesem Umstand muss Rechnung getragenwerden.Verehrte Frau Präsidentin, ich spreche die letzten zweiSätze, dann bin ich schon fertig.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2001
Ernst Hinsken14174
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie haben so nette Ur-
laubseinladungen ausgesprochen, da kann ich nicht wi-
derstehen.
Herzlichen Dank. – Ich
meine, dass es sich im Hinblick auf die neuen Bundeslän-
der für manchen Deutschen lohnen würde, nicht nur ins
Ausland zu reisen, sondern im eigenen Lande zu bleiben
und die Schönheiten kennen zu lernen, die ihm dort ge-
boten werden.
Deshalb die letzte Bemerkung: Kollege Burgbacher
hat eingangs darauf verwiesen, er verstehe es nicht, dass
auf der einen Seite das Jahr des Tourismus eingeläutet
werde – was wir alle begrüßen und gutheißen –, während
auf der anderen Seite die Bundesregierung nicht bereit
sei, hierfür einen einzigen Pfennig zur Verfügung zu stel-
len.
– Ja, sicher.
Deshalb bin ich der Meinung, man sollte Nägel mit
Köpfen machen und nicht nur ideell auf die Verbände und
Mitbürger einwirken, den Urlaub in Deutschland zu ver-
bringen, einen Aha-Effekt zu erleben. Vielmehr sollte die
Bundesregierung in die Tasche greifen und die Mittel be-
reitstellen, die man benötigt, um im Jahr 2001 den Tou-
rismus in Deutschland so attraktiv zu machen, dass viele
Mitbürger im eigenen Land bleiben und die Wirtschaft auf
diese Weise mit ankurbeln.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt spricht die Kol-
legin Sylvia Voß für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr ge-ehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Hinsken, wir haben Nägel mit Köpfen gemacht, aberdie scheinen Ihnen wehzutun. Die F.D.P. fühlt sich offen-sichtlich schon seit vielen Monaten um den Schlaf ge-bracht, denkt sie an die Wettbewerbsfähigkeit der deut-schen Tourismuswirtschaft. Bei dem Versuch, sich in denSchlaf zu zählen, stocken Sie allerdings immer bei derZahl 630.Diese Zahl macht den Freien Demokraten im Zusam-menhang mit der Neuregelung der so genannten 630-DM-Jobs noch immer sehr zu schaffen,
obwohl sie auf jeden empirischen Beleg für die schlaf-raubenden Probleme verzichten und stattdessen eine Ver-unsicherung in der Branche lediglich konstatieren.
Der Grund dafür ist schnell genannt: Die Regelung der ge-ringfügigen Beschäftigungsverhältnisse ist vor fastzwei Jahren in Kraft getreten und hat sich längst bewährt.
Etwa 100 000 Arbeitsverhältnisse geringfügig Beschäf-tigter – Herr Hinsken sagte es auch gerade – sind durchdie Regelung in Beschäftigungsverhältnisse mit Sozial-versicherungspflicht übergegangen. Dadurch wurde eineweitere Erosion der Finanzgrundlagen der Sozialversi-cherung – die uns alle betreffen würde – verhindert.
Das haben wir so gewollt und das haben wir auch ge-schafft.Zu Ihrer Beruhigung sei auch noch angefügt, dassdurch diese Neuregelung, die ja nun inzwischen so neunicht mehr ist, im europäischen Vergleich keine Wettbe-werbsnachteile entstanden sind. Der Bundesregierung istes mit dieser Regelung sogar gelungen, in wirtschaftlicherHinsicht einen weiteren Schritt in Richtung europäischeEinheit zu gehen. In Frankreich, Spanien und Italien –Länder, die für ihre touristische Anziehungskraft und Be-deutung bekannt sind – gibt es keinerlei Sozialversiche-rungsfreiheit.Der Regelung ist es auch zu danken, dass es sich wie-der lohnt, fachkundiges Personal einzustellen.
Etwa 30 bis 40 Prozent der Stellen im Bereich von Hotel-lerie und Gastronomie waren zeitweise 630-DM-Jobs.Gern griff man in diesem Bereich auf ungelernte Kräftezurück. Was dabei auf der Strecke blieb, war die Qualitätund das, liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P.,wäre ein Grund für tiefe Augenringe mangels Schlaf ge-wesen.Gegen die unruhigen Nächte der F.D.P. gibt es ein wei-teres Mittel: Holen Sie sich mehr Gelassenheit durch ei-nen ideologisch ungetrübten Blick in die Wirklichkeit.Nach einer aktuellen Umfrage des Instituts der deutschenWirtschaft, Herr Burgbacher, erwartet man für den Wirt-schaftszweig Tourismus für das Jahr 2001 einen Anstiegder Beschäftigtenzahl.Zu der von Ihnen geforderten Einführung eines ver-minderten Mehrwertsteuersatzes für die deutsche Hotel-lerie möchte ich nur anmerken, dass die F.D.P. währendvieler, allzu vieler Jahre die Wirtschaftspolitik derBundesrepublik geprägt hat, ohne diesem jetzt von Ihnenin der Opposition erkannten Handlungsbedarf jemals zuentsprechen. Aber bei allem Respekt, liebe Kolleginnenund Kollegen von der F.D.P.-Fraktion, im jetzigen, demNachlass Ihrer Regierungsjahre geschuldeten Haushalts-konsolidierungsprozess so nebenbei Steuerminderein-nahmen von 1,3 Milliarden DM, die Ihre Forderungen zurFolge hätten, zu veranlassen, ist wirklich nicht zu verant-worten und zeigt Ihren traumtänzerischen Umgang mitdiesem Metier.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2001 14175
Neben der Bundesregierung ist auch die Deutsche Zen-trale für Tourismus, DZT, um ein bestmögliches Erschei-nungsbild des Reiselandes Deutschland im europäischenAusland bemüht. Wir unterstützen diese Arbeit, indem derüberwiegende Teil des Finanzbedarfs der DZT durch Mit-tel des Bundes gedeckt wird.Im Übrigen übertrifft das Wachstum des Tourismus inDeutschland die durchschnittliche Wachstumsrate in Eu-ropa. Den Abwärtstrend, den Sie uns hier suggerierenwollen, gibt es in dieser Art im Tourismus in Deutschlandwirklich nicht.Auf Zustimmung stößt bei uns natürlich die Forderungnach einer Integration der Tourismuspolitik in andereGemeinschaftspolitiken. Aber Sie wissen, hier ziehen wirim Tourismusausschuss ohnehin an einem Strang. IhrerForderung nach einem intensiveren nationalen Dialogzwischen Politik und Tourismuswirtschaft hat die Bundes-regierung bereits entsprochen. Mit der neuen Mittelstands-beauftragten der Bundesregierung, der ParlamentarischenStaatssekretärin Margareta Wolf, wird es möglich sein,die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit der Touris-musbranche noch ertragreicher zu gestalten.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P.-Frak-tion, dass Sie in Ermangelung substanzieller Einwendun-gen gegen unsere Tourismuspolitik auch wieder das Jam-merlied der Ökosteuer singen würden, überrascht unsnatürlich nicht. Aber Ihre mies machenden Behauptungenwerden durch ewiges Wiederholen ja nicht besser. Zahlen,die den Niedergang des Tourismus in Deutschland bele-gen, haben Sie gar nicht. Ich kann Sie nur noch einmal aufdie Umfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft ver-weisen, in der auch die Frage nach der Stimmungslage derUnternehmen im Wirtschaftszweig Tourismus gestelltwurde. Sie ist – hört, hört! – im Vergleich zum vorherge-henden Jahreswechsel besser, und das, obwohl am 1. Januar2001 die dritte Stufe der Ökosteuer in Kraft getreten ist.Herr Burgbacher, zu dem Beispiel mit den Bussenmöchte ich sagen: Am 8. Januar dieses Jahres waren Die-sel und Benzin jenseits der Grenze zu Frankreich teurerals mit Ökosteuer auf der deutschen Seite der Grenze. Sieerfinden mit Ihren realitätsfernen, irrlichternden Vorstel-lungen die Welle rückwärts und den Mölle seitwärts. Des-wegen kann man zu dem Entschließungsantrag IhrerFraktion nur noch humorvoll sagen: Alles Mölle-Welle,oder was?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zum Abschluss der
Debatte spricht noch einmal die Kollegin Birgit Roth für
die SPD-Fraktion.
Herr Hinsken, mein Aus-
schussvorsitzender, Sie wissen, dass ich das, was Sie ge-
sagt haben, in dieser Form nicht stehen lassen kann. Ich
möchte nur auf drei Punkte, die Sie angesprochen haben,
eingehen.
Erstens. Sie haben gesagt, es gebe im Tourismus-
bereich einen Beschäftigungsrückgang von 3,7 Prozent.
Das ist in dieser Form nicht richtig. Es gibt zwar einen
Rückgang, aber Sie müssen sehen, dass sich dieser Rück-
gang auf die Reduzierung der 630-Mark-Beschäfti-
gungsverhältnisse zurückführen lässt. Mit Verlaub,
630-Mark-Jobs sind keine richtigen sozialversicherungs-
pflichtigen Arbeitsplätze.
Wir wollen mit unserer sozialdemokratischen Politik die
Schaffung von modernen, zukunftsweisenden sozialversi-
cherungspflichtigen Arbeitsplätzen fördern.
Sie wissen ganz genau – ich hatte das schon vorhin an-
gesprochen –, was für ein Missbrauch in puncto 630-
Mark-Jobs betrieben worden ist. Sie müssen bedenken,
wer auf der Basis von 630 DM arbeitet. Das sind in erster
Linie Frauen. Frauen werden in unserer Gesellschaft noch
immer schlechter als Männer bezahlt, haben Familien-
pause und erziehen die Kinder. Sie haben dementspre-
chend eine geringere Rente. Die Durchschnittsrente der
Frauen in den alten Bundesländern liegt momentan bei
1 000 DM. Erklären Sie mir bitte, wie man mit 1 000 DM
über die Runden kommen soll! Das geht einfach nicht.
Daran sind auch die 630-Mark-Beschäftigungsverhält-
nisse schuld. Deswegen haben wir genau in diesen Be-
reich eingegriffen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Roth,
der Kollege Hinsken möchte eine Zwischenfrage stellen.
Nein, ich möchte den Ge-
danken erst noch zu Ende führen.
Sie müssen mir auch erklären: Warum muss jemand,
der samstags arbeitet und Überstunden macht, sein Geld
versteuern, während jemand, der neben seinem Haupt-
beruf auf der Basis von 630 DM arbeitet, dies nicht ma-
chen muss? Das ist nicht logisch. Auch deswegen ist es
auch geändert worden.
Frau Kollegin Roth, sindSie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Zahlen, dieich hier wiedergab, vom Deutschen Hotel- und Gaststät-tengewerbe stammen –
aufgrund mehrmaligen Hinterfragens muss ich diese alsauthentisch und richtig einordnen – und insofern das, wasSie hier behaupten, nämlich dass der Rückgang in ersterLinie auf die Abnahme der 630-DM-Beschäftigungen zu-rückzuführen sei, nicht stimmt?
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2001
Sylvia Voß14176
Herr Hinsken, ich be-
ziehe mich auf eine Studie des DIW. Darin heißt es, dass
der Grund für den Rückgang vor allem in der Rück-
führung der 630-DM-Beschäftigungen liege.
– Dann haben wir einen Dissens in dieser Frage.
Zur Ökosteuer. Was haben wir denn in diesem Bereich
getan? Auf der einen Seite ist der Faktor Energie verteu-
ert worden, aber auf der anderen Seite ist – ich wäre Ih-
nen dankbar, wenn Sie auch dies einmal erwähnen wür-
den – der Faktor Arbeit günstiger geworden, weil die
Lohnnebenkosten reduziert worden sind.
Das kommt – aber das wird von Ihrer Seite nicht er-
wähnt – sowohl den Arbeitgebern als auch den Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmern zugute,
und zwar auch im Hotellerie- und Gastronomiegewerbe.
– Das stimmt! Ich glaube, auch hier haben wir einen Dis-
sens. Aber ich bin dankbar, dass wir darüber diskutieren.
Zu einem weiteren Thema muss ich noch etwas sagen,
nämlich dem Recht auf Teilzeit. Herr Hinsken, wenn Sie
dieses Thema anschneiden, dann müssen Sie bitte hinzu-
fügen, dass ein Recht auf Teilzeit nur in Betrieben mit
mehr als 15 Beschäftigten greift und darüber hinaus ein
Einvernehmen mit dem Unternehmen – „wenn es der Ar-
beitsplatz erlaubt“ – erfordert. Ich sehe, dass dieser Be-
reich kompromissfähig ist und zwischen Arbeitgeber und
Arbeitnehmer bzw. Arbeitnehmerin abgesprochen wird.
Was ist denn der Hintergrund dieser Regelung? Weil es
Studien gibt, die ganz klar belegen, dass potenziell drei
bis vier Millionen Beschäftigte bereit sind, Teilzeit zu ar-
beiten,
und dadurch ungefähr zwei bis drei Millionen neue sozi-
alversicherungspflichtige Arbeitsplätze – da wollen wir
hin – entstehen können. Aus diesem Grunde halte ich das
Recht auf Teilzeit für richtig.
– Warum, Herr Burgbacher, soll es die Schwarzarbeit be-
günstigen, wenn jemand einen Teilzeitarbeitsplatz an-
strebt?
Ich sehe überhaupt keine logische Verbindung zur
Schwarzarbeit, wenn sich zwei Beschäftigte einen Ar-
beitsplatz teilen. Meines Erachtens gibt es diese auch
nicht.
– Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das Gleiche täten.
Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Tourismus zu dem Entschließungsantrag der
Fraktion der F.D.P. zu ihrer Großen Anfrage mit dem Ti-
tel „Wettbewerbsbedingungen für die deutsche Touris-
muswirtschaft im Euro-Land“; es handelt sich um die
Drucksache 14/4704. Der Ausschuss empfiehlt, den Ent-
schließungsantrag auf Drucksache 14/1159 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion bei Enthaltung der
CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Ich rufe den letzten Tagesordnungspunkt für heute auf,
den Tagesordnungspunkt 23:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Uwe-
Jens Rössel, Dr. Christa Luft, Heidemarie Ehlert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
UMTS-Milliarden für die Einführung einer
kommunalen Investitionspauschale des Bundes
– Drucksache 14/4557 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die PDS
fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Zunächst redet der Kollege
Dr. Uwe-Jens Rössel für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen! Liebe Kollegen! In der rot-grünen Koaliti-onsvereinbarung heißt es:
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2001 14177
Wir wollen die Finanzkraft der Gemeinden stärkenund das Gemeindefinanzsystem einer umfassendenPrüfung unterziehen.Passiert ist aber fast gar nichts. Für die übergroßeMehrheit der Städte, Gemeinden und Landkreise in derBundesrepublik hat sich die finanzielle Situation in denletzten Jahren eher verschlechtert. Kommunale Selbstver-waltung rückt in immer weitere Ferne. Einige Fakten: DieVerschuldung der Kommunen hat sich dramatisch zu-gespitzt und liegt derzeit bei rund 202 Milliarden DM, einZuwachs von etwa 8 Milliarden DM seit dem vergange-nen Jahr.Besonders prekär und niederschmetternd ist die Lagemancher ostdeutscher Kommunalhaushalte, vor allem instrukturschwachen Regionen. Außerdem sind die kom-munalen Investitionen dauerhaft rückläufig. Ende desJahres 2000 lagen sie – ich sage ausdrücklich: preisberei-nigt, also vergleichbar – etwa 30 Prozent unter dem Standdes Jahres 1992.
– Umso schlimmer, Kollege Kutzmutz, weil die Auswir-kungen besonders schlimm sind. – Es geht um wenigerAufträge für das Bauhandwerk, für das Baunebenhand-werk und für das Gewerbe insgesamt. Dies hat zur Folge,dass der Arbeitsmarkt weiter belastet wird, die Arbeitslo-sigkeit daher zunimmt.Die vielerorts dramatische Situation der Kommunalfi-nanzen hat natürlich viele lokale Ursachen, die hier nichtzur Debatte stehen. Auch die Länder kommen ausnahms-los schlecht weg, wenn es um die finanzielle Unterstüt-zung für die Kommunen geht. Hierzu kann ich wohl keinpositives Beispiel benennen.Aber auch die Politik der rot-grünen Bundesregierunghat direkt bzw. indirekt dafür gesorgt, dass die Finanzaus-stattung der Kommunen weiter sehr angespannt bleibt,sich sogar verschlechtert hat.Hierzu einige Fakten: Durch die verschiedenen seit1998 unter Rot-Grün verabschiedeten Steuergesetze wer-den den Kommunen im Jahre 2001 etwa 6,5 MilliardenDM an eigenen Einnahmen fehlen. Dazu kommt, dassauch die Länder durch die Steuergesetzgebung der Bun-desregierung erheblich belastet werden, weniger Steuer-einnahmen haben, was über den so genannten Finanzaus-gleich teilweise auf die Kommunen durchschlägt. Diesführt für die Kommunen im Jahre 2001 zu weiteren Min-dereinnahmen in Höhe von 4,8Milliarden DM. Insgesamtergibt sich also die Summe von 11,3 Milliarden DM we-niger Einnahmen seitens der Kommunen – ein unverant-wortlicher Zustand.Auch auf der Ausgabenseite führt die Politik der rot-grünen Bundesregierung zwar zu einer Sanierung desBundeshaushaltes, die aber sehr stark zulasten der Kom-munen geht. Zwei Beispiele: Erstens. Die originäre Ar-beitslosenhilfe wurde mit dem Haushaltsanierungsgesetzgestrichen. Die Kommunen müssen daraufhin etwa900 Millionen DM mehr an Sozialhilfe aus ihren Budgetsaufbringen.Zweitens. Der Bundesanteil am Unterhaltsvorschussfür Alleinerziehende wurde mit eben diesem Gesetz dras-tisch gesenkt. Die Kommunen müssen die dadurch entste-henden Ausfälle in Höhe von 400 Millionen DM tragen.Notwendig ist jetzt eine umfassende Reform der Kom-munalfinanzierung. Als einen ersten Schritt dazu sieht diePDS-Fraktion die Möglichkeit, eine Investitionspau-schale des Bundes einführen, die ab dem Jahr 2002 imHaushalts verankert wird und vom Bund zu bezahlenwäre. Der Bundeshaushalt sollte diesen Beitrag aufbrin-gen, hat er sich doch in den zurückliegenden zehn Jahrenin einer milliardenschweren Größenordnung auf Kostender Kommunen saniert. Wir sehen die Chance als gege-ben, diese Entscheidung, die politische Weitsicht voraus-setzt, zu treffen, auch unter einem Bundesfinanzminister,der die Situation der Kommunen kennen müsste, ist erdoch viele Jahre Oberbürgermeister einer hessischenGroßstadt gewesen.Diese Investitionspauschale des Bundes sollte ohneZwischenebenen und bürokratische Hürden vom Bund di-rekt an die Kommunen weitergeleitet werden. Sie soll un-ter Wahrung der kommunalen Selbstbestimmung vor Ort,für Investitionen im sozialen und soziokulturellen Be-reich und auch im Bildungsbereich eingesetzt werden.Wir legen außerordentlich großen Wert auf eine unbüro-kratische Bereitstellung der Mittel durch den Bund,
weil die Kommunen endlich die Chance erhalten müs-sen – Kollege Schmidt, auch Sie kennen das aus IhremWahlkreis –,
eigenverantwortlich zu entscheiden.
– Dass dies zulässig ist, zeigt die Tatsache, dass der Bund1991 und 1993 eine solche Investitionspauschale für Ost-deutschland eingerichtet hatte.
Wir wollen sie ausdrücklich nicht nur für ostdeutscheKommunen, sondern auch für strukturschwache Regio-nen im Altbundesgebiet und deren Kommunen einrichten.Wir wollen keine ausschließlich ostbezogene, sonderneine gesamtdeutsche Lösung.Gerade der Mittelstand braucht die Kommunen alsAuftraggeber, Herr Schmidt. Daran mangelt es bekannt-lich. Die Auftragslage ist sehr schwierig, und zwar auchoder gerade weil die Kommunen als Auftraggeber immermehr ausfallen.
Eine kommunale Investitionspauschale des Bundeskönnte helfen, diese Chance zu nutzen. Eine kommunale
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2001
Dr. Uwe-Jens Rössel14178
Investitionspauschale könnte dazu beitragen, eine Trend-wende bei den Kommunalfinanzen einzuleiten und dieEinnahmeausfälle für die Kommunen aufgrund der Steu-ergesetzgebung zumindest teilweise zu kompensieren.Diese Einnahmeausfälle werden in den nächsten Jahren inverstärktem Maße auftreten und für die Bürgerinnen undBürger weitere Einschnitte im soziokulturellen Bereichbedeuten. Das will die PDS nicht hinnehmen. Deshalbschlägt sie vor, eine kommunale Investitionspauschaledes Bundes alsbald einzurichten.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und ein schönesWochenende.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die guten Wün-
sche bin eigentlich ich zuständig.
Die Kolleginnen und Kollegen Hans Georg Wagner,
Peter Götz, Antje Hermenau und Gerhard Schüßler haben
ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) – Ich sehe Einver-
ständnis im ganzen Haus.
Deshalb kommen wir sofort zur Überweisung. Inter-
fraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Druck-
sache 14/4557 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan-
den? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Mittwoch, den 24. Januar 2001, 13 Uhr, ein.
Ich schließe mich den guten Wünschen meines Kolle-
gen Uwe-Jens Rössel ausdrücklich an und wünsche Ihnen
allen ein nicht allzu arbeitsreiches Wochenende.
Die Sitzung ist geschlossen.