Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich
dem Kollegen Dr. Heinz Riesenhuber, der am 1. De-
zember seinen 65. Geburtstag gefeiert hat, nachträglich
die besten Glückwünsche des Hauses aussprechen.
Ich bitte, ihm das auszurichten.
Die Kollegin Angelika Mertens und der Kollege
Stephan Hilsberg scheiden aus dem Gemeinsamen Aus-
schuss nach Art. 53 a des Grundgesetzes als stellvertre-
tende Mitglieder aus. Die Fraktion der SPD schlägt als
Nachfolger die Kollegen Reinhard Weis und
Jörg Tauss vor. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann sind die beiden genannten
Kollegen als stellvertretende Mitglieder im Gemeinsamen
Ausschuss bestimmt.
Die Fraktion der SPD teilt mit, dass die Kollegin Ute
Vogt aus dem Beirat bei der Regulierungs-
behörde für Telekommunikation und Post als stellvertre-
tendes Mitglied ausscheidet. Als Nachfolger wird der
Kollege Ulrich Kelber vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist
der Kollege Kelber als stellvertretendes Mitglied für den
Beirat der Regulierungsbehörde vorgeschlagen.
Außerdem hat die Fraktion der SPD mitgeteilt, dass der
Kollege Stephan Hilsberg aus dem Beirat beim Bundes-
beauftragtenfürdieUnterlagendesStaatssicherheitsdiens-
tes der ehemaligen DDR ausscheidet. Als Nachfolger
wird der Kollege Hans-Joachim Hacker vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist der Kollege Hacker gemäß § 39 Abs. 1
des Stasi-Unterlagen-Gesetzes in den Beirat gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen
vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS: Haltung
der Bundesregierung zur jüngsten Privatisierung von über
100 000 Eisenbahnerwohnungen
2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Homburger,
Marita Sehn, Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.: Agenda für eine Initiative Deutschlands
zum internationalen Klimaschutz – Drucksache 14/4890 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
3. Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Größere Verteilungs-
gerechtigkeit bei kassenärztlichen Honoraren – Drucksache
14/4891 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
F.D.P.: Wiederherstellung und archivarische Ordnung
vorvernichteter Stasi-Unterlagen – Drucksache 14/4885 –
b)Beratung des Antrags der Bundesregierung: Ausnahme von
dem Verbot der Zugehörigkeit zu einem Aufsichtsrat für
Mitglieder der Bundesregierung – Drucksache 14/4912 –
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschus-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sammelübersicht 226 zu Petitionen
– Drucksache 14/4900 –
d)Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschus-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sammelübersicht 227 zu Petitionen
– Drucksache 14/4901 –
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschus-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sammelübersicht 228 zu Petitionen
– Drucksache 14/4902 –
f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschus-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sammelübersicht 229 zu Petitionen
– Drucksache 14/4903 –
g)Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschus-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sammelübersicht 230 zu Petitionen
– Drucksache 14/4904 –
h)Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschus-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sammelübersicht 231 zu Petitionen
– Drucksache 14/4905 –
13599
140. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Beginn: 9.00 Uhr
i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschus-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sammelübersicht 232 zu Petitionen
– Drucksache 14/4906 –
j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschus-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sammelübersicht 233 zu Petitionen
– Drucksache 14/4907 –
5. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:
Umgang der Bundesregierung mit der BSE-Krise
6. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des
Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abgeord-
neten Christina Schenk, Ulla Jelpke, Sabine Jünger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der PDS: Rehabilitierung und
Entschädigung für die strafrechtliche Verfolgung einver-
nehmlicher gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen
zwischen Erwachsenen in der Bundesrepublik Deutschland
und der Deutschen Demokratischen Republik – Drucksa-
chen 14/2620, 14/4914 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Margot von Renesse
Dr. Jürgen Gehb
Volker Beck
Jörg van Essen
Christina Schenk
7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter Gloser, Hans-
Werner Bertl, Hans Büttner , weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Christian
Sterzing, Ulrike Höfken, Claudia Roth , weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Flankierung der Erweiterung der Europäischen Union als
innenpolitische Aufgabe – Drucksache 14/4886 –
8. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Aus-
schusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem
Antrag der Abgeordneten Dr. Klaus Grehn, Ursula Lötzer, Uwe
Hiksch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS: Die
Weichen für eine neue Vollbeschäftigung in Europa stellen
– Drucksachen 14/3030, 14/3789 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Brandner
9. Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU: Verfas-
sungswidrigkeit der Nationaldemokratischen Partei
Deutschlands – Drucksache 14/4883 –
10. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Guido
Westerwelle, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Dr. Max Stadler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Für eine
wirksame und nachhaltige Bekämpfung des Rechtsextre-
mismus – deshalb gegen ein NPD-Verbot – Drucksache
14/4888 –
11. Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika Balt,
Dr. Dietmar Bartsch, Petra Bläss, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der PDS: Bestrebungen zur Wiederbelebung
nationalsozialistischen Gedankenguts sind verfassungswid-
rig – Drucksache 14/4897 –
12. Vereinbarte Debatte zur Steuerpolitik
13. Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Anrufung des Vermitt-
lungsausschusses zum Gesetz zur Ergänzung des Lebens-
Drucksachen 14/3751, 14/4545, 14/4550, 14/4875, 14/4878 –
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.
Weiterhin ist Folgendes vereinbart worden: Der Tages-
ordnungspunkt 15 – Entwurf eines Umsatzsteuergeset-
zes – soll ohne Debatte behandelt werden. Die Tagesord-
nungspunkte 17 a bis h – es handelt sich um Vorlagen zur
Verkehrspolitik – werden abgesetzt. Der Tagesordnungs-
punkt 19 – Verfassungswidrigkeit der NPD – wird als ers-
ter Punkt am Freitag beraten. Daran schließt sich eine ver-
einbarte Debatte zur Steuerpolitik an. Der Tagesord-
nungspunkt 26 – Erstes SGB –IV-Änderungsgesetz – soll
abgesetzt werden. Außerdem soll der für heute vorgese-
hene Tagesordnungspunkt 29 c – VAG-Novelle – erst am
Freitag beraten werden. Sind Sie mit diesen Vereinbarun-
gen einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so be-
schlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 sowie den Zu-
satzpunkt 2 auf:
3. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
6. Weltklimakonferenz – Chancen für mehr
Klimaschutz
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Marita Sehn, Ulrike Flach, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Agenda für eine Initiative Deutschlands zum
internationalen Klimaschutz
– Drucksache 14/4890 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Zur Regierungserklärung liegt ein Entschließungsan-
trag der Fraktion der CDU/CSU vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung
eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reak-
torsicherheit, Jürgen Trittin.
Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit: Guten Morgen, Herr Präsi-
dent! Meine Damen und Herren! Vor einem Monat be-
richtete ich Ihnen hier, mit welchen Erwartungen und
Vorstellungen wir nach Den Haag fahren. Es war offen-
sichtlich, dass diese Konferenz in eine kritische Phase ge-
raten werde. Denn es ging in Den Haag nicht mehr um
Rhetorik; vielmehr waren von den Staaten weit reichende
politische Entscheidungen gefordert. Wie Sie wissen,
konnten wir, die wir da waren, gemeinsam die hohen Er-
wartungen nicht erfüllen. Die Konferenz ist – trotz Fort-
schritten im Einzelnen – insgesamt ergebnislos auf den
kommenden Mai oder Juni vertagt worden. Ich will an der
Stelle überhaupt nicht darum herumreden: Das ist ein
Rückschlag gewesen für den Klimaschutz und er war
ernüchternd. Lassen Sie mich einen Blick darauf werfen,
wie es zu dieser Lage in Den Haag gekommen ist:
Erstens spielte Zeit eine Rolle. Mein Kollege Jan Pronk
aus den Niederlanden, der Vorsitzende, für dessen enga-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Präsident Wolfgang Thierse
13600
gierte und professionelle Arbeit ich mich ausdrücklich be-
danken möchte, konnte sein lange angekündigtes Kom-
promisspapier erst 36 Stunden vor Schluss vorstellen.
Damit verblieb schlicht sehr wenig Zeit für die wirklichen
Verhandlungen. Selbst wenn sich EU und Amerikaner in
der letzten Nacht noch hätten einigen können, wäre es
mehr als fraglich gewesen, ob ein solches Ergebnis von
anderen, insbesondere den Entwicklungsländern, akzep-
tiert worden wäre.
Ein zweiter Punkt betrifft sehr große Interessenwider-
sprüche zwischen Ländern, die auf dieser Konferenz
gleichzeitig auf einen Konsens angewiesen waren. So gab
das Kompromisspapier die Interessenlage in unseren Au-
gen teilweise nur unzureichend wieder. Zwei der großen
Verhandlungsgruppen – die EU auf der einen und die Ent-
wicklungsländer auf der anderen Seite – hatten sich bei-
spielsweise gegen eine breite Anrechnung von Senkenak-
tivitäten und klar für eine qualifizierte Obergrenze beim
Emissionshandel ausgesprochen. Damit kamen die Geg-
ner dieser Linie, allen voran Amerikaner, Kanadier und
Japaner, in eine deutliche Minderheit. Dennoch spiegelte
sich in dem Kompromisspapier das erdrückende Überge-
wicht der Positionen der Entwicklungsländer und Eu-
ropäer so nicht wider.
Dennoch schien es so, als wenn in der letzten Nacht
eine politische Einigung recht nahe gewesen ist. Uns lief
dann in der Tat die Zeit davon. Gescheitert ist die Konfe-
renz – und ich betone das – buchstäblich in letzter Minute
an der Weigerung einiger Industrieländer, tatsächlichen
Reduktionsmaßnahmen zu Hause einen echten Vorrang
zu geben. Die so genannte Umbrella-Gruppe um Kanada,
die USA, Japan und Australien bestand vor allem auf ei-
ner sehr weitgehenden und nicht quantifizierten Einbe-
ziehung von Senken. An dieser in meinen Augen nicht
hinreichenden und umweltpolitisch nicht tragfähigen Fle-
xibilität ist ein Kompromiss gescheitert. Dies ist umso be-
dauerlicher, als die EU in letzter Minute noch sehr weit-
gehende Kompromisse angeboten hat.
Was wir allerdings nicht machen konnten, war, natürli-
che Wälder und andere Senken mit ihren vorübergehen-
den Kohlenstoffspeicherfunktionen in einem unbestimm-
ten Umfang auf die Reduktionsverpflichtung von Kioto
anzurechnen. Das wäre in der Tat ein riesiges Schlupfloch
gewesen. Man muss darauf hinweisen, die Kohlenstoff-
aufnahme findet ohne jegliches menschliches Einwirken
statt.
Schließlich konnten wir nicht akzeptieren, dass über
die Frage der Einbeziehung von Senken in den Clean-
Development-Mechanismus nicht entschieden, sondern
diese Frage weiter vertagt werden sollte. Außerdem konn-
ten wir auch nicht akzeptieren, wenn Regeln für die Ki-
oto-Mechanismen nicht verbindlich festlegen sollten,
dass Industrieländer ihre Reduktionsverpflichtungen
zunächst im eigenen Lande zu erbringen haben. Das alles
hätte dem Kioto-Protokoll seine ökologische Integrität
genommen.
Es ist zu betonen, dass die von der EU eingenommene
Verhandlungsposition von den Entwicklungsländern
nachdrücklich unterstützt wurde. Dies war ein positiver
Aspekt der Konferenz. Die Umweltintegrität stand im
Mittelpunkt und fand, wenn auch keine Einstimmigkeit,
so doch eine sehr weitreichende Unterstützung aus Nord
und Süd.
Ich habe für die Bundesrepublik nach einer schwieri-
gen und die ganze Nacht durchgehenden Verhandlung
zwischen Franzosen, Briten, und Deutschen auf der einen
und einer Reihe von Umbrella-Staaten auf der anderen
Seite noch am Samstag früh einen Kompromissvorschlag
vorgelegt. Dieser Kompromiss zielte, wenn man es so
ausdrücken will, auf einen explizit politischen Deal, der
es ermöglichen würde, das Protokoll zu ratifizieren und in
Kraft treten zu lassen.
Der Vorschlag, den wir vorgelegt haben, sah insbeson-
dere vor, dass sich die USA, Kanada und Japan bestimmte
Senken anrechnen lassen können, dass diese Anrechnung
aber streng zu limitieren und auf die erste Verpflichtungs-
periode zu beschränken ist. Er stellte klar, dass Senken aus
dem CDM für die erste Verpflichtungsperiode ausge-
schlossen werden sollten. Er beinhaltete außerdem eine
– wie ich finde – für alle akzeptable Formulierung zur
Vorrangigkeit von nationalen Reduktionsmaßnah-
men, Regeln, die Überverkäufe beim Emissionshandel
verhindern sollten, sowie einen Straffaktor für Industrie-
staaten, um die Wiedergutmachungsleistung für zu viel
emittierte Treibhausgase zu erhöhen.
Es ist bedauerlich, dass aufgrund der fortgeschrittenen
Zeit über diesen deutschen Kompromissvorschlag nicht
mehr abschließend verhandelt werden konnte. Es ist ins-
besondere deshalb bedauerlich, weil in Den Haag auf ei-
nigen Gebieten Fortschritte erzielt werden konnten. Es
gibt einen breiten Konsens für ein Kontrollsystem, das ei-
nen verbindlichen Aktionsplan mit Strafaufschlag für jede
Tonne Treibhausgas für den Fall vorsieht, dass ein Land
seine Reduktionsziele verfehlt hat.
Atomprojekte sollten unter dem Mechanismus der um-
weltverträglichen Entwicklung in den Entwicklungslän-
dern nicht als Klimaschutzprojekte, die sich Industrielän-
der anrechnen lassen können, zulässig sein. Hier haben
wir mit der EU gemeinsam erfolgreich verhandelt. Ich
glaube, diese Entwicklung lässt sich nicht so einfach
zurückdrehen.
Die Bundesregierung will das Inkrafttreten des Kioto-
Protokolls im Jahre 2002. Wir sind bereit, hierfür Zuge-
ständnisse zu machen. Wir wissen, dass hierzu auch ein
gewisser Rabatt auf die in Kioto eingegangenen Ver-
pflichtungen gehören kann. Über den Rabatt und seine
Höhe kann man mit uns reden, aber nicht über
Schlupflöcher, zumal nicht über Schlupflöcher auf Dauer.
Wir wollen einen Kompromiss, aber nicht um jeden
Preis. Das war und ist die Haltung der Bundesregierung
und die Haltung der EU, die wir in Den Haag durchge-
halten haben. Dass einige Länder seit Rio ihre Treib-
hausgasemissionen kontinuierlich gesteigert und nicht,
wie versprochen, stabilisiert oder, wie wir, gesenkt haben,
kann kein Grund sein, das Protokoll von einem völker-
rechtlich verbindlichen Abkommen zu einer unverbindli-
chen politischen Erklärung zu machen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Bundesminister Jürgen Trittin
13601
Die Unterbrechung der Konferenz in Den Haag war ein
Rückschlag. Jetzt kommt es für alle darauf an, wie wir da-
mit umgehen. Ich will nachdrücklich unterstreichen: Wir
dürfen uns von diesem Rückschlag nicht lähmen lassen.
Wir müssen die Stagnation beim Klimaschutz überwin-
den. Dazu ist es notwendig, die Situation nüchtern zu ana-
lysieren und mit unseren Partnern vorwärts zu denken und
zu handeln. Dann haben wir eine echte Chance.
Nach vorne denken heißt aber auch, aufzuhören, sich
mit sich selber zu beschäftigen. Ob die französische Kol-
legin Dominique Voynet müde war, ob der britische stell-
vertretende Premierminister John Prescott ein unverbes-
serlicher Macho ist, mag Zeitungen interessieren. Aber
für uns muss gelten: Im Kampf für den Klimaschutz müs-
sen die Europäer in erster Linie zusammenstehen. Dann
und nur dann – das ist unsere Erfahrung – wird sich etwas
bewegen.
Ich habe deshalb unmittelbar nach Den Haag damit be-
gonnen – ich werde weiterhin alles dafür tun –, in den
kommenden Wochen und Monaten die Verhandlungsbe-
reitschaft meiner Kolleginnen und Kollegen aufrechtzu-
erhalten und weiterzuentwickeln. In den Gesprächen mit
dem Präsidenten der Konferenz und niederländischen
Umweltminister, Jan Pronk, mit dem amerikanischen
Chefunterhändler Frank Loy, mit der französischen Um-
weltministerin, Dominique Voyet, mit John Prescott und
mit der japanischen Umweltministerin Yoriko Kawaguchi
verfolge ich das Ziel, noch mit der derzeitigen Adminis-
tration der USA eine politische Einigung zwischen der
Umbrella-Gruppe und Europa über die uns gemeinsam
berührenden Fragen zu erreichen.
Während wir jetzt im Bundestag diskutieren, loten
meine Beamten zusammen mit deren Kolleginnen und
Kollegen aus Europa und der Umbrella-Gruppe in Ottawa
aus, ob eine solche Einigung noch vor Weihnachten ge-
lingen kann. Wenn sich hier eine Einigung als möglich ab-
zeichnet, wird es am dritten Advent voraussichtlich in
Oslo ein Treffen auf Ministerebene zwischen der EU und
den Umbrella-Staaten geben.
Ich sage ausdrücklich: Eine solche politische Einigung
kann ein Abkommen nicht ersetzen. Kein Dialog etwa von
Industrieländern untereinander kann andere, Nichtindus-
trieländer binden. Gleichzeitig müssen die Entwicklungs-
länder in den konstruktiven Dialog für eine Einigung ein-
bezogen werden, da die Wahrung der Umweltintegrität
des Kioto-Protokolls nur mit den Entwicklungsländern
möglich ist. Für ein solches Gespräch bietet sich in mei-
nen Augen die nächste Verwaltungsratssitzung der UN-
Umweltorganisation im Februar an.
Vor allem aber muss eine solche Einigung so fundiert
sein, dass sie noch im Frühjahr bei der Fortsetzung der
6. Vertragsstaatenkonferenz Bestand hat. Für uns heißt
das: Es ist sicherzustellen, dass tatsächlich Emissions-
minderungen stattfinden, dass solche im eigenen Land
stattfinden, dass Clean-Development-Mechanismen nur
umweltverträgliche Projekte umfassen, dass es ein wirk-
sames System der Erfüllungskontrolle gibt und dass die
bewährten Strukturen der internationalen Zusammenar-
beit, insbesondere des GEF, erhalten und gestärkt werden.
Ich appelliere deswegen an alle Industriestaaten, ihre
Positionen zu überprüfen und mit zukunftsfähigen Kon-
zepten an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Ich ap-
pelliere ebenfalls, bereits jetzt auf nationaler Ebene ver-
stärkt Maßnahmen umzusetzen, wie wir es hier mit dem
nationalen Klimaschutzprogramm getan haben. Ange-
sichts der Dramatik des Klimawandels gibt es keine
Rechtfertigung, damit zu warten, bis die Vertrags-
staatenkonferenz die Entscheidung zur weiteren Ausge-
staltung des Protokolls trifft.
Ich würde mich freuen, wenn die Bundesregierung
diese Grundlinien deutscher Politik für einen globalen
Klimawandel weiterhin mit der Unterstützung des ge-
samten Bundestages verfolgen könnte, wie ich dies in Den
Haag durch die anwesenden Abgeordneten unterschiedli-
cher Fraktionen erfahren habe. Ich würde mich freuen,
wenn wir bei diesem Kurs auch weiterhin die kritische
Unterstützung durch die Zivilgesellschaft, von Unterneh-
mer- bis Umweltverbänden, hätten.
Ihnen allen, die sich aktiv daran beteiligt haben, danke
ich für Ihr Engagement und für Ihre Hilfe. Bei allen Rück-
schlägen muss ich sagen: Ohne diesen Konsens in der
deutschen Gesellschaft wären wir nicht so weit gekom-
men, hier nicht und international nicht. Deshalb vielen
Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Peter Paziorek, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich meinen
gestern im Umweltausschuss geäußerten Dank wiederho-
len. Danken möchte ich Ihnen, Herr Minister, für die
Möglichkeit, dass wir Parlamentarier in Den Haag an der
Klimaschutzkonferenz als Delegierte im Rahmen der
deutschen Delegation teilnehmen konnten. Ich möchte Ih-
nen, Frau Ganseforth, für die engagierte Tätigkeit als De-
legationsleiterin in Den Haag danken.
Herr Bundesumweltminister, wenn Sie um eine Unter-
stützung für den Kurs der Bundesregierung bei den inter-
nationalen Klimaschutzkonferenzen bitten, kann ich Ih-
nen sagen: Eine kritische Unterstützung für international
sinnvolle Maßnahmen dieser Bundesregierung werden
Sie von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion immer erhal-
ten.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Bundesminister Jürgen Trittin
13602
Gleichwohl kann ich es mir nicht versagen, zu Den
Haag auch einige kritische Bemerkungen zu machen. Ich
glaube nämlich nicht, dass es damit getan ist, allein den
USAund den weiteren Mitgliedern der so genannten Um-
brella-Gruppe, die am bisherigen Scheitern der Klima-
schutzkonferenz sicherlich die Hauptschuld tragen, die
Verantwortung dafür zuzuschieben. Im Besonderen ist zu
fragen, ob nicht das Scheitern von Den Haag für die EU-
Staaten und damit auch für die deutsche Bundesregierung
vorhersehbar war und somit mit einer anderen Verhand-
lungsstrategie vermeidbar gewesen wäre.
Ich will das deshalb ansprechen, weil schon im Vorfeld
der Konferenz in Den Haag in diesem Hause wie auch
vonseiten der Regierung hinsichtlich des Verhandlungs-
ziels immer wieder gesagt wurde, man wolle – so hieß es
fast wörtlich – kein Ergebnis um jeden Preis. Wir hätten
uns gewünscht, dass Sie das Verhandlungsziel positiver
formuliert hätten, im Sinne: Wir alle wollen ein respekta-
bles Ergebnis. Jeder Staat, der in Den Haag dabei ist, muss
sich damit seiner Verantwortung stellen. – Mit einer sol-
chen Formulierung hätten wir von Anfang an ein positi-
ves Verhandlungsklima erzeugt. Aber der Satz „Wir Deut-
sche wollen kein Ergebnis um jeden Preis“ war ein
falscher Ausgangspunkt für die Verhandlungen.
Sie müssen sich folgenden Vorwurf gefallen lassen: Im
Vorfeld dieser 6. Weltklimakonferenz und in Kenntnis der
differenzierten Standpunkte waren Ihre Kollegen Um-
weltminister der Europäischen Union zwar engagiert;
das attestiere ich ihnen gerne. Sie sind hinsichtlich der
Durchsetzbarkeit einer gemeinsamen Position aber zu
wenig zielorientiert und letztlich zu wenig flexibel auf-
getreten. Dieser Vorwurf muss weiter bestehen, auch
wenn Sie gerade in Ihrer Regierungserklärung zum ersten
Mal öffentlich ziemlich deutlich einen deutschen Kom-
promissvorschlag dargestellt haben. Schade, dass dieser
erst jetzt vorgetragen worden ist. Es wäre besser gewesen,
man hätte ihn zu Beginn der Verhandlungsrunde in Den
Haag vorgelegt. Das wäre besser gewesen; denn dann
wären wir in der Europäischen Union sicherlich mit einer
geschlosseneren Haltung aufgetreten. Das ist ein Vorwurf,
den wir Ihnen leider nicht ersparen können.
Bereits im März dieses Jahres hatte die Kommission
ein Programm für eine gemeinsame Politik der Mitglied-
staaten zur Verringerung der Treibhausgasemissionen
vorgelegt. Spätestens seit diesem Zeitpunkt war die dif-
ferenzierte Interessenlage der Mitgliedstaaten bekannt.
Hier hätten Sie, Herr Minister Trittin, im Vorfeld der Kon-
ferenz von Den Haag intensiv Einfluss nehmen müssen.
Sie haben zu Recht beschrieben, wie schwierig im
Übrigen die Ausgangssituation der Verhandlungen in Den
Haag war. Es gibt neben den Staaten der EU zwei große
Gruppen: die so genannte Umbrella-Gruppe mit den Ver-
einigten Staaten an der Spitze, mit Japan, Australien, Ka-
nada und einigen anderen Staaten – diese Staaten wollen
eine größtmögliche Anrechnung der Senken – und die
G-77-Staaten; ihre Ziele sind Finanzierungsmecha-
nismen und Technologietransfer.
Interessant war, dass die deutsche Delegation unter Ih-
rer Federführung, Herr Minister, gerade hinsichtlich der
Finanzierungsmechanismen und der Aufstockung der fi-
nanziellen Mittel im Bereich der Entwicklungspolitik die
gleiche Haltung an den Tag gelegt hat wie die bisherigen
Bundesregierungen, geführt von CDU/CSU und F.D.P.,
bei den früheren Konferenzen. Damals wurde gesagt, dass
es uns enge finanzielle Spielräume zum Beispiel durch die
Unterstützung der mittelosteuropäischen Staaten nicht er-
möglichen, die Finanzmittel für die Entwicklungsstaaten
einfach aufzustocken. Gegen diese Politik haben Sie aus
dem rot-grünen Regierungslager vor Jahren in diesem
Hause heftigst opponiert. Sie haben damals gesagt, wir
seien weit weg von dem 0,7-Prozent-Ziel. Jetzt, wo Sie
die Verantwortung haben, haben Sie fast mit der gleichen
Sprache die Politik fortgesetzt, die Töpfer und Merkel bei
den internationalen Verhandlungen an den Tag gelegt ha-
ben. Es wäre schön gewesen, Herr Minister Trittin, wenn
Sie darauf hingewiesen hätten, dass die bisherige Vorar-
beit der Bundesregierung, die bis 1998 regiert hat, richtig
war und dass es in diesem Bereich viele Punkte gibt, die
Sie fast nahtlos übernommen haben. Damit wird deutlich,
dass das, was Sie in diesem Hause vielfach an Kritik ge-
äußert haben, damals keine Berechtigung hatte.
Wir stimmen ausdrücklich mit Ihnen überein, wenn Sie
erklären, dass die flexiblen Instrumente nicht dazu be-
nutzt werden dürfen, sich aus einer effektiven inter-
nationalen Klimaschutzpolitik zu verabschieden. Wir
brauchen keine Schlupflöcher, sondern eine konsequente
Verhaltensänderung in den Industriestaaten, insbesondere
in den USA. Die übertriebenen Vorstellungen der USAbei
der so genannten Senkenproblematik sind eindeutig ab-
zulehnen. Gleichwohl muss der Schutz von wichtigen und
stabilen natürlichen Speichern, wie vor allem Primärwäl-
dern und Feuchtgebieten, im internationalen Rahmen
stärker als bisher gefördert und angerechnet werden. Als
wir das als CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Vorfeld der
Klimakonferenz in Den Haag auch mit einem Antrag hier
im Hause gefordert haben, da haben wir aus dem Regie-
rungslager skeptische Gegenfragen gehört. Heute aber
muss ich feststellen, dass Sie, Herr Minister, in Ihrer
Regierungserklärung gerade darauf hingewiesen haben,
dass wir in dieser Frage flexibler sein müssen. Ich frage
mich: Warum haben Sie das nicht schon am Anfang der
Konferenz in Den Haag geäußert? Warum erst heute, nach
dem Scheitern der Konferenz in Den Haag?
Wie sieht es nun mit den Grundzügen einer erfolgrei-
chen internationalen und nationalen Klimaschutzpolitik
aus? Wir nehmen zustimmend zur Kenntnis, dass die Bun-
desregierung auf der Grundlage des Klimaprotokolls von
Kioto den Klimaschutz als eine große, internationale um-
weltpolitische Herausforderung ansieht. Doch es bleibt
festzustellen, dass durch die Instrumentendiskussion in
Deutschland seit 1998 auch auf der internationalen Ebene
wichtige Jahre verloren gegangen sind. Der Bundesregie-
rung ist hinsichtlich der vergangenen zwei Jahre der Vor-
wurf zu machen, dass sie die Schrittmacherrolle, die
Deutschland auf den internationalen Konferenzen in Rio
und Kioto wahrgenommen hat, heute leider nicht mehr
umfassend erfüllen kann.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Dr. Peter Paziorek
13603
Dass die jetzige Bundesregierung nach 1998 zunächst
mit ihrer Forderung nach weiteren Reduktionszielen hin-
sichtlich des CO2-Ausstoßes gescheitert ist und stattdes-sen jetzt auf Instrumente zurückgreift, die maßgeblich
von Professor Töpfer und Frau Merkel konzeptionell ent-
wickelt worden sind, zeigt letztlich auch, wie richtig der
bisherige Weg in der Klimaschutzpolitik war. Ich gebe
ganz ehrlich zu: Vor dem Hintergrund des Erfordernisses
einer gemeinsamen Politik in diesem Hause auf diesem
Gebiet werden wir Ihre Politik – natürlich immer kri-
tisch – begleiten, wenn die Ansätze, die ich gerade skiz-
ziert habe, auch tatsächlich von Ihnen aufgegriffen wer-
den.
Eines ist ganz wichtig: Klimaschutzpolitik auf interna-
tionaler Ebene – das haben wir jetzt anlässlich der Konfe-
renz in Den Haag gemerkt – darf nicht nur eine Politik der
Fachminister sein. Eine Klimaschutzpolitik ist letztlich
nur erfolgreich – weil eine Klimaschutzpolitik die Wirt-
schaftspolitik und die Strukturpolitik umfasst, bringen die
Staaten von vornherein ihre eigenen Interessen ein –,
wenn sie auch von den Regierungschefs unterstützt wird.
Angesichts dessen, dass sich Bundeskanzler Kohl im Vor-
feld der Konferenz von Rio und im Vorfeld der nächsten
Folgekonferenzen persönlich engagiert hat, und ange-
sichts der Tatsache, dass wir in dieser Frage in den letzten
Wochen und Monaten sehr wenig von Gerhard Schröder
gehört haben, kann ich nur sagen: Es wäre gut gewesen,
Herr Schröder hätte sich in diesen Fragen so engagiert wie
Helmut Kohl. Dann wären die internationalen Vorausset-
zungen für einen Erfolg der Konferenz in Den Haag bes-
ser gewesen.
Ich habe noch in guter Erinnerung, was nach dem
Scheitern der Klimakonferenz gerade aus den Reihen der
sozialdemokratischen Fraktion geäußert worden ist. Da
ist in Presseerklärungen gesagt worden, die Konferenz
von Den Haag – das wurde völlig zu Recht festgestellt –
sei gescheitert; aber jetzt hätten die Deutschen die Auf-
gabe, voranzugehen, und man müsse zusehen – ich sage
das jetzt einmal sehr salopp –, dass wir die Karre aus dem
Dreck ziehen.
– Herr Müller, genau Sie meinte ich damit. Ich hatte schon
auf Ihren Zuruf gewartet.
Es wäre schön, wenn wir in Deutschland aufgrund un-
serer Größe und unserer Volkswirtschaft in der Lage
wären, auch tatsächlich so vorzugehen, wie Sie es gesagt
haben. Aber wenn wir im Jahre 2005 das vorgesehene
Klimaschutzziel erreichen, nämlich eine Reduktion des
CO2-Ausstoßes um 25 Prozent, dann haben wir weltweit1 Prozent des CO2-Ausstoßes eingespart. Wenn wir an-dere Staaten wie die USA und vor allen Dingen die
Schwellenländer in Südostasien, zum Beispiel China und
Indien, nicht für eine solche Klimaschutzpolitik gewin-
nen, dann werden unsere ganzen Erfolge in der Klima-
schutzpolitik neutralisiert. Deshalb verstehe ich über-
haupt nicht, dass Sie der Öffentlichkeit vorgemacht
haben: Obwohl die Konferenz von Den Haag gescheitert
ist, können wir von hier aus die Klimaschutzpolitik auf
internationaler Ebene erfolgreich steuern.
– Das ist ein falscher Ansatz. Mit einer solchen Äußerung
zeigen Sie, dass Sie die Gewichtungen auf den internatio-
nalen Konferenzen noch immer nicht richtig beurteilen.
Wenn Sie den anderen Staaten erklären: „Wenn ihr bei
dieser Politik nicht mitmacht, dann handeln wir allein“,
dann verschlechtern Sie die Verhandlungsbedingungen
für die weiteren internationalen Klimakonferenzen. Das
muss man Ihnen ganz deutlich vorwerfen.
Wir werden unsere nationale Vorreiterrolle nur dann
wahrnehmen können, wenn wir auch in Deutschland ein
überzeugendes Klimaschutzprogramm auflegen. In die-
sem Zusammenhang muss ich noch einmal betonen: Das
Klimaschutzprogramm, das Sie nach der Sommerpause
hier vorgelegt haben, ist ein vages Programm, das aus
Ankündigungen besteht und letztlich an keiner Stelle
wirklich konkret belegt, wie Sie bis zum Jahre 2005 das
Reduktionsziel tatsächlich erreichen können. Sie schrei-
ben an einer Stelle, allein im Rahmen der Ökosteuer woll-
ten Sie 10 Millionen Tonnen CO2 einsparen. Zur Ver-kehrspolitik sagen Sie, ab dem Jahre 2003 werde eine
Abgabe für den Schwerlastverkehr eingeführt, und dann
geben Sie Prozentzahlen und absolute Zahlen in Bezug
auf die Reduktion des CO2-Ausstoßes an. An keiner Stellewird deutlich, wie Sie mit dieser Schwerlastverkehrsab-
gabe den hohen Anteil des CO2-Ausstoßes im Verkehrs-bereich tatsächlich reduzieren wollen.
Es ist eine vage Ankündigung: Es steht bei Ihnen auf dem
Papier, aber Sie haben es leider versäumt, ganz konkret zu
belegen, wie Sie mit dem, was Sie im Augenblick als
Ankündigungen an den Tag gelegt haben, im Jahre 2005
das Ziel auch tatsächlich erreichen können. Mit anderen
Worten: Ihr Klimaschutzprogramm ist nicht nachhaltig.
Wir geben natürlich zu, dass innerhalb der Europä-
ischen UnionReden und Handeln häufig auseinander fal-
len. Staaten im Norden und im Westen der EU, die bisher
mit einem rigorosen Bekenntnis zum Klimaschutz aufge-
treten sind, fallen heute zunehmend durch steigende CO2-Emissionen auf. Deshalb kann ich nur ganz deutlich sa-
gen: Es wird auch Ihre Aufgabe sein, Herr Minister
Trittin, darauf hinzuweisen, dass die bisherigen Erfolge in
der Klimaschutzpolitik auch für die anderen Staaten in der
Europäischen Union Vorbild sein sollten, sodass wir in
geschlossener Haltung auftreten können.
Herr Minister, der Presse vom gestrigen Tage und ei-
nem Bericht Ihres Staatssekretärs im Umweltausschuss
war zu entnehmen – auch Sie haben heute eine entspre-
chende Ankündigung gemacht –, dass in den nächsten Ta-
gen weitere Gespräche stattfinden werden, um Den Haag
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Dr. Peter Paziorek
13604
nachträglich doch noch zu einem Erfolg zu bringen. Für
die CDU/CSU-Bundestagsfraktion kann ich deutlich sa-
gen: Wir wünschen Ihnen bei diesen Verhandlungen
Glück – auch wir wollen den Erfolg –; wir wünschen Ih-
nen aber vor allen Dingen, dass Sie jetzt nicht mit weite-
ren Vorfestlegungen, sondern flexibel in diese Verhand-
lungen gehen und dass Sie deutlich machen, dass wir zwar
ein konsequentes Klimaschutzziel haben und von unseren
Vertragspartnern verlangen, dass auch sie sich konsequent
verhalten, dass es aber wohl Rabatte geben muss, um die
anderen Staaten zu einem positiven Verhandlungsergeb-
nis zu bringen. Wir wünschen, dass Sie das deutlich erklä-
ren und dass Sie bei den Verhandlungen glaubwürdig auf-
treten, damit unsere Vertragspartner das Gefühl haben,
dass es sich nicht nur um Worte handelt, die Sie in einer
Regierungserklärung abgegeben haben, sondern dass das
Ihre prinzipielle Haltung darstellt. Nur wenn das so ge-
schieht, werden wir Den Haag nachträglich zu einem Er-
folg machen können.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich erteile der Kolle-
gin Monika Ganseforth, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Vertragsstaatenkonferenz
in Den Haag hat zu keinem positiven Ergebnis geführt.
Das ist sehr bedauerlich und kann – ich betone: kann –
dem Klimaschutz auf lange Zeit Schwierigkeiten machen.
Ich meine aber, es wäre schlimmer gewesen, wenn ein Er-
gebnis zustande gekommen wäre, welches das Kioto-Pro-
tokoll ausgehöhlt und ad absurdum geführt hätte.
Kein Ergebnis zu erzielen kann besser sein, als ein
schlechtes Ergebnis zu erzielen. Ich hatte eher die Sorge,
dass der Umweltminister – so sah es teilweise aus – in den
letzten Verhandlungstagen dem Druck nachgibt und dass
so im Endeffekt etwas herauskommt, was dazu führt, dass
die Industriestaaten mehr Treibhausgase emittieren kön-
nen, weil die Senken angerechnet werden. Wir wären in
Deutschland von der Öffentlichkeit – von den Umwelt-
verbänden, von den Bürgerinnen und Bürgern und auch
von der Wirtschaft, die in Deutschland zum Teil schon
große Anstrengungen unternommen hat – zu Recht scharf
kritisiert worden, wenn so etwas herausgekommen wäre.
Alle, die vom Klimaschutz profitieren, erwarten, dass et-
was Nachhaltiges zustande kommt.
Hauptstreitpunkt war das Problem der flexiblen Instru-
mente und vor allem der Anrechnung von Senken, also
von Wäldern, Landwirtschaft und Feldern. Vielleicht ist
dieses Schlupfloch das Problem des Kioto-Protokolls. Es
kommt sehr darauf an, dass die weiteren Vereinbarungen
sorgfältig getroffen werden, damit der Klimaschutzpro-
zess dadurch nicht unterlaufen und zerstört wird. Es
kommt also mehr auf Sorgfältigkeit als darauf an, etwas
zu akzeptieren, was nicht nachhaltig ist – nur um über-
haupt zu einer Einigung zu kommen.
Der Minister hat die Schwerpunkte, die bei den weite-
ren Verhandlungen eine Rolle spielen müssen und spielen
werden, genannt: Es muss in den Entwicklungsländern zu
tatsächlichen Emissionsreduzierungen kommen. Ein Teil
der Verringerung muss aber bei uns im Lande selber statt-
finden. Wir haben der Regierung im Parlament empfoh-
len, eine Senkung von mindestens 50 Prozent im eigenen
Land zu vereinbaren, obwohl wir der Meinung sind, dass
auch das noch immer nicht genug ist und dass es mehr sein
müsste. Man muss aber nun einmal flexibel sein.
Wichtig ist – das ist auch erreicht worden –, dass bei
den flexiblen Instrumenten nur umweltverträgliche Pro-
jekte in den Entwicklungsländern einbezogen werden
dürfen, also keine Atomkraftwerke, keine riesigen Was-
serkraftwerke und Ähnliches. Das Kontrollsystem muss
stimmen; in dieser Sache sind wir weitergekommen.
Bei der Finanzierung geht es nicht nur darum – Herr
Paziorek, Sie haben das Geld für die Entwicklungshilfe
angesprochen –, mehr Geld zu geben, sondern es muss
auch mit den bewährten Instrumenten gearbeitet werden.
Es dürfen nicht immer wieder, wie es die Amerikaner und
andere vorgeschlagen haben, neue Töpfe geöffnet wer-
den, die neue Bürokratien erfordern.
Dass es schwieriger ist, konkrete Maßnahmen zu ver-
abreden als allgemeine, ist klar und war wohl in Den Haag
auch die Schwierigkeit gegenüber Rio. In Rio ging es nur
um die Klimarahmenkonvention, die zwar sehr deut-
lich, aber nicht sehr konkret ist. Diese zu unterzeichnen
war leichter, als sich jetzt auf die konkreten Protokolle zu
verpflichten, die ans Eingemachte gehen, weil sie vor-
schreiben, was in der Industriegesellschaft im Einzelnen
gemacht werden muss. Deswegen tun sich die Umbrella-
Staaten vermutlich so schwer.
Unabhängig vom Erfolg der internationalen Bemühun-
gen müssen wir in Deutschland und Europa unbeirrt und
vielleicht mit noch mehr Engagement den Klimaschutz
vorantreiben. Dabei geht es nicht darum, Herr Paziorek,
wie viel das weltweit ausmacht; es geht vielmehr darum,
dass wir zeigen müssen, dass so etwas möglich ist.
Mein Eindruck ist, dass die Mehrheit der Menschen in
unserem Land – „Zivilgesellschaft“ hat sie der Minister
genannt – und insbesondere die Akteure, also die Um-
weltverbände, die Kommunen, die Kirchen, die Schulen,
die Wirtschaft, wissen, worum es beim Klimaschutz geht.
Die meisten wissen, um welch große Herausforderung es
geht. Sie sind bereit – jedenfalls im Wesentlichen –, ihren
Beitrag zu leisten. Sie wissen aber auch, dass Klimaschutz
nicht nur Geld kostet, sondern sich auch rechnen kann und
eine Chance für Innovationen, Beschäftigung und neue
Aktionsfelder bietet.
Ich meine, das ist in Deutschland auch den Klima-En-
quete-Kommissionen zu verdanken. Diese haben mit
ihren Anhörungen, ihren Studien, Berichten, Empfehlun-
gen und Debatten im Bundestag erreicht, dass es sich in
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Dr. Peter Paziorek
13605
der deutschen Gesellschaft herumgesprochen hat: Klima-
schutz rechnet sich, Klimaschutz muss sein. Gerade in
Den Haag war zu spüren, dass das in den anderen Ländern
weitgehend nicht der Fall ist und dass das ein Problem ist,
das Erfolge im Klimaschutz behindert. In Deutschland
und andernorts in Europa wissen wir, um was es geht.
Die Akteure haben allerdings auch erwartet – das
wurde uns ebenso gesagt –, dass die Regierung richtige
Rahmenbedingungen schafft. Die neue Regierung hat
viel auf den Weg gebracht: das 100 000-Dächer-Pro-
gramm; die Ökosteuer, die Energiesparen belohnt; das Er-
neuerbare-Energien-Gesetz, das Solarenergie auskömm-
lich und investitionssicher behandelt; Haushaltsmittel
– die habenwir in der vergangenenWoche verabschiedet –
zur Gebäudesanierung im Rahmen des Zukunftsinvesti-
tionsprogramms, das über fünf Jahre jeweils 400 Milli-
onen DM vorsieht; das Kraft-Wärme-Kopplungs-Vor-
schaltgesetz. Daneben haben wir für konkrete und
anspruchsvolle Selbstverpflichtungen der Wirtschaft ge-
sorgt, die ein ordentliches Monitoring und nicht nur all-
gemeine blumige Vereinbarungen beinhalten. Einiges
steht noch aus: die Energiesparverordnung, die Schwer-
verkehrsabgabe und die Stützung der Kraft-Wärme-
Kopplung, die aus Primärenergie, also aus Kohle, Öl und
Gas, mehr herausholt und bessere Wirkungsgrade erzielt.
Ich bin froh und sicher, dass unsere Regierung weiter-
macht und das im nationalen Rahmen verfolgt.
Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen: Das
gute internationale Ansehen, das Deutschland im Zusam-
menhang mit dem Klimaschutz genießt, hängt auch damit
zusammen, dass wir in der Vergangenheit mit einer
Stimme gesprochen haben. Wir waren uns jedenfalls über
Parteigrenzen hinweg einig, dass der Klimaschutz ein
wichtiges Instrument und eine große Herausforderung ist.
Als wir in der Opposition waren, so muss ich Ihnen sa-
gen, ist uns das nicht immer leicht gefallen; denn das
große Auseinanderklaffen Ihrer Worte und Ihrer Taten hat
es schwer gemacht, das international zu verteidigen. Wir
fanden viele Ihrer Instrumente halbherzig und es gab In-
strumente, die völlig falsch waren. Herr Paziorek, Sie ha-
ben die Schwerverkehrsabgabe für Lastwagen angespro-
chen. Diese ist richtig. Sie dagegen haben damals den
Bundesverkehrswegeplan als Klimaschutzmaßnahme
eingebracht. Was, so haben wir uns immer gefragt, sollte
dies im Bereich Verkehr an Klimaschutz bringen?
Trotzdem haben wir um der Sache willen gesagt: Nach
außen hin vertreten wir eine gemeinsame Position. Dies
galt nicht nur für die Parteien, sondern auch für die Wirt-
schaft, die Umweltverbände und große Bereiche der Zi-
vilgesellschaft. Sie alle haben die Regierung auf diesem
Feld unterstützt. Das muss auch so bleiben, denn es geht
um eine große Sache und eine große Herausforderung.
Kleinkarierter parteipolitischer Streit hilft da nicht weiter.
Hier spreche ich ausdrücklich die F.D.P. an.
Ich habe mir den Antrag der F.D.P. angesehen.
Ich will nur eine Passage vorlesen. Dort steht:
Auf internationaler Ebene ist die Bundesregierung
während der Verhandlungen in Den Haag der He-
rausforderung ausgewichen, die Reihen der EU-Um-
weltminister geschlossen zu halten und konstruktiv
an einem dynamischen Verhandlungsprozess teilzu-
nehmen.
Sie waren nicht mit dabei und haben hier nicht nur eine
Fern-, sondern eine Fehldiagnose gestellt.
Ihr Handeln ist auch nicht verantwortlich. Ich glaube, Sie
haben nicht begriffen, dass in diesem Zusammenhang
auch die Opposition Verantwortung trägt. Was waren das
noch für Zeiten, als Leute wie Herr Grüner die F.D.P.-Kli-
maschutzpolitik vertreten haben! Er verstand wenigstens
etwas von der Sache und ihm ging es ums Ganze. Ich habe
ihn gestern getroffen und soll Sie alle schön grüßen, was
ich hiermit mache.
Wenn Sie sich diesen Antrag ansehen, fragen Sie sich,
wo die F.D.P. hingekommen ist. So steht dort zum Bei-
spiel, dass „die Rolle Deutschlands als Vorreiter ... und ge-
staltende Kraft der internationalen Umweltpolitik ver-
spielt“ wurde.
Das ist nicht nur falsch, sondern es gehört sich auch nicht,
solche Sachen, bezogen auf einen internationalen Be-
reich, zu sagen.
Da hätten wir während Ihrer Regierungszeit ganz anders
vom Leder ziehen können. Sie handeln nicht verantwort-
lich. Auch wenn Sie in der Opposition sind, müssen Sie
das Ganze sehen.
Die Klimapolitik der F.D.P. hat sich auf ein Instrument
reduziert, nämlich auf den Zertifikathandel. Das ist das
Einzige, was Sie unter Klimaschutzpolitik verstehen.
Wenn man sich Ihren Antrag ansieht, merkt man, dass Sie
beleidigt sind, dass Sie nicht mehr die Connections ins
Ministerium und den direkten Zugriff haben. Sie haben
sich mit der Oppositionsrolle noch nicht abgefunden.
Glücklicherweise haben wir in Den Haag – wie es im-
mer war – zusammengehalten und ein gemeinsames Bild
gegeben. Wie gesagt: Die F.D.P. war nicht dabei. Wir
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Monika Ganseforth
13606
müssen dies meiner Meinung nach auch in Zukunft so ma-
chen, wenn wir Erfolg haben wollen.
Parlamentarier aus anderen Delegationen wurden von
ihren Regierungen nicht so hervorragend beteiligt. Ich
möchte der Regierung dafür noch einmal ausdrücklich
– Herr Paziorek hat es auch schon gemacht – danken. In
Deutschland ist es Tradition, dass das Parlament beteiligt
wird. Aber so dicht dabei und als Beratergremium derart
ernst genommen worden sind wir noch nie. Ich war zum
Beispiel unter Herrn Töpfer oder Frau Merkel in Rio und
in Berlin dabei. Diesmal war es wirklich hervorragend.
Dafür muss ich mich herzlich bedanken. Weiter so!
Die Parlamentarier aus anderen Delegationen haben
angeregt, dass wir auf Parlamentsebene im Bereich Kli-
maschutz intensiver zusammenarbeiten. Hier sind die in-
ternationalen Parlamentariergruppen gefragt. Aber
auch wir sollten auf Delegationsreisen das Thema Klima-
schutz, welche Herausforderungen damit verbunden und
welche Erfolge zu erzielen sind, vorantreiben. Denn ohne
eine breite Bewegung der Bevölkerung in den Ländern
werden wir keinen Erfolg haben.
Ich habe gehört, es geht weiter. Ich hoffe und gehe da-
von aus, dass Den Haag ein heilsamer Schock war und
dass wir das große Problem, vor dem wir stehen, gemein-
sam meistern.
Schönen Dank.
Ich erteile der Kolle-
gin Birgit Homburger, F.D.P., das Wort.
Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Nach der Rede von Frau Ganseforth möchte ich
sofort zu Beginn ganz klar feststellen: Gemessen an Ihrer
Reaktion habe ich offensichtlich die Punkte getroffen, die
nicht funktioniert haben; sonst hätten Sie sich nicht so
aufgeregt.
Die Unterbrechung der Verhandlungen in Den Haag ist
ein schwerer Rückschlag für den globalen Klimaschutz.
Die Chance, die Ratifizierung des Kioto-Protokolls
endgültig vorzubereiten und damit auch Fortschritte für
den internationalen Klimaschutz zu erzielen, wurde ver-
tan.
Jetzt gibt es seit zwei Tagen einen Silberstreif am Ho-
rizont, wahrscheinlich auch ausgelöst dadurch, dass eine
Reihe von Ländern gemerkt hat, welche Blamage das
Scheitern dieser Konferenz vor allem für die Industrie-
länder bedeutet. Das jüngste Angebot des US-Präsidenten
ist auf große internationale Resonanz gestoßen und gut
aufgenommen worden. Jetzt muss die Gunst der Stunde
genutzt und entsprechend etwas getan werden.
Ihnen, Frau Kollegin Ganseforth, will ich ganz klar sa-
gen, weil Sie uns hier angegriffen haben: Die F.D.P. hat
den Klimaschutzprozess von Anfang an positiv begleitet
und unterstützt.
Wir stehen zu den Reduktionszielen, national wie inter-
national. Wir haben immer wieder Vorschläge gemacht,
wie dieses Ziel erreicht werden kann.
Gerade in den letzten Monaten haben wir immer wieder
Vorschläge gemacht, mit welchem Instrument das Ziel ef-
fizient erreicht werden kann.
Auch die F.D.P. will, dass es zu einer tatsächlichen Emis-
sionsminderung kommt. Wir sind da gar nicht weit von-
einander weg – im Gegenteil, die Einigkeit ist nach wie
vor da. Auch wir wissen, dass die Frage der Senken
schwierig ist. Auch wir wollen, dass sich die Industrie-
länder national auf Emissionsminderungen verpflichten;
alles andere wäre ja absurd. Sie kriegen die Entwick-
lungsländer ja überhaupt nicht ins Boot – das wissen auch
wir–, wenn Sie das nicht machen.
Deswegen sind die Positionen an dieser Stelle überhaupt
nicht unterschiedlich.
Jetzt will ich Ihnen noch etwas sagen: Angesichts des
Scheiterns einer ganz wichtigen Klimakonferenz muss es
erlaubt sein, auch zu analysieren, woran es gelegen hat.
Ich habe hier nicht die Zeit, Ihnen all die Zitate vorzuhal-
ten, die Sie seinerzeit gebracht haben. Aber Sie können
sich hier nicht hinstellen wie die heilige Madonna und er-
klären: „Wir haben das alles immer mitgetragen, bei uns
wäre so etwas nie passiert, es hat nie Kritik gegeben.“ Das
ist einfach unwahr, Frau Ganseforth.
Ich habe mir die Protokolle aller Debatten des Deutschen
Bundestages nach jeder Klimakonferenz heraussuchen
lassen, und ich habe sie alle noch einmal durchgelesen.
Ich könnte zig Zitate bringen, mit denen ich Ihnen nach-
weisen kann, was Sie uns alles vorgeworfen haben und
was alles falsch gelaufen ist. Betreiben Sie hier also keine
Geschichtsfälschung!
Es gab eine gemeinsame Ausgangsposition der EU,
aber gescheitert ist man an der Aufgabe, die EU-Länder
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Monika Ganseforth
13607
während der Konferenz zusammenzuhalten. Sie, Herr
Trittin, können sich nicht darauf zurückziehen, dass Sie
sagen, das sei nicht Ihre Aufgabe gewesen. Als Minister
eines Landes, das in der Vergangenheit eine führende Po-
sition im Klimaschutz hatte, wäre es auch Ihre Aufgabe
gewesen, zwischen den Beteiligten zu vermitteln und im
Laufe der Verhandlungen eine gemeinsame Position der
EU-Länder zu gewährleisten. Daran sind Sie gescheitert.
Das ist besonders ärgerlich, weil die USA so ganz einfach
sagen konnten: Die Europäer sind uneins.
Fest steht: Sie waren unflexibel. Es hieß – Kollege
Paziorek hat es gerade schon gesagt –: „Kein Konsens um
jeden Preis“. Wer immer nur sagt, was er nicht will und
was nicht geht, der gibt keine positiven Impulse.
Ich habe den Eindruck, Herr Minister, Sie hatten mehr
Angst davor, sich zu bewegen und zu einem Kompromiss
zu kommen – Frau Ganseforth hat es gerade noch einmal
verdeutlicht: Sie hatten mehr Angst vor den eigenen Leu-
ten –
als vor diesem Scheitern der Klimakonferenz und den
Konsequenzen für den Klimaschutz weltweit.
Sie müssen einfach wissen, dass wir allein gar nichts
erreichen. Wenn der internationale Klimaschutzprozess
scheitert, dann würde es auch nichts nützen, wenn Sie die
gesamte industrielle Produktion Deutschlands einstellen
würden. Alleine schaffen wir an der Stelle überhaupt
nichts. Deswegen braucht es eine Vereinbarung und geht
es um die Kunst des Kompromisses, die Sie nicht beherr-
schen.
Sie haben es heute „politischen Deal“ genannt. Dann ma-
chen Sie es endlich!
Der deutsche Kompromissvorschlag, den Sie heute
hier zum ersten Mal öffentlich vorgestellt haben, kam also
wirklich zu spät. Im Vorfeld haben Sie nichts ausgelotet.
Sie haben kein Verhandlungskonzept gehabt; ich habe Sie
mehrfach danach gefragt. Dieses Desinteresse, das Sie im
Vorfeld gezeigt haben, hat sich jetzt gerächt.
Ich will sagen, wie das auf mich wirkt, Herr Minister:
Sie haben sich aus meiner Sicht verhalten wie ein grüner
Frosch bei schlechtem Wetter. Sie gingen die Leiter he-
runter, um jetzt, da klimapolitisches Tauwetter herrscht,
mit dicken Backen wieder aufzutauchen.
Die F.D.P. hat Ihnen in Sorge um das Scheitern des in-
ternationalen Klimaschutzprozesses mehrfach die Zu-
sammenarbeit angeboten
und Sie aufgefordert, sich entsprechend zu engagieren. Es
geht um die Vermittlung zwischen Deutschland und
Frankreich und darum, jetzt Gespräche mit der so ge-
nannten Umbrella-Gruppe, aber auch mit der G 77 und
China zu führen, und zwar gleichermaßen; denn beide
Ländergruppen sind besonders wichtig bei der Frage, ob
es einen Kompromiss geben wird oder nicht.
Sie haben heute erstmals deutlich gemacht, dass Sie
sich in diesem Sinne einsetzen wollen. Das freut mich.
Vielleicht es ist auch nur die Tatsache, dass Sie persönlich
eine wenig erquickliche Aussicht haben, die Sie zum Han-
deln treibt. Denn eines ist klar: Diese Klimakonferenz
wird in der Bundesrepublik Deutschland fortgesetzt; es
wird in der ehemaligen Bundeshauptstadt Bonn verhan-
delt werden. Wenn der Klimaprozess dann scheitert, wäre
nicht nur das Image Deutschlands beschädigt, sondern
dann wären auch Sie als Minister gescheitert.
Ich möchte abschließend noch zu einem zentralen
Punkt kommen, dass nämlich die F.D.P. nur noch über
Emissionszertifikate reden würde, wie mir gerade wie-
der von Frau Ganseforth vorgeworfen wurde.
Zertifikate sind kein Selbstzweck, aber sie sind das In-
strument der Wahl, um ein gewolltes umweltpolitisches
Ziel punktgenau, mit wenig Bürokratie und kostenmini-
mal zu erreichen, Frau Ganseforth. Deswegen redet die
F.D.P. darüber und deswegen unterscheiden wir uns auch
von Ihnen: Wir wollen mehr Marktwirtschaft im Umwelt-
schutz,
größere Effektivität durch neue Instrumente, hin zu mehr
umweltpolitischer Zielorientierung und damit wieder hin
zu mehr Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern,
weg vom Abzockerimage, das Sie der Umweltpolitik ge-
geben haben.
Wenn man mir hier entgegnet, wir seien noch früh ge-
nug dran, dann muss ich sagen: In Dänemark und in Groß-
britannien wird der Emissionshandel demnächst national
eingeführt. In Deutschland weiß man im Umweltministe-
rium gerade einmal, wie man das Wort „Emissionshan-
del“ schreibt.
Hören Sie, Minister Trittin, mit Ihren Geheimzirkeln
hinter verschlossenen Türen auf, führen Sie hier im Par-
lament einen konstruktiven Dialog! Wir wollen gerne mit-
arbeiten. Wir wünschen Ihnen viel Glück, dass zukünftig
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Birgit Homburger
13608
bei dem Prozess ein Erfolg erzielt wird. Wir können es uns
für den Klimaschutz und für die künftigen Generationen
nur wünschen.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Reinhard Loske, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau
Kollegin Homburger, Sie haben von der hohen Kunst des
Kompromisses gesprochen. Wenn man sich aber den Be-
richt der Münchner Rückversicherungsgesellschaft,
der vor wenigen Tagen erschienen ist, zu Gemüte führt,
der die Prognosen über den Klimawandel beschreibt,
dann weiß man, dass es nicht primär um die Kunst des
Kompromisses geht – das ist in der Tat eine hohe Kunst –,
sondern vor allem um die Kunst des Klimaschutzes.
Noch eines vorweg: Sie sprachen vom Bundesumwelt-
minister als einem Frosch. Das finde ich nicht gerecht. Ich
finde es aber sehr wohl angemessen, von der F.D.P. als ei-
nem Chamäleon zu sprechen.
Wenn ich mir beispielsweise den Antrag der F.D.P. an-
schaue – das muss ich doch einmal sagen –, also diesen
Antrag, der das Hohelied des Klimaschutzes singt, und
ich als Unterzeichner den Kollegen Brüderle vorfinde,
den Ritter gegen die ökologische Steuerreform, oder auch
den Kollegen Solms, den Tankwart, der Benzin für
50 Pfennig verkaufen will, dann frage ich mich wirklich,
ob das glaubwürdig ist. Ich glaube, das ist nicht glaub-
würdig.
Zur Konferenz selber. Zunächst einmal möchte ich
mich dem Dank anschließen, den hier alle Kolleginnen
und Kollegen ausgesprochen haben: Die Zusammenarbeit
mit der Regierung war vonseiten des Parlaments sehr gut.
Die Türen standen immer offen; es gab vollständige
Transparenz. Dafür auch von meiner Seite herzlichen
Dank!
Ich möchte dieses Lob nicht nur an die Art der Zusam-
menarbeit zwischen Parlament und Regierung knüpfen,
sondern ich möchte dem Minister auch ausdrücklich für
seine Verhandlungsführung danken. Denn sie hat sich in
der Tat auf der einen Seite durch Standfestigkeit und auf
der anderen Seite durch Flexibilität ausgezeichnet. Frau
Homburger, es ist ja nicht nur so, dass Sie nicht da waren;
aber dass Sie obendrein auch die Zeitungen nicht gelesen
haben, finde ich ziemlich schlimm.
Sonst hätten Sie nämlich festgestellt, dass die gesamte
bürgerliche Presse, vom „Handelsblatt“ bis zur „Frank-
furter Allgemeinen Zeitung“, die Verhandlungsführung
von Bundesumweltminister Trittin – übrigens gemeinsam
mit dem BDI – ausdrücklich gelobt hat.
Ich finde, Sie sollten sich dem anschließen.
Zu einem weiteren Punkt, den ich ansprechen möchte:
Neben der ganzen Konferenz, zu der ich gleich inhaltlich
komme, fand ich das ganze Umfeld wirklich beein-
druckend. Es gab viele „side events“, viele Veranstaltun-
gen nebenbei, bei denen die Industrie, bei denen die Um-
weltverbände – teilweise gemeinsam mit der Regierung –
eine Art Leistungsbilanz aufgemacht haben. Man konnte
dort sehen, dass Deutschland in Sachen Klimaschutz eine
führende Nation ist, und das ist gut so. Das ist übrigens
auch parteiübergreifend anerkannt worden. Sie sollten
jetzt hier keine Schaukämpfe führen, die es dort vor Ort
gar nicht gegeben hat. Das geht wirklich an der Sache
vorbei, Frau Homburger.
Zum letzten Punkt meiner Vorbemerkungen: Es wurde,
wenn ich mich recht erinnere, vom Kollegen Paziorek,
moniert, dass sich die hohe politische Ebene nicht genü-
gend um dieses Thema kümmere. Ich habe immer gesagt,
es war gut, dass sich Helmut Kohl 1995 in Berlin als Bun-
deskanzler so ins Zeug gelegt hat. Das war prima; das
Berliner Mandat hätte es nicht gegeben, wenn sich Ex-
Bundeskanzler Kohl nicht so hineingehängt hätte. Das ist
vollkommen richtig – jederzeit Zustimmung!
Richtig ist aber auch, dass Bundeskanzler Schröder auf
der letzten Vertragsstaatenkonferenz in Bonn eine weg-
weisende Rede zum Klimaschutz gehalten hat. Er hat dort
angekündigt, dass wir unsere Hausaufgaben in Sachen
Klimaschutz erledigen – und wir haben Wort gehalten.
Wir haben einen Bericht vorgelegt; Wort und Tat klaffen
bei uns eben nicht mehr auseinander. Das ist ein wichtiger
Unterschied.
Jetzt zu den Dingen, die in Den Haag erreicht worden
sind. Es ist ja einiges erreicht worden – auch auf Initiative
von Bundesumweltminister Trittin –, das in unserem
Sinne ist. Zum ersten ist die Atomenergie aus dem Me-
chanismus betreffend die Entwicklungsländer, aus dem
Clean Development Mechanism, herausgenommen
worden. Das ist gut so.
Zum zweiten sind die Finanzmittel für die Entwick-
lungsländer aufgestockt worden, wenn auch maßvoll, was
ich vernünftig finde.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Birgit Homburger
13609
Wichtig ist für uns aber, dass die G 77, also die Ent-
wicklungsländer, ein wichtiger Verbündeter war und ist.
Wir haben in fast allen Fragen gemeinsam mit den Ent-
wicklungsländern agiert. Auch das ist ein wichtiges Er-
gebnis unserer Verhandlungsführung. Auch dafür geht ein
ausdrückliches Lob an die Europäische Union insgesamt.
Was nun die Substanz betrifft, möchte ich Folgendes
sagen. Ich möchte Sie ausdrücklich ermutigen, Herr
Minister, bei Ihrer Linie zu bleiben, wenn es in den nächs-
ten Tagen und Wochen darum geht, doch noch zu Potte zu
kommen. Ich glaube, die Mischung zwischen Standfes-
tigkeit und Flexibilität, die Sie angedeutet haben, ist ge-
nau die richtige. Ich will nur noch einmal für meine Frak-
tion sagen, welche Punkte uns besonders wichtig sind.
Wir wollen, dass es zu tatsächlichen Emissionsminde-
rungen kommt.
Man muss ganz klar sagen: Die Vorschläge, die Herr
Pronk dort gemacht hat, hätten faktisch bedeutet, dass
viele Länder ihre Emissionen nicht reduziert hätten, son-
dern dass sie sie hätten ausweiten können. Das ist für uns
– ich glaube, da spreche ich für das gesamte Haus – nicht
akzeptabel. Da muss man wirklich aufpassen.
Wir wollen nach wie vor – da kann man auch über das
„wording“ reden –, dass der Löwenanteil der Reduktions-
verpflichtungen zu Hause erfüllt wird, dass die Aktivitä-
ten außerhalb der eigenen Landesgrenze zusätzliche Ak-
tivitäten sein sollen – das ist ganz wichtig – und kein
Ersatz für Aktivitäten im Inland.
Das ist übrigens auch aus einer Perspektive der Inno-
vationsdynamik heraus sehr wichtig; Wenn wir uns hier
keine anspruchvollen Ziele mehr stellen, dann nehmen wir
auch Druck aus dem Innovationskessel, und das ist nicht
vernünftig. Wir wollen ja die Technologien von morgen
und übermorgen produzieren und nicht nur unseren Status
quo auf den Rest der Welt übertragen. Ich glaube, wir soll-
ten weiterhin darauf drängen, dass mindestens der Lö-
wenanteil der Reduktionen zu Hause erfolgt.
Wir wollen auch, dass die Senken aus dem Clean De-
velopment Mechanism ausgeschlossen werden. Denn es
kann ja wohl nicht wahr sein, dass die Entwicklungslän-
der auf der einen Seite keine Reduktionsverpflichtung ha-
ben, das heißt also, wenn sie ihre Tropenwälder abholzen,
dann wird das nicht bilanziert, auf der Gegenseite, wenn
die dort abgeholzten Flächen wieder aufgeforstet werden,
dann aber sehr wohl die so vermiedenen Emissionen von
unserer nationalen Minderungsschuld abgezogen werden
können. Das ist klimapolitisch vollkommen unverant-
wortlich und wäre im Übrigen ein Schlupfloch, das die In-
tegrität des Protokolls vollkommen aushöhlen würde. Das
ist nicht tragfähig.
Wir wissen auch, dass bei den so genannten Artikel-
3.4-Senken, also Äcker, Wiesen und gemanagte Wälder,
die Amerikaner, die Japaner und die Kanadier Konzessio-
nen erwarten. Über so etwas spricht man nicht öffentlich.
Gewisse Konzessionen sind, so würde ich sagen, vorstell-
bar, aber sie dürfen erstens die Integrität des Protokolls
nicht aushöhlen und sie dürfen zweitens vor allem nicht
systematisch ein Schlupfloch öffnen, das dann in den
nächsten Verpflichtungsperioden ab 2012 zu so vielen
Unwägbarkeiten im System führt, Frau Homburger, dass
dann auch kein Emissionshandel mehr möglich ist. Wenn
Sie nämlich ein System haben, in das von außen ständig
sozusagen heiße Luft hineingeblasen werden kann, dann
gibt es keine definierte Menge mehr, es können sich keine
Preise bilden; also kann es auch keinen Emissionshandel
geben. Deswegen müssen wir alle gemeinsam ein Inte-
resse daran haben, dass dieses System klar definiert wird.
Dann kann man sicher auch über Emissionshandel reden.
Das ist überhaupt keine Frage.
Ich muss zum Schluss kommen, will aber für meine
Fraktion noch so viel sagen: Wir haben ganz klar das Ziel,
dass zehn Jahre nach Rio im Jahre 2002 das Rio-Protokoll
in Kraft treten kann. Deswegen finde ich es sehr wichtig,
in diesem Prozess ein Momentum zu erhalten, um das
Protokoll ratifizierungsfähig zu machen. Dann wäre so-
zusagen ein großes Kind der Rio-Konferenz, nämlich die
Klimarahmenkonvention und das entsprechende Proto-
koll dazu, in die Tat umgesetzt. Das würde den Prozess am
Leben erhalten und würde vor allem auch international
ein klares Signal geben. Die Initiative von Präsident
Clinton, die ich nur begrüßen kann, deutet daraufhin, dass
unsere Freunde aus den Vereinigten Staaten erkannt ha-
ben, dass sie auf der Konferenz in Den Haag schlicht und
ergreifend überzogen haben. Niemand kann ein Interesse
daran haben, dass der gesamte Prozess kollabiert.
Summa summarum, Herr Minister: Flexibilität ja, aber
– wie Sie gesagt haben – kein Abschluss um jeden Preis.
Wenn man sich diese Dinge vor Augen führt, darf man Ihre
Ausführungen ruhig wiederholen; es geht also nicht um
Voluntarismus. Ich möchte die Regierung ausdrücklich er-
mutigen, darauf hinzuarbeiten, dass wir zu einem Ergebnis
kommen. Wir wollen eine Doppelstrategie: Wir wollen auf
der einen Seite das Kioto-Protokoll am Leben erhalten
– sind dafür auch zu gewissen Abstrichen bereit – und auf
der anderen Seite wollen wir uns auf die Schnellspur be-
geben, weil wir Klimaschutz nicht nur als Last, sondern
auch als Chance für Innovation sehen und auf diese Weise
unsere Verantwortung wahrnehmen wollen.
Danke schön.
Das Wort hat nun die
Kollegin Eva Bulling-Schröter, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wem gehört die Atmosphäre?
Kann man verkaufen, was man nicht besitzt? Unsere Ur-
enkel werden sicherlich kopfschüttelnd zur Kenntnis neh-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Dr. Reinhard Loske
13610
men, mit wie viel Ignoranz gegenüber ihren Lebensbedin-
gungen die Staatsbürokratien Anfang dieses Jahrtausends
den drohenden Klimakollaps verhandelten. Den Haag ist
gescheitert, gescheitert wie so viele zaghafte Versuche,
sich mit den reichen Industriestaaten anzulegen.
Die Automobil-, Luftfahrt- und Erdölkonzerne sowie
die Energieriesen mobilisieren mehr Lobbyisten als Um-
weltverbände oder pazifische Inselstaaten. Dies gilt nicht
nur für die USA, Japan, Kanada oder Australien. Dies
ist auch in Europa Realität. Ohne Zweifel gehörte die
Verhandlungsposition der Europäischen Union zu den
fortschrittlicheren. Deutschland ist mit seinem 25-Pro-
zent-Kohlendioxid-Einsparziel vergleichsweise Vorreiter.
Doch selbst dieser Reduktionspfad – wenn er denn tat-
sächlich beschritten wird – liegt deutlich unter den Erfor-
dernissen nachhaltigerKlimapolitik.Wenn in BMU-Pa-
pieren oder UBA-Berichten auf den hinteren Seiten
bisweilen erläutert wird, warum die Industriestaaten bis
Mitte dieses Jahrhunderts 80 bis 90 Prozent CO2 einspa-ren müssen, reibt man sich verwundert die Augen.
Wer ein wenig rechnen kann, wird schnell feststellen,
dass auch Deutschland dieses Ziel um 20 Prozent verfeh-
len wird, und zwar um mindestens 20 Prozent. Denn um
das Ziel zu erreichen, wäre Voraussetzung, dass die Ein-
sparquoten von knapp 2 Prozent jährlich noch 50 Jahre
eingehalten werden. Dass dies bei der gegenwärtigen Ver-
kehrs-, Energie- und Infrastrukturpolitik der Bundesrepu-
blik eine reine Illusion ist, liegt auf der Hand: Der Ostbo-
nus ist aufgebraucht, schon jetzt erreicht deshalb die
Reduktion kaum mehr als 1 Prozent pro Jahr. Der Verkehr
auf der Straße wächst schier unaufhaltsam, der Luftraum
wird gleichermaßen zum Stauraum, die Bahn dagegen zur
Schrumpfbahn. Gleichzeitig werden klimarelevante Pro-
duktionen ins Ausland verlagert, die Liberalisierung des
Strommarktes lässt den Umfang der Stromimporte anstei-
gen, Emissionen und andere Umweltprobleme werden
nicht nur statistisch ins Ausland verschoben.
So sieht es für den selbst ernannten Vorreiter im Kli-
maschutz aus. Die CO2-Minderungsziele von Kioto sindvöllig fern jeder Sorge um diesen Planeten. Eine Ein-
sparung um global 5,2 Prozent – geht es in diesem Tempo
weiter, wird gerade einmal ein Viertel dessen eingespart,
was bis zum Jahre 2050 nötig wäre.
Doch nicht einmal die Vereinbarungen von Kioto sind
durchsetzbar. Insbesondere die Vorturner in Sachen Men-
schenrechte, die Vereinigten Staaten, und das schillernde
Vorbild für Innovationen und Flexibilität, Japan, blockie-
ren. Sie versuchen sogar mit der Brechstange, die
Schlupflöcher, die auch hierzulande von Teilen der Indus-
trie wohlwollend begrüßt werden, weiter aufzureißen.
Anscheinend sind Menschenrechte nur dann universal,
wenn sie größtmöglichen Profit für eine privilegierte
Minderheit auf dieser Erde garantieren,
COP 1 bis 35 sozusagen als Fortführung des Krieges mit
anderen Mitteln. Denn wer unter den globalen Umwelt-
katastrophen am meisten zu leiden hätte, ist schon heute
Gewissheit: die ärmsten Regionen der Erde; die Men-
schen, die nicht ausweichen können; die Staaten des Sü-
dens, die sich bis heute noch nicht aus der neokolonialen
Schuldenfalle herausstrampeln konnten. Das können Sie
nicht bestreiten.
Die Schuld am Scheitern von Den Haag wird nun hin-
und hergeschoben. Die Opposition rechts von mir prügelt
auf Herrn Trittin ein. Das ist bequem und medial wirksam.
Doch wer Globalisierung, Flexibilisierung und Wachstum
als Selbstzweck begreift und aus Eigennutz vorantreibt,
benutzt engagierte Umweltminister lediglich als Klemp-
ner im Blaumann gegen Brüche an Dämmen, die man
selbst unterhöhlt hat. Während seit Jahren Legionen von
hoch bezahlten Beamten in Sachen Klimaschutz gehetzt
durch die Welt jetten, trifft sich eine Hand voll Eliten
gemütlich in Davos und regelt in drei Tagen das für sie
Nötige. Die Wirtschaft ist tatsächlich effizienter – kein
Wunder, denn sie sitzt bei uns am Hebel.
Doch ich bin mir sicher: Die Proteste vor den Türen der
Kongresscenter in Seattle, Prag und Den Haag waren erst
der Beginn einer neuen Bewegung, einer Bewegung, die
sich über die etablierten Institutionen und müden Helden
nicht mehr Sorgen macht als nötig, einer Bewegung, die
nachhaltige Entwicklung als das begreift, was sie sein
muss, wenn sie funktionieren soll – sozial gerecht, dem
umfassenden Schutz der natürlichen Umwelt und den
Menschenrechten verpflichtet, einer Bewegung, die diese
Werte nicht nur für Königswinter oder München, sondern
auch für Kalkutta oder Mogadischu einfordert.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Michael Müller, SPD-Fraktion.
Meine Damen
und Herren! Es ist richtig, dass das Thema Klimaschutz
wie kein anderes ein globales Thema ist und uns in aller
Deutlichkeit die Einheit, aber auch die Zerbrechlichkeit
der Erde zeigt. Insofern ist es traurig, dass der Geist von
Rio, der vor zehn Jahren geherrscht hat, heute nicht mehr
durch die Welt weht. Das muss man einfach feststellen.
Dahinter steckt, dass die Ökologie überall in der Welt
nicht mehr als ein so zentrales Thema angesehen wird wie
noch am Ende der zweigeteilten Welt und am Beginn des
doch so hoffnungsvollen Erdgipfels von Rio. Es hat sich
viel geändert.
Frau Homburger, auch ich möchte ein Beispiel nennen,
das deutlich machen wird – wenn Sie ehrlich sind, werden
Sie das auch zugeben –, dass Sie sehr schief liegen.
– Doch, Sie gebärden sich angesichts der großen Heraus-
forderungen, vor denen die Menschheit steht, wie eine
miese, rechthaberische Provinzpartei.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Eva Bulling-Schröter
13611
Ich nenne das Beispiel. Ich möchte nicht verhehlen,
dass ich im Vorfeld von Rio sehr skeptisch war und man-
che Zugeständnisse von Herrn Töpfer kritisiert habe.
Heute muss ich zugeben: Rio war eine große Leistung, ob-
wohl vieles unkonkret geblieben ist. Trotzdem war Rio
ein großer Sprung nach vorne.
Ich gebe auch zu: Klaus Töpfer hat einen großen Anteil
am Erfolg von Rio gehabt, keine Frage.
Aber es muss Ihnen doch ein bisschen zu denken geben,
dass gerade Klaus Töpfer – das stellt man fest, wenn man
seine heutigen Interviews liest – der Politik der heutigen
Bundesregierung sehr viel näher steht und sich mit ihren
Ideen eher identifiziert – er vertritt und unterstützt bei-
spielsweise die ökologische Steuerreform dieser Bundes-
regierung – als mit der Politik der Opposition. Das ist eine
Tatsache. Wenn Sie seine Interviews lesen, dann können
Sie das gar nicht anders interpretieren und werden auch
feststellen, dass er beispielsweise – ich wiederhole es –
der ökologischen Steuerreform, aber auch vielen anderen
Punkten unserer Politik zustimmt.
Entscheidend ist letztlich einzig und allein, was man
tut. Was Sie überall ankündigen, ist uns allen, ehrlich ge-
sagt, egal. In dieser Menschheitsfrage Klimaschutz
kommt es darauf an, was man tut. Dabei ist einfach fest-
zustellen: Die einen – wir – machen die Ökosteuer, die an-
deren – Sie – bekämpfen sie.
Sie suchen nur nach Scheinargumenten, um sich aus der
Affäre zu ziehen. Das ist die Wahrheit.
– Nein, es ist so.
Wenn ich mir beispielsweise Ihre früheren Modelle an-
schaue – ich erinnere an die von Herrn Rexrodt und an die
von vielen anderen der heutigen Opposition –, dann stelle
ich fest: Ihre damaligen Vorstellungen liegen näher bei
unserem heutigen Modell als bei dem, was Sie jetzt for-
dern. Es ist leider so.
– Ich kann das an vielen Beispielen belegen. Aber viel-
leicht gehört es zur Logik der Oppositionsarbeit – mögli-
cherweise war das auch bei uns manchmal so –, dass man
die eigenen Positionen von früher schnell vergisst.
Zwei Punkte bestimmen die Diskussion zum Klima-
schutz heute.
Erstens. Im Vorfeld von Den Haag – das ist noch nicht
erwähnt worden – hat uns das IPCC noch einmal in aller
Deutlichkeit gesagt, wie alarmierend die Klimaänderun-
gen sind. Sie wissen, dass es eine Zeit lang eine Diskus-
sion mit dem Tenor gegeben hat, das alles sei nicht so
schlimm. Die Berichte des IPCC sind eher gravierender
ausgefallen, als wir im Vorfeld geglaubt haben.
Die zentrale These des IPCC lautet, dass wir mit einer
hohen Wahrscheinlichkeit von einem dramatischen, durch
Menschen verursachten Klimawandel in diesem Jahrhun-
dert ausgehen müssen. Das kann nur die eine Konsequenz
haben: jetzt Motoren für die Ökologisierung von Wirt-
schaft und Gesellschaft zu finden. An der Lösung dieser
Aufgabe werden wir gemessen. Damit eng verbunden ist
die Frage, ob die Bundesrepublik ein Motor in dieser Ent-
wicklung ist.
Herr Paziorek, Sie haben zu Recht gesagt: Wir haben
nur einen Anteil von 4 Prozent am globalen CO2-Ausstoß.Abgesehen davon, dass das in Bezug auf unsere Bevölke-
rungszahl sehr viel ist, glaube ich, dass eine quantitative
Betrachtung zwar wichtig, aber nicht entscheidend ist.
Entscheidend ist vielmehr, dass einzelne wirtschaftlich
starke Industriestaaten zeigen, dass Klimaschutz prak-
tisch möglich ist, indem sie Schritte vorwärts machen,
Klimaschutz umsetzen und nicht nur darüber reden. Das
und nichts anderes ist es, was andere Länder unter Legiti-
mationszwang stellt.
Mittlerweile haben sich die Daten sehr stark verdich-
tet. Die Simulationsberechnungen der Computer werden
immer eindeutiger. Dabei geht man von einer um 2,5 Grad
durch Menschen verursachte Erwärmung plus eine mög-
liche weitere Toleranz von bis zu 3 Grad – die Erderwär-
mung kann also auch deutlich höher ausfallen – in diesem
Jahrhundert aus. Wir wissen über bestimmte Mechanis-
men – beispielsweise über die Reaktionen des Klimasys-
tems auf die verstärkte Verdunstung – viel zu wenig.
In vielen Bereichen gibt es bereits sehr gravierende
Veränderungen an zentralen Systemen. Das fängt beim
globalen Wasserhaushalt an, führt über den Anstieg des
Kohlenstoffkreislaufs und geht bis hin zur Veränderung
der Eiszonen. Dazu kommen längerfristige Trends der
Wetterbeobachtung. Dies alles signalisiert uns: Die Am-
pel steht bereits auf Gelb; wir müssen endlich handeln, da-
mit sie nicht auf Rot springt.
Das muss heute geschehen, weil es sonst zu spät sein wird.
Der zweite wichtige Punkt ist das Scheitern der Kon-
ferenz von Den Haag. Wir kommen an der Erkenntnis
nicht vorbei, dass einerseits ein Großteil der Welt mit der
Einstellung „Gewinner und Verlierer“ an die Klimafrage
herangeht und dass andererseits in vielen Bereichen der
politische Gestaltungswille bzw. der Gestaltungsmut, sich
mit starken wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kräf-
ten anzulegen, fehlt, um für ein paar unbequeme Wahr-
heiten zu kämpfen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Michael Müller
13612
Wer in der jetzigen Situation glaubt, dass nach einer
zehnjährigen Debatte – die Diskussion begann in Genf
1990 mit der Festlegung der Reduktionsziele –, während
der wir eine ständige Verringerung der Zielsetzungen er-
lebt haben, nun spontan ein großer Geist des Handelns
durch die Welt fährt und bewirkt, dass alle das Notwen-
dige tun, der erliegt einer Illusion.
Der Schlüssel zum Erfolg ist die Beantwortung fol-
gender Fragen:
Erstens. Was tut die Bundesrepublik?
Zweitens. Wie können wir mehr Gemeinsamkeit in der
Europäischen Union herstellen? Wie können wir Europa
zum Vorreiter ökologischer Politik, zum Vorreiter für
mehr Klimaschutz machen?
Drittens. Wie können wir diese beiden Ziele mit mehr
Verantwortung für die Welt verbinden?
Das sind die drei Aspekte, die sich in der jetzigen Situa-
tion ergeben.
Ich warne davor, auf immer neue Verhandlungen zu
setzen und in der Zwischenzeit diese Schritte nicht zu ma-
chen. Wir wollen mehr Verhandlungen. Wir hoffen auch,
dass die Clinton-Initiative etwas bringt. Aber sie wird nur
dann etwas bringen, wenn wir unmissverständlich an un-
seren Minderungszielen in der Bundesrepublik, in Eu-
ropa festhalten und wir jetzt Strategien entwickeln, die
auch den Entwicklungsländern helfen. Ich bin sehr dafür,
dass zum Beispiel die europäischen Banken Kreditpro-
gramme für Klimaschutzmaßnahmen in den Entwick-
lungsstaaten auflegen. Wir müssen hier durch Zinspro-
gramme einen ersten Schritt machen; denn sonst passiert
nichts.
Das wäre aus meiner Sicht ein wichtiger Schritt nach
vorn.
Wir unterstützen die Haltung von Bundesumweltmi-
nister Trittin in Den Haag. Es ist wahr: Man muss auf sol-
chen Konferenzen Flexibilität zeigen. Aber es ist ebenso
wahr: Man muss auf solchen Konferenzen auch Stand-
haftigkeit zeigen. Beides gehört zusammen. Es nützt uns
überhaupt nichts, wenn am Ende ein Beschluss heraus-
kommt, von dem jeder weiß, dass er ein Rückschritt ist.
Das darf nicht sein! Insofern wünschen wir dem Minister
viel Glück, dass er vielleicht durch die Initiative von
Clinton bei der Fortsetzung der Konferenz in Bonn mehr
herausholen kann.
Aber die Schlüsselfrage wird sein: Sind wir in der
Bundesrepublik konsequent auf unseremWeg einer Neu-
ordnung der Mobilität, einer Neuordnung der Energie-
versorgung und auch einer Neuordnung der Landwirt-
schaft? Auch das ist ein Thema des Klimaschutzes. Es
sind nicht abstrakte internationale Fragen, es sind vor al-
lem Fragen des Wirtschafts- und Lebensstils in den In-
dustrieländern, um die es geht, und insofern sind es un-
sere Fragen, die wir zu beantworten haben, meine Damen
und Herren.
Wir sind bereit, einen solchen Weg weiter zu vertiefen. Es
passt nämlich nicht zusammen – um auch das zu sagen –,
dass Sie auf der einen Seite mehr Klimaschutz fordern,
auf der anderen Seite aber Kraft-Wärme-Kopplung und
das Erneuerbare-Energien-Gesetz bekämpfen. Das passt
nicht zusammen.
Wer Kritik an unserer Politik übt, der kann nicht auf der
einen Seite sagen: Ihr macht zu wenig, und auf der ande-
ren Seite das, was wir tun, ablehnen. Das passt nicht zu-
sammen.
Wir haben – Herr Paziorek, Herr Lippold und andere –
im Zusammenhang mit der Enquete-Kommission Kli-
maschutz, wie ich finde, ein gutes Beispiel für die Poli-
tikfähigkeit des Parlaments geliefert, wir haben damals
sehr ehrgeizige Ziele entwickelt. Heute haben wir eine
Reduzierung der Klimagase von etwa 18 Prozent und der
CO2-Gase von etwa 15 Prozent erreicht. Das heißt, es feh-len noch etwa 100 Millionen Tonnen bei CO2 um unserZiel zu erreichen.
Das werdenwir nicht auf internationalen Konferenzen
erreichen, das werden wir nur national erreichen, indem
wir unsere Politik auch gegen starken Widerstand fortset-
zen. Es war ein positives Zeichen in Den Haag, dass große
Teile der Industrie gesagt haben: Wir gehen auf diesem
Wege mit. Natürlich sagen sie das auch aus eigenem Inte-
resse, weil mit dieser Entwicklung neue Märkte und in-
teressante Zukunftstechnologien verbunden sind. Aber
das ist ein sinnvolles Motiv und auch ein guter Antrieb.
Meine Damen und Herren, der entscheidende Punkt
beim Klimaschutz wird also heißen: Was machen wir hier
in der Bundesrepublik und in Europa? Nur wenn wir na-
tional glaubwürdig sind, können wir erreichen, dass auch
international und global der Klimaschutz vorankommt.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Christian Ruck, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Ich möchte ausnahmsweise
ein Wort des Kollegen Müller – mit dem ich sonst meist
nicht einer Meinung bin – aufgreifen, weil er hier, glaube
ich, Recht hat, wenn er von der Zerbrechlichkeit der Erde
spricht und von unserem Auftrag, den Geist von Rio wie-
derzubeleben.
Ich bin mir auch mit meinen Vorrednern einig: Das De-
bakel in Den Haag darf nicht das Ende der Klimaver-
handlungen sein. Wir müssen rasch einen neuen Anlauf
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Michael Müller
13613
nehmen. Wir dürfen uns nicht entmutigen lassen. Dafür
steht auch für kommende Generationen einfach zu viel
auf dem Spiel.
Ich teile mit vielen die Enttäuschung über die USA. Sie
waren zwar beileibe nicht die einzigen Bremser, aber der
energiepolitische Wandel der USA vom Saulus zum Pau-
lus war und ist entscheidend. Die USAsind die Nation mit
dem mit Abstand größten Energieverbrauch – absolut und
pro Kopf; es gibt Prognosen für ein gewaltiges Anwach-
sen des CO2-Ausstoßes. Sie sind aber auch die Nation miteinem gewaltigen Energieeinsparpotenzial. Nur mit den
USAwird es gelingen, ein funktionierendes globales Sys-
tem einschließlich möglicher Handelssanktionen im Kli-
mabereich aufzubauen.
Dieser natürlichen Verantwortung auch für die Zukunft
sind die USA zumindest in Den Haag nicht gerecht ge-
worden. Sie haben mit zum Teil skurrilen Forderungen
versucht, von ihren ursprünglichen Zusagen abzurücken.
Ohne Zweifel hätte die Glaubwürdigkeit in Bezug auf den
globalen Klimaschutz gelitten, wenn man sich in Den
Haag darauf eingelassen hätte.
Es wäre aber falsch, den Amerikanern allein die Schuld
zuzuschieben. Die Analysten der Konferenz weisen zu
Recht darauf hin, dass es noch tiefer liegende Gründe für
das einstweilige Scheitern gab. Es ist letztendlich nicht
gelungen, alle offenen Enden des Kioto-Knäuels zusam-
menzufügen und eine Paketlösung zu schaffen. Es gab
und gibt in diesem Zusammenhang zu viele Schwarz-
fahrer; zu viele haben seit Jahren um Sonderpositionen
und Sonderrechte gekämpft. Das hat den Kioto-Prozess
immer komplizierter gemacht.
Die EU hat zwar erfreulicherweise einvernehmlich mit
einer gemeinsamen Haltung geglänzt. Aber man muss sa-
gen, dass auch der europäische Einigungsprozess immer
wieder ungeheuer aufwendig ist und wahnsinnig viel
Energie verbraucht, die dann am Schluss auf internatio-
nalen Konferenzen fehlt.
Ich glaube, dass die EU insgesamt kein besonders attrak-
tives Energiekonzept der Zukunft hat, das Ökologie und
Ökonomie verbindet und dadurch international über-
zeugt.
Ich glaube auch, dass die Einbeziehung der Entwick-
lungs- und Schwellenländer noch immer nicht zufrieden
stellend gelöst ist, obwohl in nicht einmal einer Genera-
tion Länder wie beispielsweise Indien, China und Indo-
nesien das Weltklima durch ihre Emissionen stärker prä-
gen werden als Deutschland und Europa.
In diesen Punkten müssen wir in den nächsten Mona-
ten substanziell weiterkommen, um den internationalen
Klimaschutzprozess zu retten. Wir dürfen dabei keine Zeit
verlieren, sondern wir müssen sofort mit diesen Vorbe-
reitungen beginnen.
Für mich gibt es drei Erfolgsbedingungen:
Erstens. Wir müssen die Entwicklungs- und Schwel-
lenländer stärker mit in die Verantwortung nehmen, sonst
bleibt Klimaschutz eine Utopie. In diesem Punkt haben
die Amerikaner Recht; denn die Entwicklungs- und
Schwellenländer sind nicht nur rasch wachsende CO2-Schleudern, sondern auch diejenigen Länder, die beim
Klimaschutz die größten Fortschritte machen könnten,
wenn wir ihnen helfen würden. Der spezifische Energie-
verbrauch der Entwicklungsländer ist nämlich im Ver-
gleich mit dem mit moderner Technik erzielbaren Ver-
brauch sehr hoch. Auf der anderen Seite bestehen ein
hoher Reinvestitionsbedarf bei hohen wirtschaftlichen
Wachstumsraten und auch die Chance auf beachtliche
Mengeneffekte aufgrund der hohen Bevölkerungs- und
Beschäftigungszahlen.
– Ja. Aber der Erfolg wird sich nur einstellen, wenn es auf
breiter Front zum Einsatz von neuer Technologie kommt.
Das heißt, es muss einen gewaltigen Technologietransfer
geben, der wiederum voraussetzt, dass die bestehenden
Handlungsansätze schneller zu einem ordentlichen Deal
verquickt werden, bei dem der Süden rascher als bisher in
die Verantwortung genommen wird und dafür vom Nor-
den stärker als bisher unterstützt wird.
In einem Punkt sind wir offensichtlich nicht einer Mei-
nung: Ich würde nicht an der starren 50-Prozent-Grenze
für CO2-Reduktionsmaßnahmen festhalten, wenn es umdie Unterstützung der Entwicklungsländer geht. In Den
Haag sind auch die Adaptionsfonds angesprochen wor-
den. Ich halte eine vorsichtige Ausweitung für richtig
– einen Moment, Frau Ganseforth –, aber unter dem Dach
der Global Environmental Facilities, der GEF, die sich be-
währt hat. Ich glaube, wir sollten keine neuen Organisatio-
nen gründen, sondern an denen festhalten, die wir haben.
Frau Ganseforth, ich sage auch an Ihre Adresse: Es
ist unerlässlich, dass wir auch national ein stärkeres Ge-
wicht auf die Entwicklungspolitik legen. Der Engländer
Prescott hat eine 50-prozentige Erhöhung des englischen
GEF-Beitrags angeboten. Dies sollte auch für uns Ansporn
sein, den freien Fall der deutschen Entwicklungshilfe so-
fort zu stoppen und sie wieder nach oben zu fahren.
Auch dazu muss man dann stehen. Denn Qualität allein
bringt nichts, wenn kein Geld mehr da ist.
Die Bundesregierung ist als drittgrößter Beitragszahler
auch aufgefordert, der Weltbank auf die Finger zu klop-
fen, die noch immer 80 Prozent der Mittel für Energie-
projekte in fossile Energien steckt.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Dr. Christian Ruck
13614
Die zweite Voraussetzung ist für mich genauso wich-
tig. Man muss viel stärker als bisher an einem insgesamt
attraktiveren Energiekonzept der EU, und zwar ökono-
misch wie ökologisch, arbeiten.
Derzeit existiert eine europäische Energiepolitik der Wi-
dersprüche. Das sieht man zum Beispiel an den regenera-
tiven Energien, die wie ein gemischter Salat sind, aber
auch an der Atompolitik. Für die einen ist Atompolitik
vollkommen normal, für die anderen ist sie des Teufels;
die einen steigen ein, die anderen steigen aus. Das Ganze
ist mit vielen volkswirtschaftlichen Unsinnigkeiten ge-
spickt, die sich die Entwicklungsländer nicht leisten kön-
nen und die Amerikaner nicht leisten wollen.
Dazu muss ich eines sagen: Da spielt die rot-grüne
Bundesregierung eine EU-Vorreiterrolle in der falschen
Richtung, nach dem Motto: Wie mache ich Klimaschutz
möglichst teuer, möglichst unbeliebt
und möglichst ineffizient? Gerade hinsichtlich der Öko-
steuer, Herr Müller, können wir uns lange darüber unter-
halten. Bei einem Output von 10 Millionen Tonnen ist die
Ökosteuer
– das hat Trittin gesagt – mit ihrem riesigen Aufwand
wirklich für die Katz.
– Nein, Herr Müller, das stimmt doch nicht. Ich bitte Sie
um eines: Reden wir ehrlich über das, was jeder be-
schlossen hat.
Die Beschlüsse, an denen ich mitgewirkt habe, kenne ich
ganz genau. Wir haben nicht so etwas wie Ihre Ökosteuer,
sondern etwas Intelligenteres, Effizienteres und Kosten-
günstigeres beschlossen.
Jetzt komme ich zu den Amerikanern und damit zu der
dritten Voraussetzung. Die Amerikaner müssen mit ins
Boot. Man kann vielleicht sagen, die Amerikaner seien
ökologisch nicht so sensibel. Aber ökonomisch sind sie
sensibel. Wenn wir sie ins Boot bekommen wollen, müs-
sen wir ihnen eine Konzeption anbieten, die Ökologie
und Ökonomie einigermaßen ins Lot bringt.
Auch über die CO2-Senken müssen wir nachdenken.Ich möchte das Thema nicht länger ausführen. Aber bei
uns geht es doch nicht nur um Primitivaufforstung, Feu-
erschneisen oder diese widersinnige Pfluggeschichte,
sondern es geht tatsächlich um die Erhaltung der wichti-
gen Speicher in den bestehenden Wäldern. Alle Wissen-
schaftler sagen uns, dass diese Speicherfunktion gerade
jetzt wichtig ist, bis man das Problem im Griff hat.
Ich bin mit Ihnen einer Meinung, dass man keine fau-
len Kompromisse eingehen und sich nicht aus der Verant-
wortung stehlen darf. Was auch immer angerechnet wird:
Es muss dabei eine ehrliche und nachprüfbare Verhinde-
rung oder Reduktion des Treibhausgasausstoßes erzielt
werden.
In diesem Sinne unterstützen wir eine möglicherweise
härtere Gangart Europas gegenüber großen Verhinderer-
staaten. Klimaschutzverpflichtungen in dem nötigen und
geplanten Umfang sind auch ein gewaltiges Wettbe-
werbselement. Eine Verweigerungshaltung ist daher nicht
nur umweltpolitisch verantwortungslos, sondern verzerrt
ebenso in gravierender Weise die ökonomische Chancen-
gleichheit.
Auch aus diesem Grunde ist Kämpfen angesagt, aller-
dings nicht nur vonseiten des Umweltministers. Dafür
steht zu viel auf dem Spiel. Wir fordern, dass sich endlich
unser Autokanzler Schröder – trotz der Rede, die er an-
geblich gehalten hat –
um die entscheidenden Fragen der Zukunft stärker küm-
mert und sich auch hier ein Beispiel an seinem Vorgänger
Helmut Kohl nimmt, dem wir in der Klima- und Umwelt-
politik international viel zu verdanken haben.
Kollege Ruck, Ihre
Redezeit ist deutlich überschritten.
Mein letzter Satz
ist: Wir werden die rot-grüne Bundesregierung kritisch,
aber konstruktiv beim internationalen Klima- und Um-
weltschutz begleiten. Wir wünschen der rot-grünen Bun-
desregierung viel Erfolg. Aber diese Regierung muss erst
noch beweisen, dass sie nicht nur internationale Ein-
brüche, sondern auch internationale Durchbrüche erzielen
kann.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort
der Parlamentarischen Staatssekretärin Uschi Eid.
Dr
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Her-
ren! Eine Weltklimakonferenz scheitert nicht alle Tage.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Dr. Christian Ruck
13615
Ein solches Scheitern hat Gründe; Herr Minister Trittin
hat diese vorhin umfassend dargestellt. Wir wollen keine
faulen Kompromisse bei der Umsetzung des Kioto-Proto-
kolls, sondern Lösungen, die für alle Beteiligten tragfähig
sind, also für die Länder des Nordens wie auch für die
Entwicklungsländer im Süden.
Das gilt auch für die entwicklungspolitischen Aspekte
des Klimaschutzes. Die Konferenz in Den Haag ist zwar
an den zentralen Umweltverpflichtungen gescheitert, es
gab aber auch bei den Entwicklungsthemen im engeren
Sinn, vor allem bei Fragen des Finanz- und des Technolo-
gietransfers, zwischen den Entwicklungsländern und den
Industrieländern Differenzen; das sollten wir nicht unter
den Tisch fallen lassen. Diese Differenzen liegen vor al-
lem in der Frage, wie die internationale Umweltfinanz-
architektur weiterentwickelt werden soll, um den be-
rechtigten Forderungen der Entwicklungsländer nach
breiteren Maßnahmen des Klimaschutzes und der Anpas-
sung an den Klimawandel auch im Süden gerecht zu wer-
den.
Wir meinen, wir müssen bei der internationalen Zu-
sammenarbeit im Umweltbereich auf die bewährten Insti-
tutionen setzen. Man kann meiner Meinung nach Forde-
rungen aus den Reihen der Gruppe der 77 und aus China,
neue Institutionen zu schaffen, nicht nachgeben.
Die Instrumente für finanzielle und technische Unterstüt-
zung sind vorhanden. Sie müssen zwar in dem einen oder
anderen Punkt an neue Herausforderungen angepasst
werden – dafür setzt sich auch die Bundesrepublik
Deutschland international sichtbar und erfolgreich ein –,
die Effektivität dieser Instrumente kann aber nicht
grundsätzlich bezweifelt werden.
Vor allem möchte ich die globale Umweltfazilität
nennen. Sie ist das zentrale Finanzinstrument für globale
umweltpolitische Maßnahmen und ist der Finanzmecha-
nismus der Klimarahmenkonvention. Die globale Um-
weltfazilität, die GEF, muss gestärkt aus den Klimaver-
handlungen hervorgehen. Wenn wir das nicht erreichen,
dann schlagen wir jahrelange Projekt- und Programm-
erfahrungen im Klimabereich in den Wind und setzen die
konstruktive Zusammenarbeit mit den Entwicklungslän-
dern im multilateralen Bereich langfristig aufs Spiel.
Dafür müssen wir unter unseren europäischen Freunden
und bei den Partnerländern im Süden verstärkt werben.
Herr Repnik, ich hoffe dabei auf Ihre Unterstützung, denn
dies war schon 1992 in Rio auch Ihr Anliegen. Ich danke,
dass Herr Ruck in seinem Beitrag diese Position der Re-
gierung mitgetragen hat.
Welche Rolle spielen nun die Entwicklungsländer im
Verhandlungsprozess? Der Bundesumweltminister hat
gesagt, bei den zentralen Fragen der umweltpolitischen
Integrität des Kioto-Protokolls stünden sie auf der Seite
der EU – das ist gut so –; denn sie haben ein ureigenes In-
teresse am Klimaschutz. Die Entwicklungsländer sind
nämlich die Hauptbetroffenen von zukünftigen Kli-
maveränderungen. Häufigere Dürren, Stürme oder Über-
schwemmungen treffen Entwicklungsländer viel härter:
zum einen wegen ihrer anfälligeren Ökosysteme, zum an-
deren wegen ihrer derzeit sehr geringen Kapazität, sich
auf Wetterextreme einzustellen. Es ist aufgrund der Er-
gebnisse von Rio unsere Verpflichtung, aber auch ein Ge-
bot der Vernunft, die Entwicklungsländer bei Klima-
schutzmaßnahmen und bei Anpassungsmaßnahmen an
den Klimawandel zu unterstützen. Das sollten wir vor al-
lem für die ärmsten unter ihnen, aber auch für die kleinen
Inselstaaten tun.
Die Bundesregierung hilft hier im Rahmen der
Entwicklungszusammenarbeit bereits engagiert und er-
folgreich mit ganz differenzierten Instrumenten. Die Zah-
len belegen dies – Herr Ruck, ich möchte Ihnen da wider-
sprechen –: Im bilateralen Geschäft stellen wir für den
Klimaschutz im Jahr 2001 500 Millionen DM zur Verfü-
gung. Davon entfallen allein 200 Millionen DM auf den
Bereich der erneuerbaren Energien. Im multilateralen Be-
reich leistet Deutschland einen Beitrag von 12 Prozent zu
den Einlagen der globalen Umweltfazilität. Die anste-
hende dritte Wiederauffüllung muss unserer Meinung
nach wesentlich höher ausfallen, um die anspruchsvolle
Umweltagenda zu erfüllen.
Wir freuen uns, dass es uns der für das Jahr 2001 vor-
gesehene etwas höhere Haushaltsansatz für die Entwick-
lungszusammenarbeit erlaubt, gezielter im Klimaschutz
– und damit auch für den Schutz der Wälder – aktiv zu
werden.
Sie sehen also: Entwicklungspolitik spielt eine ganz pro-
minente Rolle im internationalen Klimaschutz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die schwierigen Ver-
handlungen in Den Haag – auch die zu den Finanzie-
rungsfragen – müssen in den Kontext des Rio-Folgepro-
zesses eingeordnet werden. Wollen wir langfristig die
Entwicklungsländer zu dauerhaften Verbündeten unserer
klima- und umweltpolitischen Agenda machen, müssen
wir ihren berechtigten Interessen auch in anderen interna-
tionalen Foren Gehör und Beachtung verschaffen.
Die nächste Gelegenheit dazu – Herr Präsident, ich
komme gleich zum Schluss – ist die am Montag in Bonn
beginnende Wüstenkonferenz, bei der wir mit anderen
Vertragspartnern über die Umsetzung der VN-Konven-
tion zur Bekämpfung der Wüstenbildung verhandeln wer-
den. Der Zusammenhang zum Thema der heutigen De-
batte liegt auf der Hand: Die Desertifikation hat
gravierende Auswirkungen auf das Weltklima.
Liebe Kollegin, jetzt
müssen Sie wirklich zum Ende kommen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Parl. Staatssekretärin Dr. Uschi Eid
13616
Dr
Herr Präsident, Sie waren bei den Rednern der
CDU/CSU sehr großzügig. Das haben Sie Herrn Ruck
auch gesagt. Ich weiß aber, es steht mir nicht an, mit Ih-
nen zu verhandeln.
Genau. Kommen Sie
bitte zum Ende.
Dr
Ich möchte also betonen, dass wir unseren Bei-
trag zum Klimaschutz in den nächsten 14 Tagen in Bonn
leisten werden, wenn dort die internationale Staatenge-
meinschaft zur Bekämpfung der Wüstenbildung zusam-
menkommt.
Danke schön.
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Entschlie-
ßungsantrag auf Drucksache 14/4887 zur federführenden
Beratung an den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit und zur Mitberatung an den Ausschuss
für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu über-
weisen. Die Vorlage auf Drucksache 14/4890 soll an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwie-
sen werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das
ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c
sowie Zusatzpunkt 3 auf:
4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Lohmann , Horst Seehofer, Dr. Wolf
Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Abschaffung der sektoralen Budgets in der ge-
setzlichen Krankenversicherung
– Drucksache 14/4604 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Dr. Dieter Thomae, Detlef Parr, Dr. Irmgard
Schwaetzer, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Sicherung einer angemessenen
Vergütung psychotherapeutischer Leistungen
im Rahmen der gesetzlichen Krankenver-
sicherung
– Drucksache 14/3086 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Gesundheit
– Drucksache 14/4889 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Ruth Fuchs
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Fuchs, Dr. Ilja Seifert, Monika Balt, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der PDS
Existenzsichernde Vergütung der psychothera-
peutischen Versorgung gewährleisten
– Drucksachen 14/2929, 14/4889 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Ruth Fuchs
ZP 3 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Größere Verteilungsgerechtigkeit bei kassen-
ärztlichen Honoraren
– Drucksache 14/4891 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Sabine Bergmann-Pohl, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Prä-
sident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor vier Tagen
hatte ich mit einer Gruppe jüngerer Frauen, die an einem
fortgeschrittenen Rheuma erkrankt sind, ein ausführliches
Gespräch. Besonders berührt hat mich die Schilderung ei-
ner jungen Frau, die aufgrund ihrer Erkrankung ihre Ar-
beit verloren und keine Chance auf eine Neueinstellung
hat. Sie wurde berentet. Während ihrer Beschäftigung
hatte sie regelmäßig an Rehabilitationsmaßnahmen teil-
genommen mit dem Ergebnis, dass es ihr subjektiv besser
ging und dass auch der Medikamentenverbrauch mit den
entsprechenden Nebenwirkungen zurückging. Seit ihrer
Berentung verweigert ihr die Krankenkasse nun Rehabi-
litationsmaßnahmen. Physiotherapie wird nicht mehr ver-
ordnet und bei der Verschreibung von bestimmten Medi-
kamenten gibt es erhebliche Probleme.
– Sie können doch nicht das infrage stellen, was die Pati-
entin erzählt hat.
Typisch für Ihre Politik ist doch, dass Sie völlig an den Pa-
tienten vorbeiregieren.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000 13617
Meine Damen und Herren, was ist das eigentlich für
eine Politik, wenn den Bedürftigen
– hören Sie doch einmal zu, Frau Schmidt-Zadel –, also
den chronisch Schwerkranken, die notwendige, ange-
messene medizinische Hilfe verweigert wird? Das ist die
Folge der rot-grünen Gesundheitspolitik, die von Budgets
und Staatsmedizin geprägt ist.
Frau Fischer, wenn Sie die Zahlen der GKV-Finanz-
entwicklung für das erste bis dritte Quartal 2000 dahin ge-
hend kommentieren, dass Sie auch im nächsten Jahr kon-
sequent auf Ausgabenbegrenzung setzen müssen, aber
eine gute medizinische Versorgung sichern und weiter-
entwickeln wollen, dann frage ich mich ernsthaft, ob Sie
überhaupt noch merken, was Sie den kranken Menschen
in unserem Lande antun.
Sie sind völlig auf eine Ausgabenbegrenzung fixiert,
ohne auch nur einenAugenblick daran zu denken, welche
Auswirkungen Ihre einfallslose Politik hat. Übrigens:
Wenn Sie sagen, Sie wollen die Ausgaben begrenzen,
aber trotzdem den medizinischen Fortschritt fördern,
dann frage ich Sie, wie das eigentlich gehen soll. Denn
die Diabetesbehandlung kostet insgesamt 8 Milliar-
den DM mehr, wenn sie nach den neuesten medizinischen
Erkenntnissen durchgeführt wird. Wie Sie das zusam-
menbringen wollen, müssen Sie mir wirklich einmal er-
klären.
Wenn Sie Ihr Sparziel dadurch erreicht sehen, dass bei
steigenden Kosten den Menschen das medizinisch Not-
wendige verweigert wird – na dann: herzlichen Glück-
wunsch!
Die von Ihnen beschworene gute medizinische Versor-
gung in Deutschland ist ein Opfer rot-grüner Realität ge-
worden, nämlich Opfer einer unsozialen Gesundheitspo-
litik.
Das wird vor allem im vierten Quartal eines Jahres deut-
lich, denn dann sind die Budgets ausgeschöpft.
– Die Aufregung auf Ihrer Seite macht doch deutlich, dass
ich Recht habe.
Eine Studie der Gmünder Ersatzkasse hat ergeben, dass
im vierten Quartal des letzten Jahres bei 27,4 Prozent der
behandelten Patienten Arzneimittel, die sie bisher erhal-
ten haben, von ihrem Arzt verweigert wurden. Nach einer
„Emnid“-Umfrage bekamen 59 Prozent der Patienten, bei
denen in den letzten zwölf Monaten ein Arzneimittel ab-
gelehnt wurde, als Grund die Budgetierung zu hören.
Teure und aufwendige, aber notwendige Behandlungen
werden zum Privileg derer, Frau Schmidt-Zadel, die es
sich leisten können.
Oder ist es zum Beispiel Ihr Ziel, dass Medikamente zu
Weihnachten auf dem Gabentisch landen?
Nachdem Sie 1998 zu den Wahlen unsere angeblich so
unsoziale Gesundheitspolitik gebrandmarkt haben, fiel
Ihnen zur Kostenbegrenzung nichts Besseres als Budgets
ein, obwohl bereits 1995/96 deutlich wurde, dass Budgets
kaum geeignet sind, nicht berechtigte Ausgabensteige-
rungen zu steuern. Die Menschen haben das übrigens
längst durchschaut, denn sie müssen jetzt nicht nur zu-
zahlen, sondern eine Vielzahl der Leistungen selbst be-
zahlen.
Was soll denn zum Beispiel eine Patientin nach einer
Krebsoperation machen, wenn sie aus Budgetgründen die
notwendige Lymphdränagenbehandlung nicht mehr er-
hält oder wenn – wie mir ein Patient am Dienstag er-
zählte – die Finanzierung einer lebensnotwendigen Plas-
mapheresebehandlung infrage gestellt wird?
Frau Fischer, warum geben Sie es eigentlich nicht zu?
Budgets sind eben nicht die Lösung. Das ist etwas von
gestern und nicht die Innovation von morgen.
Sie verlagern das Erkrankungsrisiko auf den Patienten
bzw. auf den Arzt oder schaffen Verschiebebahnhöfe zum
Beispiel zu unnötigen, teuren Krankenhausbehandlungen.
Wir hatten übrigens sinnvollere Lösungsansätze, und
zwar, Herr Schuster, mit dem Neuordnungsgesetz 1997
die Einführung budgetablösender Richtgrößen.
Damit Sie es verstehen, noch einmal: Dabei werden indi-
viduell zielgerichtet medizinische Indikationen und nicht
rein ökonomische Faktoren zum Maßstab des Handelns
gemacht.
Das Prinzip arztindividueller Richtgrößen steigert die Ei-
genverantwortlichkeit des Arztes. Es liegt doch auf der
Hand: Individuelle Verantwortung des einzelnen Arztes
ist etwas Besseres als das sozialistische Instrument der
Kollektivhaftung.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Dr. Sabine Bergmann-Pohl
13618
– Herr Kirschner, Sie hören eben nicht zu. Ich habe ge-
sagt: 1995/96 haben wir festgestellt, dass das überhaupt
nicht funktioniert.
– Im Übrigen waren Sie 1993 einer von denen, die uns das
aufgedrückt haben. Das wollte ich Ihnen einmal sagen.
Bei der eben angesprochenen Kollektivhaftung haftet
der Arzt, der wirtschaftlich handelt, für einen anderen
Arzt, der unwirtschaftlich handelt. Das kann überhaupt
nicht funktionieren.
Auch eine Budgetierung der vertragsärztlichen
Gesamtvergütung ist eben nicht der richtige Weg. Regel-
leistungsvolumina mit einem vorab vereinbarten Punkt-
wert würden den so genannten Hamsterradeffekt verhin-
dern. Nur zielgerichtetes und nicht budgetiertes Handeln
zwingt zu ökonomischem Verhalten.
Oder wie es ein Sachverständiger in der Anhörung zur Ab-
schaffung der Arzneimittelbudgets formulierte: „Alles
das, was für Budgets spricht, geht auch mit Richtgrößen –
nur besser.“ Das war übrigens jemand, der, glaube ich, Ih-
rer Partei nahe steht.
Entlarvend ist übrigens auch die Aussage der Ministe-
rin in der Haushaltsdebatte von letzter Woche. Ich zitiere
wörtlich:
Wenn sich Ärzte in ihren Praxen darüber beklagen,
sie hätten unzureichende Budgets, dann meinen sie
die Richtgrößen ...
Nach dieser Äußerung wird mir klar, dass Sie die Steue-
rungsinstrumente in der gesetzlichen Krankenversiche-
rung offensichtlich immer noch nicht begriffen haben.
Ein vermeintlich anderes Thema birgt die gleiche
Problematik: die Vergütung psychotherapeutischer
Leistungen. Auch hier hat die Politik der rot-grünen
Bundesregierung das Versorgungsniveau erheblich beein-
trächtigt. Zugegeben: Wir haben uns alle hinsichtlich der
Zahl der zuzulassenden Psychotherapeuten verschätzt.
Aber die Vergütung psychotherapeutischer Leistungen ist
durch die Abschaffung von Zuzahlungen pro Therapiesit-
zung und einer fortlaufenden Budgetierung in den Keller
gesunken
– ich komme gleich darauf, Herr Kirschner; Sie sollten
sich die aktuellen Zahlen ansehen –, und zwar mit der
Folge, dass die Psychotherapeuten kaum noch ihre Be-
triebskosten bezahlen können.
Sie müssen sich dabei vor Augen halten,
dass für die Erbringung psychotherapeutischer Leistun-
gen die Zeit ein wesentlicher Faktor ist. Also hat das Bun-
dessozialgericht einen Punktwert von 10 Pfennig als
Richtschnur für eine adäquate Vergütung angelegt.
Ihr Staatssekretär, Herr Jordan – Herr Kirschner, hören
Sie zu –, hat am 25. Oktober 2000
im Ausschuss behauptet, dass man zwar Anfang des Jah-
res eine sehr schwierige Lage bei den Psychotherapeuten
gehabt habe, sich jetzt aber die Lage stabilisiert habe, weil
im Laufe des Jahres 1999 der Punktwert erheblich ange-
stiegen sei, und zwar auf 8 bis 9 Pfennig. Ich frage Sie al-
len Ernstes: Wohnen Sie im Wolkenkuckucksheim?
Aus den Unterlagen der KBV geht hervor, dass der durch-
schnittliche Punktwert im vierten Quartal 1999 in den al-
ten Bundesländern bei 6,59 Pfennig und in den neuen
Bundesländern bei 5,52 Pfennig lag. Im Jahresdurch-
schnitt lag er bei 6,83 und 4,73 Pfennig. Ich verstehe
nicht, wie der Staatssekretär auf solche Zahlen kommen
kann.
Auch im Jahre 2000 hat sich die Situation nicht ver-
bessert. Für nicht genehmigungspflichtige Leistungen,
das heißt probatorische Sitzungen, wird in Berlin eine
Therapiestunde sogar nur mit 1,74 DM vergütet. Das
muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen!
Die Folge ist der Qualitätsverlust; denn Psychotherapeu-
ten müssen aus wirtschaftlichen Gründen eine schnelle
Entscheidung über die Notwendigkeit einer Behandlung
fällen.
Übrigens: Die von Ihnen so viel gepriesene und neu
eingeführte Soziotherapie findet praktisch nicht statt, weil
sie den Budgets geopfert wurde. Sie verlagern das Morbi-
ditätsrisiko von den Krankenkassen in die Honorarvertei-
lung der Ärzteschaft und schaden damit den Patienten, die
eine psychotherapeutische Behandlung dringend benöti-
gen.
Die Stützung der genehmigungspflichtigen Leistungen
nützt den Therapeuten nicht viel. Ein Vorwegabzug der
Vergütung der psychotherapeutischen Leistungen aus der
Facharztvergütung löst das Problem ebenfalls nicht; denn
dadurch kommt es zu Verteilungskämpfen zwischen den
Fachärzten und den Psychotherapeuten. Wir setzen uns
auch hier für Regelleistungsvolumina mit einem vorab
fest vereinbarten Punktwert ein.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Dr. Sabine Bergmann-Pohl
13619
Denn auf Dauer kann es nicht angehen, dass man einzelne
Fachrichtungen durch Sondermaßnahmen stützt.
Frau Fischer, wir fordern Sie auf: Heben Sie die Bud-
getierung auf! Stärken Sie die Eigenverantwortung der
Patienten und machen Sie die Leistungen transparent!
Führen Sie im Bereich der Psychotherapie wieder eine an-
gemessene sozial abgefederte Selbstbeteiligung der Pati-
enten ein! Verlegen Sie das Morbiditätsrisiko dorthin, wo
es hingehört, zu den Krankenkassen! Leistungen der
gesetzlichen Krankenversicherung müssen sich am medi-
zinischen Bedarf der Patienten orientieren. Ökonomische
Interessen dürfen nicht zum alleinigen Handlungsmaß-
stab in der Gesundheitspolitik gemacht werden.
Wir brauchen also für die Herausforderungen der Zukunft
wesentlich intelligentere Lösungen als Ihre einfallslosen
Budgets.
Meine Damen und Herren, aufgrund der großen Aufre-
gung bei der SPD-Fraktion, als ich die praktischen Bei-
spiele vorgestellt habe, stelle ich fest, dass Sie offensicht-
lich den Bezug zur Realität und zu den Bürgern völlig
verloren haben.
Wenn Sie mit den Bürgern reden und fragen würden, wie
das in der Praxis läuft, dann kämen Sie zu den gleichen
Erkenntnissen wie ich.
Aus diesem Grund, Herr Kirschner, erwarte ich einfach
von Ihrer Partei – die Grünen scheinen es nicht begriffen
zu haben –: Kehren Sie zurück zu den Maßstäben,
die wir einmal mit unserer gemeinsamen Reform 1993
und mit unserem Neuordnungsgesetz 1997 gesetzt haben!
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Klaus Kirschner, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau
Kollegin Dr. Bergmann-Pohl, wenn Sie hier das Beispiel
einer Patientin anführen, dann nennen Sie doch Ross und
Reiter. Wenn es so ist, wie Sie sagen – der MD der zu-
ständigen Kasse und die Kassenärztliche Vereinigung sol-
len sich einmal die Versorgung dieser Patientin ansehen –,
wird hier offensichtlich der Versorgungsauftrag nicht er-
füllt.
– Ja.
Zu Ihren Klagen über die Reha: Frau Dr. Bergmann-
Pohl, wer hat denn die Reha-Leistungen heruntergefah-
ren?
Ich will noch etwas sagen, wozu ich schon einen Zwi-
schenruf gemacht habe. Sie selbst haben zu besseren Zei-
ten die Budgets eingeführt, weil Sie wussten, dass dies
ein wichtiges Steuerungsinstrument ist. Wenn Sie hier
IGEL anbieten, heißt das im Klartext: Die Patienten zah-
len und medizinisch notwendige Leistungen werden ih-
nen vorenthalten.
Nach Ihrem Programm, das Sie mit „Der faire Sozial-
staat – Eine neue Politik für eine neue Zeit“ betiteln, wol-
len Sie auf zwölf Beitragssatzpunkte herunter. Sie müssen
den Menschen aber einmal sagen, wo Sie die dafür not-
wendigen 25 Milliarden DM einsparen wollen.
Dann werden die Leute nämlich genau die Heilmittel
nicht mehr bekommen, die sie jetzt angeblich nicht mehr
bekommen, wobei ich sagen muss: Das Budget reicht
dafür aus.
Sie werden den Menschen keine häusliche Krankenpflege
mehr gewähren können. Sie werden Leistungen streichen
müssen. Hier müssen Sie einmal Farbe bekennen. Aber
davor drücken Sie sich und machen ein schönes Papier,
dessen Inhalt sich gut anhört. Aber bei genauem Hin-
schauen wird deutlich, wie sehr die darin enthaltenen
Maßnahmen die Patienten treffen.
Jetzt spreche ich die CDU/CSU zu ihrem Antrag zur
Abschaffung der sektoralen Budgets an: Wenn Sie wirk-
lich der Meinung sind, dass die sektoralen Budgets ab-
gelöst werden sollen, muss ich Sie fragen: Warum haben
Sie unseren Vorschlag im Rahmen der Gesundheitsreform
2000, zur Steuerung der Gesamtversorgung Globalbud-
gets einzuführen, abgelehnt?
Damit würde genau die von Ihnen geforderte Flexibilität
zwischen ambulanter und stationärer Behandlung erreicht
werden. Warum haben Sie es abgelehnt, eine sinnvolle
Datentransparenz herzustellen, die es uns ermöglicht, der
Selbstverwaltung bessere Steuerungsinstrumente an die
Hand zu geben? Damit haben Sie das verhindert, was Sie
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Dr. Sabine Bergmann-Pohl
13620
nun in Ihrem Antrag als Durchreichen vom Hausarzt zum
Facharzt und zum Krankenhaus beklagen. Sie werfen den
Ärzten vor, Patienten ungerechtfertigt ins Krankenhaus
abzuschieben.
– Das steht so in Ihrem Antrag. – Dazu nenne ich Ihnen
einmal die Zahlen der AOK Baden-Württemberg. Bei den
Krankenhäusern haben wir einen Drehtüreffekt erreicht,
bei dem sich bei einer steigenden Patientenzahl um
0,53 Prozent im Vergleich 1998 zu 1999 die Fallzahlen
auf 0,84 Prozent vermehrt haben. Dies ist also eine Fall-
zahlsteigerung um mehr als die Hälfte. Sie müssen sich
die Zahlen ansehen.
Weiterhin behaupten Sie, die Patienten würden nicht
mehr ausreichend mit Arzneimitteln versorgt. Sie beru-
fen sich dabei auf eine vom VFA in Auftrag gegebene Stu-
die. Dazu muss ich zuerst einmal eine grundsätzliche Be-
merkung machen: Allein der regionale Vergleich von KV
zu KV zeigt ein höchst unterschiedliches Verordnungs-
verhalten.
Wo und wie bestimmen Sie denn eigentlich anhand dieser
Daten, welche KV die Patienten richtig versorgt? Statt-
dessen übernehmen Sie interessengeleitete Aussagen des
VFA, um die Patienten zu verunsichern. Der Erkenntnis-
wert dieser Studie ist etwa so aufschlussreich, als wenn
Sie die Zigarettenindustrie fragen, ob die Bevölkerung
auch ausreichend mit Zigaretten versorgt ist.
Kollege Kirschner,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Bergmann-
Pohl?
Selbstverständlich.
Herr Kol-
lege Kirschner, können Sie mir erklären, warum Sie arzt-
individuelle Richtgrößen ablehnen, aufgrund derer ein
Arzt sein Budget bekanntermaßen viel besser überblicken
kann, und dafür sektorale Budgets einführen, wodurch die
Ärzte in eine Kollektivhaftung geraten? Können Sie mir
sagen, ob das eine Qualitätsverbesserung bei der medizi-
nischen Versorgung der Patienten bedeutet?
Verehrte Frau Kollegin
Dr. Bergmann-Pohl, geben Sie zu, dass arztbezogene
Richtgrößen, die Sie fordern, wodurch der Arzt in die Haf-
tung genommen wird,
– ja, sehr gut, Herr Kollege Dr. Thomae –, eigentlich Bud-
gets sind?
Sie können doch nicht auf der einen Seite ständig die Bud-
gets anprangern und dann arztbezogene Richtgrößen als
alleiniges Steuerungsinstrument einsetzen wollen.
Damit führen Sie nämlich Einzelbudgets ein.
Das trifft vor allen Dingen die Hausärzte, die nach wie vor
die Hauptlast tragen.
Entweder haben Sie das nicht begriffen oder Sie ma-
chen den Leuten etwas vor: Wenn Richtgrößen das allei-
nige Steuerungsinstrument sein sollen, dann sind sie
nichts anderes als arztbezogene Budgets.
– Ja. Es ist ja schön, wenn Sie plötzlich sagen, Sie brau-
chen Budgets.
Auf der anderen Seite aber lehnen Sie Budgets ab.
Sie wollen die KVen aus der Verantwortung heraus-
nehmen, damit sie sich nicht mehr um die wirtschaftliche
Steuerung kümmern müssen. Sie verlagern dies aus-
schließlich auf die Ärzte, insbesondere auf die Hausärzte,
und lassen sie damit im Stich. Wenn Sie dies wollen, wer-
den die Hausärzte der Pharmastrategie ganz besonders
ausgesetzt; das wissen Sie genau.
Meine Damen und Herren, Sie behaupten in Ihrem An-
trag, es würden nicht ausreichend Lipidsenker eingesetzt.
Das ist eine Diskriminierung der niedergelassenen Ärzte.
Sie verschweigen nämlich – ich habe mir die Zahlen an-
gesehen –, dass sich das Volumen dieser Arzneimittel-
gruppe von 1994 bis 1999 mehr als vervierfacht hat mit
Ausgaben von 1,5 Milliarden DM. Das müssen Sie sich
einmal anschauen.
Was die neuen Depressionsmittel angeht, so zitiere ich
aus der neuesten Ausgabe einer Fachzeitschrift vom Sep-
tember/Oktober:
Die Einkäufer von Gesundheitsleistungen sollten
ihre Ausgaben für die Behandlung von Depressionen
noch einmal überdenken. Die Einführung der mo-
dernen Antidepressiva hat zu einem enormen Ausga-
benanstieg geführt, der angesichts der verfügbaren
Forschungsergebnisse über Wirksamkeit und Ne-
benwirkungen nicht zu rechtfertigen ist.
Ich will Ihnen an dieser Stelle noch einmal die Arznei-
mittelausgaben der GKV darlegen, weil Sie behaupten,
das reiche nicht. 1998 betrugen diese Ausgaben der GKV
34,66 Milliarden DM. 1999 waren es 37,57 Milliar-
den DM. Das ist eine Steigerung um 2,9 Milliarden DM.
In diesem Jahr beträgt die Steigerung in den ersten drei
Quartalen 3,5 Prozent.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Klaus Kirschner
13621
Internationale Vergleiche zeigen – das können Sie
doch nicht negieren –, dass wir bei den Arzneimittelaus-
gaben pro Kopf im europäischen Vergleich einen Spitzen-
platz belegen, ohne dass entsprechende Effekte auf den
Gesundheitszustand der Bevölkerung erkennbar sind.
Bei der Lebenserwartung liegen wir lediglich im Mittel-
feld der Industrienationen, haben aber international den
zweithöchsten und in Europa den höchsten Anteil der Ge-
sundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt. Alles in al-
lem steht genügend Geld zur Verfügung. Deshalb ist die
Forderung nach mehr Geld falsch. Die zentrale Fragestel-
lung lautet doch: Kommen die 225 Milliarden DM – bei
260 Milliarden DM Gesamtausgaben –, die die GKV in
diesem Jahr ausschließlich für medizinische Leistungen
ausgibt, behandlungs- und zielgenau bei den Patienten an
oder werden Gelder für nicht qualitätsgesicherte oder
pseudoinnovative Therapien vergeudet?
Im Übrigen – auch diese Zahlen will ich Ihnen nicht
vorenthalten – wurden 1998 in Deutschland durchschnitt-
lich 11,3 Arzneimittelpackungen mit 378 definierten Ta-
gesdosen in Höhe von 501 DM je Versicherten in der
GKV verordnet. Auf die Bevölkerung übertragen heißt
dies, dass im Durchschnitt jeder Versicherte – ich betone:
jeder Versicherte – von der Geburt bis zum Tod dauer-
therapiert wird, wenn man von der einzig zulässigen An-
nahme ausgeht, dass jede Arzneimittelbehandlung auch
therapeutisch notwendig ist.
Das heißt, dass jeder GKV-Versicherte – die Betonung
liegt auf „jeder“– eigentlich krank und deshalb medika-
mentös behandlungsbedürftig ist.
Ich möchte es noch einmal betonen, Frau Kollegin Dr.
Bergmann-Pohl: Der von Ihnen eingeschlagene Weg der
Richtgröße als alleiniges Instrument würde den Druck
auf die niedergelassenen Ärzte unerträglich steigern.
– Sie wollen doch ausschließlich die Richtgrößen als
Budgets. Davon rede ich doch. Sie lehnen auf der einen
Seite die Budgets ab und sagen, die Budgets seien Teu-
felszeug, aber Sie wollen gleichzeitig alleinige Budgets
einführen. Ich sage Ihnen: Damit entlassen Sie die
Kassenärztlichen Vereinigungen aus ihrer Verantwor-
tung für eine rationelle Pharmakotherapie. Das sind Kör-
perschaften des öffentlichen Rechts und sie sind damit
mittelbare Staatsverwaltung. Sie sind im Auftrag des Ge-
setzgebers tätig. Übrigens ist das keine parteipolitische
Angelegenheit. Ich denke, das stellen auch Sie nicht in
Frage. Das haben Sie auch immer gewollt.
Es gibt dann zu den interessengesteuerten Informatio-
nen der Pharmaindustrie kein institutionell verankertes
Gegengewicht mehr. Das ist das Problem.
– Lieber Kollege Dr. Thomae, jetzt muss ich Ihnen einmal
etwas vorlesen.
Passen Sie einmal auf:
Gemeinsam mit Ihren Verbänden beziehen Sie seit
Monaten deutlich Position gegen die rot-grüne Bun-
desregierung.
Ich hoffe, Sie wissen, wovon Sie schreiben, Herr
Dr. Gerhardt.
Ihr Interesse vorausgesetzt, würden wir Sie gerne in
den kommenden Wochen in unsere Kampagne gegen
die rot-grüne Gesundheitspolitik einbinden. Sie er-
halten dann auch Einladungen von uns zu aktuellen
gesundheitspolitischen Veranstaltungen der F.D.P.
Sollten Sie mit uns gemeinsam versuchen wollen,
die rot-grünen Budgets aufzuheben, so wären wir Ih-
nen dankbar, wenn Sie uns beiliegende Faxantwort
zukommen ließen.
Da eine breit angelegte Kampagne gegen diese Ge-
sundheitsreform nur mit entsprechendem Mittelein-
satz
– also Geld –
zu führen ist, bitten wir Sie um eine zweckgebun-
dene Spende.
Wir versichern Ihnen, dass dieses Geld einzig für die
Kampagne gegen die Gesundheitsreform genutzt
wird.
Jetzt kommt es:
Ihre Spende ist im Rahmen der üblichen parteienge-
setzlichen Regelungen steuerlich absetzbar.
Meine Damen und Herren, Sie fordern dazu auf: Die
sollen spenden. – Eine solche Kampagne soll auch noch
steuerlich absetzbar sein!
Ich finde, das ist wirklich eine tolle Nummer,
die Sie hier abziehen. Das muss man wirklich sagen.
– Ja, das ist unglaublich; da haben Sie völlig Recht, Herr
Kollege Merz. Es ist unglaublich, was die F.D.P. treibt.
Sie fordert zu Spenden auf, die für eine Kampagne genutzt
werden sollen, und dies soll auch noch steuerlich absetz-
bar sein. Sie haben völlig Recht: Das ist ungeheuerlich.
Ich teile völlig Ihre Meinung.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Klaus Kirschner
13622
Meine Damen und Herren, statt immer neue Rezepte
zu erfinden, wie Sie die Patienten bei der Arzneimittel-
versorgung – auf nichts anderes läuft es doch bei Ihnen hi-
naus – –
– Sie sind wahrscheinlich nicht einmal in der gesetzlichen
Krankenversicherung, Herr Kollege Dr. Gerhardt. Sie
predigen den Leuten Wasser und trinken den Wein. Das ist
doch das A und O der Politik, die Sie betreiben; das müs-
sen Sie doch zugeben.
Statt dass Sie immer darüber nachdenken, wie Sie die Pa-
tienten für Arzneimittel neu zur Kasse bitten können – da-
rauf läuft es hinaus –, sollten Sie, wenn Sie so viel
über Marktwirtschaft reden, einmal Antworten auf die
Frage geben, wie Sie es mit der Verordnung über Preis-
spannen halten, wie Sie es damit halten, dass die Kassen
Rabatte neu aushandeln oder Preisverhandlungen mit den
Lieferanten selbst führen können.
Marktwirtschaft ist für Sie immer eine Einbahnstraße
zulasten der Bürgerinnen und Bürger.
Zusammenfassend: Ihr Antrag verunsichert die Bürger.
Sie treten eine Kampagne los, ebenso wie Herr Koch in
Hessen. Sie verängstigen die Kranken
und es dient bestenfalls den Profiten der pharmazeu-
tischen Industrie.
Ich gebe
dem Kollegen Dr. Dieter Thomae für die Fraktion der
Freien Demokraten das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Es ist schon erstaun-
lich, dass die Mitglieder der SPD, aber auch der Grünen
keine Gespräche mehr mit Selbsthilfegruppen führen.
In der Vergangenheit waren Sie auf diesem Gebiet viel ak-
tiver. Sie haben sehr häufig Argumente in die Debatte ein-
gebracht, die von den Selbsthilfegruppen vorgetragen
wurden.
Heute finden diese Gespräche anscheinend nicht mehr
statt,
sonst wüssten Sie, wie es gerade bei den chronisch Kran-
ken aussieht.
Ein Professor, der im Gesundheitsbereich sehr aktiv ist,
hat mir vor wenigen Tagen gesagt: Die Versorgung von
chronisch Kranken in der Bundesrepublik Deutschland
nimmt massiv ab. Sie werden immer schlechter versorgt.
Das sind die Fakten.
– Das liegt an den Budgets, sehr geehrte Frau Schmidt-
Zadel.
Es ist erstaunlich, dass zu einer Anhörung von der SPD,
auf Bitten von Herrn Schmidbauer, gewisse Patientenver-
bände nicht eingeladen werden. Sie verweigern also Pati-
entenverbänden die Möglichkeit, eine kritische Stellung-
nahme abzugeben.
Von daher, Herr Schmidbauer, ist Ihre Politik schon sehr
verwirrend und unehrlich.
Lassen Sie mich etwas zu unserem Brief an die einzel-
nen Organisationen und Verbände sagen. In der Tat halten
wir die rot-grüne Politik im Gesundheitsbereich für eine
Katastrophe.
Die Budgetierung ist nichts anderes als eine Aufgabe – ich
sage das einmal so brutal – für Geistlose.
Wir haben diesen Fehler auch gemacht, aber dass Sie den
Fehler zum zweiten Mal machen, ist eine große Kata-
strophe. Sie geben sich selbst auf.
Hinzu kommt noch Folgendes: Schauen Sie doch ein-
mal, was Sie in den zwei Jahren gemacht und welche
Summen Sie dem System entzogen haben. Ich könnte Ih-
nen jetzt zehn Beispiele aufzählen. Sie haben dem System
in zwei Jahren insgesamt rund 10 Milliarden DM entzo-
gen.
Da behaupten Sie, Sie könnten die Qualität genauso si-
chern wie in der Vergangenheit? Das sind doch Ammen-
märchen!
– Wissen Sie, Herr Schuster, Ihre Strukturreform und Ihre
Hoffnungen in diese Reform sind bisher in keiner Weise
aufgegangen. Ihre Netze funktionieren nicht. Diese Träu-
me sind vorbei. Gehen Sie durch Deutschland und schau-
en Sie sich die Netze an. Dann werden Sie feststellen, dass
die Netze in der Regel erheblich teuerer sind als die Nor-
malversorgung.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Klaus Kirschner
13623
Lassen Sie mich jetzt auf die Thematik zurückkom-
men, die heute ansteht. Sie haben dem System 9 bis
10Milliarden DM entzogen und Sie behaupten, Sie könn-
ten dies alles über Rationalisierungsreserven kompensie-
ren. Sie haben nur bisher nie belegt, wie Sie das machen
wollen. Sie haben noch nicht einmal bei der Vertragsge-
staltung Veränderungen herbeigeführt. Das Gravierende
ist: Sie verlagern diese Problematik auf die Patienten, weil
sie wegen des Budgets nichts mehr erhalten. Sie wollen
eine hundertprozentige Selbstbeteiligung und wollen das
Morbiditätsrisiko vollständig auf die Ärzteschaft verla-
gern.
Das zeigt sich besonders beim Psychotherapeutenge-
setz. Schauen Sie sich in der Bundesrepublik Deutschland
ganz emotionslos an, was Sie bisher in diesem Bereich or-
ganisiert haben. Die Honorierung und die Versorgung
sind miserabel. Das Verrückte dabei ist: Es kann ja gar
kein Geld verschleudert werden, weil die Krankenkassen
vorweg genehmigen müssen, ob eine Behandlung erfolgt
oder nicht. Die Krankenkassen sagen: Eine Behandlung
ist notwendig. – Aber sie wird miserabel honoriert. So
kann es nicht weitergehen. Dieser Berufsstand geht vor
die Hunde!
Sie wollten etwas anderes. Sie haben gemeinsam mit
uns ein Gesetz auf den Weg gebracht. Damals waren wir
weitgehend einig; heute zerstören Sie diesen Berufsstand.
Ich bitte Sie dringend: Überlegen Sie genau, wie Sie in
diesem Bereich fortfahren wollen. Es gibt doch Vor-
schläge. Bei den Psychotherapeuten ist das nicht so
schwierig: Erstens wird die Leistung des Psychothera-
peuten genehmigt. Zweitens sind die Leistungen stunden-
gebunden; sie sind nicht unendlich vermehrbar. Drittens
muss ein fester Punktwert vereinbart werden. Das sind un-
sere Vorstellungen. Es gibt dazu keine Alternative.
Ich gebe Ihnen Recht, Frau Bergmann-Pohl: Auch in
den anderen Bereichen müssen wir mit festen Punktwer-
ten arbeiten. Natürlich werden in einer Übergangsphase
auch Grenzen gezogen werden müssen.
Das wissen wir. Wir müssen aber auch den Ärzten und
Psychotherapeuten eine Sicherheit für ihre berufliche
Ausbildung geben.
– Pflegeleistungsvolumina sind der richtige Weg, wir ha-
ben sie damals auf den Weg gebracht und ich halte sie
heute noch für richtig.
Sie müssen mit Ihrer Politik, alles über Budgets zu or-
ganisieren,
egal ob Globalbudgets oder sektorale Budgets, einsehen,
dass Sie es gar nicht organisieren können. Sie haben Ihre
Pläne doch aufgegeben, weil Sie gemerkt haben, dass die
Krankenkassen nicht bereit waren, daran mitzuarbeiten,
weil man es nicht organisieren kann. Man muss ehrlich
sein und eingestehen, wie die Fakten sind: Die Kranken-
kassen waren doch dazu gar nicht in der Lage. Sie haben
nur davon geträumt, dies auf den Weg zu bringen. Sie ha-
ben es nicht realisieren können.
Sie haben sich in einem weiteren Antrag mit der Kopf-
pauschale beschäftigt. Ich halte das für ein ganz wichtiges
Thema. Wir werden diese Thematik sicherlich im Aus-
schuss noch ausgiebig besprechen müssen.
Ihre Lösungsvorschläge gefallen mir nicht. Doch wir sind
uns darüber einig, dass das Problem gelöst werden muss.
Diese Thematik muss noch sehr gründlich besprochen
werden; eine schwierige Frage in diesem Zusammenhang
ist das West-Ost-Problem.
Wir sind bereit, über diese Themen mit Ihnen sehr sorg-
fältig zu diskutieren.
Dennoch sage ich Ihnen eines: Überlegen Sie – ich
weiß, dass es auch in Ihren Reihen viele Diskussionen
gibt –, ob das Budget wirklich sinnvoll ist.
Es gibt Kollegen in Ihren Reihen – zum Beispiel Klaus
Kirschner –, die offen sagen: Wir müssen in eine andere
Richtung gehen.
Einige Ihrer Kollegen sagen das bei Veranstaltungen. Von
daher bitte ich Sie wirklich umzudenken. Eigentlich er-
warte ich von den Sozialdemokraten eine bessere Lösung
als das Budget.
Lassen Sie mich noch eines sagen: Budgets und DRGs
passen nicht zusammen. Entweder räumen Sie den poten-
ten Krankenhäusern Wettbewerbschancen ein – dann
müssen Sie das Budget abschaffen – oder Sie lassen es. In
diesem Zusammenhang möchte ich eine weitere Bitte
äußern: Ich glaube, Ihre politische Entscheidung, die
DRGs kurzfristig innerhalb von drei Jahren einzuführen,
wird nicht erfolgreich sein.
Die Umstellung auf ein solch schwieriges System, für
die andere Staaten zehn Jahre gebraucht haben, sollten Sie
nicht überstürzen. Es wäre schade um die Fallpauschale;
es wäre schade, wenn dieses Konzept scheitern würde.
Wir haben damit angefangen und Sie setzen das jetzt fort.
Ich bitte Sie wirklich, zu überlegen, wie man dieses Sys-
tem vernünftig etablieren kann, und zwar ohne Hektik und
ohne Überstürzung. Denn davon hat unser Gesundheits-
system nichts. Schaffen Sie die Budgetierung ab, dann
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Dr. Dieter Thomae
13624
können wir miteinander reden. Ich denke, das wäre ein
sinnvoller Weg für uns alle.
Nun spricht
für die Bundesregierung die Bundesministerin für Ge-
sundheit, Andrea Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe
schon letzte Woche gesagt: Auch mich erfüllt es mit
Sorge, wenn ich höre, welche Kriege alltäglich in den
Arztpraxen geführt werden, und mich erfüllt es mit Sorge,
wenn Menschen gesagt wird, sie bekämen notwendige
Medikamente nicht mehr. Ich bin selbstverständlich der
Auffassung, dass wir solchen Missständen nachgehen
müssen und dass wir sie nicht zulassen dürfen.
Wenn einen solche Probleme mit Sorge erfüllen, muss
man gründlich und ehrlich darangehen, zu überlegen, was
da passiert ist.
In diesem Zusammenhang stellt sich eine interessante
Frage. In unserem System sind in den letzten Jahren – ich
rede jetzt nur über Arzneimittel, weil das der Punkt ist,
an dem sich alles kristallisiert – die Ausgaben deutlich ge-
stiegen. Herr Kirschner hat bereits zu Recht darauf hinge-
wiesen. Im internationalen Maßstab betrachtet, geschah
der Anstieg nicht von einem niedrigen Niveau, sondern
von einem hohen Niveau aus. Wenn die Ausgaben die
ganze Zeit über gestiegen sind, muss man sich aber fra-
gen: Wieso bricht in einem solchen System, das weltweit
als eines der teuersten, aber leider nicht als eines der
wirtschaftlichsten bzw. effektivsten gilt, plötzlich die
kollektive Armut aus? Sie sagen: Das liegt alles an den
Budgets. – Tut mir Leid: Das ist eine außerordentlich ein-
fältige Erklärung für dieses Problem.
Wenn ich mir den Antrag der CDU/CSU anschaue,
dann muss ich feststellen, dass Sie – das ist interessant –
nicht mehr Geld, sondern den Ausbau der Steuerungsin-
strumente – in diesem Fall sind es die Richtgrößen;
darauf komme ich gleich noch zu sprechen – und die Ein-
führung von Regelleistungsvolumina fordern. Offen-
sichtlich scheinen Sie nicht der Auffassung zu sein, dass
insgesamt nicht genug Geld für Arzneimittel ausgegeben
wird. Das entnehme ich jedenfalls Ihrem Antrag. Offen-
sichtlich scheint das Problem nur der Steuerungsmecha-
nismus zu sein. Reden wir also über den Steuerungs-
mechanismus.
Was läuft bei der Steuerung falsch, sodass es zu Effek-
ten kommt, die wir nicht wollen? Sie sagen – darauf ist ge-
rade schon einmal hingewiesen worden –: Wir wollen,
dass das auf den einzelnen Arzt heruntergebrochen wird
und dass dieser individuell verantwortlich ist und nicht
sozusagen das Kollektiv.
Ich nehme an – bislang habe ich das von Ihnen noch nicht
gehört –, dass Sie die ärztliche Selbstverwaltung in Form
der Kassenärztlichen Vereinigungen – diese sind sehr
alt und historisch gewachsen und wurden damals auf
Wunsch der Ärzte eingerichtet, weil diese aus den einzel-
nen Knebelverträgen mit den Kassen heraus wollten, die
es gab, bevor es die jetzige Form der ärztlichen Selbst-
verwaltung gab – so belassen wollen. Wenn Sie sagen:
„Die Kassenärztlichen Vereinigungen sollen in Zukunft
keine Verantwortung mehr haben; vielmehr soll nur noch
der einzelne Arzt Verantwortung übernehmen“, dann stel-
len sich zwei Fragen: Erstens: Fährt der einzelne Arzt da-
mit besser? Zweitens: Wozu gibt es dann noch Kas-
senärztliche Vereinigungen?
– Entschuldigung, Herr Präsident, könnten Sie mir helfen,
damit ich meine Rede fortsetzen kann?
Alle Instrumente wie Richtgrößen und Regelleistungs-
volumina, deren Einführung Sie fordern, gibt es bereits.
Im Sozialgesetzbuch V sind die Regelleistungsvolumina
weiterhin festgeschrieben, und zwar als eine Möglichkeit
für die Kassenärztlichen Vereinigungen, die Honorare
aufzuteilen. Ich zitiere § 85 Abs. 4 des Sozialgesetz-
buches V:
Insbesondere kann vorgesehen werden, dass die von
einem Vertragsarzt erbrachten Leistungen bis zu ei-
nem bestimmten Umfang
nach festen Punktwerten vergütet werden.
Ich erspare Ihnen weitere Zitate.
Liebe Kol-
leginnen und Kollegen, es gibt die Möglichkeit, Zwi-
schenfragen zu stellen. Ich bitte Sie, davon Gebrauch zu
machen.
Die Frage ist doch: Was bedeutet „Budget“? Bedeutet ein
Budget einfach nur, dass das Geld begrenzt ist? Ich ant-
worte: Ja, das wird so sein; das wird auch so sein, wenn
Sie wieder an die Regierung kommen. Vielleicht würden
Sie am Anfang mehr Geld in das Gesundheitssystem
fließen lassen und würden die Beiträge oder die Zu-
zahlungen erhöhen. Das ist zwar alles möglich. Aber das
Geld ist schon begrenzt. Wenn das unter dem Begriff
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Dr. Dieter Thomae
13625
„Budget“ zu verstehen ist, dann können Sie dem nicht wi-
dersprechen.
– Frau Bergmann-Pohl, nur weil Sie jetzt so aufgeregt
sind, wird das, was Sie sagen, auch nicht besser.
Wenn das Problem – diesen Unterschied habe ich ge-
rade klarzumachen versucht – offensichtlich nicht darin
besteht, dass die Geldsumme begrenzt ist – das wird es
immer sein –, dann müssen wir über die Steuerungsin-
strumente reden. Das Gesetz sieht vor, dass die ärztliche
Selbstverwaltung zusammen mit den Krankenkassen die
Arzneimittelausgaben festlegt, die jährlich angepasst
werden sollen. Dafür stehen ihr – ich empfehle Ihnen,
noch einmal einen Blick in das Gesetz zu werfen – viele
Instrumente zur Verfügung. Es gelten folgende Kriterien:
Veränderung der Zahl und der Altersstruktur der Versi-
cherten; Einführung von innovativen, also von neuen und
vielleicht auch teureren, Medikamenten; Veränderung der
Preise; Veränderungen im Leistungskatalog und beste-
hender Wirtschaftlichkeitsreserven. Das alles muss sie
berücksichtigen. Ich lasse gerne mit mir darüber reden, ob
sie noch mehr berücksichtigen soll. Auf jeden Fall stehen
alle diese Kriterien so im Gesetz.
Übrigens, sie sollen sich zwar an dem Grundsatz der
Beitragssatzstabilität orientieren, aber sie sind nicht dazu
verpflichtet. Es ist möglich, zusätzliche Gelder für ein
neues, innovatives Mittel zu vereinbaren, wenn nachge-
wiesen werden kann, dass sehr viele Menschen das be-
kommen müssen.
Es gibt übrigens Kassenärztliche Vereinigungen, die an
diesem Punkt alle Instrumente, die im Gesetz enthalten
sind, klug nutzen. Es geht zum Beispiel um die Spezial-
präparate, auf die ich nun zu sprechen kommen will.
Der Vorwurf, innovative Arzneimittel, die, was die
Therapie angeht, für die Patienten einen großen Fort-
schritt bedeuten, würden aufgrund unserer Sparpolitik
nicht mehr verschrieben, wiegt besonders schwer. Ich ver-
weise darauf, dass im Jahr 1999 die Anzahl der Ver-
schreibungen der Spezialpräparate – es geht um die kost-
spielige Behandlung von Aids, Krebs, Multipler Sklerose,
um Dialysepatienten – um 15,2 Prozent gestiegen ist.
– Herr Thomae, bloß weil Ihnen die Zahl nicht gefällt,
brauchen Sie jetzt nicht das Feld zu wechseln. Jetzt reden
wir von den teuren Spezialpräparaten.
Der Umsatz bei den Spezialpräparaten liegt inzwi-
schen bei 4,7 Milliarden DM. Der Anteil der Spezial-
präparate am gesamten Arzneimittelmarkt ist gestiegen.
Interessanterweise muss man sagen, dass die Verwendung
dieser Präparate in den KV-Regionen sehr stark variiert.
Auch an den Zahlen für dieses Jahr lässt sich schon able-
sen, dass dieser Trend anhält. Außerdem stellt sich die
Frage, ob wir insgesamt etwas drauflegen müssen oder ob
es im Bereich der Arzneimittel Medikamente gibt, die
substituiert werden können, weil man sie nicht mehr
braucht, da es inzwischen Besseres gibt, oder weil man
bislang Unsinn verordnet hat.
Zur VFA-Dokumentation – sie versucht zu belegen,
dass die Verschreibung dieser Präparate nicht mehr er-
folgt – sage ich nur eines: Am auffallendsten ist – ich habe
das letzte Woche schon gesagt –, dass es sich bei einem
beträchtlichen Teil der Medikamente, über deren Nicht-
verordnung Klage geführt wird, um solche handelt, die
schon seit der Regelung 1992 über die Bagatellmedika-
mente von der Verordnung durch die gesetzliche Kran-
kenversicherung rechtlich ausgeschlossen sind. Das ha-
ben Sie damals gemacht. Sie sind immer diejenigen, die
fordern, nur Grundleistungen und das medizinisch unbe-
dingt Notwendige zu gewähren. Deswegen ist es richtig,
dass die Bagatellmedikamente ausgeschlossen sind.
Hören Sie auf, mit dieser schlechten Studie zu argumen-
tieren.
Natürlich hat uns auch die Frage beschäftigt, ob es zu
einer richtigen Leistungsverweigerung kommt, die medi-
zinisch problematisch ist. Wir können nur sagen: Die Auf-
sichtsbehörden der Länder, die nach meinem Kenntnis-
stand nicht alle rot-grün geführt sind, haben uns dies für
das letzte Jahr, 1999, nicht systematisch bestätigt. Darauf
verweise ich Sie. Sie müssten einmal dort nachfragen. Wir
haben uns dort informiert, weil es uns selbstverständlich
Sorge bereitet, wenn diese Art von Klage geführt wird.
Nur der Vollständigkeit halber verweise ich darauf,
dass die Anzahl der Verschreibungen von Nachahmer-
präparaten in unserem Land zwar deutlich gestiegen ist,
aber nicht den Grad erreicht hat, der nach allgemeiner
Einschätzung der Wissenschaftler erreichbar ist. Trotz der
eingetretenen Verbesserungen möchte ich zu den umstrit-
tenen Arzneimitteln Folgendes sagen: Würde genauer
hingeschaut werden, was eigentlich verschrieben wird,
dann könnte man immer noch deutlich weniger ausgeben
– die Rede ist von Zahlen in Milliardenhöhe – und man
hätte Luft für die neuen und guten Medikamente, also für
die Spezialpräparate.
Ich komme auf die ärztliche Selbstverwaltung zu
sprechen. Wir stellen fest: Es gibt ganz große Unter-
schiede, wie die Selbstverwaltungen die ihnen übertra-
gene Aufgabe wahrnehmen, wie sie damit umgehen, dass
sie das Arzneimittelbudget in der Hand halten. Die Kas-
senärztliche Vereinigung Südbaden macht seit Jahren gute
Erfahrungen damit, dass sie Ärzte berät
und ihnen Hinweise über den Stand der Wissenschaft gibt.
Wenn das nicht geschieht, dann ist die Alternative
dazu, dass Ärzte ausschließlich von den Pharmavertretern
beraten werden. Ob das im Sinne des Verbraucher-
schutzes wirklich richtig ist, will ich infrage stellen. Wol-
len Sie den Arzt in dieser Angelegenheit eigentlich ganz
alleine lassen? Kann jemand, der schon zwölf Stunden am
Tag gearbeitet hat, immer, was den neuesten Stand der
Wissenschaft – neue Medikamente etc. – angeht, auf dem
Laufenden bleiben? Ist die ärztliche Selbstverwaltung
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Bundesministerin Andrea Fischer
13626
nicht auch dazu da, diese Beratungsaufgabe wahrzuneh-
men?
Man muss feststellen, dass die Kassenärztlichen Verei-
nigungen dieser Aufgabe in höchst unterschiedlicher
Qualität nachkommen; deswegen wird eine bestimmte
Kassenärztliche Vereinigung immer als positives Beispiel
zitiert. Wir können aber auch sagen – das erspare ich jetzt
den infrage kommenden KVen –, wo das überhaupt nicht
der Fall ist. Es zeigt sich, dass es sich um genau diejeni-
gen Bereiche handelt, in denen die Ärzte mit ihrem Bud-
get nicht auskommen, wo es den ganzen Ärger und die
Schwierigkeiten gibt.
Ich möchte noch auf Folgendes aufmerksam machen:
Uns begegnet jedes Jahr der Hinweis, am 7. November
des letzten oder dieses Jahres sei das Budget aufge-
braucht. Das ist eine bemerkenswerte Aussage angesichts
der Tatsache, dass in fast keiner der Kassenärztlichen Ver-
einigungen für das Jahr 2000 bislang überhaupt eine Bud-
getvereinbarung getroffen wurde.
Darüber hinaus gibt es in den Kassenärztlichen Verei-
nigungen das Problem – das wird uns ja auch immer vor-
gehalten –, nämlich die Daten über das Verordnungsver-
halten zeitnah zu bekommen. Das wollen wir übrigens
ändern, unter anderem über die Erhöhung der Transparenz
und andere Dinge.
Aber wenn es so schwierig ist, diese Daten rechtzeitig zu
bekommen, wieso kann man dann eigentlich auf Tag und
Stunde genau ausrechnen, wann das Budget erschöpft ist?
Dann muss ich doch noch einmal – das kann ich Ihnen
nicht ersparen – sagen –: wir sind ja immer noch bei den
Ursachen dafür, dass es zu diesen Berichten kommt, die
unbestritten sind –: Es gibt teilweise große Mängel bei
dem, was die Selbstverwaltung macht. Das wird, glaube
ich, auch gesteuert. Wir hatten schon ein Beispiel. Ich
möchte jetzt, mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident, aus der
Zeitschrift „BDI-Rundschreiben“ – offizielles Mitglie-
derrundschreiben vom Berufsverband Deutscher Internis-
ten – zitieren:
Der Rationierungsdruck muss raus aus den Praxen
und hinein in die Kassen. Dazu wiederholen wir eine
Aktion, die bereits mit fühlbarem Erfolg durchgezo-
gen wurde: Bei Verschreibungen von Medikamenten
und Heilmitteln, die das medizinisch diskussionslos
Erforderliche übersteigen, wird dem Patienten der
Konflikt mit dem Budget erklärt. Als Lösungsmög-
lichkeit soll der Patient die Krankenkasse befragen,
ob sie zahlt, und bejahendenfalls die Freistellung von
Regresszahlungen bestätigen lassen.
Jetzt folgt der Verweis auf ein Formular, das der Patient
bekommt. Es heißt jetzt weiter:
Der Kassenarzt ... muss wissen, dass es sich um eine
berufspolitische Demonstration handelt. Kern der
Sache ist, dass die einzelne Krankenkasse gar nicht
in der Lage ist, eine Freistellung vom Regress zu be-
stätigen. Der Patient wird die Unterschrift der Kasse
im Regelfall also nicht erhalten. Die Kasse selbst
macht ihm aber klar, dass es sich bei dem Spruch
„Wir zahlen alles, was der Arzt verschreibt“ um ein
Lügengebäude handelt. Dieser Effekt soll erzielt
werden.
Aus Sicht der Kassen wird darauf verwiesen, dass man
wahrscheinlich Ärger mit der Kassenärztlichen Vereini-
gung bekommen wird, und daraufhin wird dann gesagt:
Aus Sicht der Kassenärzteschaft ist die Aktion aber
legitim und erforderlich, um das unsinnige Polit-Ge-
fasel einer ausreichenden Finanzgrundlage für die
Medikamenten- und Heilmitteltherapie zu entlarven.
Ich möchte Sie darauf hinweisen, wenn Sie so schlich-
ten Gemüts argumentieren, wie das heute und in früheren
Debatten über das Budget geschehen ist: Sie machen sich
mit dieser Art von ärztlicher Politik auf dem Rücken von
Patienten gemein.
Ich will Ihnen raten, das zu lassen.
Ich will darauf verweisen, dass es viele in der Ärzte-
schaft gibt, gerade auch in der ärztlichen Selbstverwal-
tung, die diese Verantwortung, die ihr damit übergeben
worden ist, dass sie dieses Budget in der Hand haben,
wirklich wahrnehmen wollen.
Ich habe vorhin schon zitiert, wie viele flexible Teile in
unserem Gesetz enthalten sind, die viel besser genutzt
werden könnten. Wir sind natürlich bereit, zu prüfen, wie
wir das noch verfeinern und verbessern können, damit
diese Steuerung gelingt. Darüber sind wir im Gespräch
mit den Spitzenverbänden der Krankenkassen genauso
wie mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Wir
sind sehr optimistisch, dass wir da sehr gute Vorschläge
machen können. Das ist konstruktive Arbeit daran, wie
man mit den Mitteln sorgsam umgehen kann.
Ich will dazu noch einen letzten Punkt nennen, bevor
ich abschließend auf die Frage der Mängel im System
komme. Ich will darauf hinweisen: Zu sagen: „Wir geben
es völlig frei und jeder verschreibt, was er für richtig hält“
in einer Zeit, in der wir eine wachsende Zahl von Ärzten
haben, ständig neue Medikamente auf den Markt kom-
men, deren Zusatznutzen nicht überprüft ist, würde be-
deuten, mit dem Geld der Versicherten wirklich Ver-
schwendung zu betreiben. Denn in diesem Bereich gilt
nicht: Viel hilft viel. Es gilt auch nicht, dass es per se gut
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Bundesministerin Andrea Fischer
13627
wäre, möglichst viel Geld dabei auszugeben. Alle Ver-
suche, das anders zu steuern, verweigern Sie aber.
Das halte ich für unangemessen gegenüber den Patienten.
Frau Bun-
desministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Lohmann?
Ja.
Frau Ministerin, Sie haben es gerade für richtig gehalten,
durch ein Zitat aus dem Gesetz, die Behauptung zu unter-
stützen, dass es ja Richtgrößen und Regelleistungsvo-
lumina im Gesetz bereits gäbe bzw. das umgesetzt werden
könne. Können Sie mir bitte auch die Stelle zitieren, wo
steht, dass dann, wenn eine Richtgröße vereinbart wird,
auch das Budget wegfällt? Das ist ja unter dem Begriff
„budgetablösende Richtgrößen“ gemeint.
Ich stelle die Fragen nur, um von der schlichten Diskus-
sion wegzukommen, wie Sie das eben verlangt haben.
Noch einmal: Ich habe gerade gesagt: Wir streiten uns hier
– da ich in Ihrem Antrag keine Forderung finde, ein paar
Milliarden ins Arzneimittelbudget hineinzutun – um das
angemessene Steuerungsinstrument.
Ich habe darauf verwiesen, dass das Instrument der
Regelleistungsvolumina dafür vorgesehen ist, die Vertei-
lung dieser Gelder besser zu organisieren.
In der Tat gibt es nicht mehr – wie unter Ihrer Regierung –
das Schlupfloch, mit dessen Hilfe man sozusagen aus-
büchsen konnte, wenn man keine finanziellen Reserven
mehr hatte.
Wenn Sie mir auf den Hinweis, dass wir dieses Instru-
ment als Steuerungsinstrument beibehalten, sagen, es sei
unter dem Budget, muss ich Sie fragen: Sind Sie also doch
der Meinung, dass mehr Geld in das System muss?
– Also doch, es muss mehr Geld herein. Ich habe Ihren
Antrag sehr aufmerksam gelesen, Herr Lohmann. Aber
ich habe darin keine Forderung gefunden, dass mehr Geld
in das System gesteckt werden soll.
Ich möchte Sie also um die Auskunft bitten, wer – bitte
schön – dieses Geld in das System hineinstecken soll.
Herr Kol-
lege Lohmann, Sie dürfen zwar nicht antworten, aber Sie
können, wenn die Frau Bundesministerin es zulässt, eine
weitere Frage stellen.
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass all dieje-
nigen, die heute immer noch behaupten, dass die Zu-
kunftsprobleme der Gesundheitspolitik angesichts der
demographischen Entwicklung, der medizinisch-techni-
schen Entwicklung und der Multimorbidität allein mit
den vorhandenen Ressourcen gelöst werden können, den
Menschen die Unwahrheit sagen? Sind Sie ferner bereit,
anzuerkennen, dass deshalb auch über die Frage, ob
mehr Geld ins System fließen soll,
diskutiert werden muss?
Ich habe in diesem Zusammenhang – nicht nur in diesem
Hause, sondern auch an anderer Stelle – immer gesagt,
dass der demographische Wandel eine Herausforderung
sowohl in qualitativer als auch in finanzieller Hinsicht an
uns darstellt. Ich habe auch immer deutlich gemacht, dass
ich bereit bin, über die Einnahmeseite zu sprechen.
Gleichwohl debattieren wir jetzt über einen Antrag von
Ihnen, in dem dieser Aspekt nicht enthalten ist. Wenn ich
richtig informiert bin, muss ich feststellen, dass sich der
demographische Wandel nicht erst in den letzten zwei
Jahren, also seit es eine rot-grüne Regierung gibt, explo-
sionsartig vollzieht. Wir diskutieren aber heute darüber,
ob in den letzten zwei Jahren das Geld nicht ausreichend
war.
Weil wir schon wieder über das Geld reden und – das
ist mein Vorwurf an Sie – die Probleme im Gesundheits-
wesen auf die Probleme im Zusammenhang mit dem
Budget verkürzt werden, muss ich Ihnen sagen: Es ist
unbestritten, dass in unserem System die Versorgung
teilweise zu umfangreich, teilweise nicht ausreichend
und teilweise nicht zielführend ist. Das ist für mich das
eigentliche Problem.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Bundesministerin Andrea Fischer
13628
Das ist übrigens der Grund, warum wir den Sachver-
ständigenrat gebeten haben, für uns ein Gutachten zu er-
stellen, das uns Anhaltspunkte für die Lösung dieser Pro-
bleme liefert. Ich will an dieser Stelle nur darauf
verweisen, dass sehr viele Maßnahmen, die wir einge-
leitet haben,
genau in diese Richtung zielen. Deswegen wollen wir
über Leitlinien reden und darüber sprechen, was bei der
Versorgung im Falle bestimmter Krankheiten schief läuft.
Warum gibt es eine Unterversorgung?
Bei der Schmerztherapie geht es doch gar nicht ums Geld.
Die Opioide sind lang bekannte Medikamente, für die der
Patentschutz schon längst nicht mehr gilt und die deshalb
billig sind. Das ist also nicht der entscheidende Punkt. Der
entscheidende Punkt ist, dass es eine mangelhafte Ausbil-
dung, ein mangelndes Bewusstsein und Vorbehalte gegen
die Verwendung der Opioide gibt.
Wie bitte schön, wenn nicht mit Leitlinien, soll man
dieser Entwicklung beikommen? Man muss noch viele
andere Maßnahmen auf den Weg bringen. Aber man muss
gerade über die Qualität der Versorgung in diesem Be-
reich reden. Ich lasse es nicht zu, dass sich mit dem
schlichten Argument, hier fehle es an Geld, alle Verant-
wortlichen, Sie als Politiker und diejenigen, die dort
professionell tätig sind, aus der Verantwortung stehlen, in-
dem sie nicht darüber reden wollen, was in diesem Be-
reich falsch läuft. Warum fühlen sich die Patienten
schlecht versorgt? Warum redet keiner mit den Patienten?
Über diese Fragen müssen wir diskutieren.
Aber Sie verkürzen all diese wichtigen Debatten auf den
Gesichtspunkt Geld.
– Davon reden wir doch die ganze Zeit; Sie hören nur
nicht zu.
Angesichts der Mengenfrage müssen wir auch darüber
sprechen, wie schwer es ist, entsprechende Änderungen
durchzuführen. Ich kann Ihnen die Feststellung nicht er-
sparen, dass schon Sie daran gescheitert sind. Aber auch
wir haben bislang kein wirksames Instrument gefunden,
mit dem wir diese Probleme angehen können.
In Berlin werden wir mit dem Konflikt über die Ver-
gütung der Radiologen konfrontiert. Ich will in diesem
Zusammenhang auf folgende Zahlen verweisen: Bei der
AOK Berlin ist von 1996 bis 1999 die Zahl der abgerech-
neten Untersuchungen mit Magnetresonanztomographen
um 517 Prozent gestiegen.
Die Zahl der Untersuchungen mit Computertomographen
ist von 1 897 auf 54 162, also um 2 755 Prozent, gestie-
gen. Es gibt in Berlin genauso viele Tomographen wie in
ganz Belgien. Das könnte vielleicht doch ein Zeichen
dafür sein, dass wir bei bestimmten Punkten des Guten zu
viel und dafür bei anderen erheblich zu wenig tun.
Interessant ist, dass es dabei offensichtlich weiterhin zu
gravierenden Missverständnissen zwischen Ärzten und
ihren Patienten kommt. Untersuchungen zeigen, dass
Ärzte weitaus häufiger denken, ihre Patienten würden von
ihnen eine Verschreibung eines Medikamentes erwarten,
als das in der Tat der Fall ist. Offenbar gibt es hier Ver-
ständigungsprobleme. Wenn man mit den Menschen da-
rüber spricht, erfährt man, dass sie am meisten vermissen,
dass man ihnen Zeit widmet, dass man ihnen zuhört, dass
man ihnen alles erklärt, dass man sich wirklich auf ihr
Problem einlässt.
Über all diese Probleme und über notwendige Verän-
derungen sollten wir sprechen. Das hängt mit vielem zu-
sammen: mit Strukturen, mit Bewusstsein, mit der Wahr-
nehmung von Menschen, mit einem Menschenbild,
natürlich auch mit Ausbildung; das ist richtig. Über all das
möchte ich reden. Wir haben das an vielen Stellen bereits
getan. Ich wundere mich manchmal, dass Sie von dem
Gesetz, das im letzten Jahr verabschiedet wurde, offen-
sichtlich nur die Stelle mit der Begrenzung der Einnah-
men der Krankenkassen zur Kenntnis genommen haben.
Sonst hätten Sie gemerkt, an wie vielen anderen Stellen
wir versucht haben, diese Debatte anzustoßen, die De-
batte über Qualität endlich oben auf die Tagesordnung zu
setzen. Ich erlebe immer nur, dass Sie über das Geld spre-
chen, aber nicht über all die Fragen, die die Menschen
berühren.
Für die
Fraktion der PDS spricht nun die Kollegin Dr. Ruth
Fuchs.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Wie die Frau Ministerin richtig gesagt hat: In
der heutigen Debatte geht es im Kern um die Budgetie-
rungspolitik der Bundesregierung im Gesundheitswesen.
Sie ist inzwischen bei den Leistungserbringern ebenso
wie bei der Bevölkerung so etwas wie ein negatives Mar-
kenzeichen der Gesundheitsreform 2000.
Aus unserer Sicht ist das eher eine bedauerliche Ent-
wicklung; denn – jetzt hören auch Sie, meine Damen und
Herren von der rechten Seite, bitte einmal zu – die Grund-
gedanken der Gesundheitsreform, die bestehenden Fehl-
anreize und strukturellen Defizite des Gesundheitswesens
durch Reformen schrittweise abzubauen, eine höhere
Qualität und Wirtschaftlichkeit zu ermöglichen sowie das
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Bundesministerin Andrea Fischer
13629
Solidarsystem zu erhalten und vor allen Dingen zukunfts-
fähig zu machen, waren und sind unserer Meinung nach
völlig richtig.
Auch die Absicht der Koalition, den Weg der finanzi-
ellen Belastungen der Patienten nicht weiter zu beschrei-
ten, unterscheidet die jetzige Gesundheitsreform schon
wohltuend von der unverschämten Selbstbeteiligungspo-
litik der Vorgängerregierung zulasten der Versicherten.
Ich sage das, obwohl wir immer deutlichere Rückführun-
gen der Zuzahlungen für notwendig und möglich halten.
Doch zurück zur Budgetierung. Egal, wer es sagt, es
bleibt trotzdem richtig: Gesetzlich verordnete Ausga-
benbegrenzungen sind im Grundsatz keine geeigneten
Steuerungsinstrumente. Denn will man ein sozial ge-
rechtes, allen Menschen gleichermaßen zugängliches
Gesundheitswesen, dann richtet sich der medizinische
Bedarf nun einmal nicht nach vorgegebenen finanz-
technischen Begrenzungen, schon gar nicht, wenn deren
Höhe ausschließlich von wirtschaftspolitischen Grün-
den bestimmt ist. Es muss Aufgabe der gemeinsamen
Selbstverwaltung sein, die gesundheitliche Versorgung
am jeweiligen wissenschaftlich begründeten Erkennt-
nisstand der Medizin auszurichten und eine rationelle
Ausgabenstruktur zu gestalten.
Allerdings – das scheint mir der entscheidende Punkt
zu sein – muss bezweifelt werden, dass unser Gesund-
heitswesen und seine Selbstverwaltung überhaupt in der
Lage sind, diese Aufgabe zu erfüllen. Zeigt uns nicht die
Praxis, dass die vielfältige Zersplitterung der Leistungs-
erbringer, die Trennung von ambulantem Sektor und
Krankenhaus und die mangelnde Kooperation innerhalb
der ambulanten Versorgung nach wie vor zahlreiche
unnötige Doppel- und Mehrfachuntersuchungen hervor-
bringen?
Haben wir nicht Vergütungssysteme, die das Handeln
der Ärzte und der anderen Leistungserbringer in eine
medizinisch unbegründete Mengenausweitung drängen?
Budgets sind deshalb für eine Übergangszeit, zum
Beispiel um notwendige Strukturreformen durchzuset-
zen, durchaus ein berechtigtes Instrument. Das entschei-
dende Manko ist für uns nicht, dass die Bundesregierung
zum Mittel der Budgetierung gegriffen hat. Nach unserer
Auffassung besteht ihr grundlegender Fehler in der völ-
lig unrealistischen Bemessung des Budgets. Denn, meine
Damen und Herren von der Koalition, Ausgabenbegren-
zungen, die sich lediglich an der Entwicklung der Grund-
lohnsumme orientieren, überziehen den Wachstumssek-
tor Gesundheitswesen quasi über Nacht mit einem
Sparkurs, den er in dieser Härte nicht verkraften kann. Es
ist nun einmal so: Der Druck des knappen Geldes führt
nicht nur zu mehr Rationalität in der Versorgung, sondern
auch zu neuen Fehlentwicklungen und Verschwendun-
gen.
Meine Damen und Herren, natürlich dürfen die
Beiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung
nicht unkontrolliert in die Höhe schießen; auch diese
Ansicht teilen wir. Wer aber sinkende Lohnnebenkosten
zum Dogma macht und Beitragssatzstabilität um jeden
Preis will, der hat nur wenige Möglichkeiten: Entweder
muss er zusätzliche Mittel aus den Taschen der Patien-
ten und Versicherten holen, was bis heute der Kurs von
CDU/CSU und F.D.P. ist, oder er bringt die Leistungser-
bringer im Gesundheitswesen gegenüber ihren Patienten
in eine unzumutbare Situation. Wenn er das tut, dann
muss er in Kauf nehmen, dass sich in der Bevölkerung
das Gefühl verbreitet – das erleben Sie bereits –, dass die
gesundheitliche Versorgung immer schlechter wird. Auf
Letzteres bezogen: Genau an dem Punkt ist die Koalition
angekommen. Das Arznei- und Heilmittelbudget ist
dafür das deutlichste Beispiel.
Ein weiteres Lehrstück dafür, wie man mit Budgets
nicht umgehen darf, ist die gesetzliche Begrenzung der
Ausgaben für die Psychotherapie seit 1999.
Nach In-Kraft-Treten des Psychotherapeutengesetzes war
die zu erwartende Versorgungsentwicklung für nieman-
den von uns ohne weiteres vorauszusehen. Darum wurden
in das Gesetz sowohl Obergrenzen als auch eine
Auffangregelung eingebaut.
Obwohl durch das GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz die
Mittel richtigerweise aufgestockt wurden, zeigte sich spä-
testens im dritten Quartal 1999, dass das Budget in vielen
Regionen dennoch zu knapp bemessen war. Besonders in
den ostdeutschen Ländern kam es zu rapidem Punktwert-
verfall und zu massiver Existenzgefährdung der ohnehin
nicht ausreichenden Zahl von Praxen.
In dieser Situation hätte das Bundesministerium für
Gesundheit offensiv eingreifen müssen.
Das Gegenteil war aber der Fall: Erst nach langer Un-
gewissheit und langer unzumutbarer Verunsicherung der
Psychotherapeuten und ihrer Patienten kam es durch
Schiedsamtentscheidung zur Aufstockung der Mittel.
Nichts anderes wollten wir mit unserem Antrag erreichen.
Dem Gesetzentwurf der F.D.P. können wir in seinen
Grundintentionen durchaus folgen. Aber angesichts der
massiven Selbstbeteiligung, die er psychisch Kranken
auferlegen will, können wir ihm nicht zustimmen.
Ab diesem Jahr ist die Honorierung der Psychothera-
peuten Teil der vertragsärztlichen Gesamtvergütung. Sie
ist dem Facharzttopf zugeordnet, der nach der Trennung
der Fachärzte von den Hausärzten ohnehin knapper
bemessen ist. Der Bedarf an Mitteln für psychotherapeu-
tische Leistungen wird objektiv aber weiter zunehmen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Dr. Ruth Fuchs
13630
Damit ist für die Zukunft nach wie vor keine tragfähige
Lösung gefunden. Neu ist nur, dass jetzt auch die
Fachärzte auf die Barrikaden gehen. So verprellt man
ganze Berufsstände. In der Bevölkerung steigt der Unmut
über die Gesundheitspolitik weiter.
Meine Damen und Herren von der Koalition, das Bei-
spiel der Psychotherapie bestätigt: Nicht die Budgetie-
rung an sich, sondern die Art und Weise ihrer Umset-
zung erweist sich als das schwächste Glied Ihrer
Gesundheitspolitik. So kann es nicht verwundern, wenn
die Kollegen von der rechten Seite des Hauses geradezu
unermüdlich bestrebt sind, in dieser Wunde zu rühren.
Den Stoff dafür liefern Sie mit Ihrer Politik immer wie-
der selbst.
Der Antrag, den die CDU/CSU heute zur Debatte
stellt, zeigt allerdings keinerlei ernsthafte Alternativen;
auch das muss deutlich gesagt werden. Eine Abschaffung
der Budgets und ihr Ersatz durch Regelungen, die für
sich allein genommen weder zu Qualitätsverbesserungen
noch zu wirksamer Eindämmung der Mengendynamik
führen, sind kein zweckdienlicher Vorschlag. Ohne echte
Strukturveränderungen führt dies lediglich zur Fortset-
zung unrationeller oder gar verschwenderischer Ausga-
ben. Wie man weiß – das kann man nicht nur in den Me-
dien lesen –, wollen CDU und CSU darauf mit Regel-
und Wahlleistungen antworten.
Liebe Kollegin Bergmann-Pohl, Ihre Kritik an der Po-
litik dieser Regierung habe ich vernommen. Ich sage Ih-
nen aber klar und deutlich: In Sachen Gesundheitspolitik
sind Ihre Vorschläge nicht mit neuen Ideen bestückt,
vor allem nicht mit neuen Ideen für ein soziales Gesund-
heitssystem der Zukunft. Wir werden also Ihrem Antrag
nicht zustimmen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die SPD-
Fraktion spricht nun der Kollege Horst Schmidbauer,
Nürnberg.
Herr Präsi-
dent! Meine Damen und Herren! Ich möchte drei Vorbe-
merkungen machen.
Erste Vorbemerkung. Ich verspreche dem Parlament
ein interessantes Frühjahr 2001. Dann wird das Gutach-
ten des Sachverständigenrates vorgelegt. Im nächsten
Jahr werden wir nicht mehr über Annahmen und
Baucheindrücke reden, sondern über Fakten: Wo gibt es
in Deutschland Überversorgung? Wo gibt es in Deutsch-
land Fehlversorgung? Aber auch: Wo gibt es in Deutsch-
land Unterversorgung?
Dann werden wir endlich belegen können, was Professor
Wille vom Sachverständigenrat sagt: Wir in Deutschland
zahlen einen Fünfhunderter und bekommen nur einen
Zweihunderter als Gegenleistung. Das heißt, wir geben
auf der einen Seite so viel Geld für Gesundheit aus wie
kein anderes Land in Europa und bekommen dafür auf der
anderen Seite nur mittelmäßige Leistungen. Ich denke,
das wird ein spannendes Frühjahr 2001 werden.
Das Zweite: Ich frage mich immer wieder, ob man auf
Konflikt oder auf Lösungen aus ist. Ich habe mit der Kas-
senärztlichen Vereinigung in meinem Wahlkreis ein
Agreement getroffen: Wenn eine Bürgerin oder ein Bür-
ger sich schriftlich an mich wendet oder zu mir ins Bür-
gerbüro kommt, dann gebe ich diesen Vorgang mit Ross
und Reiter an die Kassenärztliche Vereinigung weiter.
Und siehe da: Innerhalb weniger Tage ist das Problem be-
reinigt. Ich habe umgekehrt der Kassenärztlichen Verei-
nigung versprochen, mit keinem dieser Fälle in die Öf-
fentlichkeit zu gehen. Ich habe bisher dieses Abkommen
einhalten können, sodass wir in meinem Wahlkreis kon-
fliktfrei leben können und es dort keine Bürgerinnen und
Bürger gibt, die ein Problem haben, das nicht post-
wendend beseitigt wird.
Wenn man will, kann man das sehr wohl machen. Wenn
man natürlich auf Konflikt aus ist, kann man das auch an-
ders betreiben und den Konflikt letztendlich auf dem
Rücken des Patienten austragen.
Die dritte Vorbemerkung bezieht sich auf die Selbst-
hilfegruppen. Ich muss deutlich sagen: Uns kommt es auf
die Legitimation der Selbsthilfegruppen an. Es ist natür-
lich ein Unterschied, ob eine Gruppe gesponsert wird und
300 Mitglieder hat oder ob in ihr wie im Deutschen Dia-
betiker-Bund 15 000 Betroffene organisiert sind. Gruppen
wie den Deutschen Diabetiker-Bund wollen wir einladen
und anhören; ihre Meinung muss zum Durchbruch kom-
men. Sie haben eine Legitimation, und das ist der ent-
scheidende Punkt, auf den wir achten müssen.
Ich will nun zu meinem Hauptanliegen kommen. Was
die Psychotherapie angeht, haben wir in Deutschland
eine schwierige Geburt hinter uns. Es steht außer Zweifel,
dass die Psychotherapie auch nach dieser schwierigen Ge-
burt noch unsere Hilfe braucht. Aber die Freude über die
Geburt der Psychotherapie als Regelleistung überwiegt
eindeutig. Diese Freude lässt sich auch begründen. Was
wir nacharbeiten müssen, hängt mit den Nachwehen die-
ses wirklich großen Geburtsvorgangs zusammen.
Wir wollen uns einmal erinnern: Keine Patientin, kein
Patient muss mehr sieben Jahre durch das System irren, bis
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Dr. Ruth Fuchs
13631
sie oder er an die richtige psychotherapeutische Versorgung
gelangt. Das war der Ausgangspunkt. Das Gutachten hat
dazu geführt, dass wir im Parlament gemeinsam gesagt ha-
ben, dass wir Psychotherapie als Regelversorgung brau-
chen. Ich denke, wir haben ein hohes Leistungsniveau er-
reicht. Dieses hohe Leistungsniveau verdanken wir
engagierten Menschen, die diese Leistungen innerhalb der
gesetzlichen Krankenversicherung als Regelleistungen an-
bieten.
Man muss sich einmal die Zahlen anschauen. Wir sind
mit Zahlen in Deutschland nicht gut ausgestattet. Ich habe
lange telefonieren müssen, bis ich von wenigen Kas-
senärztlichen Vereinigungen konkrete Zahlen bekommen
habe. Ich will einmal das Beispiel der Kassenärztlichen
Vereinigung Nordrhein nehmen. Da ist im ersten Quartal
2000 verglichen mit dem ersten Quartal des Jahres 1999
der anerkannte Leistungsbedarf je nicht ärztlichem The-
rapeuten um gut 20 Prozent gestiegen. Das Honorarvolu-
men dieser Gruppe ist in dieser KV im Vergleich zum Vor-
jahr um 20 Millionen DM gestiegen. An diesem Ergebnis
kann man erkennen, dass wir einen Durchbruch erreicht
haben, und zwar deshalb, weil wir in unserem Gesund-
heitsreformgesetz in § 85 Abs. 4 Satz 4 Folgendes veran-
kert haben:
Im Verteilungsmaßstab sind Regelungen zur Vergü-
tung der Leistungen der Psychotherapeuten und der
ausschließlich psychotherapeutisch tätigen Ärzte zu
treffen, die eine angemessene Höhe der Vergütung je
Zeiteinheit gewährleisten.
Das hat zu einer Veränderung geführt, und zwar in diesem
KV-Bereich dazu, dass jetzt der Mindestpunktwert bei
7,7 Pfennig liegt, sich also gegenüber dem Vorjahr ver-
doppelt hat. Das heißt, unser Ansatz im Reformgesetz
2000 hat Wirkung gezeigt und zu dem Ergebnis geführt,
das wir den Menschen versprochen haben.
Trotz der gestiegenen Zahl an psychotherapeutischen
Leistungen, die im Bezirk dieser Kassenärztlichen Verei-
nigung angeboten werden – im zweiten Quartal 1999 wa-
ren dort 1 093 nicht ärztliche Psychotherapeuten nieder-
gelassen, im zweiten Quartal des Jahres 2000 sind es
1 776; dies ist also eine Steigerung um 62,5 Prozent in ei-
nem Bezirk –, kam es zu einer Verdoppelung des garan-
tierten Punktwertes. Ich denke, das ist eine Leistung, die
sich sehen lassen kann und auf die wir stolz sein können.
Dem entspricht eine Steigerung im Leistungsniveau: Es
wurden im ersten Quartal 2000 durch die nicht ärztlichen
Psychotherapeuten 95,9 Prozent mehr psychotherapeu-
tische Leistungen abgerechnet als im gleichen Vorjahres-
quartal.
Das Entscheidende dabei ist: Es ist nicht zulasten der
Psychotherapeuten gegangen – das behaupten Sie ja im-
mer –, dass wir auf diesem Gebiet eine vollwertige, erst-
klassige Versorgung gewährleistet haben. Auch der Pro-
Kopf-Umsatz – denn es werden ja auch immer Fragen
nach dem Einkommen gestellt – ist bei den Psychothera-
peuten um 30 Prozent gestiegen. Dieser Trend bestätigt
unsere Annahmen, dass wir auf dem richtigen Weg sind
und dass der Lösungsansatz der F.D.P. ins Leere gehen
muss. Man hat den Eindruck, als ob er nur darauf angelegt
wäre, Stimmenfang bei den Psychotherapeuten zu ma-
chen.
Aber der Patient, um den es eigentlich geht, kommt in
Ihrem Antrag, Herr Kollege Thomae, nicht vor. Er müsste
doch eigentlich im Mittelpunkt des Ganzen stehen.
– Ich habe ihn sehr ausführlich gelesen, nicht nur einmal,
sondern mehrmals. Das Wort „Patient“ habe ich nicht ge-
funden.
Das Schlimmste aber ist, dass Sie mit Ihrem Aktionismus
darüber hinwegtäuschen, dass Sie die Psychotherapeuten
in Zukunft anders behandeln wollen, nämlich zweitklas-
sig. Es ist klar, wie Ihre Perspektive aussieht – daran er-
kennt man Ihre Doppelbödigkeit –: Psychotherapie soll
nur noch von denjenigen Menschen in Anspruch genom-
men werden können, die das für das Bezahlen einer Wahl-
leistung erforderliche Geld haben oder die sich neben
ihrem Krankenkassenbeitrag eine Privatversicherung für
Wahlleistungen leisten können.
– In Ihrer Programmatik, die Sie vor zwei Monaten ver-
öffentlicht haben, steht eindeutig, dass Sie für Grund- und
Wahlleistungen eintreten.
– Sie müssten dann sagen, was eine Wahlleistung ist. Sie
müssten also sagen, dass die Psychotherapie keine Wahl-
leistung sein wird. Zudem müssten Sie zu erkennen ge-
ben, woher Sie die dafür notwendigen Milliardenbeträge
nehmen wollen, und der Öffentlichkeit endlich einmal sa-
gen, was Sie machen wollen.
Solange Sie das nicht tun, bleibe ich bei meiner Behaup-
tung. Auch haben Sie Professor Schwartz nicht wider-
sprochen, der den Umfang der Wahlleistung einmal aus-
führlich aufgezeigt hat, den Sie letztlich ausgrenzen
wollen. Nicht ich muss belegen, sondern Sie müssen be-
legen, wie Sie vorgehen wollen, wenn Sie die Psychothe-
rapie in Zukunft nicht aus dem Bereich der Grundleistun-
gen herausnehmen wollen.
Denn es ist völlig klar: Wer die GKV in Grund- und
Wahlleistungen spaltet, spaltet auch die ganzheitliche
Versorgung.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Horst Schmidbauer
13632
Wir haben nicht umsonst die ganzen Jahre für eine ganz-
heitliche Versorgung gekämpft, dafür, dass Psyche und
Körper, psychisch und somatisch, zu einer Einheit ge-
hören und nicht auseinander dividiert werden können.
Wer die Psychotherapie in ein Zweiklassensystem zwingt,
der treibt ein doppelbödiges Spiel auf dem Rücken der Pa-
tienten.
Ich denke, das ist Ihre Absicht. Ihr Antrag zielt auf Ab-
zockerei, in Ihren Zielvorstellungen steht „Spaltung“. Sie
müssen sagen, wo Sie hinwollen.
Es kann nicht angehen, dass das ausgerechnet auf dem
Rücken der Menschen, die sich nicht wehren können, die
nicht auf die Straße gehen können, ausgetragen wird. Das
haben diese Menschen nicht verdient.
Ich darf Ihnen sagen: Mit uns wird es weder in der Ge-
genwart noch in der Zukunft eine solche Lösung geben.
Im Gegenteil: Wir werden vor der Bundestagswahl so
deutlich machen, was Sie mit Ihrem Zwiebelmodell vor-
haben, dass es den Menschen die Tränen in die Augen
treibt.
Lassen Sie mich zu dem Geburtsvorgang zurückkom-
men. Ich glaube, wir müssen der Psychotherapie helfen.
Dabei steht die Frage der Integration im Vordergrund. In-
tegration bedeutet – wenn die Begriffsdefinition im „Du-
den“ stimmt – gleichberechtigte Teilhabe und gleichbe-
rechtigte Mitbestimmung. Allerdings muss man bei
diesem Begriffsverständnis sagen, dass wir von der Inte-
gration in der Psychotherapie noch weit entfernt sind.
Deswegen kann man verstehen, dass viele im Bereich der
Psychotherapie heute unserem Sektionsmodell nachtrau-
ern,
weil sie nach diesem Sektionsmodell die Chancen bekom-
men hätten, im Bereich der Versorgung von vornherein
gleichberechtigt beteiligt zu sein: eigenes Verhandlungs-
mandat, eigener Sitz im Vorstand der Kassenärztlichen Ver-
einigung, eigener Budgetrahmen. Das hätte vieles bei die-
ser schwierigen Geburt erleichtert. Für uns ist es heute und
morgen eine Verpflichtung, in dieser Frage weiterzuarbei-
ten.
Es ist wichtig, Eingliederung und nicht Unterordnung
als Ziel zu haben. Deswegen müssen wir an die Kas-
senärztliche Vereinigung appellieren, diesen Integrations-
ansatz, den sie selbst gewollt hat, den sie selbst gefördert
hat und den sie selbst herbeigeführt hat, aktiv zu unter-
stützen, sodass er entsprechend gestaltet wird.
Leider ist das im Moment nicht so. Man hört zum Bei-
spiel, dass die Kassenärztliche Vereinigung einen neuen
EBM vorlegt, bei dem Psychologen von Leistungen aus-,
Ärzte aber eingeschlossen sind. Das trägt, denke ich, nicht
dazu bei, Vertrauen in eine Integrationslösung zu setzen,
sondern schürt Misstrauen.
Wir müssen dafür sorgen, dass auf diesem Gebiet nach-
gebessert wird. Wir sind auf dem richtigen Weg.
Herr Kol-
lege Schmidbauer, gestatten Sie, auch wenn Ihre Redezeit
bereits abgelaufen ist, eine Zwischenfrage?
Ja, gerne.
Dann haben
Sie die Chance, weitere Ausführungen zu machen.
Herr Schmidbauer, Sie haben
vorhin gesagt, dass es Auffassung Ihrer Partei sei, dass es
bei dem bisherigen Leistungskatalog der gesetzlichen
Krankenversicherung bleiben müsse. Ich darf Sie fragen,
was Sie dazu sagen, dass die für diesen Bereich bei Ihnen
zuständige stellvertretende Fraktionsvorsitzende, Frau
Schaich-Walch, –
Das habe ich
mir gedacht.
– in Bad Nauheim gesagt hat,
nach ihrer Auffassung muss ein Paradigmenwechsel in
der SPD stattfinden.
Sie hat gesagt, man müsse weg von einem „Rundum-Ver-
sorgungspaket“ in der GKV und es müsse zunächst eine
Grundversorgung durch die gesetzliche Krankenver-
sicherung definiert werden.
Alles andere sei privat zu finanzieren. Was sagen Sie zur
Meinung Ihrer stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden?
Ich kann es
Ihnen schlecht sagen. Ich habe nicht die Möglichkeit
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Horst Schmidbauer
13633
gehabt, mit ihr darüber zu sprechen, weil sie zurzeit krank
ist.
– Langsam, ganz in Ruhe! Ich habe aber die Möglichkeit
gehabt, ihre Rede nachzulesen. Ich kann aus dieser Rede
nicht die Zuspitzung herauslesen, die in der Öffentlichkeit
verbreitet wurde. Herr Kollege Fink, ich werde meine
Kollegin bitten, dass Sie diese Rede ebenfalls bekommen,
damit wir im Parlament nicht über Interpretationspro-
bleme streiten müssen.
– Es ist doch ganz einfach: Sie lesen es nach und schauen
es sich an.
Grundsätzlich darf ich sagen: Bei uns gibt es in die-
ser Richtung weder Beschlüsse in der Fachgruppe oder
in der Fraktion noch Überlegungen in der Gesamtpartei.
Wir haben unsere Position und haben dafür gute Gründe.
Ich habe immer noch den Eindruck, dass Sie – unter Ab-
zocken der Patienten und der Versicherten – nach mehr
Geld im System rufen, weil Sie nicht bereit sind, die
Hausaufgaben zu machen. Hausaufgabe ist,
dicke Bretter zu bohren. Wenn wir in Deutschland Geld
nicht richtig eingesetzt haben, müssen wir in erster Linie
dafür sorgen,
dass das Geld der Versicherten zielorientiert, erfolgsori-
entiert und qualitätsgesichert bei den Patientinnen und Pa-
tienten landet. Um diese Aufgabe kann sich in Deutsch-
land meines Erachtens niemand drücken.
Vielen Dank.
Für die
Fraktion der CDU/CSU spricht der Kollege Wolfgang
Zöller.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich will versuchen, auf das
Thema zurückzukommen. Zuerst einmal muss die Fest-
stellung getroffen werden: Die Abschaffung von sektora-
len Budgets ist ein Gebot der Vernunft.
Wie widersinnig Ihre sektoralen Budgets sind, kann man
an der Trennung der Budgets für den Zahnerhalt und den
Zahnersatz sehr deutlich machen. Wenn gegen Ende des
letzten Jahres ein Zahnarzt sein Budget für den Zahnerhalt
erschöpft, für den Zahnersatz aber noch Luft hatte, gab es
folgende Situation. Der Patient kam und der Zahnarzt
musste ihm sagen: Ich könnte Ihren Zahn zwar erhalten,
wenn Sie entweder selber zahlen oder wenn ich es als
Zahnarzt bezahle. Wenn ich Ihnen den Zahn aber ziehe,
bezahlt das wieder die Kasse.
Das ist die Logik einer sektoralen Budgetierung laut Rot-
Grün.
– Sie haben Recht: Ihr Gesetz ist Unsinn.
Sie haben gerade wieder vom Abzocken gesprochen
und damit unsere sozialverträgliche Zuzahlung gemeint.
Ich darf Ihnen folgende Zahlen nennen: Bei uns war im
Gesetz vorgesehen, dass eine Rentnerin mit einer Rente
bis zu 1 792 DM von der Zuzahlung befreit war. Ein Rent-
nerehepaar war von der Zuzahlung befreit, wenn sein Ein-
kommen 2 664 DM nicht überschritt. Eine Familie mit
zwei Kindern war bis zu einem Einkommen in Höhe von
3 360 DM befreit. Das war unsere Sozialklausel.
Die Menschen, die mehr verdient haben, mussten zuzah-
len.
Was haben Sie gemacht? Sie haben die Zuzahlungen
für die Besserverdienenden um 1 DM reduziert und die
Menschen, die ein niedriges Einkommen beziehen, müs-
sen jetzt viele Medikamente voll bezahlen. Das nennen
Sie sozial gerecht. Sie haben die Besserverdienenden be-
vorzugt und die Menschen mit geringeren Einkommen
müssen die Rechnung jetzt bezahlen.
Ich komme zum nächsten Thema: Aufhebung der Kol-
lektivhaftung der Ärzte bei Überschreitung des Arznei-
und Heilmittelbudgets.
Herr Kol-
lege Zöller, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Schmidbauer?
Selbstverständlich.
Kollege
Zöller, wie erklären Sie sich, dass im Rahmen der Zuzah-
lung 2,2 Milliarden DM seit dem Zeitpunkt der Über-
nahme der Verantwortung durch diese Koalition an die
Bürgerinnen und Bürger zurückgeflossen sind, wenn Ihr
Modell stimmen würde? Sie haben dabei übersehen, dass
wir eine Chronikerregelung eingeführt haben. Diese Chro-
nikerregelung hat zu diesem Ergebnis geführt. Wie erklä-
ren Sie sich das?
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Horst Schmidbauer
13634
Zunächst zu Ihrer
Chronikerregelung, bei der Sie Folgendes gemacht ha-
ben: Sie haben die Familien schlechter gestellt als wir.
Wir hatten in unserer Chronikerregelung Folgendes vor-
gesehen: Wenn in einer Familie einer chronisch krank
war, war die Zuzahlung für die ganze Familie auf 1 Pro-
zent begrenzt. Sie haben in Ihrer Chronikerregelung ein-
geführt, dass der chronisch kranke Versicherte befreit
wird, die Familie dafür aber 2 Prozent zahlen muss. Ob
das ein Vorteil für chronisch Kranke in einer Familie ist,
muss mir jemand erklären, der mit Adam Riese etwas we-
niger zu tun hat als ich.
Ich möchte jetzt auf die Aufhebung der Kollektivhaf-
tung bei Überschreitung des Arzneimittelbudgets zu
sprechen kommen. Im Protokoll des Petitionsausschusses
steht Folgendes: Bei der Festlegung wird darauf geachtet,
dass die notwendige Versorgung aller Versicherten mit
Arznei- und Heilmitteln gewährleistet ist. Meine sehr ge-
ehrten Damen und Herren, wenn Sie immer noch der glei-
chen Auffassung sind, befürchte ich ganz ernsthaft, dass
Sie Wahrnehmungsstörungen haben. Oder Sie ignorieren
einfach die vielen Eingaben von Patienten und ganz be-
sonders die von chronisch kranken.
Ich schließe mich der Einschätzung der Pflegever-
bände an, die sagen: Die Richtlinien haben deutlich ge-
zeigt, wohin es führt, wenn allein die Budgets der Ärzte
und die Etats der Krankenkasse die Richtschnur für die
häusliche Krankenpflege sind; so darf es in Zukunft nicht
weitergehen. Die Deutsche Rheuma-Liga berichtet, dass
die Budgets zu erheblichen Problemen führen und das
Arzt-Patienten-Verhältnis unter den ständigen Bud-
getdiskussionen leidet. Was an Medikamenten gespart
werde, führe in der Regel zu stärkerer Unbeweglichkeit
der Patienten und größeren Schmerzen und durch Kran-
kenhauseinweisungen zu höheren Folgekosten. Diese
Aussagen sprechen für sich.
Herr Kol-
lege, es wird eine weitere Zwischenfrage vom Kollegen
Kirschner gewünscht.
Gerne.
Herr Kollege Zöller, wenn
ich mir die Arzneimittelausgaben pro Versicherten der
einzelnen KVen für 1999 anschaue, stelle ich fest: Süd-
Württemberg 432 DM, Nord-Württemberg 433 DM
– Sie müssen schon zuhören –,
Bitte fahren
Sie fort.
– Süd-Baden 437 DM, Bay-
ern 475 DM. An der Spitze – ich nehme bewusst Flächen-
länder – steht das Saarland. Sind Sie der Auffassung, dass
die Versicherten und damit die Patientinnen und Patienten
beispielsweise in drei von vier KVen in Baden-Württem-
berg, die ich genannt habe, nicht ordentlich im Sinne ei-
ner strengen medizinischen Qualitätssicherung versorgt
werden? Hängt das nicht vielmehr damit zusammen, dass
dort vor allen Dingen eine rationelle Arzneimitteltherapie
durchgeführt wird, was bei anderen KVen teilweise nicht
der Fall ist?
Herr Kirschner, ich
bin Ihnen für diese Frage sehr dankbar,
damit man mit diesem Märchen endlich einmal aufräu-
men kann.
Lesen Sie einmal das Protokoll unserer Anhörung. Ich
empfehle Seite 11. Dort steht zum Beispiel, dass die Arz-
neimittelausgaben in Baden-Württemberg – dies passt ja
zu dem von Ihnen gerade genannten Beispiel – 340 DM,
im Stadtstaat Hamburg im Vergleich dazu 570 DM betru-
gen. Jetzt muss man diese Zahlen nur richtig werten.
Diese unterschiedlichen Ausgaben im Kassenbereich lie-
gen darin begründet, dass viele Versicherte von außerhalb
zur Behandlung nach Hamburg kommen.
Sie vergleichen die Ausgaben pro Versicherten.
Sie dürfen aber nicht die Ausgaben pro Versicherten, son-
dern müssen die pro Behandlungsfall vergleichen.
– Entschuldigung. Wenn Sie es auf den Behandlungsfall
umrechnen, kommen Sie zu dem Ergebnis, dass die Aus-
gabenschwankungsbreite nicht bei 36 Prozent, sondern
bei 1,9 Prozent liegt. Sie wollen mit Ihren Beispielen im-
mer wieder suggerieren, es gäbe im Arzneimittelbereich
Einsparmöglichkeiten von mehr als 30 Prozent.
Diese Zahlen belegen genau das Gegenteil.
Sie sagen, Sie wollen beim Vergleich der KVen nur
Flächenstaaten und keine Stadtstaaten nehmen. Es ist
doch interessant zu wissen, ob eine KV zum Beispiel
Krebspatienten in einer Klinik behandeln lässt, wodurch
die Arzneimittelkosten in der Klinik anfallen und das
Budget nicht belasten, oder ob sie – wie dies viele KVen
machen – Krebspatienten ambulant behandeln lässt. Dann
fallen sofort die Kosten für die Medizin für die Krebspa-
tienten unter das Budget. Man muss die Zahlen daher se-
riöser hinterfragen und nicht einfach eine Zahl nehmen,
ohne dass man die Ursachen dieser Unterschiede erklären
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000 13635
kann. Die Ursachen sind nicht medizinisch, sondern sta-
tistisch begründet.
Gestatten
Sie eine zweite Zwischenfrage? – Bitte.
Herr Kollege Zöller, ist Ih-
nen klar, dass ich bewusst nur Flächenstaaten genannt
habe, damit Vergleiche möglich sind? Ich habe keine
Stadtstaaten genannt. Unter diesen vier KVen, die ich ge-
nannt habe, war auch Süd-Württemberg. Ist Ihnen klar,
dass in diesen Zuständigkeitsbereich die Universitätskli-
nik Tübingen, die eine Spezialklinik für Krebspatienten
ist, fällt? Das Gleiche gilt für Nord-Württemberg mit dem
Raum Stuttgart oder für Süd-Baden mit Freiburg. Auch
im Saarland gibt es zwei Universitätskliniken. Ich habe
bewusst Äpfel mit Äpfeln und nicht – was Sie mir zu un-
terstellen versucht haben – Äpfel mit Birnen verglichen.
Darauf lege ich Wert. Ist Ihnen das klar, Herr Kollege
Zöller?
Dazu kann ich nur auf
das Protokoll der Anhörung verweisen. Darin ist genau Ihr
Fall geschildert. Sie haben unterschiedliche Zahlen ver-
glichen. Sie sprechen immer von Ausgaben pro Versi-
cherten und nicht von Ausgaben pro Behandlungsfall.
Man kann nur Gleiches mit Gleichem vergleichen. Sie
müssen die Kosten pro Behandlungsfall nehmen. Dann
werden Sie zu den gleichen Ergebnissen kommen wie ich
und wie ich es Ihnen am Beispiel von Hamburg aufgezeigt
habe.
Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen, der
auch im Protokoll festgehalten ist. Da heißt es, das Über-
schreiten des Budgets sei ursächlich im unwirtschaft-
lichen Verordnungsverhalten der Ärzte zu suchen; laut
Bundesministerium für Gesundheit vom 30. September
sei das Arzneimittelbudget um 3,5 Prozent gestiegen.
Bei dieser Zahl muss man ehrlicherweise fragen: Was ist
darin enthalten? Zum einen ist darin die um 1 Prozent er-
höhte Mehrwertsteuer enthalten, zum anderen die ver-
minderte Arzneimittelzuzahlung sowie die erweiterte Bei-
tragsbefreiung bzw. Zuzahlungsbefreiung. Außerdem
dürfen die Versäumnisse nicht vergessen werden, die Sie
bei der Umsetzung des Festbetragsneuregelungsgesetzes
und der Arzneimittelrichtlinien – Stichwort: Kompetenz
des Bundesausschusses – hatten. Wenn ich dies alles
berücksichtige, komme ich auf genau 5 Prozent.
Diese Komponenten sind aber nicht von Ärzten zu ver-
treten, das ist ureigenstes Verschulden dieser Regierung.
Wenn die Regierung schon für 5 Prozent Ausgabensteige-
rung sorgt, kann sie doch nicht die Ärzte in Haftung neh-
men, wenn sie 3,5 Prozent mehr ausgegeben haben. Die
haben gegenüber dem Vorjahr sogar noch eingespart.
Die Innovationskomponente von 3,5 bis 4 Prozent ist
darin noch nicht einmal enthalten. Sie müssen sich also
schon etwas seriöser mit Ihren Zahlen beschäftigen.
Jetzt kommt der Hammer. Ich finde es mehr als selt-
sam, wenn in der letzten Woche in der Zeitung zu lesen
war, diese Regelung sei ungerecht und trage nicht zu ei-
ner verantwortlichen Verschreibungspraxis bei. Deshalb
unterstütze die SPD den Kampf gegen den Kollektiv-
regress. Meine sehr geehrten Damen und Herren von der
SPD, Sie brauchen den Kampf gegen den Kollektiv-
regress nicht zu unterstützen, Sie müssen Ihr widersinni-
ges Gesetz nur rückgängig machen. Dann ist das Problem
schon gelöst. Es ist schon seltsam, dass man draußen vor
Ort sagt, die SPD unterstützt den Kampf gegen den Kol-
lektivregress,
und hier das entsprechende Gesetz beschließt. Sie müssen
schon wissen, was Sie wollen.
Sie haben natürlich auch ein Recht zu fragen, welche
Alternativen wir anbieten. Für uns gilt – das sage ich Ih-
nen klipp und klar – folgende Grundaussage: Wir wollen
keine Patientenversorgung nach Kassenlage. Wir wollen
eine bedarfsorientierte Versorgung.Wie kann man dies
steuern? Frau Kollegin Bundesministerin, ich versuche
zu erklären, wie man das zum Beispiel mit Richtgrößen
und Regelvolumina machen kann. Ich setze mich auch
gern einmal privat eine Stunde mit Ihnen zusammen, um
über dieses Thema zu reden. Das mache ich wirklich
gerne.
Die Kassenärztliche Vereinigung Nord-Württemberg
– Herr Kirschner, das ist gar nicht so weit von Ihnen ent-
fernt – führt in einem Schreiben Folgendes aus:
Die Gesundheitspolitiker der Regierungskoalition
und viele Vertreter der Krankenkassen werden nicht
müde zu erklären, dass die Ablösung der Budgetie-
rung der Arzneimittel durch Richtgrößen ein politi-
sches Scheingeschäft sei und es keine Alternative zur
Budgetierung gebe.
Dies ist aus unserer Sicht eindeutig falsch; denn jetzt
kommt es: Die Kassenärztliche Vereinigung Nord-Würt-
temberg hat mit der AOK Baden-Württemberg bereits
1997 und 1998 bundesweit richtungsweisende struktu-
rierte Verträge zu Regelleistungsvolumina, Richtgrößen
für Arzneimittel, für Heilmittel und Sonderbedarf für
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Wolfgang Zöller
13636
chronisch Kranke verhandelt. – Ich hoffe, dass Dieter
Thomae jetzt ruft: Können Sie das wiederholen?
Dieses Konzept intelligenter Richtgrößen im Bereich
der Arzneimittel und Heilmittel ist nach Meinung der
AOK Baden-Württemberg
und der Kassenärztlichen Vereinigung Nord-Württem-
berg die zukunftsweisende Lösungsmöglichkeit. Deshalb
sind 1998 entsprechende Verträge ausgehandelt worden.
Diese konnten allerdings wegen des Vorschaltgesetzes
von Rot-Grün nicht realisiert werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, hören
Sie auf Fachleute, stimmen Sie unserem Antrag zu!
Lassen Sie mich noch ein paar Sätze zu Ihrem Antrag
sagen, den Sie jetzt eingebracht haben, und zwar zur
größeren Verteilungsgerechtigkeit bei kassenärztli-
chen Honoraren. Dass hier Handlungsbedarf besteht, ist
zunächst, glaube ich, unumstritten. Wir sind auch der Auf-
fassung, dass dieses Thema okay ist. Aber nicht okay ist,
dass man hier jetzt wieder eine Flickschusterei betreibt.
Dabei stehen doch eine RSA-Reform und eine Organisa-
tionsreform der Krankenkasse an. Das Thema muss man
einbinden, aber Sie greifen wieder einen Punkt heraus.
Es ist übrigens auch sehr verdächtig, Frau Ministerin:
Die Fraktion fordert Sie auf, etwas zu tun.
Normalerweise könnten ja Regierung und Regierungsko-
alition ein bisschen besser zusammenarbeiten.
– Außer Ihnen ist wohl niemand davon überzeugt, Herr
Kollege Kirschner.
Lassen Sie mich noch eins zu Ihrem Hauptargument im
Zusammenhang mit der Budgetierung sagen. Sie haben
gesagt, dass wir Budgetierung bräuchten, damit die
Beiträge stabil bleiben. Wenn ich richtig informiert bin
– das bin ich öfter –, wird die AOK Bayern, eine der größ-
ten Kassen in Deutschland, im kommenden Jahr ihren
Beitragssatz von 13,7 Prozent auf 14,2 Prozent erhöhen.
Gute Nacht, Budgetierung!
Für die
Fraktion der SPD spricht nunmehr die Kollegin Helga
Kühn-Mengel.
Herr Präsident! Sehr
geehrte Damen und Herren! Ich kann es mir nicht ganz
verkneifen, Herr Kollege Zöller, Ihre Ausführungen in
Richtung der Bundesgesundheitsministerin als recht
überheblich und machomäßig zu bezeichnen.
Die Ministerin muss nicht verteidigt werden, aber mir ist
es ein Bedürfnis, das hier loszuwerden.
Es ist doch ganz einfach, zu sehen, welche Politik Sie
umsetzen. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt doch kon-
kret: Zuzahlungen und Belastungen chronisch Kranker.
Wir bleiben dabei: von 1998 auf 1999 mehr als 1 Milli-
arde DM Entlastung im Arzneimittelbereich.
Sie haben doch die Reha kaputtgemacht, Frau
Dr. Bergmann-Pohl.
Sie haben die Verschwendung nicht eingegrenzt.
Sie haben den Zahnersatz bei Jugendlichen gestrichen.
Ist das denn alles vergessen?
Die nach dem 1. Januar 1979 Geborenen sollten keinen
Zahnersatz mehr erhalten und diejenigen, die zuerst noch
fragten, was brauchen Jugendliche Zahnersatz, haben
dann hinterher gemerkt, dass die Regelung ein Leben lang
gelten sollte.
Sie haben doch die Präventionen kaputtgemacht.
– Sie haben den § 20 aus dem Sozialgesetzbuch V gestri-
chen.
– Aber natürlich. Wir haben ihn wieder aufgenommen. So
ist das.
Das Wort Selbsthilfe, Frau Dr. Bergmann-Pohl, kam
doch bei Ihnen überhaupt nicht vor.
Wir haben dieses Element eingeführt und pro Person
5 DM für die Prävention und 1 DM für die Stärkung der
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Wolfgang Zöller
13637
Selbsthilfe in das Sozialgesetzbuch geschrieben. Das sind
die Fakten.
Wir haben ein gutes Gesundheitssystem, weil es ein so-
lidarisches ist. Es gilt, die guten Seiten unseres Systems
auch zu bewahren. Fahren Sie nach Amerika und Sie se-
hen, wie es hier nicht sein sollte: 40 Millionen, die aus
dem System ständig ausgegrenzt sind, und noch viel
mehr, die es vorübergehend sind.
Gleichzeitig haben wir auch strukturelle Defizite
– auch das müssen wir ehrlicherweise immer sagen –, und
zwar im Bereich der Verordnung umstrittener Arzneimit-
tel. Wir haben eine zu hohe Arztdichte. Wir haben eine
mangelhafte Vernetzung zwischen dem ambulanten und
dem stationären Sektor. Wir haben im internationalen Ver-
gleich eine zu lange Verweildauer im Krankenhaus.
Wir hatten auch eine auf zu wenig Qualität, Effizienz und
Evidenz basierende Medizin.
Wir haben viele dieser Bereiche gestärkt und entspre-
chende Weichen gestellt. Wir haben den Hausarzt ge-
stärkt, die Vernetzung des stationären und des ambulanten
Bereichs verbessert und den Präventionsparagraphen wie-
der in das Sozialgesetzbuch aufgenommen. Wir haben
den Koordinierungsausschuss gegründet, der pro Jahr
chronische Krankheiten in der Behandlung und Therapie
definieren soll.
Was war Ihre Alternative zu unserem Gesundheits-
reformentwurf? Ein schlappes Papier, auf dem ein Ein-
trittsgeld sowie Zuzahlungen und Tagegeld im Kranken-
haus verzeichnet waren und nichts, was die strukturellen
Schwierigkeiten wirklich hätte beheben können.
Frau Kolle-
gin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Dr. Seifert?
Ja.
Frau Kollegin Kühn-Mengel,
Sie sind jetzt schon ein Stück weitergegangen. Ich möchte
auf § 20 SGB V zurückkommen, den Sie so hervorgeho-
ben haben und der theoretisch eigentlich sehr positiv ist.
Was tut Ihre Koalition, damit die Kassen die 1 DM für die
Selbsthilfe in Zukunft auch wirklich auszahlen? Wir be-
kommen doch von vielen Selbsthilfeorganisationen, Be-
troffeneninitiativen und Initiativen chronisch Kranker
Klagen darüber, dass die Kassen mauern
und das Geld nicht auszahlen, das für die Selbsthilfe drin-
gend gebraucht wird.
Ich würde nicht sagen,
dass die Kassen mauern.
Richtig ist, dass Kataloge der zu fördernden Maßnahmen
und Gruppen erstellt werden und dass es da auch Schwie-
rigkeiten bei der Definition von Prioriäten gibt. All das sei
zugestanden. Richtig ist daher auch, dass wir energisch
die Umsetzung dessen fordern müssen, was an guten Din-
gen von uns auf den Weg gebracht wurde.
Jetzt komme ich zu den Psychotherapeuten. Es ist
richtig: Im Jahr 1999 gab es einen bundesweiten Punkte-,
also Honorarverfall bei der Vergütung psychotherapeuti-
scher Leistungen, der Teile des Berufsstandes existenziell
bedroht hat und durch den Therapeuten in eine schwierige
wirtschaftliche Situation gekommen sind. Auch ist in
manchen Regionen die psychotherapeutische Versorgung
gefährdet gewesen. Es wurden nun von der PDS ein An-
trag und von der F.D.P. ein Gesetzentwurf vorgelegt.
Beide Vorlagen befassen sich mit der Situation der Vergü-
tung. Ihr Beitrag, sehr geehrte Damen und Herren von
F.D.P. und PDS, ist, wie ich meine, wenig originell. Der
ewige Budgetierungsvorwurf an die rot-grüne Regierung
hilft den Psychotherapeuten ebenso wenig wie der F.D.P.-
Vorschlag.
Die Situation hat sich doch deutlich entspannt; das wer-
den auch Sie zugeben.
Den F.D.P.-Vorschlag zur Gegenfinanzierung einer an-
gemessenen Vergütung, der darin besteht, die Patienten
und Patientinnen pro Therapiestunde mit einer Selbstbe-
teiligung zu belasten, können wir natürlich überhaupt
nicht billigen, haben wir doch die Zuzahlung abgeschafft
und wollen wir hier auch nicht wieder einen Graben zwi-
schen den somatisch und den psychisch Kranken auf-
reißen.
Gerechtigkeit ist offensichtlich ein Fremdwort für Sie.
Gestatten
Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Fuchs?
Bitte.
Bitte schön.
Liebe Kollegin, Ihre Kritik an
der Argumentation der F.D.P. zur Budgetierung halte ich
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Helga Kühn-Mengel
13638
für richtig. Aber haben Sie bei meinem Vortrag zugehört?
Ich habe nämlich die Art und Weise kritisiert, wie Sie das
Budget umsetzen, aber nicht prinzipiell gegen das Budget
gesprochen. Ich möchte nicht mit der F.D.P. in einen Topf
geworfen werden.
Ihr Vorschlag ist sicher-
lich differenzierter als der der F.D.P. Richtig ist aber auch,
dass sich durch unsere Maßnahmen – ich verweise auf
§ 85 des Solidaritätsstärkungsgesetzes, auf die Anhörung
zu diesem Thema, auf unsere Initiativen bei den Ländern
im Zusammenhang mit den Schiedsämtern usw. – und
nicht zuletzt durch neues Geld im System die Situation
deutlich entspannt hat.
Die Einführung einer Selbstbeteiligungspauschale ist
also deshalb keine Lösung, weil sie die psychisch Kran-
ken schlechter stellt als die somatisch Kranken und weil
es darüber hinaus nur der Anfang von Zuzahlung und Ein-
trittsgeldern bei allen Arztgruppen wäre. Beides, vor al-
lem die Benachteiligung psychisch Kranker, wollen wir
nicht.
Im Übrigen könnte die Selbstbeteiligung auch dazu
führen, dass es durch Fehlbehandlung oder Nichtbehand-
lung zu einer Chronifizierung der psychischen Störung
kommt. Dies ist schon wegen der gesellschaftlich zu tra-
genden Folgelasten abzulehnen.
Ich möchte noch einmal betonen, dass Psychotherapie
eine Krankheitsbehandlung ist, also eine Methode, die zur
Behandlung einer ganz bestimmten Krankheit gewählt
werden muss und nicht durch andere Behandlungsmetho-
den ersetzt werden kann.
Auch das zweite Standbein der F.D.P.-Gegenfinanzie-
rung bietet nicht viel Halt. Sie wollen die finanzielle Un-
terstützung von Patienten und Verbraucherorganisationen
durch die gesetzliche Krankenkasse rückgängig machen,
um mit den frei werdenden Mitteln die Psychotherapie zu
stärken. Glauben Sie ernsthaft, dass wir ein Gesetz, das
wir gerade auf den Weg gebracht haben und das ein rich-
tiges Instrument darstellt, jetzt wieder zurücknehmen
wollen? Patientenrechte zu stärken, den Patienten infor-
mierter und selbstbewusster zu machen ist doch ein ganz
wichtiger Baustein der erfolgreichen Gesundheitspolitik
von Rot-Grün.
Im Übrigen: Einführung von Selbstbeteiligungspau-
schalen, einseitige Belastung der Krankenkassen und Ab-
bau der Patientenrechte verdeutlichen, wie sich Liberale
ein Gesundheitssystem vorstellen.
Deswegen sind wir gegen Ihren Gesetzentwurf und wol-
len ihn verhindern.
Richtig ist, dass es bei der Umsetzung der Integration
der Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen in die
Kassenärztlichen Vereinigungen Schwierigkeiten gab. Es
zeichnet sich aber ab, dass diese Startschwierigkeiten bald
überwunden sein werden. Es ist eben so, dass dahinter
Verteilungskämpfe stecken. Wir müssen immer wieder
darauf hinweisen. Bei der Auseinandersetzung mit den
Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen geht es um
die Verteilung von Geldern. Das ist ein ganz wichtiger
Punkt.
Mit ihrem Entwurf möchte die F.D.P. die Punktwerte-
differenz für das Jahr 1999 so erhöhen, dass die Psycho-
therapeuten eine angemessene Vergütung erhalten. Das
sieht auf den ersten Blick verführerisch aus, bedeutet aber
nichts anderes, als dass das die Kassenärztlichen Vereini-
gungen auf Kosten der Krankenkassen, die dann die
Rechnungen begleichen müssten, aus ihren Verpflichtun-
gen entlassen würde. Deswegen lehnen wir auch das ab.
Wir verweisen darauf, dass der Honorartopf auf der
Grundlage von Art. 11 des Psychotherapeutengesetzes im
Jahr 2000 bereits mit rund 250 Millionen DM aufgefüllt
wurde. Das Nachschießen von Geld ist ohnehin nicht im-
mer das Mittel der Wahl, solange die Datenlage der Kas-
senärztlichen Vereinigungen gerade in diesem Bereich
nicht klar ist. Solange noch nicht feststeht, wo eigentlich
die für die Psychotherapeuten gedachten Mittel hinge-
flossen sind – auch diese Frage war Bestandteil der An-
hörung –, so lange müssen wir uns mit diesem System be-
fassen, eine bessere Transparenz der Daten einfordern und
werden uns davor hüten, in dieses System Geld nachzu-
schießen. Bisher ist nicht klar, in welche Kanäle das Geld
versickert.
– Das haben Leute aus dem Kassenbereich gesagt. Es geht
dabei um eine Größenordnung von 300 Millionen DM.
Der Vergütungswert für das zweite Halbjahr 1999 ist
vor allem deshalb so dramatisch gesunken, weil das Ho-
norarvolumen von der Kassenärztlichen Bundesvereini-
gung zum Teil gesenkt worden ist. Auch das muss Er-
wähnung finden und muss auch in den Gesprächen mit
den Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen immer
wieder Erwähnung finden. Es haben Verteilungskämpfe
zulasten der Psychotherapeuten stattgefunden. Eine wahl-
lose Nachbesserung des Budgets ist unsinnig, solange
nicht gesichert ist, dass das Geld bei denen ankommt, die
es verdienen.
Wir haben es auch mit einem Problem der Selbstver-
waltung zu tun und nicht unbedingt mit einer unzurei-
chenden Gesetzeslage. Mir ist wichtig das zu sagen. Die
Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen haben es
mit einem sehr interessenorientierten System zu tun, in
das sie nun hineinwachsen. In diesem Zusammenhang be-
darf es einer politischen Begleitung, um sie bei diesem
Hineinwachsen zu unterstützen. Wir werden es jedenfalls
nicht zulassen, dass die Lasten allein von den gesetzlichen
Krankenkassen getragen werden. Das ist mit einer SPD-
Mehrheit im Parlament nicht zu machen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Dr. Ruth Fuchs
13639
Wir von der rot-grünen Koalition – ich habe es bereits
erwähnt – haben gehandelt: Gesundheitsreform 2000 und
§ 85 Abs. 4 SGB V, durch den wir die Kassenärztlichen
Vereinigungen verpflichtet haben, im Verteilungsmaßstab
Regelungen zur Vergütung der Leistungen der Psychothe-
rapeuten zu finden. Das war ein ganz wichtiger Schritt,
denn damit wollten wir zum Ausdruck bringen, dass die
Psychotherapeuten bei einem drohenden Punktwertver-
fall ihre Leistungen – im Gegensatz zu anderen Arztgrup-
pen – nicht beliebig ausweiten können. Deswegen haben
wir hier eine Auffangregelung geschaffen, die sich als
Schutznorm bewährt hat.
Wir müssen gerade in diesem Bereich alle Beteiligten,
die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Krankenkas-
sen, in die Pflicht nehmen. Wir wollen eine solidarische
Krankenversicherung, eine Gleichstellung der seelisch
Kranken mit den körperlich Kranken und wollen nicht
nach dem F.D.P.-Motto verfahren: Wenn jeder an sich
denkt, ist an alle gedacht.
Als letztem
Redner in dieser Debatte gebe ich nunmehr dem Kollegen
Hans Georg Faust das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Solidaritäts-
stärkungsgesetz vom Januar 1999 hatte uns Frau Fischer
versprochen, dass die sektoralen Budgets nur noch ein
Jahr gelten sollen. Alle, die darauf vertraut hatten, wurden
bitter enttäuscht; denn der Entwurf des Gesundheits-
reformgesetzes 2000 enthielt neben dem Globalbudget
weiterhin die sektoralen Budgets als Sicherheitskonstruk-
tion. Das atemberaubende Globalbudget wurde heute
schon angesprochen. Am Ende haben alle kalte Füße be-
kommen,
unter anderem auch die Krankenkassen; denn sie haben
erkannt, dass sie das System nicht steuern können. Wenn
die meisten Dinge vertraglich und gesetzlich festgelegt
sind, dann verbleiben den Krankenkassen keine Steu-
erungsmöglichkeiten mehr. Da auch noch 15 Prozent für
eigene Kosten anfallen, können sie ein derartiges atembe-
raubendes Budget nicht steuern. Deswegen haben sich die
Krankenkassen sehr schnell von dieser Konstruktion
zurückgezogen. Da das Globalbudget nicht durchgesetzt
werden konnte, haben Sie Ihr Versprechen nicht eingelöst
bzw. Sie konnten es nicht einlösen. Die sektoralen Bud-
gets als Ausgabebudgets für die vertragsärztliche Ge-
samtvergütung, für die Arznei- und Heilmittelversorgung
und für die Krankenhäuser sind uneingeschränkt bestehen
geblieben.
Frau Ministerin, Sie haben gesagt, wir müssten uns Ge-
danken machen, wie das System zu steuern sei. Ich denke,
auch mit dem Gesundheitsreformgesetz 2000 wurde wie-
der suggeriert, dass ein Gesundheitswesen ohne Leis-
tungsbegrenzung finanzierbar ist. Aber im Mittelpunkt ei-
nes verantwortlichen Gesundheitswesens steht nicht die
Finanzierbarkeit aller Leistungen, sondern die therapeuti-
sche Beziehung zwischen Arzt und Patient.
So wie der Arzt – das steht in der ärztlichen Berufsord-
nung – sowohl die Gesundheit des einzelnen Menschen
als auch die der Bevölkerung im Blick haben muss, so ist
im Umkehrschluss auch die Politik verpflichtet, sich nicht
nur auf die strukturellen politischen Ebenen zurückzuzie-
hen, sondern auch den schutzbedürftigen therapeutischen
Kernbereich in der Arzt-Patienten-Beziehung zu berück-
sichtigen.
Während in der Vergangenheit die ärztliche Standes-
ethik stabile Wertegerüste in das Gesundheitswesen hi-
neingebracht hat, gibt es nun eine moderne Entwicklung,
die die Akzente in Richtung Ökonomie und – ich möchte
das nicht grundsätzlich kritisieren; aber man muss es se-
hen – hin zu anderen Therapeutengruppen, hin zu Patien-
teninteressenvertretern und hin zu den Krankenkassen
verschiebt. Dadurch ergibt sich ein vollkommen neues
Bild. Der Bedarf an medizinischen Leistungen ist nicht
definiert. Möglicherweise ist der konkrete Bedarf an me-
dizinischen Leistungen gar nicht sauber definierbar. Aber
die Sehnsucht nach einer Definition des Bedarfs an medi-
zinischen Leistungen wird immer größer.
Solange wir uns nicht darüber einig sind, welche Werte
Grundlage für die Steuerungsentscheidungen im Gesund-
heitswesen sein sollen und wer innerhalb des Gesund-
heitssystems entscheiden soll – der Arzt, die Politik oder
die Krankenkassen –, so lange dürfen wir uns nicht wun-
dern, dass Kostenstoppmechanismen wie Budgets kalt re-
geln, welcher Patient welches Medikament bekommt oder
nicht bekommt, welche Behandlung er erhält oder nicht
erhält und welches Schicksal er letztendlich dadurch er-
dulden muss.
Mit Blick auf das Wertegerüst der Ärzteschaft in der
Vergangenheit, das ich eben angesprochen habe, muss ich
feststellen, dass jetzt in dem neuen pluralen System nicht
einmal mehr die Rolle des Arztes eindeutig definiert ist,
jedenfalls seitdem der Gesetzgeber die Rollenzuweisung
vornimmt und zum Beispiel den Hausarzt als Lotsen de-
finiert und unterschiedliche Hausarzt- und Facharzttöpfe
schafft.
Die alte Devise „Wir müssen rationalisieren, damit wir
nicht rationieren müssen“ ist ein hohles Versprechen. Wir
müssen umbauen, damit wir möglichst wenig abbauen
müssen. Wir müssen festlegen, was uns wichtig und was
weniger wichtig ist. Wir müssen die Regeln für diesen
Umbau festlegen.
Frau Ministerin Fischer, das haben Sie nicht getan und
Sie wollen es in dieser Legislaturperiode auch nicht mehr
tun. Sie wollen keine weitere Reform auf den Weg brin-
gen. Damit liefert die rot-grüne Regierung das Gesund-
heitswesen, die Patienten und ihre Therapeuten der
kühlen Mathematik der Budgets aus.
Was ist das für ein System, in dem Ärzte aus Angst vor
Budgetüberschreitungen Alzheimerpatienten keine
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Helga Kühn-Mengel
13640
Cholinesterasehemmer, Schizophrenen keine innovativen
atypischen Neuroleptika, Asthmapatienten nicht ausrei-
chend inhalative Steroide und Multiple-Sklerose-Patien-
ten zu selten Beta-Interferon verordnen? Das alles ge-
schieht aus Angst vor dem doppelten Damoklesschwert
des Individual- und des Kollektivregresses.
In dieser Fachdiskussion ist über Richtgrößen – das
Ablösen bzw. Begleiten des Budgets – gesprochen wor-
den. Es muss doch klar sein, dass ein Arzt, der in einer
Richtgrößenprüfung – Richtgrößen sind zur Begrenzung
der Arzneimittelausgaben der Ärzte eingeführt worden –
keine Beanstandungen hat, aus dem System raus ist. Wie
will man einem Arzt, der diese Prüfung bestanden hat, im
Rahmen eines Kollektivregresses noch Geld wegneh-
men? Das ist verfassungswidrig und wird in keinem Fall
gelingen. Das wissen Sie.
Was ist das für ein System, das auf integrierte Versor-
gung und Beseitigung der Probleme im Bereich der Ver-
zahnung von ambulanter und stationärer Behandlung
setzt, aber Hausärzte von Patienten, die nach einer Kno-
chen -oder Weichteiloperation früh aus dem Krankenhaus
entlassen werden – das wollen wir doch alle – dadurch be-
straft, dass es die notwendigen blutverdünnenden Sprit-
zen zur Verhinderung von Thrombosen – immerhin rela-
tiv teuer – zulasten des Budgets des Hausarztes gehen
lässt? Dabei sollte doch Geld der Leistung folgen und die
Verweildauer in den Krankenhäusern verkürzt werden.
Wir haben es mit Systemfehlern Ihrer auf die Schaffung
von Budgets ausgerichteten Gesundheitspolitik zu tun.
Was ist das für ein System, das es zulässt, dass im Arzt-
brief der entlassenen Krankenhauspatienten die Verord-
nung teurer Medikamente angeraten wird – das passiert
tagtäglich; ich weiß das aus meinem eigenen Bereich –,
wenn sich der Hausarzt dann in langen Gesprächen mit
den Patienten dahin gehend auseinander setzen muss,
warum stattdessen auf ein preiswerteres Medikament
– das wollen Sie, das wollen wir alle – umgestellt werden
soll? Wenn man versucht, dieses Ziel mit Budgetmaßnah-
men zu erzwingen, dann kommt es zu der katastrophalen
Situation, dass die viel beschworene „sprechende“ Medi-
zin den Patienten die Fehler rot-grüner Politik erklären
muss und sich nicht der Erkrankung des Patienten wid-
men kann.
Was ist das für ein System, in dem die ärztliche Vergü-
tung inzwischen so weit abgesenkt wurde, dass viele Leis-
tungen nicht mehr kostendeckend erbracht werden kön-
nen? Die Punktwerte in den Arztpraxen sind dramatisch
gesunken. Wenn man mit Punktwerten von 10 Pfennig
kalkuliert hat, dann sind Punktwerte – wie in Niedersach-
sen jetzt erwartet – von 5 bis 6 Pfennig für ambulante
Operateure – das ambulante Operieren wollten wir be-
sonders fördern; entsprechende OP-Einrichtungen sind
geschaffen worden – eine Katastrophe.
Die Krankenhäuser mit ihren bis zum Jahre 2003 fort-
geschriebenen Budgets trifft die Umstellung auf das neue
durchgängige, leistungsorientierte und pauschalierende
Vergütungssystem. Die eine Hälfte der Krankenhäuser
wird zu den Verlierern gehören; die andere Hälfte wird
möglicherweise zu den Gewinnern gehören, und zwar
dann, wenn sie die Einnahmen aus denjenigen Bereichen,
wo sie sich besser stellen, behalten können. Das ist aber
noch nicht vollkommen klar.
Wir wissen überhaupt noch nicht, wie dieses System
funktionieren soll. Wir wissen nicht, ob wir Festpreise ha-
ben werden. Wir wissen nicht, ob wir Höchstpreise haben
werden. Wir wissen nicht, ob wir Richtpreise haben wer-
den. Wir wissen nicht, wie die Krankenhäuser mit dem
Budget zurechtkommen sollen. Wir wissen nicht, welche
Anpassungszeiten es für die Krankenhäuser gibt. Der
Handlungsbedarf ist enorm. Diese Fragen müssen in der
nächsten Zeit auf den Tisch. Aber wir hören nichts davon,
wie es mit den Krankenhäusern weitergeht.
Auf jeden Fall liegt die Vermutung nahe, dass, nach-
dem die Veränderungen in der Krankenhausplanung bzw.
in der Krankenhausfinanzierung, angedacht mit dem Re-
formentwurf 2000, nicht zum Tragen gekommen sind,
über die DRGs – das neue Vergütungssystem – eine
stromlinienförmige Bereinigung der deutschen Kranken-
hauslandschaft erfolgen soll. Fachleute sagen, dass die
Budgetverschiebung Mindereinnahmen von 15 Prozent
nach sich ziehen wird. Das verkraftet kein Krankenhaus.
Das wird zulasten der kleinen kommunalen Krankenhäu-
ser in den Flächenländern gehen.
Ich sehe einen enormen Handlungsbedarf. Es muss etwas
passieren; Reformschritte müssen eingeleitet werden.
Budgets sind keine Lösung für die Zukunft. Sie ver-
schärfen die Rationierung. Budgets müssen abgeschafft
werden. Wir müssen in einem ersten Schritt budgetablö-
sende arztgruppenspezifische Richtgrößen schaffen. Das
muss mit medizinisch begründeten Leitlinien kombiniert
werden.
Natürlich sind die Fachgesellschaften aufgerufen, Leit-
linien zu schaffen, und diese Leitlinien müssen auch mit
einer ökonomischen Bewertung versehen werden. Das ist
ja gar keine Frage. Es gibt doch intelligente Steuerungs-
mechanismen; also führen wir sie gemeinsam ein. Wir
müssen Regelleistungsvolumina haben, um den Ärzten
am Ende eine vernünftige Vergütung zukommen zu las-
sen.
In einer grundlegenden Diskussion muss dann die
Frage geklärt werden, was im Rahmen des bisherigen
Systems weiterhin von der gesetzlichen Krankenver-
sicherung finanziert werden muss und was nicht und wie
die Einnahmeseite aussehen soll.
In der Diskussion heute geht es um die Frage, wer nun
für Kern- und Wahlleistungen ist. Die Grünen haben in
ihrem Parteiratsbeschluss gesagt, es muss eine Überprü-
fung geben, da in Zukunft nur das medizinisch Notwen-
dige von der gesetzlichen Krankenversicherung bezahlt
werden kann. Dem stimme ich zu. Lassen Sie uns daran
gehen, den Kernbereich des medizinisch Notwendigen zu
definieren und alles andere herauszunehmen. Dann ist die
Diskussion um Kern- und Wahlleistungen erledigt.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Dr. Hans Georg Faust
13641
Meine Damen und Herren, eine Reform ist dringend
nötig; aber Rot-Grün will eine neue Reform in dieser Le-
gislaturperiode nicht mehr anpacken. Viele Patienten kön-
nen aber nicht mehr warten. Schaffen Sie wenigstens die
Budgets ab! Stellen Sie die Arzt-Patienten-Beziehung auf
die bestmögliche Basis, die unter den jetzigen Bedingun-
gen möglich ist!
Vielen Dank.
Ich schließe
die Aussprache zu Tagesordnungspunkt 4 a. Interfraktio-
nell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksa-
che 14/4604 an den in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschuss vorgeschlagen. – Das Haus ist damit einver-
standen. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Zu Tagesordnungspunkt 4 b. Wir kommen zur Abstim-
mung über den Entwurf der Fraktion der F.D.P. über ein
Gesetz zur Sicherung einer angemessenen Vergütung psy-
chotherapeutischer Leistungen im Rahmen der gesetzli-
chen Krankenversicherung auf Drucksache 14/3086.
Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt auf Drucksa-
che 14/4849 unter Buchstabe a, den Gesetzentwurf abzu-
lehnen.
Ich lasse über den Gesetzentwurf der F.D.P. auf Druck-
sache 14/3086 abstimmen und bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmenwollen, um das Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die
Grünen und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU
und F.D.P. in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt
nach unserer Geschäftsordnung eine weitere Beratung.
Zu Tagesordnungspunkt 4 c zur Beschlussempfehlung
des Ausschusses für Gesundheit zum Antrag der Fraktion
der PDS mit dem Titel „Existenzsichernde Vergütung der
psychotherapeutischen Versorgung gewährleisten“ auf
Drucksache 14/4849.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung, den Antrag auf Drucksa-
che 14/2929 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Stimmenthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des
Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Zu Zusatzpunkt 3. Interfraktionell wird die Überwei-
sung der Vorlage auf Drucksache 14/4891 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen jetzt zu Überweisungen im vereinfachten
Verfahren.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis g auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuord-
nung des Bundesdisziplinarrechts
– Drucksache 14/4659 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Neuordnung des Wehrdisziplinarrechts und
– Drucksache 14/4660 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Über-
einkommen vom 12. April 1999 zum Schutz des
Rheins
– Drucksache 14/4674 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Tourismus
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 15. Februar 1999 zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und dem Kö-
nigreich Kambodscha über die Förderung und
den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
– Drucksache 14/4706 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver-
trag vom 3. Juni 1999 zwischen der Bundesre-
publik Deutschland und der Tschechischen
Republik über das Grenzurkundenwerk der
gemeinsamen Staatsgrenze
– Drucksache 14/4707 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 15. September 1998 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Gabuni-
schen Republik über die gegenseitige Förde-
rung und den gegenseitigen Schutz von Kapi-
talanlagen
– Drucksache 14/4708 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Cornelia Pieper, Birgit Homburger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Dr. Hans Georg Faust
13642
Satellitengestütztes Umwelt-Monitoring als In-
strument einer nachhaltigen Politik
– Drucksache 14/3696 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. – Das Haus ist einverstanden. Dann ist so be-
schlossen.
Wir kommen jetzt zu abschließenden Beratungen ohne
Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 a auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über Funkanlagen und Telekommunikations-
endeinrichtungen
– Drucksachen 14/4063, 14/4815 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Technologie
– Drucksache 14/4892 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Elmar Müller
Abstimmung über den von der Bundesregierung
eingebrachten Gesetzentwurf über Funkanlagen und Te-
lekommunikationsendeinrichtungen auf den Drucksa-
chen 14/4063, 14/4815 und 14/4892. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Einstimmig. Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zu-
stimmen möchte, den bitte ich, sich zu erheben. – Gegen-
probe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstim-
mig angenommen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 29 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zu den Anpassungsprotokollen zu
den Europa-Abkommen zwischen den Europä-
ischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaa-
ten einerseits, der Republik Ungarn, der Tsche-
chischen Republik, der Slowakischen Republik,
der Republik Polen, der Republik Bulgarien
und Rumänien andererseits
– Drucksache 14/3464 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
– Drucksache 14/4837 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Winfried Mante
Markus Meckel
Peter Hintze
Michael Stübgen
Klaus Hofbauer
Christian Sterzing
Dr. Helmut Haussmann
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Manfred Müller
Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europä-
ischen Union empfiehlt auf Drucksache 14/4837, den Ge-
setzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen möchten, sich zu erheben. –
Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist
einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 d:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Än-
derung des Gesetzes über die Errichtung eines
Fonds „Deutsche Einheit“ und des Gesetzes
über den Finanzausgleich zwischen Bund und
Ländern
– Drucksache 14/4436 –
Beschlussempfehlung und Bericht des
Haushaltsausschusses
– Drucksache 14/4922 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans Jochen Henke
Hans Georg Wagner
Oswald Metzger
Jürgen Koppelin
Dr. Uwe-Jens Rössel
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter
Beratung einstimmig angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustim-
men wollen, sich zu erheben. – Gegenprobe! – Enthaltun-
gen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 29 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 218 zu Petitionen
– Drucksache 14/4839 –
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
13643
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Sammelübersicht 218 ist mit den Stim-
men des Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 219 zu Petitionen
– Drucksache 14/4840 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 219 ist einstimmig ange-
nommen.
Tagesordnungspunkt 29 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 220 zu Petitionen
– Drucksache 14/4841 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 220 ist mit den Stimmen
des Hauses gegen die Stimmen der CDU/CSU angenom-
men.
Tagesordnungspunkt 29 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 221 zu Petitionen
– Drucksache 14/4842 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 221 ist mit den Stimmen
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die
Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 222 zu Petitionen
– Drucksache 14/4843 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 222 ist mit den Stimmen
der Koalition gegen die Stimmen der Opposition ange-
nommen.
Tagesordnungspunkt 29 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 223 zu Petitionen
– Drucksache 14/4844 –
Wir stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 223 ist einstimmig ange-
nommen.
Tagesordnungspunkt 29 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 224 zu Petitionen
– Drucksache 14/4845 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 224 ist einstimmig ange-
nommen.
Tagesordnungspunkt 29 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 225 zu Petitionen
– Drucksache 14/4846 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 225 ist mit den Stimmen
des Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 m:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses
zu den Streitsachen vor dem Bundesverfas-
sungsgericht
2 BvE 1/00 und 2 BvE 2/00
– Drucksache 14/4866 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Rupert Scholz
Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner
Beschlussempfehlung, in dem Organstreitverfahren der
Fraktion der CDU/CSU gegen die Bundesregierung
wegen Nichteinleitung eines Bund-Länder-Streits keine
Stellungnahme abzugeben. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS
gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. ange-
nommen.
Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Be-
schlussempfehlung, in dem Organstreitverfahren des Ab-
geordneten Pofalla gegen den Deutschen Bundestag eine
Stellungnahme abzugeben. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange-
nommen.
Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Nr. 3 seiner Be-
schlussempfehlung, den Präsidenten zu bitten, in diesem
Verfahren Herrn Professor Dr. Morlok mit der Prozess-
vertretung zu betrauen. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hau-
ses gegen die Stimmen von CDU/CSU angenommen.
Zusatzpunkt 4 a:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der F.D.P.
Wiederherstellung und archivarische Ordnung
vorvernichteter Stasi-Unterlagen
– Drucksache 14/4885 –
Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen
des Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
13644
Zusatzpunkt 4 b:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Ausnahme von dem Verbot der Zugehörigkeit
zu einem Aufsichtsrat für Mitglieder der Bun-
desregierung
– Drucksache 14/4912 –
Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Einstimmig angenommen.
Wir kommen zu weiteren Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Zusatzpunkt 4 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 226 zu Petitionen
– Drucksache 14/4900 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Enthaltung der
PDS mit den Stimmen des Hauses angenommen.
Zusatzpunkt 4 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 227 zu Petitionen
– Drucksache 14/4901 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist mit dem gleichen
Stimmergebnis angenommen.
Zusatzpunkt 4 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 228 zu Petitionen
– Drucksache 14/4902 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Enthaltung der
PDS mit den Stimmen des Hauses angenommen.
Zusatzpunkt 4 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 229 zu Petitionen
– Drucksache 14/4903 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Diese Sammelübersicht ist mit den Stimmen
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die
Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Zusatzpunkt 4 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 230 zu Petitionen
– Drucksache 14/4904 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist gegen die Stimmen
der CDU/CSU bei Enthaltung der F.D.P. mit den Stimmen
des Hauses angenommen.
Zusatzpunkt 4 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 231 zu Petitionen
– Drucksache 14/4905 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist gegen die Stimmen
von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS mit den
Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen ange-
nommen.
Zusatzpunkt 4 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 232 zu Petitionen
– Drucksache 14/4906 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen des
Hauses gegen die Stimmen der F.D.P. angenommen.
Zusatzpunkt 4 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 233 zu Petitionen
– Drucksache 14/4907 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist gegen die Stimmen
der PDS mit den Stimmen des Hauses angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Rolf Kutzmutz, Heidemarie Ehlert,
Dr. Christa Luft und der Fraktion der PDS einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Umsatzsteuergesetzes
– Drucksache 14/2386 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses
– Drucksache 14/4046 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme
Dr. Barbara Höll
Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache
14/4046, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über
den Gesetzentwurf der Fraktion der PDS auf Drucksache
14/2386 abstimmen. Wer diesem Gesetzentwurf zu-
stimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. – Ge-
genprobe! – Enthaltungen? – Dieser Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses gegen die
Stimmen der PDS abgelehnt. Damit entfällt nach unserer
Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
13645
Ich rufe nunmehr den Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU
Umgang der Bundesregierung mit der BSE-
Krise
Ich eröffne die Aussprache und gebe für den Antrag-
steller zunächst dem Kollegen Heinrich-Wilhelm
Ronsöhr das Wort.
Herr Prä-
sident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Manch-
mal ist man schon sehr überrascht,
wie bestimmte Behörden oder Institutionen in diesem
Lande mit BSE umgehen. Gestern ist aufgrund der Ein-
lassung von Wissenschaftlern im Ernährungs- und im Ge-
sundheitsausschuss und vielleicht auch in anderen Aus-
schüssen bekannt geworden, dass der Kopf des Tieres aus
Schleswig-Holstein, dem man Testmaterial entnommen
hat, um das Tier auf BSE zu überprüfen, und bei dem der
Test positiv ausging, verschwunden ist,
sodass das Probematerial noch einmal getestet werden
musste. Ich finde das mehr als eigentümlich.
Ich finde es auch eigentümlich, dass die schleswig-hol-
steinische Landesregierung niemanden darüber infor-
miert, dass sie die Identität des Tieres jetzt noch einmal
durch einen DNA-Test kontrollieren lässt. Die Öffent-
lichkeit sollte darüber informiert werden. Es ist mehr als
eigentümlich, dass ein solcher Kopf einfach verschwindet
und niemand weiß, wo er sich befindet.
Gott sei Dank ist der Kadaver des Tieres noch vorhanden,
sodass man einen DNA-Test durchführen kann.
Nein, das zeigt ein Stück weit den Umgang mit BSE.
Ein solches Vorgehen entspricht weder dem Seuchen-
recht in Deutschland noch einem Verfahren, das der Be-
deutung dieses Falles gerecht wird. Das muss man hier
ansprechen.
Es darf doch in diesem Lande nicht bananenrepublika-
nisch zugehen.
Meine Damen und Herren, ich möchte auch einen an-
deren Punkt ansprechen: die Widersprüche, die sich aus
dem Verhalten der Bundesregierung dauernd ergeben. In
der letzten Woche haben wir hier in diesem Hause fast ge-
schlossen ein Gesetz verabschiedet. Vorher, im Aus-
schuss, hat die Bundesregierung Erklärungen abgegeben,
welche Vorstellungen sich europaweit durchsetzen ließen.
Davon ist mehr oder weniger nichts umgesetzt worden.
Nun gibt es folgende Situation: Ein Fischmehlprodu-
zent aus Cuxhaven darf sein Fischmehl nicht nach
Holland liefern. Aber mit Fischmehl gefütterte Schweine
aus Holland dürfen nach Deutschland importiert werden.
Entspricht dies dem Verbraucherschutz Rechnung tragen-
den Märkten? Ich sage: nein.
Jetzt sagt Herr Funke, ein besseres Verhandlungser-
gebnis sei nicht möglich gewesen. Aber im Ausschuss hat
er etwas anderes erklärt. Heute Morgen habe ich in der
„Welt“ gelesen, dass Frau Fischer mit Herrn Funke nach-
verhandeln will.
Am Montag haben sie – so wurde es mir gesagt – im
Ernährungsministerium gesessen und mit Juristen darüber
gesprochen, welche Konsequenzen aus der Beschlussfas-
sung der Europäischen Union zu ziehen seien. Jetzt sagt
Frau Fischer, sie werde all die Ergebnisse, die Herr Funke
ausgehandelt bzw. nicht ausgehandelt hat, wieder weg-
verhandeln. Das sind doch Widersprüche in Punkten, in
denen es im Grunde genommen keine Widersprüche ge-
ben dürfte.
Gestern Morgen erklärte uns die Gesundheitsministe-
rin,
dass es BSE-Schnelltests erst bei Rindern, die älter als
30Monate sind, geben wird. Wir von der CDU/CSU-Bun-
destagsfraktion haben das in der letzten und auch in die-
ser Woche kritisiert. Heute lese ich, dass sich Frau Fischer
– wahrscheinlich aufgrund einer Pressemitteilung, die uns
gestern im Ausschuss vorlag – in diesem Punkt korrigiert
hat. Bespricht sich denn Frau Fischer nicht mit den Wis-
senschaftlern in ihrem Hause? Zieht sie nicht aus ihren
Gesprächen mit diesen Wissenschaftlern die entsprechen-
den Konsequenzen für ihre Politik? Oder entnimmt sie die
Ergebnisse ihrer eigenen Politik aus der Presse? Das ist
doch ein Verfahren, das so nicht fortgeführt werden kann,
wenn man das Vertrauen des deutschen Verbrauchers und
Landwirts in die Politik wieder stärken möchte.
Es geht ja noch weiter.
Aber bei Ih-
nen nicht mehr lange, Herr Kollege Ronsöhr.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
13646
Ja, Herr
Präsident. – Am Wochenende wurde eine Verordnung in
Bezug auf die Fütterung von Kälbern angekündigt. Diese
Verordnung ist nie erschienen, obwohl die Pressemittei-
lung des Landwirtschaftsministeriums aussagt, dass das
dem Tierschutzgedanken und dem Verbraucherschutzge-
danken entspricht. Ja, wem entspricht sie denn nun? Wenn
sie dem Tierschutz- und dem Verbraucherschutzgedanken
entsprochen hätte, dann hätte die Bundesregierung diese
Verordnung durchsetzen müssen. Sie hat sie aber nicht
durchgesetzt.
Gestern hat Herr Minister Funke festgestellt, dass die
Kälberhalter, wenn sie dieses Futter noch übergangsweise
verfüttern, jetzt in die Illegalität getrieben werden.
Aber Frau Fischer hilft ihm nicht dabei, diese Illegalität
in der deutschen Kälbermast zu beenden. Wir fordern eine
Beendigung der Illegalität, entweder von Herrn Funke al-
leine oder von beiden Ministern gemeinsam durchgesetzt.
Es kann doch nicht bei diesen Widersprüchen bleiben.
Herr Kol-
lege Ronsöhr!
Damit es
jetzt nicht zu einem Widerspruch zwischen dem Herrn
Präsidenten und mir kommt, höre ich jetzt auch auf, zu re-
den.
Ich danke
Ihnen für Ihre Großzügigkeit.
Ich gebe nunmehr das Wort für die SPD-Fraktion der
Kollegin Regina Schmidt-Zadel.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Ich will nicht auf die Ver-
säumnisse der Politik eingehen, auch nicht auf die Ver-
säumnisse Ihrer Politik. Ich gehe davon aus, dass manche
Ver-haltensweisen der Vergangenheit – auch der Vorgän-
gerregierung – auf die in ganz Europa vorherrschende Un-
kenntnis über diese Erkrankung zurückzuführen waren.
Ich habe eine Liste von Zitaten dabei, die ich Ihnen gerne
anschließend überreichen kann. Ich will aber jetzt nicht auf
dieser Basis argumentieren. Uns geht es um die Sicherheit
der Verbraucherinnen und Verbraucher.
Darüber wollen wir in dieser Aktuellen Stunde diskutie-
ren.
Die Erkrankung, über die wir heute reden, ist seit mitt-
lerweile 15 Jahren in Europa bekannt. Trotz dieser langen
Zeit wissen wir über den Erreger und seine Eigenarten
noch immer viel zu wenig. Dieser Umstand ist es, der die
Angst und die Verunsicherung bei den Bürgerinnen und
Bürgern schürt.
Die Verbraucher werden seit Jahren mit unzähligen, oft
widersprüchlichen Informationen über BSE konfrontiert.
Die Verbraucherinnen und Verbraucher, die Wissen-
schaft und die Politik müssen sich mit der Tatsache ver-
traut machen, dass sich der wissenschaftliche Verdacht er-
härtet hat, dass der für BSE verantwortliche Erreger, das
Prion-Protein, auch für die für Menschen tödliche Creutz-
feldt-Jakob-Erkrankung verantwortlich ist. Allein aus die-
sen Erkenntnissen heraus kann die Konsequenz für die
Politik doch nur sein: Keine Lobbyinteressen, keine Kos-
tenfragen und vor allen Dingen kein parteipolitisches Ge-
plänkel dürfen vor dem Gesundheitsschutz der Bürgerin-
nen und Bürger in unserem Land stehen.
Alle Konsequenzen und Lehren, die wir aus dieser Er-
krankung ziehen, müssen ein Ziel haben, nämlich den ma-
ximalen gesundheitlichen Verbraucherschutz in diesem
Land. Ich denke, das wollen und sollen wir gemeinsam
machen.
Die Verbraucherinnen und Verbraucher müssen darauf
vertrauen können, dass alles getan wurde und auch getan
wird, um sie vor den Gefahren einer BSE-Erkrankung zu
schützen.
Die Menschheit hat in ihrem Werdegang viele unter-
schiedliche Erkrankungen mit solchem Charakter erlebt.
Damals wie heute führen epidemiologische Maßnahmen
dazu, dass diese Erkrankungen in ihrer Ausbreitung
eingedämmt, gestoppt und zurückgedrängt werden konn-
ten, ohne dass man den Erreger damals im Detail gekannt
hat. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich habe nicht vor,
die Zeit der Aussätzigen des Mittelalters aufleben zu las-
sen. Aber die epidemiologischen Regeln von damals gel-
ten auch heute noch.
Diese alten Regeln besagen, dass es unabdingbar ist, den
Kreislauf, welcher den Erreger am Leben erhält, zu durch-
brechen. Wir sind dabei, diesem Ziel näher zu kommen.
Eine weitere epidemiologische Grundregel ist, gesunde
von kranken Lebewesen zu trennen, um ein Übergreifen
der Erkrankung zu verhindern. Sie alle wissen, dass wir
derzeit keine zuverlässige Möglichkeit haben, infizierte,
aber klinisch gesunde Tiere von gesunden Tieren zu unter-
scheiden.
Wir haben in den vergangenen Tagen Eilverordnungen
und Gesetze erlassen, welche ein umfassendes BSE-Test-
programm an Rindern vorsehen. So sollen vor allem aus
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000 13647
epidemiologischen Gründen alle verendeten oder notge-
schlachteten Rinder unabhängig vom Alter einem BSE-
Schnelltest unterzogen werden. Das ist fürwahr eine gute
Maßnahme.
Ich will noch auf einige Dinge eingehen, die wir für
wichtig halten: Die baldige Einführung einer durchge-
henden, grundsätzlichen Fleischetikettierung auf Europa-
ebene ist unumgänglich. Wegen der Verbindung von BSE
mit der Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung müssen in Zukunft
die Gesundheitsminister der einzelnen EU-Staaten an der
Bekämpfung der Erkrankung federführend beteiligt sein.
Das, finde ich, ist ein ganz wichtiger Punkt.
Ebenso wie das Fleisch müssen auch Folgeprodukte in die
Überlegungen hinsichtlich der Erkrankungsbekämpfung
einbezogen werden. Dazu zählen natürlich auch Gelatine,
Arzneimittel, Impfstoffe und Kosmetika, welche aus
Rinderbestandteilen hergestellt werden, sowie die auf dem
Markt befindlichen humanen Blutprodukte.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns die Fehler der
Vergangenheit nicht wiederholen. Ein optimaler Schutz
der Verbraucherinnen und Verbraucher erfordert in dieser
Zeit ein gemeinsames und abgestimmtes Vorgehen. In die-
sem Sinne bitte ich Sie, dies mit uns gemeinsam zu tun.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Ulrich Heinrich, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lie-
ben Kolleginnen und Kollegen! Durch den ersten BSE-
Fall in der Bundesrepublik Deutschland ist die Regierung
auf eine ganz besondere Probe gestellt worden und hat ein
Krisenmanagement an den Tag gelegt, das nicht dem ge-
recht wird, was eigentlich hätte stattfinden müssen.
Dies ist nicht nur deshalb der Fall, weil das diesbezügli-
che Gesetz in sich widersprüchlich und in weiten Teilen
nicht ausreichend ist, sondern auch deshalb, weil diese
Widersprüchlichkeit direkt am Kabinettstisch zu finden
ist. Es lässt sich kaum mehr überbieten: Von Anbeginn an
bis heute bekommen wir widersprüchliche Meldungen
auf den Tisch
und gleichzeitig spricht die Kollegin von der Regierungs-
koalition davon, dass man mehr Verbraucherschutz brau-
che.
Was tun Sie denn? Sie betreiben mit Ihrer Politik statt
Verbraucherschutz ausschließlich Verbraucherverunsi-
cherung
und haben sich dort nicht durchgesetzt, wo Sie sich hätten
durchsetzen müssen, nämlich in den entsprechenden Ver-
handlungen auf europäischer Ebene und auch hier in
Deutschland; lassen Sie sich das gesagt sein.
Dass wir heute noch keine ordentliche europaweite
Kennzeichnung haben, ist mit die Verantwortung der jet-
zigen Regierung. Denn sie musste dafür sorgen. Während
der Zeit des Vorsitzes in der Europäischen Union hätte sie
den Finger stärker auf die Wunde legen müssen,
spätestens aber, als die europäischen Beschlüsse, die ge-
fasst wurden, um die Tiermehlherstellung nach einwand-
freien hygienischen Standards durchzuführen, nicht um-
gesetzt worden sind. Dies wurde in Europa insgesamt
nicht umgesetzt; wohl aber in Deutschland, wo die Bun-
desländer dies längst getan haben. Angesichts der Tatsa-
che, dass Frankreich in diesem Zusammenhang erst im
Jahre 1998 Vollzug melden konnte, wissen wir, dass die
Verbreitung der Seuche auf Schlamperei bei der Tier-
Mehlherstellung
und auf nicht ausreichende Kontrollen in den Kraftfutter-
werken zurückzuführen ist. Das ist der Punkt.
Wenn wir mit einer solch widersprüchlichen und chaoti-
schen Politik konfrontiert werden und Sie dann noch von
Verbraucherschutz sprechen,
dann ist das ein Widerspruch in sich selber.
Die F.D.P. hat seit mehreren Monaten immer wieder
gefordert, den BSE-Schnelltest früher und verbindlich
einzuführen.
Die Regierung hat nichts getan. Sie hat keine Vorberei-
tungen getroffen, keine vorbeugenden Planungen ge-
macht und kein vorbeugendes Krisenmanagement ent-
wickelt, sondern sich tagtäglich widersprochen, wann und
weshalb etwas getan werde. Jedes Mal, wenn einer der in
diesem Zusammenhang zuständigen Minister dieser Re-
gierung – ich zähle die drei auf: die Gesundheitsminis-
terin, der Landwirtschaftsminister und der Umweltminis-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Regina Schmidt-Zadel
13648
ter – eine neue Nachricht zu vermelden hatten, wenn eine
neue Botschaft von irgendeinem Wissenschaftler vorlag,
dann wurde diese Meldung sofort hinausgeblasen, ohne
geprüft zu haben, was tatsächlich substanziell dahinter
steckt.
Man kann doch keine Politik machen, wenn Meldun-
gen ungeprüft übernommen werden; ich erinnere daran,
was Trittin zu den verseuchten Weiden gesagt hat. – Über-
haupt nichts wissen wir darüber, aber es wird so getan, als
sei das eine neue, gesicherte Erkenntnis.
Mich rufen die Leute an und fragen: Können wir über-
haupt noch Kartoffeln essen oder sind die auch infiziert?
So weit hat es diese Regierung getrieben. Das ist doch die
Höhe!
Es geht darum, den Verbraucherschutz auch tatsächlich
ernsthaft umzusetzen, wenn es einmal wirklich darauf an-
kommt.
In dieser Krise hätte das Land eine bessere Regierung ver-
dient,
damit unsere Verbraucherinnen und Verbraucher sicher
sein können. Leider Gottes muss man aber von einem
Durcheinander sprechen. Als wir vor fünf oder sechs Ta-
gen schon einmal im Rahmen der Haushaltsberatungen
darüber gesprochen haben, habe ich gesagt: Das Gesetz ist
widersprüchlich; genauso widersprüchlich sind die Mit-
glieder des Kabinetts Schröder.
Herzlichen Dank.
Jetzt hat die Kollegin
Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Sehr
geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen! Ich finde, man sollte die Worte des Kollegen Uli
Heinrich variieren: Das Land hätte in der letzten Legisla-
turperiode und in den Hochzeiten von BSE eine bessere
Regierung verdient.
Dann wäre es nämlich nicht zu dieser Krise gekommen.
Man muss einmal sagen – denn es charakterisiert Ihre
Politik sehr gut und hat sich auch in der Rede von
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr gezeigt –:
Es geht Ihnen nur darum, zu sagen, es gebe überhaupt
keine Krise. Jetzt wird der Kopf der schleswig-holsteini-
schen Kuh thematisiert! Das hatten wir doch schon einmal
irgendwo: Neulich waren es Daum und Kokain. Ergeb-
nisse sollen gezweifelt werden. Da heißt es, es gebe in die-
sem gesamten Futtermittelbereich mafiöse Strukturen:
Dioxine, Klärschlämme, Antibiotika in Futtermitteln usw.
Das ist alles illegal. Das alles haben Sie aber bisher ge-
rechtfertigt und verharmlost. Jetzt haben wir das Ergeb-
nis.
– Nein, danke.
Wir sind in der Aktu-
ellen Stunde, Herr Kollege, da gibt es keine Zwischenfra-
gen.
Das
sollte er eigentlich wissen.
Der nächste Punkt ist, dass wir die Maßnahmen nicht
diskutiert haben, weil es den ersten BSE-Fall in Deutsch-
land gegeben hat.
– Gefordert? Das kann ich nachlesen. Vor allem kann man
aber sehen, wie Sie gehandelt haben. Gar nicht!
Wir haben vor allem aufgrund der BSE-Ausbreitung in
Frankreich und Spanien gehandelt. Spätestens zu diesem
Zeitpunkt hat man gesehen, dass die Ausbreitung der Epi-
demie nicht verhindert werden konnte – unabhängig vom
Auftreten eines ersten Falles in Deutschland. Wie meine
Kollegin gesagt hat, ist es die einzige Chance, die weitere
Ausbreitung der Epidemie zu verhindern,
jetzt zu handeln. Entweder wir machen jetzt einen Schnitt
oder wir haben diesen Kampf verloren. Wenn ich es ir-
gendwie verhindern kann, werde ich auf keinen Fall zu-
lassen, dass Menschen irgendwie erkranken. Was im Mo-
ment Schreckliches geschieht, reicht wirklich.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Ulrich Heinrich
13649
Herr Groschup, der Leiter des Referenzzentrums für
BSE in der Bundesforschungsanstalt für Viruskrankheiten
der Tiere, hat gestern noch einmal ganz klar betont – –
– Sei mal still!
Dann kriege ich mehr Redezeit.
Herr Groschup hat gestern ganz klar und eindeutig gesagt,
Fette seien hinsichtlich des Gefährdungspotenzials
– hör genau zu! – genauso zu bewerten wie Tiermehl.
Dennoch erklären die CDU/CSU und Herr Sonnleitner
heute in der Presse, dass sie genau diese Fette – die Erre-
ger sind im fetten Milieu übrigens besser resistent – zu-
lassen wollen.
Wenn es so ist, dass die Bauern und ihre Lobby den Ernst
der Lage nicht erkannt haben, dann sind sie nicht mehr
ernst zu nehmen.
Wenn die deutschen Bauern den Verbrauchern nur
gesundheitsgefährdende Produkte anbieten könnten, dann
bräuchten wir sie auch nicht mehr. Dann können wir näm-
lich Produkte aus Argentinien und aus holländischem
Substratanbau kaufen, dann können wir Milliarden spa-
ren. Denn es wäre ja eine Geld- und Wertevernichtung,
würde man das durchgehen lassen. Gott sei Dank ist es an-
ders, die deutschen Bauern wollen unschädliche Produkte
anbieten und darin werden wir sie in jeder Hinsicht unter-
stützen, auch gegen den Handel.
Beim Aufbau einer zukunftsfähigen Landwirtschaft,
die verbraucherorientiert, umweltfreundlich und tierge-
recht ist, sind die wichtigen Säulen
Transparenz, Kennzeichnung, Stärkung des Ökolandbaus
und technische Standards für eine neue und klar definierte
Qualitätsproduktion.
Wir setzen uns für die artgerechte Tierhaltung ein und
möchten neue Perspektiven im Bereich des Tourismus
und der neuen Energien unterstützen,
um vielleicht in eine Situation zu kommen, in der die Be-
triebe nicht mehr an der Wand stehen, sondern wirklich
von der gesamten Gesellschaft unterstützt werden.
Danke.
Ich erteile nun das
Wort der Kollegin Kersten Naumann, PDS-Fraktion.
Vorher gratuliere ich Ihnen, Frau Naumann, im Namen
des ganzen Hauses zu Ihrem heutigen Geburtstag.
Dankeschön! Herr Vorsit-
zender, Sie waren der Zeit wie immer voraus und haben
gestern schon gratuliert. Ich nehme trotzdem die Glück-
wünsche an.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine
Schreckensmeldung jagt die andere, die Verunsicherung
nimmt immer mehr zu – und das, obwohl die Europäische
Kommission ein Krisenprogramm beschlossen hat. Trotz-
dem haben sich Deutschland, Finnland und Belgien dem
Totalverbot der Tiermehlverfütterung nicht angeschlos-
sen, da das Verbot in wesentlichen Punkten hinter den na-
tionalen Vorgaben zurückbleibt. Das zeigt wieder einmal,
wie schwierig es ist, die unterschiedlichen nationalen Be-
dingungen und Interessen unter ein Dach zu bekommen.
Das hat natürlich auch seine Gründe.
Herr Minister Funke, in den meisten Fällen stimmen
wir nicht mit Ihnen überein, aber in puncto Kämpfen um
die nationalen Ansprüche des Tiermehlverbots in Europa
teilen wir Ihre Ansicht.
Dennoch bleibt die Frage der Aufteilung der Kosten der
voraussichtlich 2 Millionen Notschlachtungen. Da be-
sinnt sich Deutschland als größter Nettozahler wieder ein-
mal auf seine Grenzen und beklagt die eben noch ange-
strebte gemeinschaftliche Konformität und Solidarität.
Wenn der Kunde an der Ladentheke steht und nicht
mehr kaufen will, was ihm Landwirte und Lebensmittel-
industrie national und international auftischen, hat dieses
empfindliche Auswirkungen auf die Handelsketten, auf
die Verarbeiter und auf die Landwirtschaft. Wir Politiker
müssen dringend auf allen Ebenen überlegen, wessen In-
teressen wir letztendlich vertreten und welche Verantwor-
tung wir dabei tragen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Ulrike Höfken
13650
Wer das Vorsorgeprinzip verletzt, um den Anschein zu
wahren, bekommt vom Verbraucher eines Tages die Quit-
tung für Arroganz, Verschleierung und trügerische Si-
cherheit.
Der Verbraucher hat einen Anspruch darauf, dass sein
Vertrauen gerechtfertigt wird.
Schon im Jahre 1984 wurde BSE erstmals festgestellt,
im Jahre 1990 die Übertragung von Rind zu Rind, bald da-
rauf die von Rind zu Mensch. Im Juli 1994 wurde von der
Europäischen Kommission die Verfütterung von Tiermehl
in der Rinderproduktion verboten, im Juni 2000 wurde der
Erlass für Schnelltestverfahren erhoben und im Septem-
ber 2000 die Rindfleischetikettierung auf den Weg ge-
bracht. Viele Politiker in allen Mitgliedsländern haben
sich damit befasst, wie sich nun herausstellt, aber nicht
gründlich genug.
Die Europäische Gemeinschaft ist der größte Impor-
teur und Exporteur von Lebensmitteln. Diese Branche hat
einen Jahresumsatz von 600 Milliarden Euro und be-
schäftigt 1 MillionenMenschen. Innerhalb dieser riesigen
Marktströme ist die Forderung nach einer Nullsicherung
der Lebensmittelproduktion schon ein Risiko an sich.
Nun stellt sich auch in Deutschland heraus, dass in min-
destens drei Mischfuttermittelwerken gepfuscht und vor-
sätzlich bestehende Regelungen unterlaufen wurden. Wo
waren hier die Kontrolleure? Wer sind die Verantwortli-
chen?
Nicht zuletzt beschleicht uns ein unheimliches Gefühl,
wohl wissend, dass der BSE-Erreger auch schon längst in
der Nahrungskette und verantwortlich für die Creutzfeldt-
Jakob-Krankheit ist. Da die BSE-Seuche als sehr gefähr-
lich für die Bürger in Europa und die natürlichen Kreis-
läufe – die Wissenschaftler meinen, auch für den Boden –
eingestuft werden soll, dürfen die dringend notwendigen
Maßnahmen zur Bekämpfung von BSE keine Frage des
Geldes oder der Kosten sein.
Denn die Gesundheit der Bürger und die Sicherheit der
Tiere gehen vor. Wenn sich die Wissenschaft nicht einig
ist, woher die Krankheit ursächlich kommt, gebietet es
das Vorsorgeprinzip, besonders vorsichtig zu sein.
Das unbefristete Verbot des Tiermehls in Deutschland
inklusive des Fischmehls, mit allen Konsequenzen, ist der
richtige Weg, – aber eben nur einer. Das Tiermehlverbot
aus Brüssel lässt Lücken zu. Ein sechsmonatiges Tier-
mehlverbot reicht bei weitem nicht aus; denn in sechs Mo-
naten sind wir das Problem noch nicht los: weder voll-
ständig das alte Tiermehl noch das aus den neuen
Kadavern produzierte. Die Übertragungskette wird somit
nicht wirklich gebrochen.
Der Zeitrahmen für den Aufbau von Alternativen aus
der heimischen Pflanzenproduktion ist viel zu kurz. Es
besteht auch die Gefahr, dass die findigen global agieren-
den Futtermittelkonzerne nun verstärkt Fischmehl produ-
zieren und anbieten. Die Konsequenz ist ein nicht zu
überschauendes Ausbeuten und Überfischen der Welt-
meere. Die These, dass durch die Düngung mit infizier-
ten Materialien – ob Tiermehl oder Dung – auch Erreger
im Boden sind und über das Weidegras aufgenommen
werden können, lässt noch weitreichendere Auswirkun-
gen auf die Tier- und Lebensmittelproduktion nur erah-
nen.
In der öffentlichen Debatte um BSE wird ein weiteres
Risiko bisher weitgehend ausgeschlossen: Für die Besei-
tigung der Tierkadaver und des Tiermehls müssten auch
die höchsten Sicherheitsstandards für die betroffenen Ar-
beitnehmer gelten, die den Mehlstaub einatmen oder mit
potenziell infektiösem Material hantieren. Infrage gestellt
ist auch die klassische deutsche Sterilisationsmethode zur
Abtötung von Krankheitserregern. Materialien von BSE-
infizierten und BSE-verdächtigen Tieren sind als beson-
ders überwachungsbedürftige Abfälle im Sinne des Kreis-
laufwirtschafts- und Abfallgesetzes einzustufen. Hierfür
kann nach dem derzeitigen Wissensstand nur eine Besei-
tigung in Sonderabfallverbrennungsanlagen infrage kom-
men.
Was wir jetzt wieder nur halbherzig machen und aus
deutscher und europäischer Geldgier vernachlässigen,
wird sich in Zukunft rächen. Wichtig sind jetzt konse-
quente vertrauensbildende Maßnahmen, zuverlässige Aus-
sagen, sachliche Auseinandersetzungen – statt Aktuelle
Stunden mit pauschalen Schuldzuweisungen.
Frau Kollegin, Sie
müssen zum Schluss kommen.
Zum Schluss möchte ich
Ihnen allen trotzdem ein schönes Weihnachtsfest mit ei-
nem leckeren Gänsebraten sowie einen guten Rutsch ins
neue Jahr wünschen.
Wir danken für die
guten Wünsche und wünschen Ihnen erst einmal einen
schönen Geburtstag.
Das Wort hat nun der Bundesminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten, Karl-Heinz Funke.
Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten: Frau Präsidentin! Meine Da-
men und Herren! Ich möchte zunächst – das halte ich für
wichtig – einige Anmerkungen zu dem machen, was hier
schon gesagt worden ist. Man hat nicht viel Zeit, dies aus-
giebig zu diskutieren, aber eines möchte ich vorweg-
schicken: Den Eindruck zu erwecken – wie es, ohne zu
differenzieren, hier und da und auch in der Presse gesche-
hen ist –, als sei es gleichsam so, dass ausschließlich die
Landwirtschaft gegenwärtig für das verantwortlich sei,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Kersten Naumann
13651
was als BSE-Fall diskutiert wird, halte ich für nicht ge-
rechtfertigt und auch nicht für gerecht.
Hier wird vieles sehr undifferenziert in einen Topf ge-
worfen, was mich beträchtlich ärgert. Es trifft auch die
Landwirtinnen und Landwirte – das merkt man an deren
Reaktion –, wenn hier alles über einen Leisten geschlagen
wird;
gleichsam so, als sei die ganze Landwirtschaft so struktu-
riert und organisiert, dass dieser Vorfall zwangsläufig das
Ergebnis dieser Art von Landwirtschaft, wie wir sie heute
haben, ist.
Ich finde, dass kann man nicht stehen lassen. Man kann
dies in der zur Verfügung stehenden Redezeit nicht aus-
giebig darlegen, aber dies hat mit der Realität überhaupt
nichts zu tun.
– Gerade weil Sie, Herr Heinrich, einen Zwischenruf ma-
chen, möchte ich auf einen weiteren Punkt eingehen: Es
ist bemerkenswert, dass sich manche hier und da hinstel-
len und so tun, als habe die Bundesregierung das, was
längst europäische Beschlusslage sei, nicht umgesetzt, sei
dabei zögerlich gewesen oder was auch immer.
– Ah ja. In der Frage der Kennzeichnung haben wir sogar
mehr und schneller umgesetzt, als es europäisches Recht
vorsieht. Vielen Dank dafür, dass Sie das ausdrücklich an-
erkennen.
Ich will auch das nicht vertiefen, weil es mir irgendwo
langt, wenn wir immer wieder gegenseitig versuchen, auf-
zurechnen, was denn hätte getan werden müssen.
Aber ich könnte schon – Herr Heinrich, das muss ich auch
noch einmal sagen – die eine oder andere Pressemittei-
lung herausziehen, in der der Bundesregierung der Vor-
wurf gemacht wird, sie setze nun europäisches Recht um,
obwohl es gar nicht nötig sei, in der die Bundesregierung
sogar aufgefordert wird zu klagen. Sie hat es nicht getan.
Hinterher ist es dann niemand gewesen. Ich habe mich in-
soweit auch über den einen oder anderen Beitrag in der
Debatte des Bundesrates in der letzten Woche gewundert.
Ich bewerte das aber nicht einmal negativ, sondern
sage mir: Da geht es Ihnen ganz genauso wie uns auch.
– Natürlich. Deswegen sage ich: Ich bin sehr objektiv und
versuche, da auch fair zu sein. Uns bringt es im Grunde
nicht weiter, wenn wir fragen, was frühere Minister dazu
gesagt haben, ob unsere Landwirtschaft BSE-frei sei oder
nicht. Wenn man mir vorwirft, dass ich es gesagt hätte,
wäre man unfair. Auf den Kodex des Internationalen Tier-
seuchenamtes haben sich auch früher schon Kollegen be-
rufen. Das werfe ich ihnen auch nicht vor –, damit das
ganz klar ist.
Man wäre unfair, man würde der Sache mit solch einem
Vorwurf nicht gerecht, meine Damen und Herren.
Ich will Ihnen noch etwas sagen zu dem, was hier dis-
kutiert worden ist. Es war in der Tat so, Herr Heinrich,
dass wir am 4. Dezember im Sonderagrarrat nicht zum
ersten Mal darüber gesprochen haben. Unabhängig von
dem BSE-Fall in Deutschland hatten wir uns in der Sit-
zung des Agrarrates am 22. November darauf verabredet,
am 4. Dezember zusammenzukommen, weil es noch sehr
unterschiedliche Meinungen gab, auch was das Verfütte-
rungsverbot von Tiermehl anbelangte. Wir haben gleich-
wohl – die Kommission hat einen entsprechenden Vor-
schlag gemacht – gesagt, wir wollen das diskutieren. Für
mich war es schon ein Erfolg, überhaupt zu dieser Be-
schlusslage zu kommen, wenn auch leider Gottes mit ei-
ner sechsmonatigen Befristung.
Ich bin aber durchaus optimistisch, dass wir auch diese
sechsmonatige Befristung wegbekommen. Sonst machte
eines, was der Agrarrat auch beschlossen hat, keinen Sinn,
nämlich die Kommission aufzufordern, eine Konzeption
vorzulegen, wie wir die Lücke bei tierischem Eiweiß
durch pflanzliches Eiweiß schließen können. Ich habe
auch im Agrarrat gesagt, dass das natürlich im Sinne ver-
lässlicher Rahmenbedingungen keine Logik hat.
– Völlig richtig. – Die Kommission hat ja zu Recht gesagt:
Wir werden dieses halbe Jahr auch nutzen für Inspekti-
onsreisen dorthin, wo die verantwortlichen Kontrollen
durchzuführen sind, und im Lichte der Beobachtungen
und der Entscheidungen werden wir dann einen weiterge-
henden Vorschlag machen. Ich bin mir sicher, dass es dazu
kommen wird, zumal ich die Meinung der beiden zustän-
digen Kommissare dazu kenne.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Bundesminister Karl-Heinz Funke
13652
Eingedenk dessen bin ich der Auffassung, dass wir
zwei Dinge – ich weiß, da stimmen wir weitestgehend
überein – vorantreiben sollten. Wir brauchen dringend –
das ist schon bisher Deutschlands Meinung gewesen; wir
werden in Europa darauf dringen, dass das schneller vor-
angeht als ursprünglich geplant – eine Positivliste für die
Verarbeitung von Futtermitteln,
damit hier Klarheit besteht, sowohl für die Verbraucher
als auch für die Landwirte. Die sitzen in einem Boot. Das
kann man überhaupt nicht trennen und den einen gegen
den anderen ausspielen. Auch die Landwirte wollen Klar-
heit haben. Dazu gehört auch die offene Deklaration, die
in der letzten Debatte eingefordert worden ist. Herr
Heinrich, es ist völlig klar, auch das gehört dazu.
Ich sage das ausdrücklich, weil da gar keine unterschied-
lichen Meinungen bestehen.
Ich bin auch dankbar, dass wir die Herauskaufaktion
für Rinder beschlossen haben, sowohl aus vorbeugendem
Gesundheitsschutz wie auch aus Marktgründen. Beides
gehört zusammen. Wenn man nämlich die Herauskaufak-
tion, wie ursprünglich von der Kommission vorgeschla-
gen, auf nicht getestete Rinder begrenzt hätte, hätten die
Länder, die mit den Testungen nicht so weit sind wie wir,
von der Herauskaufaktion profitiert und wären die Län-
der, in denen unfangreich getestet wird, benachteiligt
worden. Das hätte geradezu den Ansporn geliefert, dort,
wo man nicht so weit ist und wo man vielleicht auch an-
dere Einschätzungen hat, die Testate zögerlich anzuwen-
den, mit der Folge, dass man dort umfangreiche Heraus-
kaufaktionen hätte laufen lassen können, während das bei
uns nicht der Fall gewesen wäre. Deswegen musste bei-
des geschehen; beides gehört zusammen. Anders kann
man es nicht bewerten.
Was die Umstellung betrifft, um die Eiweißlücke zu
schließen: Dazu haben wir mittlerweile ein vorläufiges
Konzept in unserem Hause erarbeitet. Wir können die
Lücke kurzfristig über Importe schließen. Nach den uns
vorliegenden Zahlen und Daten ist das möglich.Wir müs-
sen aber mittelfristig dafür sorgen, dass wir eine eigene
Versorgung über pflanzliche Eiweiße und über den Ersatz
von tierischen Fetten sicherstellen können. Das müssen
wir selber leisten. Wir sind darum der Auffassung, dass
man – zumindest vorübergehend – auch auf stillgelegten
Flächen einen entsprechenden Anbau organisieren muss,
um diese Eiweißlücke zu schließen.Ansonsten bin ich der
Auffassung, dass es der Markt selbst richten wird durch
die Nachfrage, die auf uns zukommt, und durch die An-
baumöglichkeiten, die bei uns herrschen. Ich bin durch-
aus optimistisch, dass es uns gelingen wird, so zu verfah-
ren.
Alles in allem will ich eines betonen: Wir müssen das,
was in einigen Bundesländern in den letzten Jahren
erfolgt ist, und das, was man vertraglich gebundene
Landwirtschaft nennt, entscheidend vorantreiben: die
Selbstverpflichtung von Futtermittelherstellern, von
Landwirten, von Verarbeitungs- und Zerlegungsbetrie-
ben, der gesamten Verarbeitungsschiene im Ernährungs-
gewerbe bis zum Handel. Hier müssen wir Schwerpunkte
bei der Förderung setzen.
Eine solche gläserne Kette der Wertschöpfung ist,
gerade was Fleisch angeht – das gilt auch für andere Nah-
rungsmittel –, im Grund die größte Sicherheit, die wir ge-
währleisten können. Sie ist dann gegeben, wenn Selbst-
verpflichtungen eingegangen werden und wenn jemand,
der sich nicht an sie hält, aus dieser gläsernen Kette he-
rausfällt und gleichzeitig mit Sanktionen belegt wird.
Das gewährleistet eine größere Sicherheit als alles das,
was wir letztlich durch den Staat organisieren können.
Ich wäre sehr dankbar, wenn da alle Länder – sie sind
dazu aufgerufen – mitmachten. Ich könnte jetzt diejenigen
Bundesländer erwähnen, die hier in früherer Zeit mehr
gemacht haben als andere. Ich sage ausdrücklich: Das
kann man überhaupt nicht parteipolitisch zuordnen. Ei-
nige Länder haben mehr gemacht, andere Länder weniger.
Ich meine, unser Weg ist richtig, wenn wir wollen, dass
Vertrauen existiert und Sicherheit gewährleistet ist. Denn
das ist dringend notwendig: im Interesse aller Beteiligten,
vom Produzenten über die Wertschöpfungskette bis hin
zur Verbraucherschaft.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun der
Kollege Albert Deß für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Herr Bundeslandwirtschaftsmi-
nister, ich gebe Ihnen Recht, wenn Sie sagen, dass die
Landwirtschaft in den Medien zum Teil überzogen ange-
prangert worden ist. Aber wer hier im Haus hat denn dazu
einen Beitrag geleistet?
Es war Ihr Bundeskanzler, der hier Schlagworte geprägt
hat. Er hat eine andere Agrarpolitik gefordert. Wenn ich
aber eine andere Agrarpolitik fordere, dann klage ich doch
die bisherige Agrarpolitik in Deutschland an. Er kann ja
Recht haben, dass die SPD und die Grünen in den ver-
gangenen zwei Jahren eine falsche Agrarpolitik betrieben
haben. Ich unterstütze ihn gerne, wenn er eine andere
Agrarpolitik will.
Der Kanzler hat gesagt, dass er die Agrarfabriken ab-
schaffen will. Ich warte seit dieser Rede darauf, dass er ein-
mal erklärt, was und wo Agrarfabriken in Deutschland
sind. Besitzen Bauern mit 20, 50, 100 oder 200 Kühen
Agrarfabriken? Oder ist ein Betrieb in Mecklenburg-Vor-
pommern, der 23 000 Rinder mästet, eine Agrarfabrik? Ich
möchte von diesem Bundeskanzler endlich eine genaue
Definition von Agrarfabriken erhalten. Denn ich möchte
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Bundesminister Karl-Heinz Funke
13653
den jungen Bauern aus meiner Region sagen können, wel-
che Art von Landwirtschaft in Deutschland in Zukunft ge-
wünscht wird. Deshalb müssen wir den Bundeskanzler
ganz massiv dazu auffordern, nicht nur Sprüche zu klop-
fen, sondern auch zu erklären, was er mit seinen der Presse
gegenüber gemachten Äußerungen gemeint hat.
Ich finde es ein starkes Stück – ich habe das auch schon
das letzte Mal angesprochen –, dass hier so getan wird, als
wären nicht ganz schnell Hilfen für unsere Bauern not-
wendig, und dass es eine Aussage des Bundeslandwirt-
schaftsministers gibt, dass die Bauern um ihre Existenz
keine Angst haben müssen. Ich erlebe in den letzten Ta-
gen aber etwas ganz anderes: Es rufen Landwirte und mit-
telständische Schlachtbetriebe an, die Angst um ihre Exis-
tenz haben.
Auch Arbeitnehmer haben Angst davor, dass ihre Arbeits-
plätze verloren gehen. Der Herr Bundeslandwirtschafts-
minister, meine sehr verehrten Damen und Herren, hat
hier kein Wort dazu gesagt, wie die Hilfen ausschauen sol-
len,
damit auch in Zukunft in unserem Land eine bäuerliche
Landwirtschaft überleben kann. Hier muss schnell gehan-
delt und ein anderer Weg beschritten werden.
Was die Ankündigungen des Bundeskanzlers angeht,
so würde ich ihm ja gern Vorschläge unterbreiten, wie
eine andere Agrarpolitik ausschauen kann. Aber der Bun-
deskanzler muss dann diese andere Agrarpolitik
in Brüssel, bei der WTO und im Zusammenhang mit der
Osterweiterung durchsetzen. Ich bin gespannt, ob er in
Nizza eine neue Agrarpolitik für Europa einfordert. Da
werden wir wohl nichts mehr davon hören. Aber der Bun-
deskanzler steht im Wort, dass jetzt gehandelt werden
muss.
Wir wollen in Deutschland nicht die amerikanischen
Agrarfabriken haben. Dort gibt es tatsächlich Agrarfabri-
ken und wir können sie nicht verhindern, wenn bei der
WTO nicht eine andere Richtung eingeschlagen wird.
Wo eine andere Agrarpolitik gemacht wird, kann ich
hier auch erklären. Ich lade den Bundeskanzler ein, ein-
mal nach Bayern oder Baden-Württemberg zu kommen.
Dort haben wir diese andere Agrarpolitik.
Dort haben wir unter CSU- bzw. CDU-Verantwortung die
bäuerlich strukturierte Landwirtschaft. Wenn ich den
Kanzler richtig verstanden habe, möchte er eine solche
Agrarpolitik. Aber der Bundeslandwirtschaftsminister
weist immer wieder darauf hin, dass der Strukturwandel
beschleunigt fortgeführt werden muss, und aus der SPD-
Fraktion waren Aussagen zu hören, dass der Strukturwan-
del unter unserer Regierungsverantwortung zu langsam
war. Durch diesen Strukturwandel werden jedoch genau
die Betriebe kaputtgemacht, die wir brauchen, damit eine
bäuerlich gebundene Landwirtschaft möglich ist.
Wir geben in Bayern und auch in Baden-Württemberg
wesentlich mehr Geld für unsere Bauern aus als die rot-
grün regierten Länder. Bayern gibt allein für umweltbe-
zogene Auflagen im Bereich der Landwirtschaft im
Durchschnitt, auf die gesamte Landesfläche gerechnet,
151 DM pro Hektar aus. Es gibt kein rot-grün regiertes
Bundesland, das einen solchen Betrag vorweisen kann.
Dort wird nur von verbraucherfreundlicher Landwirt-
schaft geredet. Umgesetzt wird sie weit gehend in den
Ländern, in denen die CDU bzw. die CSU die Regie-
rungsverantwortung hat. Das muss man hier auch deutlich
sagen.
Herr Bundeslandwirtschaftsminister, Sie haben rich-
tigerweise angesprochen, dass wir Vertragslandwirtschaft
brauchen. Ich bin Kreisobmann im Landkreis Neumarkt
in der Oberpfalz. Schon lange vor der jetzigen BSE-Krise
haben fast 100 Prozent meiner Bauern freiwillig am
bayerischen Qualitäts- und Herkunftszeichen teilgenom-
men. Es gibt in ganz Deutschland keinen zweiten Land-
kreis, in dem fast alle Bauern freiwillig dieses Herkunfts-
zeichen mit allen damit verbundenen Auflagen
akzeptieren.
Herr Kollege, Sie
müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich komme sofort zum
Schluss, Frau Präsidentin.
Es gibt kein Bundesland – außer Baden-Württemberg;
da ist es ähnlich –, in dem dieses Qualitäts- und Her-
kunftszeichen eine solche Bedeutung hat; das ist nur bei
uns im Süden so. Das ist der richtige Weg für die Zukunft
der Landwirtschaft. Ich fordere Sie auf, Herr Minister,
diese Agrarpolitik und nicht eine Agrarpolitik, die in die
Irre führt, zu unterstützen.
Schönen Dank.
Jetzt hat die Kollegin
Steffi Lemke, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Sehr
verehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kolle-
gen! Die CDU/CSU hat heute eine Aktuelle Stunde mit
dem Titel „Umgang der Bundesregierung mit der BSE-
Krise“ beantragt. Mit Sicherheit ist es das vornehme
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Albert Deß
13654
Recht der Opposition, die Bundesregierung, wann immer
sie es für erforderlich hält, anzugreifen und zu kritisieren,
wenn auch vielleicht nicht so kopflos, wie es Herr
Ronsöhr heute getan hat.
Spannend wäre es aber gewesen, wenn Sie heute eine Ak-
tuelle Stunde mit dem Titel „Konzept der CDU/CSU-
Bundestagsfraktion zur Bekämpfung des BSE-Problems“
beantragt hätten.
Stattdessen konnten wir gestern der Presse entnehmen,
dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion einen Arbeits-
kreis gegründet hat, um Konzepte für die Zukunft der
Landwirtschaft zu entwickeln.
Bei uns heißt es: Wenn du nicht mehr weiter weißt, gründe
einen Arbeitskreis.
Ich hätte mir gewünscht, dass Sie sich an dieser Debatte
etwas ernsthafter beteiligt hätten; Sie haben es letzte Wo-
che immerhin versucht.
Wir haben natürlich Probleme, wenn man in so kurzer
Zeit einen wichtigen Industriezweig aus dem Produk-
tionsprozess herausnimmt.
Ich will an dieser Stelle klar sagen: Dieser Schritt ist
längst überfällig gewesen und Bündnis 90/Die Grünen ha-
ben diese Produktion schon längst beenden wollen.
Sie aber haben sich davon verabschiedet, darüber zu dis-
kutieren, wie umfangreich das Tiermehlverfütterungsver-
bot sein muss und in welchen Fristen welche Maßnahmen
umgesetzt werden müssen. Sie haben sich auf die Formel
zurückgezogen: Haut die rot-grüne Bundesregierung, ir-
gendwie wird sich daraus schon politisches Kapital schla-
gen lassen!
Ich glaube im Übrigen nicht, dass die Verbraucher in-
teressiert, was hier an gegenseitigen Schuldzuweisungen
und Kritik an Versäumnissen von F.D.P. und CDU/CSU in
deren Regierungszeit erhoben wird.
Die Verbraucher interessieren sich auch nicht für die kon-
troversen Diskussionen darüber, wie das Tiermehlverfüt-
terungsverbot im Detail ausgestaltet werden muss. Die
Verbraucher interessiert mehr, wie die Bundesregierung
angemessen, zügig und konsequent die Auswirkungen
von BSE bekämpft und dabei durch eine umfassende
Kennzeichnung – die wir schon lange vorbereitet haben
und die zeitiger als in den anderen EU-Ländern umgesetzt
wird – die höchstmögliche Sicherheit für die Verbraucher
zu schaffen versucht.
Das hat die rot-grüne Bundesregierung jetzt getan und da-
ran hätten Sie sich konstruktiv beteiligen können, wenn
Sie es gewollt hätten.
Zu der Frage, wie wir die Zukunft der Landwirtschaft
sehen. Wenigstens über die Frage, dass es in Deutschland
Agrarfabriken gibt, müsste Einigkeit bestehen. Es gibt
Legebatterien – Käfighaltung von Legehennen –; das ist
eine nicht tierartgerechte Haltung, eine tierquälerische
Haltungsform, die wir verbieten werden – und das so
schnell und umfassend wie möglich. Ich gebe Ihnen
Recht, wenn Sie behaupten, dass die Landwirtschaft BSE
nicht alleine aus bösem Willen verursacht hat. Wenn ich
aber andererseits sehe, wie in Teilen des Bauernverbandes
mit dem Problem umgegangen wird, muss ich sagen: Das
ist keine konstruktive Zusammenarbeit!
Wir haben einen Disput darüber gehabt, ob es sinnvoll
ist, die Milchaustauscher aus der Futtermittelkette zu neh-
men, weil dort tierisches Fett an Wiederkäuer – auch wenn
sie noch Kälber sind und deren Magen anders entwickelt
ist, sind sie doch Wiederkäuer – verfüttert wird. Stellen
Sie sich hier hin und sagen Sie, ob Sie das wollen oder
nicht!
In der momentanen Situation gibt es überhaupt keinen
Anlass dazu, dieses Fett zu verfüttern. Wenn bei Ihnen der
Schutz der Verbraucher im Mittelpunkt steht, dann zeigen
Sie das nicht nur in den Ausschusssitzungen, sondern sa-
gen Sie im Plenum des Deutschen Bundestages, ob Sie ein
Fischmehlverfütterungsverbot oder ein Fettverfütterungs-
verbot haben wollen.
Es ist nicht richtig, dass Kälber deshalb artfremd ernährt
werden, weil sie mit Milch ernährt werden. Die Debatte,
die darüber momentan geführt wird, ist absurd.
Ich biete Ihnen nochmals an, über die Detailprobleme
der zu treffenden Maßnahmen konstruktiv mit Ihnen zu
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Steffi Lemke
13655
diskutieren. Voraussetzung dafür ist aber, dass Sie sich
von solchen Debatten, wie Sie sie heute versuchen zu
führen, verabschieden und sich an einer sachlichen Dis-
kussion beteiligen.
Jetzt hat die Kollegin
Annette Widmann-Mauz, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsi-
dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Lemke, es
ist sehr schön, dass Sie sich mit der Arbeit der Opposi-
tion konstruktiv auseinander setzen wollen. Ich muss Sie
aber fragen, ob Sie den Antrag der Unionsfraktion auf
Drucksache 14/4778, in dem konstruktive Vorschläge ge-
macht werden, überhaupt zur Kenntnis genommen haben
und
ob Sie es als konstruktiv bezeichnen, dass Sie diese Vor-
schläge im Ausschuss für Gesundheitspolitik rigoros ab-
gelehnt haben. Das hat mit Verbraucherschutzpolitik
nichts zu tun. Im Gegenteil: Wenn Sie hier von kopfloser
Politik sprechen, kann man fast sagen, dass der ver-
schwundene Kopf in Schleswig-Holstein symptomatisch
für das Agieren dieser Bundesregierung ist; denn die Ver-
braucherinnen und Verbraucher interessiert es sehr wohl,
wo dieser Kopf geblieben ist.
Sind zum Beispiel Teile der Backen oder der Zungen in
die Nahrungskette gelangt? Warum bekommen wir hie-
rüber keine Informationen? Wie konnte das geschehen?
Das ist doch Schlamperei. Uns interessiert schon, warum
die Öffentlichkeit von der schleswig-holsteinischen Lan-
desregierung hierüber überhaupt nicht informiert wurde.
Ich gehe einmal davon aus, dass auch Sie das interessiert,
Frau Schmidt-Zadel.
Die Verbraucherinnen und Verbraucher wollen wissen, ob
es überhaupt zu dieser Krise hätte kommen müssen.
– Beruhigen Sie sich jetzt wieder.
Ich komme jetzt auf die Chronologie der Krise zu spre-
chen. Spätestens seit diesem Jahr hat sich die Situation
dramatisch verändert. Ich weise nur auf das Gutachten des
Wissenschaftlichen Beirats „Bodenschutz“ beim Bundes-
ministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit vom Februar dieses Jahres hin. Spätestens seit dem
1. August 2000 weiß die Bundesregierung über die Situa-
tion Bescheid. In dem Bericht des Wissenschaftlichen
Lenkungsausschusses der EU wurde klar zum Ausdruck
gebracht, dass Deutschland ein BSE-Risikoland ist. Das
war der erste Ausschuss, der dies festgestellt hat, der eine
Bewertung abgegeben hat und – hören Sie zu, Frau
Wright – der Bundesregierung auch Handlungsempfeh-
lungen gegeben hat, nämlich zum Beispiel Risikomate-
rialien nicht in das Tiermehl und in die menschliche Nah-
rungskette gelangen zu lassen oder die Verfütterung des
Tiermehls an Nutztiere, auch an Schweine, zu verbieten.
Was hat denn diese Bundesregierung seit letztem Au-
gust – seitdem sind mehr als drei Monate vergangen – und
dem Auftreten der BSE-Fälle in Frankreich getan? Es gab
überhaupt keine konkreten Aktionen der Bundesregierung
zu vermelden, keine Änderung der Haltung zum Import-
stopp, keine Schnelltests und kein Tiermehlverfütterungs-
verbot.
Im Gegenteil: Sie haben im Ausschuss die Warnungen
und die Anträge der Unionsfraktion abgelehnt und uns Pa-
nikmache vorgeworfen. Sie haben nicht agiert, sondern
absolut unkoordiniert reagiert. Die Berichte über die ges-
trige Kabinettssitzung sind ja der beste Beweis dafür.
Sie haben widersprüchlich gehandelt. Sie haben in den
Ausschüssen immer gesagt: Nationale Alleingänge brin-
gen nichts; es müsste immer ein EU-konformes Verhalten
an den Tag gelegt werden. Sie haben damit Marktinteres-
sen vor den Verbraucherschutz gestellt, ganz im Gegen-
satz zu unserem Nachbarn Frankreich:
Dort ist das nationale Importverbot aufrechterhalten wor-
den. Der Bundesrat hat Ihre Regierung, liebe Frau
Höfken, am Freitag einstimmig dazu aufgefordert, das
Importverbot wieder einzuführen.
Frau Fischer droht auf europäischer Ebene sogar mit
einem Importstopp. Nur, man muss sich fragen, wie das
auf der europäischen Ebene wahrgenommen wird, ob dies
überhaupt glaubwürdig ist, wenn man auf der nationalen
Ebene solche Maßnahmen als Blödsinn bezeichnet. Frau
Fischer, ich muss Sie fragen: Wenn eine durchgängige
Kennzeichnung nicht in allen europäischen Mitglied-
staaten zum 1. Januar 2001 eingeführt ist – zurzeit kommt
nur die Hälfte aller Mitgliedstaaten der Pflicht zur Kenn-
zeichnung nach –, wird dann zum 1. Januar 2001 ein na-
tionales Importverbot für britisches Rindfleisch verhängt
oder nicht, wird es in Ihrem Haus vorbereitet oder nicht
oder werden Sie im Januar dann genauso hilflos reagieren
wie in den letzten drei Monaten?
Weitere Widersprüchlichkeiten sind vollkommen of-
fensichtlich. Auf europäischer Ebene gilt jetzt eine Ver-
ordnung, nach der die Fette nicht in das Verfütterungsver-
bot eingeschlossen sind. Aber in der Bundesrepublik ist
die Verfütterung von Fetten verboten.
Es gibt also bereits einen nationalen Alleingang. Ich frage
Sie: Wenn Sie Ihre Grundsätze aufrechterhalten, wollen
wir dann in der Bundesrepublik zurückrudern oder wie
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Steffi Lemke
13656
sieht es aus, Herr Funke? Wir stehen zum Verbraucher-
schutz und sagen: Hier ist der nationale Alleingang rich-
tig. Wir wollen nicht, dass die Fette verfüttert werden.
Wenn Sie dem zustimmen, dann müssen Sie konsequent
sein und müssen auch auf europäischer Ebene den Ver-
braucherschutz sicherstellen und gewährleisten, dass kein
Fleisch – hier wird es interessant – zum Beispiel aus Dritt-
staaten, in denen Fette verfüttert werden, importiert wird.
Wie wollen Sie hier, bitte schön, den Verbraucherschutz
sicherstellen?
Sie gehen das Thema überhaupt nicht an. Eine Diskussion
darüber findet bei Ihnen überhaupt nicht statt. So kann es
nicht weitergehen.
Diese Bundesregierung hat an dieser Stelle vollkom-
men versagt. Wir brauchen Verbraucherschutz. Verbrau-
cherschutz braucht im Zweifel auch nationale Allein-
gänge. Werden Sie Ihrer Verantwortung endlich gerecht!
Nun erteile ich der
Kollegin Heidi Wright für die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Über Nacht war alles anders.
Was eigentlich nicht sein konnte, wurde doch Gewissheit:
Deutschland hat einen oder zwei, morgen vielleicht drei
oder vier – Herr Deß, ich hoffe, nicht in Bayern, aber viel-
leicht doch – BSE-Fälle.
Am 24. November schlug die Nachricht aus Schles-
wig-Holstein wie ein Blitz ein. Sie hat alle Überlegungen
zu Maßnahmen gegen mögliche BSE-Gefahren aufgrund
von Tiermehlverfütterung – ich denke an ein geordnetes
Verfahren – eingeholt. Zum Schutz der Verbraucher, aber
auch zum Schutz der Landwirtschaft musste sofort gehan-
delt werden, was auch geschah. Der Verbraucher hat so-
fort gehandelt und kein Rindfleisch mehr gekauft. Die Po-
litik hat sofort gehandelt und auf nationaler sowie
europäischer Ebene ein Tiermehlverfütterungsverbot er-
lassen.
Was ist die Intention der Opposition, jetzt via Plenum
nach dem Umgang der Bundesregierung mit der BSE-
Krise zu fragen?
Alle meine wohlmeinenden Hoffnungen sind dahin; denn
die Intention sollte doch ausschließlich darin bestehen,
dass wir unser konsequentes Handeln, das wir gemeinsam
beschlossen haben, auch nach außen vertreten. Alles an-
dere ist fatal.
Das Thema BSE eignet sich weiß Gott nicht zu einem
politischen Schlagabtausch, sondern erfordert eine of-
fene, transparente und gemeinsame Politik des Neube-
ginns.
Schlägst du meinen Funke, schlag ich deinen Seehofer –
also das will der Verbraucher wirklich nicht hören.
Verweise von Europa nach Deutschland und vom Bund zu
den Ländern interessieren keinen. Jeder muss da handeln,
wo er Verantwortung trägt. Somit ist zuvorderst allen Kol-
leginnen und Kollegen aus den Fachausschüssen zu dan-
ken, die das Gesetz in der letzten Woche mit uns gemein-
sam getragen haben.
Dieses Gesetz, aber auch die weiteren notwendigen
Maßnahmen für eine Neuorientierung in der Landwirt-
schaft, insbesondere in der Fleischproduktion, sind wohl
mit die gravierendsten Entscheidungen in der Landwirt-
schaftspolitik. Die deutsche Landwirtschaftspolitik geht
voran; sie geht dabei auch über die europäischen Rege-
lungen hinaus. Ich begrüße das ausdrücklich; denn das
verlangt der deutsche Verbraucher und das müssen wir ge-
währleisten. Wir machen einen klaren Schnitt und das be-
deutet: Wir müssen und wir sollten gemeinsam die Per-
spektiven des Neuanfangs nach außen tragen. In jeder
Krise ist auch eine Chance, Kolleginnen und Kollegen.
Lassen Sie mich jetzt etwas zu den Futtermitteln, also
zu dem Tiermehl, sagen. Es war doch eine klare Erkennt-
nis der Wissenschaft, es war eine Regelung der Politik und
es war unumstößliches landwirtschaftliches Wissen bzw.
unumstößliche landwirtschaftliche Praxis: Die Verfütte-
rung von Tiermehl an Wiederkäuer ist nicht erlaubt und
wird nicht praktiziert.
Es war darüber hinaus eine klare deutsche Regelung: Tier-
mehl wird in Deutschland nach einem Drucksterilisati-
onsverfahren hergestellt, das die Abtötung aller Keime
und somit absolute Unbedenklichkeit gewährleistet.
Auch ich habe das geglaubt und wurde eines Besseren be-
lehrt. Kolleginnen und Kollegen, wir alle haben uns die
Situation schöngeredet! Kontrollen, Proben und Analysen
haben ergeben – auch in Bayern, Herr Deß –, dass das Ver-
bot der Tiermehlverfütterung an Wiederkäuer so konse-
quent nicht eingehalten wurde.
Was nun? Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Da
wir aber nicht ständig Kontrolleure auf die Bauernhöfe
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Annette Widmann-Mauz
13657
schicken wollen, müssen wir erkennen: Die Tiermehlpro-
duktion und die Verfütterung haben bereits seit längerem
immer weniger Akzeptanz erfahren. Aus Gründen des
vorsorgenden Verbraucherschutzes, aber auch zur Vor-
beugung gegen weitere tierseuchenrelevante Risiken war
ein vollständiges Verbot der Tiermehlverfütterung unum-
gänglich.
Ich begrüße es sehr, dass Bundeslandwirtschaftsminis-
ter Funke hier auch die offene Deklaration angesprochen
hat. Wir wollen sie und wir brauchen sie. Wir brauchen
auch weiterhin eine Positivliste bei den Futtermitteln. Das
ist sinnvoll. Das bringt Anwendungs- und Verbrauchersi-
cherheit.
Es gibt viel zu tun; wir werden es anpacken.
Wie geht die Bundesregierung mit der BSE-Krise wei-
ter um? In Abstimmung mit den wissenschaftlichen Insti-
tuten und den Ländern werden ab sofort flächendeckende
BSE-Tests durchgeführt. Es ist dies nicht nur eine große
organisatorische und logistische Leistung, sondern natür-
lich auch eine große finanzielle Herausforderung. Dies al-
les kann geregelt werden, und das bekommen wir auch
hin. Was wir jedoch nicht regeln und was wir nicht regeln
können: Der Test bringt nicht eine hundertprozentige Si-
cherheit. Der Satz „Getestet und für gut befunden“ ist zu
relativieren. Die Tests sind notwendig und werden uns in
den nächsten Wochen und Monaten endlich die Auf-
schlüsse bringen, die dann Sicherheit geben.
Frau Kollegin, kom-
men Sie bitte zum Schluss.
Zum Schluss: Sicherheit
bedeutet Verantwortung – in der Politik, auf dem Bauern-
hof und an der Ladentheke. Allen Wohl und keinem Wehe,
das geht meistens nicht und es geht insbesondere heute
nicht. Es geht nicht gegenüber den Verbrauchern und auch
nicht gegenüber den Bauern. Den Bauern müssen wir in
einem perspektivischen Konzept die Wege für eine ak-
zeptierte und nachhaltige Landwirtschaft aufzeigen. Den
Verbrauchern müssen wir sagen:
Frau Kollegin, Sie
machen jetzt einen sehr langen Schluss. Ich muss Sie bit-
ten, zum Schluss zu kommen.
Sicherheit hat ihren Preis.
„Aus deutschen Landen frisch auf den Tisch“ beinhaltet
Verbraucherschutz, Tierschutz, Landschaftsschutz, Um-
weltschutz – und Einkommen der Bauern. Das müssen
wir gewährleisten.
Ich erteile das Wort
der Bundesministerin für Gesundheit Andrea Fischer. –
Ich will eine freundschaftliche Adresse an die Herren der
CDU richten. So manche Bemerkungen, wenn Kollegin-
nen reden, finde ich nicht so ganz elegant, will ich einmal
sagen.
Frau Ministerin, bitte sehr.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will
nicht verhehlen: Wenn ich jetzt zuhöre, werde ich ein biss-
chen neidisch; denn in der Opposition waren die Dinge
viel leichter. Da kann man auch poltern und brüllen, was
Sie auch getan haben.
Ich war mehrere Stunden in den gemeinsamen Sitzun-
gen der Ausschüsse. Dabei wird ganz offenkundig, Frau
Widmann-Mauz: Sie sollten sich bei Ihren Forderungen in
Sachen Landwirtschaft mit den Kollegen Ihrer Fraktion
verständigen.
Das ist meines Erachtens ein ganz wichtiger Hinweis.
Sie haben getan, was man von der Opposition erwarten
kann: Sie haben gesagt, unsere Performance sei nicht gut
genug gewesen. Ich will gerne zugestehen, dass unsere
Politik da vielleicht verbesserungswürdig ist. Aber Fakt
bleibt doch, dass wir – übrigens unter Ihrer Beteiligung –
in der letzten Woche – in einer Woche! – ein bedeutsames
Gesetz verabschiedet haben. Tun Sie bitte nicht so, als
hätten Sie dieses Gesetz seit vielen Jahren in der Schub-
lade gehabt und nur darauf gewartet, dass man es umset-
zen könnte.
Es ist eine traurige Erkenntnis, aber die geht an alle in
diesem Hause: Ich will mit aller gebotenen Zurückhaltung
sagen – die Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion
betrifft es vermutlich fast noch am wenigsten –, dass die
kritische Position zu manchen Verfahren, die in der Land-
wirtschaft angewandt werden, auf allen Seiten des Hauses
nicht nur Unterstützer hatte. Nach dem Erschrecken in der
Mitte der 90er-Jahre wurde irgendwann zum business as
usual zurückgegangen. Ich finde es richtig, dass wir den
zusätzlichen Sicherheitsstandard halten, den wir dadurch
erreicht haben, dass Tiermehl überhaupt nicht mehr ver-
füttert werden darf. Wir werden alles dafür tun, dass dies
auch geschieht. Der Beschluss der Agrarminister ist be-
fristet, da gilt es, auch über diese Befristung hinaus auf eu-
ropäischer Ebene eine Unterstützung für diese Position zu
bekommen.
Zu dem Wettlauf, wer sich am radikalsten präsentieren
kann, beispielsweise im Hinblick auf die BSE-Schnell-
tests. Ich bin als Bundesministerin verantwortlich für die
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Heidemarie Wright
13658
Verordnung,dieBSE-Schnelltestsvorschreibt.Aberdurch-
geführt werden sie in den Ländern. In allen Bundeslän-
dern, die – ich habe das, glaube ich, heute schon einmal
gesagt – nach meiner Erinnerung nicht alle rot-grün ge-
führt sind, wurde gesagt: Erstens brauchen wir nicht mehr
Tests, denn wir sind ja BSE-frei, zweitens haben wir nicht
die Kapazitäten, und drittens hilft es nichts. Es gab also
vonseiten der Länder keine Bereitschaft.
Es ist ganz bizarr, wenn mir dieselben Länder am
Freitag im Bundesrat vorwerfen, dass ich Ihnen noch
nicht vorschreibe, schon die Embryos zu testen.
Aber dies ist trotzdem eine Frage der Bundesländer.
Mit denen ist abgesprochen, dass jetzt die Vorschrift be-
sagt: Alle Schlachtrinder ab dem 30. Monat sind zu testen.
Das ist eine große logistische Leistung, die jetzt erbracht
werden muss, damit das Ganze so schnell geht.
Wenn angesichts freier Kapazitäten mehr getestet wer-
den kann, wäre ich die Letzte, die dagegen wäre.
Zum einen lässt die Vorschrift dies schon zu und zum an-
deren können wir sie bezüglich der Vergütungsfrage än-
dern.
Stellen Sie es doch nicht so dar, als sei ich es, die sich da-
gegen wehrt, die Tests in breitem Umfang durchzuführen.
Das ist doch Quatsch.
Ich habe Kommissar Byrne mitgeteilt, was ich nächste
Woche auf dem Gesundheitsministerrat in Brüssel be-
sprechen möchte. Es geht selbstverständlich um die Frage
der Kennzeichnung des britischen Rindfleisches und auch
um die Frage, ob die Länder nach meiner Aufforderung
inzwischen etwas getan haben.
Frau Widmann-Mauz, ich habe zu diesem Punkt schon
mehrfach etwas gesagt; aber ich will es noch einmal tun:
Die Frage des nationalen Alleingangs ist keine Prinzipien-
frage. Man muss einen nationalen Alleingang nach seiner
Wirksamkeit beurteilen. Der Bundesrat hat in seiner Ent-
schließung gar nicht mehr davon gesprochen, dass da-
durch der Verbraucher geschützt werden kann, sondern er
hat nur noch festgestellt, es solle gemacht werden, um
mehr Druck auszuüben, damit eine europäische Lösung
erreicht werden kann.
– Wir reden hier nicht über den Verbraucherschutz, son-
dern über die unterschiedliche Einschätzung eines strate-
gischen Mittels der Politik.
Schaffen Sie keine falsche Vorstellung von dem Verbrau-
cherschutz, die sich aus einem Importverbot ergeben
könnte.
Sie dürfen versichert sein, dass wir uns auf europä-
ischer Ebene für den Schutz der Verbraucher einsetzen.
Wir wollen aber nicht sozusagen auf billige Art und Weise
dem Verbraucher Placebos verabreichen, indem wir ihm
sagen, wir würden ihn schützen. Damit würden wir nur ei-
nen billigen Punkt machen.
Wir haben die Kommission außerdem darum gebeten,
die Situation in Frankreich im Rahmen einer Expertenbe-
sprechung ein weiteres Mal im Hinblick auf Scrapie zu
bewerten. Wir werden natürlich auch um Unterstützung
für die deutsche Situation werben, dass das Tiermehlver-
bot dauerhaft ist und dass unsere Standards auf europä-
ischer Ebene angewandt werden.
Zu dem Vorwurf, wir hätten zu spät gehandelt: Zwei
Tage, bevor der erste Fall bekannt wurde, haben wir ein
großes Treffen mit Experten und Politikern organisiert,
auf der die CDU/CSU als einzige Fraktion nur auf Mit-
arbeiterebene vertreten war. Diese Konferenz war vor
Wochen einberufen worden.
– Nein, Herr Ronsöhr, da täuschen Sie sich. – Auf dieser
Konferenz wurden die entsprechenden Fragen erörtert.
Wir wollen einen permanenten Arbeitskreis in einer ver-
gleichbaren Zusammensetzung einrichten, um über wei-
tere Maßnahmen zu diskutieren.
Herr Kollege
Ronsöhr, Sie haben vorhin gesprochen und auch viele
Zwischenrufe gemacht. Ich möchte Sie darauf hinweisen,
dass Ihre Zwischenrufe jetzt fast störend wirken.
Wir sollten, auch wenn es Donnerstagnachmittag ist, or-
dentlich miteinander umgehen. – Frau Ministerin, Sie ha-
ben das Wort.
Ich glaube, wir werden dem heute so stark vertretenen An-
liegen des Verbraucherschutzes und dem Wunsch, bei
Nahrungsmitteln immer sicher sein zu können, alle
gemeinsam am besten gerecht, wenn wir in zwei, drei
Monaten nicht sagen: Wir waren eine Zeit lang alarmiert
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Andrea Fischer, Bundesministerin
13659
und haben gehandelt; das war es jetzt. – Wir müssen viel-
mehr bereit sein, auch weiterhin über grundsätzliche Ver-
änderungen nachzudenken.
Ich habe an einigen Zwischenrufen und auch an den
Beiträgen im Agrarausschuss feststellen können, dass es
hier nicht um einen Gegensatz zwischen den Interessen
der Landwirte und den Interessen bezüglich des Verbrau-
cherschutzes geht. Wer diesen Gegensatz aufbaut, der hat
das Problem nicht begriffen.
Es ist im Interesse der Landwirte, gute Lebensmittel un-
ter angemessenen Bedingungen zu produzieren. Genauso
ist es im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher,
gute Lebensmittel zu bekommen. Es müsste doch möglich
sein, sich in diesem Punkt zu treffen. Dazu ist aber auf bei-
den Seiten ein Umdenken notwendig.
Auf der Seite der offiziellen Vertreter der Landwirte er-
warte ich ein selbstkritisches Nachdenken darüber, was
eigentlich dazu geführt hat, dass wir uns immer wieder
mit dem Management von Schadstoffen beschäftigen
müssen. Ich könnte Ihnen in diesem Zusammenhang al-
lein aus den zwei Jahren meiner Amtszeit viel darüber er-
zählen, womit wir konfrontiert werden. Wir müssen fra-
gen: Was sind die Ursachen? Was müssen wir ändern,
damit es nicht immer wieder zu diesen Missständen
kommt?
Auf der Seite der Verbraucher erwarte ich ein selbst-
kritisches Nachdenken darüber, was wir wie oft und zu
welchen Preisen essen. Wir können nicht erwarten, dass
wir zu niedrigen Preisen allerbeste Lebensmittel bekom-
men. Das heißt, alle müssen aus dieser Situation etwas ler-
nen. Nur dann werden wir Verbraucherschutz dauerhaft
gewährleisten können, der wahrscheinlich auch zu besse-
ren Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft als den
heutigen beitragen kann.
Danke.
Jetzt spricht der Kol-
lege Aribert Wolf für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Deutschland hat in den letzten Wo-
chen seine BSE-Unschuld verloren. Umso wichtiger ist es
jetzt, dass wir zum einen die Bevölkerung lückenlos auf-
klären, zum anderen aber auch schauen, ob die Bundesre-
gierung ausreichend gehandelt hat. Wir sollten uns die
Frage stellen, warum eigentlich nicht schon vorher ge-
handelt worden ist, sondern erst, nachdem dieser erste
deutsche BSE-Fall auf die Tagesordnung gekommen ist.
Ich habe, wenn ich unsere Arbeit im Gesundheitsaus-
schuss betrachte und wenn ich bedenke, dass Sie immer
wieder unsere Anträge zum Thema BSE und zum Thema
Importverbot abgelehnt haben, schon den Eindruck, dass
Sie nicht Motor sind, Frau Fischer, sondern ein ganzes
Stück Getriebene. Sie sind jetzt gut zwei Jahre im Amt. Da
können Sie sich nicht immer mit dem Hinweis auf unsere
Regierungszeit herausreden.
Ich möchte zu den Fakten kommen. Der europäische
Lenkungsausschuss hat Deutschland mit Wirkung zum
1.August 2000 – also während Ihrer Amtszeit – zum BSE-
Risikogebiet erklärt. Das war vor gut vier Monaten, Frau
Fischer. Die EU hat zu jener Zeit gefordert, dass Deutsch-
land vier Maßnahmen gleichzeitig auf den Weg bringt: ein
generelles Tiermehlverfütterungsverbot, eine stärkere
Überwachung und epidemiologische Kontrolle der ge-
schlachteten Tiere, eine Verbesserung der Sicherheits-
standards bei der Tiermehlproduktion und die Heraus-
nahme des Risikomaterials aus der Futtermittel- und
Nahrungskette.
Sie kritisieren in diesem Zusammmenhang zwar im-
mer Frau Stamm, aber eines müssen Sie doch zur Kennt-
nis nehmen: Horst Seehofer hatte als Bundesgesundheits-
minister eine Verordnung erlassen, die vorgesehen hatte,
dieses Risikomaterial zum 1. September 1999 aus der Fut-
termittelkette herauszunehmen. Sie haben mit Ihrer rot-
grünen Bundesregierung das In-Kraft-Treten dieser Ver-
ordnung auf den 1. Oktober 2000 verschoben. Da können
Sie sich doch nicht hier im Bundestag hinstellen und sich
als Jeanne d’Arc, als große Vorkämpferin für den Ver-
braucherschutz aufspielen! Nein, Frau Fischer, Sie waren
die letzten Monaten im BSE-Dornröschenschlaf.
Nachdem dieser BSE-Fall in Deutschland aufgetreten
ist, verbreitet man nun Hysterie und verfällt in eine pani-
sche Gesetzgebungshektik. Wir sind dieses Hin und Her
– wir haben es hier im Deutschen Bundestag wieder live
erlebt – zwischen Landwirtschaftsministerium und Ge-
sundheitsministerium wirklich leid. Wer in den letzten
Ausschusssitzungen dabei war, hat verfolgen können, wie
die Gesundheitsministerin dem Landwirtschaftsminister
widerspricht und umgekehrt. Es ist ein Trauerspiel, was
wir zwischen den Ministerien immer wieder erleben. Da
können Sie doch nicht sagen, Sie hätten einen klaren
Kurs. Bei der Bundesregierung weiß doch die linke Hand
nicht, was die rechte tut, und umgekehrt. Mit souveräner
Amtsführung und einem funktionierenden Krisenma-
nagement hat das beileibe nichts zu tun.
Sie werfen uns vor, wie es bei uns aussieht, Frau
Fischer; aber die CDU/CSU hat es geschafft, hier einen
gemeinsamen Entschließungsantrag einzubringen. Un-
sere Linie ist in diesen Dingen völlig klar.
Ich halte es für sehr abenteuerlich und inkonsequent,
wenn Sie im Zusammenhang mit den BSE-Tests sagen,
Sie hätten eine klare Linie gehabt. Ich erinnere mich, Frau
Fischer, dass im Ausschuss zunächst davon gesprochen
worden ist, Stichprobentests einzuführen. Dann plötzlich
war von flächendeckenden Tests die Rede. Schließlich
war von 30Monate alten Rindern die Rede, jetzt wird von
24 Monate alten Rindern gesprochen. Wie sollen sich
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Andrea Fischer, Bundesministerin
13660
denn die Bundesländer darauf einstellen, wenn die Vorga-
ben dieser Bundesregierung nicht eindeutig sind, welche
Art BSE-Schnelltest sie eigentlich will?
Ich begreife noch etwas nicht; das muss ich wirklich
sagen. Weil wir in Deutschland ein hohes BSE-Risiko ha-
ben, fangen wir an, bestimmte Futtermittel zu verbieten.
Das ist richtig; das haben wir auch mitgetragen. Aber ist
es konsequent, wenn Sie auf der anderen Seite zulassen,
dass aus Ländern, die genau diese Futtermittel noch ein-
setzen, für den deutschen Verbraucher Fleisch auf den
Markt kommt?
Das ist doch völlig inkonsequent. Das hat mit Verbrau-
cherschutz nichts mehr zu tun. Deswegen fordern wir ein
sofortiges Importverbot für Rindfleisch aus Großbritan-
nien, Irland, Frankreich und der Schweiz.
Sie weisen auf die Kennzeichnungspflicht hin. Aber
diese ist doch völlig unzureichend. Ich weiß nicht, wann
Sie das letzte Mal in einer Metzgerei waren. Wir können
ja einmal ums Eck gehen und eine Metzgerei aufsuchen.
Was soll denn für den Verbraucher durch die Kennzeich-
nungspflicht erreicht werden? Eine Kennzeichnung in
diesen Bereichen bringt dem Verbraucher nichts. Wir
brauchen entsprechende Schutzmaßnahmen und diese
können nur in einem Importverbot liegen.
Diese Bundesregierung klopft zwar starke Sprüche,
aber beim Handeln fehlt letztlich die Konsequenz. Es ist
mit Sicherheit gut, dass Vertrauen geschaffen werden soll.
Es ist auch gut, dass jetzt bestimmte Maßnahmen ergrif-
fen worden sind. Aber die letzte Konsequenz im Handeln
fehlt. Wir brauchen in Sachen Importverbot endlich Maß-
nahmen seitens dieser Bundesregierung. Stimmen Sie un-
seren Anträgen zu, die wir gestellt haben, und kommen
Sie in Sachen Importverbot endlich in die Gänge!
Danke schön.
Jetzt hat die Kollegin
Jella Teuchner für die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
legen! Liebe Kolleginnen! „Deutschland hat kein BSE-
Problem“ – wie gern würden wir nicht alle noch von die-
ser Situation ausgehen. Leider müssen wir aber nach dem
positiven BSE-Test bei einem Rind in Schleswig-Holstein
jetzt einräumen, dass die Seuche weder besiegt ist noch an
Landesgrenzen Halt macht.
Bereits beim ersten Auftauchen dieser Tierseuche in
Großbritannien vor weit mehr als zehn Jahren wäre es nötig
gewesen, den kritischen Forschern Gehör zu schenken.
Stattdessen wurde vollmundig vom „gesunden Rind-
fleisch“ geredet. Dank der damaligen Tatenlosigkeit Groß-
britanniens, aber auch der Tatenlosigkeit der damaligen
deutschen Bundesregierung, Herr Wolf, und auch der Eu-
ropäischen Kommission verstrich wertvolle Zeit. Der vor-
beugende gesundheitliche Verbraucherschutz wurde sträf-
lichst vernachlässigt.
Der „Spiegel“ vom 4. Dezember dieses Jahres titelt sehr
makaber „Das Problem ist gegessen“. Dieser Artikel
macht doch eigentlich deutlich, wie rätselhaft die un-
heimliche Rinderseuche BSE nach wie vor ist. Deshalb
haben wir auch in der vergangenen Woche das generelle
Tiermehlverfütterungsverbot für Deutschland durchge-
setzt.
Das Problem der Entsorgung selbst sicher hergestellten
Tiermehls darf doch wohl nicht über die Nahrungsmittel-
kette gelöst werden. An die Adresse des Bauernverbands-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das ist sehr zynisch: Kreislaufwirt-
schaft als Kannibalismus!
In Brüssel hat man sich unserem Votum angeschlossen,
allerdings zunächst einmal nur für ein halbes Jahr. Hier
werden wir unserem Landwirtschaftsminister den Rücken
stärken in dem Bemühen, dass es in weiteren Ver-
handlungen auch auf EU-Ebene zu einem Dauerverbot
kommt.
Denn im europäischen Binnenmarkt müssen einheitliche
Rahmenbedingungen gelten. Dazu gehört als nächster
Schritt meines Erachtens nicht nur die volle Deklaration
der zugelassenen Futtermittel – denn Nutztiere müssen
natürlich auch weiterhin gefüttert werden –, sondern auch
die Deklaration von Tierarzneimitteln. Nur die völlige Of-
fenlegung kann den Verbraucherinnen und Verbrauchern
verloren gegangenes Vertrauen zurückgeben.
Wir werden in nächster Zukunft sicherlich viele wei-
tere Verhandlungen mit den Vertretern der Landwirte,
dem Bauernverband, mit Futtermittelherstellern und mit
Anbietern von Tierarzneimitteln zu führen haben. In die-
sem Zusammenhang muss ich auch unsere alte Forderung
an die Bundesländer wiederholen: Die Kontrollinstanzen
müssen so gestärkt werden, dass eine umfassende Über-
wachung gewährleistet ist. Die Zuständigkeiten müssen
eindeutig und auch klar geregelt werden.
Ganz wichtig ist mir aber auch der Schutz der Men-
schen vor vermeidbaren Risiken auch bei Lebensmitteln.
Diese alltäglichen Mittel zum Leben müssen höchsten
Ansprüchen an die Sicherheit genügen. Das In-Verkehr-
Bringen gesundheitsgefährdender Stoffe ist verboten.
Also muss Risikomaterial aus der Nahrungskette heraus-
gehalten werden.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Aribert Wolf
13661
Wir müssen diese Krise aber auch als Chance zum Um-
steuern nutzen. Ich zitiere unseren Bundeskanzler aus
dem „Spiegel“ dieser Woche:
BSE wird eine veränderte, verbraucherorientierte
Landwirtschaft erzwingen ... Ich sehe nicht, wie
sonst auf Dauer wieder Vertrauen hergestellt werden
kann. Ich teile nicht die Hoffnung derer, die sagen, in
einem halben Jahr sei alles das schon wieder verges-
sen.
Diese Einschätzung unterstütze ich als Verbraucherpoliti-
kerin uneingeschränkt. Verbraucher lassen sich nicht
mehr mit Halbwahrheiten abspeisen.
Deshalb wiederhole ich hier die Hoffnung: Verbrau-
cherinteressen müssen sich originär in einem parlamenta-
rischen Gremium wiederfinden. Unsere europäischen
Nachbarn und auch das EU-Parlament können uns da als
Vorbilder dienen.
Aber trotz aller berechtigten Besorgnis sollten wir die-
ser Hysterie energisch entgegentreten. Bei uns gelten ein-
deutige, verbraucherfreundliche Vorschriften. Tiermehl-
verfütterung ist verboten. Fleisch wird nach dem
Herkunftsprinzip gekennzeichnet: in Deutschland gebo-
ren, in Deutschland aufgewachsen, in Deutschland ge-
schlachtet. Die BSE-Schnelltests sind für Rinder ab
30 Monaten verbindlich vorgeschrieben. Risikomaterial
wird vernichtet, also keiner weiteren Verwendung zuge-
führt. Die Möglichkeit freiwilliger BSE-Tests auch bei
jüngeren Tieren in anerkannten Labors wird bereits von
einigen Rinderzüchtern genutzt. – Ich halte dies für einen
richtigen Weg, das Vertrauen der Verbraucher zurückzu-
gewinnen. Diese werden dann auch honorieren, dass si-
cheres Fleisch seinen Preis hat.
Zum Abschluss muss ich kurz noch die neuesten Mel-
dungen von heute aufgreifen. Landwirte in Schleswig-
Holstein – und wer weiß wo sonst noch – haben in diesen
Tagen vor den verbindlichen BSE-Tests für Tiere ab
30 Monaten noch ganz schnell vermehrt ihre älteren Rin-
der schlachten lassen. So, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, stelle ich mir vertrauensbildende Maßnahmen aller-
dings nicht vor.
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Peter Bleser, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! In einer Krise den Überblick zu be-
halten ist eine Fähigkeit, die gute Führungspersonen aus-
zeichnet.
Wenn wir diese Messlatte anlegen, dann hat der Bundes-
kanzler mit seinen Ministern Funke und Fischer kläglich
versagt.
Montags erklärt der Landwirtschaftsminister, dass er
Tiermehl für unbedenklich hält. Dienstags behauptet die
Gesundheitsministerin das Gegenteil. Freitags erklärt der
Bundeskanzler aus Zagreb, dass die Gesundheitsministe-
rin Recht hat. Dann dreht sich auch der Landwirtschafts-
minister.
Herr Minister, gestern im Kabinett sind Sie kläglich al-
lein gelassen worden. Ich frage Sie, wie lange Sie sich das
noch gefallen lassen. Sie werden öffentlich vorgeführt.
Sie werden zum Tanzbären des Kabinetts gemacht.
Die Bundesregierung hat – das meine ich jetzt sehr
ernst – mit ihrem unkoordinierten Verhalten den Land-
wirten, den Verbrauchern und den Futtermittelproduzen-
ten schweren Schaden zugefügt. Ich bin sicher: Hätte der
Bundeskanzler Ende November die Fäden in die Hand ge-
nommen, was seine Pflicht gewesen wäre, und seine wi-
derspenstigen Minister zu einheitlichem Handeln veran-
lasst, dann hätten wir nicht diese tiefe Vertrauenskrise
bekommen. Hätte er die Vertreter der Wissenschaft, des
Bauernverbandes und der Wirtschaft, aber auch die Ver-
braucher an einen Tisch bekommen, dann wäre diese tiefe
Krise in der Fleischwirtschaft mit Sicherheit nicht ent-
standen.
Wir müssen eines wissen: In Großbritannien gibt es bis
heute mehr als 190 000 BSE-Fälle, in Deutschland zwei.
Auch hier muss man noch Fragezeichen machen. Ich sage
es ganz vorsichtig: Es ist schon mehrfach angesprochen
worden, dass der Test nicht ganz sauber abgelaufen ist,
dass keine Rückstellprobe vorhanden ist und dass der
Kopf des Tieres abhanden gekommen ist. Mehr kann man
heute dazu nicht sagen. Aber wenn sich da eine andere
Entwicklung abzeichnet, dann sind mehrere Köpfe fällig,
die die Verantwortung dafür übernehmen müssen.
Meine Damen und Herren, wir kommen nicht weiter,
wenn wir nicht für den Verbraucher nachvollziehbare
Maßnahmen ergreifen, die ihm das Vertrauen zumindest
in das deutsche Rindfleisch zurückgeben. Ich frage des-
halb die Bundesregierung: Wie wollen Sie mit Fleischim-
porten aus Ländern umgehen, in denen, wie in den Nie-
derlanden, zum Beispiel noch Tierfette verfüttert werden
dürfen? Wie wollen Sie mit Fleisch aus Ländern umge-
hen, in denen kein BSE-Test durchgeführt wird, wie zum
Beispiel den meisten Drittländern? Ich frage auch: Was
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Jella Teuchner
13662
geschieht mit der Erlaubnis des Imports von britischem
Rindfleisch nach Deutschland? Ich habe gerade die Risi-
kolage geschildert. Auch hier sind Sie nicht konsequent
und es müsste gehandelt werden. Sie müssen diese Fragen
schnellstens beantworten, damit die Menschen wieder
Vertrauen gewinnen.
Es stellt sich des Weiteren die Frage, wie wir nach dem
Tiermehlverbot die in Deutschland und Europa entstan-
dene Proteinlücke schließen. Ich meine, wir wären gut be-
raten, wenn wir entsprechende Anreize schaffen würden,
damit bei uns wieder proteinhaltige Pflanzen angebaut
werden und wir nicht auf Importe dieser Pflanzen aus
Nordamerika, die unter Umständen gentechnisch verän-
dert sind, was auch die Verbraucher nicht wollen, oder auf
Importe aus Südamerika, was mit Sicherheit eine weitere
Rodung des Regenwaldes nicht verhindern würde, ange-
wiesen sind.
Meine Damen und Herren, es wird an dieser Stelle
sichtbar, dass wir eine Neuausrichtung der deutschen und
der europäischen Agrarpolitik brauchen. Das Absenken
der landwirtschaftlichen Produktionspreise auf das Dum-
pingniveau des Weltmarktes hat jedenfalls nicht zu einer
Erhöhung der Lebensmittelsicherheit beigetragen.
Wir brauchen also einen Pakt zwischen Verbrauchern und
Landwirten. Wir brauchen eine mehr verbraucherschutz-
orientierte Lebensmittelerzeugung. Dazu bräuchten wir
allerdings eine Bundesregierung, welche in der Lage ist,
diesen Anspruch national und international durchzusetzen
oder uns vor Importen von Nahrungsmitteln zu schützen,
die unsere Standards nicht erreichen. Im Rahmen der
BSE-Tests hat jedenfalls die Bundesregierung ihren Test
nicht bestanden.
Zum Abschluss hat
nun das Wort der Kollege Matthias Weisheit für die SPD-
Fraktion.
Matthias Weisheit (von der SPD mit Beifall
begrüßt): Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und
Kollegen! Vielleicht kann ich ein bisschen von der vorhin
überzogenen Redezeit einsparen. Das fällt mir umso
leichter, als in diesem Zusammenhang, wenn ich einmal
die politische Lyrik und das Draufhauen von Peter Bleser
weglasse, eine ganze Menge an Gemeinsamkeiten he-
rausgekommen ist.
Zu den Ausführungen von Frau Widmann-Mauz und
des Kollegen Wolf möchte ich jedoch feststellen: Sie kön-
nen nichts dafür, dass Sie vor ein paar Jahren noch nicht
im Bundestag waren. Ich würde Ihnen aber dringend emp-
fehlen, sich einmal mit Ihrem Altkanzler sowie mit Herrn
Seehofer und Herrn Borchert darüber zu unterhalten, wie
man in Europa Dinge durchsetzt bzw. wie Alleingänge
wirken und was sie nützen. Sie handeln wie das frühere
Cleverle in Baden-Württemberg, Frau Widmann-Mauz:
Sie prügeln auf Bonn und auf Europa ein, sind aber der
Meinung, dass in Baden-Württemberg alles in Ordnung
ist. – Genauso handeln Sie jetzt.
Dies ist zwar wunderbar; nur, das alles bringt nichts.
Sie haben vorhin danach gefragt, wann von Brüssel
festgelegt worden ist, dass Deutschland den Status eines
BSE-Risikolandes einnimmt. Wer ist denn für die Umset-
zung der in diesem Zusammenhang erforderlichen Maß-
nahmen verantwortlich? Für die Umsetzung ist der Bun-
desrat zuständig. Auf Antrag des Bundesrats ist das
Verfahren viermal verschoben worden. Das können Sie
doch nicht der Bundesregierung vorwerfen.
– Doch, genauso ist es.
Ich erinnere mich noch an die Brandbriefe von TBAs
aus meinem Wahlkreis, in denen gefragt wurde: Wie könnt
ihr so schwachsinnig sein und eine solche europäische An-
ordnung durchsetzen? Auch die zuständigen Landes-
minister waren entsetzt. Der baden-württembergische Mi-
nisterpräsident hat noch vor 14 Tagen behauptet, in
Baden-Württemberg würden flächendeckend BSE-Tests
durchgeführt, obwohl überhaupt noch nichts läuft, wie er
hinterher hat eingestehen müssen. Erst nächstes Jahr wird
dies der Fall sein. – Auch in dieser Sache herrscht also wie-
der einmal eine große Heuchelei. Wir sollten – das habe ich
kürzlich schon gesagt – damit aufhören.
Wir alle miteinander haben jetzt im Umgang mit der
BSE-Krise etwas ganz Konsequentes gemacht: Wir haben
verboten, Tiermehl und sämtliche Nebenprodukte zu ver-
füttern, weil das Tiermehl und dessen Nebenprodukte ein
Infektionsrisiko beinhalten. Wenn überhaupt eine Chance
besteht, diese Seuche zu verbannen, sodass wir in ein paar
Jahren sagen können: „Es ist wirklich überwunden“, dann
gelingt dies nur – darauf wurde schon hingewiesen – über
das Verfütterungsverbot.
Es ist natürlich schlimm – das Wort, das ich eigentlich
hätte sagen wollen, lasse ich lieber weg –, dass der Agrar-
ministerrat nicht dem gefolgt ist, was die Kommission
vorgeschlagen hat. Ich kann den Minister nur unterstüt-
zen, wenn er sagt, dass er dem nicht zustimme und dies
ablehne. Wir müssen weiter dafür sorgen, dass das um-
fassende Verfütterungsverbot EU-weit durchgesetzt wird.
– Moment, Uli, darauf komme ich vielleicht noch zu spre-
chen, wenn die Zeit reicht. – Dieses Verfütterungsverbot
muss EU-weit umgesetzt werden und dies muss dauerhaft
sein. Ich will noch auf den Kollegen Deß und andere
zurückkommen, die gefragt haben, was der Kanzler im
Zusammenhang mit den Agrarfabriken gemeint hat. Wir
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Peter Bleser
13663
müssen nicht über bestimmte Hühnerställe und Geflügel-
haltung reden; das ist klar. Es geht um etwas ganz ande-
res. In den letzten Jahrzehnten – alle, die wir an der Agrar-
politik beteiligt waren, haben uns nicht mit Ruhm
bekleckert, die Wissenschaft möglicherweise auch nicht –
sind Ideen der Industrie in die landwirtschaftliche Pro-
duktion hineingekommen: Outsourcing, Spezialisierung
bis zum Gehtnichtmehr.
Der Bauer weiß am Schluss nicht mehr über sein Futter-
mittel Bescheid; das ist der Punkt.
Dann ist der kleinste Bauernhof, jeder Familienbetrieb,
der auf einen Futtermittelhändler angewiesen ist und nicht
mehr kontrollieren kann, was im Futter enthalten ist, ge-
nauso dran wie jemand, der einen riesigen Betrieb hat.
Über diese Strukturen, über das Preisdiktat, über das Dik-
tat der Ökonomen müssen wir nachdenken.
– Nein, Uli! Das ist der Punkt, über den wir nachdenken
müssen.
Wenn die Kälbermäster heute sagen, es gehe nicht an-
ders, die Tiere zu ernähren, dann kann ich nur sagen, dass
es bei mir im Dorf zwei, drei Bauern gibt, bei denen das
selbstverständlich geht. Früher hat man die Kälber doch
auch groß bekommen. Warum soll das nicht mehr gehen?
Das ist der Beweis dafür, dass etwas nicht mehr stimmt.
Wenn man behauptet, es wäre unmöglich, Kälber zu mäs-
ten, ohne dass man ihnen Reststoffe – Stoffe aus der Ab-
fallverwertung dieser Gesellschaft – verfüttert, dann ist
das nicht wahr. Das ist alles nur eine Frage des Geldes.
Darum geht es in der nächsten Diskussion und die werden
wir anpacken.
Danke schön.
Die aktuelle Stunde
ist beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform
und Verbesserung der Ausbildungsförderung –
Ausbildungsförderungsreformgesetz
– Drucksache 14/4731 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
gemäß § 96 GO
b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Maritta Böttcher, Dr. Heinrich Fink, Angela
Marquardt und der Fraktion der PDS eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der
Gebührenfreiheit des Hochschulstudiums
– Drucksache 14/3005 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung
– Drucksache 14/4455 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Eckardt
Thomas Rache
Matthias Berninger
Cornelia Pieper
Maritta Böttcher
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Bevor ich der Frau Ministerin das Wort gebe, müssen
wir noch ein wenig auf Ruhe warten. – Es ist schade, dass
die Bauern jetzt den Saal verlassen. Sie hätten ruhig dabei
bleiben können, wenn es jetzt um die Ausbildungsförde-
rung geht.
Es ist schade, dass wir häufig die Debatten der anderen
Fachbereiche nicht verfolgen; denn sie sind immer ganz
spannend. Ich kann Ihnen als Vizepräsidentin bestätigen,
dass man auch zu fremden Themen eine Menge lernt. Das
war aber nur eine Randbemerkung.
– Herr Ronsöhr kommt wieder.
– Das ist schön. Jetzt aber bitte zuhören, Herr Kollege.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat nun die
Bundesministerin für Bildung und Forschung, Edelgard
Bulmahn.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Matthias Weisheit
13664
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Sie können mir ruhig zuhören, lieber Kol-
lege, weil es jetzt um etwas Erfreuliches geht und weil ich
weiß, dass Bauern und Bäuerinnen durchaus dazulernen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Noch nie ist in Deutschland so viel in Ausbildung und Bil-
dung investiert worden wie heute.
Eine gute Ausbildung ist für junge Menschen das Tor
überhaupt für ihr weiteres Leben. Sie entscheidet über die
persönlichen Lebenschancen und über die beruflichen
Karrierechancen. Deshalb sollte jeder Mensch die Chance
für die bestmögliche Ausbildung erhalten, auch diejeni-
gen, denen keine goldene Kreditkarte in die Wiege gelegt
worden ist.
Schon als wir Anfang und Mitte des Jahres im Bun-
destag über die BAföG-Reform diskutiert haben, waren
es weniger tief greifende Meinungsunterschiede über Er-
fordernisse und Lösungsansätze einer grundlegenden Re-
form, die den politischen Schlagabtausch prägten, als
vielmehr lautstark von der Opposition vorgetragene
Zweifel und die Skepsis hinsichtlich der Realisierungs-
und Finanzierungschancen meiner damals gerade vorge-
legten Eckpunkte.
Die Zweifel an der Finanzierbarkeit sind seit der Vor-
lage des Regierungsentwurfs für den Haushalt 2001 ver-
stummt,
zu Recht, weil wir mit dem Regierungsentwurf mehr als
1 Milliarde DM zusätzlich für das BAföG mobilisieren
werden. Das hat schließlich dazu geführt, dass im No-
vember der Bundesrat im ersten Durchgang keinerlei
grundsätzliche Zweifel und Einwände gegen die Reform-
ansätze im Regierungsentwurf des Bundesausbildungs-
förderungsgesetzes formuliert hat.
Deshalb werden nach dem jetzigen Stand alle Bundeslän-
der dem Entwurf ihre Zustimmung geben.
Für zusätzliche Fördermaßnahmen werden in der Re-
form der Ausbildungsförderung – ich sagte es bereits – zu-
sätzlich mehr als 1 Milliarde DM mobilisiert.
Das heißt im Ergebnis, dass wir die Mittel gegenüber
1998 um insgesamt 50 Prozent aufstocken. Damit können
wir erreichen, dass künftig über 80 000 junge Menschen
zusätzlich gefördert werden, indem sie eine spürbare
finanzielle Hilfe erhalten. Auch Kinder eines Facharbei-
ters oder einer Büroangestellten können künftig wieder
studieren, ohne dass ihre Eltern jeden Pfennig zweimal
umdrehen müssen.
Genau das war das Ziel, das wir mit dieser Reform errei-
chen wollten.
Es ist jetzt an Ihnen, den Gesetzentwurf Wirklichkeit
werden zu lassen.
Die verfehlte bildungspolitische Prioritätensetzung der al-
ten Bundesregierung, unter deren Verantwortung die Aus-
bildungsförderung in Grund und Boden gefahren wurde,
hatte das Ergebnis, dass immer weniger Jugendliche über-
haupt noch einen Anspruch auf Förderung hatten und
Ausbildungsförderung wirklich in Vergessenheit geriet.
Eine solche Politik wird dann endgültig der Geschichte
angehören.
Das BAföG wird mit dieser Reform in der Lebens- und
Ausbildungsplanung von jungen Menschen wieder die
Rolle spielen, die ihm zukommt.
Das BAföG wird wieder die wichtige Brückenfunktion
für die Entscheidung zur Aufnahme eines Studiums ha-
ben. Das gilt vor allem für Kinder aus einkommens-
schwächeren Familien.
Mit dem Ihnen heute zur ersten Lesung vorliegenden
Regierungsentwurf eines Ausbildungsförderungsgesetzes
werden wir endlich wieder gehörig in die Qualifizierung
unserer Kinder investieren und wir werden damit auch
gehörig in die Wettbewerbsfähigkeit unserer Gesell-
schaft investieren, weil wir in einer Zeit, in der Wissen
eine immer größere Bedeutung für uns alle hat, nur beste-
hen werden, wenn wir über sehr gut ausgebildete Men-
schen verfügen.
Wir werden auch noch ein Zweites erreichen: Wir wer-
den mit dieser grundlegenden Reform neue Begabungsre-
serven erschließen; auch das ist nötig. Denn wenn wir uns
die Zahl der Studienanfänger in Deutschland anschauen,
dann stellen wir fest, dass wir mit einem Anteil von
28 Prozent an einem Jahrgang deutlich unter dem interna-
tionalen Durchschnitt liegen. In den USA beginnen
44 Prozent aller Jugendlichen nach der Schule ein Stu-
dium. In Israel sind es 49 Prozent und in Finnland sogar
58 Prozent.
Die Diskussionen um die Green Card und den Fach-
kräftemangel, der jetzt in vielen wissenschaftlichen Be-
reichen spürbar ist, haben hoffentlich für alle deutlich ge-
macht, dass wir es uns überhaupt nicht leisten können,
nicht das gesamte Potenzial an Begabungen in unserem
Land tatsächlich zu nutzen. Wir müssen den jungen Men-
schen die Chance geben, ihre Wünsche auch realisieren zu
können.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000 13665
Wir brauchen mehr und nicht weniger Hochschulab-
solventen, wie es noch vor wenigen Jahren immer be-
hauptet wurde. Wir brauchen mehr und besser ausgebil-
dete Hochschulabsolventen, wenn wir auch in Zukunft
wettbewerbsfähig sein wollen.
Ernsthafte Alternativvorschläge zu unserem Gesetz-
entwurf gibt es nicht.
Die Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P. halten zwar
an ihrem als Gesetzentwurf eingebrachten Modell fest,
aber wie ernst sie selbst diesen Entwurf nehmen, der mit
wirklich heißer Nadel gestrickt worden ist,
sieht man daran, dass sie bis heute noch nicht einmal die
augenfälligsten Schwachstellen in ihrem Gesetzentwurf
korrigiert haben. Zu § 53, unter der Überschrift „Aufbrin-
gung der Mittel“, meine lieben Kolleginnen und Kollegen
von der F.D.P., befindet sich in Ihrem Entwurf bis heute
nichts als ein weißer Fleck.
Wenn Sie es ernst nehmen würden, hätten Sie diesen au-
genfälligsten weißen Fleck schon beseitigt.
Ich stelle fest, dass wir mit unserer Reform eine solide
Grundlage dafür schaffen, dass die Ausbildungsförderung
ihren Namen endlich wieder verdient.
Wir schaffen diese Grundlage, indem wir das BAföG den
gestiegenen Lebenshaltungskosten anpassen. Wir heben
die Bedarfssätze deutlich an. Der Höchstsatz steigt um
7,3 Prozent von 1 030 DM auf 1 105 DM. Da das Kin-
dergeld künftig nicht mehr angerechnet wird, stehen den
Familien BAföG plus 270 DM Kindergeld zur Verfügung.
Dies ist eine spürbare Verbesserung, die jeder merken
wird.
Das Antragsverfahren für die Ausbildungsförderung
wird vereinfacht. Die Freibeträge werden deutlich ange-
hoben, womit wir den Kreis der Anspruchsberechtigten
erweitern. Das bedeutet eine erhebliche Verbesserung für
Bezieher unterer und mittlerer Einkommen. Ich nenne ein
Beispiel: Familien mit zwei studierenden Kindern werden
künftig voll gefördert, wenn das Bruttoeinkommen der
Eltern 3 900 DM monatlich nicht übersteigt. In der Ver-
gangenheit lag diese Grenze bei 2 900 DM. Dies ist also
ein Unterschied von 1 000 DM.
Wir tun ein Weiteres: Wir begrenzen die Gesamtdarle-
hensbelastung für die Jugendlichen auf höchstens
20 000 DM.
Wir tun dies, weil wir nicht wollen, dass gerade die Ju-
gendlichen aus den einkommensschwächsten Familien
am Ende ihres Studiums mit dem größten Schuldenberg
dastehen.
Ich denke, dass dies auf breite Zustimmung stößt. In Zu-
kunft werden junge Menschen nicht mehr durch die Höhe
der drohenden Schuldenlast von einem Studium abgehal-
ten. Es ist für sie kalkulierbar. Sie können einschätzen,
wie viel Schulden sie am Ende haben werden, wenn sie
Mittel in Anspruch nehmen.
Bei der Ausbildungsförderung stellen wir Studierende
aus Ost und West endlich gleich. Auch das ist notwendig
und von der Sache her richtig. Ich denke, hier gibt es kei-
nen Dissens.
Zweitens. Wir unterstützen besonders Studierende
mit Kindern. In der Vergangenheit mussten Studierende,
die wegen der Kindererziehung oder aus anderen Grün-
den die Regelstudienzeit überschritten, ihr Studium häu-
fig abbrechen, weil die Förderung wegfiel. Damit sind
nicht nur die erbrachten Studienleistungen, sondern auch
die staatlichen Investitionen in die Ausbildung verfallen.
Deshalb verbessern wir die Studienbedingungen für Stu-
dierende mit Kindern erheblich.
Die Förderung während der Kindererziehungszeiten
wird bedarfgerechter gestaltet und der Betreuungsauf-
wand für Kinder wird künftig bis zum zehnten Lebensjahr
statt wie bisher bis zum fünften Lebensjahr des Kindes
berücksichtigt. Ich denke, auch dieses wird auf einmütige
Zustimmung stoßen und ist überfällig,
denn der Erziehungsbedarf ist nicht mit fünf Jahren erle-
digt, wie jede Frau und jeder Mann wissen.
Wir führen weiterhin eine verlässliche Studienab-
schlussförderung für die Dauer der Prüfungsphase als
Bankdarlehen ein, und zwar unabhängig von den Grün-
den, die zur Überschreitung der Förderungshöchstdauer
geführt haben. Das heißt, auch bei einer selbst verschul-
deten Unterbrechung des Studiums wird es künftig für die
Studierenden eine zweite Chance geben. Auch dies ist
richtig, weil es besser ist, die bereits getätigte Investition
zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen, als sie völ-
lig verfallen zu lassen.
Drittens. Mit der BAföG-Reform fördern wir Aus-
landserfahrung und interdisziplinäre Zusammenarbeit.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Bundesministerin Edelgard Bulmahn
13666
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben häufig im
Bundestag darüber diskutiert, dass wir heute in einer glo-
balen Welt leben und dass es für immer mehr Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer selbstverständlich geworden
ist, eine Zeit lang im Ausland zu arbeiten und zu leben.
Für die Arbeitgeber sind Auslandserfahrungen bei der
Einstellung neuer Mitarbeiter ein wichtiges Kriterium,
eine wichtige Qualifikation.
Deshalb treiben wir die Internationalisierung unserer
Ausbildungsstätten, auch unserer Hochschulen, voran.
Mit der Entwicklung internationaler Studiengänge, der
Einführung von Bachelor- und Master-Abschlüssen,
deren Zahl im nächsten Jahr 600 erreichen wird, und mit
dem Ausbau von Austauschmaßnahmen qualifizieren wir
deutsche Studierende für den internationalen und für den
deutschen Arbeitsmarkt und machen unsere Hochschulen
auch für Studierende aus anderen Ländern wieder attrak-
tiv.
Die Reform der Ausbildungsförderung muss dieser Ent-
wicklung folgen.
Wir ermöglichen mit dieser Reform allen Studierenden
lange und intensive Auslandserfahrungen. Ein begon-
nenes Studium wird künftig nach zwei Semestern in
Deutschland innerhalb der Europäischen Union zu In-
landssätzen bis zum Abschluss gefördert werden können.
Mit dieser Regelung übernimmt die Bundesregierung
eine Vorreiterrolle in Europa.
Ich hoffe, dass meine europäischen Kollegen sehr zügig
diesem Beispiel folgen werden.
Interdisziplinarität ist neben der Internationalität
eine zweite Zielsetzung, die wir bei der Reform unserer
Bildungs- und Forschungseinrichtungen groß schreiben.
Warum? Weil heute viele Herausforderungen, vor denen
wir stehen, so komplex sind, dass sie nicht mehr mit Wis-
sen aus einer klassischen Disziplin allein zu lösen sind.
Kaum ein Fach kommt heute noch ohne Informatik aus.
Der Technologietransfer braucht Fachkräfte, die Brücken
zwischen Wissenschaft und Wirtschaft schlagen.
Das sind nur zwei Beispiele, die deutlich machen, dass
wir jugendlichen Studierenden die Möglichkeit geben
müssen, Studiengänge zu kombinieren. Wir dürfen Inter-
disziplinarität nicht nur wortreich im Munde führen, son-
dern müssen sie auch praktizieren.
Deshalb werden wir Master-Studiengänge, die auf einem
Bachelor-Abschluss aufbauen, künftig auch dann fördern,
wenn sie nicht streng fachidentisch sind, sondern eine in-
terdisziplinäre Ergänzung darstellen. Dabei ist es im Übri-
gen unerheblich, ob der Bachelor-Abschluss im Ausland
oder im Inland erworben wurde.
Mit dieser Reform der Ausbildungsförderung, die wir
heute vorlegen, erreichen wir, dass in Zukunft niemand
mehr aus finanziellen Gründen auf ein Studium oder auf
einen Auslandsaufenthalt während des Studiums verzich-
ten muss.
Ich wünsche mir, meine sehr geehrten Damen und Her-
ren, dass Sie mithelfen, dass aus einem zukunftsweisen-
den Gesetzentwurf auch ein zukunftsweisendes Gesetz
wird. Die Studierenden und die Schülerinnen und Schüler
warten darauf.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Angelika Volquartz für die CDU/CSU-Frak-
tion.
We shall see – oder
wie sagt der Engländer?
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es ist natürlich aus Sicht der
Ministerin durchaus legitim, auf Zügigkeit und Erneue-
rung hinzuweisen.
Nur müssen wir den Realitäten ins Auge schauen. Im
13. BAföG-Bericht haben Sie Eckpunkte der Regierung
für Ende 1999 angekündigt. Wir haben jetzt, wenn ich das
richtig sehe, Ende 2000.
– Frau Pieper, Sie sagen auch: Das ist richtig. Gut, das
muss man einmal feststellen.
Wir sind natürlich alle daran interessiert, sehr zügig für
die Schüler und die Studierenden eine Gefördertenquote
von 25 Prozent zu erreichen.
Das verbesserte BaföG wird im kommenden Jahr auch si-
cher den Boden dafür bereiten. Aber, Frau Ministerin,
man muss doch noch einmal daran erinnern, dass der
Grundstein für diesen Gesetzentwurf ganz klar von der
Opposition gelegt worden ist,
und zwar durch unsere Eckpunkte vom November 1999.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Bundesministerin Edelgard Bulmahn
13667
Wesentliche Inhalte dieses Gesetzentwurfes sind in den
Eckpunkten von CDU/CSU wiederzufinden – ich will ein-
mal einige Punkte nennen, die Ihnen zu schnellerem Vor-
gehen verholfen haben –: die Nichtanrechnung des Kin-
dergeldes, eine angemessene Erhöhung der Freibeträge
und Bedarfssätze, eine Begrenzung der Darlehenslast und
eine stärkere Berücksichtigung der Kindererziehung.
Zu diesem Zeitpunkt haben Sie immer noch daran fest-
gehalten, eine generelle Strukturreform durchzuführen.
Die CDU/CSU hat Sie ganz klar vor den finanziellen und
rechtlichen Folgen gewarnt. Sie sagen heute, wir hätten
Zweifel an der Finanzierbarkeit gehabt. Das ist richtig;
denn Sie konnten keine durchgreifende Strukturreform fi-
nanzieren. Den Schwenk zu dieser Reform, die wir ein-
geleitet haben, hat der Kanzler bewirken müssen. Das war
für Sie natürlich besonders bitter.
Ich möchte in dem Zusammenhang Oscar Wilde zitie-
ren:
Gute Vorsätze sind nutzlose Versuche, in wissen-
schaftliche Gesetze einzugreifen.
Das sind in diesem Fall nicht die wissenschaftlichen Ge-
setze, sondern das ist der Finanztopf von Herrn Eichel.
Ihr Ursprung ist pure Eitelkeit.
Das war der Wahlkampf.
Ihr Resultat ist entschieden gleich null.
Das war das Ergebnis. – Daraufhin haben Sie sich unse-
ren Eckpunkten angeschlossen.
Wertvolle Zeit ist verstrichen. Und Zeit ist Geld, und zwar
das Geld der Studierenden und der Schülerinnen und
Schüler.
– Die Wahrheit, Herr Kollege.
Um von dem schleppenden Reformtempo abzulenken,
unternehmen Sie, Frau Bulmahn und auch Ihre Kollegin-
nen und Kollegen von der rot-grünen Koalition, die ganze
Zeit den unzulässigen Versuch, die alte Regierung von
CDU/CSU und F.D.P. als Sündenbock für die niedrigen
Gefördertenquoten hinzustellen.
Dabei sind Sie selber Sünder, und zwar ein ganz schwe-
rer.
Denken wir doch daran, dass die SPD-geführten Län-
der – und da ganz besonders die Finanzminister – zu un-
serer Regierungszeit diese Verbesserung für die Ausbil-
dungsförderung maßgeblich verhindert haben, weil sie
das nicht finanzieren wollten.
Die damaligen rot-grünen Regierungen der Länder tragen
also eine hohe Verantwortung für die Situation der Aus-
bildungsförderung.
Frau Kollegin, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?
Ja. Bevor aber Herr
Tauss seine Zwischenfrage stellt – diese gestatte ich
gerne –, möchte ich in dem Zusammenhang an Herrn
Berninger erinnern, der in seiner letzten Rede zugegeben
hat, dass die Situation so gewesen ist. Er ist ja immer sehr
mutig in seinen Äußerungen und ich kann ihn nur weiter
ermutigen, die Wahrheit beim Namen zu nennen und nicht
zu versuchen, die Vergangenheit zu verklären.
Nun kommt Herr
Tauss. Bitte sehr, Herr Kollege.
Liebe Frau Kollegin, nachdem
wir uns gerade über die Gefördertenquote unterhalten ha-
ben, möchte ich Sie fragen: Können Sie uns freundli-
cherweise einmal vortragen, wie die Gefördertenquote
zum Beispiel 1991, nach der deutschen Einheit, aussah
und wie sie dann zum Ende Ihrer Regierungszeit aussah?
Wenn ich mich recht erinnere, ist die Zahl der Geförder-
ten von 442 000 auf 224 000 zurückgegangen. Wollen Sie
uns ernsthaft erzählen, dass Sie hierfür während Ihrer
Regierung überhaupt keine Verantwortung trugen? Räu-
men Sie nicht ein, dass es Ihnen vielleicht am politischen
Willen fehlte, an diesem sehr bedauerlichen Zustand et-
was zu ändern?
Ich bedanke mich
für Ihre Frage, Herr Kollege Tauss, und weise in diesem
Zusammenhang noch einmal darauf hin, dass die Mehr-
heit der Länder zu jener Zeit rot-grün oder rot regiert war
und dass diese Länder – insbesondere ihre Finanzmi-
nister – trotz der Wiedervereinigung eine Verbesserung
ablehnten.
– Genau, vor allen Dingen das Saarland.
Außerdem haben seinerzeit weniger Studierende aus
den neuen Ländern einen Antrag gestellt, weil sich die so-
zialen Verhältnisse geändert und teilweise verbessert ha-
ben. Viele sind aus den neuen Ländern in die alten Länder
umgezogen, woraus sich auch eine Änderung der Geför-
dertenquote ergeben hat. – Danke schön, Herr Tauss.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Angelika Volquartz
13668
Herr Kollege, Sie dür-
fen sich setzen. Das war die Beantwortung der Frage.
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich komme nun zum Regierungsentwurf.
Frau Bulmahn, der Regierungsentwurf ist in der Tat
brauchbar.
Warum das so ist, habe ich bereits deutlich gemacht: weil
wesentliche Eckpunkte unserer Fraktion darin enthalten
sind.
Die Eckpunkte von CDU/CSU sind aber noch weiter
gehend. Deshalb erinnere ich heute noch einmal daran,
dass bei der Ost-West-Angleichung eine stärkere Aus-
dehnung erforderlich ist. Wir unterstützen das Vorhaben
zwar so, wie Sie es formuliert haben, möchten aber wei-
ter gehende Schritte unternehmen, wie wir es schon im
Ausschuss deutlich gemacht haben.
Besonders erfreulich ist aus unserer Sicht, dass sich im
Regierungsentwurf die Begrenzung der Darlehenslast
wiederfindet, die auch von uns gefordert war. Uns treibt
gemeinsam die Sorge um, dass Schüler und Studierende
am Ende eines Studiums zu sehr überschuldet sind, wenn
sie auf diese Ausbildungsförderung angewiesen waren.
Lassen Sie mich eines klarstellen: Sie weisen auf die
Zahlen der Studierenden in anderen Ländern hin. Aller-
dings sind in diesem Zusammenhang nicht Zahlen allein
aussagekräftig,
da auch die Qualität eine Rolle spielt. Man kann also nicht
nur sagen, dass soundso viele Prozent eines Altersjahr-
gangs ein Studium aufnehmen, sondern man muss dabei
auch beachten, ob sie das Studium beenden und ob die
Qualität der Ausbildung so ist, dass die jeweiligen Pro-
zentzahlen für Deutschland überhaupt erstrebenswert
sind. In einigen Fällen habe ich da starke Zweifel.
Des Weiteren weise ich darauf hin, dass der Entwurf
jetzt auf eine Begrenzung der Darlehenslast hoffen lässt.
Die augenblicklich vorgesehene Kappung bei 20 000 DM
ist aus unserer Sicht aber ebenfalls noch verbesserungs-
würdig, da sich für überdurchschnittlich gute Studierende
das Problem ergibt, dass Erlassbeträge, die sie durch ein
intensives, schnell absolviertes Studium erreichen kön-
nen, von der Darlehenssumme abgezogen werden, bevor
die Kappung greift. Das ist kein Leistungsanreiz, sondern
genau das Gegenteil. Darüber sollten wir im Ausschuss
sprechen.
Warum müssen wir Anreize für Leistungsstarke schaf-
fen? Die deutschen Akademiker sind im internationalen
Vergleich viel zu spät im Beruf. Das liegt zum einen an
der Schule; nach wie vor stemmen sich die SPD-regierten
Länder gegen die flächendeckende Einführung einer
12-jährigen Schulzeit.
Zum anderen liegt es daran, dass man nicht genug Leis-
tungsanreize während des Studiums schafft. Die beste Vo-
raussetzung, für einen problemlosen Einstieg in das Be-
rufsleben, ist, schnell und qualifiziert studiert zu haben.
Lassen Sie uns also auch an dieser Stelle noch einmal
nachbessern.
Wir sehen auch in weiteren Punkten einiges kritisch,
zum Beispiel die neue Studienabschlussförderung. Sie
hatte bisher zur Voraussetzung, dass ein Studierender in-
nerhalb der Förderungshöchstdauer zur Abschlussprü-
fung zugelassen sein musste. Künftig soll eine Prüfungs-
zulassung innerhalb von vier Semestern nach Ende der
Förderungshöchstdauer genügen. Eine solche Regelung
hat tendenziell eine studienzeitverlängernde Wirkung.
Auch darüber müssen wir im Ausschuss reden. Die neuen
Regelungen zur Berücksichtigung der Kindererziehungs-
zeiten begrüßen wir ausdrücklich. Ganz im Sinne der Uni-
onsfraktion wird hier ein Zeichen für die Familie gesetzt.
Auch die Erhöhung der Freibeträge bei Waisenrenten ist
richtig, geht uns aber nicht weit genug. Wir wollen die
Freibeträge für Schüler vereinheitlichen und auf 340 DM
anheben.
Man kann also sagen, dass der Gesetzentwurf im
Großen und Ganzen für die Schülerinnen und Schüler so-
wie für die Studierenden ein Schritt nach vorne ist. Wir se-
hen aber einen weiteren Diskussions- und Nachbesse-
rungsbedarf im Ausschuss. Im Sinne eines uns ebenfalls
nicht unbekannten Menschen, nämlich Aristoteles, der
einmal gesagt hat: „Der Anfang ist die Hälfte des
Ganzen“, wollen wir im Ausschuss weiter arbeiten.
Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Matthias Berninger, Bündnis 90/Die Grü-
nen
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kol-
legin Volquartz, wenn Sie schon Ehrlichkeit anmahnen,
sollten Sie in Ihrer Rede ein bisschen Selbstkritik üben.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000 13669
Noch einmal: 1991 sind in Deutschland 442 000 Men-
schen durch BAföG gefördert worden. Nachdem der Kol-
lege Rüttgers mit seiner Partei von den Wählerinnen und
Wählern in die Opposition geschickt worden ist, muss er
mit der traurigen Bilanz von 224 000 Geförderten leben.
Das bedeutet: Sie haben das BAföG in Ihrer Regierungs-
zeit komplett an die Wand gefahren. Bevor Sie der neuen
Bundesregierung Vorwürfe machen, sollten Sie sich dafür
erst einmal entschuldigen.
Mit dem Märchen, die gesunkenen Förderzahlen hin-
gen mit einer Besserstellung der Familien in Deutschland
zusammen, müssen wir auch aufräumen. Warum, glau-
ben Sie, hat das Bundesverfassungsgericht 1998 in einem
Urteil eine finanzielle Besserstellung der Familien ver-
langt?
Das haben die bestimmt nicht gemacht,
weil es den Familien so gut ging. Warum, glauben Sie, ha-
ben die Kirchen in einem Armutsbericht übereinstim-
mend gesagt, Kinder seien mittlerweile ein Armutsrisiko
in Deutschland, und warum müssen seit Ihrer Regie-
rungszeit zum Teil schon in der dritten Generation Kinder
von der Sozialhilfe leben?
Das Märchen, dass es den Familien unter der alten Regie-
rung gut gegangen ist, darf man auch vor Weihnachten
niemandem erzählen.
Sie haben völlig Recht: In den Wahlprogrammen der
Sozialdemokraten und von Bündnis 90/Die Grünen wird
eine Strukturreform des BAföG gefordert. Diese Forde-
rung ist auch in die Koalitionsvereinbarung eingegangen.
Wir wollten mehr und ich will auch erklären, warum wir
mehr wollten: Es gibt nach wie vor Ungerechtigkeiten, da
in Deutschland über das Steuerrecht Familien mit hohen
Einkommen zum Teil eine bessere Förderung erhalten als
Familien, deren Kinder über BAföG gefördert werden.
Das ist eine Sache, die uns in den Koalitionsfraktionen
nach wie vor wurmt. Das ist der Grund, warum wir eine
andere Reform wollten.
Wir sind mit diesem Vorhaben aber an einer Reihe von
Faktoren gescheitert: Wir sind zum Ersten daran geschei-
tert, dass diese Reform teurer gewesen wäre,
zum Zweiten sind wir daran gescheitert, dass insbeson-
dere die Länder – auch die CDU-regierten – gesagt haben,
sie wollten keine Änderung des Unterhaltsrechts und sich
nicht in Richtung auf ein elternunabhängiges BAföG be-
wegen. Das haben sie auch in Bundestagsdebatten immer
wieder so verkündet.
Zum Dritten sind wir mit dieser Strukturreform ge-
scheitert, weil es uns nicht gelungen ist, die Ungerechtig-
keiten, die im Familienleistungsausgleich stehen, in einer
Art und Weise deutlich zu machen, wie ich es befürwor-
tet hätte. Das nehme ich selbstkritisch auf meine Kappe.
Ich stehe als Abgeordneter dazu, dass ich mir eine andere
BAföG-Strukturreform gewünscht hätte – darum brau-
chen wir nicht herum zu reden –, bin aber stolz auf das,
was hier vorgelegt worden ist.
Jetzt müssen wir darüber reden, warum ich stolz bin:
Erster Punkt. Die Union hat ein äußerst schlechtes Ge-
wissen gehabt. Immer dann, wenn Unionspolitiker SPD-
Landesminister und vor allem SPD-Landesfinanzminister
zitieren und denen die Schuld an irgendetwas geben, dann
ist das schlechte Gewissen besonders groß.
Wenn Sie heute sagen: „Die Darlehensbelastung zu be-
grenzen ist zwar eine Leistung der Regierung, aber wir
wünschen uns eigentlich mehr“, dann möchte ich Sie da-
ran erinnern, dass Herr Rüttgers in seinen letzten Amtsta-
gen genau das Gegenteil gewollt und gemacht hat.
Der ehemalige Bundesbildungsminister Rüttgers hat das
BAföG endgültig zum Ladenhüter gemacht, als er den
Studierenden zumuten wollte, dass die BAföG-Darlehen
zukünftig nicht mehr zinslos gewährt, sondern banküblich
verzinst werden sollten.
Darüber haben wir schon letzte Woche diskutiert. Ich
finde, das muss man auch sagen: Die CDU hat ihre Posi-
tion grundlegend geändert.
Es ist ja in Ordnung, wenn Sie den Menschen nicht zu
hohe Darlehensbelastungen zumuten wollen. Aber dann
sagen Sie bitte, dass Sie, solange Sie Regierungs-
verantwortung hatten, das Gegenteil wollten. Sie haben
gelernt. Dass Sie schneller als wir in der Lage sind, einen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Matthias Berninger
13670
Entschließungsantrag vorzulegen, wundert mich nicht.
Das konnten wir zu Oppositionszeiten auch schneller.
Entscheidend ist aber, dass Sie deutlich machen, welche
Position Sie vertreten haben, als Sie die Mehrheit im
Hause und die Möglichkeit hatten, etwas zu verändern.
Die F.D.P. hatte ja auch einmal einen kleinen Anteil an
dieser Mehrheit und brüstet sich heute noch damit, dass
sie in den späten 80er-Jahren so wahnsinnig viel beim
BAföG gemacht habe. Auch von Ihnen verlange ich Red-
lichkeit und dass Sie deutlich machen, dass auch Sie, als
Sie noch in der Regierungsverantwortung waren, keine
Strukturreform im Bildungsbereich gegen die Familien-
politiker und gegen die CDU im Bildungsministerium
durchsetzen konnten.
Von Ihnen verlange ich auch die Ehrlichkeit, die
Mitverantwortung dafür zu übernehmen, dass das BAföG
während Ihrer Regierungszeit vor die Wand gefahren
worden ist. Das können und sollten Sie hier nicht ver-
schweigen.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist gut, weil die Darle-
hensbelastung begrenzt wird. Wir sagen den jungen Men-
schen damit: Also, Leute, hört zu! Ihr könnt guten Gewis-
sens BAföG in Anspruch nehmen und dadurch vernünftig
studieren; auch wenn ihr nach dem Studium nicht so viel
verdient, werdet ihr mit den Darlehensbelastungen zu-
rechtkommen. – Aber ich gebe zu: Leute mit einem hohen
Einkommen werden durch das Steuerrecht gefördert,
ohne von Darlehensrückzahlungen belastet zu sein. Darü-
ber ärgere ich mich nach wie vor.
Zweiter Punkt: Kindergeld. Ich finde es vernünftig,
dass Kindergelderhöhungen in Zukunft eben nicht mehr
BAföG-mindernd wirken.
Bei der nächsten Diskussion in diesem Hause über die Er-
höhung des Kindergeldes wird es um die Frage gehen, ob
die Kindergelderhöhung auch bei den Sozialhilfeempfän-
gern ankommen soll oder nicht. Es gibt zwar Leute, die
sagen: Man kann Ausnahmen systematisch begründen.
Aber ich möchte, dass Kindergelderhöhungen bei allen
Familien mit Kindern ankommen. Deswegen gilt das so-
wohl für das Wohngeld als auch für das BAföG und auch
für die Sozialhilfe. Aber wir waren es, die die Gesetze in
dieser Legislaturperiode so geändert haben, dass das mög-
lich wurde. Früher war es so, dass die bescheidenen Kin-
dergelderhöhungen, die Sie vorgenommen haben, genau
den Transfergeldempfängern vorenthalten worden sind.
Wir können also zufrieden sein, dass dies unter der heuti-
gen Bundesregierung nicht mehr geschieht.
Ich habe mich in der letzten Legislaturperiode im Aus-
schuss sehr darum bemüht, dass Kindererziehungszei-
ten angemessen berücksichtigt werden. Darum haben
sich auch die Frauen in Ihrer Fraktion sehr bemüht, ge-
nauso wie der Bundesrat. Das können Sie in den alten
Drucksachen nachlesen. Aber wir sind in der letzten
Legislaturperiode mit unseren Bemühungen an Herrn
Rüttgers gescheitert. Jetzt ändern wir das. Kindererzie-
hungszeiten werden endlich in angemessener Form
berücksichtigt. Auch das ist ein Grund, warum dieser
Gesetzentwurf gut ist und warum es sich lohnt, diesen
Gesetzentwurf positiv darzustellen.
Insgesamt werden über 1,4 Milliarden DM zusätzlich
für das BAföG mobilisiert. Das hat folgende Auswir-
kung – die Frau Ministerin hat die Zahlen schon erwähnt;
ich erwähne sie noch einmal, damit Sie sich sie hinter Ihre
Ohren schreiben können –: Ein Verheirateter mit einem
Kind und einem Einkommen von bis zu 3 900DM im Mo-
nat erhält jetzt Vollförderung. Früher lag die Grenze bei
3 000 DM. Wenn man zwei Kinder hat, dann erhält man
jetzt eine um 1 000 DM höhere Vollförderung, also
3 900 DM statt 2 900 DM. Wenn man ein Kind hat, das
studiert, und – das soll ja vorkommen – ein anderes, das
noch zur Schule geht, dann hat man bisher bis zu einem
Einkommen von 3 900 DM Vollförderung erhalten. Jetzt
erhält man die Vollförderung bis zu einem Einkommen
von 5 600 DM.
Warum erwähne ich diese Zahlen? Wir haben eine
Steuerreform gemacht, mit der die Familien entlastet wer-
den.
Wir wollen vermeiden, dass den Eltern das Geld, das ih-
nen aufgrund unseres jetzt vorliegenden Gesetzentwurfes
zusätzlich zur Verfügung steht, aus der Tasche gezogen
wird, weil sie aufgrund der Einkommensgrenzen aus dem
BAföG herausfallen. Deshalb haben wir so mutig erhöht,
deshalb haben wir eine so deutliche Steigerung, insbeson-
dere was die Freibeträge angeht, im Gesetzentwurf ver-
ankert.
– Lieber Thomas, stell mir doch eine Zwischenfrage.
Dann können wir eine Minute lang über die Ökosteuer re-
den; ansonsten lassen wir sie jetzt einmal ganz außen vor
und reden weiter über die wichtigen Punkte.
Durch die Kombination aus der Steuerreform und der
BAföG-Reform kommt die Entlastung bei den Familien
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Matthias Berninger
13671
tatsächlich an. Wir nehmen keinen Etikettenschwindel
vor,
wie wir es von der alten Regierung gewohnt sind. Das
muss man als sehr positiv hervorheben.
Wir nehmen zwar eine Strukturreform des BAföG vor,
aber keine Strukturreform der Ausbildungsfinanzierung.
Dennoch haben sich die Koalitionsfraktionen darauf ver-
ständigt, zusätzlich elternunabhängige Bildungskredite
anzubieten. Uns sind die jungen Erwachsenen, die
Schwierigkeiten haben, von ihren Eltern Unterhaltsleis-
tungen zu bekommen, wichtig. In diesem Punkt hat mich
der Bundeskanzler schon ein wenig geärgert – das kann
ich hier deutlich sagen –, als er so getan hat, als ob das
Geld, das an die Eltern fließt, auch für die Eltern gedacht
ist.
Wir verschaffen den Eltern die staatliche Unterstützung in
Form von Steuervergünstigungen natürlich nur deshalb,
damit sie ihre Kinder finanziell vernünftig ausstatten.
Wir wollen dem Umstand Rechnung tragen, dass die
meisten Studierenden junge Erwachsene sind. Diese jun-
gen Erwachsenen haben zukünftig die Möglichkeit, zu-
sätzlich zu den im Steuerrecht verankerten Möglich-
keiten, und zusätzlich zum BAföG elternunabhängige
Bildungskredite in einer vertretbaren Höhe und mit einer
vertretbaren Darlehensbelastung in Anspruch zu nehmen.
Das ist wenigstens ein Element, das Elternunabhängig-
keit fördert. Mir persönlich ist das sehr wichtig; denn da-
mit wird deutlich, dass wir nicht möchten, dass sich Stu-
dierende so verhalten müssen, wie es 13- oder 14-Jährige
gegenüber ihren Eltern tun müssen; vielmehr kommt da-
mit zum Ausdruck, dass Studierende junge Erwachsene
sind, denen wir, wo immer es geht, Freiheit und Selbst-
ständigkeit einräumen wollen.
Langer Rede kurzer Sinn: Sie werden diesem BaföG-
Gesetzentwurf zustimmen. Es ist der erste BAföG-Ge-
setzentwurf seit langer Zeit, dem eine CDU-Opposition
mit gutem Gewissen zustimmen kann. In der Vergangen-
heit konnten Sie das nur mit schlechtem Gewissen tun.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat die Kol-
legin Cornelia Pieper für die F.D.P.-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsi-
dentin! Meine Damen und Herren! Dies ist ein schwarzer
Tag für die rot-grüne Bundesregierung.
Sie mussten sich von Ihrem größten Reformvorhaben in
der Bildungspolitik in dieser Legislaturperiode verab-
schieden.
Sie tragen heute Ihre BAföG-Strukturreform zu Grabe.
Das ist die ganze Wahrheit, meine Damen und Herren von
der rot-grünen Regierungskoalition.
Sie kritisieren uns, weil wir als einzige Fraktion im
Deutschen Bundestag einen Gesetzentwurf mit einer ech-
ten Strukturreform vorgelegt haben.
Es handelt sich um das so genannte Drei-Körbe-Modell.
Sie kritisieren uns dafür, obwohl die SPD-regierten Bun-
desländer dieses Vorhaben unterstützt haben, meine Da-
men und Herren von der Regierungskoalition. Es ist bes-
ser, die Opposition legt einen Gesetzentwurf vor, als dass
die Bundesregierung keinen Gesetzentwurf zur Struktur-
reform vorlegt.
Es ist nicht die Aufgabe der Opposition, Gesetzesvor-
haben, die solche großen Strukturreformen beinhalten,
auf den Weg zu bringen.
Das ist die Aufgabe der Regierung. Herr Tauss, Ihre
Partei ist jetzt in der Regierungsverantwortung. Herr
Berninger, ich sage Ihnen gleich etwas zu den Schuldge-
fühlen. Auch da machen wir gleich einmal reinen Tisch.
– Ich freue mich, dass Sie das, was ich hier erzähle, so auf-
regt. Das zeigt doch, dass ich voll ins Schwarze treffe.
Die Gefördertenzahlen aus dem Jahre 1991, die Sie ge-
nannt haben, gehen – das sage ich ganz bewusst – auf Zei-
ten zurück, in denen es in dieser Republik einmal einen
von der F.D.P. gestellten Bundesbildungsminister namens
Möllemann gegeben hat.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Matthias Berninger
13672
Herr Berninger, ich sage aber auch ganz ehrlich: Es ist in
der Tat so, dass die F.D.P. in der alten Koalition nicht
alles hätte mitmachen sollen, was der Bundesbildungsmi-
nister Rüttgers in dieser Sache gewollt hat. Bloß, das ent-
lässt Sie doch heute nicht aus Ihrer Regierungsverantwor-
tung.
Wir haben die große Chance, im Parlament eine Struk-
turreform gemeinsam auf den Weg zu bringen. Frau Mi-
nisterin, Sie haben die Abgeordneten dieses Hauses
gehört. Im Bildungsausschuss hat eine große Anhörung
stattgefunden. Alle Experten – Steuerexperten, Verfas-
sungsrechtler, die Verbände – haben uns empfohlen, fol-
genden Weg zu gehen: eine elternunabhängige Förde-
rung in Form eines Ausbildungsgeldes zu schaffen und
dazu eine elternabhängige Ausbildungshilfe zu zahlen.
Diese Experten sind auf der Seite der Mehrheit in diesem
Lande, sie befinden sich auf der Seite der jungen Genera-
tion in diesem Lande. Ich habe das Gefühl, dass es auch
in Ihren eigenen Reihen sehr viele Stimmen für die Struk-
turreformen in der Bundesausbildungsförderung gibt. Sie
nehmen es nicht in Angriff, weil Sie nicht das Rückgrat
und das Durchsetzungsvermögen im Kabinett haben.
Meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, das
müssen Sie sich leider anhören. Wir hätten diese Struk-
turreform gemeinsam machen können. Ich kann Sie nur
dazu auffordern, bei den Beratungen im Ausschuss jetzt
auch endlich zu handeln,
eine elternunabhängige Förderung, ein Ausbildungsgeld
für jeden Auszubildenden in Höhe von 500 DM zu er-
möglichen, so wie wir es vorgeschlagen haben, und für
besonders Einkommensschwache eben auch noch den
Zuschuss bzw. das Darlehen zu ermöglichen.
Sie haben ein so genanntes Ausbildungsförderungs-
reformgesetz vorgelegt; nur hält der Name nicht, was er
verspricht. Das ist kein Reformgesetz, das ist eine 21. No-
velle des Bundesausbildungsförderungsgesetzes. Sie set-
zen eigentlich die Politik fort, die Sie immer kritisiert ha-
ben, so genannte Reparaturnovellen, Frau Ministerin.
Und wenn Sie mir und der F.D.P. nicht glauben, viel-
leicht glauben Sie den Verbänden, vielleicht glauben Sie
der Hochschulrektorenkonferenz.
Deren Präsident, Herr Landfried, hat darauf hingewie-
sen, dass Sie trotz dieser Trippelschritte und der kleinen
Verbesserungen, die Sie ja in der Tat mit dieser Novelle
vornehmen,
nichts daran ändern, dass der im Durchschnitt von derzeit
640 Mark auf 730 Mark monatlich angehobene Förder-
satz viel zu wenige Studierende erreichen wird.
Frau Volquartz hat es ja gesagt, 25 Prozent wird die Quote
der Anspruchsberechtigten betragen. Viele Studenten
stellen wegen der marginalen Förderung und des büro-
kratischen Antragsverfahrens überhaupt keinen Antrag
auf BAföG. Das darf an dieser Stelle auch noch einmal ge-
sagt werden.
Wenn Sie uns als F.D.P. nicht glauben, dann lesen Sie
doch einmal das „Handelsblatt“. Da hat sich ja Herr
Berninger, wenn ich das sagen darf, auch einmal kompe-
tent dazu geäußert. Er hat nämlich auch gefordert, dass
das BAföG alter Prägung gar nicht mehr den Bedürfnis-
sen der Studierenden entspricht und dass wir da eine Än-
derung brauchen.
Das „Handelsblatt“ hat auch noch einmal aufgezeigt,
dass der Haushaltsansatz von 2000 für das BAföG nicht
voll in Anspruch genommen werden konnte. Es sind wohl
lediglich 93 Prozent der Studierenden, die BAföG abru-
fen. Mit anderen Worten, es kann nicht voll ausgeschöpft
werden. Die Frau Ministerin hatte sich bei der letzten No-
velle vorgenommen, 23 000 Studierende mehr zu fördern.
Das ist nicht aufgegangen. Das Ziel ist verfehlt. Deswe-
gen sagen wir, wir brauchen dringend eine BAföG-Struk-
turreform. Wir brauchen keine Flickschusterei mehr. Ich
glaube, das hilft in diesem Lande keinem mehr. Vor allen
Dingen machen Sie sich mit diesem Gesetzentwurf nicht
zum Anwalt der jungen Generation in diesem Land. Das
muss auch noch einmal gesagt werden.
Bildung ist die soziale Frage des 21. Jahrhunderts. Da-
rüber sind wir uns einig. Sie haben, Frau Ministerin, zu
Recht in Ihrer Rede darauf hingewiesen, dass durch eine
qualitätsorientierte Bildung und Ausbildung auch jun-
gen Menschen später mehr oder neue Lebenschancen
gegeben werden, Chancen auch für ein höheres Einkom-
men, auch dafür, dass sie sich mehr Wohlstand erarbeiten
können. Es ist so eine Art Hilfe zur Selbsthilfe, wenn wir
in Bildung und Ausbildung investieren. Das ist doch gar
keine Frage. Bloß, warum bringen wir die Bildungsre-
form nicht auf den Weg?
Wir müssen jetzt handeln.
Man kann natürlich, meine Damen und Herren von der
PDS, die soziale Frage auch missverstehen, Bildung als
soziale Frage. Das geht natürlich bei der Finanzierung
nicht endlos. Studiengebührenfreiheit für alle bringt,
denke ich, die Hochschulen in diesem Lande in eine be-
stimmte Sackgasse. Wir wollen nicht, dass die, die lange
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Cornelia Pieper
13673
studieren, belohnt werden, sondern wir wollen, dass die
Fleißigen belohnt werden, die in der Regelstudienzeit fer-
tig werden.
Deswegen lehnen wir natürlich Ihren Antrag ab. Da wir
neue Finanzierungsmöglichkeiten für die Hochschulen
brauchen, haben wir unser Bildungsscheckmodell vorge-
schlagen.
Übrigens, der sächsische Wissenschaftsminister hat hier
nachgezogen und gesagt, das wäre ein richtiger Weg für
die Hochschulfinanzierung. Wir brauchen mehr Autono-
mie, wir brauchen mehr Wettbewerb zwischen den
Hochschulen. Mit den Bildungsschecks wird von unse-
rer Seite garantiert, dass die Studierenden zukünftig ihr
Studium bis zum ersten berufsqualifizierenden Ab-
schluss gebührenfrei machen können. Mit dem Bil-
dungsscheck wollen wir ein Bürgerrecht auf Bildung ver-
ankern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Pieper,
bitte achten Sie auf Ihre Redezeit.
Ich bedanke mich für den
Hinweis, Frau Präsidentin, und komme zum Schluss. –
Wir haben eine große Chance, gemeinsam eine Struktur-
reform für die Bundesausbildungsförderung auf den Weg
zu bringen. Die Regierung ist gefordert, zu handeln. Sie
handelt aber nicht. Deswegen werden wir sie weiterhin
dazu treiben – zumindest in den Ausschussberatungen –,
unserem Gesetzentwurf doch noch zuzustimmen.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Maritta Böttcher für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Im kommenden Jahr wird das
Bundesausbildungsförderungsgesetz von 1971 30 Jahre
alt. Diese 30 Jahre waren keine Erfolgsgeschichte.
Daran, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU-Fraktion, tragen Sie die Hauptschuld.
1972 wurde noch fast jeder zweite Student nach dem
BAföG gefördert. Heute erreicht das BAföG nur noch je-
den achten Studenten. Auch die staatlichen Investitionen
in die Ausbildungsförderung wurden drastisch reduziert.
Der heute vorliegende BAföG-Gesetzentwurf der Bun-
desregierung – das will ich ausdrücklich sagen – kehrt den
bisherigen Trend des planmäßigen Bildungs- und Sozi-
alabbaus um. Das ist gut.
Ich will aber auch sagen, dass damit die Notwendigkeit
einer strukturellen Erneuerung der Ausbildungsförderung
bestehen bleibt. Wir bleiben bei unserer Forderung nach
Elternunabhängigkeit, damit die Studierenden endlich
als Erwachsene und nicht länger als Kinder ihrer Eltern
behandelt werden.
Die Bundesregierung vermerkt in ihrem Gesetzent-
wurf unter dem Abschnitt „C. Alternativen“: Keine. – Das
ist ein hohes Maß an Selbstverleugnung und Ignoranz ge-
genüber ihren eigenen Wahlprogrammen und gegenüber
ihrem Koalitionsvertrag. In diesen Dokumenten steht
nämlich, dass Reformen machbar seien.
Ich habe Ihnen wiederholt vorgerechnet, wie wir mit
der Überführung der ausbildungsbedingten Zahlungen im
Rahmen des Familienlastenausgleichs in das BAföG zu
einer wirklichen qualitativen Verbesserung der Ausbil-
dungsförderung kommen könnten. Viele Studentinnen
und Studenten, Schülerinnen und Schüler sind enttäuscht;
denn sie erwarteten, dass eine rot-grüne Regierung ihre
Wahlversprechen ernst nimmt und auch Alternativen um-
setzt.
Sie haben heute auch über unseren Gesetzentwurf zur
Sicherung der Gebührenfreiheit des Hochschulstudi-
ums abzustimmen. Dass Sie als Ministerin, Frau
Bulmahn, dazu kein Wort verlieren, liegt sicher daran,
dass sich die Bundesregierung strikt an die Devise „ver-
sprochen und Wort gebrochen“ hält.
Es ist absurd: Wir diskutieren heute darüber, den
durchschnittlichen monatlichen BAföG-Förderungssatz
für Studierende um knapp 90 DM anzuheben. Gleichzei-
tig sehen Sie tatenlos zu, wie einige Länder durch die
schrittweise Einführung von Studiengebühren den Stu-
dentinnen und Studenten das Geld gleich wieder aus der
Tasche ziehen.
Die PDS wird Ihnen bei Ihrem tatenlosen Zusehen nicht
tatenlos zusehen.
Bei der heutigen Debatte über unseren Gesetzentwurf
zur Sicherung der Gebührenfreiheit des Hochschulstudi-
ums steht eine Menge auf dem Spiel, an erster Stelle die
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Cornelia Pieper
13674
Glaubwürdigkeit der Politik. 1998 hat die SPD die No-
vellierung des Hochschulrahmengesetzes blockiert, übri-
gens wegen des fehlenden Studiengebührenverbots. Die
Forderung nach einem gesetzlichen Studiengebüh-
renverbot ist ebenso wie eine BAföG-Strukturreform in
der Koalitionsvereinbarung von SPD und Grünen veran-
kert.
In Sachen Studiengebührenfreiheit legen Sie aber seit
über zwei Jahren die Hände in den Schoß. Dennoch tun
Sie fortwährend so, als stünden Sie unmittelbar vor einem
Durchbruch.
Zunächst haben Sie sich mit der Vorbereitung der Um-
setzung Ihres Wahlversprechens so lange Zeit genommen,
bis sich die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat endlich
zuungunsten von Rot-Grün verschoben haben.
Von nun an konnten Sie immer darauf verweisen, dass Ih-
nen aufgrund des im Bundesrat zu erwartenden Wider-
standes leider die Hände gebunden seien. Dass aber die
Hochschulrahmengesetznovelle 1998 ohne Gebührenver-
bot trotz fehlender Zustimmung des Bundesrats in Kraft
getreten ist, haben Sie schnell aus Ihrem Gedächtnis ge-
strichen.
Doch damit nicht genug. Seit 1999 betonen Sie, dass
eine Verankerung der Gebührenfreiheit im Hochschulrah-
mengesetz gar nicht erforderlich sei, sofern die Länder ei-
nen entsprechenden Staatsvertrag aushandelten. Als die
Ministerpräsidenten der Länder im Juni 2000 einen Ge-
bührenstaatsvertrag definitiv ablehnten, wäre nach Ihrer
Logik eigentlich der Bundesgesetzgeber gefordert gewe-
sen. Doch nun gaben Sie die Losung aus, man wolle den
Ländern die Chance zu einem zweiten Anlauf geben.
Doch auch dieser ist im Oktober – auf Druck der unions-
geführten Länder Baden-Württemberg und Bayern –
gescheitert.
Ich frage Sie daher: Wann, wenn nicht jetzt, ist der
Zeitpunkt für ein Tätigwerden des Bundesgesetzgebers
gekommen?
In dem von der Bundesrepublik Deutschland ratifizierten
Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kul-
turelle Rechte von 1966 wird anerkannt, dass
der Hochschulunterricht auf jede geeignete Weise,
insbesondere durch allmähliche Einführung der
Unentgeltlichkeit, jedermann gleichermaßen ent-
sprechend seinen Fähigkeiten zugänglich gemacht
werden muss; …
Leider passiert heute exakt das Gegenteil. Wir haben es
mit einer allmählichen Einführung der Entgeltlichkeit des
Hochschulunterrichts in einzelnen Bundesländern zu tun.
Das ist ein Anschlag auf die soziale Gerechtigkeit in un-
serem Lande.
Es geht um die sozialstaatliche Ausrichtung unserer
Bildungspolitik, deren Grundstein vor 30 Jahren die erste
sozialdemokratisch geführte Bundesregierung unter Bun-
deskanzler Willy Brandt gelegt hat, und zwar mit der Ein-
führung des BAföG im Jahre 1972 und der Abschaffung
der Studiengebühren und Hörergelder an bundesdeut-
schen Hochschulen im Jahre 1970.
Denken Sie an dieses Vermächtnis, wenn Sie über un-
seren Gesetzentwurf heute hier abzustimmen haben.
Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt der
Kollege Ernst Dieter Rossmann für die SPD-Fraktion.
Frau Präsiden-
tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Das ist ein großer
Sprung nach vorn!“
So hat Professor Rinkens, der Präsident des Deutschen
Studentenwerkes, den Gesetzentwurf kommentiert, den
unsere Ministerin hier einbringen konnte. Frau Ministe-
rin, wir sagen ehrlichen Herzens: Wir haben – eigentlich
alle – Grund zur Freude, dass diese wegweisende BAföG-
Reform heute hier eingebracht werden kann.
Wir freuen uns auch darüber, dass nicht nur alle Bundes-
länder, sondern offensichtlich auch breite Kreise dieses
Parlaments diese Freude teilen.
Mal im Ernst: Wo wären wir eigentlich, wenn wir uns
– der Kollege Berninger hat in Bezug auf CDU/CSU und
F.D.P. das gesagt, was man dazu sagen muss – nicht mas-
siv darüber freuen könnten, dass in Zeiten der Haus-
haltskonsolidierung 1,3 Milliarden DM zusätzlich mobi-
lisiert werden, wenn es um die Verbreiterung der
Bildungschancen geht!
Wo gibt es das überhaupt, wenn nicht im Bereich Bildung
und Forschung, dass so viel Geld zusätzlich mobilisiert
werden kann? Das kann uns gemeinsam freuen.
Wir sollten auch gemeinsam darangehen, die Zielzahl
von 80 000 jungen Menschen, die zusätzlich gefördert
werden sollen, zu erreichen. Denn dafür müssen wir wer-
ben, dass eine Zahl junger Menschen, die größer ist als die
aller Studenten in Rheinland-Pfalz – machen Sie sich das
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Maritta Böttcher
13675
einmal klar –, zusätzlich in die Förderung aufgenommen
wird.
– Wenn Ihnen Rheinland-Pfalz zu klein ist, nehmen Sie
knapp Hamburg und Schleswig-Holstein zusammen. Das
muss beworben werden!
Das ist eine gemeinsame Aufgabe für uns, bei der wir
uns nicht auseinander dividieren lassen sollten. Denn wir
haben doch offensichtlich gemeinsame Ziele: Wir wollen
mehr Studierende aus einkommensschwächeren Fami-
lien.
Wir wollen, dass Studierende aus allen Einkommens-
schichten ihr Studium zügig beenden können. Wir wollen
vor allen Dingen insgesamt mehr Studenten. Mit dieser
BAföG-Reform schaffen wir eine neue Dynamik.
An dieser Stelle eine kleine Zwischenbemerkung. Es
war wohl – ohne jetzt Schuldzuweisungen vornehmen zu
wollen – eine bildungspolitische Großsünde, dass häufig
die Zahl der Studenten und die Zahl der Lehrlinge und
Auszubildenden gegeneinander ausgespielt worden sind.
Wir haben 1,7 Millionen Studenten und wir brauchen
mehr. Wir haben 1,8 Millionen Auszubildende und
400 000 in Berufsfachschulen und wir brauchen mehr.
Wir haben aber eben auch jedes Jahr 80 000 junge Leute
ohne Hauptschulabschluss und über 1 Million Menschen
zwischen 20 und 29 Jahren ohne abgeschlossene Berufs-
ausbildung. Da brauchen wir weniger!
Darum geht es. Es geht nicht darum, die einen gegen die
anderen auszuspielen. Deshalb dieser ständige Kampf um
mehr Lehrstellen, deshalb das 2-Milliarden-DM-JUMP-
Programm und deshalb im Rahmen dieser BAföG-Re-
form eine nachhaltige Verbesserung der Berufsausbil-
dungsbeihilfe.
Sie wurde bisher von niemandem zur Kenntnis genom-
men, ist aber genauso wichtig. 200 Millionen DM werden
für höhere Bedarfssätze, höhere Einkommensfreibeträge
und den Verzicht auf die Anrechnung des Kindergeldes in
diesem Bereich mobilisiert.
Das Gegeneinanderausspielen von Hochschulbildung
und beruflicher Ausbildung führt in der Wissensgesell-
schaft nicht weiter.
Wir haben die Berufsausbildungsbeihilfe ganz bewusst in
dieses Gesetz hineingenommen. Wir glauben deshalb,
dass die Ausbildungsförderungsreform, die wir hier vor-
nehmen, deshalb zu Recht so bezeichnet werden kann.
Eine zweite Bemerkung – ich finde, sie gehört in den
parlamentarischen Dialog mit hinein –: Wenn wir mehr
Studenten brauchen, dann brauchen wir sie gerade auch
aus einkommenschwachen Schichten. Für sie sind
Studiengebühren Gift, wenn man sie für das erste Studium
erhebt.
Deshalb lehnen wir Studiengebühren ab.
Aber wir müssen der PDS sagen: Nach Ihrem Antrag wol-
len Sie überhaupt keine Studiengebühren, auch nicht für
ein Zweitstudium und auch nicht für eine Fortbildung.
Deshalb kann es zu diesem Antrag keine Zustimmung ge-
ben.
Zurück zum BAföG! Das Besondere dieser Struktur-
reform ist, dass sich darin Quantität und Qualität verbin-
den. Eine Qualität ist – ich will unterstreichen, was die
Ministerin gesagt hat –: Das neue BAföG wird zu einem
echten Staatsstipendium. Sie können es an den Zahlen se-
hen: 730DM im Durchschnitt, 20 000DM Darlehenshöhe
als Maximum, 1 105 DM Maximalförderung und Kinder-
geld obendrauf – das ist etwas, wofür wir werben und
Stimmung machen können.
Ich möchte Sie an dieser Stelle noch einmal zum Mit-
machen anhalten und dafür werben, weil uns eines doch
nicht ruhig lassen kann. Es gibt Statistiken, nach denen von
100 Kindern aus finanziell stärkeren Familien 72 studie-
ren; von 100 Kindern aus sozial schwächeren Familien
tun dies 8; 32 Prozent der Kinder aus diesen Familien er-
reichen immerhin die gymnasiale Oberstufe. Haben wir
da nicht eine Aufgabe, bei diesen Kindern mit dafür zu
werben, dass sie auch den Schritt ins Studium tun und ihre
Bildungsreserve mit einbringen?
Das können wir zusammen tun und sollten es hier nicht
zerreden.
Bei den Studenten setzen wir darauf, dass sie ihre Stu-
dien konzentrierter durchführen können und dass sie,
wenn sie denn arbeiten und jobben, dies um der Erfah-
rungen und der Berufsperspektiven willen tun, nicht aber
wegen der blanken Not.
An dieser Stelle werben wir dafür, aber wir sagen auch:
Die letzten zehn Jahre waren für viele Studenten eher
auch durch soziale Not gekennzeichnet. Diese zehn Jahre
holen wir jetzt in einem Schritt mit einer wirklichen
BAföG-Strukturreform auf.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Dr. Ernst Dieter Rossmann
13676
Eine zweite Qualität dieser Reform ist: Sie ist familien-
und frauenfreundlich. Bei diesem Punkt gibt es große
Übereinstimmung. Aber man darf vielleicht noch einmal
auf eine Grundmelodie rot-grünen Regierungshandelns
hinweisen. Ob Kindergeldreform, ob Erziehungsgeld-
reform, ob Teilzeitgesetz, ob Wohngeldreform, ob BAföG,
ob demnächst Meister-BAföG –
überall gibt es Familien-, Frauen- und Kinderförde-
rung. Das ist gut, denn dies ist eine durchgängige Melo-
die neuen Regierungshandelns. Auch dies lassen Sie uns
gemeinsam in die Hochschulen, an die betreffenden Men-
schen herantransportieren.
Die dritte besondere Qualität dieser Reform ist die
massive Förderung von Internationalität. Sie belebt
Hochschulen und hebt das Niveau.
Damit werden Verantwortungsträger in Zukunft auf inter-
nationale Belange, auf europäische Einigung, auch auf
Mitverantwortung in der einen Welt ausgerichtet.
Wir finden vielleicht auch einen historischen Anschluss
daran, dass Hochschulen in Europa – zumal in Zeiten der
Aufklärung – immer Orte von interdisziplinärem Aus-
tausch waren, von interkulturellem Austausch und von In-
ternationalität. Das mag jetzt Pathos sein; vielleicht hören
Sie dann lieber bei ein paar nüchternen Zahlen zur Infor-
mation zu.
1998 hatten wir rund 160 000 ausländische Studenten
an unseren Hochschulen; das waren rund 10 Prozent.
1998 studierten 45 000 deutsche Studenten im Ausland
– das sind knapp 3 Prozent –, davon 25 000 in EU-Län-
dern, davon 14 700 mit einem ERASMUS-Programm.
Wenn Sie das ein bisschen nachvollzogen haben, können
Sie daraus ersehen, wie wenig BAföG bisher zum Aus-
landsstudium beigetragen hat und beitragen konnte.
Diese Schwäche lösen wir jetzt auf, und ich denke,
darin besteht große Übereinstimmung.
Dabei ist das Interesse bei den jungen Leuten durchaus
vorhanden gewesen, denn immerhin haben 27 Prozent
aller Studenten Praktika oder Sprachkurse im Ausland be-
legt. Nur haben sie eben lediglich „geschnuppert“ und
nicht studiert. Deswegen wollen wir das ändern. Das
deutsche „ERASMUS-Programm“ heißt für die Zukunft
BAföG. Auch das können wir gemeinsam vorantragen.
Wir nehmen da eine Vorreiterrolle ein.
Wir setzen jetzt schon um, was uns die europäischen
Bildungsminister im November mit den 42 Punkten ihres
Mobilitätsprogramms aufgegeben haben. Um es noch ein-
mal pathetisch zu sagen: Mit dieser BAföG-Reform steht
auch in Deutschland der Europastudent vor der Tür. Und
das ist gut.
Ich komme zu einer abschließenden Bewertung und
knüpfe noch einmal an Professor Rinkens an, den ich ein-
gangs zitiert habe. Professor Rinkens hat in seinem Jah-
resbericht 1999 für das Studentenwerk gefragt: Wonach
klingt BAföG eigentlich in den Ohren deutscher Studen-
ten? Nach Bürokratismus und Antragsformularen, nach
Sozial- oder Nothilfe? Oder klingt es nach etwas Bedeu-
tungsvollem, das sinnvoll die Studienfinanzierung regelt?
Es liegt jetzt auch an uns, BAföG gemeinsam wieder ei-
nen guten Klang zu geben. Es liegt an uns Bildungspoli-
tikern und an allen Verantwortlichen in Deutschland. Es
geht nicht darum, einen lächerlichen kleinen Streit über
verpasste Chancen und zukünftige Chancen immer wie-
der durchzuexerzieren. Machen wir etwas daraus!
Es liegt jetzt an uns, dafür zu werben, dass die Hauptkri-
tikpunkte der Vergangenheit zum BAföG, von Studentin-
nen und Studenten immer wieder geäußert, ausgeräumt
werden und dass sich da ein Bewusstseinswandel voll-
zieht.
Es hieß in der Vergangenheit immer wieder, das
BAföG sei zu gering, zu umständlich und nicht verläss-
lich. Das waren die Hauptkritikpunkte. Liebe Kollegin-
nen und Kollegen, mit diesem Reformgesetz haben wir
die Chance, einen Zeitenwechsel einzuleiten und dafür zu
sorgen, dass zukünftige Novellierungen immer nur zwei
Größen enthalten – Anhebung der Bedarfssätze und An-
hebung der Freibeträge – und es nicht Tausend Rand- und
Nebenbedingungen gibt, die in der Vergangenheit alle
Studentinnen und Studenten immer wieder verunsichert
haben.
Wir haben die Chance auf einen Zeitenwechsel. Denn
dies ist ein Sozialgesetz für mehr Chancengleichheit. Es
stellt soziale Gerechtigkeit wieder her, die in den letzten
16 Jahren massiv gelitten hat. Es ist ein Bildungsgesetz
und öffnet Perspektiven für eine europäische Bildungsge-
sellschaft in den nächsten 20 Jahren, die wir jetzt in unser
aller Interesse gemeinsam angehen sollten.
Frau Ministerin, liebe Edelgard Bulmahn,
Sie können tatsächlich stolz darauf sein, dass dieser Zei-
tenwechsel in der Ausbildungsförderung mit Ihrem Na-
men verbunden sein wird.
Danke schön.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Dr. Ernst Dieter Rossmann
13677
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der letzte Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Thomas Rachel für die
Fraktion der CDU/CSU.
Sehr geehrte Frau Prä-
sidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattie-
ren heute über zwei bildungspolitische Gesetzentwürfe.
Zum einen geht es um BAföG, zum anderen um den An-
trag der PDS, ein Studiengebührenverbot im Hochschul-
rahmengesetz festzuschreiben.
Wir werden den Antrag der PDS ablehnen; denn das
Grundgesetz räumt die Zuständigkeit für die Finanzie-
rung der Hochschulen primär den Ländern ein. Der Bun-
desgesetzgeber hat nicht das Recht, den Ländern hier per
Gesetz Vorschriften zu machen.
Da die PDS in ihrem Gesetzentwurf auch die CDU be-
schimpft, möchte ich in aller Klarheit sagen: Die Arbeits-
gruppe „Bildung und Forschung“ der CDU/CSU-Bundes-
tagsfraktion hat durch ihren Beschluss einer Ablehnung
von Studiengebühren in der Regelstudienzeit maßgeblich
dazu beigetragen, dass sich der CDU-Parteitag nicht für
die Einführung von Studiengebühren ausgesprochen hat.
Sehr geehrte Damen und Herren, in Ihrem Koalitions-
vertrag von 1998 haben Sie zugesagt:
Für eine grundlegende Reform ... der Ausbildungs-
förderung werden wir
– dem Bundestag –
ein ... Konzept bis Ende 1999 vorlegen.
Das Versprechen des Koalitionsvertrages wurde nicht ein-
gehalten. Wir haben in der Zwischenzeit Dezember 2000.
Die BAföG-Reform ist immer noch nicht in Kraft getre-
ten. Hier wird Politik auf dem Rücken der Studierenden
gemacht.
Mit der inzwischen in Kraft getretenen kleinen
20. BAföG-Novelle mit leicht erhöhten Höchstsätzen und
Elternfreibeträgen hatte Bildungsministerin Bulmahn
ausdrücklich eine Trendwende angekündigt.
Diese ist allerdings nicht zu beobachten. Nach dem von
Rot-Grün erklärten Ziel hätte die Zahl der BAföG-Emp-
fänger in diesem Jahr um rund 23 000 steigen sollen. Aber
Sie haben das Etappenziel verfehlt.
Einem Papier Ihres Ministeriums entnehmen wir, dass
BAföG-Mittel in einer Größenordnung von 10 Prozent bis
Ende des Jahres nicht abfließen. Selbst die Grünen erklä-
ren im „Handelsblatt“ vom 30. November, dass eine er-
hebliche Ausweitung der Anzahl der Geförderten nicht er-
reicht werden konnte. Deutlicher könnte die Kritik Ihres
Koalitionspartners an Ihrer wirkungslosen Politik nicht
sein.
Die große BAföG-Reform hätte schon längst im Früh-
jahr 2000 verabschiedet werden können. Wir haben im
November 1999 die wesentlichen Eckpunkte eingebracht.
Mit jedem Monat, in dem die beabsichtigte große BAföG-
Reform nicht in Kraft tritt, spart die Bundesregierung
Geld.
Frau Ministerin Bulmahn, Sie haben zu viel Zeit ver-
loren, weil Sie zu lange an einem falschen BAföG-
Sockelmodell festgehalten haben. Herr Eichel freut sich
darüber; denn jetzt wird durch Verzögern Geld gespart.
Das neue bildungspolitische Motto der Bundesregierung
heißt: Sparen durch Verzögern. Genau dies lehnen wir ab.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, bevor
Sie zum nächsten Punkt kommen, möchte ich Sie fragen,
ob Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Berninger ge-
statten.
Bitte.
Herr Kollege Rachel, wenn man Zahlen nennt, ist das ja
noch keine Kritik. Aber da wir schon bei Zahlen sind,
möchte ich Sie bitten, dem Hohen Haus zu sagen, wie der
Bildungsetat in der Verantwortungszeit von Herrn
Rüttgers gestiegen ist und wie sich das Sparen unter der
Verantwortung von Frau Bulmahn ausgewirkt hat. Viel-
leicht können Sie hier einmal die entsprechenden Zahlen
referieren.
Diese Nachhilfe müs-
sen Sie sich schon bei Ihrer eigenen Koalition holen. Ich
will sehr wohl einräumen – ich werde ja gleich noch zu ei-
ner Gesamtbewertung der BAföG-Reform kommen –,
dass wir an einer Verbesserung des BAföGs interessiert
sind. Dass wir dies in den letzten vier Jahren unserer Re-
gierung nicht erreicht haben, lag in der gemeinsamen Ver-
antwortung der von CDU, CSU und SPD geführten Län-
der – darunter waren übrigens auch von Rot-Grün
geführte Koalitionen –,
weil die Finanzminister aller Bundesländer, quer durch
alle Parteien, Kostenneutralität vereinbart hatten.
– Herr Berninger, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie ste-
hen bleiben würden.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 200013678
– Herr Berninger, das ist eine Frage des Stils. Wenn Sie
eine Frage stellen, sollten Sie auch auf die Antwort Wert
legen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Berninger, ich möchte Sie bitten, so lange stehen zu blei-
ben, bis der Kollege seine Antwort gegeben hat. – Danke.
Dass sich in der ver-
gangenen Legislaturperiode die Landesminister aller
Parteischattierungen – auch die Ihres Koalitionspartners –
auf Kostenneutralität festgelegt hatten,
haben übrigens alle Politiker im Bildungsausschuss des
Bundestages bedauert. Wir alle waren für eine andere Lö-
sung. Insofern sollten wir die Ehrlichkeit besitzen, deut-
lich zu machen, dass dies damals die gemeinsame Posi-
tion der jeweiligen Finanzminister war. Nun wollen wir
dies ändern.
Jetzt kommt also die große Reform mit dem wohlklin-
genden Titel „Ausbildungsförderungsreformgesetz“. Das
klingt, als würde ein neues System installiert. Das Ge-
genteil ist der Fall: Es handelt sich um eine Reform in-
nerhalb des bestehenden BAföG-Systems. Bei dieser Be-
zeichnung des Gesetzes handelt sich also um die übliche
Mogelpackung von Rot-Grün.
Wir begrüßen es aber, dass die Bundesregierung im
Wesentlichen den BAföG-Vorschlägen der Union vom
November 1999 gefolgt ist.
Der vorgeschlagene Grundpfeiler der Reform ist die Än-
derung beim Kindergeld, das im Rahmen der Prüfung der
Bedürftigkeit von BAföG nicht mehr angerechnet wird.
Das ist sinnvoll. Das ist ein Vorschlag von uns. Wir be-
grüßen es, dass Sie ihn aufnehmen, und unterstützen das.
Denn dadurch beseitigen wir die absurde Situation, dass
jede Kindergelderhöhung gleichzeitig den Kreis der
BAföG-Berechtigten verkleinert.
Auch die Verlängerung der Förderungshöchstdauer
wegen Kindererziehung geht auf den Antrag von
CDU/CSU zurück. Die von Ihnen vorgeschlagene An-
gleichung des BAföGs zwischen Ostdeutschland und
Westdeutschland und die verbesserte Förderung bei ei-
nem Studium in den EU-Ländern finden wir richtig und
tragen wir gerne mit.
Frau Ministerin Bulmahn, in Ihrem Eckpunktepapier
zur BAföG-Reform fehlte jede Sozialkomponente. Ge-
nau diese Sozialkomponente, mit der Kinder armer Fami-
lien entlastet werden sollen, enthält der BAföG-Reform-
vorschlag der Union vom November 1999. Wir wollen
den über 800 DM pro Monat hinausgehenden Anteil des
BAföGs voll als Zuschuss gewähren. Damit wird die Dar-
lehenssumme, die später zurückgezahlt werden muss, ge-
senkt.
Frau Bulmahn, wir begrüßen es, dass Sie jetzt auf un-
seren Grundgedanken eingeschwenkt sind, nämlich da-
rauf, die Darlehenssumme zu beschränken. Allerdings
halten wir unseren Vorschlag, ab 800 DM BAföG einen
Vollzuschuss zu gewähren, für besser, als die Darlehens-
summe auf 20 000 DM zu begrenzen. Für Durchschnitts-
studenten sind die Wirkungen beider Regelungen relativ
gleich. Unser Vorschlag ist aber deshalb besser, weil er
zusätzlich für das Drittel der besten Absolventen den
heute möglichen Nachlass bei der Zurückzahlung des
BAföGs voll beibehält. Wird Ihr Vorschlag umgesetzt, ha-
ben im Falle der Höchstförderung die 30 Prozent bes-
ten BAföG-Absolventen eine Darlehensschuld von
20 000 DM. Würde das Modell der Union umgesetzt,
dann hätten sie nur eine Darlehensschuld von 14 000 DM.
Die Politik der Union fördert also diejenigen stärker, die
sich besonders anstrengen, und sie ist zudem sozial ge-
rechter.
Im Grunde genommen hat Ihr Vorschlag der Kappung
einen ganz anderen Hintergrund: Ihnen geht es nicht um
das Wohl der Studenten. Er dient vielmehr der Entlastung
der Haushalte von Bund und Ländern. Während bei un-
serem Modell Bund und Länder bereits im nächsten Jahr
im Rahmen des Vollzuschusses ab 800 DM deutlich mehr
Geld ausgeben müssten, verschieben Sie die finanziellen
Belastungen des Bundes auf den Sankt-Nimmerleins-Tag,
und das auch nur in Höhe einer Ausfallbürgschaft für die
Deutsche Ausgleichsbank. Geld sparen für den Bund und
verschieben in die Zukunft – das ist das Motto Ihrer Bil-
dungspolitik und das ist eine Mogelpackung.
Der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzent-
wurf enthält eine Reihe weiterer Mängel. Erstens. Ihre
Neuregelung der Studienabschlussförderung hat uns
nicht überzeugt. Wir unterstützen Bayern und das Deut-
sche Studentenwerk in der Forderung, die bisherige Stu-
dienabschlussförderung wieder als Teil der normalen
BAföG-Förderung mit 50 Prozent Zuschuss und 50 Pro-
zent zinslosem Darlehen zu gewähren, wenn die Exa-
mensphase direkt an die Regelstudienzeit anschließt.
Zweitens. Wir sollten gemeinsam über die Einführung
einer Stichtagsregelung bei der Bemessung von Freibe-
trägen, die die Eltern für ihre Kinder geltend machen kön-
nen, nachdenken. Nur durch eine Stichtagsregelung bleibt
die BAföG-Förderung ein Jahr lang konstant. Dadurch
würde die Akzeptanz des BAföG gestärkt.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Thomas Rachel
13679
Drittens. Die CDU/CSU-Fraktion spricht sich dafür
aus, dass nicht nur das Auslandsstudium in der EU, son-
dern auch in der Schweiz mit Inlandssätzen gefördert
wird.
In der Tat ist es nicht einzusehen, dass die Studenten aus
den südlichen Bundesländern ihre hervorragende Hoch-
schulausbildung in der Schweiz nicht genauso mit BAföG
gefördert bekommen wie innerhalb der gesamten
Europäischen Union.
– Achten Sie einmal darauf, was Ihr Gesetz für Nachteile
hat.
Viertens. Bei der Regelung der BAföG-Elternfreibe-
träge führt allein der Schultypwechsel der Schwester
oder des Bruders eines BAföG-Geförderten zu einer Ver-
ringerung des Förderbetrages. Wenn zum Beispiel die
Schwester von der Realschule auf die Berufsfachschule
wechselt, verringert sich nach dem rot-grünen Gesetzent-
wurf die Höhe des BAföG für den Studenten. Das ist zu-
tiefst ungerecht und stößt auf die Ablehnung der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
Fünftens. Entscheidend ist eine Vereinfachung des Ver-
fahrens bei der Beantragung des BAföG. Es kann nicht
hingenommen werden, dass zahllose Studierende, denen
Förderung zustünde, aufgrund der komplizierten
bürokratischen Vorschriften das Handtuch werfen. In die-
sem Bereich muss die Bundesregierung tätig werden. Die
schönste Förderung nutzt nichts, wenn sie von den Be-
rechtigten nicht zügig und unbürokratisch in Anspruch
genommen werden kann.
– Auch das Internet wird nichts ändern, wenn Sie fünfzig
Seiten mit Paragraphen lesen müssen, um feststellen zu
können, ob Sie überhaupt antrags- und förderungsberech-
tigt sind. Vielleicht sollten Sie sich das etwas genauer an-
gucken, Herr Tauss.
Sechstens. Wir unterstützen den Antrag des Freistaats
Bayern, die Freibeträge für Waisenrenten und Waisengeld
bei der Berechnung des BAföG deutlich zu erhöhen. Dies
ist ein guter Vorschlag; denn damit würde die soziale
Komponente der BAföG-Reform unterstützt, die uns als
Christdemokraten sehr wichtig ist.
– Ich lade Sie herzlich ein, bei diesen Änderungsanträgen
mitzuwirken. Das würde Ihren Hohn vielleicht ein biss-
chen schmälern. Arbeiten Sie konstruktiv mit, wie wir das
auch tun werden!
Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, wir beglück-
wünschen die Bundesregierung, dass sie in der Grund-
struktur des Gesetzentwurfs viele unserer Vorschläge
übernommen hat. Deshalb wollen wir die BAföG-Reform
grundsätzlich politisch mittragen.
Aber wir fordern die Änderung des Gesetzentwurfs in den
von uns vorgetragenen Kritikpunkten. Dies sind wir den
Studentinnen und Studenten in Deutschland schuldig.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 14/4731 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu an-
derweitige Vorschläge? – Das ist offensichtlich nicht der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktion der PDS zur Sicherung der Gebührenfreiheit
des Hochschulstudiums, Drucksache 14/3005. Der Aus-
schuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung empfiehlt auf Drucksache 14/4455, den Ge-
setzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf
der Fraktion der PDS, Drucksache 14/3005, abstimmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung gegen die Stimmen der PDS-Fraktion abge-
lehnt.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die wei-
tere Beratung.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kurt-
Dieter Grill, Dr. Peter Paziorek, Cajus Julius
Caesar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Zukunft der nuklearen Entsorgung –
Entsorgungskonzept jetzt vorlegen
– Drucksache 14/4644 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der
Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Fraktion
der CDU/CSU hat der Kollege Dr. Paul Laufs.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Thomas Rachel
13680
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Die sichere Entsorgung
radioaktiver Abfälle für lange Zeiträume ist eine Aufgabe,
die unabhängig von künftig bevorzugten Energiever-
sorgungssystemen gelöst werden muss. An dieser sehr
wichtigen Aufgabe wird seit Jahrzehnten in Deutschland
und im Ausland intensiv gearbeitet. Das deutsche Entsor-
gungskonzept des Bundes und der Länder aus den Jahren
1979 bis 1990 entspricht nach unserer Überzeugung ho-
hen ökologischen, ökonomischen und technischen An-
sprüchen, ist in sich schlüssig und kann zeit- und bedarfs-
gerecht verwirklicht werden. Es ist die Grundlage für die
Entsorgung von 19 deutschen Kernkraftwerken und darü-
ber hinaus für die Entsorgung des gesamten radioaktiven
Abfalls aus Industrie, Gewerbe, Wissenschaft und Medi-
zin.
Die Internationale Länderkommission Kerntechnik
hat in jüngster Zeit empfohlen, dieses Entsorgungskon-
zept beizubehalten, und stellt fest: Alle notwendigen
Transporte können ohne Gefahr für die Bevölkerung,
die Polizei und das Begleitpersonal durchgeführt wer-
den. In Gor-leben und Ahaus stehen zentrale Zwi-
schenlager zur Verfügung, die praktisch leer sind. Für
schwach- und mittelradioaktive Abfälle ist das Endlager
Konrad bis zur Planfeststellungsreife entwickelt und
könnte nach heutigem Kenntnisstand im Jahre 2004 in
Betrieb gehen.
Die Pilotkonditionierungsanlage für die direkte Endla-
gerung von abgebrannten Brennelementen ist in Gorleben
genehmigungsreif fertig gestellt. Das Endlagerprojekt
Gorleben wird seit 20 Jahren untersucht und die
Erkundungsarbeiten stehen kurz vor dem Abschluss. Über
5 Milliarden DM sind bisher in diese Projekte investiert
worden.
Dieses in der Umsetzung weit fortgeschrittene deut-
sche Entsorgungskonzept wird nun von der Regierung
Schröder/Trittin zugrunde gerichtet. Ein unglaubliches
Werk der Zerstörung bahnt sich an.
Alle Tätigkeiten sind rücksichtslos gestoppt worden. Die
Versorgungsunternehmen wurden zu einer Vereinbarung
gepresst, die auch den Ausstieg aus dem deutschen Ent-
sorgungskonzept umfasst. Die Länder wurden zu keinem
Zeitpunkt gefragt.
Man erinnert sich, dass schon die von Ministerpräsi-
dent Gerhard Schröder geführte niedersächsische Landes-
regierung immer wieder rechtswidrig und offensichtlich
unzulässig versuchte, die Erkundungsarbeiten in Gorle-
ben zu behindern, weshalb dem Bund heute rechtskräftig
Schadensersatzleistungen durch das Land Niedersachsen
zustehen.
Was bedeutet das Vorgehen der Bundesregierung
Schröder/Trittin für ein Land wie Baden-Württemberg,
dessen Stromversorgung zu über 60 Prozent aus Kern-
kraftwerken stammt und das zahlreiche Forschungsein-
richtungen besitzt? Die Landessammelstelle für schwach-
und mittelradioaktive Abfälle in Karlsruhe – sie ist die
größte in Deutschland – wird überlaufen, wenn das End-
lager Konrad nicht planmäßig in Betrieb geht. Wie ernst
nimmt die Bundesregierung eigentlich ihre Verpflichtung
aus § 9 a des Atomgesetzes zur Einrichtung eines Endla-
gers für diese Abfälle?
Nun verfolgt die Bundesregierung entsprechend der
rot-grünen Koalitionsvereinbarung das Ziel, für die End-
lagerung aller Arten radioaktiver Abfälle ein einziges
Endlager mit neuer Standortsuche zu realisieren. Sie be-
gibt sich damit in Widerspruch zur internationalen Fach-
welt, die eine getrennte Behandlung der sehr großen
Mengen schwach- und mittelradioaktiver Abfälle, die
praktisch keine Wärme entwickeln, und der hochradioak-
tiven, wärmeerzeugenden Abfälle empfiehlt. Die Eignung
des Endlagers Konrad für die großen Mengen ohne Wär-
meentwicklung – übrigens auch aus dem Rückbau stillge-
legter Anlagen – wird selbst von dieser Bundesregierung
bestätigt. Aber sie will von neuem beginnen und verwirft
alles, was in den vergangenen Jahrzehnten mit großem
Aufwand erarbeitet worden ist.
Die Weigerung der Bundesregierung, die Transporte
von Brennelementen und Glaskokillen wieder aufzuneh-
men, hat die Kernkraftwerke in Neckarwestheim und
Philippsburg dem Entsorgungsinfarkt nahe gebracht. In
Neckarwestheim stehen seit Juni dieses Jahres sechs be-
ladene Castorbehälter und in Philippsburg seit Oktober
ein Behälter zum jederzeit möglichen Transport bereit.
Transporttermine sind nicht festgelegt.
Wenn bis zu den Revisionsterminen im Frühjahr 2001
weder die Transporte nach Frankreich zur Wiederaufar-
beitungsanlage noch die nach Ahaus in das zentrale Zwi-
schenlager laufen, droht diesen Kraftwerken das Aus. Die
Nasslager sind bis an den Rand mit abgebrannten Brenn-
elementen gefüllt. Weder in Neckarwestheim noch in Phi-
lippsburg können die Kernkraftwerke, von denen die
Stromversorgung Baden-Württembergs zu einem großen
Teil abhängt, ohne Transporte einen weiteren regulären
Zyklus fahren. Diese dramatische Lage erhellt das ganze
Ausmaß an unerhörter Verantwortungslosigkeit der Re-
gierung Schröder/Trittin.
Auf die drängenden Fragen der CDU/CSU vom Juni
1999 nach einem rot-grünen Alternativkonzept und
dessen Begründung haben wir bis heute keine Antwort er-
halten. Die Regierung Schröder/Trittin vollzieht ohne
weitere Klärung der Fragen die rot-grüne Koalitionsver-
einbarung vom Oktober 1998. Mit ihrem Hinweis auf die
erst vor kurzem erschienene Publikation Nr. 81 der Inter-
nationalen Strahlenschutzkommission, die Schutzziele
für gewisse Szenarien neu bestimmt, ist der Ausstieg aus
dem deutschen Entsorgungskonzept nicht zu rechtferti-
gen.
Selbstverständlich haben neue Erkenntnisse und tech-
nische Fortschritte immer Eingang in die Arbeit gefunden.
Auch das neu vorliegende Material muss abgearbeitet
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000 13681
werden. Wer widerspräche dem? Aber es ist völlig unan-
gemessen, es zum Anlass eines Moratoriums zu nehmen.
Es ist kennzeichnend für die bestehende ideologische
Verkrampfung, dass ein Sachdialog nicht mehr möglich
ist. Das Angebot zum Gespräch im Memorandum von in-
zwischen über 800 Professoren deutscher Hochschulen
über eine Neubewertung der Kernenergie und der nuklea-
ren Entsorgung sowie über neue technische – auch gesi-
chert katastrophenfreie – Potenziale
wurde in geradezu beleidigender Form mit dem gänzlich
unsachlichen Hinweis auf einen Unfall in der japanischen
Brennelementefabrik Tokaimura vom Tisch gewischt.
Ich empfinde die Begründungen von SPD und Grünen
für den Ausstieg als in der Sache zutiefst unwahrhaftig
und unglaubwürdig. Man kann nicht gleichzeitig die deut-
schen Kernkraftwerke als zu gefährlich für die Stromer-
zeugung bezeichnen und Restlaufzeiten von über 20 Jah-
ren akzeptieren.
Man kann nicht gleichzeitig Atomtransporte bekämpfen
und vermeiden wollen und in den Genehmigungsverfah-
ren bescheinigen, dass sie gefahrlos möglich sind. Tau-
sende haben früher schon stattgefunden.
Es ist auf bedrückende Weise unwahr gewesen, was im
Jahre 1998 über die Gefahren für Mensch und Umwelt,
die von den Atomtransporten ausgehen sollten, behauptet
und berichtet wurde.
Ich selbst habe erlebt, wie ein besonders negativ einge-
stimmter Berichterstatter nicht einmal wusste, was die
physikalische Einheit Becquerel bedeutet.
Angesichts der großen Fortschritte in Deutschland und
im Ausland entspricht es nicht der Wahrheit, wenn apo-
diktisch gesagt wird: Das Problem der atomaren Entsor-
gung ist weltweit ungelöst.
Es ist die krasse Unwahrheit, wenn behauptet wird, das
bisherige Entsorgungskonzept sei inhaltlich gescheitert
und habe keine sachliche Grundlage mehr.
Man kann jedenfalls den Atomausstieg nicht mit der un-
gelösten Entsorgungsfrage begründen und gleichzeitig
betonen,
man habe mit der Lösung noch Zeit bis zum Jahre 2030.
Es auch schlicht gelogen, wenn gesagt wird, niemand in-
vestiere mehr in neue Atomanlagen, so als gäbe es zum
Beispiel das ehrgeizige japanische Ausbauprogramm
nicht.
Der französische Philosoph und Naturwissenschaftler
Michel Serres hat vor einigen Wochen in einem Interview
mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ seine Ansicht
dargestellt, dass eine Kluft zwischen der Gesellschaft, der
Philosophie, der Wissenschaft und den Medien sowie der
Politik bestehe. Eines seiner größten Anliegen sei es, ei-
nen Dialog zwischen diesen Bereichen herzustellen.
Wörtlich sagte er:
Wie schwierig das ist, ersehen Sie daran, dass die
deutsche Regierung beschlossen hat, in Zukunft auf
die Produktion von Atomstrom zu verzichten.
Als Wissenschaftler habe ich gewissenhaft die
entsprechenden Dokumente studiert und bin zu dem
Schluss gelangt, dass die Politiker, die Medien und
die Öffentlichkeit die Gefahren viel zu hoch ein-
schätzen. Verstehen Sie mich recht, das sage ich
nicht, weil ich ein Franzose bin. Ich bin der Über-
zeugung, dass die Entscheidungen der Politiker, die
Mitteilungen der Medien und die Reaktion der Öf-
fentlichkeit sehr weit von einer wirklichen Kenntnis
des Problems entfernt sind.
Weiter sagt er:
Wir können nicht wirklich frei sein, wenn wir nicht
über wahre Informationen verfügen.
Ich teile diese Einschätzung von Michel Serres, insbeson-
dere auch für Fragen der nuklearen Entsorgung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Laufs, es
gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage der Kollegin
Bulling-Schröter. Lassen Sie die zu?
Ja, bitte.
Kollege Laufs, Sie ha-
ben hier sehr wortreich ausgeführt,
wie sicher die Atomenergie ist, wie sicher die Transporte
sind. Alles ganz toll, super. Jetzt meine Frage an Sie:
Wieso hat denn die Umweltministerin Merkel die Atom-
transporte gestoppt? War es aus Gründen der Wahl, die
kurz bevorstand? Oder gab es andere Gründe?
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Dr. Paul Laufs
13682
Erstens hat sie nicht alle
Transporte gestoppt.
– Zum Beispiel die der Glas-Kokokillen aus Frankreich
überhaupt nicht.
– Nein. – Zweitens hat sie, weil gegen eine Rechtsverord-
nung verstoßen worden war, hier natürlich reagieren müs-
sen. Das ist klar.
Die Fragen in diesem Zusammenhang waren abgear-
beitet,
als diese Regierung ihr Amt antrat. Inzwischen hat sie das
ja nun selbst über zwei Jahre hinweg behandelt und sie
kommt zu keinem anderen Ergebnis, als dass diese Trans-
porte ohne Gefahr für Umwelt und Menschen durchführ-
bar sind.
Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt, letztlich
kann sich nur durchsetzen, wer die Sachkompetenz hat
und Aufgaben mit Augenmaß und Lösungswillen an-
packt. Es drängt sich die Frage auf, ob die Regierung
Schröder/Trittin das Problem der nuklearen Entsorgung
überhaupt bewältigen oder sich nur rücksichtslos aus der
Verantwortung stehlen will.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Horst Kubatschka für die Fraktion der SPD.
Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Herr Laufs, Sie
laufen ja manchmal richtig zur Hochform auf
mit ganz großen und dramatischen Worten. Manchmal
wäre etwas weniger auch ganz gut.
Bloß, etwas muss man dann schon einmal zur Sprache
bringen.
Sie werfen uns, die wir aus der Kernenergie aussteigen
wollen, ideologische Verkrampfung vor. Was bringt uns
der Ideologievorwurf eigentlich? Ich richte doch auch
nicht Ihnen gegenüber und sage, Ihr Festhalten an dieser
veralteten Technologie sei Ideologie. Das ist eine techni-
sche Entscheidung.
Wenn Sie den Ideologievorwurf erheben, muss ich ihn
auch erheben. Das bringt uns nicht weiter.
Sie haben aber auch von einem katastrophenfreien Be-
trieb von Kernkraftwerken gesprochen. Ja, wo gibt es
denn das? – Nirgends gibt es das.
– Nein, das, was bei uns läuft, hat mit Katastrophenfrei-
heit nichts zu tun. Das Restrisiko bleibt bestehen und das
können Sie nicht wegreden.
Sie haben den japanischen Unfall genannt. Eine Hoch-
technologienation rührt eine Atombombe in zwei Eimern
zusammen – in zwei Stahleimern, gebe ich zu; das mag
das Hightech gewesen sein. Dieses unglaubliche Ding –
das habe ich am Anfang nicht geglaubt, ich habe die
Nachrichten weggeschmissen – hat ja die Japaner sehr
zum Nachdenken gebracht. So sehr setzen sie seitdem auf
die Kernenergie auch nicht.
Vorher wurde schon gefragt: Wer hat denn eigentlich
die Castortransporte gestoppt? Sie waren es.
Wenn Sie sie vor der Wahl nicht genehmigt haben, dann
war es von Ihnen fahrlässig. Herr Grill hat in der Diskus-
sion einmal gesagt: Eine Woche vor der Wahl hätten wir
genehmigen können. Warum haben Sie es nicht gemacht?
Wir haben dann noch einmal kritisch darüber geschaut.
Wir haben natürlich eine Abweichung gesehen und das
nicht akzeptiert.
Jetzt möchte ich aber zum Antrag kommen. Ende Juni
1999 hat die CDU/CSU-Fraktion die Große Anfrage „Zu-
kunft der friedlichen Nutzung der Kernenergie – Zukunft
der Entsorgung“ eingebracht. Bisher konnte diese Große
Anfrage nicht beantwortet werden. Dies wird natürlich
von der CDU/CSU kritisiert. Emotional betrachtet kann
man Verständnis für diese Kritik aufbringen. Ich bitte
aber, Folgendes zu berücksichtigen:
Seit dem rot-grünen Wahlsieg vor über zwei Jahren ist
auf dem Gebiet der Kernenergie manches in Bewegung
geraten.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000 13683
Manche Etappenziele wurden bereits erreicht. Ich erin-
nere nur an den Konsens mit den EVUs oder an das Er-
neuerbare-Energien-Gesetz. Vor den Ausstieg aus der
Kernenergie haben wir nämlich den Einstieg in eine
Energiewende gesetzt. Sie wollen auf Fragen 139 Fragen
Antworten haben, die auch Bestand haben. Deswegen er-
scheint es mir vernünftig, diese Fragen erst nach Vorlage
der Atomnovelle, die den Ausstieg regeln soll, zu beant-
worten.
Ihr Antrag bringt im Grunde genommen nichts Neues.
Es sind die bekannten CDU/CSU-Positionen zur Kern-
energie. Die F.D.P. wird sich diesen Forderungen wahr-
scheinlich anschließen. Da habe ich keine Bedenken.
Weil Ihr Antrag nichts Neues bringt, will ich ein Thema
aufgreifen, das in meiner Heimat Niederbayern zurzeit
hohe Wellen schlägt. Man könnte als Thema titeln: Mit
neuen Verbündeten gegen die Kernenergie. Die neuen
Verbündeten sind CSU-Kollegen, die sich gegen die
Kernenergie mächtig ins Zeug legen, zumindest wenn das
Kernkraftwerk in der Tschechischen Republik steht. Ich
spreche vom Atomkraftwerk Temelin.
Vor einer Woche hat der Kollege Kalb bei den Haus-
haltsberatungen moniert, dass sich Umweltminister
Trittin nicht zu diesem Thema geäußert habe.
Umweltminister Trittin hatte es auch gar nicht nötig, im
Rahmen der Haushaltsberatungen auf dieses Thema ein-
zugehen; denn die rot-grüne Bundesregierung hat von An-
fang an nichts unversucht gelassen, um den Betrieb des
Kernkraftwerkes Temelin zu verhindern. Sie hat jede sich
bietende Möglichkeit genutzt, um in diesem Sinne auf die
Entscheidungen der tschechischen Regierung zur Fertig-
stellung und Inbetriebnahme Einfluss zu nehmen.
Als niederbayerischer Abgeordneter, sozusagen als
Betroffener, möchte ich dazu Stellung nehmen. Um kein
Missverständnis aufkommen zu lassen: Ich kämpfe gegen
das Kernkraftwerk Temelin auf parlamentarischer Ebene
seit fast zehn Jahren; nicht erst als der Bürgerprotest auf-
flammte, habe ich mich der Problematik angenommen.
Jetzt läuft der Probebetrieb. Das Kind ist sozusagen in den
Brunnen gefallen.
Während der Bauphase, also vor fünf Jahren, hätte man
noch etwas erreichen können; was, das berichtete damals
die „Landshuter Zeitung“ am 3. April 1995. Ich zitiere
wörtlich:
Bayerns Umweltministerium unterstützt den Bau des
umstrittenen Kernkraftwerks Temelin in der Tsche-
chischen Republik.
In demselben Bericht heißt es einige Zeilen weiter – ich
zitiere –:
Gemeinsam mit seinem bayerischen Amtskollegen
Thomas Goppel stellte er
– gemeint ist der tschechische Umweltminister Benda –
die tschechisch-bayerische Umweltvereinbarung
vor, in der die positive Rolle der Kernenergie mit
Stromerzeugung festgeschrieben wird.
Das scheinen Sie völlig vergessen zu haben.
Damals, im März 1995, wurde auch der Antrag der
SPD-Bundestagsfraktion zu diesem Thema abgelehnt.
Begründet wurde die Ablehnung damit, dass dem Verlan-
gen nach Bürgerbeteiligung vonseiten der Regierung der
Tschechischen Republik weitestgehend entsprochen wor-
den sei. Sie scheinen Ihre alten Argumente wie immer zu
vergessen.
Wie gesagt: Dieser Antrag wurde mit CSU-Stimmen
abgelehnt. Auch im Bayerischen Landtag wurde ein ent-
sprechender Antrag abgelehnt. Dieselbe CSU fordert jetzt
lauthals diese Bürgerbeteiligung und protestiert gegen
Temelin mit der Parole: Was interessieren mich meine
Sprüche und Beschlüsse von früher?
Um es noch einmal klar zu sagen: Ich bin gegen das
Atomkraftwerk Temelin. Es entspricht nicht dem deut-
schen Standard. Der Reaktor ist nicht ausgereift; daran än-
dern auch die 78 Bauveränderungen seit Baubeginn
nichts. Es ergibt keinen Sinn, ein Atomkraftwerk, das in
wenigen Wochen schon drei Störfälle verzeichnet hat,
weiterzubetreiben. Die Restrisiken, die das Atomkraft-
werk Temelin birgt, sind offensichtlich schon im Probe-
betrieb nicht kalkulierbar.
Über die Ursachen von Störfällen werden Vermutun-
gen angestellt. Es ist nicht ausreichend, Vermutungen
über mögliche Ursachen anzustellen. Die Fehler müssen
erkannt und abgestellt werden. Wenn ein technisches Sys-
tem nicht ausgereift ist, dann sollte man nicht blindwütig
und gegen alle schlechten Erfahrungen an seinem Weiter-
betrieb festhalten. Ich fordere deshalb, den Probebetrieb
des Atomkraftwerkes Temelin einzustellen.
Wie schon gesagt, liebe Kolleginnen und Kollegen, der
Antrag der CDU/CSU bringt nichts Neues. Es stimmt, wir
wollen die Entsorgung anders regeln, als es 1979/80 ver-
einbart worden ist. Wieso das verfassungsrechtlich be-
denklich sein soll, ist für mich nicht nachvollziehbar. Wo-
her diese Argumentation stammt, ist dagegen seit gestern
bekannt: aus der bayerischen Staatskanzlei. Die größte
Staatskanzlei aller Länder beweist ihre wahre Aufgabe:
nicht etwa zum Wohle der bayerischen Bürgerinnen und
Bürger zu wirken, sondern das Zentrum der Opposition
und Wegbereiter des Bundeskanzlerkandidaten Edmund
Stoiber zu sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte der Op-
position kurz erklären, warum es notwendig ist, den bis-
her angedachten Entsorgungspfad zu verlassen. Unsere
technischen Träume haben sich als falsch herausgestellt.
Die physikalischen, chemischen und wirtschaftlichen Tat-
sachen haben uns eingeholt. Vor über 20 Jahren galt der
Weg der Wiederaufbereitung und des schnellen Brüters
als zukunftsweisend. Die Vision des schnellen Brüters hat
sich aber als nicht durchführbar und gefährlich herausge-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Horst Kubatschka
13684
stellt. Elementares Natrium lässt sich eben nicht so leicht
handhaben, vor allem nicht in so großen Mengen. Der
schnelle Brüter hat auch nicht die notwendige Brutrate er-
reicht. Die schöne Theorie stimmte, die schnöde Wirk-
lichkeit nicht. Damit hatte sich die Vision des Perpetuum
mobile nicht bewahrheitet und in Luft aufgelöst. Daher
hat Ihre Regierung den Versuchsreaktor stillgelegt.
Auch die Schwierigkeiten der Wiederaufbereitung
wurden unterschätzt. Vor allem – das ist entscheidend –
hat sich der Preis der Wiederaufbereitung als zu hoch er-
wiesen. Die Wiederaufbereitung ist eine sehr teure Lö-
sung, die direkte Endlagerung ist billiger. Aus diesen
Gründen haben wir uns für die direkte Endlagerung und
gegen die Wiederaufbereitung entschieden. Dies hat sich
als ein sinnvoller Weg herausgestellt. Die direkte Endla-
gerung erfordert aber eine Zwischenlagerung. Die hohe
Zerfallswärme muss abklingen und nach einer 30- bis
40-jährigen Abklingzeit kann das radioaktive Material
endgelagert werden. Nach dieser Zeit müssen die Endla-
ger zur Verfügung stehen. Damit hinterlassen wir unseren
Kindern und Enkeln ein schweres Erbe: Sie müssen den
Atommüll endlagern, den wir erzeugt haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung
hat zusammen mit den EVUs vereinbart, den Ausstieg aus
der Kernenergie im Konsens zu bewältigen. Seit dieser
Vereinbarung spielt das Thema Kernenergieausstieg in
Deutschland fast keine Rolle mehr.
Ich bedaure dies; aber es ist eine Tatsache. Auch die deut-
sche Industrie hat sich inzwischen von der Kernenergie
verabschiedet. Seit über 20 Jahren ist in Deutschland kein
neues Atomkraftwerk mehr bestellt worden. Siemens bil-
det mit Framatome eine gemeinsame Firma; es gibt also
keinen deutschen Hersteller von Atomkraftwerken mehr.
Die EVUs bewegt der Kernenergieausstieg nur noch
pflichtgemäß; denn die letzten Jahrzehnte haben bewie-
sen, dass die Kernenergie nicht zukunftsfähig ist.
Nur noch die CDU/CSU und vielleicht die F.D.P.
treibt dieses Thema um. Meine Damen und Herren von
der Opposition, ich versichere Ihnen aber, Ihre Fange-
meinde ist schon sehr klein geworden. In der CDU/CSU
befinden sich die letzten aufrechten Streiter für die Atom-
kraft; damit sind beide Parteien eigentlich nicht zukunfts-
fähig. Die Zukunft heißt: Energiesparen, Energieeffizienz
und erneuerbare Energien.
Auf diesen Dreiklang müssen wir in den nächsten Jahr-
zehnten unsere Energieversorgung umstellen. Mit der
Konsenslösung belegen wir, dass man sich geordnet aus
der Kernenergie zurückziehen kann.
Wir belegen, dass ein großer Industriestaat auch ohne
Kernenergie auskommen kann.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Kubatschka, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ja, noch einen Satz. –
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, wir
sollten nicht über den Ausstieg aus der Kernenergie strei-
ten – er erfolgt jetzt ohnehin –, sondern wir sollten uns
über den Weg in die Energiezukunft streiten.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat die Kol-
legin Birgit Homburger für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Der Antrag der CDU/CSU-Fraktion
bringt zum wiederholten Male ein Thema auf die Tages-
ordnung, bei dem die rot-grün geführte Bundesregierung
seit Beginn ihrer Amtszeit versagt hat.
Mit den Problemen sind Sie durch die Grosse Anfrage der
CDU/CSU mit ganz alltäglichen Fragen, die Sie längst für
sich beantwortet haben müssten
und die Sie im Übrigen im Zusammenhang mit drei Klei-
nen Anfragen, die die F.D.P.-Bundestagsfraktion gestellt
hatte, teilweise beantwortet haben, vertraut. Trotzdem ist
die Sache seit eineinhalb Jahren unbearbeitet.
Jetzt sagt Herr Kubatschka, man solle die Große An-
frage besser erst dann beantworten, wenn die Atomno-
velle vorgelegt sei. Ich empfinde diesen Vorschlag als aus-
gesprochen peinlich, und zwar schon allein deshalb, weil
Sie zum Ersten vor der Vorlage der Atomnovelle wissen
müssten, wie die Sache ablaufen soll – wenn Sie ein Lö-
sungskonzept haben – und weil Sie zum Zweiten die
Atomnovelle schon zigmal angekündigt, aber nicht vor-
gelegt haben.
Deshalb sollten Sie jetzt endlich darangehen, diese Fragen
zu beantworten. Danach kann man sich über die zukünf-
tige Strategie unterhalten.
Ihr Verhalten, Anfragen nicht zu beantworten, kennen
wir zur Genüge; das passiert permanent. Von den Kleinen
Anfragen wird kaum eine ohne Fristverlängerung beant-
wortet und die Großen Anfragen – die F.D.P. stellt kaum
noch welche – verschwinden sowieso auf Nimmerwie-
dersehen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Horst Kubatschka
13685
Dieses Verhalten – ich sage das in Richtung auf die Bun-
desregierung – ist eine Missachtung des Parlaments. Es
zeigt aber auch einmal mehr das Desaster dieser Bundes-
regierung.
Im Koalitionsvertrag haben Sie noch von einer fehlen-
den Lösung des Atommüllproblems gesprochen. Bis
heute haben Sie allerdings immer noch kein Konzept. Im
Gegenteil: Die Endlagerprojekte in Gorleben und Schacht
Konrad, die schon weit vorangeschritten waren und für
die Ablagerung hoch- bzw. schwach- und mittelradioakti-
ven Mülls sicher geeignet schienen, haben Sie gestoppt.
Alternativen haben Sie derzeit keine. Sie haben einen Ar-
beitskreis eingesetzt, der Kriterien und Verfahren für eine
nationale Standortauswahl erarbeiten soll.
Ich bin der Meinung, anstatt das seit den 70er-Jahren
durchgeführte komplette Verfahren neu aufzurollen, soll-
ten Sie lieber auf den bisherigen Erkenntnisstand zurück-
greifen und die Endlagerprojekte vorantreiben.
– Das ist doch überhaupt nicht wahr, Herr Kubatschka; die
Erkenntnisse haben sich nicht geändert. Das Einzige, was
sich geändert hat, ist Ihre Wahrnehmung. Sonst hat sich in
der Sache überhaupt nichts geändert.
Mit dem Stopp der Endlagerprojekte aus ideologischen
Gründen haben Sie Milliardeninvestitionen kaputt ge-
macht. Das ist aber noch nicht alles. Wenn Sie das Ziel
weiterverfolgen, das Sie sich gesetzt haben, brauchen Sie
für die Erkundung anderer Endlagerstandorte weiteres
Geld. Sie haben dafür im Haushalt 2001 immerhin schon
mehr Mittel als in den letzten Bundeshaushalt eingestellt.
Die eingestellten Mittel sind aber nach wie vor eine Täu-
schung der Öffentlichkeit, und zwar in zweifacher Hin-
sicht:
Erstens wird die Erkundung neuer Standorte noch ein
Vielfaches der von Ihnen veranschlagten Summe kosten,
und zwar ohne dass zu erwarten steht, dass man zu neuen
Erkenntnissen kommt.
Die Ausgabe dieser Gelder ist also überflüssig; Millionen
D-Mark werden aus ideologischen Gründen zur Ver-
schwendung freigegeben.
Zweitens sind die Projekte Schacht Konrad und Gorle-
ben mit Blick auf die Grundsätze der Haushaltsklarheit
und Haushaltswahrheit nach wie vor irreführend, und
zwar deswegen, weil es für die Kosten der Endlagerpro-
jekte eine Refinanzierungsvereinbarung gibt. Das
heißt: Für jede einzelne Mark, die aus dem Bundeshaus-
halt ausgegeben wird bzw. ausgegeben wurde, erfolgt eine
Refinanzierung durch die Betreiber der Kernkraftwerke.
Durch Ihr Verhalten täuschen Sie staatliches Handeln vor,
obwohl Sie in Wirklichkeit nur das Geld anderer Leute
ausgeben.
Als so genannte Lösung der Probleme erzwingen Sie
nun eine oberirdische Zwischenlagerung an den Kern-
kraftwerken, die aus zwei Gründen unsinnig ist:
Erstens. Sie erreichen damit niemals die Sicherheit, die
Sie erreicht hätten, wenn unterirdisch zwischengelagert
worden wäre. Jetzt gibt es quasi eine Castor-Zwischenla-
gerung auf der grünen Wiese.
Zweitens. Finanziell bedeutet diese Entscheidung zu-
sätzliche Kosten, die der Gebührenzahler letztlich über
den Strompreis mitbezahlen muss, ohne dass dadurch
ökologisch etwas erreicht wird. Im Gegenteil: Die Bürge-
rinnen und Bürger zahlen erneut dafür, dass die Umwelt-
standards reduziert werden. Das ist Fakt.
Würden die deutschen Kernkraftwerksbetreiber keine
Zwischenlager beantragen, wie es jetzt teilweise gesche-
hen ist
– gut, dann haben eben alle zwischenzeitlich einen Antrag
gestellt; ich danke für Ihren Hinweis, Herr Kubatschka;
dadurch wird unsere Position nur bestätigt –, müssten
Kernkraftwerke abgeschaltet werden.
– Sie sagen: „So ist es!“ Wunderbar, dass Sie das bestäti-
gen. Das höre ich in dieser Klarheit und Deutlichkeit das
erste Mal von Ihnen. Ich freue mich, dass Sie das so
freimütig sagen; damit geben Sie nämlich zu, dass Sie
versuchen, die Kernkraftwerke auf kaltem Wege abzu-
schalten, obwohl Sie den Kernkraftwerksbetreibern ge-
nau das Gegenteil versprochen haben.
Ich kann Ihnen auch sagen, warum Sie das versuchen.
Sie wollen das tun, weil Sie versprochen haben, dass Zwi-
schenlager gebaut werden können. Aber im Verfahren hat
die Bundesregierung plötzlich festgestellt, dass sie weder
die Macht noch die Kompetenz hat, zu sagen, dass Zwi-
schenlager gebaut werden sollen. Vielmehr haben ganz
andere Stellen die Planungshoheit.
Hinzu kommt, dass der Weg nach La Hague zur Wie-
deraufarbeitung zwischenzeitlich nicht mehr zur Verfü-
gung steht, weil die französische Regierung die Lieferun-
gen nach La Hague so lange gestoppt hat, bis Deutschland
sichergestellt hat, dass der dort lagernde Atommüll aus
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Birgit Homburger
13686
Deutschland zurückgenommen wird. Wie sieht der Sach-
stand aus? Es wurde vor ein paar Wochen gesagt, dass wir
noch vor Weihnachten zu einem Ergebnis kämen. Ich
habe bei der Bundesregierung nachgefragt. Ergebnis: Es
steht im Augenblick kein Termin für weitere Verhandlun-
gen fest. Vor dem Jahresende ist also nichts zu erwarten.
Ich prophezeie Ihnen, dass in dieser Frage vor den nächs-
ten Landtagswahlen – aus gewissen Gründen – überhaupt
nichts geschehen wird.
Es gibt also eine oberirdische Zwischenlagerung in
Deutschland und im Ausland. Das ist kein Konzept; das
ist ein unverantwortliches Chaos. Die F.D.P. fordert die
Bundesregierung erneut auf, endlich ein schlüssiges
Entsorgungskonzept vorzulegen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Bun-
desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit, Jürgen Trittin.
Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit: Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Frau Kollegin, ich stelle fest, dass es
ein heftiges Zerwürfnis zwischen der F.D.P. und der
CDU/CSU gibt.
Sie beklagen zwar, dass eine Anfrage nicht beantwortet
worden ist. Aber Sie wissen sehr gut, dass dies immer nur
mit Zustimmung der fragestellenden Fraktion möglich ist.
Wenn die fragestellende Fraktion auf Beantwortung
bestehen würde, dann würde die Antwort nach drei Wo-
chen vorliegen. Offensichtlich hatte die Union gute
Gründe, nicht darauf zu bestehen.
Ich stelle aufgrund der Ausführungen von Herrn Laufs
und der Feststellung von Ihnen des Weiteren fest: Für Sie
war Gorleben nie eine Erkundung, die Gorleben rechtlich
eigentlich ist. Sie haben vielmehr – das haben Sie auch zu-
treffend dargestellt, Herr Laufs – den Bau eines Endlagers
betrieben. Wir haben diese politische Vorfestlegung durch
unser Moratorium in der Tat beendet. Wir haben den Bau
dieses Endlagers, den Sie als Erkundung getarnt hatten,
gestoppt.
– Verfahrensrechtlich ist das eine Erkundung gewesen.
Schauen Sie einmal in die Unterlagen, sehr geehrter Herr
Laufs!
Ich stelle auch fest: Zum großen Ärger der F.D.P. ha-
ben wir diesen als Erkundung getarnten Bau eines Endla-
gers mit Zustimmung der Energiewirtschaft gestoppt. Sie
haben also einen Konflikt mit der Energiewirtschaft.
Wir haben noch etwas anderes gestoppt. Bisher wurde
in Bayern für die Produktion von Atomstrom, etwa in
Gundremmingen, munter Gewerbesteuer kassiert.
Um den Müll dieser Müllproduktion sollten sich dann ge-
fälligst die Franzosen in La Hague, die Briten in Sella-
field, die Wenden im Wendland und die Westfalen in
Ahaus kümmern. Über allem schwebte dabei Sankt
Florian. Mit dem Müll wollten Sie nichts zu tun haben.
Mit dieser verantwortungslosen Politik haben wir eben-
falls Schluss gemacht.
Durch den Atomkonsens haben wir die Reststrom-
mengen begrenzt. Damit lässt sich erstmals das Müllvo-
lumen bestimmen. Das ist die erste Voraussetzung, um
überhaupt zu einem Entsorgungskonzept zu kommen.
Man kann nicht sagen, man habe das Problem gelöst,
wenn man diesen Müll unbegrenzt weiter produziert.
Schließlich: Wir haben durch den Konsens die Zahl der
Transporte drastisch verringert. Ihr Entsorgungskonzept
hieß: Zunächst wurde der Atommüll Tausende von Kilo-
metern durch Europa nach La Hague oder nach Sellafield
transportiert. Dort wurde er verarbeitet, sodass dabei auch
noch ordentliches Plutonium entstand. Anschließend
wurde er da über Jahre hinweg zwischengelagert. Die
nächste Transportstrecke führte über Tausende von Kilo-
metern zurück ins zentrale Zwischenlager nach Ahaus
oder nach Gorleben. Von da aus kam der Müll dann ir-
gendwann ins Endlager. Das machte insgesamt drei
Transporte. – So sah Ihr Entsorgungskonzept aus.
Unser Entsorgungskonzept sieht folgendermaßen aus:
Der Atommüll wird künftig in den Kraftwerken zwi-
schengelagert, bevor er in ein Endlager geht. Dann gibt es
einen Transport anstelle von drei. Das ist die Antwort auf
Ihre Frage, Kollege Laufs, was wir machen.
Ich kann die Länder nur nachdrücklich auffordern,
konstruktiv mitzuarbeiten. Wer sich in der Frage dezen-
traler Zwischenlager obstruktiv verhält, der betreibt
nicht nur eine Politik zulasten der Atomkraftwerksbetrei-
ber – es tut mir schon fast weh, dass ich das hier sagen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Birgit Homburger
13687
muss –, sondern auch – es tut mir nicht Leid, das sagen zu
müssen – eine Politik zulasten der Polizeibeamtinnen und
Polizeibeamten in diesem Lande.
Sie haben jahrelang bis zu 40 000 Polizistinnen und Poli-
zisten eingesetzt, um dieser Gesellschaft Ihre verfehlte
Energiepolitik aufzudrücken. Diesen Missbrauch der Po-
lizei wollen wir ebenfalls beenden.
Das waren Gründe, warum wir die Bedingungen für sol-
che Transporte durch die Begrenzung der Müllmenge und
durch eine Drittelung der Transporte verändert haben.
Dennoch – das sage ich auch in Richtung derjenigen,
die gegen die Nutzung der Atomkraft waren und die ge-
gen solche Transporte demonstriert haben –: wird es auch
weiterhin bestimmter Transporte bedürfen. Das hat eine
ganz simple Ursache. Allein unter Ihrer Regierung, von
Anfang der 80er-Jahre bis 1998, sind 4 500 Tonnen ra-
dioaktiver Müll ins Ausland verschoben worden.
Wir haben die rechtliche, die moralische und die politi-
sche Pflicht, den von Ihnen ins Ausland verschobenen
Atommüll zurückzuholen.
Ich weiß, dass es auch dagegen Proteste geben wird.
Ich habe dafür sogar Verständnis, soweit sich dieser Pro-
test gegen die Sünden der Vergangenheit richtet. Ich sage
aber in aller Deutlichkeit: Ich kann diese Proteste nicht
mehr ganz und gar billigen; denn diese Transporte dienen
– anders als früher – nicht mehr dem Weiterbetrieb der
Atomanlagen bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag. Sie sind
die Erblast einer verfehlten Politik. Die Transporte wären
übrigens auch dann nötig, wenn wir einen Sofortausstieg
durchgeführt hätten. Das sage ich in Richtung einiger Kri-
tiker, die nicht aus Ihrer Ecke kommen, Herr Laufs.
Wir haben das Atommüllproblem durch den Ausstieg
begrenzt und gemindert. Ich füge aber eines hinzu: Die ei-
gentliche Ursache für diese Entscheidung liegt im Ein-
stieg. Nie hätte man in diese Technik ohne ein Entsor-
gungskonzept einsteigen dürfen. Dafür tragen Sie
genauso wie Teile der SPD die Verantwortung.
– Herr Paziorek, da dürfen Sie sich jetzt nicht zurückleh-
nen. Das einzige, was beim Zurücklehnen herauskommt,
ist, dass Sie der SPD bescheinigen, fähig zu sein, aus die-
sen Fehlern zu lernen, während Sie weiterhin an den Irr-
tümern des Einstiegs in die Atompolitik festhalten.
Wir haben, weil es in der ganzen Welt bis heute weder
für Granit noch für Salz, noch sonst etwas ein sicheres
Endlagerkonzept gibt, bereits vier Monate nach Amtsan-
tritt der neuen Bundesregierung den Arbeitskreis „Aus-
wahlverfahren Endlagerstandort“ eingerichtet. Erst-
malig werden hier – pluralistisch zusammengesetzt und
nicht einseitig – fundierte Kriterien und ein nachvollzieh-
bares Verfahren für die Endlagersuche entwickelt. Kürz-
lich hat dieser Arbeitskreis erste Zwischenergebnisse öf-
fentlich vorgestellt. Sie wollen damit eine neue Qualität in
der Auseinandersetzung um Endlager schaffen. Ich be-
grüße es nachdrücklich, dass sich Umweltverbände, Kir-
chen und Gewerkschaften daran beteiligen. Ich würde
mich freuen, wenn auch Sie, Herr Laufs, so engagiert da-
bei wären, wie Sie es hier waren. Die Empfehlung wollen
wir hier erarbeiten.
Der Arbeitskreis unterliegt in seinen Empfehlungen
keinen Weisungen. Nach den bisherigen Planungen wer-
den sie in zwei Jahren zu erwarten sein. Anschließend ist
eine breite öffentliche Diskussion dieser Empfehlung vor-
gesehen, bevor das Auswahlverfahren verbindlich ge-
macht wird.
Ich sage mit allem Nachdruck: Bis dahin werden keine
neuen Standorte ausgewählt oder gar vor Ort erkundet.
Ich bin mir auch sicher, dass wir diese Zeit haben. Auf-
grund der Abklingzeiten brauchen wir ein Endlager erst
gegen 2030. Das ist ein Datum, das wir nicht erfunden ha-
ben; das haben wir aus Ihrer eigenen Endlagerkonzeption
übernommen. Das war auch bei Ihnen so vorgesehen.
Diese Zeit braucht man in meinen Augen auch für trag-
fähige Entscheidungen. Die Erfahrungen der letzten Jahr-
zehnte haben gezeigt, dass es nicht reicht, über Technik zu
reden. Es geht auch darum, die Menschen einzubeziehen.
Transparenz der Entscheidungen und aktive Bürgerbetei-
ligung sind unverzichtbar, um die Glaubwürdigkeit von
Verantwortlichen und das Vertrauen in eine spätere Ent-
scheidung herzustellen.
Meine Damen und Herren von der Opposition, ich
habe mich schon gewundert, dass Sie ausgerechnet diesen
Punkt „Zukunft der nuklearen Entsorgung“ auf die Tages-
ordnung gesetzt haben. Ihre Atommüllpolitik war schlicht
und ergreifend verantwortungslos. Sie haben versucht, in
Gorleben Fakten zu schaffen, unabhängig davon, was
Wissenschaftler gesagt haben. Ihre damalige Ent-
scheidung für die Erkundung in Gorleben war rein poli-
tisch begründet, nicht fachlich. Allein die Nähe zur da-
maligen Grenze zur DDR zählte. Aber die DDR war Ihnen
ja, was Atommüll anging und auch sonst, lieb und teuer.
Sie haben das Atommülllager Morsleben trotz aller War-
nungen, übrigens auch Warnungen aus dem Bundesamt
für Strahlenschutz, auf der Basis einer Genehmigung der
SED weiterbetrieben. Frau Merkel hat in Morsleben mehr
Atommüll abgekippt als Erich Honecker. Wir haben heute
alle Hände voll zu tun, damit in deren maroden Schacht
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Bundesminister Jürgen Trittin
13688
nicht buchstäblich den Fässern die Decke auf den Kopf
fällt.
Meine Damen und Herren, ich weiß, dass Ihnen das
wehtut und dass Sie sich aufregen, weil das alles Tat-
sachen sind.
Mit dieser Verantwortungslosigkeit, verehrter Herr
Laufs, haben wir Schluss gemacht. Wir haben den Aus-
stieg festgelegt. Die Menge des Mülls ist berechenbar
und damit ist endlich eine Grundlage für eine
verantwortungsbewusste Entsorgungskonzeption gelegt,
die sich allerdings mit einer Verantwortung herumzu-
schlagen hat, die letztlich auf einer verantwortungslosen
Entscheidung beruht, nämlich dem Einstieg in diese Tech-
nologie.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Recherche beim
Stenographischen Dienst hat ergeben, dass Herr Kollege
Laufs zum Bundesumweltminister Folgendes gesagt hat:
„Sie haben zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen aufgeru-
fen!“ – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weise diese
Äußerung mit Entschiedenheit zurück, weil ich denke,
hier ist eine Grenze überschritten worden. Wir wissen,
dass wir immer wieder auch abwägen müssen. Ich erteile
Ihnen zwar keinen Ordnungsruf; aber ich möchte darauf
hinweisen, dass solche Formen der Auseinandersetzung
unter Kolleginnen und Kollegen nachweislich nicht dem
Stil des Hauses entsprechen.
Der Kollege Peter Ramsauer hat sich zur Geschäfts-
ordnung gemeldet. Bitte, ich erteile Ihnen das Wort.
Frau Präsidentin!
Vorbehaltlich einer Nachprüfung – gegebenenfalls im Äl-
testenrat – dessen, was Sie jetzt vorgetragen haben,
möchte ich im Namen meiner Fraktion die Vorhaltungen
gegenüber dem Kollegen Laufs zurückweisen. Es wäre
nämlich ebenso zu rügen gewesen, dass sich Politiker der
Regierungsfraktionen ganz offen zur Abhaltung von Cha-
ostagen bekannt haben.
– Ja, natürlich. – Dort haben ebenfalls bürgerkriegsähnli-
che Zustände geherrscht. Ich möchte auf diesen Punkt nur
hinweisen. Wir werden aber darauf zu gegebener Zeit
noch zurückkommen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Ramsauer, Sie kennen die Spielregeln im Deutschen Bun-
destag. Es ist nicht üblich, die Entscheidungen des Präsi-
diums zu kritisieren.
Aber wir können uns gern im Ältestenrat über diesen Vor-
gang unterhalten.
Ich erteile jetzt der Kollegin Eva Bulling-Schröter,
PDS-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute haben wir wie-
der einmal eine Debatte über die Atomenergie und über
die End- und Zwischenlager. Die CDU/CSU ist offen-
sichtlich beleidigt, weil sie die Antworten auf ihre Große
Anfrage immer noch nicht bekommen hat. Eines habe ich
aber nicht verstanden: Frau Homburger, Sie haben ja be-
hauptet, Sie hätten schon einige Antworten erhalten.
Meine Frage an Sie lautet deshalb: Warum haben Sie diese
der CDU/CSU nicht gegeben? Das ist sehr seltsam.
– Das ist ja interessant, dass die Kollegen der CDU/CSU
nicht lesen können.
Es ist eine sehr scheinheilig geführte Debatte, und
zwar von beiden Seiten. Die CSU in Niederbayern – Herr
Kubatschka hat das schon kurz ausgeführt – ist gegen
Temelin. Interessant ist in diesem Zusammenhang
aber – das haben Sie leider nicht gesagt, Herr
Kubatschka –, dass sich die Bayerische Staatsregierung
an Temelin angeblich beteiligt. Der Bund Naturschutz hat
einen Untersuchungsausschuss des Bayerischen Landta-
ges gefordert. Dort soll diskutiert werden, ob die bayeri-
sche Bank LWS nicht Kredite für Temelin vergeben hat.
Dass die CSU an einer Aufklärung kein Interesse hat,
glaube ich gerne. Ich kann mir auch vorstellen, dass sie
behauptet – das kann man ja immer sagen –, sie habe nicht
gewusst, wohin das Geld gehe. Es ist also ein sehr selt-
samer Vorgang.
Die SPD behauptet permanent: Wir steigen aus. Ich
frage: Ja, wann? Es dauert sehr lange.
Wir sind mit dem Zeitplan absolut nicht zufrieden. Der so-
fortige Ausstieg ist nach wie vor nicht erkennbar.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Bundesminister Jürgen Trittin
13689
– Photovoltaik ist zwar schön. Aber wir wollen die AKWs
abschalten, und zwar nicht nur in Temelin, sondern auch
Ohu 1 und 2, Gundremmingen und auch woanders. Das
ist unser Ziel.
Grundsätzlich gilt – in diesem Punkt sind wir uns ei-
nig –: Was an Abfällen produziert wird, muss auch ent-
sorgt werden. Für die Entsorgung müssen Wege gesucht
werden; denn es wird nach den Zukunftsplänen von Rot-
Grün weit mehr Abfälle als heute geben, nämlich fast das
Doppelte. Es ist sehr bedauerlich, dass nach den Kon-
sensplänen noch einmal so viel Atommüll entstehen wird,
wie jetzt schon entstanden ist.
Durch die Vereinbarung der Bundesregierung mit den
Stromversorgern wird sich die Menge der langlebigen und
hoch radioaktiven Abfälle noch erheblich ausweiten. Das
ist eine große politische Enttäuschung für viele Wähle-
rinnen und Wähler. Dieser Enttäuschung ging die Täu-
schung der Wählerinnen und Wähler voraus. Sie haben
sich nämlich eine andere Politik vorgestellt, als sie Sie ge-
wählt haben.
Sie versprachen, das Risiko schwerer Unfälle in Kern-
kraftwerken durch eine schnellstmögliche Abschaltung
der Anlagen auszuschließen. Davon kann bei der Verstro-
mungsgarantie für die AKWs wohl kaum mehr die Rede
sein – leider! Ihre Strategie war es, mit der Industrie einen
Konsens über Restlaufzeiten zu erreichen. Sie sind der
Meinung, dass Sie das geschafft haben. Wir meinen aber,
dass selbst das gescheitert ist; denn tatsächlich ist es Ih-
nen nicht gelungen, die Industrie auf das Ziel eines Atom-
ausstiegs festzulegen.
Die Union nutzt nicht umsonst jede Gelegenheit, eine
Revision Ihrer Atompolitik anzukündigen. – Ich sehe,
dass Kollege Laufs nickt.
Im Falle eines Regierungswechsels wird diese Revision
Realität werden; denn Sie haben mit den langen Restlauf-
zeiten keine Tatsachen geschaffen, die in den nächsten
Jahren unumkehrbar wären. Damit ist nicht nur der
Wiedereinstieg in die Atomwirtschaft offen, sondern auch
die Frage, welcher und wie viel Atommüll entsorgt wer-
den muss.
In diesem Bereich ist nur eines sicher, nämlich dass Sie
einer Genehmigung der Endlagerung im Schacht Konrad
keinen Widerstand entgegensetzen. Für die Erkundung
von Gorleben haben Sie lediglich ein Moratorium ver-
hängt, das nach Abhandenkommen Ihrer Regierung mit
einem Federstrich aufgehoben werden kann.
Die sicherheitsrelevanten Fragen der Verarbeitung von
Brennelementen in der Pilotkonditionierungsanlage in
Gorleben hat der niedersächsische Umweltminister
Jüttner in dieser Woche schon einmal genehmigt. Dabei
ist es für mich kein Trost, dass dort zunächst nur die er-
warteten Leckagen an Lagerbehältern repariert werden
sollen.
Den Menschen an den Atomkraftwerksstandorten ver-
sprechen Sie, dass in 30 Jahren jemand kommen wird, der
die zwischengelagerten abgebrannten Brennelemente ab-
holen wird; denn in 30 Jahren soll es ein Endlager für hoch
radioaktive Abfälle geben. Doch niemand kann heute vor-
aussagen, wie die atomare Endlagerung in 30 Jahren aus-
sehen wird,
ob es eine Veranstaltung der Bundesrepublik Deutschland
sein wird oder ob sich andere Staaten als Atomklo miss-
brauchen lassen werden. Schon heute unterbreitet die
Russische Föderation Offerten zur Endlagerung in Russ-
land.
Ich meine, hier muss sich wirklich etwas ändern. Wir
brauchen ein Konzept, aber vor allem brauchen wir eines:
den schnellen, am besten sofortigen Ausstieg aus der
Atomenergie.
In dieser Frage brauchen wir keine Scheinheiligkeit, we-
der auf der einen noch auf der anderen Seite.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Kol-
lege Arne Fuhrmann für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Herr Dr. Laufs, es ist ja immer so:
Wenn man als Erster redet und sich dann alle auf einen
beziehen, hebt einen das gewaltig. Deshalb tue ich das
nicht – um das vorwegzuschicken.
Sie haben, bezogen auf diese Bundesregierung, ein
paarmal das Wort „unverantwortliche Politik“ in den
Mund genommen.
– Ich gebe Ihnen etwas zu bedenken. Es gibt ein paar
kleine Unstimmigkeiten. Das eine ist Ihr Einwand:
Warum eigentlich nicht drei Transporte? Wenn ich das
richtig verarbeitet habe, verstehe ich das so, dass Sie die
Just-in-time-Methode wollen: so lange auf Straße und
Schiene unterwegs, bis endgelagert werden kann.
Das wäre eine tolle Möglichkeit. Nach Ihren Worten wäre
das sozusagen Ihre Zielsetzung.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Eva Bulling-Schröter
13690
Das Zweite, Herr Laufs. Sie haben von Unwahrheiten
und unverantwortlichem Handeln gesprochen. Erinnern
Sie sich bitte daran – es ist vorhin schon einmal gesagt
worden –, dass Frau Merkel Castor-Transporte gestoppt
hat, im selben Atemzug allerdings – da fange ich dann an,
darüber zu grübeln, wie weit die fachliche Kompetenz der
damaligen Bundesregierung überhaupt in der Lage war,
eine einzige Entscheidung zu treffen – Plutonium als
Backpulver verwendet, Entschuldigung!, bezeichnet hat.
Jeder, der die Geschichte Gorlebens kennt, kennt auch
diese Geschichte von Frau Merkel.
Aber Sie, meine Damen und Herren von der Opposi-
tion, geben im Augenblick sozusagen den Biedermann,
nachdem Sie in dem Bereich der Nuklearpolitik und der
Entsorgung 16 Jahre lang – das hat Ihnen der Umweltmi-
nister an einigen klassischen Beispielen bereits klarge-
macht – verdrängt, versäumt, vermieden, zum Teil ver-
schlafen und verschlampt haben. Das ist die Realität.
– Wissen Sie, Herr Laufs, Sie haben den Menschen in ei-
nem der Bereiche, die in der Politik am sensibelsten be-
handelt werden sollten, bei der Regierungsübernahme
durch Rot-Grün hinterlassen: ungelöste Probleme im Zu-
sammenhang mit der nuklearen Entsorgung, eine ver-
fehlte Energiepolitik und ein Desaster in Sicherheitsfra-
gen. Trotzdem fordern Sie hier immer wieder die
Erledigung all dieser Punkte innerhalb von zwei Jahren
von einer Regierung, deren Tendenzen und Meinungen
Sie 16 Jahre lang vehement bekämpft und zum Teil als ab-
surd in die Ecke gestellt haben. Das ist die Realität.
Deshalb wundert es mich auch, dass diese Debatte heute
ausgerechnet von Ihrer Seite verlangt wurde.
Auch auf die Atomgesetznovelle haben Sie selbst,
Herr Laufs, hingewiesen. Darin steht aber auch, dass von
der Bundesregierung ein Entsorgungskonzept festge-
schrieben und umgesetzt werden soll. Allerdings wissen
Sie genau wie ich, dass diese Konzepte in der Zwi-
schenzeit, auch unter Ihrer Regierung, mehrfach
grundsätzlich geändert wurden. Das Resultat ist, dass es
bis heute keinen geregelten Weg einer Endlagerung gibt.
Das muss man feststellen. Aber die Frage, warum das so
ist, sollten Sie gelegentlich auch sich selber stellen, vor al-
len Dingen wenn Sie sich hier vor dem Parlament und in
Anfragen dazu aufschwingen wollen, Vorwürfe zu fabri-
zieren und denen, die heute Verantwortung tragen, im-
merfort zu sagen: Ihr müsst, ihr müsst, ihr müsst!
Nur, es gibt einen Unterschied: Sie haben damals unter
Ihrer sich selbst gesetzten Prämisse – nämlich ein Zubau
von AKWs, ein Immer-Mehr an Energie, die wir im Prin-
zip teilweise gar nicht gebraucht haben –, damit die Ent-
wicklung so weitergeht, wie Sie sie gewollt haben, ganz
schnell bestimmte Fakten künstlich schaffen müssen, um
der Öffentlichkeit, dem Parlament und all denen, die da-
mit befasst sind, vorzugaukeln, wir hätten einen Entsor-
gungspfad. Nur, es gab ihn nicht.
Da sage ich Ihnen: Allein die Tatsache, dass Sie es ris-
kiert haben, Gorleben immer wieder als den Schlüssel
hinzustellen, ist im Grunde, wenn man sich das heute
überlegt, eine der größten – ja, man muss fast dieses Wort
benutzen – Gemeinheiten: auf der einen Seite allen denen
gegenüber, die um eine ehrliche Politik gerungen haben,
und auf der anderen Seite auch den EVUs gegenüber, die
Sie damit immer wieder in die Verlegenheit bringen, ih-
rerseits heute feststellen zu müssen, dass das alles gar
nicht gestimmt hat.
Dass die EVUs einem Ausstieg zustimmen – auch
wenn er noch viele Jahre dauert –, hat auch etwas mit Fi-
nanzen zu tun, Herr Laufs. Jeder, der nämlich zu dem Er-
gebnis kommt, dass sich etwas nicht mehr rechnet, sagt:
Dann mache ich Schluss damit! Das ist die Konsequenz.
Die EVUs sagen: Das rechnet sich nicht, also machen wir
Schluss damit.
– Das ist ja möglich. – Sie haben sich ja immer als die Par-
tei der Wirtschaft bezeichnet; dann akzeptieren Sie we-
nigstens das.
– Wenn ich mich richtig daran erinnere, bin ich es im Au-
genblick, der hier weitgehend die Möglichkeit ausschöp-
fen sollte, zu reden. Wenn Sie mir zuhören, dann will ich
das auch gern tun. Sonst rennen mir hier die Sekunden
weg.
Die Entsorgung von nationalem Nuklearabfall ist nicht
nur Aufgabe und Pflicht derjenigen, die auf der Bundes-
ebene die Verantwortung tragen,
sondern sie ist auch ein Problem von Menschen und von
Regionen, Herr Laufs. Auch dies will ich Ihnen an einem
kleinen Beispiel klar machen. Die Klage des Landes
Bayern gegen den Erkundungsstopp in Gorleben begrün-
den die Bayern damit, die Bundesregierung wolle die Auf-
gaben bei der Entsorgung von Atommüll einseitig zulas-
ten der Länder verschieben. Wissen Sie was? Die Erde ist
eine Scheibe und wenn sie wackelt, verrutscht Bayern.
Das ist die Konsequenz aus dieser Begründung.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Arne Fuhrmann
13691
Eine andere Konsequenz kann ich daraus nicht ableiten.
Das Moratorium für Gorleben umfasst zwei Berei-
che: Erstens, der Standort wird offen gehalten, und zwei-
tens, es gibt Zeit und Raum zur Klärung von Zweifelsfra-
gen, die nicht nur mit Gorleben, sondern insgesamt mit
einer vernünftigen Entsorgung zusammenhängen.
Die Rücknahme von Kokillen aus La Hague – völ-
kerrechtlich unumstritten; das muss so sein – wird auch
unter der Verantwortung dieser Regierung selbstverständ-
lich durchgeführt. Die ersten Transporte dafür sind, wie
Sie wissen, an den Bau der Jeetzelbrücke in der Nähe von
Hitzacker gekoppelt. Das wird klappen. Im Gegensatz zu
der Zeit Ihrer Regierung wird es allerdings darüber hinaus
in der Bundesrepublik zukünftig – bis auf die Transporte,
die uns vom Völkerrecht her vorgegeben sind – keine
Transporte mehr geben, sondern es gibt die Zwischenla-
gerung am Standort der AKWs. Und alle Betreiber haben
– wie Sie vorhin gehört haben – Anträge gestellt.
Es gibt nicht einen Betreiber, der keinen Antrag gestellt
hat.
Die Vorbereitung, die Suche und auch die Untersu-
chung von alternativen Endlagerstandorten ist – wenn Sie
es so ausdrücken wollen – durch die eingesetzte Arbeits-
gruppe im Gange. Nur gibt es auch da einen erheblichen
Unterschied zu der Zeit Ihrer Regierung. Das Bundesum-
weltministerium und die die Regierung tragenden Par-
teien legen äußerst großen Wert darauf, von vornherein
auch eine Beteiligung von Menschen und Regionen mög-
lich zu machen. Das heißt, die Geheimniskrämerei, die
Sie an vielen Stellen einfach durch das Schaffen von Fak-
ten immer wieder durchzusetzen versucht haben, wird es
mit uns nicht geben.
Die Suche und Erkundung möglicher alternativer Stand-
orte wird weder davon abhängig sein, ob Bayern damit
einverstanden ist, noch davon, ob sich das Land Nieder-
sachsen fröhlich pfeifend aus Gorleben verabschieden
kann, was ich den Niedersachsen wünschte. Aber das eine
wie das andere wird nicht die Grundlage für die Entschei-
dungen sein, die im Laufe der nächsten Jahre getroffen
werden, und zwar aus wissenschaftlichen und aus Not-
wendigkeitserwägungen heraus, nicht aus Bequemlich-
keitsgründen, weil da eine Zonengrenze ist oder weil da
ein Herr Albrecht sowieso ein großes Zentrum haben
wollte oder ähnliche Geschichten.
Ich glaube, wir sind an einer Stelle, an der man den Be-
griff der Verantwortung im Parlament neu definieren
müsste. Wir haben nicht die Verantwortung für den kur-
zen Moment, mögen wir ihn auch als Dauer bezeichnen.
Es geht um mehr als um „Weg mit dem Zeug!“ Dauer ist
ein bisschen mehr als ein Leben. Die Verantwortung für
die Beseitigung radioaktiven Abfalls, Drecks und Mülls,
den wir, meine Generation und Ihre Generation, Herr
Laufs, zu verantworten haben, nicht meine Kinder und
meine Enkel, drückt auf den Schultern schwerer als
manch andere Last. Wenn wir nicht bereit sind, uns dieser
Verantwortung zu stellen, sie anzunehmen und zu akzep-
tieren, dann werden wir voraussichtlich auch in der Zu-
kunft nur nach Ihrer Methode mit Zuweisungen von
Schuld argumentieren.
Ich kann Sie nur einladen, an der Stelle mitzumachen,
an der es allen beteiligten Parlamentariern Ernst ist, näm-
lich diese Verantwortung anzunehmen und in diesem Par-
lament gemeinsam Dauerlösungen zu schaffen, die unge-
fährlich sind und die Perspektiven für die Zukunft bieten.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der letzte Redner die-
ser Debatte ist der Kollege Franz Obermeier für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Kolleginnen und Kollegen! Vor eineinhalb Jahren haben
wir die Große Anfrage „Zukunft der friedlichen Nutzung
der Kernenergie – Zukunft der Entsorgung“ der Bundes-
regierung vorgelegt. Bis heute haben wir nichts bekom-
men. Nach mehreren Vertagungsanträgen, denen wir zu-
gestimmt haben, haben wir jetzt nicht mehr zugestimmt.
Deswegen reden wir heute über dieses Thema.
Der Herr Bundesminister verdreht hier die Dinge und
deswegen möchte ich sie klarstellen.
Der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist ein schlüssiges
Entsorgungskonzept auf alle Fälle sehr wichtig. Nachdem
die Bundesregierung erklärt hat, dass das Konzept der al-
ten Bundesregierung nicht tauglich sei,
fragen wir: Wo ist das Konzept der Bundesregierung?
Sie sind jetzt zwei Jahre im Amt und es ist nichts in Sicht.
Sie sind nicht in der Lage und vielleicht auch nicht wil-
lens, Ihr Konzept auf den Tisch zu legen, sodass wir da-
rüber reden könnten.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Arne Fuhrmann
13692
– Nein, es ist auch nicht sichtbar.
Seit Beginn der friedlichen Nutzung der Kernenergie
hat die im Grundgesetz festgelegte Aufgabenteilung zwi-
schen Bund und Ländern, die bei Planung und Umsetzung
aufeinander angewiesen sind, zu einer gemeinsamen Ver-
antwortung geführt.
Seit 1979/80 und in Ergänzung dazu 1990 sind einstim-
mige Beschlüsse des Bundes und der Länder Grundlage
für ein Entsorgungskonzept gewesen.
Gemeinsame Gremien haben alle Fragen der Atomauf-
sicht geregelt.
Das ist die Grundlage.
Wenn man heute, wie es der Bundesumweltminister
tut, sagt, dass sich die südlichen Länder Deutschlands aus
der Entsorgung verabschiedeten und mit dem Müll aus
den Atomkraftwerken zu tun haben wollten,
dann muss man schlicht und einfach sagen, dass es eine
Vereinbarung gibt. Ich rechne damit, dass auch diese Bun-
desregierung etwas von Vertragstreue hält.
Weil mich der Herr Kollege hier so anschaut:
Man möchte schon Mitleid bekommen, was da in Nieder-
bayern alles inszeniert wird.
Ich wäre an Ihrer Stelle allerdings ein bisschen vorsichtig
mit meinen Aussagen. Denn mir liegt hier ein Zeitungs-
bericht vor,
in dem Herr Verheugen, der bekanntlich Ihnen angehört,
sich zu dem Sicherheitsrisiko in Temelin geäußert hat.
Das möchte ich Ihnen vorlesen:
Der EU-Kommissar Günter Verheugen hat keine
Bedenken gegen die Inbetriebnahme des umstritte-
nen tschechischen Kernkraftwerkes in Temelin. Ein
neues Gutachten der Deutschen Gesellschaft für
Reaktorsicherheit belege, dass es in dem Meiler
keine Sicherheitsprobleme gebe.
Ich wäre sehr dankbar, wenn der Umweltminister die-
ses Gutachten der GRS vorlegen würde und man darüber
eine Debatte führen könnte. Ist es denn wirklich so, dass
es keine Sicherheitsrisiken gibt oder dass, wie Günter
Verheugen weiter ausführt, „Temelin nach allen techni-
schen Veränderungen vermutlich das sicherste Atom-
kraftwerk Europas wird“? Da muss man sich schon fra-
gen, was hier getan wird. Ich möchte auf alle Fälle eine
Debatte über die Sicherheitsrisiken in Temelin führen,
um die Widersprüche SPD-interner Natur aufzuklären.
Wie gut sich die Energiepolitik der rot-grünen Bundes-
regierung entwickelt, ist auch einem Pressebericht zu ent-
nehmen, nach dem die VEAG bereits einen Vertrag mit
dem Kernkraftwerk Temelin geschlossen hat.
Jetzt sind wir so weit, dass wir die Kernkraftwerke hier in
Deutschland, die die sichersten sind, schließen bzw. still-
legen
und von den Ihrer Aussage nach offenbar unsicheren aus-
ländischen Kraftwerken Strom kaufen. Das sollten Sie
einmal den Menschen erklären; wir verstehen das nicht.
Das, was die Bundesregierung hier treibt, ist auf alle
Fälle nicht logisch und nicht schlüssig. Das Moratorium
von Gorleben ist nichts anderes, als dass sich die Bun-
desregierung aus dem 1979 einvernehmlich beschlosse-
nen Entsorgungskonzept verabschiedet, ohne zu wissen,
wie es genau weitergeht.
– Das wissen Sie nicht. – Die Internationale Länderkom-
mission Kernenergie hat festgestellt, dass der Salzstock in
Gorleben auf alle Fälle weiter erkundet werden soll, weil
man dort kurz vor dem Abschluss der Erkundungsmaß-
nahmen steht und es überhaupt keinen Sinn macht, diese
jetzt zu unterbrechen.
Ich sage Ihnen: Wie hier vorgegangen wird, lohnt wohl ei-
ner verfassungsrechtlichen Untersuchung. Es gibt eine
ganze Reihe namhafter Verfassungsrechtler,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Franz Obermeier
13693
die dieses Vorgehen für höchst bedenklich halten. Ich bin
der Bayerischen Staatsregierung ausgesprochen dankbar,
dass sie in dieser Woche einen diesbezüglichen Kabi-
nettsbeschluss gefasst hat.
Wir haben bereits 2,4 Milliarden DM in eine Untersu-
chung von Gorleben investiert. Das durch die Bundesre-
gierung beschlossene Moratorium ist folgendermaßen zu
bezeichnen: Die Bundesregierung wirft Geld zum Fenster
hinaus, das sie selber nicht verdient hat.
Ähnlich ist es beim Endlager Konrad. Auch hier
wurde wahnsinnig viel Geld ausgegeben. Dies alles spielt
offenbar keine Rolle. Alles wird zurückgedreht, ungeach-
tet dessen, welche Wirkungen das auf die Volkswirtschaft
und damit auf unsere Bürger hat.
Bei diesem Vorgehen zeigt sich wieder einmal mehr
die Doppelzüngigkeit der Politik der Bundesregierung:
Ihre Entsorgungspolitik entbehrt jeglicher Grundlage.
Bundesumweltminister Trittin ist mit seiner Atomaus-
stiegspolitik im Kern gescheitert. Denn die nach „nur“
einjähriger Wartezeit vorgelegten Antworten auf die
Große Anfrage „Energiepolitik für das 21. Jahrhundert –
Energiekonzept der Bundesregierung für den Ausstieg aus
der Kernenergie“ sind nicht so, wie es der rot-grüne Um-
weltminister gerne gehabt hätte. Die Bundesregierung
stellt nämlich fest, dass die deutschen Kernkraftwerke si-
cher sind, dass sie ein hervorragendes Personal haben und
dass die deutsche Kernenergie keiner neuen Risikobewer-
tung bedarf, da keine neuen Risikoerkenntnisse vorliegen.
Diese Worte der Bundesregierung sollten Sie zur Kennt-
nis nehmen.
Im Übrigen ist das Kernenergieausstiegsszenario so-
wieso äußerst fragwürdig angesichts dessen, dass das
letzte Kernkraftwerk 2018 vom Netz gehen soll. Da fragt
sich doch jeder, was das wirklich bedeutet.
– Ich sage nur, dass die Ausstiegstheorie höchst fragwür-
dig ist; von Zusage kann ich nicht reden.
Die Bundesregierung schreckt auf der einen Seite nicht
davor zurück, immer wieder zu behaupten, dass das bis-
herige Entsorgungskonzept gescheitert sei, ohne dafür
Anhaltspunkte oder Beweise vorzulegen. Auf der anderen
Seite ist die Bundesregierung nach nunmehr gut zwei Jah-
ren nicht in der Lage, ein alternatives Konzept vorzule-
gen. Ich kann Ihnen sagen, warum Sie meinen, dass das
Entsorgungskonzept gescheitert sei: Der Bundesumwelt-
minister fürchtet nichts mehr als einen Castor-Transport
und die dementsprechenden Krawalle. Denn damit tut er
sich schwer: Vorhin hat er ausgeführt, dass er die Proteste
bei jetzigen Castor-Transporten nicht billige. Es muss mir
einmal jemand erklären, warum diese Castor-Transporte
andere sein sollen als die vor einigen Jahren.
Aber ich weiß schon, warum er es nicht mehr billigt. War
er nicht Mitinitiator der Krawalle bei den Castor-Trans-
porten zurzeit der CDU/CSU-Regierung? Jetzt hat er ein
Problem, wenn er die Transporte selber organisiert. Mitt-
lerweile ist es ein Konzept, dass die Ängste erst geschürt
werden und dass später dann nichts mehr getan wird, um
diese Ängste bei den Menschen abzubauen.
Ich kann nur nochmals betonen: Ein Alleingang ohne
Kooperation mit den Ländern und ohne Einbindung der
Energieversorgungsunternehmen im Entsorgungskonzept
ist verfassungspolitisch bedenklich. Darüber hinaus for-
dern wir die Bundesregierung auf, ein Programm für die
Erhaltung der personellen Kompetenz – ich meine For-
schung und Lehre – in der Kerntechnik zugunsten der Si-
cherheit der Anlagen vorzulegen. Schließlich muss die
Bundesregierung die soziale Verantwortung für die Fol-
gen des Ausstiegs aus der Kernenergie sowie für das Mo-
ratorium in Gorleben übernehmen.
Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat noch
einmal der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit, Jürgen Trittin. Zur Erläuterung: Er
hatte vorhin seine Redezeit nicht ausgenutzt.
Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit: Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ich wollte Ihnen, Herr Kollege, nur
eine kurze Antwort geben.
Erstens. Es gibt ein Gutachten der GRS. Es ist eindeu-
tig: Die Anlage in Temelin ist nach deutschem Recht nicht
genehmigungsfähig. Da brauchen Sie keinen Verheugen
und auch keine weiteren Gutachten; das ist einfach eine
Tatsache, die ich feststelle.
Zweitens. Wir werden auch diese Frage – das betrifft
etwa die Probleme, die es bei der grenzüberschreiten-
den Umweltverträglichkeitsprüfung gibt – in der nächs-
ten Woche durch Frau Probst bei den anstehenden Kon-
sultationen mit den Tschechen neu vortragen. Wir tun
das konsequent und mit allem Ernst. Ich kann – um das
in aller Deutlichkeit zu sagen – nicht akzeptieren, dass
Sie jahrelang mit den Tschechen in dieser Frage koope-
riert haben und sich jetzt hinstellen und bestimmte Be-
denken äußern. Wissen Sie, was für ein Verdacht mich
dabei beschleicht? Nachdem Sie die Frage der Sudeten-
deutschen nicht mehr thematisieren konnten, um gegen
den Beitritt der Tschechischen Republik zur EU Stim-
mung zu machen, nutzen Sie nun das Atomkraftwerk
Temelin.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Franz Obermeier
13694
Sicherheitsfragen in dieser Weise zu benutzen halte ich
schlicht und ergreifend für nicht akzeptabel.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich jetzt dem Kollegen Obermeier das
Wort.
Herr Bundesminister,
Sie haben sich verhört. Ich habe keine Kritik an dem Si-
cherheitszustand des Kernkraftwerks Temelin geübt.
Ich habe Kritik an Ihnen geübt. Nach Verheugen besagt
nämlich das Gutachten der GRS genau das Gegenteil von
dem, was Sie gerade vorgetragen haben.
Ihre Politik führt dazu, dass wir in Deutschland verstärkt
Strom importieren werden, dass hierzulande weitere
Kraftwerke geschlossen werden. Das ist Ihre Politik.
Das herauszustellen war meine Intention. Sie sollten uns
das Gutachten der GRS so schnell wie möglich zustellen,
damit wir eine sachliche Debatte über die Sicherheit des
Kernkraftwerkes Temelin führen können.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zur Erwiderung Herr
Bundesminister Trittin, bitte.
Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit: Herr Kollege Obermeier,
mit Verlaub: Ich schreibe viele Briefe in Sachen Temelin
an Bürgerinitiativen und auch an meinen bayerischen
Kollegen, Herrn Schnappauf. Ihre Äußerung, Sie hätten
keine Einwände gegen die Sicherheitsstandards in Teme-
lin,
ist eine Feststellung,
die in direktem Kontrast zu den Fragen und den Besorg-
nissen meines Kollegen Schnappauf steht. Vielleicht soll-
ten Sie in dieser Frage einmal den Kollegen befragen.
Dann kämen Sie zu einer etwas anderen Auffassung als zu
der, die Sie hier zum Besten gegeben haben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/4644 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einver-
standen? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 e auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der F.D.P.
Einrichtung eines Deutschen Instituts für
Menschenrechte
– Drucksache 14/4801 –
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rudolf
Bindig, Heide Mattischeck, Rolf Stöckel, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Claudia Roth , Kerstin
Müller , Rezzo Schlauch und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Abschaffung der Todesstrafe in den USA
– Drucksache 14/4800 –
c) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Flüchtlingsschutz ist Menschenrechtsschutz
– Drucksache 14/4884 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
5. Bericht der Bundesregierung über ihre
Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Be-
ziehungen
– Drucksache 14/3739 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe zu dem Antrag
der Abgeordneten Carsten Hübner, Fred Gebhardt,
Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der PDS
Gegen die Todesstrafe in den USA – Keine Hin-
richtung von Mumia Abu-Jamal
– Drucksachen 14/3196, 14/4642 –
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Bundesminister Jürgen Trittin
13695
Berichterstattung:
Abgeordnete Heide Mattischeck
Hermann Gröhe
Dr. Angelika Köster-Loßack
Carsten Hübner
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch; dann ist dies so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner für die Frak-
tion der SPD ist der Kollege Rudolf Bindig.
Frau Präsidentin! Verehrte Kol-
leginnen und Kollegen! Wir führen diese Debatte zum be-
vorstehenden Tag der Menschenrechte, dem 10. De-
zember. Wir haben dafür mehrere Anträge und den
Menschenrechtsbericht der Bundesregierung vorliegen.
Menschenrechtspolitik hat nach der Überwindung des
Ost-West-Gegensatzes ohne Zweifel an Bedeutung und
Wirksamkeit gewonnen. Menschenrechtspolitik ent-
wickelt sich immer mehr zu einem wichtigen Politikbe-
reich mit eigenen Institutionen und Instrumenten. Dem
Wesen nach stellt sie eine wertbezogene Grundlage fast
aller Politikbereiche dar und muss sich als Quer-
schnittsaufgabe verstehen. Wertorientierter Pragmatis-
mus ist erforderlich; dann lassen sich auch Erfolge erzie-
len. Dies hat sich auch bei der Ausarbeitung der heute zu
beratenden Anträge gezeigt.
Menschenrechtspolitik braucht Institutionen, Apparate
und Instrumente. Der Deutsche Bundestag hat mit der
Einrichtung eines ordentlichen Ausschusses für Men-
schenrechte und humanitäre Hilfe zu Beginn dieser
Legislaturperiode seine Arbeits- und Wirkungsmöglich-
keiten im Menschenrechtsbereich erheblich gestärkt.
Heute soll ein weiterer wichtiger Schritt erfolgen. Wir
wollen heute einen Beschluss zur Einrichtung eines Deut-
schen Instituts für Menschenrechte fassen. Wenn das
Institut auch unter Mitwirkung der Politik entsteht, so soll
es doch kein Instrument der Politik sein. Wir wollen uns
für die Gründung eines unabhängigen Deutschen Men-
schenrechtsinstituts aussprechen.
Es soll eigeninitiativ und unabhängig von jedweden Vor-
gaben und Weisungen der Bundesregierung und anderer
öffentlichen und privaten Stellen handeln.
Der interfraktionelle Antrag ist das Ergebnis langer Ar-
beit. Bereits in der letzten Legislaturperiode haben wir
– im Dezember 1997 – eine Anhörung unter dem Titel
„Aufgaben europäischer Menschenrechtsinstitute – Über-
legungen für ein Menschenrechtsinstitut in Deutschland“
durchgeführt, bei der wir international tätige Menschen-
rechtsorganisationen, Wissenschaftler und Nichtregie-
rungsorganisationen nach ihrer Meinung gefragt haben.
Aus der Anhörung und der Auswertung haben die Frak-
tionen damals noch unterschiedliche Folgerungen gezo-
gen. SPD und Bündnis 90/Die Grünen hatten sich bereits
in der 13. Legislaturperiode in einem Antrag für die Er-
richtung eines Menschenrechtsinstituts ausgesprochen,
während CDU/CSU und F.D.P. die Einrichtung eines
Deutschen Koordinierungsrates für Menschenrechte prä-
ferierten.
In der Koalitionsvereinbarung zu Beginn dieser Le-
gislaturperiode wurde festgelegt, dass „die Bundesregie-
rung die Einrichtung eines unabhängigen Instituts für
Menschenrechte in Deutschland unterstützt“. Wir haben
damit erneut einen Dialog zwischen den Fraktionen im
Bundestag, aber auch und vor allem mit Einrichtungen der
Zivilgesellschaft, vor allen Dingen mit dem Forum Men-
schenrechte, welches wichtige konzeptionelle Vorarbei-
ten und Ideen eingebracht hat, und mit Vertretern der Wis-
senschaft geführt. Abgestimmt wurde das Konzept auch
mit sieben Ministerien, wobei vor allem das Bundesminis-
terium der Justiz wichtige Beratungs- und Unterstüt-
zungsleistungen erbracht hat.
Es hat sich gelohnt, den Beratungs- und Diskussions-
prozess so umfassend anzulegen. Das erarbeitete Konzept
für das Deutsche Institut für Menschenrechte findet jetzt
Unterstützung durch das Forum Menschenrechte, die
Wissenschaft und alle Fraktionen dieses Hauses.
Dies ist sehr wichtig; denn eine solche Einrichtung wird
zwar zu Zeiten einer bestimmten politischen Konstella-
tion geschaffen, muss aber so breit akzeptiert sein, dass
sie „wetterfest“ in der gesellschaftlichen und politischen
Landschaft verwurzelt ist.
Welche Aufgaben soll das Institut wahrnehmen? Be-
darf besteht nach dem gemeinsam erarbeiteten Konzept in
sechs Bereichen.
Erste Aufgabe ist die Information und Dokumentation,
damit für die in der Menschenrechtsarbeit tätigen Perso-
nen, Stellen und Organisationen sowie für Wissenschaft
und Medien der Zugang zu Informationen über die Lage
der Menschenrechte verbessert werden kann.
Zweitens soll der Forschungsbereich des Instituts zur
Qualifizierung der Menschenrechtsarbeit beitragen. Die-
sem Ziel können besonders Studien förderlich sein, mit
denen Strategien zur Vorbeugung, Vermeidung und Be-
wältigung menschenrechtsverletzender Situationen erar-
beitet werden.
Eine dritte Aufgabe ist die Politikberatung. Die an-
wendungsorientierte Ausrichtung des Instituts soll es be-
fähigen, Vertreter von Politik und Gesellschaft in Men-
schenrechtsfragen zu beraten und Handlungsstrategien zu
empfehlen.
Vierte Aufgabe ist die menschenrechtsbezogene Bil-
dungsarbeit im Inland.
Fünfte Aufgabe soll die internationale Zusammenar-
beit sein. Dabei liegen mögliche Arbeitsfelder im Bereich
der Zivilgesellschaft und in der staatlichen Verwaltung
anderer Länder.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Vizepräsidentin Petra Bläss
13696
Sechstens soll das Institut den Dialog und die Zusam-
menarbeit von staatlichen und nicht staatlichen Institutio-
nen und Organisationen, die sich in Deutschland mit Men-
schenrechten beschäftigen, fördern.
Das ist wahrlich ein anspruchsvolles Aufgabenfeld.
Die nächsten zügig anzugehenden Aufgaben werden sein,
den Verein zu gründen, die Gründungsgremien einzurich-
ten und in der Menschenrechtsarbeit erfahrene Personen
als Gründungsdirektoren einzusetzen. Die Gremien sol-
len mehrheitlich mit Vertretern nicht staatlicher zivilge-
sellschaftlicher Bereiche besetzt werden. In ihnen soll
sich die weltanschauliche und politische Pluralität der mit
Menschenrechtsfragen befassten staatlichen und nicht
staatlichen Stellen widerspiegeln.
Wir wünschen dem Deutschen Institut für Menschen-
rechte, dass es im Interesse seiner wichtigen und schwie-
rigen Aufgabe blühen, wachsen und gedeihen möge. Ich
hoffe, dies hört auch der Finanzminister mit Freuden.
Hierfür können wir heute die Grundlagen schaffen. Für
die Etablierung und Festigung des Instituts und für die
Schaffung seines Ansehens und Gewichts werden die
Gremien des Vereins und die Persönlichkeiten, die im
Deutschen Institut für Menschenrechte arbeiten, zu sor-
gen haben.
Wir hoffen, dass sich das Institut in unserer demokrati-
schen Gesellschaft so verortet, dass es seiner Aufgabe, die
Menschenrechte aktiv zu fördern, voll gerecht werden
kann. Dabei muss uns bereits heute bewusst sein, dass,
wenn das Institut seine Aufgabe als unabhängige Einrich-
tung wirklich inhaltlich wahrnehmen wird, ganz gewiss
der Tag kommen wird, an dem es sich auch mit der prak-
tischen Politik kritisch auseinander setzen wird. Dies kön-
nen, müssen und wollen wir ertragen. Wir sollten sogar et-
was stolz darauf sein; denn Kritik an der Politik ist das
Zeichen dafür, dass das Deutsche Institut für Menschen-
rechte seine Aufgaben ernst nimmt und seinen eigenen
Weg gefunden hat. In diesem Sinne wünsche ich – ich
denke, wünschen wir alle – dem Deutschen Institut für
Menschenrechte eine erfolgreiche Arbeit.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Hermann Gröhe.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen. Liebe
Kollegen! Dass wir in der heutigen Debatte zum Tag der
Menschenrechte über einen Antrag zur Einrichtung des
Deutschen Instituts für Menschenrechte entscheiden, den
die Fraktionen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die
Grünen und F.D.P. gemeinsam einbringen, macht diesen
Tag zu einem guten Tag für die Menschenrechtsarbeit in
Deutschland.
Ich möchte gleich zu Beginn meiner Ausführungen Ih-
nen, Herr Kollege Bindig, aber auch den Kolleginnen
Köster-Loßack und Leutheusser-Schnarrenberger für die
gute, ebenso sachorientierte wie menschlich vertrauens-
volle Zusammenarbeit danken, die diese gemeinsame
Einbringung ermöglicht hat.
Nachdem die Abstimmung zwischen den verschiede-
nen Ministerien der Bundesregierung über Details der In-
stitutskonzeption Monate in Anspruch genommen hat, ha-
ben wir zwischen den Berichterstattern im Ausschuss für
Menschenrechte und humanitäre Hilfe strittige Fragen in
wenigen Wochen vernünftig klären können. Bei uns
stimmt das Klima eben. Dafür bin ich dankbar.
Hilfreich bei diesem Abstimmungsprozess war auch
das beharrliche Werben, Nachhaken und Unterbreiten von
Vorschlägen der im Forum für Menschenrechte zusam-
mengeschlossenen Nichtregierungsorganisationen – hilf-
reicher als manches vorschnelle Interview, das gelegent-
lich die parlamentarische Federführung bei diesem Projekt
in den Hintergrund treten ließ.
Dank gebührt den Nichtregierungsorganisationen,
die vor drei Jahren einen ersten Konzeptionsentwurf für
ein derartiges Institut vorlegten, aber nicht nur für ihre un-
verdrossene Lobbyarbeit in dieser Sache. Menschen-
rechtsarbeit lebt ganz entscheidend von dem unermüdli-
chen Einsatz vieler, die sich – und dies vor allem
ehrenamtlich – für Menschenrechte, für die Opfer von
Menschenrechtsverletzungen, aber auch für präventive
Maßnahmen zur Vermeidung von Menschenrechtsverlet-
zungen einsetzen.
Dass die Menschenrechte völkerrechtlich immer um-
fassender entfaltet und verankert wurden, dass immer
neue Anstrengungen unternommen werden, um sie
tatsächlich durchzusetzen – ich nenne nur die Schaffung
des Internationalen Strafgerichtshofes, die uns vor weni-
gen Wochen in diesem Hause beschäftigt hat –, dass sich
schließlich heute selbst die schlimmsten Unterdrücker
und Menschenschinder durch eine kritische Weltöffent-
lichkeit herausgefordert sehen, ist ganz wesentlich dem
Wirken der vielen Nichtregierungsorganisationen im
Menschenrechtsbereich zu verdanken. Dafür sind wir
dankbar.
Das Deutsche Institut für Menschenrechte wird
diese wichtige Arbeit der Menschenrechtsorganisationen
in Deutschland, aber auch die Arbeit der Medien, der Wis-
senschaft und der Politik in diesem Bereich begleiten und
qualifizierend unterstützen. Dies wird zum Beispiel durch
eine internetgestützte Dokumentation vorhandener Da-
tenbestände, eine Sammlung von Verträgen und Ent-
schließungen der Rechtsprechung sowie diverse Studien
oder Veranstaltungen im Rahmen der Politikberatung
oder der Bildungsarbeit geschehen. Ebenso ist die Be-
gleitung der internationalen Menschenrechtsmechanis-
men vorgesehen.
Unserer Fraktion war es in den Gesprächen der letzten
Woche sehr wichtig, zu betonen, dass das Menschen-
rechtsinstitut die Arbeit der verschiedenen Akteure im
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Rudolf Bindig
13697
Menschenrechtsbereich unterstützen, vernetzen und sub-
sidiär ergänzen soll. Wir wollen die enge und vertrauens-
volle Zusammenarbeit des Instituts mit Nichtregierungs-
organisationen. Die Sorgen kleinerer Organisationen vor
einer gleichsam staatsfinanzierten größeren Konkurrenz
haben wir sehr wohl vernommen, und eine derartige Kon-
kurrenzsituation soll vermieden werden.
Wir wollen eine enge Zusammenarbeit mit den ent-
sprechenden universitären Einrichtungen. Ich nenne das
Institut für Menschenrechte der Universität des Saarlan-
des, das Menschenrechtszentrum im nahen Potsdam oder
das Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches
Recht und Völkerrecht. – Einrichtungen, die weiterhin der
Unterstützung aus dem Bundeshaushalt bedürfen.
Wir wollen schließlich eine enge Vernetzung mit der
wertvollen Arbeit der politischen Stiftungen, beispiels-
weise der Stiftung Wissenschaft und Politik.
Wenn wir uns für ein klar umgrenztes Profil des Men-
schenrechtsinstituts einsetzen, dann wollen wir beileibe
kein schwaches Institut – im Gegenteil. Wir wollen aber,
dass es seine zukünftige Stärke nicht zuletzt aus der
Unterstützung der vielen Akteure im Menschenrechtsbe-
reich erhält.
Diese Vorgaben sehen wir im Rahmen des jetzt vorge-
legten Konzepts verwirklicht, dem wir daher gerne zu-
stimmen werden. Nach unserem heutigen Beschluss wird
es ganz entscheidend darauf ankommen, hervorragende
Frauen und Männer für die Mitarbeit in diesem Institut,
nicht zuletzt für seine Leitung, zu gewinnen. Denn der Er-
folg dieses Instituts im Hinblick auf seine sehr an-
spruchsvollen Ziele wird ganz wesentlich von den richti-
gen Weichenstellungen gerade in der Aufbauphase
abhängen.
Meine Damen und Herren, die Einrichtung des Men-
schenrechtsinstituts ist ein wichtiger Schritt zur Verstär-
kung der Menschenrechtsarbeit in unserem Land. Ent-
scheidend wird die kontinuierliche Förderung seiner
Arbeit sein, aber auch unsere Bereitschaft, eine verstärkte
Politikberatung – auch die von Ihnen, Herr Kollege
Bindig, erwähnten kritischen Anmerkungen zu unserem
Tun – zu wollen, ernst zu nehmen und daraus auch Kon-
sequenzen zu ziehen.
Im Beispiel gesprochen: Der beste Kongress eines
Menschenrechtsinstituts über Präventionsstrategien kann
nicht wettmachen, wenn gleichzeitig auf dem krisenge-
schüttelten afrikanischen Kontinent Botschaften ge-
schlossen werden.
Neue Einrichtungen und wohlklingende Namen dürfen
nicht zum Alibi werden. Es gilt vielmehr, die mit der Ein-
richtung des Menschenrechtsinstituts verbundenen Chan-
cen dauerhaft zu nutzen. Ich sage das so deutlich, weil der
Menschenrechtsausschuss in diesem Haus, auf den im-
mer wieder gern mit Stolz verwiesen wird, noch immer
um einen angemessenen Stellenwert ringen muss, und
zwar sowohl im Hinblick auf seine Beachtung durch die
Regierung, wenn seine Mitglieder durch Presseanfragen
von einer beabsichtigten Chinareise des Bundesaußenmi-
nisters erfahren, als auch im Parlament selbst. Bei diesem
Ringen des Ausschusses hat die Vorsitzende unseres Aus-
schusses, Claudia Roth, die volle Unterstützung des ge-
samten Ausschusses.
Unsere volle Unterstützung bei einem Ringen um ei-
nen höheren Stellenwert hätte auch der von uns mensch-
lich überaus geschätzte Menschenrechtsbeauftragte der
Bundesregierung. Ich sage aber auch, er muss dieses
Ringen, zumindest in seiner öffentlichen Wahrnehmung,
erst noch aufnehmen. Das Schattendasein jedenfalls, das
seiner Arbeit im Rahmen der rot-grünen Bundesregierung
zugemutet wird, ist mit der Beteuerung, der Menschen-
rechtspolitik stärkere Beachtung schenken zu wollen,
schlechterdings unvereinbar.
Heute überweisen wir den 5. Menschenrechtsbericht
der Bundesregierung an die zuständigen Parlamentsaus-
schüsse. „Warten auf Godot“ titelte das „Journal“ von
Amnesty International im Hinblick auf diesen Bericht, der
im Oktober 1999 hätte vorgelegt werden müssen. Zwar
bestritt Außenminister Fischer noch im März dieses Jah-
res in einem Brief an unseren Ausschuss das Vorhanden-
sein eines solchen konkreten Vorlagetermines. Er vergaß
dabei allerdings, dass der Deutsche Bundestag im Som-
mer 1996 in einem Beschluss seine Erwartung zum Aus-
druck brachte, dass diese Berichte künftig so rechtzeitig
dem Bundestag zugeleitet werden, dass eine Befassung
innerhalb der Debatte zum Tag der Menschenrechte mög-
lich ist. Dies geschah daraufhin mit dem 4. Bericht der
Bundesregierung im Oktober 1997. Beantragt hatte diese
ziemlich präzise Terminierung übrigens der Oppositions-
politiker Fischer, dessen markige Worte im Menschen-
rechtsbereich sich der heutige Außenminister gelegentlich
wieder in Erinnerung rufen sollte.
Eine derartige Vergesslichkeit dient der Sache der
Menschenrechte ebenso wenig wie die Vorlage von An-
trägen wenige Tage vor der heutigen Sitzung, durch die
den Oppositionsfraktionen eine angemessene Beratungs-
zeit verweigert wird.
Wir wissen, dass wir bei unseren kritischen Anfragen
zur Konsistenz und Glaubwürdigkeit der Menschen-
rechtspolitik der Regierung von vielen Nichtregierungs-
organisationen unterstützt werden, die unsere Meinung
teilen. Wenn diese Stimme durch die Unterstützung des
Menschenrechtsinstitutes künftig eine Verstärkung er-
fährt, freuen wir uns sehr darüber.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Claudia Roth.
Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen! Ja, Hermann Gröhe, ich finde auch, dass heute ein
guter Tag für die Menschenrechte ist. Er ist gut, weil wir
nicht, so wie jedes Jahr, eine Routinesitzung zum Tag der
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Hermann Gröhe
13698
Menschenrechte abhalten, die niemanden so richtig inter-
essiert, die keine realen Bezüge herstellt und von der
außer schönen Worten relativ wenig übrig bleibt. Er ist
gut, weil wir heute eine richtige Arbeitsdebatte haben, die
auf Anträgen basiert. Er ist gut, weil wir heute mit einem
Ergebnis abschließen werden, bei dem wir sicher über die
richtigen Mittel und Instrumente zur Stärkung der Uni-
versalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte kontro-
vers diskutieren und streiten.
Heute ist ein guter Tag für die Menschenrechte, weil
wir nicht in einer Feierstunde zum 50. Geburtstag des
UNHCR förmlich erstarren, bei der es auch überhaupt
nicht nach Einbalsamierung oder Mottenkugeln riecht,
sondern weil wir heute aktiv und sehr zukunftsorientiert
den 14. Dezember 1950 erinnern, vergegenwärtigen
und auf heute übertragen, was die Bedeutung des UNHCR
war und ist, welchen Wert die Genfer Flüchtlingskonven-
tion, die Magna Charta des internationalen Flüchtlings-
schutzes, hat und worauf sie beruht, nämlich auf der Über-
zeugung, dass Flüchtlingsschutz Menschenrechtsschutz
ist.
Heute ist ein guter Tag, weil wir uns nicht auf das Lu-
kas-Evangelium, Kap. 18 Vers 1 beziehen – Sie sehen, wir
in Bayern sind bibelfest –, in dem der Pharisäer sagt:
„Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie jene“, dass wir
nicht sind wie jene. Vielmehr stellen wir uns heute in die-
ser Debatte der menschenrechtlichen Realität im Umgang
mit Flüchtlingen in unserem Land und hinterfragen die In-
terpretation internationaler Verpflichtungen bei uns in
Deutschland kritisch. Heute ist ein guter Tag, weil wir
Fortschritte loben, weil wir Defizite benennen und
Schutzlücken als das beschreiben, was sie sind und was
damit passieren muss; sie müssen nämlich geschlossen
werden.
Menschenrechtspolitik lebt von der Glaubwürdigkeit
und glaubwürdige Menschenrechtspolitik fängt immer zu
Hause an. Die heutige Debatte ist ein Beitrag dazu.
Menschenrechtspolitik ist immer auch eine Kultur des
Einmischens; denn Menschenrechte kennen keine Gren-
zen und keine inneren Angelegenheiten. Es ist also nicht
die Frage des Ob, sondern ausschließlich des Wie: wie
man sich einmischt, und zwar auch im Verhältnis zu be-
freundeten Ländern. Wenn wir uns heute gegen die To-
desstrafe in den USA aussprechen, dann ist das alles an-
dere als ein antiamerikanischer Angriff, sondern ein
wirklicher Freundschaftsdienst an Demokratie und Men-
schenrechten weltweit.
Heute ist ein guter Tag für die Menschenrechte, weil
wir nicht mit einer langen Wunschliste dastehen, sondern
weil diese Debatte mit sehr konkreten Ergebnissen enden
wird. Damit weisen wir Menschenrechtspolitiker und
-politikerinnen nach, dass wir nicht Romantiker und Träu-
mer, sondern die eigentlichen Realpolitiker sind, weil wir
Demokratiepolitik erfolgreich gestalten. Ein Beispiel
dafür ist die Einrichtung des Deutschen Instituts für
Menschenrechte. Dies ist ein richtig gutes Ergebnis jah-
relangen gemeinsamen Nachdenkens, Drängens sowie
beharrlicher Ausdauer – auch das ist eine Primärtugend
im Menschenrechtsbereich – innerhalb und außerhalb des
Parlaments. Mit dem Menschenrechtsinstitut wird übri-
gens die Empfehlung der Wiener Weltmenschenrechts-
konferenz von 1993 umgesetzt, nationale Menschen-
rechtsinstitutionen aufzubauen. Ich danke auch im Namen
meiner Fraktion allen, die daran so leidenschaftlich mit-
gewirkt haben. Auf den Abgeordnetenbänken, auf der Re-
gierungsbank und auf der Tribüne sitzen ganz besonders
leidenschaftliche Verfechter.
Wir haben jetzt die Chance, zu einer qualitativen Ver-
besserung der Menschenrechtsarbeit beizutragen, die
Chance, staatliche Institutionen und NGOs zu vernetzen,
Impulse zu geben, Brücken zu bauen und in die Gesell-
schaft hinein zu sensibilisieren – praxisorientiert und mit
hohem Gebrauchswert.
Wer jetzt fragt, ob das demokratische und rechtsstaat-
liche Deutschland denn überhaupt ein Menschenrechtsin-
stitut braucht, dem sage ich: Ja, und wie! Die Welle des
Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus
macht den Bedarf offenkundig. Demonstrationen sind
sehr wichtig, aber sie reichen allein nicht aus. Zum „Auf-
stand des Anstands“ gehören auch Signale und Symbole,
die deutlich machen, welchen Wert Art. 1 des Grundge-
setzes hat, in dem es heißt: „Die Würde des Menschen ist
unantastbar.“ Ein Menschenrechtsinstitut kann dazu bei-
tragen, diese Fundamentalnorm unseres Gemeinwesens
endlich wieder in den Köpfen und Herzen der Menschen
zu verankern.
Die ganze Bedeutung des Satzes „Die Würde des Men-
schen ist unantastbar“ habe ich in den Todeszellen von
Arizona bei einem Gespräch mit Karl LaGrand gespürt,
der im letzten Jahr hingerichtet worden ist. Ich habe dort
– weit weg von Deutschland und Europa – Stolz auf un-
sere Verfassung und auf die Werte empfunden, die ihr zu-
grunde liegen, Stolz darauf, dass wir auch aus historischer
Erfahrung die Todesstrafe abgeschafft haben und dass
Europa zu einem Kontinent ohne Todesstrafe geworden
ist. Ich habe im Erleben des Grauens einer Hinrichtung
begriffen, dass sich die Stärke eines Staates, einer Demo-
kratie auch darin zeigt, dass sie Gnade erweisen kann und
der Staat nie das grundlegendste Menschenrecht, das
Recht auf Leben, verletzen darf.
Mit unserem Antrag gegen die Todesstrafe wollen wir
den Widerspruch zwischen US-amerikanischem An-
spruch, den Menschenrechten weltweit zum Durchbruch
zu verhelfen, und der exzessiven Praxis der Todesstrafe,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Claudia Roth
13699
der finalsten Menschenrechtsverletzung überhaupt, auf-
zeigen. Wir kritisieren den enormen Anstieg der Zahl an
Hinrichtungen in den USA, Fehlurteile und tödliche Jus-
tizirrtümer, die Fortführung sozialer und rassistischer Dis-
kriminierung mit der Todesstrafe, die Hinrichtung von
Minderjährigen, wie sie sonst nur noch in Pakistan, Nige-
ria, dem Iran, in Saudi-Arabien und dem Jemen existiert,
sowie die Verhängung und Vollstreckung von Todesurtei-
len an Menschen mit geistigen Behinderungen.
Mit diesem Antrag richten wir auch einen Appell an
den neuen US-Präsidenten – sei es nun Bush oder Gore –,
auf die Todesstrafe zu verzichten oder zumindest ein Mo-
ratorium zu verhängen, die Straftatbestände deutlich zu
reduzieren und Personengruppen wie Minderjährige oder
geistig Kranke von Hinrichtungen auszunehmen. Wir ap-
pellieren, Todesurteile, an denen es erhebliche Zweifel
gibt, zu revidieren und im Fall Mumia Abu-Jamal rasch
die Wiederaufnahme des Verfahrens zu ermöglichen.
Ich unterstütze nachdrücklich das Verfahren, das die
Bundesregierung am Internationalen Gerichtshof gegen
die USA betreibt, weil es deutlich macht, dass internatio-
nale Konventionen nicht nur auf dem Papier gelten, son-
dern national umgesetzt werden müssen. Das Verfahren
der Bundesregierung wird Wirkung haben; denn allen Eu-
ropäern, die in US-amerikanischen Todeszellen sitzen,
wurden ihre konsularischen Rechte und somit ein faires
Verfahren vorenthalten.
Menschen fliehen, weil ihr Leib und Leben in Gefahr
ist. Sie fliehen, weil sie politisch verfolgt werden oder
weil sie Opfer geschlechtsspezifischer Menschenrechts-
verletzungen sind. Sie fliehen vor nicht staatlichen Ak-
teuren und aus zerfallenen Staaten. Flucht ist die einzige
Chance, ihr Überleben zu sichern. Sie alle sind Flücht-
linge und Schutzgewährung ist unsere Aufgabe. Bei der
Definition des Flüchtlingsbegriffes hat sich in Deutsch-
land eine Rechtsprechung entwickelt, nach der Verfol-
gung vom Staat ausgehen oder ihm zuzurechnen sein
muss. Ich sehe darin einen Widerspruch zur Schutztheo-
rie, wie sie von der großen Mehrheit der Vertragsstaaten
der Genfer Flüchtlingskonvention sowie vom UNHCR
vertreten wird, wonach oberstes Ziel der Schutz von
Flüchtlingen ist, und zwar unabhängig von der Urheber-
schaft der Verfolgung.
Die deutsche Praxis führt dazu, dass nicht staatlich Ver-
folgte allenfalls den Status einer Duldung bekommen, der
jedoch keine planbare Zukunftsperspektive und keine Si-
cherheit bietet. Wichtigster Punkt für uns ist daher, dass
Flüchtlinge, die vor einer Bedrohung aus Gründen des
Geschlechts sowie bei Bedrohung durch nicht staatliche
Akteure und bei Schutzunfähigkeit bzw. Schutzunwillig-
keit des Staates fliehen, das gleiche Recht auf Schutzge-
währung erhalten sollen, wie es die Genfer Flüchtlings-
konvention vorsieht.
Wir begrüßen in jüngster Zeit eingetretene Entwick-
lungen ausdrücklich als Schritte in die richtige Richtung.
Als Beispiel nenne ich den aktuellen Beschluss des Bun-
desverfassungsgerichts zu Afghanistan und Initiativen des
neuen Präsidenten des Bundesamts für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge, Dr. Schmidt, geschlechtsspezi-
fische Menschenrechtsverletzungen stärker zu berück-
sichtigen.
Mit unserem Antrag formulieren wir Schlussfolgerun-
gen aus der Anhörung des Menschenrechtsausschusses zu
nicht staatlicher Verfolgung und stellen darüber hinaus
unzweideutig fest, dass die Genfer Flüchtlingskonvention
die Basis des Asylrechts in Europa ist und die Einhaltung
des Non-Refoulement-Gebotes der Genfer Flüchtlings-
konvention es erforderlich macht, dass ein Schutzbegeh-
ren in einem effektiven, fairen und rechtsstaatlichen Ver-
fahren überprüft wird.
Ich bin mir sicher, dass aus Sicht der GFK und aus
Sicht Europas der Verfolgungsschutz, wie er im Asyl-
grundrecht in Verbindung mit der Rechtsschutzgarantie
des Grundgesetzes verankert ist, auch weiter zu gewähr-
leisten ist. Forderungen aus der CDU/CSU nach einer In-
stitutsgarantie sind weder völkerrechtlich machbar noch
europäisch nötig und mit uns politisch auch nicht umsetz-
bar.
Ich bin mir sicher – ich sehe Herrn Wetterwald auf der
Tribüne –: Das schönste Geburtstagsgeschenk für den
UNHCR ist seine Stärkung in finanzieller und politischer
Hinsicht sowie die Anerkennung seiner Autorität für die
Überwachung und Interpretation der GFK. Auch dafür
macht sich unser Antrag stark. Nicht zuletzt ermahnt er
die Bundesregierung, die Vorbehalte zur Kinderrechts-
konvention endlich zurückzunehmen, so wie es der Bun-
destag bereits vor einem Jahr beschlossen hat. Das wäre
ein echtes Weihnachtsgeschenk für viele Flüchtlingskin-
der, deren Los sich dadurch deutlich verbessern würde
und deren Los sich verbessern muss. In diesem Sinne
wünsche ich Ihnen schöne, friedliche und besinnliche
Weihnachten.
Vielen Dank. –
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist,
wie gesagt, guter Brauch, anlässlich des Jahrestages der
Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Men-
schenrechte und des Geburtstages des UNHCR im Bun-
destag eine menschenrechtspolitische Debatte zu führen.
Heute ist es aber keine übliche, ritualisierte Debatte. Wir
befassen uns zwar – wie auch sonst in Debatten – mit vie-
len verschiedenen Anträgen, die unterschiedliche Aspekte
der Menschenrechtspolitik zum Gegenstand haben. Aber
der entscheidende Antrag ist der gemeinsam von vier
Fraktionen eingebrachte Antrag auf „Einrichtung eines
Deutschen Instituts für Menschenrechte“.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Claudia Roth
13700
Es war nicht leicht und auch etwas langwierig, bis der
Antrag vorlag, obwohl Europarat und UN-Menschen-
rechtskommission schon lange die Gründung nationaler
Menschenrechtsinstitutionen empfohlen haben. Es ist gut,
dass wir trotz früherer unterschiedlicher Auffassungen die
Gründung des Deutschen Instituts für Menschenrechte als
Verein gemeinsam tragen. Damit wird dieses Institut die
Rückendeckung bekommen, die es für die Erfüllung sei-
ner Aufgaben benötigt.
Die Debatten und die Beratungen im Ausschuss, die
zwar von der Grundüberzeugung, dass es eines solchen In-
stitutes bedarf, aber sehr wohl auch durch unterschiedliche
Auffassungen in Einzelpunkten geprägt waren, haben ge-
zeigt, dass es entscheidend darauf ankommen wird, dass
das deutsche Menschenrechtsinstitut unabhängig, eigen-
initiativ sowie frei von jeglichen Weisungen und Vorgaben
arbeiten kann. Ich bin froh, dass es mir im Rahmen der
konstruktiven Debatte im Ausschuss gerade auch mit Un-
terstützung des Forums Menschenrechte, durch die ich
mich bestärkt fühlte, gelungen ist, diese Punkte immer
wieder anzusprechen, sodass jetzt ein Antrag vorliegt, der
deutlich macht, dass dies – Herr Bindig, Sie haben das
schon angesprochen – jetzt die Grundlage für die Arbeits-
weise dieses Menschenrechtsinstituts sein soll. Die Bera-
tungen im Ausschuss über die Etatisierung, die immer wie-
der thematisiert wurde – ich bekenne mich dazu: Ich habe
es immer wieder thematisiert –, dienten einzig und allein
einem Zweck, nämlich festzustellen, wie regierungs-
unabhängig dieses Institut in Zukunft seine Aufgaben
wahrnehmen kann.
Es gibt viel zu tun. Wir haben in der heutigen generel-
len Debatte über Menschenrechte festgestellt, dass es
auch in der Bundesrepublik Deutschland wichtige Aufga-
ben gibt, die von der Menschenrechtspolitik aufgegriffen
werden müssen. Wir haben uns im Ausschuss, der jetzt ein
eigenständiger Vollausschuss des Bundestages ist, neben
der Menschenrechtslage in vielen Ländern auch mit der
Menschenrechtssituation im Inland befasst. Ich glaube,
aufgrund der Befassung im Ausschuss war es möglich, ei-
nen Antrag, der sich mit humanitären Aspekten der
Flüchtlingspolitik in Deutschland befasst, zu initiieren
und ihn hier in den Abendstunden vorzulegen. Es war not-
wendig, das zu tun, weil wir uns leider nach wie vor mit
einer teilweise sehr restriktiven Handhabung der Bestim-
mungen für Flüchtlinge, insbesondere im Hinblick auf die
Beendigung ihres Aufenthaltsstatus, und mit der rigiden
Abschiebepolitik gerade des Freistaates Bayern auseinan-
der setzen müssen.
Ich hoffe, dass dann, wenn das Menschenrechtsinstitut
seine Arbeit aufgenommen und seine Gründungsphase
hinter sich gebracht hat, ein besonderes Augenmerk auf
folgende Fragen der Menschenrechtspolitik gerichtet
wird: Reicht das allgemeine Bekenntnis aus, dass auch
nicht staatliche Verfolgung und geschlechtsspezifische
Verfolgung einen Schutz vor Abschiebung zur Folge ha-
ben, oder muss es gesetzliche Änderungen in diesem Be-
reich geben?
Vor nicht allzu langer Zeit gab es eine Debatte über die
Europäische Menschenrechtskonvention. Wir haben
anlässlich ihres 50-jährigen Bestehens ihre Bedeutung
und ihre Verdienste gewürdigt. Im Rahmen der damaligen
Debatte habe ich den Vorschlag formuliert, dass § 53 des
Ausländergesetzes dahin gehend geändert werden soll,
dass beim Abschiebeschutz nicht nur auf die EMRK, son-
dern auch auf die Rechtsprechung des Europäischen Ge-
richtshofs für Menschenrechte Bezug genommen werden
soll. Es ist gut, dass in dem vorliegenden Antrag genau
dieser Punkt angesprochen wird. Das geschieht zwar nicht
in der Form der Forderung nach einer Gesetzesänderung,
aber es wird das Anliegen zum Ausdruck gebracht, die
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Men-
schenrechte in einen Zusammenhang mit der Frage des
Schutzes von Flüchtlingen vor Abschiebung und vor
Rückkehrverpflichtungen bzw. deren Vollzug zu bringen.
Nach den Beratungen über die Ergebnisse der An-
hörung zu Fragen der nicht staatlichen Verfolgung, die
wir im Menschenrechtsausschuss durchgeführt haben,
hätte ich mir angesichts der breiten Übereinstimmung un-
ter den Ausschussmitgliedern gewünscht – das sage ich
ganz ehrlich –, dass wir uns dort mit der Einbringung ei-
nes gemeinsamen Antrags „Flüchtlingsschutz als Men-
schenrechtsschutz“ befasst hätten.
– Das ist überhaupt nicht illusorisch, Herr Bindig. Durch
die Bewertung der Anhörung zur nicht staatlichen Verfol-
gung und durch unsere Gespräche mit Bundesinnenminis-
ter Schily sowie mit Staatssekretären und Staatssekretä-
rinnen des Innenministeriums ist uns, den Mitgliedern des
Menschenrechtsausschusses, doch die Handlungsnot-
wendigkeit deutlich geworden.
Angesichts der konstruktiven Zusammenarbeit im
Menschenrechtsausschuss wäre es doch besser gewesen,
wenn auch Sie – vielleicht mit mehr Rückendeckung aus
dem Haus – den Versuch unternommen hätten, Änderun-
gen zu erreichen. Wenn die Vorlage an den Menschen-
rechtsausschuss und federführend an den Innenausschuss
überwiesen wird, dann werden wir entscheidend mitar-
beiten. Vielleicht schaffen wir es, mit dem zu gründenden
Menschenrechtsinstitut im Rücken, Änderungen im Ge-
setz durchzusetzen, die wir im Moment nicht für möglich
halten.
Dasselbe gilt für andere Bereiche der Menschen-
rechtspolitik. Der Menschenrechtsbericht der Bun-
desregierung, dessen Beratung heute ebenfalls auf der
Tagesordnung steht, befasst sich mit der Menschen-
rechtslage in anderen Ländern: zum Beispiel Indone-
sien, China, Tschetschenien und Osttimor. Wir sollten
jetzt verstärkt gerade die Menschenrechtssituationen in
einigen asiatischen Ländern auf die Tagesordnung der
Sitzungen des Menschenrechtsausschusses setzen. Wir
sollten kritisch nachfragen, was sich durch die Men-
schenrechtspolitik der Bundesregierung, im Kontext der
EU und bilateral betrachtet, in diesen Regionen wirklich
verändert hat. Wir müssen sehen, dass die Menschen-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
13701
rechtslage gerade im asiatischen Bereich, zum Beispiel in
Indonesien, zum Teil nach wie vor so schlecht ist wie vor
einem oder vor anderthalb Jahren.
Ich erhoffe mir vom Menschenrechtsinstitut nicht nur
Beratung der Politik, sondern auch eine kritische Beglei-
tung und Unterstützung im Hinblick auf die Menschen-
rechtsarbeit des Bundestages. Man sollte dort sehr kritisch
das formulieren, was trotz eines gut gemeinten Anliegens,
aber aufgrund anderer Interessen der Außen- und Wirt-
schaftspolitik bisher nicht durchgesetzt werden konnte.
Natürlich unterstützt die F.D.P.-Bundestagsfraktion
den Antrag zur Abschaffung der Todesstrafe. Er liegt in
der bewährten Kontinuität der Beratungen des Ausschus-
ses. In der 13. Legislaturperiode lag ein in dieser Richtung
formulierter Antrag zur Beratung vor. Herr Hübner, wir
werden hier den Antrag der PDS unterstützen, auch wenn
es systematische oder andere Bedenken gibt.
Aber am heutigen Tag, an dem wir uns mit Menschen-
rechten und auch mit Hinrichtungen, denen vom ganzen
Verfahren her – nicht nur, weil es um die Todesstrafe
geht – erhebliche Bedenken entgegenstehen, befassen,
muss man sich hier über Fraktionsgrenzen hinweg beken-
nen. An diesem Tag, an dem wir die Menschenrechte rüh-
men und an dem wir uns sehr wohl über Fortschritte
freuen, stimmen wir einem solchen Antrag zu.
Daran können Sie erkennen, dass es uns nicht nur darum
geht, Eigeninteressen durchzusetzen; vielmehr orientie-
ren wir uns an unserem Auftrag und damit an der Sache
selbst.
Ich sage ganz klar: Ich wünsche mir im Hinblick auf
das Menschenrechtsinstitut auch, dass das, was im Antrag
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen formuliert ist,
durchgesetzt wird; denn sie bekräftigen noch einmal, dass
die Vorbehalte gegenüber der UN-Kinderrechts-
konvention aufgehoben werden sollten. Dazu gibt es ei-
nen einstimmig angenommenen Antrag des Bundestages.
Wir wissen, wie schwierig diese Thema ist; denn wir ha-
ben uns im Ausschuss in kritischen Beratungen – auch in
Fragen an die Bundesregierung – damit befasst. Hier gibt
es unterschiedliche Auffassungen zwischen Regierung
und Parlament. Mit einem unabhängigen Institut, getra-
gen von der Zivilgesellschaft, kann es vielleicht gelingen,
die Bedenken gegenüber einer Aufhebung der Vorbehalte,
die es überwiegend im Innenministerium gibt, doch noch
zu überwinden.
Es ist also ein guter Tag für die Menschenrechte. Auch
der Bundestag braucht bei seiner Menschenrechtspolitik
die Unterstützung unabhängiger Institutionen. Zur Er-
richtung eines solchen Instituts tragen wir heute bei. Die
F.D.P.-Bundestagsfraktion wird diesen Antrag aus voller
Überzeugung mittragen.
Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Carsten Hübner.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Während wir heute debattieren
– ich möchte ungern Wasser in den Wein gießen, muss
aber vielleicht doch mit ein paar kritischen Tönen begin-
nen –, kommt es weltweit zu exzessiven wie systemati-
schen Verletzungen von Menschenrechten. Folter, ex-
tralegale Hinrichtungen, sexualisierte Gewalt und
Unterdrückung, die strukturelle Benachteiligung einzel-
ner Bevölkerungsgruppen, Lebensweisen oder Weltan-
schauungen oder die systematische Vertreibung von Min-
derheiten und Zivilbevölkerung gehören zum bitteren
Menschenrechtsalltag auf unserem Globus, gehören zum
etablierten Instrumentarium von Herrschafts- und Interes-
sensicherung. Ich denke deshalb, dass es ein gutes Signal
dieses Hauses ist, wenn wir als Abgeordnete all denen, die
von Menschenrechtsverletzungen betroffen sind, von die-
ser Stelle aus unseren Respekt und unsere Anteilnahme
aussprechen und ihnen versichern, dass unsere Politik
parteiisch auf ihrer Seite steht.
Es ist dies ein Signal, das einschließen muss, den Pro-
fiteuren und Nutznießern von Unterdrückung und Ent-
rechtung unmissverständlich und eindeutig gegenüberzu-
treten und ihnen überall auf der Welt in klaren Worten zu
sagen: Menschenrechte sind universell. Sie sind keine in-
nere Angelegenheit eines Staates oder Gemeinwesens. Sie
sind nicht instrumentalisierbar oder relativierbar. Sie sind
keine Rechte, die ein Staat geben und nehmen kann. Sie
sind unveräußerlich und stehen jedem Individuum qua
Geburt zu. Wer diese Rechte missachtet, seine Missach-
tung duldet oder billigend in Kauf nimmt, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, der missachtet eine der grundle-
gendsten Übereinkünfte der Menschheit. Das gilt auch für
Europa, auch für die Bundesrepublik.
Deshalb begrüßt es meine Fraktion außerordentlich,
dass wir heute im fraktionsübergreifenden Konsens über
die Gründung des Deutschen Instituts für Menschen-
rechte entscheiden werden, das sich sowohl im Inland als
auch im Ausland, sowohl auf der Ebene der Administra-
tion als auch auf der Ebene der Zivilgesellschaft mit Men-
schenrechten, ihrer Umsetzung und ihrer Missachtung
befassen soll. Menschenrechtsorientierte Politikberatung,
Öffentlichkeitsarbeit und eine professionelle Dokumenta-
tion in der Bundesrepublik zu stärken, wie es mit dem In-
stitut angedacht ist, halten wir für einen echten politischen
Zugewinn; dies begrüßen wir ausdrücklich.
Ich sage dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass
die PDS wiederum von einem interfraktionellen Antrag
und seiner Beratung fern gehalten wurde – eine Kleinka-
riertheit und ideologische Verbohrtheit, liebe Kolleginnen
und Kollegen vor allem des christlichen Flügels unseres
Hauses, die, wenn Sie mich fragen, längst ins Absurde ab-
geglitten ist,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
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zumal vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen und
politischen Anspruchs, der mit diesem Institut verbunden
ist.
Doch mit Blick auf das Institut gibt es, gerade von
Nichtregierungsorganisationen vorgetragen, auch noch
Bedenken, nämlich was seine strukturelle Regierungs-
unabhängigkeit anbetrifft. Denn zumindest haushalts-
technisch wurde es nicht, wie etwa von der F.D.P. und
auch seitens meiner Fraktion gefordert, regierungsunab-
hängig beim Bundestag veranlagt, sondern bei den ver-
schiedenen Ministerien. Umso wichtiger ist es, bereits
jetzt, in der Konstituierungsphase, die Regierungsunab-
hängigkeit zu unterstreichen. Denn allein der Verdacht,
das Menschenrechtsinstitut könnte, zumal innen-, außen-
und außenwirtschaftspolitisch, in seiner Arbeit bestimm-
ten politischen Vorgaben und Befindlichkeiten folgen,
brächten seine Aufgabe und seine Arbeit in Gefahr.
Was ich damit meine, wird vielleicht am Antrag von
SPD und Grünen zum Flüchtlingsschutz deutlich; denn
dieser Antrag, dessen allgemeine Feststellungen, dessen
Botschaft und dessen Zielsetzung meine Fraktion natür-
lich unterstützt, bleibt insgesamt unkonkret. Er hat nicht
einmal einen Forderungsteil, der die Bundesregierung zu
irgendetwas verpflichten soll. Dabei gibt es, nicht zuletzt
mit Blick auf internationale Vereinbarungen und Gericht-
sentscheidungen, in vielen Bereichen erheblichen Hand-
lungsbedarf. Ich nenne nur den Vorbehalt gegenüber der
Kinderrechtskonvention das Flughafenverfahren, den Ab-
schiebeschutz bei geschlechtsspezifischer und nicht staat-
licher Verfolgung oder die seit Jahren in Erosion begrif-
fene Rechtswegegarantie des Grundgesetzes im
Asylverfahren. Zusammen mit dem von Wohlfahrtsver-
bänden und Menschenrechtsorganisationen geforderten
Memorandum für den Flüchtlingsschutz sollten diese und
weitere Missstände sehr viel konkreter als bisher in die-
sem Antrag Aufnahme finden.
Wer allerdings Wirken und Argumentation von Innen-
minister Schily kennt, der ahnt, warum sich dieser Antrag
ins Diplomatische geflüchtet hat. Dennoch denke ich:
Wirklich wirksam sind eher die klaren Worte. Die Auslän-
derbeauftragte, Frau Beck, hat mit ihrer deutlichen Kritik
an der bundesdeutschen Asylpraxis in dieser Frage aus
meiner Sicht ein echtes Zeichen gesetzt.
Diplomatische Verrenkungen prägten auch das Verfah-
ren um den den Antrag der Koalition gegen die Todes-
strafe. Ich stelle dies fest, auch wenn meine Fraktion das
nun vorliegende Ergebnis positiv bewertet und dem An-
trag zustimmen wird. Denn das Verfahren war mehr als
kritikwürdig. Monatelang war die Koalition unfähig, ei-
nen eigenen Antrag vorzulegen. Gleichzeitig war sie mo-
natelang nicht dazu zu bewegen, den von uns vorgelegten
Antrag zu Mumia Abu-Jamal zu behandeln oder ihm gar
zuzustimmen.
Stattdessen flüchtete sie sich in Scheinargumente. Dazu
gehörte die Äußerung, es gehöre, anders als etwa im Eu-
ropaparlament oder in anderen Parlamenten in Europa,
nicht zur Tradition des Bundestages, zu Einzelfällen Stel-
lung zu nehmen.
Die Vermutung liegt deshalb nahe – es gibt in dieser
Hinsicht eindeutige Informationen aus dem Auswärtigen
Ausschuss –, man habe sich, zumal während des Wahl-
kampfes, nicht in die angeblich inneren Angelegenheiten
der USA einmischen wollen, gerade nicht bei diesem
emotionalisierten Thema. Das hielte ich für eine völlig in-
akzeptable Denkweise; denn Menschenrechte sind keine
innere Angelegenheit.
Ich frage Sie: Wann wäre es angebrachter gewesen als
in den letzten Monaten, massiv jene Stimmen in den
USA – etwa die Kirche – zu unterstützen, die eine Ab-
schaffung der Todesstrafe fordern?
Es war doch augenfällig, dass George Bush jr. als Gou-
verneur von Texas mit Hinrichtungen geradezu Wahl-
kampf betrieben hat. Diese gehen weiter: Erst vorgestern
und gestern Abend wurden in Texas der 38. und der
39. Mensch in diesem Jahr, staatlich legitimiert, getötet.
Nach Agenturmeldungen wird heute in Texas auch noch
der 50-jährige Claude Jones – er wäre der 40. – ermor-
det.
Texas hat damit seinen blutigen Rekord von 37 Hinrich-
tungen im Jahr 1997 eingestellt. Allein in die Amtszeit des
Präsidentschaftskandidaten Bush als Gouverneur von Te-
xas fallen 151 Exekutionen, darunter auch Exekutionen
von zur Tatzeit Minderjährigen und Geistesschwachen,
von den ungeklärten Fällen einmal ganz zu schweigen.
Ich frage Sie deshalb ernsthaft, liebe Kolleginnen und
Kollegen, warum ein deutliches Votum des Bundestages
so lange – so lange, bis die Wahlen vorbei waren – her-
ausgezögert worden ist. Wenn das unter Diplomatie
verstanden wird, dann will ich Ihnen sagen, dass ich mit
dieser Form von Diplomatie nichts zu tun haben will.
Ich weiß, dass ich in diesem Punkt auch für viele Kolle-
ginnen und Kollegen aus anderen Fraktionen sprechen
kann. Viele Parlamente, Institutionen, Organisationen und
Personen sehen das genauso, etwa der als Anti-Mafia-Ak-
tivist weltbekannt gewordene Bürgermeister von Pa-
lermo, Leoluca Orlando, der im Sinne der Ächtung jegli-
cher Gewalt sämtliche von Amnesty International
weltweit registrierten Todeskandidaten zu Ehrenbürgern
seiner Stadt erklärt hat.
Mit Blick auf dieses Beispiel eines entschiedenen und
unkonventionellen Einsatzes gegen die Todesstrafe
möchte ich Sie bitten, auch dem Antrag der PDS-Frak-
tion zur Erreichung eines neuen fairen Verfahrens für
MumiaAbu-Jamal zuzustimmen. Ich muss in diesem Zu-
sammenhang betonen, dass ich Frau Leutheusser-
Schnarrenberger für ihr Statement sehr dankbar bin.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Carsten Hübner
13703
Was der Koalitionsantrag generell formuliert, wird in
unserem Antrag konkret. In diesem Sinne ist der Fall
Mumia Abu-Jamal Symbol und Ausdruck struktureller
Missstände und des Widerstandes dagegen – in den USA
wie auch international. Jedes bedrohte Menschenleben
wäre einen solchen Antrag wert.
Danke.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Lilo Friedrich.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen! Wenn wir heute über Menschenrechte sprechen,
dann dürfen nicht nur rechtliche Aspekte, sondern dann
muss auch die ganz konkrete Situation der Menschen un-
ser Thema sein. Denn das 20. Jahrhundert war ein Jahr-
hundert der Flüchtlinge. Aber auch in Zukunft wird für
Millionen von Menschen Flucht die einzige Chance sein,
ihr Überleben zu sichern.
Die systematische Vertreibung der albanischen Bevöl-
kerung im Kosovo, die zahlreichen Bürgerkriege in
Afrika, die Kämpfe in Tschetschenien und in Timor, die
Grenzkonflikte zwischen Äthiopien und Eritrea sowie
zwischen Indien und Pakistan sind nur einige der aktuel-
len Beispiele weltweiter Flucht und Vertreibung. Sie alle
gingen und gehen mit massiven Menschenrechtsverlet-
zungen einher. Auf etwa 50 Millionen weltweit schätzt
man die Zahl der Opfer von Flucht und Vertreibung. Ins-
besondere für Kinder sind die Erlebnisse oft prägend für
ihr ganzes weiteres Leben.
Im 50. Jahr ihres Bestehens setzt sich die Flüchtlings-
organisation der Vereinten Nationen, der UNHCR, unter
zum Teil äußerst schwierigen Rahmenbedingungen für
über 21 Millionen Flüchtlinge auf der ganzen Welt ein.
Für diese kontinuierliche und bedeutsame Leistung ver-
dient der UNHCR unseren höchsten Respekt.
Um diesen wichtigen Aufgaben aber auch gerecht werden
zu können, muss er mit ausreichenden finanziellen Mit-
teln ausgestattet werden.
Viel zu häufig ist die Medienwirksamkeit einer Flücht-
lingskatastrophe ausschlaggebend für das Ausmaß der
Hilfe. Wichtiger sollte aber ein einfaches humanitäres Ge-
bot sein: die Not entwurzelter und oftmals traumatisierter
Menschen zu lindern. Hierfür müssen multilaterale, re-
gionale und bilaterale Programme ebenso wie die Maß-
nahmen humanitärer Nichtregierungsorganisationen auf
finanziell gesicherter Basis rasch, unbürokratisch und gut
koordiniert greifen.
Die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft
darf jedoch nicht erst im Krisenfall einsetzen. Die erfolg-
reichste Flüchtlingspolitik ist jene, die potenzielle Flucht-
ursachen frühzeitig erkennt und entschärft. Krisenpräven-
tion und eine kohärente, menschenrechtsorientierte
internationale Politik sind daher wesentliche Voraussetzun-
gen dafür, dass Gewalt und Menschenrechtsverletzungen
keine Chance erhalten. Die Bundesregierung hat auf die-
sem Gebiet bereits zahlreiche Initiativen ergriffen, die sehr
hilfreich waren.
Die Rechte und der Schutz der Flüchtlinge stehen im
Mittelpunkt der Arbeit des UNHCR. Das wichtigste In-
strument hierfür ist die Genfer Flüchtlingskonvention.
Ihr Kernstück ist, dass kein Flüchtling in ein Land zurück-
geschickt werden darf, in dem sein Leben oder seine Frei-
heit bedroht ist. Die Bundesrepublik Deutschland zählte
zu den ersten sechs von mittlerweile über 130 Staaten, die
die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet haben.
Bei der Definition des Flüchtlingsbegriffes hat sich in
Deutschland eine Rechtsprechung entwickelt, nach der
laut Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes die
Verfolgung vom Staat ausgehen oder ihm zurechenbar
sein muss.
Aber immer mehr Menschen auf der Welt flüchten vor
nicht staatlicher Verfolgung. In einigen Ländern haben sich
zentralstaatliche Strukturen aufgelöst. An ihre Stelle sind
völkerrechtlich nicht anerkannte, quasistaatliche Struktu-
ren getreten. Eines der Beispiele hierfür ist Afghanistan.
Menschen, die vom Taliban-Regime als politisch und reli-
giös Andersdenkende eingeordnet werden, werden verfolgt
und müssen um Leib und Leben fürchten.
Auch Frauen fliehen häufig vor Verfolgung, die nicht un-
mittelbar vom Staat ausgeht, zum Beispiel im Falle von
gesellschaftlich bedingter geschlechtsspezifischer Verfol-
gung. Um Menschen wie sie geht es, wenn wir von nicht
staatlicher Verfolgung sprechen.
Nach der Genfer Flüchtlingskonvention ist der Schutz
eines Flüchtlings oberstes Ziel. Nach dieser Schutztheo-
rie ist es unerheblich, ob der Urheber der Verfolgung
staatlich oder nicht staatlich ist. Es kommt allein auf den
fehlenden Schutz an.
In Deutschland erhalten nicht staatlich Verfolgte bis-
lang allenfalls den Status der Duldung. Das heißt, sie wer-
den nicht in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt. Das
heißt aber auch: Ein solcher Status bietet keine planbare
Zukunftsperspektive. Aus menschenrechtlicher Sicht hal-
ten wir es deshalb für notwendig, dass auch diesen Flücht-
lingen Schutz vor Abschiebung gewährt wird und dass ge-
duldete Flüchtlinge, für die eine Rückkehr in ihr
Herkunftsland eine besondere Härte darstellen würde,
leichter eine Aufenthaltsbefugnis erhalten.
Durch die Änderung der Verwaltungsvorschriften
zu geschlechtsspezifischen Menschenrechtsverletzungen
haben wir bereits einen entscheidenden Schritt hin zu ei-
ner verbesserten Situation der Flüchtlinge in unserem
Land erreicht.
Meine Damen und Herren, seit Amtsbeginn der rot-
grünen Regierung hat sich in der Ausländerpolitik schon
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Carsten Hübner
13704
vieles positiv bewegt. Das zeigt sich nicht nur auf politi-
scher Ebene. Auch der aktuelle Beschluss des Bundes-
verfassungsgerichts zur politischen Verfolgung hat eine
wichtige Fortentwicklung der deutschen Rechtsprechung
eingeleitet. Es wird nun darauf ankommen, die Möglich-
keiten zu prüfen, die hierdurch eröffnet wurden. Ermuti-
gend ist, dass sich insbesondere durch die neue Leitung
des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge eine positive Entwicklung abzeichnet.
Die Tendenz zu mehr Offenheit gegenüber nicht staatlich
und geschlechtsspezifisch verfolgten Flüchtlingen be-
grüßen wir ausdrücklich.
Wir dürfen nicht vergessen, dass auch für Kriegs- und
Bürgerkriegsflüchtlinge ein dringender Schutzbedarf
besteht. Ich möchte Sie noch einmal an den interfraktio-
nellen Antrag zu den humanitären Grundsätzen der
Flüchtlingspolitik erinnern. Den haben wir im Juli ein-
stimmig verabschiedet und damit eine in der Öffentlich-
keit stark beachtete Initiative angestoßen. Die Innenmi-
nisterkonferenz hat diese Initiative im November insofern
positiv aufgegriffen, als jetzt schwer traumatisierte Bos-
nier und Bosnierinnen weiterhin in Deutschland bleiben
dürfen. Wir begrüßen diese Entscheidung als richtungs-
weisend.
Lassen Sie mich abschließend den Blick noch einmal
konkret auf die Situation in unserem eigenen Land lenken.
Fremdenfeindlichkeit, Intoleranz und Rechtsradikalis-
mus in der Bundesrepublik Deutschland treffen jene Men-
schen besonders schmerzlich, die als Flüchtlinge auf der
Suche nach Schutz hierher gekommen sind. Ein Leben in
Angst vor Diskriminierung und gewalttätigen Attacken ist
unwürdig. Ob Deutschland seinem Anspruch als ein
menschliches und weltoffenes Land dauerhaft gerecht
wird, hängt wesentlich auch davon ab, ob es gelingt,
Flüchtlinge und Einwanderer sozial zu integrieren. Dies
ist eine der großen gesellschaftspolitischen Aufgaben der
Zukunft. Bei der Großdemonstration und Kundgebung
am 9. November 2000 haben alle gesellschaftlichen
Kräfte dafür ein eindrucksvolles Zeichen gesetzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei allen genannten
Punkten dürfen wir aber eines nicht vergessen – dies kön-
nen wir nicht häufig genug betonen –: Das im Grundgesetz
verankerte Recht auf Asyl muss weiterhin gewährleistet
werden; denn Flüchtlingsschutz ist Menschrechtsschutz.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat
jetzt Herr Kollege Dr. Schwarz-Schilling.
Frau
Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!
Der UNHCR nahm seine Tätigkeit am 1. Januar 1951 auf,
mit 33 Mitarbeitern und einer Leitung, die für drei Jahre
gewählt war, sowie mit einem Budget von 300 000 Dollar.
Dies hat eine erstaunliche Entwicklung genommen, die
allerdings nicht zur Freude Anlass gibt. Was ist heute aus
dem UNHCR geworden?
Heute sind es 5 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
in 120 Ländern. 22,3 Millionen Flüchtlinge sind statis-
tisch erfasst. Im Grunde genommen sprengt schon die
Zahl von 22,3 Millionen hilfsbedürftigen Menschen die
Vorstellungskraft.
Man kann sich eigentlich nur die Frage stellen: Wie
kam man damals, nach den Entsetzlichkeiten des Zweiten
Weltkriegs, zu der optimistischen Auffassung, man brau-
che nur noch die letzten Hinterlassenschaften des Zweiten
Weltkriegs in Ordnung zu bringen – was Flüchtlinge an-
geht, 1 Million oder 1,5 Millionen – und dann sei die Auf-
gabe wunderbar erledigt? Meinte man in Anbetracht des-
sen, dass damals so viele Dinge geschaffen wurden, die
sich vom Bisherigen grundsätzlich unterschieden – wie
die Vereinten Nationen vom Völkerbund oder das Grund-
gesetz von der Weimarer Verfassung –, es gehe auch in
dieser Frage so positiv zu Ende?
Ich komme zu dem Schluss, dass man sich damals ab-
solut auf das Böse in Deutschland konzentriert hat und gar
nicht einsehen wollte, dass in diese Frage viele Dinge hi-
neinspielen, die die menschliche Natur schlechthin aus-
machen und die Diktaturen und totalitäre Regime in allen
Gegenden dieser Welt zu jeder Zeit und immer wieder er-
möglichen, selbst wenn schon ein höherer Entwicklungs-
stand erreicht war.
Das müssen wir besonders in Europa beklagen. Die Ja-
panerin Ogata, mit der ein persönliches Gespräch zu
führen ich bei ihrem Abschied Gelegenheit hatte, sagte
mir: Ich habe mir nicht vorstellen können, dass gerade Eu-
ropa nach dem Zweiten Weltkrieg wieder eines der Haupt-
flüchtlingsgebiete werden könnte; ich hatte geglaubt, das
würden eher Afrika und Asien sein. – Dann steht man ei-
gentlich etwas beschämt da.
Frau Ogata mit ihrer Klugheit und ihrer sehr nachdenk-
lichen ostasiatischen Gelassenheit wurde ganz vehement,
als sie die Frage stellte: Wie kann Europa in diesen Fra-
gen wieder so versagt haben? – Sie hat die Frage dann
natürlich wieder abgemildert, weil sie – auch das ist ein
Punkt der damaligen Illusion – auf freiwillige Beiträge
angewiesen ist. 98 Prozent der Beiträge für den UNHCR
sind freiwillig. Man dachte, für die restlichen Flüchtlinge
des Zweiten Weltkriegs lasse sich das alles leicht arran-
gieren. Dass das ein Hauptproblem unserer Weltordnung
geworden ist, hat die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts
deutlich gemacht.
In den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts kam ein neuer
Schub grundsätzlicher Überlegungen. Ich denke an die
europäischen Grundrechte und an das Welttribunal für
Völkerrechtsverletzungen. Man hatte versäumt, das wirk-
lich als notwendig anzusehen, weil man glaubte, wenn
man das eine Übel, das in Deutschland, vollständig besei-
tige, dann sei es gar nicht mehr notwendig, die Welt für
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Lilo Friedrich
13705
diese Sachen zu wappnen. Das ist schon eine sehr inte-
ressante Entwicklung.
Meine Damen und Herren, nachdem wir in Deutsch-
land sicherlich nicht mehr Veranlasser solcher fürchterli-
chen Dinge sind, könnte man sagen – ich höre das oft –:
Das ist schlimm; aber wir können nicht die Leiden der
ganzen Welt schultern. – Das wissen wir; das weiß jeder.
Aber hier, nur einige Meter von diesem Ort, sind vor eini-
gen Jahren noch Flüchtlinge erschossen worden, weil sie
über eine Grenze gingen. Das sollten wir nie vergessen,
auch dann nicht, wenn es um die Not anderer Flüchtlinge
geht, insbesondere wenn sie deutschen Boden betreten.
Wir haben die Möglichkeit, aus unserer eigenen Ge-
schichte sehr viele Lehren zu ziehen. Da brauchen wir
nicht tief zu graben. Ich hoffe, dass wir uns an diesem
Punkt immer wieder unserer eigenen Geschichte bewusst
werden.
Was die Finanzierung angeht, so muss ich Folgendes
feststellen – denn ich kenne ja die Schwierigkeiten, die
wir in diesem Bereich haben –: 1990 haben wir 34 Milli-
onen US-Dollar an den UNHCR gezahlt. Im Jahre 2000
sind es 15,3Millionen US-Dollar. Langsam fallen wir ins-
gesamt von Rang neun auf Rang zehn zurück. Dies ist im
Übrigen nicht etwa bei den absoluten Zahlen der Fall; da
sind die Vereinigten Staaten, die wir in diesem Zusam-
menhang sehr oft beschimpfen, etwa fünfmal so gut wie
wir. Das ist vielmehr proportional zur Bevölkerungszahl
zu sehen. Da liegen die Vereinigten Staaten bei 97 Cent
pro Person und wir bei ganzen 23 Cent und sind damit
weit abgeschlagen und kommen erst nach solchen Län-
dern wie der Schweiz mit 2,5 Dollar oder Schweden mit
5,8 Dollar pro Person.
Man muss einmal deutlich feststellen, dass wir hier eine
wirkliche Bringschuld haben. Ich hoffe, dass in den
nächsten ein, zwei Jahren die Richtung dargestellt wird, in
die wir zu gehen beabsichtigen.
Wir müssen uns nun auch folgende Frage stellen: Wie
gehen wir in Deutschland mit Menschenrechtsfragen
um und wie handeln wir in der Flüchtlingspolitik? Dazu
kann ich nur sagen: Der Antrag, den wir hier am 7. Juni
dieses Jahres verabschiedet haben, war ein Meilenstein.
Mit ihm wird wieder bewusst gemacht, dass Menschen-
rechts- und Flüchtlingsfragen Abwehrrechte des Einzel-
nen gegen den Staat sind.
Wer sollte diese Abwehrrechte formulieren, wenn nicht
die Parlamentarier – trotz aller Nähe zum Staat, die wir al-
lesamt haben? Unsere eigentliche Aufgabe ist es doch,
Abwehrrechte zu formulieren.
Aus diesem Grunde danken wir der Innenministerkon-
ferenz. Auch danke ich dem Bundesinnenminister, den ich
hier sehr oft kritisiert habe, dafür, dass er sich in dieser Sa-
che wirklich bemüht hat. Das weiß ich; das möchte ich
hier betonen. Auch das sollte man bei dieser Gelegenheit
tun.
Aber wir werden natürlich sehr genau beobachten, was
die Länder jetzt aus diesen Beschlüssen machen, wie die
einzelnen Vereinbarungen umgesetzt werden und wer die
Dinge wie handhabt. Da entstehen schon ganz merkwür-
dige Unterschiede, die ich noch nicht ganz verifizieren
konnte. Wir müssen sehr achtsam sein. Denn sonst müs-
sen wir in drei, vier Monaten nachsteuern. Und das wer-
den wir tun; das möchte ich hier schon einmal deutlich
ankündigen.
Ich darf mich auch dafür bedanken, dass es aus Nie-
dersachsen immerhin die Nachricht gibt, dass gemäß den
Empfehlungen des UNHCR Abschiebungen in den Ko-
sovo in diesem Winter nicht mehr erfolgen sollen. Das ist
wirklich nachahmenswert. Es ist ja ein Wahnsinn: Spre-
chen Sie einmal mit den Menschen vor Ort, die gar nicht
wissen, wie sie im Moment das Bestehende in Ordnung
halten sollen. Ich habe mich gerade heute wieder mit ko-
sovo-albanischen und serbischen Bürgermeistern und
Kommunalpolitikern unterhalten. Sie haben gesagt: Bitte
seien Sie bei solchen Aktionen um Gottes willen vorsich-
tig. – Ich habe ihnen gesagt: Wir werden vorsichtig sein.
Lassen Sie mich aber auch feststellen, dass wir dafür
sorgen müssen, dass ganz generell Gesetze nicht so auf-
gefasst werden, dass mit ihnen nur Missbrauch bekämpft
wird. Ich glaube, ein demokratischer Staat muss seine all-
gemeinen Gesetze danach ausrichten, dass die Mehrheit
der rechtmäßig Handelnden nicht durch ein Gesetz be-
schädigt wird. In dem Moment, da Sie die allgemeine
Rechtsetzung auf den reinen Missbrauchstatbestand
ausrichten, erreichen Sie, dass Sie viele Unschuldige tref-
fen und dass die wirklich Schuldigen durch dieses Gesetz
eher weniger getroffen werden, als man es beabsichtigt
hat.
– Ich spreche hier von ganz allgemeinen Grundsätzen und
lasse mich gerne belehren, wenn es anders sein sollte. Lie-
ber Herr Bindig, ich könnte in diesem Zusammenhang
natürlich auch sozialdemokratische Ministerpräsidenten
und Innenminister nennen. Das tue ich jetzt nicht. Wir
wollen jetzt nicht gegeneinander aufrechnen. Die Flücht-
linge werden davon nichts haben.
Lassen Sie mich eines betonen: Dass der Asyl Su-
chende nach einem Jahr Aufenthalt in Deutschland wie-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Dr. Christian Schwarz-Schilling
13706
der arbeiten darf, ist ein Menschenrecht, dem wieder zur
Geltung verholfen wurde.
Auch dafür bin ich dankbar, zumal es uns nützt: Wir spa-
ren Geld, und zwar mindestens 1 Million DM. Denn wir
müssen keine Sozialhilfe und Ähnliches mehr bezahlen.
Diese Menschen wollen ja arbeiten und sie sollten nicht
der Situation ausgesetzt werden, dass Deutsche an ihnen
vorbeigehen und sagen: Nun schaut euch einmal diese
Leute an, die sitzen schon morgens im Café und tun
nichts. – Wir haben sie doch dazu gezwungen. Machen
Sie das den Leuten einmal klar! Das wäre dann wenigs-
tens ein Anfang.
Lassen Sie mich zum Abschluss eines festhalten. Die
Hohe Kommissarin für Flüchtlinge Ogata hat gesagt: Um
Antworten für die Zukunft zu haben, müssen wir aus der
Vergangenheit lernen. – Ich glaube, wir haben unglaub-
lich viel Material, um aus der Vergangenheit – auch aus
unserer deutschen, und da nicht nur bis 1945, sondern
auch aus den letzten Jahrzehnten – zu lernen, welche Kon-
sequenzen es hatte, wenn wir etwas in einer bestimmten
Weise gehandhabt haben. Dieser Frau, bei der ich sehr be-
wundert habe, wie sie in entscheidenden, dramatischen
Situationen einen kühlen Kopf behalten und wirklich an-
gepackt hat, ist, glaube ich, unser aller Dank dafür aus-
zusprechen, dass sie als Japanerin uns Europäern in die-
sen zehn Jahren sehr deutlich gesagt hat, wie die Dinge
liegen. Sie hat in dieser Situation die Globalisierung für
sich ernst genommen. Sie war Weltbürgerin in einem
Sinne, in dem Menschenrechte und Flüchtlingsrechte un-
teilbar sind. Damit war sie Vorbild für uns alle.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Heide Mattischeck.
Frau Präsidentin! Liebe
Kollegen und Kolleginnen! Meine Herren und Damen!
Bei der Abschaffung der Todesstrafe in Europa hat der
Europarat eine maßgebliche Rolle gespielt. Das Zusatz-
protokoll Nr. 6 der Europäischen Menschenrechtskon-
vention vom April 1983 war weltweit das erste Instrument
im internationalen Recht, das die Abschaffung der Todes-
strafe zur grundsätzlichen Verpflichtung für die Vertrags-
parteien gemacht hat.
Unter maßgeblichem deutschen Einfluss – insofern ha-
ben wir, so denke ich, Herr Kollege Schwarz-Schilling, in
Teilen aus unserer Geschichte gelernt – hat die EU in den
am 29. Juni 1998 vom Ministerrat angenommenen Leitli-
nien für eine Unionspolitik gegenüber Drittstaaten betref-
fend die Todesstrafe eine gemeinsame Position formu-
liert. Die Bundesregierung verfolgt gemeinsam mit ihren
EU-Partnern eine Doppelstrategie: Das betrifft zum einen
das Ziel, die Ächtung der Todesstrafe schrittweise im Völ-
kerrecht zu verankern; zum anderen macht die Bundesre-
gierung die Abschaffung der Todesstrafe zum Gegenstand
des Dialogs mit Ländern, die die Todesstrafe noch nicht
abgeschafft haben. Diese Politik wollen wir mit unserem
Antrag unterstützen.
73 Staaten haben die Todesstrafe mittlerweile voll-
ständig abgeschafft. 13 Staaten sehen sie nur für außer-
gewöhnliche Straftaten wie etwa Kriegsverbrechen
vor. In 22 Staaten steht die Todesstrafe zwar noch im
Gesetz, wird aber in der Praxis nicht mehr angewandt.
Diese Zahlen zeigen: Mehr als die Hälfte der Länder
weltweit hat die Todesstrafe per Gesetz oder zumindest
faktisch abgeschafft. Dieser Trend ist, denke ich, nicht
mehr umzukehren. Allein seit Beginn der 90er-Jahre
haben über 30 Länder in Afrika, Asien, Ozeanien, Ame-
rika und Europa die Todesstrafe aus ihren Gesetzen
verbannt. Aber 87 Staaten halten heute noch an der To-
desstrafe fest.
Seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland haben
sich die jeweiligen Bundesregierungen stets in besonde-
rer Weise für die weltweite Ächtung der Todesstrafe ein-
gesetzt. Auch der Deutsche Bundestag hat das Bemühen
um die weltweite Abschaffung der Todesstrafe unter-
stützt – zum Beispiel in der letzten Legislaturperiode mit
einer entsprechenden Entschließung, die einstimmig ge-
fasst wurde.
Wir sind uns einig: Die Todesstrafe ist weder ethisch
noch rechtspolitisch zu rechtfertigen.
Sie ist kein Mittel der Verbrechensbekämpfung und bei ei-
nem Justizirrtum nicht korrigierbar. Es gibt jedoch einen
bedauerlichen Dissens zwischen Europa und den USA,
zwischen der Bundesrepublik und unserem wichtigsten
Verbündeten. In Europa ist die Todesstrafe faktisch ver-
boten; in Russland, der Türkei und Polen wird sie zumin-
dest nicht mehr vollstreckt. Die Entwicklung in den Ver-
einigten Staaten ist jedoch völlig gegenläufig: Im
Jahre 1999 wurden in den USA 98 Menschen hingerich-
tet. Allein in diesem Jahr – es wurde schon darauf hinge-
wiesen – sind es bereits 75 Menschen.
Seit 1976, dem Jahr der Wiederzulassung der Todes-
strafe in den USA, sind 598 Menschen hingerichtet wor-
den. In den USA werden auch Personen hingerichtet, die
zur Tatzeit minderjährig oder geistig krank waren. Damit
verstoßen die USA gegen anerkannte Menschenrechts-
standards, als deren Anwalt sie häufig weltweit auftreten.
Beunruhigend ist auch die hohe Fehlerquote amerika-
nischer Gerichte. Laut einer Studie der New York Colum-
bia University musste bei 68 Prozent aller zwischen 1973
und 1995 verhängten Todesurteile das erstinstanzliche
Urteil aufgehoben werden, weil es fehlerhaft war. Beun-
ruhigend ist auch die Häufigkeit, mit der gerade Afro-
amerikaner und Latinos zum Tode verurteilt werden.
Beobachter vermuten, dass rassistische Motive bei Verur-
teilungen eine Rolle spielen und dass Prozesse mit ver-
fahrensrechtlichen Mängeln behaftet sind.
Mit unserem Antrag wollen wir uns nicht in die inne-
ren Angelegenheiten der USA einmischen. Es ist relativ
leicht, sich gegen die Todesstrafe in Nordkorea, Afghanis-
tan oder im Sudan zu wenden. Bei diesem Antrag geht es
aber um den Wunsch des Deutschen Bundestages, unse-
ren wichtigsten Bündnispartner verlässlich auf unserer
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Dr. Christian Schwarz-Schilling
13707
Seite zu wissen, wenn es um die Einhaltung und Einfor-
derung von Menschenrechten und völkerrechtlichen
Übereinkommen geht.
Dieser Wunsch bezieht sich aktuell auf die Ratifizie-
rung des Römischen Statuts des Internationalen Strafge-
richtshofes sowie auf die Einhaltung des Wiener Überein-
kommens über konsularische Beziehungen. Letzteres
sichert ausländischen Angeklagten und Häftlingen das
Recht auf juristische Beratung durch das jeweilige Kon-
sulat zu.
Vielen Todeskandidaten haben die USA dieses Recht
verweigert, so auch den deutschen Brüdern LaGrand. Der
Fall wird gerade vor dem Internationalen Gerichtshof in
Den Haag verhandelt – nachträglich; die beiden Brüder
sind bereits hingerichtet worden.
Ich halte es in diesem Zusammenhang für sehr wichtig
– weil dies bei uns selten diskutiert wird –, auf die viel-
fältigen Initiativen in den USAselbst hinzuweisen, die für
die Abschaffung der Todesstrafe eintreten.
Als ersten Schritt fordern sie ein Moratorium. Neben den
bekannten internationalen Organisationen wie Amnesty
International oder Human Rights Watch gibt es viele na-
tionale, regionale und auch religiöse Gruppierungen und
Organisationen, die für eine Abschaffung argumentieren
und agieren. Zurzeit beteiligen sich die meisten dieser Ini-
tiativen an einer großen Kampagne für einMoratorium –
was in unserer Öffentlichkeit kaum bekannt ist und wo-
rüber selten diskutiert wird.
Immer mehr Menschen in den USA, auch generelle
Befürworter der Todesstrafe, greifen die gegenwärtige
Praxis an und fordern die Aussetzung von Vollstreckun-
gen, bis ein rechtsstaatlich einwandfreies Verfahren ge-
währleistet werden kann. Als Erster hat bekanntermaßen
der Gouverneur von Illinois einem solchen Moratorium
zugestimmt.
Interessant ist auch die Tatsache, dass in einer Initiative
Angehörige von Mordopfern gemeinsam mit Angehöri-
gen von Hingerichteten gegen die Verhängung der Todes-
strafe kämpfen. Ich habe vor einigen Jahren ein Gespräch
mit Vertretern dieser Organisationen gehabt, das zu dem
Bewegendsten gehört, was ich in der langen Zeit meines
Wirkens erlebt habe.
Mit unserem Antrag unterstützen wir auch diese Initia-
tiven. Wir fordern zunächst ein Moratorium für die Voll-
streckung von Todesurteilen. Die Todesstrafe ist eine
grausame und unmenschliche Strafe. Sie muss weltweit
geächtet und abgeschafft werden, auch in den USA.
Danke schön.
Das Wort hat
jetzt Staatsminister Dr. Ludger Volmer.
D
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich freue mich, Ihnen den 5. Bericht der Bundesregierung
über die Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Be-
ziehungen vorstellen zu dürfen.
Drei aktuelle Meldungen von heute kennzeichnen
schlaglichtartig die Relevanz des Themas: Hinrichtungs-
rekord in den USA, erneute Unruhen auf der Westbank
mit Verletzten auf beiden Seiten, aber auch Arbeitsmög-
lichkeit für Asylbewerber. Insbesondere was den letzten
Punkt angeht, Herr Schwarz-Schilling, bedanke ich mich
für die Würdigung der Politik der Bundesregierung, die
Sie ausgesprochen haben.
Wir, meine Damen und Herren Kollegen, wissen uns
heute nicht nur in einem breiten gesellschaftlichen Kon-
sens in Deutschland, sondern auch in einer wachsenden
Zahl unserer Partnerländer, was die Relevanz von Men-
schenrechten angeht. Der politische Dialog mit unseren
Partnerländern weltweit schließt regelmäßig die Frage
von Demokratie und Menschenrechten ein. Diese The-
men sind für die EU-Beitrittskandidaten zu förmlichen
Kriterien geworden, an deren Erfüllung der Fortschritt
und die Beitrittsfähigkeit gemäß den Beschlüssen des Eu-
ropäischen Rats von Kopenhagen gemessen werden. Dies
gilt gleichermaßen für alle Kandidaten. Wie bedeutsam
diese Kriterien sind, zeigt zum Beispiel die Diskussion
um die innere Lage in der Türkei.
Wegen der Bedeutung des Themas hat die Koalition die
institutionellen Voraussetzungen für dessen Bearbeitung
verbessert. Die Bundesregierung hat einen Menschen-
rechtsbeauftragten im Auswärtigen Amt, Herrn Poppe,
eingesetzt. Der Bundestag, in dessen Auftrag dieser Be-
richt erstellt wurde, hat einen eigenen Ausschuss für
Menschenrechte eingerichtet. Daneben möchte ich die
Gründung eines Menschenrechtsinstituts, die heute be-
schlossen werden soll, nennen. Das Institut ist ein zentra-
les Instrument, mit dem wir die Menschenrechtsarbeit von
Parlament, Regierung und Nichtregierungsorganisationen
vernetzen können. Ich möchte im Namen der Bundesre-
gierung noch einmal ausdrücklich erklären, dass wir nicht
das geringste Interesse daran haben, die Nichtregierungs-
organisationen zu binden. Wir haben ein Interesse an
ihrem eigenständigen und unabhängigen Agieren.
Damit ist ein Versprechen des Koalitionsvertrages erfüllt
worden.
Lassen Sie mich einige Erfolge der letzten zwei Jahre
aufführen, die auch der Bericht erwähnt. Wir haben das
Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs
zur Ratifizierungsreife gebracht und verteidigen es gegen
anhaltende Bestrebungen, seinen Geltungsbereich aus-
zuhöhlen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Heide Mattischeck
13708
Wir haben dazu beigetragen, dass Menschenrechte und
Demokratie in einigen für uns zentral wichtigen politi-
schen Prozessen eine Schlüsselrolle einnehmen: beim
Stabilitätspakt, bei der demokratischen Erneuerung Ju-
goslawiens und bei den EU-Beitrittskandidaturen.
Wir haben Schritte zum Abbau des Demokratie- und
Menschenrechtsdefizits der EU eingeleitet: Die Bundes-
regierung hat erfolgreich die Initiative zur EU-Grund-
rechte-Charta und zum EU-Menschenrechtsjahresbericht
ergriffen. Ich denke, wir können stolz darauf sein, dass
mit dem ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog
ein Deutscher maßgeblich an dem Entwurf mitwirkt.
Wir haben im Auswärtigen Amt durch spezifische
Schulung und durch Aufbau eines Personalpools im Rah-
men der Aktion „Ziviles Friedenspersonal zur Kon-
fliktprävention“ unsere Teilnahmekapazität für VN- wie
für OSZE-Missionen entscheidend erhöht. Das BMZ hat
parallel dazu den zivilen Friedensdienst aufgebaut.
Wir haben entscheidende Impulse für die Verbesserung
des Menschenrechtsschutzes gegeben, zum Beispiel im
Oktober durch die Gastgeberschaft einer NRO-Konferenz
zum Thema Kindersoldaten und in der letzten Woche
durch die Sondersitzung des Frauenrechtsausschusses der
Vereinten Nationen hier in Berlin.
Trotz aller Erfolge hat Menschenrechtspolitik mit zahl-
reichen grundsätzlichen Schwierigkeiten zu kämpfen.
Auch die Vereinten Nationen, die unter Generalsekretär
Kofi Annan diesem Thema zu Recht eine besondere Auf-
merksamkeit widmen, kennen das Problem, dass sich
Menschenrechtsverletzer hinter dem Prinzip staatlicher
Souveränität und hinter dem Grundsatz der Nichteinmi-
schung zu verbergen suchen. Diese Fluchtalternative wol-
len wir verstellen.
Es ist aber auch festzustellen, dass regionale Foren, die
der außenpolitischen Koordination dienen, Menschen-
rechtsfragen regelmäßig auf die Tagesordnung setzen.
Menschenrechte und Demokratieentwicklung werden
heute beim EU-SADC-Ministerratstreffen in Gabarone,
an dem ich letzte Woche teilgenommen habe, ebenso dis-
kutiert wie nächste Woche beim Treffen der EU- und
ASEAN-Staaten in Laos.
In Benin, von dem wesentliche Impulse für die Demo-
kratisierung in Afrika ausgingen, hat in der letzten Woche
ein Treffen der demokratieorientierten Staaten Afrikas
stattgefunden. Das alles sind erfreuliche Entwicklungen,
die die Bundesregierung befürwortet und unterstützt.
Ich habe bei meinen Auslandsreisen die Erfahrung
gemacht, dass wir besonders dann die Menschenrechts-
situation problematisieren können, wenn wir unsererseits
anerkennen, dass Good Governance, gute Regierungs-
führung, in riesigen multiethnischen Konglomeratstaaten
wie zum Beispiel Indonesien oder Philippinen erheblich
schwerer umzusetzen ist als in den relativ homogenen Ge-
sellschaften Westeuropas.
Die VN-Menschenrechtskommissarin Mary
Robinson analysiert: Menschenrechtsverletzungen von
heute sind die Kriege von morgen. – Menschenrechte
bilden daher für uns das Fundament präventiver Frie-
denspolitik. Sie sind unteilbar. Menschenrechte umfas-
sen nicht nur das Recht auf körperliche Unversehrtheit
und würdige Behandlung, sondern ein ganzes Bündel
politischer und sozialer Rechte. Deshalb ist
Menschenrechtspolitik auch Aufgabe aller Ressorts der
Bundesregierung.
Im Menschenrechtsbericht finden Sie weitere Bei-
spiele für jüngste Aktivitäten der Bundesregierung. So hat
sie während der Milleniumsgeneralversammlung in New
York die beiden Fakultativprotokolle zu dem Über-
einkommen über die Rechte des Kindes betreffend die Be-
teiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten sowie
Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornogra-
phie am 7. September 2000 gezeichnet.
Am 4. November hat die Bundesregierung bei der Mi-
nisterkonferenz zum 50. Jahrestag der Europäischen Men-
schenrechtskonvention in Rom das 12. Zusatzprotokoll,
das das Diskriminierungsverbot ausweitet, gezeichnet.
Mit der Volksrepublik China haben wir einen Rechts-
staatsdialog begonnen. Dies ist ein erheblicher Fortschritt
bei der konkreten Operationalisierung unserer Menschen-
rechtspolitik.
Aber auch Freundschaft und Partnerschaft schließen
nach Ansicht der Bundesregierung klare Worte nicht aus,
ganz im Gegenteil: Gerade wenn Freunde und Partner
Fehler machen, muss man klare Worte finden. Deshalb hat
die Bundesregierung die Tatsache, dass den Todeskan-
didaten LaGrand kein faires Verfahren zuteil werden
konnte, weil unser Konsulat nicht unterrichtet worden ist,
international zur Anklage gebracht.
In diesem Zusammenhang fordert die Bundesregie-
rung auch den zukünftigen Präsidenten der USAauf – wer
immer es sein mag –, die europäische Position zur Todes-
strafenproblematik und die europäische Sicht dazu zu be-
rücksichtigen. Zahlreiche Länder dieser Welt – Sie kön-
nen es im Einzelnen im Bericht nachlesen – haben die
Todesstrafe zwischenzeitlich abgeschafft oder erheblich
eingeschränkt. Es wird höchste Zeit, dass auch unsere
Freunde, die USA, dazugehören.
Bei allen Erfolgen haben wir weitere Mahnungen zu
erheben. Ich würde mir wünschen, dass sich zum Beispiel
Anwar Ibrahim in Malaysia einmal genauso in Freiheit für
das Engagement der internationalen Gemeinschaft bedan-
ken kann, wie dies Kim Dae-jung oder Nelson Mandela
vor ihrer Friedensnobelpreisverleihung taten. Die Arbeit
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Staatsminister Dr. Ludger Volmer
13709
von Menschenrechtsaktivisten und -aktivistinnen – staat-
lichen wie zivilen – hat ihnen das Leben gerettet. Dafür
gebührt ihnen unser Dank.
Lassen Sie mich zu einem letzten Punkt kommen. Ich
mache auf Auslandsreisen, wenn ich die Menschenrechts-
frage ansprechen will, regelmäßig folgende Erfahrung:
Seitdem in Deutschland Ausländer oder Menschen, die
wie Ausländer aussehen, durch die Straßen gejagt,
drangsaliert oder ermordet werden, werde ich gefragt:
Wie glaubwürdig ist denn eigentlich euer menschenrecht-
liches Engagement uns gegenüber?
Wir lassen nicht zu, dass ihr doppelte Standards anwen-
det. Diese Antwort – um auf den Zwischenruf einzu-
gehen – bekomme ich auch dann, wenn ich in islamischen
Staaten die menschenrechtsverletzenden Praktiken der
Scharia anspreche. Das tun wir deutlich.
Deshalb sage ich: Es ist ein Beweis für unsere Glaub-
würdigkeit in der Menschenrechtspolitik nach außen,
wenn wir uns die Taten genauso zu Herzen nehmen, die in
der Bundesrepublik Deutschland geschehen und die, auch
wenn sie nicht von staatlicher Seite begangen werden,
eine Verletzung der Rechte dieser Menschen darstellen.
Deshalb hat die Bundesregierung in ihrem Menschen-
rechtsbericht auch die innenpolitischen Themen aufge-
nommen, wie die Asyl- und die Flüchtlingspolitik, die
eine außenpolitische Relevanz haben. Ich hoffe, es besteht
Konsens darüber, dass beides zusammengehört: das Ein-
treten für Menschenrechte nach außen und das Eintreten
gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt nach
innen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Ruprecht Polenz.
Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich spreche zu
dem Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Ab-
schaffung der Todesstrafe in den USA.Alle Fraktionen
hier sind sich einig: Wir sind gegen die Todesstrafe. Viele
von uns haben sich auch etwa im Rahmen von „urgent ac-
tion“, von Amnesty International oder anderen Men-
schenrechtsorganisationen für einzelne Gefangene einge-
setzt, die von der Todesstrafe bedroht waren. Wir müssen
uns hier also nicht gegenseitig überzeugen.
Wir sind uns einig: Die Todessstrafe verletzt das grund-
legendste Recht eines Menschen, nämlich das Recht auf
Leben. Dieses Recht ist unveräußerlich, es ist unverfüg-
bar, und es steht auch denjenigen zu, die schwerste Ver-
brechen begangen haben, also auch Mörderinnen und
Mördern.
Die Todesstrafe verletzt die Würde des Menschen.
Sie ist eine erniedrigende und grausame Strafe. Ihr Voll-
zug ist auch unmenschlich, wenn man an das jahre- und
jahrzehntelange Warten in der Todeszelle denkt.
Eine vollzogene Todessstrafe kann nicht rückgängig
gemacht werden, auch wenn sich das Urteil später als
Fehlurteil herausstellt. Das kommt ja oft genug vor, weil
sich Justizirrtümer eben nicht ausschließen lassen. Es gibt
zahlreiche Opfer, deren Unschuld später nachgewiesen
wurde, die also wegen eines Justizirrtums hingerichtet
worden sind.
Schließlich hat die Todesstrafe auch keine besonders
abschreckende Wirkung. Das belegen die Staaten, die die
Todesstrafe abgeschafft haben. Dort war keine Zunahme
der Anzahl der Verbrechen zu verzeichnen, auf die zuvor
die Todesstrafe stand. Im Gegenteil: Die Todesstrafe ver-
ändert das Klima in einer Gesellschaft. Sie hat eher eine
brutalisierende Wirkung auf eine Gesellschaft. Dieses Ar-
gument müssen wir denjenigen entgegenhalten, die von
einer abschreckenden Wirkung sprechen.
Ich habe das hier noch einmal vorgetragen, obwohl wir
uns hier einig sind. Ich war mir aber nicht sicher, wie diese
Frage in der Bevölkerung nach dem einen oder anderen
Vorkommnis gesehen wird. Weiterhin gilt es also, unsere
Überzeugung in Deutschland zu erhalten. Deshalb muss
man das immer wieder deutlich machen.
Der Einsatz für eine weltweite Abschaffung der To-
desstrafe gehört deshalb seit langem zu den wichtigsten
Zielen der Menschenrechtspolitik aller deutschen Bun-
desregierungen. Frau Kollegin, Sie haben darauf gerade
noch einmal hingewiesen. Das Feld eignet sich auch über-
haupt nicht für einen parteipolitischen Streit. Im Gegen-
teil: Wir haben in früheren Debatten leider immer wieder
feststellen müssen, dass wir als Parlament eher schmale
Erfolgschancen mit unseren Initiativen haben, und die
Chancen werden jedenfalls größer, wenn wir sie partei-
übergreifend und gemeinsam ergreifen.
Wenn Sie jetzt alle nicken, dann erinnern wir uns an die
letzte Legislaturperiode – Frau Kollegin Mattischeck, Sie
haben daran erinnert –: Damals gab es einen Antrag
der SPD-Fraktion zur Unterstützung der weltweiten
Bemühungen um die Abschaffung der Todesstrafe. Wir
haben dann gemeinsam im Ausschuss eine interfraktio-
nelle Fassung erarbeitet und sie im Bundestag verab-
schiedet. Offensichtlich war es seinerzeit ein guter An-
trag; denn Sie haben sich ja im heutigen Entschlie-
ßungsantrag noch einmal zur Bekräftigung auf diesen
Beschluss bezogen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Staatsminister Dr. Ludger Volmer
13710
Umso bedauerlicher, so muss ich Ihnen ehrlich sagen,
finde ich es, dass die Regierungsfraktionen jetzt keinen
Versuch unternommen haben, in dieser Frage zu einer in-
terfraktionellen Vereinbarung zu kommen. Eine Überwei-
sung dieses Antrages in die Ausschüsse ist nicht vorgese-
hen; es soll heute eine sofortige Abstimmung geben. Es
hat auch keine Zusammenarbeit im Vorfeld der heutigen
Parlamentsdebatte gegeben.
Was ist nun der Grund dafür? Es gibt einen PDS-An-
trag vom 12. April dieses Jahres, der sich für den zum
Tode verurteilten Mumia Abu-Jamal einsetzt. Dem woll-
ten die Regierungsfraktionen wohl nicht zustimmen; aber
ablehnen wollten sie ihn ohne irgendwelche eigenen Ini-
tiativen offensichtlich auch nicht. Also musste ein eigener
rot-grüner Antrag her. Dann hat es fast acht Monate ge-
dauert, bis sich die roten Außenpolitiker mit den grünen
Menschenrechtlern oder die grünen Außenpolitiker mit
den roten Menschenrechtlern geeinigt hatten. Danach wa-
ren alle Beteiligten offensichtlich so erschöpft, dass man
jetzt nicht auch noch mit der Opposition sprechen wollte.
Normalerweise, meine Damen und Herren, führt eine
solche Verfahrensweise dazu, dass man für seinen Ent-
schließungsantrag auch nur die eigenen Stimmen im Par-
lament bekommt. Damit bekäme aber der Einsatz für die
Abschaffung der Todesstrafe nicht das Gewicht, das er
braucht. Obwohl also die Vorgehensweise von SPD und
Grünen eher dazu angetan ist, die Opposition zu brüskie-
ren, wird die CDU/CSU-Fraktion dem Antrag zur Ab-
schaffung der Todesstrafe in den USA zustimmen.
Wir stellen dabei auch Bedenken gegen die eine oder an-
dere Formulierung und Gewichtung im vorliegenden Text
um der Sache willen zurück. Allerdings werden sich ei-
nige Kollegen aus meiner Fraktion wohl der Stimme ent-
halten.
Wie sieht die Lage zurzeit aus, was die Vollstreckung
von Todesstrafen angeht? Laut Jahresbericht 2000 von
Amnesty International wurden 1999 in 31 Staaten die-
ser Welt mindestens 1 813 Gefangene hingerichtet. Wie
schon in den Vorjahren gilt auch für das vergangene Jahr,
dass die weitaus meisten registrierten Hinrichtungen in
nur einigen wenigen Staaten vollzogen wurden. Rund
85 Prozent aller Hinrichtungen fanden allein in der Volks-
republik China, im Iran, in Saudi-Arabien, in der Demo-
kratischen Republik Kongo und in den USA statt.
Aus China wurden 1 077 Hinrichtungen gemeldet; die
tatsächlichen Zahlen liegen wahrscheinlich höher. Im Iran
wurden mindestens 165 Todesurteile vollstreckt. Was
Saudi-Arabien angeht, hat Amnesty International von
103 Hinrichtungen Kenntnis. In der Demokratischen Re-
publik Kongo wurden mindestens 100 Menschen exeku-
tiert und in den USAwurden im vergangenen Jahr 98 To-
desurteile vollstreckt.
Auch wenn in China zehnmal so viele Menschen wie
in den USA hingerichtet wurden, so geht doch von dem
Verhalten der USA eine besondere Signalwirkung aus;
denn die USAhaben als einzige der westlichen Demokra-
tien die Todesstrafe beibehalten. 38 der 50 US-Bundes-
staaten sehen die Todesstrafe in ihren Strafgesetzgebun-
gen vor. Daher müssen wir bei allen Vorhaltungen
beachten, dass es kaum eine Möglichkeit der zentralen
Ebene gibt, Maßnahmen zu ergreifen; vielmehr müssen
wir die einzelnen Bundesstaaten ansprechen.
Diese verstoßen dabei – das ist schon gesagt worden –
nach wie vor auch gegen internationale Standards, die
unter anderem die Verhängung von Todesurteilen gegen
Minderjährige oder geistig Behinderte verbieten. Wie im
Fall der Brüder LaGrand verstoßen die USA auch häufig
gegen die Wiener Konsularrechtskonvention, die jedem
im Ausland Inhaftierten das Recht garantiert, die Behör-
den des Herkunftslandes zu kontaktieren und diese um
rechtlichen Beistand zu bitten. Weil es in Strafverfahren
in den USAoft eine sehr schlechte anwaltliche Vertretung
durch Pflichtverteidiger gibt, kann dieser Verstoß buch-
stäblich über Leben und Tod entscheiden. Ich begrüße es
deshalb ausdrücklich, dass die Bundesregierung in die-
sem Fall an der Klage gegen die USAvor dem Internatio-
nalen Gerichtshof in Den Haag festhält.
Nun ist es richtig – das ist heute auch schon gesagt
worden –, dass in Texas besonders viele Menschen hin-
gerichtet worden sind. Allein in diesem Jahr waren es
35 Gefangene; möglicherweise werden es noch mehr.
Aber – das wissen wir auch – nicht nur George Bush, son-
dern auch Al Gore ist Befürworter der Todesstrafe.
Neben dem Anstieg der Zahl der Hinrichtungen in den
USA seit Beginn der 90er-Jahre, der uns besorgt machen
muss, gibt es allerdings auch positive Entwicklungen in
den USA. So hat der Gouverneur von Illinois, eigentlich
ein Befürworter der Todesstrafe, im Januar ein Hinrich-
tungsmoratorium für seinen Staat verfügt, nachdem er
feststellen musste, dass jemand unschuldig im Todestrakt
gesessen hatte.
Im Mai haben Senat und Repräsentantenhaus des Bun-
desstaates New Hampshire für die Abschaffung der To-
desstrafe gestimmt; allerdings hat die Gouverneurin
Shaheen dagegen ihr Veto eingelegt, sodass der Beschluss
bisher noch nicht wirksam werden konnte. In Massachu-
setts wurde eine Gesetzesvorlage zur Wiedereinführung
der Todesstrafe abgelehnt.
Für diese neue Bewegung und den Druck in der De-
batte hat vor allem eine von der Columbia-Universität in
New York veröffentlichte Studie gesorgt – sie ist bereits
erwähnt worden –, die nachweist, dass in den Gerichts-
verfahren, die zur Verhängung der Todesstrafe führen,
häufig sehr gravierende Mängel zu beklagen sind:
schlechte anwaltliche Vertretung und Staatsanwaltschaf-
ten, die Entlastungsmaterial nicht ausreichend in den Pro-
zess einführen. Dadurch haben die Befürworter eines
Hinrichtungsmoratoriums Auftrieb erhalten. So hat im
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Ruprecht Polenz
13711
April der demokratische Senator Russ Feingold einen Ge-
setzentwurf vorgelegt, der ein zweijähriges Moratorium
für alle in den USA verhängten Todesurteile verlangt.
Während dieser Zeit soll eine unabhängige Kommission
die Anwendung der Todesstrafe untersuchen. Die ameri-
kanische Menschenrechtspolitik würde einen Glaubwür-
digkeitsschub erhalten, wenn sich die 38 Bundesstaaten
zu diesem ersten Schritt entschließen könnten.
Insgesamt befürworten laut Amnesty International in
den USA derzeit über 900 Institutionen, Organisationen
und Glaubensgemeinschaften ein solches Hinrichtungs-
moratorium. Mit der Zustimmung zu dem Antrag „Ab-
schaffung der Todesstrafe in den USA“ wollen wir diesen
Initiativen den Rücken stärken.
Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt die Frau Bundesministerin der Justiz, Herta Däubler-
Gmelin.
Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin der
Justiz: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen! Am Ende dieser Debatte möchte ich einen Gedanken
aufgreifen, den mehrere Sprecherinnen und Sprecher aus
ganz unterschiedlichen Fraktionen schon geäußert haben.
Auch ich glaube, heute ist ein guter Tag für die Men-
schenrechte und die Menschenrechtspolitik in unserem
Land. Das hat die Debatte gezeigt. Ich will ausdrücklich
bekräftigen, dass die Menschenrechtspolitik und das Ein-
treten für die Menschenrechte zu den Schwerpunkten der
Bundesregierung und der sie tragenden Mehrheit gehört,
und zwar sowohl für die Innenpolitik als auch als Richt-
schnur – wie wir gehört haben – für die Außenpolitik. Ich
möchte mich beim Bundestag dafür bedanken, dass Sie
das, was wir tun, im Prinzip – natürlich mit gewissen Un-
terschieden, je nachdem, ob Sie einer Regierungsfraktion
oder einer Oppositionsfraktion, die immer kritisch einge-
stellt ist, zugehören – anerkennen.
Sehr geehrter Herr Schwarz-Schilling, Sie haben völ-
lig Recht: Wir sollten im Deutschen Bundestag immer
wieder deutlich sagen, worauf wir unser Eintreten für
Menschenrechte und die Verpflichtung zur Menschen-
rechtspolitik gründen. Auf der einen Seite ist es unsere
Geschichte, die uns selbstverständlich – gerade unsere
Generation und die Generation unserer Kinder – dazu ver-
pflichtet.
Es ist aber auch die Erkenntnis, dass eine Gesellschaft nur
dann friedensfähig und damit zukunftsfähig sein kann,
wenn sie sich bewusst ist, was Menschenrechte bedeuten,
wenn sie sie achtet und Menschenrechtsfragen ganz ge-
zielt in den Mittelpunkt ihrer Politik stellt – bei all dem,
was man an pragmatischen Abstrichen immer machen
muss.
Was mir an der heutigen Debatte sehr gut gefallen hat,
war, zu sehen, dass dieser Grundkonsens auf allen Seiten
dieses Bundestages vorhanden ist.
Ich stelle das fest, wohl wissend, dass ich meine Aus-
führungen mit vielen „aber“ fortsetzen müsste. Selbstver-
ständlich ist es so, dass Glaubwürdigkeit in der Men-
schenrechtspolitik – das wissen wir – im eigenen Land
beginnen muss. Das gilt für eine Politik, bei der man nicht
nur fordern kann, sondern auch handeln muss – das kann
in unserem Land beinahe jeder an irgendeiner Stelle – und
dann auch entsprechend handelt.
Kritik, man müsse mehr tun, gibt es überall. Ich glaube
aber, es ist gut, herauszustellen, dass es in der Tat eine
Menge an Fortschritten gegeben hat. Ich will meine Auf-
zählung mit dem besonderen Menschenrechtsausschuss
dieses Parlamentes beginnen und will beim Menschen-
rechtsbeauftragten und beim Deutschen Menschenrechts-
institut, das durch unseren Beschluss eingesetzt werden
und möglichst bald seine Arbeit aufnehmen soll, fortset-
zen.
Natürlich war es für die Bundesministerin der Justiz
eine Selbstverständlichkeit, ihre Dienste sehr engagiert
zur Verfügung zu stellen, auch wenn, sehr geehrte Frau
Leutheusser-Schnarrenberger, das gilt, was der Kollege
Bindig und die Kollegin Köster-Loßack, die sich von An-
fang an sehr stark für die Gründung des Deutschen
Menschenrechtinstituts eingesetzt haben, immer wieder
deutlich gemacht haben, dass es nämlich ein unabhängi-
ges Institut sein muss, das den Pariser Grundsätzen der
Vereinten Nationen folgt, und dass dieses Institut in der
Tat die Möglichkeit haben muss, die wertvolle Arbeit der
zivilgesellschaftlichen Nichtregierungsorganisationen im
Bereich der Menschenrechte zu unterstreichen, vielleicht
auch zu fördern, möglicherweise zu koordinieren, aber
auf jeden Fall sehr viel wirksamer zu machen, und zwar
nach innen und nach außen.
Es ist gut, dass heute viele Sprecherinnen und Sprecher
der unterschiedlichen Fraktionen den Menschenrechts-
organisationen Dank ausgesprochen haben, Dank für
eine Arbeit, die nicht immer leicht und nicht immer popu-
lär ist und die sie trotzdem machen; denn Menschen-
rechtsarbeit erweist sich immer da als ganz besonders
wertvoll, wo sie für Menschen geleistet wird, die gerade
nicht die Zustimmung der Mehrheit in der Öffentlichkeit
haben. Genau das tut Amnesty International, aber das tun
auch kirchliche Organisationen. Lassen Sie mich deswe-
gen den Dank der Bundesregierung stellvertretend für alle
anderen der Organisation „Brot für die Welt“ ausspre-
chen, die mit ihrer 42.Aktion „Auf eigenen Füßen stehen“
wieder unterstrichen hat, wie wichtig Menschenrechte
sind.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Ruprecht Polenz
13712
Diese Aktion erinnert uns alle daran, wie viel Arbeit ge-
leistet wird und wie viel gute Arbeit noch geleistet werden
muss. Deswegen wünschen wir der Arbeit der Menschen-
rechtsorganisationen die Unterstützung aller Menschen in
unserem Land.
Wenn wir unsere Gesetze und unsere Verfassung an-
schauen, dann können wir feststellen, dass wir den Men-
schenrechtsschutz in der Bundesrepublik Deutschland
nahezu perfekt ausgebaut haben. Die Bundesrepublik
Deutschland hat die Allgemeine Erklärung der Men-
schenrechte der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1948
voll akzeptiert und integriert. Deutschland gehörte zu den
Erstunterzeichnern der Europäischen Menschenrechts-
konvention. Die Grundrechterechtsprechung des Bundes-
verfassungsgerichtes und auch die der anderen Gerichte
ist sehr gut. Aber wir alle wissen, dass in unserer inner-
staatlichen Praxis noch sehr viel zu tun ist.
Es ist sehr oft gesagt worden, dass die Bekämpfung
des Rechtsextremismus an vorderster Stelle stehen
müsse. Das ist wahr. Diese Aufgabe müssen Polizei und
Justiz immer wieder aufgreifen und im Rahmen ihrer Ver-
antwortung auch erfüllen. Ich finde es gut, dass der Ge-
neralbundesanwalt heute hat bekannt geben können, dass
die Täter, die für den heimtückischen Anschlag auf die Sy-
nagoge in Düsseldorf verantwortlich sind, möglicher-
weise gefasst worden sind.
Aber es gibt keinen Anlass, hier Entwarnung zu geben.
Diese Tatsache sollte uns eigentlich noch deutlicher an
unsere Verantwortung erinnern, für Menschen einzutre-
ten, die als Minderheiten in unserem Lande genauso
friedlich und genauso gut sollen leben können, wie wir
das tun. Das ist unser aller Verantwortung.
Ich glaube, dass es nicht allein die Aufgabe der Polizei
und noch nicht einmal der Zivilcourage und der selbst-
verständlichen Arbeit jedes Einzelnen von uns sein sollte,
sich hier zu engagieren. Ich glaube vielmehr, dass das
unabhängige Deutsche Menschenrechtsinstitut eine Men-
ge guter Arbeit leisten kann, wenn es um die Auseinan-
dersetzung mit dem Denken und den Vorstellungen der
Menschen geht, die sich heute noch immer oder schon
wieder in den Sog rechtsextremistischer Verführer bege-
ben. Ich verspreche mir, dass gute Signale von diesem Ins-
titut für unser Land ausgehen werden, und zwar so gute
Signale, wie wir, der Deutsche Bundestag, sie gegeben
haben, als wir 10 Millionen DM an Sondermitteln für Op-
fer rechtsextremistischer Gewalt bewilligt haben.
Der Deutsche Bundestag will ein Signal auch mit der
heutigen Diskussion über den Antrag zur Ächtung der
Todesstrafe geben. Wir brauchen dieses Signal selbstver-
ständlich auch nach innen. Ich stimme dem Kollegen
Polenz voll und ganz zu: Menschenrechtspolitik bewegt
sich immer im Denken und im Fühlen der Menschen; man
darf diesen Aspekt nicht vernachlässigen.
Wir müssen Überzeugungsarbeit jedoch auch gegen-
über anderen Ländern leisten. Wir müssen ein Signal an
andere Staaten, an Partner und an Freunde, insbesondere
an Japan, China und die USA, aussenden. Ich schließe
mich all dem an, was hier gesagt wurde. Das gilt auch im
Hinblick auf das, was über die Notwendigkeit eines Mo-
ratoriums gesagt wurde.
Lassen Sie mich Folgendes hinzufügen: Wir können
feststellen – das ist ein Zeichen des Ernstnehmens der
Menschenrechtspolitik –, dass es unter den Mitgliedern
des Europarates heute, nachdem Russland und die Türkei
ein Moratorium – das wir als ersten Schritt zur Ächtung
der Todesstrafe begreifen – eingegangen sind, kein Land
mehr gibt, das die Todesstrafe anwendet. Das haben wir
selbstverständlich auch mit unseren russischen Partnern
– zurzeit ist eine Delegation unter Leitung des russischen
Justizministers in der Bundesrepublik zu Gast – bespro-
chen. Gespräche dieser Art führen wir auch im Rahmen
des deutsch-chinesischen Rechtsstaatsdialogs, und der
Aufruf, das auch mit unseren amerikanischen Partnern zu
tun, verbindet uns alle. Er kann in den unterschiedlichsten
Bereichen der Politik in unserem Lande umgesetzt wer-
den.
Ich möchte an dieser Stelle den Gedanken „Glaubwür-
digkeit in der Menschenrechtspolitik beginnt im eigenen
Land“ noch von einer ganz anderen Seite her beleuchten.
Auch bei uns gibt es Gefährdungen, die das Eintreten für
Menschenrechte und für den Respekt vor dem Leben in
heimtückischer Weise untergraben können. Mit einer sol-
chen Debatte ist in trügerischer Weise der sympathische
Begriff der Hilfe verbunden; das Motto der so genannten
Sterbehilfe macht sich in unserem Lande breit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen da sehr
sorgfältig hinhören. Wir müssen sehr sorgfältig festlegen,
was Hilfe ist und was nicht. Ich hoffe, das geschieht mit
Unterstützung aller Fraktionen dieses Hauses.
Wir sollten sehr deutlich sagen: Hilfe ist nötig, wie sie
durch Ärzte und Pflegende aller Art in Form von wirksa-
men Schmerztherapien sehr aufopfernd geleistet wird.
Hilfe ist nötig, wie sie in vollem Respekt vor Patienten-
verfügungen durch das Ernstnehmen des Willens von
Sterbenden geleistet wird. Hilfe ist nötig, wie sie zum
Beispiel in Form von Sterbebegleitung durch viele Men-
schen geleistet wird, die in der Hospizbewegung tätig
sind.
Aber Respekt vor dem Leben und Hilfe zum Sterben in
der letzten Phase des Lebens bedeuten nicht das, was da
auf einmal propagiert wird, nämlich dass ein Mensch am
Ende seines Lebens nicht in Begleitung eines Helfers,
sondern durch die Hand eines anderen stirbt. Dadurch än-
derte sich nicht nur – auch darüber wird diskutiert – die
Rolle des Arztes. Das, was diskutiert wird, stellt das Le-
ben unter die Verfügung eines anderen, es verändert damit
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
13713
den Wert des Lebens, es setzt ihn herab und unterhöhlt den
Respekt vor Menschenrechten bzw. vor der Achtung des
Lebens.
Auch daran müssen wir an einem Tag wie dem heutigen
erinnern.
Ein Grund zur Freude besteht aus einem anderen An-
lass: Gerade heute haben die Staats- und Regierungschefs
in Nizza die Europäische Grundrechte-Charta, von der
schon so viel gesprochen wurde, proklamiert. Sie bindet
jetzt die europäischen Institutionen, auch wenn sie noch
nicht individuell einklagbar ist. Dafür zu sorgen ist der
nächste Schritt, den wir uns vornehmen müssen.
Neben diesem Schritt in Europa und neben dem Schritt
der weitergehenden Ächtung der Todesstrafe ist dann der
Schritt an der Reihe, dass der Internationale Strafge-
richtshof, der Römische Gerichtshof, seine Arbeit auf-
nehmen soll. 1948 bis heute war eine lange Zeit. Lassen
Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass die Zeit bis zur
Aufnahme der tatsächlichen Arbeit des Strafgerichtshofes
jetzt sehr viel kürzer sein wird. Dann wird, glaube ich,
dieser Tag ein noch besserer Tag sein, als er heute schon
ist.
Herzlichen Dank.
Danke schön.
Ich schließe damit die Aussprache, und wir kommen
zu den Abstimmungen und Überweisungen, zunächst
zum Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU,
des Bündnisses 90/Die Grünen und der F.D.P. zur Ein-
richtung eines Deutschen Instituts für Menschenrechte.
Wer stimmt für diesen Antrag auf Drucksa-
che 14/4801? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der
Antrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses ange-
nommen worden.
Wer stimmt für den Antrag der Fraktion der SPD und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-
che 14/4800 mit dem Titel „Abschaffung der Todesstrafe
in den USA“? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Auch
dieser Antrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses an-
genommen worden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 14/4884 und 14/3739 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Einver-
standen? – Das ist der Fall; dann sind die Überweisungen
so beschlossen.
Jetzt kommen wir zur Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem Titel „Ge-
gen die Todesstrafe in den USA – Keine Hinrichtung
von Mumia Abu-Jamal“. Das ist die Drucksa-
che 14/4642.
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksa-
che 14/3196 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung des Ausschusses? – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/
CSU gegen die Stimmen von F.D.P. und PDS bei vier Ent-
haltungen aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange-
nommen worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Burchardt, Brigitte Adler, Doris Barnett, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Winfried Hermann, Franziska
Eichstädt-Bohlig, Hans-Josef Fell, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Nationale Nachhaltigkeitsstrategie
– Drucksache 14/4606 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft
und Forsten
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen – Wider-
spruch höre ich nicht, dann ist auch so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Abgeordnete Ursula Burchardt.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Seit fast zehn Jahren
arbeiten Abgeordnete des Deutschen Bundestages inten-
siv an der Aufgabe der langfristigen Zukunftssicherung.
Die entscheidende Frage dabei lautet: Wie sichern wir
unsere natürlichen Lebensgrundlagen als Basis für die
wirtschaftliche Entwicklung, für Wohlstand und Frieden
heutiger und vor allen Dingen auch nachwachsender Ge-
nerationen?
Noch vor der Konferenz von Rio, die 1992 stattgefun-
den hat und die dafür das Leitbild nachhaltiger Entwick-
lung geprägt hat, setzte der Deutsche Bundestag auf
Initiative der SPD-Fraktion eine erste Enquete-Kommis-
sion „Schutz des Menschen und der Umwelt“ ein. Es ist
noch gar nicht so lange her, dass wir hier im Plenum den
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
13714
Abschlussbericht der zweiten Enquete-Kommission unter
dem Titel „Vom Leitbild zur Umsetzung“ debattiert ha-
ben.
Es gibt immer noch einige, die fragen, worum es ei-
gentlich bei der nachhaltigen Entwicklung geht. Es gibt
zahlreiche wissenschaftliche oder weniger wissenschaft-
liche Definitionen. Ich sage eine ganz schlichte: Es geht
darum, nicht den Ast abzusägen, auf dem man sitzt.
Man muss keinen Stift in die Hand nehmen, um
Katastrophenszenarien an die Wand zu malen. Ein Blick
in die aktuelle Tageszeitung oder die Nachrichten reicht,
um zu erkennen: weiter so mit dem Raubbau an den
natürlichen Lebensgrundlagen wie bisher, das kann nicht
funktionieren.
Wenige Stichpunkte reichen, um das zu verdeutlichen:
Klimabedingte Überschwemmungen und Unwetter neh-
men zu. Mittlerweile steht den Menschen nicht mehr nur
in Afrika und Asien, sondern auch in England das Wasser
buchstäblich bis zum Hals. Die Waldschäden werden
nicht weniger. Die umweltbedingten Krankheiten nehmen
zu. BSE gehört sicherlich mit in die Reihe der hier zu
erwähnenden Stichworte. „Weiter so“ ist also keine
Perspektive. Wir wissen – nicht zuletzt durch eine uner-
messliche Fülle an wissenschaftlichen Arbeiten aus Jahr-
zehnten –, dass Strukturwandel, den es immer geben wird,
gestaltet werden muss. Das Leitbild von Rio gibt die
Richtung vor. Die Agenda 21 ist die Blaupause für das
Handeln.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, um eines
ganz deutlich zu sagen: Es gibt kein Erkenntnisproblem,
sondern es gibt ein Umsetzungsproblem.
Dass es dieses Umsetzungsproblem gibt, ist nicht zuletzt
Schuld der vorigen Bundesregierung.
Jetzt endlich geht es darum, das vorhandene Wissen um-
zusetzen und anzuwenden. Gefragt sind Innovationen auf
unterschiedlichen Ebenen. Denn nur Innovationen sind
der Schlüssel für die Lösung der ökologischen, ökonomi-
schen und sozialen Kernfragen der Gegenwart und damit
Voraussetzung zur Zukunftssicherung.
Schon heute wird auf ganz vielen Baustellen in unse-
rem Land an innovativen Lösungen gearbeitet. Ich nenne
zum Beispiel auf lokaler Ebene die Agenda-Initiativen
und die Gewerkschaften. In Kirchen, Schulen und in vie-
len anderen Bereichen arbeiten Bürger an ganz konkreten
Projekten für nachhaltige Entwicklung. Dass nachhaltige
Entwicklung kein Spezialthema für Ökofreaks ist – wie
dies manche immer noch meinen –, sondern Kreativität,
Know-how und Kapital in allen Teilen der Gesellschaft
mobilisieren kann, zeigen viele fortschrittliche Unterneh-
men, die sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung be-
wusst sind.
Dass wir zum Beispiel eine Strategie weg vom Öl brau-
chen, ist ja keine rot-grüne Erfindung. Wenn man sich die
Geschäftspolitik und die Konzernpolitik von BPund Shell
genauer ansieht, stellt man fest, dass sie sehr frühzeitig er-
kannt haben, dass das Zeitalter des billigen, einfach zu
fördernden Öls in absehbarer Zeit zu Ende gehen wird.
Deswegen investieren sie schon seit geraumer Zeit in So-
lartechnik. Sie tun dies nicht aus ideologischen oder öko-
logischen Gründen, sondern aus ganz schlichten ökono-
mischen Erwägungen, damit auch in Zukunft die
Dividenden ihrer Aktionäre stimmen.
Wenn Sie einen Blick auf die Situation der Automobil-
konzerne werfen, stellen Sie fest, dass sie sich einen Wett-
lauf um umweltfreundlichste Antriebstechniken – Stich-
wort Brennstoffzelle – liefern. Große Versandhäuser und
Handelsketten haben Nachhaltigkeit längst als Wettbe-
werbsvorteil erkannt und bauen auf Kundenbindung
durch ökologische Qualität.
Da wir schon über die Unternehmen sprechen, möchte
ich Ihren Blick gerne auf die Weltfirma Sony lenken, bei
der „sustainable development“ Teil der Unternehmens-
philosophie geworden ist, und zwar nicht nur semantisch,
sondern ganz praktisch. Es gibt konkrete Zielvorgaben
mit einem klaren Zeithorizont, die für das gesamte Ma-
nagement, für jede Einheit und für jeden Mitarbeiter rund
um den gesamten Erdball verpflichtend sind.
Bei der Beschreibung dessen, was Sony tut, sind wir an
einem ganz entscheidenden Punkt: Nachhaltige Zukunfts-
sicherung ist keine ideologische Frage, sondern eine
Frage von Strategie, Management und Organisation.
– Wenn sich die Kolleginnen und Kollegen von der Union
etwas leiser unterhalten würden, wäre dies ganz hilfreich.
Das ist nicht nur eine Aufgabe für die Wirtschaft, son-
dern vor allen Dingen auch eine Aufgabe für Staat und
Verwaltung. „Good governance“ oder „gutes Regieren“
ist das Stichwort.
Wir als Koalitionsfraktionen haben die Empfehlungen
der Enquete-Kommission ernst genommen. Was wir in
unseren Wahlprogrammen und im Koalitionsvertrag an-
gekündigt haben, lösen wir ein. Endlich ist Politikinnova-
tion angesagt.
Die Bundesregierung hat beschlossen, eine nationale
Strategie für eine nachhaltige Entwicklung zu erarbei-
ten. Das Ganze ist beim Kanzleramt angesiedelt. Es ist
Chefsache.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Ursula Burchardt
13715
– Das ist eine Forderung, die auch Ihre Fraktion damals in
der Enquete-Kommission unterstützt hat. Vielleicht lesen
Sie einfach einmal die Mehrheitsentscheidung von da-
mals.
Ich denke, dies ist für die Öffentlichkeit ein ganz ent-
scheidendes Signal.
Viele Menschen haben lange darauf gewartet. Aber es ist
auch ein entscheidendes Signal für alle Ressorts. Denn
Verantwortung für nachhaltige Entwicklung hat eben
nicht nur das Umweltministerium, sondern die gesamte
Regierung. Alle relevanten Fachministerien sind in der
Pflicht. Dem Staatssekretärsausschuss, der eingerichtet
worden ist, gehören zehn von ihnen an.
Umdenken und neue Kooperationen sind gefragt. Das
erfordert neue Formen der Organisation von Entschei-
dungsprozessen und des Politikmanagements. Der er-
wähnte Staatssekretärsausschuss für nachhaltige Ent-
wicklung trägt dieser Erkenntnis Rechnung.
– Sie sind doch gleich dran, Frau Homburger. Darauf
komme ich gleich noch.
Zunächst einmal werden dort zwei Projekte bearbeitet,
nämlich Klimaschutz und umweltgerechte Mobilität. Ich
weiß, dass sich manche – nicht nur hier im Hause, sondern
auch bei vielen Umweltgruppen – gewünscht hätten, dass
schon jetzt mehr Projekte ganz konkret begonnen worden
wären. Aber ich breche wirklich eine Lanze für eine Be-
schränkung zu Beginn und auch für eine gewisse Be-
scheidenheit. Denn nachhaltige Entwicklung ist ein Lern-
prozess. Es geht darum, neu zu denken und anders zu
entscheiden als bisher. Das ist eine Frage, die nicht nur
jede Organisation und jede Institution, sondern auch jeden
Einzelnen betrifft, sei er Bürger, Beamter oder in irgend-
einer anderen Form für Entscheidungen im täglichen Le-
ben verantwortlich. Das braucht Zeit. Mit Überfrachtung
wäre an der Stelle niemandem gedient.
Weil wir als Koalitionsfraktionen diesen Prozess un-
terstützen wollen, legen wir Wert auf eine regelmäßige
Berichterstattung und auf ein Monitoringsystem. Wir ge-
hen davon aus, dass im Laufe der Zeit konkrete Umwelt-
ziele und Indikatoren formuliert werden, um die Fort-
schritte sichtbar zu machen.
Natürlich werden wir in Zukunft auch weitere Hand-
lungsfelder bearbeiten. Meine Fraktion hat eine Arbeits-
gruppe gegründet, die ganz konkrete Initiativen ent-
wickeln wird. Aber eines ist völlig klar: Was in den Jahren
seit der Konferenz von Rio liegen geblieben ist, kann
nicht innerhalb von zwei Jahren nachgeholt werden. Ent-
scheidend ist jedoch: Die Weichen sind neu gestellt.
Dass Nachhaltigkeit für die Bundesregierung kein be-
grenztes Projekt ist, macht die Berufung des Nachhaltig-
keitsrates, die in den nächsten Tagen erfolgen wird, deut-
lich; denn dieser wird für eine längere Dauer als für diese
Legislaturperiode berufen.
Nachhaltige Entwicklung wird in den kommenden
Monaten und Jahren ein sehr wichtiges Thema bleiben.
Die EU-Kommission wird auf Initiative des Europäischen
Rates von Helsinki Mitte nächsten Jahres eine europä-
ische Nachhaltigkeitsstrategie vorlegen. Die schwedi-
sche Präsidentschaft wird Nachhaltigkeit zu einem ihrer
entscheidenden Beiträge machen. Wir gehen davon aus,
dass diese Bundesregierung bei der Rio-Folgekonfe-
renz 2002 substanzielle Fortschritte vorweisen wird – im
Gegensatz zu dem, was die Vorgängerregierung gemacht
hat.
Es ist zweifellos ein ehrgeiziges Ziel, bis dahin eine
Nachhaltigkeitsstrategie zu konzipieren. Sie wird konti-
nuierlich weiterzuentwickeln sein.
Wir haben aber in der letzten Zeit wichtige Aufgaben
erledigt. Ich nenne nur die Stichworte Energiewende, Ge-
nerationengerechtigkeit, Bekämpfung der Arbeitslosig-
keit, Schaffung neuer Jobs. Die Liste ließe sich beliebig
verlängern. Das macht mich zuversichtlich, dass die Ko-
alition in der Umsetzung des neuen Fortschrittsmodells
erfolgreich sein wird.
Kommen
Sie bitte zum Schluss.
Sicherung des Naturkapi-
tals, Solidarität zwischen den Generationen, globale Part-
nerschaft – das sind die Eckpfeiler unseres Weges einer
nachhaltigen Zukunftssicherung, einer neuen Kultur der
globalen Verantwortung, einer neuen Leitkultur.
Als
nächster Redner hat der Kollege Franz Obermeier von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Kol-
leginnen und Kollegen! Seit der Vorlage des Endberichts
„Our Common Future“ der nach ihrer Vorsitzenden
Brundtland benannten Kommission der Vereinten Natio-
nen im Jahre 1987, spätestens aber seit der Konferenz von
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Ursula Burchardt
13716
Rio im Jahre 1992, ist die Diskussion um eine nachhaltige
bzw. zukunftsfähige Entwicklung aus der wissenschaftli-
chen und politischen Diskussion nicht mehr wegzuden-
ken.
Ziel einer nachhaltigen Entwicklung – das ist jetzt eine
etwas andere Definition als die meiner Vorrednerin – ist,
die Voraussetzungen für eine Verbesserung der wirt-
schaftlichen und sozialen Lebensbedingungen aller Men-
schen, der heute und zukünftig lebenden, entsprechend
ihren jeweiligen Bedürfnissen zu schaffen. Die Produkti-
vität und der immaterielle Wert von Umwelt und Natur
müssen auf Dauer erhalten bleiben.
Das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung beinhaltet ei-
nerseits die Forderung nach schonender Nutzung und Er-
haltung der Umwelt, zum anderen die weitere wirtschaft-
liche und soziale Entwicklung.
Obwohl immer wieder festzustellen ist, dass das Leit-
bild der nachhaltigen Entwicklung in den verschiedenen
gesellschaftlichen Gruppen eine breite Zustimmung fin-
det, gehen doch die Vorstellungen und Interpretationen
dieses Leitbilds weit auseinander. Eine einheitliche Ope-
rationalisierung gibt es bis dato ebenso wenig wie eine
verbindliche Definition. Wir stellen nur immer wieder
fest, dass der Begriff der Nachhaltigkeit als bloße Wort-
hülse verwendet wird, die von den verschiedensten ge-
sellschaftlichen Gruppen für ihre jeweiligen Interessen
instrumentalisiert wird. Das Zauberwort Nachhaltigkeit
ist in aller Munde, ohne dass jemand genau sagen könnte,
was damit konkret gemeint ist.
Geht man einmal auf den Ursprung zurück, dann stellt
man fest, dass der Begriff der Nachhaltigkeit keine Erfin-
dung der jetzigen Bundesregierung ist, sondern bereits im
18. Jahrhundert auftauchte, und zwar im Bereich der
Forstwirtschaft.
Nachhaltigkeit wurde damit definiert, dass in einem Jahr
nur derjenige Holzbestand entnommen werden durfte, der
in diesem Jahr auch nachwuchs.
Bei dem Leitbild der nachhaltigen Entwicklung han-
delt es sich heute um ein normativ-ethisches Konzept, das
in vielfältiger Beziehung zu den gesellschaftlichen
Grundwerten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität steht.
Gerechtigkeit und Solidarität sollen nach dem heutigen
Verständnis von Nachhaltigkeit nicht nur zwischen den
einzelnen Menschen und gesellschaftlichen Gruppen,
sondern auch global zwischen den Ländern und Konti-
nenten geübt werden. Im Einzelnen leiten sich daraus drei
grundwertbezogene Verantwortlichkeiten ab, die den Weg
zu einer nachhaltigen Entwicklung bestimmen sollen.
Erstens. Alle heute lebenden Menschen sollen ein men-
schenwürdiges Leben in freier Selbstbestimmung führen
können.
Zweitens. Die heutige Generation hat bei ihren Ent-
scheidungen die Verantwortung dafür zu tragen, dass den
künftigen Generationen die gleichen Entwicklungsmög-
lichkeiten gegeben sind wie heute.
Drittens. Aus dem Postulat der interpersonellen Ge-
rechtigkeit resultiert auch die Verpflichtung der Industrie-
länder gegenüber den Entwicklungsländern, der weltweit
wachsenden Armut entgegenzuwirken und die Ent-
wicklungsmöglichkeiten in den Ländern der Dritten Welt
zu verbessern.
Basierend auf der erweiterten Sicht von nachhaltiger
Entwicklung der Enquete-Kommission des 12. Deutschen
Bundestages „Schutz des Menschen und der Umwelt“ un-
ter der Führung der CDU/CSU
muss die integrative und gleichberechtigte Berücksichti-
gung ökonomischer, ökologischer und sozialer Belange
im Mittelpunkt stehen. Diese Orientierung müssen wir
auch in Zukunft verstärkt aufgreifen, sodass das Modell
der ökologischen und sozialen Marktwirtschaft überall
auf der Welt zum Grundgerüst einer nachhaltigen Ent-
wicklung wird.
Nach unserem Verständnis ist Nachhaltigkeit kein star-
res Programm, das nur auf nationalstaatlicher oder auf in-
ternationaler Ebene planerisch Ziele und Maßnahmen
festlegt, die Solidarität und Gerechtigkeit einfordern, son-
dern ein ständiger Suchprozess, an dem sich möglichst
alle Menschen und gesellschaftlichen Gruppen eigenver-
antwortlich beteiligen müssen. Die Bundesregierung hin-
gegen benutzt den Begriff der Nachhaltigkeit, um ver-
mehrt zu dirigistischen Maßnahmen zu greifen, und
bewirkt damit schlussendlich genau das Gegenteil einer
nachhaltigen Entwicklung.
Sie begreift den Begriff Nachhaltigkeit als Instrument,
nicht hingegen als Wertvorstellung, die in unser aller
Köpfen verankert werden muss. Unter dem Vorwand ei-
ner nationalen Nachhaltigkeitsstrategie versucht sie, ihr
Handeln, das im diametralen Gegensatz zum Leitbild der
nachhaltigen Entwicklung steht, zu rechtfertigen. Bestes
Beispiel ist der von Ihnen als wichtige Weichenstellung
für eine nachhaltige Entwicklung bezeichnete Ausstieg
aus der Kernenergie.
Der Widerspruch Ihres Handelns zeigt sich doch ganz
offensichtlich, wenn man betrachtet, was Sie eigentlich
mit dem vermeintlichen Atomausstieg erreicht haben. Auf
der einen Seite proklamieren Sie immerfort, dass Kern-
energie gefährlich ist;
sie ist so gefährlich, dass man schnellstmöglich auf diese
Technologie verzichten müsse, koste es, was es wolle.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Franz Obermeier
13717
Andererseits wiederum einigen Sie sich mit der Energie-
wirtschaft auf Laufzeiten bis zum Jahr 2020.
Da fragt man sich natürlich: Wenn das schon so gefährlich
ist, wie kann man dann derartig lange Fristen vereinba-
ren?
Zum anderen sind Sie bis heute nicht in der Lage,
schlüssig zu erklären, wie man klimaverträglich Kern-
energie ersetzt, insbesondere vor dem Hintergrund der
Klimaschutzziele.
Auch da frage ich Sie: Wie passt das zum Leitbild der
Nachhaltigkeit? Ihre bis dato gemachten Ausführungen
zu einem klimaverträglichen Ersatz der Kernenergie mit-
hilfe von Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen
sind völlig haltlos. Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen kön-
nen Kernkraftwerke in der Grundlast prinzipiell nicht er-
setzen.
Unabhängig davon sind Ihre Zielvorstellungen bezüg-
lich der Verdopplung der Kraft-Wärme-Kopplung schon
aussagekräftig genug. Gerade dieses Verdopplungsziel
zeigt einmal mehr, dass Ihr Handeln dem Gedankengut
der Nachhaltigkeit zuwiderläuft.
Bis zum heutigen Tag ist nicht erwiesen, dass diese pau-
schale Verdopplung von der Zielrichtung her ökologisch
sinnvoll ist. Selbst Ihr Bundeswirtschaftsminister Müller
hat sich aus diesem Grunde schon längst von dem
Verdopplungsziel verabschiedet.
Unabhängig davon, wie Kraft-Wärme-Kopplungsanla-
gen zu beurteilen sind, steht jedenfalls fest, dass Sie mit
der Verdopplung der Kraft-Wärme-Kopplung willkürlich
eine bestimmte Technologie fördern. Damit legen Sie
Strukturen für Jahrzehnte fest und verhindern die Weiter-
entwicklung und Markteinführung neuer, effizienter
Technologien.
Was Sie hier abziehen, ist nicht das, was ich unter nach-
haltiger Entwicklung verstehe.
Ich könnte noch länger so fortfahren. Auch das Erneu-
erbare-Energien-Gesetz ist ein schönes Beispiel für die ei-
ner nachhaltigen Entwicklung zuwiderlaufende Politik
der Bundesregierung.
Ich denke nur an die Photovoltaik, die Sie mit 99 Pfennig
fördern. Ihre ganze Subventionspolitik hat dazu geführt,
dass die Vorteile, die sich aus der Liberalisierung der
Strommärkte insbesondere für den Verbraucher ergeben
haben, vollständig aufgezehrt werden.
Der Verbraucher wird dank Ökosteuersubventionierung
für KWK und EEG bereits jetzt übermäßig belastet, wo-
bei diese Belastungen weiter wachsen werden.
An diesen Beispielen zeigt sich ganz deutlich, dass Sie
den Begriff der Nachhaltigkeit instrumentalisieren und als
Rechtfertigung für Ihr Handeln missbrauchen, aber öko-
logische Belange kaum berücksichtigen.
Ökonomie und Soziales bleiben bei Ihrem Tun völlig
außen vor.
Herr Kol-
lege Obermeier, kommen Sie bitte zum Schluss.
Für Sie scheint völlig
unwichtig zu sein, Energie, die Grundlage für ein men-
schenwürdiges Leben ist, für jedermann bezahlbar zu ma-
chen. Sie gefährden mit Ihrer Politik den Wirtschafts-
standort Deutschland
und opfern in massiver Weise Arbeitsplätze.
Danke schön.
Als
nächster Redner hat der Kollege Winfried Hermann von
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kol-
lege Obermeier, beim ersten Teil Ihrer Rede war ich drauf
und dran, Ihnen Beifall zu spenden; denn Sie haben in vie-
ler Hinsicht grundlegende Einsichten der Nachhaltig-
keitsdebatte noch einmal formuliert und zitiert. Das war
blitzsauber, das war in Ordnung. Da habe ich gedacht:
Gut, wir haben hier eine gemeinsame Basis; endlich sind
wir auch im Bundestag so weit, dass wir nicht nur nach
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Franz Obermeier
13718
Parteien klatschen, sondern auch einmal aufeinander zu-
gehen und Diskurse führen.
Im zweiten Teil Ihrer Rede haben Sie – es tut mir Leid,
dass ich das so deutlich sagen muss – Nachhaltigkeit neu
definiert, nämlich so: Nachhaltig ist, wenn du immer wie-
der das Gleiche unter anderem Etikett sagst.
Das ist nicht Nachhaltigkeit. Nachhaltigkeit ist der Ver-
such, Dinge neu anzugehen und nicht immer wieder durch
dieselbe alte ideologische Brille zu betrachten.
Sie haben sich mit der Bundesregierung und ihrem
Nachhaltigkeitsbegriff auseinander gesetzt und behaup-
tet, die Bundesregierung habe vor, in dirigistischer Weise
Nachhaltigkeit herbeizuführen. Das Gegenteil ist wahr.
Wo immer wir von den Koalitionsfraktionen und auch von
der Regierung uns äußern, ist eines klar: Nachhaltigkeit
ist eine regulative, eine normative Leitidee, an der entlang
man Politik formulieren muss. Sie ist ein hoch stehender
Wert, aber sie ist eben nicht konkret. Konkret wird Politik
dann, wenn man sie macht. Dann muss man in der Tat fra-
gen: Ist dies oder jenes, was wir tun, wirklich nachhaltig
oder widerspricht es der Nachhaltigkeit? Insofern – da
gebe ich Ihnen Recht – muss man das immer wieder aufs
Neue prüfen.
Ich bin der Meinung: Wir sind heute an einem Punkt
angelangt, an dem wir uns durchaus selbstkritisch fragen
müssen, was wir bisher alles unter der Leitvorstellung
Nachhaltigkeit erreicht haben, was wir getan haben
und wieweit wir, gemessen an der hierarchischen Bewer-
tung dessen, was uns in der Politik wichtig ist, gekommen
sind. Ich sage Ihnen ganz offen: Ich hätte mir heute ge-
wünscht, dass wir gut ein Jahr, nachdem der Deutsche
Bundestag einstimmig beschlossen hat, eine Nachhaltig-
keitsstrategie zu erarbeiten, und die Bundesregierung auf-
gefordert worden ist, einen Nachhaltigkeitsrat, ein grünes
Kabinett usw. einzurichten – diesen Beschluss haben wir
einstimmig gefasst –,
hätten sagen können: Da ist der Nachhaltigkeitsrat; da
sind erste Entwürfe einer Strategie. Ich sage ganz selbst-
kritisch: Dies ist nicht zustande gekommen. Ich bedauere
das außerordentlich.
Allerdings finde ich – auch dies gehört zu einer neuen
Kultur im Bereich der Nachhaltigkeit –, dass man nicht
immer nur auf die anderen zeigen und sich selber als den
Besseren darstellen sollte.
Denn seien wir doch einmal ehrlich: Was ist gewesen?
1992 hat die damalige Regierung in Rio einen Vertrag un-
terschrieben und sich zur Nachhaltigkeit und zur Ent-
wicklung einer entsprechenden Strategie verpflichtet.
Eine solche Strategie ist nicht entwickelt worden. 1998
hat die neue Bundesregierung, die neue Mehrheit, be-
schlossen: Wir entwickeln eine Strategie. Dann hat es ein
halbes Jahr gedauert, bis wir uns geeinigt haben, einen
entsprechenden Antrag einzubringen. Dann hat es ein
weiteres halbes Jahr gedauert, bis wir diesen Antrag in das
Plenum eingebracht haben, und dann hat es wiederum ein
weiteres halbes Jahr gedauert, bis das Kabinett dies in
Form eines Kabinettsbeschlusses umgesetzt hat.
Jetzt ist wieder ein halbes Jahr um und es ist immer noch
nichts konkret umgesetzt worden.
Dazu sage ich: Das dauert mir zu lange.
Es gibt in Sachen Nachhaltigkeit vier Definitionen. Ich
will eine hinzufügen; denn manchmal habe ich den Ein-
druck, dass da und dort eine neue Definition auftaucht, die
heißt: Wir dürfen in unserer Generation nur so viele Pro-
bleme lösen, dass die nachwachsenden Generationen
noch reichlich davon übrig haben. Auch diese Definition,
so meine ich, müssten wir dringend bekämpfen. Denn es
ist nicht Reden – darauf hat Ulla Burchardt sehr deutlich
hingewiesen –, sondern Handeln angesagt. Das erwarten
die Menschen von uns.
– Ich bin heute nicht hier, um Herrn Töpfer zu beurteilen,
sondern deshalb, um darüber zu sprechen, wie man eine
Strategie entwickelt.
Wir sind nicht untätig gewesen. Ich bin auf Ihre
Beiträge gespannt. Jedenfalls haben wir uns die Mühe ge-
macht, nicht nur zu sagen, was wir von der Regierung
wollen, sondern in einem Antrag klipp und klar formu-
liert, was zu einer Nachhaltigkeitsstrategie gehört. Denn
dies ist natürlich schon umstritten. Sagt man nur, all das,
was man politisch macht, sei Teil der Strategie, oder un-
ternimmt man wirklich einmal den Versuch, strategisch
für bestimmte Handlungsfelder eine bestimmte Politik zu
formulieren und zu sagen: Das und das sind für uns wich-
tige Ziele, wir wollen kurz-, mittel- und langfristig diese
genau umrissenen qualitativen Ziele erreichen? Dazu
muss man dann sagen, mit welchen Mitteln, mit welchen
Gesetzen und mit welchen Maßnahmen man das errei-
chen will und wer das tun soll. Das ist, grob umrissen, das,
was wir formal unter Strategie verstehen, und das haben
wir genau so in den vorliegenden Antrag hineingeschrie-
ben.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Winfried Hermann
13719
Wir haben auch deutlich gemacht, dass es zu einer Stra-
tegie gehört, dass man Handlungsfelder ausweist und
sagt: Auf diesen Feldern wollen wir in besonderer Weise
ansetzen. Einen Bereich haben wir schon abgearbeitet:
Das ist – zumindest als strategisches Konzept – der Be-
reich Klimaschutz. Die Arbeit der Umsetzung steht natür-
lich noch an.
Der nächste Bereich ist die Entwicklung einer sozialen
und umweltverträglichen Mobilitätsstrategie. Auch hier
müssen wir Ziele und Maßnahmen entwickeln und auch
hier wird man konkrete Fragen stellen.
Ich freue mich, dass Kollege Müntefering heute zu die-
sem Thema sprechen wird.
Ich wäre ihm dankbar, wenn er mir hier einmal erklären
würde, inwiefern es nachhaltig ist, wenn man für Fern-
pendler eine höhere Entfernungspauschale festlegt als
für Normalpendler. Ich habe immer gedacht, der Ver-
brauch pro Kilometer sei immer gleich teuer, egal wo und
wie man fährt. Zudem sind Entfernungen zwischen
Wohnort und Arbeitsort als solche natürlich problema-
tisch. Denn dies hat etwas mit Zersiedlung, mit Energie-
verbrauch zu tun. Auch hier sehen Sie: Wir diskutieren
und streiten da und dort auch um die richtige Lösung. Es
ist hier überhaupt keine Selbstgefälligkeit angesagt. Denn
das ist der grundfalsche Ansatz in Sachen Nachhaltig-
keitsstrategie.
Aus unserer Sicht ist neben den bereits genannten zwei
Handlungsfeldern unbedingt notwendig, auch den Be-
reich Ernährung und Gesundheit anzugehen. Ich glaube,
der BSE-Skandal ist die letzte Warnung; wir müssen zu ei-
ner Konversion im Landwirtschafts- und Ernährungsbe-
reich kommen.
Ebenso sehe ich es als unabdingbar an, dass wir diese
Strategie nicht nur national, sondern im globalen, interna-
tionalen Maßstab verfolgen. Deshalb bin ich der Mei-
nung, dass wir das Thema „Eine Welt“ in alle Bereiche
hineindenken müssen. Wir brauchen auch insoweit eigene
Vorstellungen. Wir könnten zum Beispiel ungeheuer viel
leisten, wenn wir in Sachen nachhaltiger Entwicklung in
den Bereichen Politik, Administration und Technik besser
kooperieren würden – sei es durch Austausch von Ver-
waltungsexperten aus unseren Kommunen mit solchen
aus den südlichen Ländern, sei es im Bereich Energie
durch ökologische und effiziente Technologien, sei es
durch die Entwicklung ökologischer und sozialverträgli-
cher Mobilitätskonzepte für Entwicklungsländer. Ich
glaube, wir haben noch einiges vor, wenn wir diese Kon-
zepte erarbeiten wollen. Schließlich müssen wir im Be-
reich der Wirtschaft über Stoffströme, über Konsummus-
ter und über Produktionsmuster beispielhaft diskutieren.
Es geht darum, wie man von einem noch nicht nachhalti-
gen zu einem nachhaltigen Konzept kommt.
Es stellt sich die Frage, welche Rolle das Parlament in
diesem Prozess spielt. Ich hatte in einer frühen Phase vor-
geschlagen, dass das Parlament einen eigenen Ausschuss
bildet oder eine besondere institutionelle Konstruktion
schafft, um diesen Prozess zu begleiten. Aus meiner Sicht
ist es dringend notwendig, dass es einen öffentlichen und
konsequenten Diskurs gibt, der nicht nur immer mal wie-
der stattfindet. Im letzten Jahr hat sich abgezeichnet, dass
diese Debatte – so sehr das Interesse vorhanden ist – ein-
fach nicht genügend Resonanz findet, jedenfalls nicht die
Resonanz, die sie für die Zukunft bräuchte.
„Rio plus 10“ – das ist unser Anspruch, darin soll un-
ser Konzept münden. Wir haben jetzt gut anderthalb Jahre
bei der Planung verloren. Vielleicht waren sie nicht ganz
verloren, weil wir ja vorgedacht haben. Aber jetzt gilt es,
im nächsten Jahr hart zu arbeiten, um diese Strategie we-
nigstens so weit voranzutreiben, dass wir im Hinblick
„Rio plus 10“ – wahrscheinlich in Südafrika – sagen kön-
nen: Das ist unsere Vorstellung von einer nationalen
Nachhaltigkeitsstrategie; so wollen wir es machen und so
können wir uns vorstellen, erfolgreich zu sein.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss
und möchte gerne einen Autor zitieren, der in diesem
Hause selten zitiert wird, weil er schwer zitierbar ist. Ich
meine Walt Disney. Dieser geniale Zeichner hat verschie-
dene Geschichten gemalt und damit auch geschrieben.
Eine hat er sich für Dagobert Duck unter dem Titel
„Zurück ins Land der Zwergindianer“ erdacht: Duck hat
seinen Reichtum immer wieder vermehrt und zu diesem
Zweck Kohlegruben, Industrie- und Chemieanlagen an-
gelegt. Er hat alles getan, um das Land zu verbrauchen
und zu verwüsten. Dabei hat er die dort lebenden Zwerg-
indianer vertrieben; ihr Protest dagegen war zwecklos.
Dann kam ein großer Feuersturm, die Anlagen brannten
ab und waren am Schluss zerstört. Duck hat nachgedacht
und sich gefragt, was dieses Zeichen bedeutet. Da ging er
zu den Zwergindianern und hat gesagt, er habe verstan-
den: „Es gibt offensichtlich nur einen Weg voranzukom-
men, und der heißt: nachhaltig produzieren.“
Kommen
Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.
Ich komme zum Schluss. – Was lehrt unser dieser Comic?
Im Comic kann man wieder von vorne anfangen, in der
Realität nicht.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Homburger das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Einerseits freue ich mich über
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Winfried Hermann
13720
die Gelegenheit, heute über die nationale Nachhaltig-
keitsstrategie zu reden. Andererseits wundere ich mich
über den wortreichen Antrag, den Sie hier abgeliefert ha-
ben.
Ich will meine Redezeit nicht für eine Tour d’Horizon
nutzen, so nach dem Motto: Wir erzählen bei jeder Nach-
haltigkeitsdebatte dasselbe. Ein Fortschritt ist nicht zu se-
hen. Die Leute, die uns zuhören – jedenfalls diejenigen,
die das bei dem Thema des Öfteren tun –, langweilen wir
nur noch, auch wenn das, was der Kollege gerade vorge-
tragen hat, teilweise regelrechte Zirkusatmosphäre hat
entstehen lassen.
Aber letztlich erreichen wir nichts anderes, als dass wir
die Interessierten vor den Kopf stoßen.
Im Grundsatz waren wir uns in diesem Hause seit Ab-
schluss der Enquete-Kommission in der letzten Legisla-
turperiode einig, dass es einen Nachhaltigkeitsprozess
und auch einen nationalen Nachhaltigkeitsrat geben soll.
Beides haben wir in einem gemeinsamen Antrag im Um-
weltausschuss noch vor der Sommerpause 1999 einstim-
mig beschlossen.
In dem Antrag steht auch klar, dass die Bundesregie-
rung aufgefordert wird, noch 1999 – jetzt haben wir Ende
2000 – einen Rat für nachhaltige Entwicklung mit Quer-
schnittsaufgaben einzusetzen.
Schließlich gehörten die Themen Nachhaltigkeitsrat und
Nachhaltigkeitsstrategie zu einem Ihrer Prestigeprojekte,
Frau Burchardt, und besaßen allerhöchste Priorität. Ich
kann nur sagen: Schade, dass Sie daraus absolut nichts ge-
macht haben,
obwohl Sie sich der Unterstützung der Opposition sicher
sind.
–
Ursula Burchardt [SPD]: Es läuft doch!)
Angesichts der breiten Unterstützung in diesem Hause
ist bemerkenswert, welchen Stellenwert die Sache bei der
Bundesregierung und auch beim Bundeskanzler hat.
Bezeichnend ist, dass in dieser Debatte wieder kein Ver-
treter der Bundesregierung spricht.
Am 15. Dezember 1999 hat das BMU im Umweltaus-
schuss auf Antrag der F.D.P.-Fraktion noch einmal einen
Bericht über den Sachstand gegeben. Die Parlamentari-
sche Staatssekretärin Probst – sie ist anwesend – erklärte
seinerzeit, also am 15. Dezember 1999, die Bundesregie-
rung plane für Januar 2000 einen Kabinettsbeschluss. Da-
nach solle unverzüglich
der Rat für Nachhaltigkeit – sogar ein ständiger Staats-
sekretärsausschuss – unter Vorsitz des Bundeskanzler-
amtes zur übergreifenden Koordinierung eingesetzt wer-
den. Das weist das Protokoll aus. Während der Bundestag
den entsprechenden Beschluss am 20. Januar 2000 ein-
stimmig gefasst hat, ist von Ihrer Seite, ist vonseiten der
Regierung absolut nichts passiert.
– Ja, gerade einmal den Sekretärsausschuss gibt es, aber
es gibt weder den Nachhaltigkeitsrat noch die Nachhal-
tigkeitsstrategie, Frau Burchardt. Es ist schon peinlich,
dass Sie sich nach alledem, was Sie am Anfang vollmun-
dig verkündet haben, hier zu Wort melden und sagen: So
ein bisschen, einen Teil haben wir ja gemacht.
Ich muss schon sagen, Sie haben eine komische Defi-
nition für „unverzüglich“. Eigentlich heißt „unverzüg-
lich“: ohne schuldhaftes Zögern. – Die Bundesregierung
lehrt uns jetzt, dass „unverzüglich“ das Synonym für
„mindestens ein Jahr“ ist.
Frau Burchardt, Sie haben gesagt, der Nachhaltigkeits-
rat würde in den nächsten Tagen endlich berufen. Ich bin
gespannt, wofür dieses „in den nächsten Tagen“ einmal
als Synonym stehen wird. Wir werden es erfahren.
Das Prinzip der Nachhaltigkeit ist alt. Kollege
Obermeier hat es gerade gesagt: Schon seit über 200 Jah-
ren wird das Prinzip der Nachhaltigkeit von der Forst-
wirtschaft beherzigt. Langfristig darf nicht mehr Holz ge-
schlagen und genutzt werden, als im gleichen Zeitraum
nachwächst. Auch für unsere moderne Wirtschaftsweise
bestehen solche natürlichen Nutzungsgrenzen. Der Er-
halt der Umwelt ist zwingende Voraussetzung für die wei-
tere soziale und wirtschaftliche Entwicklung. Alle drei
Aspekte – ökologische, ökonomische und soziale – müs-
sen stets miteinander abgewogen werden. Das gilt im na-
tionalen wie auch im internationalen Bereich und muss
jetzt auch in einen entsprechenden Nachhaltigkeitspro-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Birgit Homburger
13721
zess münden, muss umgesetzt und im Einzelnen definiert
werden.
Ärgerlich an der ganzen Sache ist zweierlei: Erstens.
Statt den Prozess anzustoßen, haben Sie mit Ihrem Antrag
eine Rolle rückwärts vorgelegt, indem Sie alte ökologi-
sche Steckenpferde aus der Mottenkiste holen und ihnen
ein neues Mäntelchen umhängen. Damit schaden Sie der
Gesamtidee, Frau Burchardt.
Sie haben zweitens die Opposition mehrfach eingela-
den, Experten für den Nachhaltigkeitsrat zu benennen. Ich
habe Ihnen mit Schreiben vom April dieses Jahres eine ge-
eignete Persönlichkeit vorgeschlagen. Bis heute gibt es
keinerlei Entscheidung. Am 26. Juli dieses Jahres hat der
Minister auf nochmalige Nachfrage immerhin mitgeteilt,
dass der Bundeskanzler beabsichtige, einen entsprechen-
den Nachhaltigkeitsrat einzusetzen. – Das ist alles.
Die Art und Weise Ihres Handelns erstickt jede Begeis-
terung für die Idee und frustriert diejenigen, die sich gerne
für die Nachhaltigkeitsstrategie einsetzen wollen.
Das Fazit ist: Ihr wortreicher Antrag hat einzig und al-
lein die Funktion, Ihre nachgewiesene Untätigkeit zu ver-
nebeln.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter
von der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Vor mehr als drei Jahren hat-
ten wir hier eine Debatte zum nationalen Umweltplan. Ei-
nen ersten Vorschlag hatte Frau Merkel im Frühjahr 1998
gemacht. Er scheiterte jedoch am Kabinett und am Wahl-
ergebnis. Die Zeit ist nun ins Land gegangen; auf den Plan
warten wir noch heute.
Nun soll unter Rot-Grün eine umfassende nationale
Nachhaltigkeitsstrategie entworfen werden. Wir begrü-
ßen das im Grundsatz, sind aber angesichts verschiedener
Zeichen etwas skeptisch. Ein zentraler Punkt dieser Stra-
tegie soll sein, dass sie interdisziplinär und unter Beteili-
gung der Öffentlichkeit erarbeitet wird.
Nun tagt seit Anfang des Jahres – seit dem 26. Juli auch
offiziell – der Staatssekretärsausschuss zur nachhalti-
gen Entwicklung. Dieser Ausschuss besteht anscheinend
aus Geheimräten;
denn aus dem Gremium dringt nichts nach außen –
Abschottung total, von Transparenz oder gar Partizipation
keine Spur. Nun könnte man sagen: Sollen die einmal die
heiklen Ressortabstimmungen etwas glätten. Schließlich
gibt es noch den Rat fürNachhaltigkeit, der nun aus Per-
sönlichkeiten des öffentlichen Lebens zusammengesetzt
werden soll. In diesem Rat sollen relevante gesellschaft-
liche Gruppen vertreten sein; durch die VIPs ist Öffent-
lichkeit ja per se hergestellt. Nur leider liegt die Mappe
mit den – wiederum geheimen – Namensvorschlägen seit
Monaten auf dem Tisch des Bundeskanzlers und wird je-
den Montag abgestaubt.
Hier scheint keine rechte Aufbruchstimmung zu herr-
schen. Meine Kollegen von den Grünen sind da nur zu be-
dauern. Oder ist das Ganze eine geschickte Strategie? Die
Regierungsressorts arbeiten im Untergrund, stellen schon
einmal Weichen, deren Richtung der Öffentlichkeit in
Häppchen gnädig verkündet wird. Wenn dann endlich al-
les nach dem Geschmack der SPD – besser gesagt: in Ab-
stimmung mit der Auto- und EVU-Lobby – zurechtge-
schoben wurde, wird noch feierlich das Geheimnis der
geadelten Persönlichkeiten des imaginären Rates für
Nachhaltigkeit gelüftet. Für eine tatsächliche Beteiligung
der Öffentlichkeit ist es dann aber leider zu spät.
Spannend wäre auch, zu wissen, wer eigentlich eine
„Person des öffentlichen Lebens“ und was eine „relevante
gesellschaftliche Gruppe“ ist. Der Dreiklang zwischen
Sachkompetenz, politischer Vielfältigkeit und dem An-
spruch, wirklich bekannte Gesichter in den Rat einzubin-
den, ist schließlich nicht so einfach herzustellen. Ist eine
„relevante gesellschaftliche Gruppe“ auch eine, die nicht
nur Chancen und Risiken dieser oder jener Entwicklung,
beispielsweise der Globalisierung, abwägt? Freut sich Rot-
Grün auch über Leute, die gelegentlich die auf totale Ge-
winnmaximierung ausgerichteten ökonomischen Strukturen
unseres Wirtschaftssystems grundsätzlich thematisieren?
Ich bin auch da skeptisch, denn in den Gremien dieses Hau-
ses wurde doch bisher jede Position marginalisiert, die das
böse Wort „Kapitalismus“ in den Mund nimmt.
Der Anteil der profitorientierten Marktwirtschaft an dem
gigantischen Ressourcenverbrauch und der ständig wach-
senden Kluft zwischen Arm und Reich auf dieser Erde
wird hier nicht gerne hinterfragt.
Ich möchte nicht missverstanden werden: Eine natio-
nale Nachhaltigkeitsstrategie wäre sicher ein Fortschritt.
Wenn sie allerdings nicht in eine ernsthafte Diskussion
um die grundsätzliche Organisation unserer Produktions-,
Verteilungs- und Lebensweisen eingebettet wird, wird sie
eine Spielwiese für Regierungsbeamte, Vorzeigepromis
und Jetset-NGOs. Die Abrechnung des Erreichten wird
später einmal nichts anderes als eine peinliche Chronik
des Versagens werden.
Als
nächster Redner hat der Kollege Franz Müntefering von
der SPD-Fraktion das Wort.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Birgit Homburger
13722
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Unsere Gesellschaft und un-
sere Politik befinden sich in einer Phase der Orientierung.
Die kurzatmige Politik der Konkurrenz zwischen den bei-
den großen Blöcken und Systemen ist obsolet, seitdem
vor zehn Jahren das eine System in die Knie gegangen ist.
Jetzt muss unsere soziale Marktwirtschaft zeigen, dass
sie mehr ist als ein System, das der Planwirtschaft überle-
gen ist. Sie muss zeigen, ob und wie sie tauglich ist, nicht
nur Wohlstand und Lebensqualität zu schaffen, sondern
beides dauerhaft, über Zeit und Generationen hinweg, zu
sichern.
Dabei wissen wir: Markt ist nicht von Natur aus sozial.
Er ist auch nicht von Natur aus auf Dauerhaftigkeit aus-
gerichtet. Er will das Optimum jetzt. Generationenge-
rechtigkeit ist nicht seine Sache. Messlatte ist allzu oft die
aktuelle Jahresbilanz, vielleicht noch der Produktzyklus
oder die Amtsdauer eines Vorstandsvorsitzenden.
Aber wir Politiker sind da nicht immer besser und klü-
ger. Der Vierjahresrhythmus der Wahlen verführt in der
Demokratie leicht dazu, in Legislaturbilanzen zu denken
und die politische Praxis zu stark auf die nächsten Wahl-
termine auszurichten.
Nicht immer haben wir den Mut, Beweis zu führen und
Mehrheiten zu suchen für die Wahrheit, dass die Politik
von heute und für heute nur richtig sein kann, wenn ihre
Konsequenzen auch morgen und übermorgen tragfähig
sind.
Ohne Frage, die Regierung Kohl hat in wesentlichen
Bereichen, mindestens in den 90er-Jahren, durch das
Schielen auf Wahltermine oder aus Unfähigkeit nicht ge-
tan, was unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit
hätte getan werden müssen. Sie hat Probleme aufgebaut
und nicht gelöst.
Was wir gemeinhin Reformstau nennen, beschreibt das
Gewicht dieser Unterlassung nur unvollständig. Staus lö-
sen sich bekanntlich auf, verschlafene oder falsche Poli-
tik kann aber unabweislich in die Sackgasse führen.
Die Förderung der Familien, der Bundeshaushalt, der
Verbraucherschutz, die Steuerpolitik als Impuls für das
Wachstum, die Energiepolitik, die Alterssicherung, die
Mobilitätsfrage, der Schutz der Umwelt,
die Qualifizierungslücke – eine lange Liste der Versäum-
nisse aus den 90er-Jahren. Einiges haben wir inzwischen
wenden oder in Bewegung setzen können. Aber keine
Frage, die Herausforderung bleibt gewaltig und dabei sind
europäische und weiter gehende internationale Fragen
noch nicht einmal angesprochen.
Drei Aspekte, die im Antrag der Koalition vorkommen
und die meines Erachtens von besonderem Gewicht sind,
will ich kurz skizzieren:
Erstens. Nachhaltigkeit hat eine internationale Di-
mension.Was wir unter Globalisierung diskutieren, ist ja
nur die andere Facette der gleichen Herausforderung.
Aber es ist richtig: Eine nationale Strategie in Sachen
Nachhaltigkeit muss entwickelt werden.
Der Rat für nachhaltige Entwicklung, der Staats-
sekretärsausschuss für diesen Bereich, die Erarbeitung ei-
ner nationalen Strategie zur Nachhaltigkeit und die Be-
reitstellung von Finanzmitteln für diese Aufgaben im
Bundeshaushalt sind richtige Schritte. Sie sind ein Erfolg
des Parlaments. Wir Sozialdemokraten werden dafür sor-
gen, dass diese institutionelle Ebene, die jetzt organisiert
ist, wirksam wird. Wir sollten uns noch in dieser Legisla-
turperiode hier im Parlament zu einer Debatte über dieses
Thema wiedersehen und eine Zwischenbilanz der Arbeit
und nötige Konsequenzen ziehen.
Der zweite Aspekt ist die Akzeptanzsteigerung,
Punkt 5 im Forderungskatalog des Antrags. In unserem
Antrag wird die Notwendigkeit einer breiten Medien- und
Bildungsoffensive zum Thema Nachhaltigkeit betont.
Forschung und Werbung müssen mit ihren Möglichkeiten
qualifiziert einbezogen werden.
Am überzeugendsten aber sind gute Beispiele, Prakti-
sches, Nachvollziehbares und Erlebbares: die Gewissheit,
dass das, was zum Essen auf den Tisch kommt, gesund
und nicht vergiftet ist; eine konsequente Entschuldungs-
politik in den öffentlichen Haushalten; ein umfassendes
Qualifizierungsangebot für die nachwachsende Genera-
tion in Hochschulen und Unternehmen; Güter, die tatsäch-
lich zunehmend statt auf der Straße auf der Schiene und
auf dem Wasser transportiert werden; eine Politik, die
nicht die Ökosteuer,
sondern die Abhängigkeit vom Öl bekämpft.
Nachhaltigkeit ist ein Synonym für den Bau von
Brücken in die Zukunft. Aber solche Brücken brauchen
immer auch ein festes Widerlager in der Gegenwart.
Nachhaltigkeit darf nicht neben oder über den alltäglichen
Fachpolitiken diskutiert werden, sie muss Teil jeder Fach-
politik sein, sonst bleibt sie ohne Wirkung. Wir brauchen
keine Nachhaltigkeit plus Fachpolitiken, sondern wir
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000 13723
brauchen Nachhaltigkeit und konkrete nachhaltige Fach-
politiken. Das ist die Aufgabe, die wir mit dieser Debatte
noch einmal verdeutlichen wollen.
Drittens. Nachhaltigkeit ist ein sperriger und undeutli-
cher Begriff,
manchmal in Gefahr, zu inflationieren. Für die Vermittel-
barkeit unseres Anliegens ist die richtige Begrifflichkeit
aber wichtig.
Ich will jetzt kein neues Wort kreieren, aber einen Ge-
danken beisteuern, von dem ich glaube, dass er die Ver-
mittelbarkeit unserer Anliegen erleichtern kann. Es geht
beim Thema Nachhaltigkeit um grundlegende Werte-
fragen.
Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind Grundwerte
unserer Politik. Ich gehe davon aus, dass sich jeder im
Hause dazu bekennt. Freiheit, Gerechtigkeit und Solida-
rität haben ihre konkreten Bezüge außer zur Gegenwart
immer auch zur Vergangenheit und zur Zukunft. Genera-
tionengerechtigkeit – ein Wort, das beim Thema Alterssi-
cherung eine wichtige Rolle spielt – gilt für die ganze Pa-
lette der Nachhaltigkeit ebenso wie Freiheit und Soli-
darität.
Wir wollen deutlich machen, dass es bei der Nachhal-
tigkeit um etwas geht, das an den Grundlagen unserer Po-
litik rührt, nämlich an die Werte und an die Frage, welches
eigentlich die Zielsetzungen unserer Politik sind. Denn
wir haben Verantwortung auch für die Zukunft.
Dass wir das Thema heute hier diskutieren, ist gut;
denn ich denke, alle Anwesenden sind sich bewusst, dass
das Thema unserer Stunde eines ist, das in der täglichen
öffentlichen, politischen Debatte bisher keinen hinrei-
chenden Rückhalt gefunden hat. Uns muss bewusst sein,
dass wir die Grundwertedebatte mit der Thematik der
Nachhaltigkeit verknüpfen müssen. Noch ist in der Fach-
politik nicht hinreichend klar – das sage ich nicht partei-
politisch –, dass Nachhaltigkeit nicht etwas ist, was ir-
gendwo wie eine Wolke über uns schwebt. Vielmehr
betrifft sie jede einzelne Fachpolitik.
Deshalb bleibt es so wichtig, daran zu erinnern und
dafür zu sorgen, dass Nachhaltigkeit in den einzelnen Be-
reichen der Politik, die wir zu verantworten haben,
zukünftig auf jeden Fall dazugehört. Wir dürfen nicht
viele Stunden über Fachpolitik und nur zwischendurch
einmal eine Stunde über Nachhaltigkeit reden. Vielmehr
muss die Nachhaltigkeit Eingang in alle fachpolitischen
Bereiche finden. Die Sozialdemokraten werden Schritt
für Schritt ihren Teil dazu beitragen.
Als letz-
ter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kol-
lege Helmut Lamp von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Nachhaltigkeit ist das Thema.
Wir haben gehört: Die Erarbeitung der Nachhaltigkeit ist
Chefsache oder soll zur Chefsache werden.
Über weite Strecken der Diskussion saß auf der Regie-
rungsbank nur die Staatssekretärin Simone Probst, die
nicht repräsentativ für diese Regierung ist; denn sie ist
sehr sympathisch.
Nach dem vorliegenden Antrag sollen Nachhaltig-
keitsstrategien erarbeitet werden. Die Fraktionen der SPD
und der Grünen haben einen weiten Bogen gespannt. Ich
möchte mich auf einen Bereich konzentrieren und den
weiten Bogen nicht spannen, und zwar aus einem sehr ak-
tuellen Grund, der hier auch teilweise schon genannt
wurde. Ich möchte mich auf einen im Antrag genannten
Bereich konzentrieren: Umwelt, Gesundheit, Ernährung,
die nachhaltige Entwicklung ländlicher Räume.
Gerade dieser Bereich ist aus gegebenem Anlass, der
kurz erwähnt wurde, sehr aktuell und in seiner Nachhal-
tigkeit gefährdet. Es ist mir ein Bedürfnis – als letzter
Redner dieser Debatte mute ich Ihnen dies zu –, mich die-
sem Punkt zu widmen.
Der Boden – und damit der ländliche Raum insge-
samt – ist, wie es schon gesagt wurde, durch die Krank-
heit Scrapie und BSE gefährdet. Nicht auszuschließen ist,
dass sich diese Krankheit auch über den Boden verbreitet.
Die Traberkrankheit der Schafe, auch Scrapie genannt, ist
bereits seit dem 18. Jahrhundert bekannt.
– Ich rede über die nachhaltige Nutzung des ländlichen
Raumes und über die Gefährdung des Bodens sowie da-
rüber, dass hier aktuell Handlungsbedarf besteht. – Im
18. Jahrhundert gab es noch keine Fütterung der Schafe
mit Kraftfutter.
Vor einigen Jahren erkrankte auf Island eine Schaf-
herde. Sie wurde abgeschlachtet. Danach wurden scra-
piefreie Schafe importiert. Einige Jahre später erkrankten
auf derselben Fläche wieder Schafe, sodass es sehr wahr-
scheinlich ist – es ist natürlich nicht wissenschaftlich be-
wiesen –, dass die Böden durch diese Krankheit nachhal-
tig gefährdet sind.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Franz Müntefering
13724
Es gibt einen eigenartigen BSE-Erkrankungsfall in
meinem Heimatland Schleswig-Holstein, in Hörsten; Sie
wissen es. Es ist richtig, dass die Flächen dieses Betriebes
vorsorglich unter besondere Beobachtung gestellt wer-
den. Im Sinne der Nachhaltigkeit ist aber zu überlegen, ob
nicht auch die Flächen, auf denen Importrinder aus Eng-
land grasten, unter Beobachtung gestellt werden müssen.
Meine Damen und Herren, es gibt weiteren unmittel-
baren Handlungsbedarf in einem ganz speziellen Bereich
der Landwirtschaft: Vor einer Woche haben wir hier das
Gesetz über das Verbot des Verfütterns, des innergemein-
schaftlichen Verbringens und der Ausfuhr bestimmter
Futtermittel beschlossen. Dieses Gesetz hat mehr Fehler
als ein Hund Flöhe.
Dass nach wie vor Fleisch aus Ländern importiert wer-
den darf, in denen nach BSE gar nicht gesucht wird, ist ei-
ner dieser Fehler; aber das ist hier nicht das Thema. Mir
geht es darum, dass Fleischmehl in unbegrenzter Menge
eingeführt werden darf, wenn mit ihm die Böden gedüngt
werden sollen. Von den Bioland-Verbänden und den Ver-
bänden aus der alternativen Szene wird diese Art der Dün-
gung mit Fleischmehl und Knochenmehl seit Jahrzehnten
empfohlen. Die Böden sind dadurch extrem gefährdet.
Wir wissen seit einer Woche, dass das Risikomaterialien
sind. Wir lassen es immer noch zu, dass unsere Böden
hiermit gedüngt werden. Das ist nicht nachvollziehbar
und nicht akzeptabel und es wäre ein Skandal – auch im
Sinne der Nachhaltigkeit –, wenn dies noch länger hinge-
nommen werden würde.
Mit großem Ernst und Nachdruck und mit Blick auf die
Nachhaltigkeit, über die wir heute sprechen, fordere ich
die Bundesregierung auf, alle Möglichkeiten zum soforti-
gen Verbot der Düngung mit Tiermehl auszuschöpfen und
dieses Verbot so schnell wie möglich auf EU-Ebene um-
zusetzen. Mitgliedsbetriebe von Verbänden, die die Dün-
gung mit Tiermehlen empfehlen, müssen gewissenhaft
überprüft werden. Flächen, die möglicherweise mit Tier-
mehlen gedüngt wurden, müssen besonders beobachtet
werden und sind so schnell wie möglich gewissenhaften
wissenschaftlichen Untersuchungen zu unterziehen.
Vergessen Sie über die Erarbeitung von Anträgen nicht die
aktuelle Bedrohung der Nachhaltigkeit in den ländlichen
Räumen und handeln Sie jetzt und unverzüglich!
Ich
schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überwei-
sung der Vorlage auf Drucksache 14/4606 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Irmgard Schwaetzer, Dr. Heinrich L. Kolb,
Dirk Niebel, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der F.D.P.
Reform des Tarifvertragsrechts
– Drucksache 14/2612 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
F.D.P. sieben Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wi-
derspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner erteile
ich dem Kollegen Dr. Heinrich Kolb von der F.D.P.-Frak-
tion das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wenn man nicht genau wüss-
te, dass die F.D.P. den heute zur Beratung stehenden An-
trag schon am Anfang dieses Jahres vorgelegt hat,
könnte man auf die Idee kommen, er sei durch das erst
kürzlich vorgelegte Gutachten des Sachverständigenrates
angeregt worden.
Der Sachverständigenrat benennt in seinem Gut-
achtenmit dem Titel „Chancen auf einen höheren Wachs-
tumspfad“ mit Blick auf den Arbeitsmarkt ganz klar das
Problem:
... inwieweit die institutionellen Regelungen nicht
systematisch falsch gesteuert haben und ob nicht
stärker nach anderen institutionellen Wegen bei der
Gestaltung von Arbeitsverträgen gesucht werden
muss, die der Differenziertheit bei der Vielzahl der
Arbeitnehmer und Unternehmen mehr Beachtung
schenken und die es möglich machen, die hohe Ar-
beitslosigkeit zurückzuführen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und den
Grünen, hören Sie zu: Der Sachverständigenrat fordert
weiter:
Um die schubweise angestiegene Arbeitslosigkeit zu
verringern, sollte man angesichts der großen Vielfalt
der unterschiedlichen Bedingungen in den Unter-
nehmen einen größeren Spielraum für dezentrale
Ansätze bei der Lohnfindung ins Auge fassen.
Der Sachverständigenrat nennt dazu drei Wege:
Er nennt erstens Lösungen auf der Grundlage des be-
stehenden Tarifvertragsystems: Er weist darauf hin, dass
ein solcher Weg bisher nur zaghaft beschritten wird. Ich
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Helmut Lamp
13725
sage dazu: Wir werden mit diesen tarifvertraglichen Öff-
nungsklauseln nicht weiter kommen, da solche erst ver-
einbart werden, wenn sich die wirtschaftliche Situation
der Betriebe und Unternehmen schon deutlich ver-
schlechtert hat. Selbst in starken Wirtschaftsbranchen
– aber auch da gibt es Unternehmen in Not – konnten die
Arbeitgeberverbände eine solche Härteklausel im Flä-
chentarifvertrag bisher nicht durchsetzen.
Der Sachverständigenrat benennt als zweite Möglich-
keit den Austritt aus den Verbänden: Das geschieht in
Deutschland – davor können Sie doch nicht die Augen
verschließen – massenhaft. Das muss doch die Gewerk-
schaften und ihre Freunde in der SPD zum Nachdenken
verleiten.
– Ich verstehe Ihre Aufregung.
Dazu kommt, dass der Sachverständigenrat feststellt,
dass auch in den Betrieben, die nicht aus den Verbänden
austreten,
gleichwohl Betriebsvereinbarungen zwischen Unterneh-
mensleitung und Betriebsrat getroffen werden, obwohl sie
in den Branchenverträgen nicht vorgesehen und damit ei-
gentlich rechtlich unzulässig sind.
Der dritte Weg besteht nach dem Gutachten des Sach-
verständigenrats – Ihres Sachverständigenrats, wenn ich
das dazusagen darf – darin, die in dem gesetzlichen Re-
gelwerk enthaltenen Fehlanreize zu beseitigen. Das ist der
Weg, den wir mit dem vorliegenden Antrag vorschlagen.
Der Sachverständigenrat führt auch aus, dass § 77
Abs. 3 Betriebsverfassungsgesetz zu den am meisten
missachteten Normen im deutschen Arbeitsrecht zählt.
Wir wollen diesen dritten Weg, den der Sachverständi-
genrat vorschlägt, gangbar machen und deswegen kann
jeder, der es mit mehr Beschäftigung ernst meint, unserem
Antrag nur zustimmen.
Nun gibt es außer dem Sachverständigenrat und der
F.D.P., die sich offen zu der gerade geäußerten Ansicht be-
kennen, noch andere, die zwar wissen, was in diesem
Bereich geschehen müsste, die sich aber doch nicht recht
trauen; sie sind heute nur in relativ geringer Zahl vertre-
ten. Nicht nur der Vorsitzende der Fraktion von Bünd-
nis 90/Die Grünen, sondern auch andere namhafte Vertre-
ter seiner Fraktion, haben das Problem erkannt. Ich zi-
tiere: „Wir müssen uns der tarifpolitischen Realität stellen
und vernünftige Lösungen suchen.“ Das sagt Frau Scheel.
„Wir müssen das Tarifrecht der Realität anpassen.“ Das
sagt die Kollegin Michaele Hustedt. Da kann ich nur sa-
gen: Dann machen Sie es doch und stimmen Sie unserem
Antrag zu!
Leider haben Sie sich, Frau Dückert, und haben sich
andere Kollegen Ihrer Partei von ihrem Parteivorstand an
die Kette legen lassen. Sie haben Ihren Fraktionsvorsit-
zenden demontiert und stehen jetzt wie die begossenen
Pudel da.
Die „Dresdner Neuesten Nachrichten“ schrieben in einem
Kommentar – man muss sich das auf der Zunge zergehen
lassen –:
Den grünen Weicheiern fehlt der Mut, um die wirk-
liche Alternative zur F.D.P. zu werden.
Das ist Fakt und deswegen, Frau Dückert, muss ich Ihnen
sagen: Es genügt nicht, sonntags über den Mittelstand zu
reden. Praktische Mittelstandspolitik sieht vielmehr so
aus, wie wir das mit unserem Antrag vorschlagen. Des-
wegen gibt es zu ihm keine Alternative.
Um diesen Fehlentwicklungen Rechnung zu tragen,
halten wir Freidemokraten es für dringend notwendig, der
dezentralen Lohnfindung einen größeren Freiraum zu
verschaffen. Das wird die Unternehmen ermutigen, neue
Arbeitsplätze zu schaffen, und es wird dazu beitragen,
dass Arbeitsplätze und Existenzen sowohl von Arbeitge-
bern als auch von Arbeitnehmern nicht unnötig verloren
gehen.
Tatsache ist doch, Frau Lotz, dass die Großkonzerne in
Deutschland, die Kanzlerunternehmen, keine Probleme
haben, auf auftretende Schwierigkeiten mit Haus- oder
Sanierungstarifverträgen zu reagieren. Die sonst so
kämpferische IG Metall hat mit einer Reihe von Dienst-
leistungsunternehmen, darunter die Debis AG, Ergän-
zungstarifverträge geschlossen, nach denen das Jahres-
einkommen um bis zu maximal 15 Prozent unterschritten
werden kann. Wenn es wirklich ernst wird, dann kommt
auch noch der Bundeskanzler höchstpersönlich als Retter
in der Not, wie etwa bei Holzmann. Dieses Herumgeeiere
bei Holzmann war unerträglich.
Deswegen fordere ich: Herr Bundeskanzler, geben Sie
auch den kleinen und mittleren Unternehmen Lohnfin-
dungsfreiheit!
Herr Kol-
lege Kolb, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Koppelin?
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Dr. Heinrich L. Kolb
13726
Sehr gern.
Bitte
schön, Herr Koppelin.
Herr Kollege Kolb, fällt
Ihnen eigentlich auf, dass die SPD jedes Mal, wenn über
ein solches Thema wie jetzt im Plenum diskutiert wird,
nur Gewerkschaftssekretäre sprechen lässt?
Herr Kollege Koppelin,
das ist richtig. Aber es ist für die SPD relativ schwer, je-
mand anderen zu benennen, weil im Ausschuss für Arbeit
und Sozialordnung – wenn ich das richtig sehe – für die
SPD fast ausschließlich Gewerkschaftssekretäre sitzen.
Wir wollen, dass die kleinen und mittleren Unterneh-
men nicht länger in den rechtsfreien Raum abgedrängt
werden. Wir schlagen eine Neufassung des § 77 Abs. 3
des Betriebsverfassungsgesetzes vor, damit dem Mittel-
stand – das betrifft Unternehmen, die eher fünf als 1 000
Beschäftigte haben – die Möglichkeit gegeben wird, zu-
sammen mit den Belegschaften betriebliche Bündnisse
für Arbeit zu schließen. Nach unserer Auffassung sollen
solche Vereinbarungen möglich sein, wenn sie freiwillig
geschlossen werden und wenn 75 Prozent der abstim-
menden Mitarbeiter zugestimmt haben.
Wir Liberalen – das möchte ich sehr deutlich sagen –
verkennen nicht die Ordnungs- und Befriedungsfunktion
von Flächentarifverträgen und schlagen deswegen auch
nicht deren Abschaffung vor. Aber wir wollen den Betrie-
ben, den Unternehmern und den Arbeitnehmern, eine Op-
tion an die Hand geben, die es ihnen ermöglicht, wirt-
schaftlich schwierigen Situationen adäquat zu begegnen.
Wir brauchen wieder mehr Betriebsautonomie und weni-
ger Tarifautonomie in Deutschland.
Es ist paradox, dass Sie von der Koalition einen Ent-
wurf zur Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes vor-
legen wollen, demgemäß die Belegschaften und die Be-
triebsräte über alles reden dürfen, aber der Kernbereich,
die Lohnfindung, weiterhin zum Tabu erklärt wird. Das
kann und darf nicht sein. Deswegen kämpfen wir für
Lohnfreiheit in den Betrieben.
Wir schlagen vor – das ist rechtlich einwandfrei –, mit
der Änderung des § 77 Abs. 3 des Betriebsverfassungs-
gesetzes auch das Günstigkeitsprinzip in § 4 Abs. 3 des
Tarifvertragsgesetzes zu erweitern. Ich zitiere zum letzten
Mal aus dem Gutachten des Sachverständigenrates:
Das Regelwerk für Arbeit muss aus gesamtwirt-
schaftlicher Sicht überdacht werden, wenn das Ziel
der Vollbeschäftigung ernst genommen wird.
Diesem Ziel fühlen wir Freidemokraten uns noch immer
verpflichtet. Deswegen haben wir unseren Antrag vorge-
legt und deswegen bitte ich um Ihre Zustimmung.
Vielen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Klaus Brandner von der
SPD-Fraktion das Wort.
Klaus Brandner (von der SPD mit Beifall be-
grüßt): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Ja, Herr Koppelin, ich bin stolz, dass ich
ein Gewerkschaftssekretär bin; denn ich bin stolz auf
meine Organisation, weil diese viel zum sozialen Fort-
schritt in diesem Lande beigetragen hat. Das möchte ich
hier einmal ganz deutlich sagen. Insofern werte ich Ihren
Einwand positiv.
Wenn Vertreter der F.D.P. zu diesem Thema reden, dann
reden Unternehmer oder Unternehmerverbandsfunk-
tionäre. Die Gewerkschaften dagegen sind breite demo-
kratische Organisationen, die sehr viel für dieses Land ge-
tan haben, insbesondere auch für den Erhalt von
Arbeitsplätzen.
Herr Kolb, Sie haben mit Ihrer Rede eindrücklich un-
ter Beweis gestellt, dass die F.D.P. die Entrechtung der Ar-
beitnehmer zum Programm erklärt hat. Auch das muss
hier deutlich festgestellt werden.
Im Übrigen: Wir beraten – Sie haben darauf hingewie-
sen – einen Antrag der F.D.P..Allerdings muss ich mich
fragen, aus welcher Schublade Sie diesen gezogen haben.
Denn es ist doch wohl richtig, dass Sie diesen Antrag be-
reits Anfang Januar gestellt haben. Sie hielten es wohl für
besser, ihn erst einmal verschwinden zu lassen; schließ-
lich wäre Ihnen im Frühjahr dieses Jahres eine Diskussion
über die Reform des Tarifvertragsrechts nicht gerade zu-
pass gekommen.
– Wir bleiben bei der Wahrheit. – Denn im März sind in
diesem Lande Tarifabschlüsse zustande gekommen – ich
bin überzeugt, Sie erinnern sich –, die von der Wirtschaft,
den Gewerkschaften und von der Gesellschaft ausdrück-
lich begrüßt wurden.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000 13727
Selbst die Bundesbank, der sonst so kritische Sachver-
ständigenrat, den Sie hier erneut zitiert haben, ausländi-
sche Investoren und sogar der von Ihnen so oft in An-
spruch genommene Mittelstand haben die Erfolge des
Bündnisses für Arbeit ausdrücklich gelobt.
Sie haben dieses Lob ausgesprochen, weil sich die Bünd-
nispartner für eine langfristige und wirksame Tarifpolitik
zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ausgesprochen ha-
ben. Das, nämlich ein funktionierendes Bündnis für Ar-
beit, haben Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren
von der F.D.P., aber auch von der größten Oppositions-
partei, in all den Jahren Ihrer Regierungszeit wirklich
nicht zustande gebracht.
Ihr Gezeter – ich sage das einmal so deutlich – von zu
hohen und zu wenig differenzierten Tarifstandards, von
mangelnder Flexibilität und von Überregulierung gehört
anscheinend zu Ihrem politischen Programm.
„Tarifautonomie darf nicht länger Bestand haben“, for-
derte Otto Graf Lambsdorff 1995. Damals war er noch
Mitglied und wirtschaftspolitischer Sprecher Ihrer Frak-
tion. Sie haben schon damals mit Ihren abenteuerlichen
Ideen allein auf weiter Flur gestanden.
Entsprechend Ihren Forderungen soll insbesondere die
Verschlechterung bzw. die Beseitigung tarifvertraglicher
Ansprüche immer dann zugelassen werden, wenn dem
mindestens 75 Prozent der Belegschaft zustimmen. BDA-
Präsident Hundt hat Ihren Vorschlag – völlig zu Recht, so
meine ich – als völlig inakzeptabel zurückgewiesen.
Ein Viertel der Arbeitnehmer würde gegen seinen erklär-
ten Willen zum Verzicht auf Rechte aus dem Flächenta-
rifvertrag gezwungen. Ein solches – ich zitiere – „Be-
triebskartell zur Aushebelung der von der Verfassung
garantierten Tarifautonomie“ hat er ausdrücklich abge-
lehnt,
wie im „Handelsblatt“ vom 23. Mai 2000 nachzulesen ist.
Herr Kol-
lege Brandner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Kolb?
Bitte.
Bitte
schön, Herr Kolb.
Herr Kollege Brandner,
es kann doch aber nicht richtig sein, dass sich, wie im
Falle Viessmann, der weit überwiegende Teil der Beleg-
schaft für eine bestimmte Regelung ausspricht, die der Si-
cherung von Arbeitsplätzen gedient hätte, und dass die
Einigung am Einspruch eines der Tarifpartner scheitert.
Sehen Sie nicht, dass der Gleichheitsgrundsatz verletzt
wird? Bei Holzmann wurden alle Anstrengungen unter-
nommen, um den Tarifvertrag gegen den Widerstand der
Tarifpartner auszulegen, während dies bei Viessmann
nicht möglich sein soll. Wir wollen schlicht und ergrei-
fend gleiches Recht für alle. Das ist das Anliegen unseres
Antrags.
Sie haben das Funktionieren
der Tarifautonomie immer noch nicht verstanden. Die Ta-
rifautonomie ist letztlich das Instrument, das die Waffen-
gleichheit zwischen Arbeitnehmern und Betrieben über-
haupt herstellt.
Zum Fall Holzmann werde ich noch kommen. Im Fall
Viessmann standen die Arbeitnehmer vor der Alternative,
dass entweder der Betriebsstandort verlagert wird oder
die tarifvertraglichen Bestimmungen geändert werden.
Das war ein Beispiel für eine Situation, in der sich die Ar-
beitnehmer extrem unter Druck gesetzt fühlen müssen.
Eine solche Situation ist eines Sozialstaats unwürdig und
mit einer sozialdemokratischen Bundesregierung nicht zu
machen.
Herr Kol-
lege Brandner, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Göhner?
Herr Göhner, bitte.
Herr
Göhner, bitte schön.
Herr Kollege
Brandner, wären Sie bereit, den Kollegen Kolb darauf
hinzuweisen, dass die abweichenden Vereinbarungen im
Falle der Firma Viessmann bereits nach geltendem Recht
– jedenfalls nach Auffassung des Gerichts, das über den
Fall in erster Instanz entschieden hat – zulässig waren?
Ich möchte dazu nicht viel
mehr sagen; Sie haben Herrn Kolb soeben die nötigen
Hinweise gegeben. Was wir vornehmen, ist im Kern eine
politische Bewertung. Eine erstinstanzliche Entscheidung
ist nichts Abschließendes.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Klaus Brandner
13728
Wir werden dafür sorgen müssen – ich hoffe, mit Ihnen
als Geschäftsführer des BDA –, dass die Tarifautonomie
eine rechtlich wirklich saubere Grundlage bekommt.
Dafür setzen wir uns ein.
Hinter den Überlegungen der F.D.P. kann letztlich
nicht das von Ihnen vorgeschobene Argument stehen – es
wurde eben angesprochen –, dass die Betriebsparteien die
Situation am besten beurteilen können. Denn betriebs-
nahe Lösungen, und das wissen Sie genauso gut wie ich,
sind auch schon heute durch Firmentarifverträge möglich.
Zahllose Öffnungsklauseln und Differenzierungsbe-
stimmungen in Tarifverträgen gewährleisten nämlich
ausreichende Anpassungsspielräume für die betrieblichen
Besonderheiten.
Ich habe am eigenen Leibe erfahren – in meinem Wahl-
kreis sind viele Sanierungstarifverträge verhandelt wor-
den; Herr Göhner ist ja bei mir in der Nachbarschaft –,
dass diese Instrumente letztlich erst dafür gesorgt haben,
dass Unternehmen an der Ursache ihrer Probleme ange-
setzt und Veränderungen eingeführt haben, die den Be-
schäftigten soziale Sicherheit und Schutz gegeben sowie
dazu beigetragen haben, dass die Betriebe wieder gesun-
det sind. Denn oftmals sind nicht die Lohnhöhe und die
Arbeitszeit die Ursache für die Krise, sondern müssen le-
diglich unternehmerische Problemstellungen bewältigt
werden, damit Arbeitsplätze gesichert werden können.
Deshalb: Gesetzliche Öffnungsklauseln, wie Sie sie for-
dern, würden die zwingende Wirkung von Tarifverträgen
aufheben und damit die Tarifautonomie ihrer Funktion
entheben.
Die Möglichkeit, Tarifbedingungen in einer Betriebs-
vereinbarung zu unterschreiten, würde, so will ich deut-
lich feststellen, das Tarifgefüge insgesamt gefährden und
aus Kostengründen zu einem Unterbietungswettbewerb
führen. Eine Lohnabwärtsspirale und damit eine Entrech-
tung der Arbeitnehmer würde zweifellos in Gang gesetzt
werden, und dafür gibt es aus meiner Sicht nicht die ge-
ringste Notwendigkeit.
Das betriebsverfassungsrechtliche Konfliktregelungs-
system kann ein Tarifvertragssystem nicht ersetzen. Ins-
besondere besitzt ein Betriebsrat keine einer Gewerk-
schaft gleichwertige Machtposition und er darf nicht zum
Streik aufrufen, wie Sie wissen. Dem Betriebsrat müsste,
Herr Kolb, dann auch das Recht eingeräumt werden, über
den Tarifvertrag hinausgehende Arbeitsbedingungen, not-
falls im Wege eines Arbeitskampfes, durchzusetzen. Ich
kann mir nicht vorstellen, dass Sie das wirklich wollen.
– Das Gegenteil ist der Fall: In den anderen Ländern ha-
ben wir eine weitaus größere Anzahl von Streiktagen, von
Arbeitsausfällen. Wir sind stolz in diesem Land auf den
sozialen Frieden, der eben deshalb gewahrt ist, weil wir
verbindliche Flächentarifverträge haben.
Schon deshalb lehnt die Mehrheit der Betriebsräte auch
eine verschlechternde tarifliche Öffnungsklausel weitge-
hend ab. Zu diesem Ergebnis kommt zumindest die Stu-
die des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen In-
stituts, die sagt: 77 Prozent der Betriebsräte im Westen
und 75 Prozent der Betriebsräte im Osten sehen eine sol-
che Klausel als zwiespältig bzw. als problematisch an.
Nur 12 Prozent der Betriebsräte im Westen und 9 Prozent
der Betriebsräte im Osten begrüßen eine solche Regelung.
Eben weil sie dem unternehmerischen Druck betrieblich
nur äußerst schwer trotzen können, bevorzugen Betriebs-
räte ausschließlich Regelungen durch die Gewerkschaften.
Ihre Vorstellungen, meine Damen und Herren, sind
nicht nur absolut abenteuerlich, sondern sie zeugen auch
davon, dass Sie nicht wissen, wovon Sie reden:
Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sollen zwar
Tarifverträge abschließen, aber dritte und vierte Parteien
sollen darin herumfummeln, sie abändern und ver-
schlechtern können. Wie würde es Ihnen, insbesondere
Herrn Niebel von der F.D.P., denn gefallen, wenn zum
Beispiel das Wahlgesetz durch den Gemeinderat von Hin-
tertupfingen außer Kraft gesetzt würde und Sie als F.D.P.
dabei hinten herunterfallen würden?
Oder, meine Damen und Herren, stellen Sie sich vor,
man könnte Kauf- und Kreditverträge zwar abschließen,
müsste sich aber nicht daran halten oder, besser noch,
irgendein Dritter könnte die Preise herabsetzen oder die
Zinsen erhöhen. Aber vielleicht geht es Ihnen ja da-
rum, – beispielsweise Ihr neu erworbenes Auto nicht
weiter abzahlen zu müssen, nur weil Sie Ihr Geld in der
Spielbank verzockt haben.
Auch Ihre Forderung nach der Erweiterung des
Günstigkeitsprinzips – nach dem Motto „Besser ein
schlechter Arbeitsvertrag als gar keiner“ – lehnen wir So-
zialdemokraten schlicht ab.
– In Sachen Arbeitslosigkeit haben Sie gerade in der letz-
ten Woche genug Lehrstunden bekommen. Sie müssen
hier doch wohl nicht über wirksame Maßnahmen gegen
Arbeitslosigkeit reden, wenn Sie Ihre Regierungszeit Re-
vue passieren lassen.
In Ihrer Zeit ist die Arbeitslosigkeit quasi auf 5 Millionen
hochgeschnellt, in unserer sinkt sie. Bitte, Herr Niebel,
lassen Sie diese politisch unsachliche Auseinander-
setzung. Mit solchen Zwischenrufen helfen Sie keinem
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Klaus Brandner
13729
Arbeitslosen. Wenn Sie es besser gekonnt hätten, hätten
Sie Gelegenheit genug gehabt, es zu beweisen.
Im Kern jedoch geht es Ihnen nicht darum. Sie wollen
Vertragsbrüche und damit Rechtsbrüche legitimieren. Das
kann man mit einer sozialdemokratisch geführten Bun-
desregierung nicht machen.
Günstig für den Arbeitnehmer wäre nämlich nach Ihrer
Interpretation, wenn Belegschaften auf Löhne oder Ar-
beitszeiten verzichten, um mit zusätzlichen Eigenbeiträ-
gen Betriebsschließungen zu verhindern.
Die Folge wäre, dass unternehmerisches Missmanage-
ment auch noch explizit durch Tarifnachlass honoriert
würde.
– Frau Schwaetzer, was würden Sie eigentlich Herrn
Möllemann sagen, wenn während des Sprungs aus dem
Flugzeug irgendein Dritter beschließt, dass der Fallschirm
geschlossen bleibt oder erst geöffnet wird, wenn die
F.D.P. alle Wettbewerber in der Parteienlandschaft über-
flügelt hat?
Bei Ihrem Gerede vom Lohnverzicht vergessen Sie im-
mer wieder, dass die Lohnnebenkosten – das ist auch
beim Beispiel Viessmann der Fall – nur einen Bruchteil
der Gesamtkosten ausmachen. Es sind also nicht die Ta-
rifverträge, die die Existenz eines Betriebes gefährden.
Dies hat auch der prominente Fall Holzmann gezeigt.
An diesem Desaster waren eindeutig nicht die Löhne
schuld. Das wissen Sie. Es waren vielmehr das Manage-
ment, die Unternehmensführung und oft auch die dahin-
ter stehenden Banken. Die Belegschaft aber sollte die
Suppe auslöffeln. Was haben die kleinen und mittleren
Baubetriebe für ein Gezeter veranstaltet, als Holzmann
und die Banken vom Tarifvertrag abweichende Re-
gelungen forderten?
Sie als die vermeintlich großen wirtschaftspolitischen
Kenner sollten doch eigentlich wissen, dass die Lohn-
stückkosten und nicht der Lohn der entscheidende Faktor
sind.
Die Lohnstückkosten werden entscheidend durch die Pro-
duktivität beeinflusst. Nur mit qualifizierten und moti-
vierten Mitarbeitern wird man diese verbessern können.
Motivierte Mitarbeiter bekommen Sie aber nicht – Herr
Kolb, Sie als Unternehmer wissen das –, wenn Sie ihnen
die Löhne kürzen, sondern nur, wenn Sie sie angemessen
beteiligen.
Oder glauben Sie ernsthaft, dass ein Pferd schneller läuft,
wenn Sie ihm weniger Hafer geben?
Herr Kol-
lege Brandner, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Kolb?
Bitte.
Herr Kollege Brandner,
stimmen Sie mir denn zu, dass Lösungen, die in flächen-
deckenden Tarifverträgen vorgesehen sind, insbesondere
dann, wenn es darum geht, Mitarbeiter in den Unterneh-
men am Gewinn zu beteiligen, regelmäßig nicht ausrei-
chen werden und dass es gerade bei Gewinnbeteiligungs-
modellen einer Vereinbarung auf betrieblicher Ebene
bedarf? Wenn Sie Ihre Aussagen in Bezug auf die Ge-
winnbeteiligung ernst meinen, ist es dann nicht notwen-
dig, dass die Änderungen, die wir hier vorschlagen,
durchgeführt werden?
Herr Kolb, ich habe über-
haupt nichts dagegen. Wir können die Tarifvertragspar-
teien nur ermuntern, solche Regelungen tarifvertraglich
abzuschließen. Es liegt in ihrem freien Ermessen, dies zu
tun. Ich zumindest würde das sehr begrüßen und ich gehe
davon aus, auch die Bundesregierung würde dies tun.
– Herr Göhner hat Sie gerade belehrt. Wunderbar!
Meine Damen und Herren, eine Neufassung des Güns-
tigkeitsprinzips ist jedenfalls nichts anderes als eine De-
gradierung der Schutzwirkung des Tarifvertrages für die
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Klaus Brandner
13730
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, mit der Sie das
System der Tarifverträge insgesamt zur Disposition stel-
len wollen. Aber die Tarifautonomie ist und bleibt eine
zentrale Säule unserer sozialen Marktwirtschaft und un-
serer demokratischen Grundordnung. Daher ist sie für uns
unantastbar.
Meine Damen und Herren von der F.D.P., ich sage es
ganz deutlich: Sie sollten sich ein Beispiel an unserem
Koalitionspartner nehmen.
Der hat mittlerweile eingesehen, dass eine grundlegende
Veränderung des Tarifvertragssystems keinen Sinn macht.
Für die Bundesregierung steht eindeutig fest, dass we-
der für eine Neufassung des Günstigkeitsprinzips noch für
eine substanzielle Änderung des Tarifvorbehalts irgend-
eine Notwendigkeit besteht. Es ist auch gar nicht Aufgabe
des Gesetzgebers, in die Tarifautonomie einzugreifen.
Denn die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes haben
sich etwas dabei gedacht, als sie in Art. 9 festgelegt haben,
dass auf Arbeitnehmerseite allein die Gewerkschaften das
Recht haben, Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu re-
geln. Sie haben bewusst festgelegt, dass eine staatliche
Lohnregulierung keine Alternative zu der freien Tarifau-
tonomie ist.
Meine Damen und Herren, Sie fordern weiterhin die
Abschaffung der Allgemeinverbindlichkeitserklä-
rung. Würde die Allgemeinverbindlichkeitserklärung ab-
geschafft,
hätte dies zur Folge, dass die Aushöhlung von Tarifver-
trägen durch Außenseiter nicht mehr wirksam bekämpft
werden kann.
Den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern könnte ein
sozialer Mindeststandard nicht mehr gewährleistet wer-
den. Allgemeinverbindlichkeitserklärungen schützen also
sowohl Arbeitnehmer als auch Betriebe vor Schmutzkon-
kurrenz. Sie bewahren sie vor dem Absinken des Tarifni-
veaus unter die Sozialhilfesätze.
Es gibt Berufe und Branchen, in denen Löhne von ge-
rade einmal 10 DM pro Stunde gezahlt werden. Sind das
Bedingungen für ein menschenwürdiges Leben oder für
eine freie Entfaltung der Persönlichkeit, meine Damen
und Herren? Ich sage Ihnen: Der Lebensstandard und
Freiräume für eine individuelle Lebensgestaltung können
nur durch verbindliche Tarifverträge und eine funktio-
nierende Tarifautonomie gesichert werden.
Die durchgesetzten Lohnerhöhungen, die es in der Ver-
gangenheit gegeben hat, haben es breiten Bevölkerungs-
schichten erst ermöglicht, die Güter zu erwerben, die für
den täglichen Bedarf und etwas darüber hinaus notwendig
sind.
Herr Kol-
lege, kommen Sie bitte zum Schluss!
Allerdings bestehen sowohl
beim Einkommen als auch beim Vermögen große Unter-
schiede und Ungerechtigkeiten, die Sie, meine Damen
und Herren von der F.D.P. – Herr Kolb, Sie haben das
deutlich gemacht –, offenbar beibehalten bzw. vergrößern
wollen.
Herr Kol-
lege, kommen Sie nun bitte zum Schluss!
Ihr Antrag zur Veränderung
der Tarifautonomie ist das Papier nicht wert, auf dem er ge-
schrieben ist. Nun bin ich wieder am Anfangspunkt meiner
Ausführungen angelangt: Ihr Antrag gehört in die Schub-
lade. Es war ein Antrag aus der Mottenkiste. Sie sollten ihn
einpacken und zur Tagesordnung zurückkommen.
Danke schön.
Als
nächster Redner hat der Kollege Heinz Schemken von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Dr. Kolb, ich
darf für die CDU/CSU-Fraktion feststellen: Wir können
dem Antrag so, wie er formuliert ist, nicht zustimmen,
und zwar deshalb, weil wir der Meinung sind, dass das
wertvolle Gut von Tarifpartnerschaft und Tarifautono-
mie eines gewissen Schutzes bedarf, obwohl die Flächen-
tarifverträge, die ja gesetzliche Vorgabe sind, immer wie-
der in der Diskussion stehen. Ich bedauere mit Ihnen, Herr
Göhner, dass sich hier und da Betriebe nicht an dieses
Konzept gebunden fühlen und Verbände verlassen. Dies
liegt sicherlich auch am Wesen solcher Bindungen, die
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Klaus Brandner
13731
nicht nur für die Arbeitgeber-, sondern auch für die Ar-
beitnehmerschaft langfristig angelegt sind.
Nichtsdestotrotz sollten wir uns dem Anliegen wid-
men, das uns sicher auch in Zukunft nicht loslassen wird:
Garantiert der Tarifvertrag, der zwischen Kapital und Ar-
beit ausgehandelt wurde, Sicherheit der Löhne? Ich frage
das vor dem Hintergrund der Tatsache – ich glaube, auch
darüber sind wir uns einig –, dass die Löhne nur dann si-
cher sind, wenn auch der Arbeitsplatz sicher ist.
Insofern sprechen wir auch über die vertragliche
Grundlage. Naturgemäß sind die Konditionen wie auch
die Vertragszeit entscheidend. Allerdings gehen Tarifver-
träge, wenn sie über eine längere Frist laufen, im Wett-
bewerb an den Erfordernissen des einen oder anderen Be-
triebes möglicherweise vorbei. Dies müssen wir sehen.
Dann aber stellt sich die Gretchenfrage: Wie reagieren
wir dann, wenn Betriebe in wirtschaftliche und finanzi-
elle Schwierigkeiten geraten? Dann sind sowohl die Ar-
beitgeber als auch die Arbeitnehmer gefordert. Wenn
Arbeitsplätze konkret gefährdet sind, dann erlebt man bei
Ansprüchen aus Tarifverträgen erhebliche Einschnitte.
Klaus Brandner hat das soeben aus der Position des Ge-
werkschafters gesagt; aber auch ich habe das als Bürger-
meister über Jahrzehnte mit Betriebsräten erleben dürfen.
Damit werden Verträge brüchig und fragwürdig. Das
muss man einmal feststellen dürfen. Dies ist oft von
schmerzlichen Entscheidungen begleitet. Wenn es aber in
krisengeschüttelten Unternehmen um das Überleben geht
und es einer Regelung bedarf, müssen Arbeitnehmer dies
leisten.
Das sind meine Erfahrungen vor Ort – ich hatte schon
einmal darauf hingewiesen – mit den betrieblichen Pro-
blemen. Diese werden ja insbesondere auch durch die
Konkurrenz aus dem Ausland verstärkt. Wir sind eben
nicht mehr auf einer Insel. Insofern hat sich einiges geän-
dert; das steht außer Frage. Wenn dann ein solcher Kri-
senfall auf das Insolvenzverfahren hinausläuft, kommt oft
die Frage auf – die wollen wir auch ehrlich miteinander
behandeln –: Hätten die Unternehmer für uns, für die Ar-
beitnehmer frühzeitiger etwas zur Rettung der Arbeits-
plätze tun können?
Diese Frage, die wir miteinander behandeln müssen,
geht dann nicht nur an den Unternehmer, sondern auch an
die Beschäftigten und an die Betriebsräte, die ohnehin
durch den Verlust des Arbeitsplatzes betroffen sind. In
diesem Zusammenhang müssen wir ebenso die Frage dis-
kutieren und auch beantworten: Ist das Tarifvertragsrecht
noch genügend flexibel zu handhaben, um dem Anliegen
– Erhalt der Arbeitsplätze – gerecht zu werden? Ich sage
das mit aller Deutlichkeit: Die Tarifpartnerschaft hat sich
in der sozialen Marktwirtschaft als Voraussetzung und
Grundlage für den Betriebsfrieden bewährt, auch für den
sozialen Frieden insgesamt.
Das ist so; das ist auch anhand der Anzahl der Streiktage
und anhand dessen nachweisbar, was man als sonstige Pa-
rameter heranziehen kann.
In „Schlechtwetterzeiten“ allerdings ist eine starre
Bindung – das sage ich ebenfalls ausdrücklich – in der
Fläche für das Handeln im konkreten Einzelfall hier und
da auch sehr hinderlich. Ich stehe ohne Wenn und Aber
– damit auch das klar ist und ich hier nicht missverstan-
den werde – zur Tarifautonomie. Aber oft ist es eben zu
spät, in Abwägung des einzelnen Konfliktfalles die
notwendigen Schritte für den Erhalt der Arbeitsplätze zu
tun. Das ist das Entscheidende in der Situation des Insol-
venzfalles.
– Ja, weil das eine ganz schwierige Sache ist, Herr
Dr. Kolb; die kann man nicht schlichtweg außer Acht las-
sen. Wir müssen in der Tat nach vorn schauen und können
nicht etwas verteidigen, was hier und da möglicherweise
reformbedürftig ist.
Herr Kol-
lege Schemken, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Herrn Kollegen Gilges?
Ja, bitte schön.
Herr Kollege Schemken, kön-
nen Sie mir einmal einen Fall nennen, in dem ein Unter-
nehmen in Konkurs gegangen ist, weil sich die Gewerk-
schaften oder die Arbeitnehmer geweigert haben, mit dem
Faktor Lohn flexibel umzugehen?
Ich kann Ihnen aus der ganzen Geschichte der Wirtschaft
kein Beispiel dafür nennen.
Die Firma Viessmann – ein Beispiel, das immer wieder
angeführt wird – ist ja die Ausnahme; die Regel ist doch,
dass die Gewerkschaften, der Unternehmer und der Un-
ternehmerverband dem jeweiligen Betrieb vor Ort helfen,
im Rahmen der bestehenden Gesetze und Tarifverträge ei-
nen Weg aus dem Dilemma zu finden. Da sind die Ge-
werkschaftsfunktionäre und die Betriebsräte manchmal
viel flexibler, als es Herr Kolb glaubt.
Können Sie mir einen Fall nennen, in dem ein Unter-
nehmer sagt: Ich gehe jetzt Pleite, weil die Gewerkschaf-
ten nicht bereit sind, mit mir eine entsprechende Verein-
barung zu treffen?
Nur an den Löhnen
hat es dann sicherlich nicht gelegen. Aber es hat – das darf
ich hier aus der Kenntnis eines bestimmten Falles sagen,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Heinz Schemken
13732
den ich Ihnen auch noch mit Namen und Branche nennen
könnte – oftmals daran gelegen, dass man die Situation
nicht frühzeitig gemeinsam erkannt hat. In diesem Fall hat
mir nachher sogar die Betriebsratsvorsitzende gesagt:
Hätten wir das gewusst, hätten wir sicherlich frühzeitiger
über eine Reaktion nachgedacht. – Das galt aber für beide
Seiten; auch der Arbeitgeber hatte nicht den Mut, zwei
Jahre vorher zu erklären: Wir sind personell überbesetzt.
Es geht mir dabei nicht nur um den Lohn. Es geht mir
auch um die Beziehung zwischen Arbeitgeber und Ar-
beitnehmer in der Gestaltung des Betriebes, auch des Ma-
nagements; ich sage das ausdrücklich.
Herr Kol-
lege Schemken, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage
des Kollegen Urbaniak?
Bitte schön.
Aber ich
sage gleich: Das ist die letzte Zwischenfrage, die ich zu-
lasse. – Bitte schön.
Lieber Heinz
Schemken, wir haben nun lange genug im Ausschuss für
Arbeit und Sozialordnung gekumpelt.
– Sie kennen diesen Arbeitnehmerbegriff nicht; dafür
kann ich nichts.
Meine beiden Fragen: Erstens. Steht die Union voll zur
Tarifautonomie, wie wir sie aus Art. 9 Abs. 3 des Grund-
gesetzes ableiten? Zweitens. Ist Heinz Schemken mit sei-
ner Union auch für die klare Aussage, dass sich der
Flächentarifvertrag seit Jahrzehnten bewährt hat?
Jetzt bist du dran.
Die CDU/CSU bleibt
sich treu. Sie hat von Anbeginn der Bundesrepublik
Deutschland wesentlich dazu beigetragen, die Tarifauto-
nomie einzuführen und sie zu verteidigen. Dabei bleibt es.
Wir sind auch durchaus bereit, in die Diskussion ein-
zutreten, wenn es demnächst um das Betriebsverfas-
sungsgesetz geht, wenn es darum geht, in einer wirt-
schaftlichen Situation, die sich auch in einer sozialen
Marktwirtschaft ergeben kann, weil wir nicht auf einer In-
sel leben, die Betriebsverfassung in gewissen Aspekten zu
modifizieren, aber – das sage ich hier ausdrücklich – un-
ter Beachtung der Tarifautonomie, ohne Wenn und Aber,
ohne Aushöhlung des Flächentarifvertrages.
Denn wenn wir die Tarifautonomie aufrechterhalten wol-
len, müssen wir den betriebsspezifischen Anliegen und
den speziellen Herausforderungen im Krisenfall gerecht
werden. Dazu brauchen wir – ich hatte das schon gesagt –
praktikablere Lösungen. Daran sind wir bereit mitzuwir-
ken.
Dabei sollte allerdings auch die Frage beantwortet wer-
den, wie wir in den aktuellen Situationen die Vorausset-
zungen dafür schaffen, dass die Teilhabe an diesen Vor-
gängen ermöglicht wird. Ich habe soeben schon das
Betriebsverfassungsgesetz angesprochen. Bei Krisensi-
tuationen in einem Betrieb müssen Betriebsräte und Ar-
beitnehmerschaft den vollen und tief greifenden Einblick
in die wirtschaftlichen Verhältnisse bekommen; das ist für
die Beurteilung und die konkrete Beratung wichtig und
notwendig. Betriebsräte und Arbeitnehmerschaft müssen
in der Lage sein, die Vorgänge nachzuvollziehen und in
der Situation wirklich Einfluss zu nehmen. Sonst kann
man sie nicht mit in die Verantwortung nehmen.
Ich spreche jetzt nicht vom Insolvenzfall, sondern von
einem Ereignis, das sich in einer branchenspezifischen Si-
tuation ergeben kann und es erfordert, dass bereits vor ei-
nem solchen dramatischen Vorgang gehandelt wird. Hier
brauchen wir flexible Regelungen und ein modernes Ta-
rifvertragsrecht. Das Betriebsverfassungsgesetz ist die
Voraussetzung dafür. Es müssen praxisnahe Lösungen für
die Beschäftigungsfrage auf Betriebsebene gefunden wer-
den; das steht außer Frage. Eine Betriebsverfassung muss
eine solche Flexibilität bieten und darf da nicht hinderlich
sein.
Uns bleibt die Aufgabe, die Betriebsverfassung mit
Elementen zu versehen, die auch den Arbeitnehmern die
Möglichkeit geben, Einsicht zu gewinnen und sich kom-
petenter gutachterlicher Hilfen zu bedienen, die es mög-
lich machen, dass die Arbeitnehmer sich auf der richtigen
Seite bewegen, wenn es um frühzeitige Maßnahmen zur
Rettung eines Unternehmens geht. Es darf nicht sein, dass
das alles zu spät kommt. Deswegen muss das frühzeitig
möglich sein.
Hierüber treten wir mit Ihnen in eine Diskussion ein.
Insofern ist es sicherlich richtig, Herr Dr. Kolb, dass ein-
mal mehr der Anstoß gegeben ist, über praktikable Wege
im Bereich der Betriebsverfassungsgesetzgebung zu re-
den.
– Da kommen wir noch aufeinander zu. – Es wäre gut,
wenn da manches gemeinsam geschehen könnte.
– Ich sage das ausdrücklich. Deshalb braucht sich hier kei-
ner unnötig zu erregen. – Wir sind da offen und sind der
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Heinz Schemken
13733
Meinung, dass es wichtig ist, dass wir vor Tisch über die
Arbeitsplätze sprechen und nicht nach Tisch, wenn sie
schon vernichtet sind.
Das ist unser Thema.
An dieser Frage werden wir uns dann auch messen las-
sen. Sie wissen sehr wohl, dass nach dem Tarifvertrags-
gesetz das Günstigkeitsprinzip in der Tat erst im Insol-
venzfall eintritt; Klaus Brandner hat soeben darauf
hingewiesen. Uns wäre daran gelegen, nicht nur den So-
zialplan zu begleiten, sondern auch die wirtschaftlichen
Verhältnisse eines Betriebes, damit es erst gar nicht dazu
kommt, dass Arbeitsplätze in Gefahr geraten und ver-
nichtet werden. Dies halte ich für richtig angesichts des-
sen, dass unsere moderne Industriegesellschaft im Jahr
2000 an der Schwelle vom zweiten zum dritten Jahrtau-
send steht. Die Arbeitnehmerschaft ist fähig, auch in
kompliziertesten Fällen zu urteilen. Demnächst wird es
auch Arbeitsplätze geben, die räumlich vom Betrieb ent-
fernt sind. All diese Veränderungen machen es in der Tat
notwendig, dass wir uns nicht sperren, sondern bereit
sind, eine Diskussion aufzunehmen.
Ich wiederhole: Wir sind nicht für die Aushöhlung der
Flächentarifverträge und wir zweifeln nicht, an der Tarif-
autonomie. In diesem Sinne sind wir gerne bereit mitzu-
wirken.
Schönen Dank.
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Thea Dückert
vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege
Kolb, ich bekenne eingangs freimütig: Auch ich bin Ge-
werkschaftsmitglied.
Wenn Sie in Ihrer Fraktion keine Gewerkschaftsmitglie-
der aufzuweisen haben, bedeutet das noch lange nicht,
dass Sie qualifizierter seien, hier zu einer solchen Thema-
tik zu sprechen. Ich denke, das geht uns alle an. Das Eti-
kett, ob Gewerkschaftsmitglied oder nicht, ist da nicht
sehr erhellend.
Ihr Antrag, meine Damen und Herren von der F.D.P.,
ist in der Diagnose falsch. Das werde ich an mehreren
Punkten aufzuzeigen versuchen. Er ist vor allen Dingen,
was die Lösungsvorschläge anbelangt, nicht nur über das
Ziel hinausschießend, sondern nach meiner Auffassung
auch verfassungsrechtlich bedenklich. Dies ist insbeson-
dere an dem Punkt der Fall, an dem es darum geht, dass
§ 77 Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes gerändert
werden soll, um Abweichungen vom Flächentarifvertrag
zuzulassen,
und zwar dadurch, dass beispielsweise 75 Prozent der Be-
legschaft einer Abweichung zustimmen.
Gerade dieser Vorschlag würde dazu führen, dass die
verfassungsrechtlich geschützte Koalitionsfreiheit tarif-
gebundener Arbeitnehmer unterhöhlt würde. Dies würde
in der Folge auch dazu führen, dass Betriebsräte ge-
schwächt würden, und würde vor allen Dingen dem, was
wir durch die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes er-
reichen wollen, nämlich die Stärkung der Betriebsräte,
zuwiderlaufen. Gerade starke Betriebsräte brauchen wir
aber, um betriebsnahe flexible Lösungen möglich zu ma-
chen.
– Herr Kolb, auch wenn Sie dazwischenrufen, wird es
nicht besser. Denn Ihr Vorschlag, § 77 Abs. 3 des Be-
triebsverfassungsgesetzes in dieser Weise zu ändern,
würde letzten Endes die Tarifflucht weiter fördern. Wir
müssen Lösungen finden, sie zu stoppen. Die Umsetzung
Ihres Vorschlages würde insbesondere den Tarifvorrang
aushöhlen. Genau das wollen wir nicht.
– Herr Kolb, Sie haben lange Zeit regiert und haben für
diese Problematik keine Lösung gefunden.
Wir schaffen zum Beispiel mit der Reform des Betriebs-
verfassungsgesetzes die Grundlagen dafür, auf der Basis
gestärkter Betriebsräte in Zukunft das zu machen, was
notwendig ist, nämlich eine größere Flexibilisierung der
Flächentarifverträge zu erreichen, wie sie sich das Bünd-
nis für Arbeit beispielsweise im Rahmen einer Vereinba-
rung zwischen der BDA und dem DGB vorgenommen
hat.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Heinz Schemken
13734
– Ihre Diagnose, Herr Kolb, bleibt falsch, auch wenn Sie
weiterhin laut dazwischenrufen.
Falsch ist es zum Beispiel, wenn Sie behaupten, die hohe
Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik sei auf das Tarif-
vertragssystem zurückzuführen. Das machen ein paar
einfache Vergleiche plausibel: In Deutschland müssen wir
nur die neuen Bundesländer betrachten, in denen eine
große Tarifflucht herrscht, aber gleichzeitig hohe Arbeits-
losigkeit festzustellen ist. Auch Vergleiche mit Ländern
wie Italien oder Portugal, die ein ganz anderes Tarifsys-
tem haben, zeigen auf welch tönernen Füßen eine solche
Analyse steht.
Herr Kolb, auch Ihre Einschätzung, dass sich – wie Sie
in Ihrem Antrag schreiben – das bestehende Tarifver-
tragssystem langsam auflösen werde, ist falsch. Ich habe
gerade zitiert, was im letzten Jahr am 6. Juni im Bündnis
für Arbeit zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ver-
einbart worden ist, nämlich dass man betriebliche Bünd-
nisse für Arbeit auf der Basis der Reform des Tarif-
vertragssystems, und zwar über tarifliche Korridore und
Öffnungsklauseln, möglich machen will. Was das Bünd-
nis für Arbeit damit andenkt, ist, wie ich finde, der rich-
tige Weg. Das ist aber nur möglich, wenn wir § 77 Abs. 3
des Betriebsverfassungsgesetzes unangetastet lassen. Ge-
nau das wollen wir machen.
– Hören Sie zu! Das, was ich vortrage, ist unsere gemein-
same Position.
An dieser Stelle der Debatte sind wir uns in meiner Frak-
tion einig; das betrifft auch die Positionen, die Herr
Schlauch oder Frau Scheel vorgetragen haben.
Gerade § 77Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes so
zu belassen, wie er ist, ist eine Voraussetzung, um das, was
Herr Schemken richtig vorgetragen hat – –
– Was Sie verstanden haben, hängt vielleicht davon ab,
wie Sie sich informieren. Hören Sie mir deswegen einfach
zu, dann wissen Sie auch, wie unsere Position in diesem
Punkt ist.
Herr Schemken hat vorgetragen, dass das, was wir wol-
len – nämlich eine flexible, betriebsnähere Reaktions-
möglichkeit sicherzustellen –, nur auf der Basis einer kla-
ren Tarifautonomie, nur auf der Basis eines klaren
Tarifvorrangs, nur auf der Basis der Stärkung der Flächen-
tarifverträge – zum Beispiel durch gestärkte Betriebs-
räte – zu erreichen ist.
Frau Kol-
legin Dückert, kommen Sie bitte zum Schluss.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Ich stelle fest, dass der Vorschlag der F.D.P. die Betriebs-
räte, die Tarifautonomie und den Flächentarifvertrag
schwächen will.
Das sind keine Lösungsansätze, die in die Zukunft wei-
sen. Sie werden auch nicht dadurch besser, dass der Sach-
verständigenrat sie vorgeschlagen hat.
Abschließend möchte ich nicht nur bemerken, dass wir
das ablehnen, sondern möchte kollegial auf einige andere
unstimmige Punkte in Ihrer Argumentation hinweisen.
Das betrifft beispielsweise die Verbandsklage, die Sie
nicht wollen, die aber seit dem Burda-Urteil längst als ein
Tatbestand in der Rechtspraxis existiert: Gewerkschaften
können an diesen Stellen klagen.
Frau Kol-
legin Dückert, bitte.
Sie sollten sich auch insofern einmal der Realität stellen.
Vielen Dank, Herr Präsident!
Zu einer
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Reinhard
Göhner von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! In der Debatte sind eine Reihe
von Gesichtspunkten sehr durcheinander geraten. Ich
denke, es besteht Übereinstimmung darüber, dass eine
Diskussion über die Fortentwicklung des Tarifrechtes
notwendig ist. Dass wir mehr Flexibilität im Tarifwesen
brauchen, ist übereinstimmende Auffassung zum Beispiel
der Tarifpartner – Gewerkschaften wie Arbeitgeberver-
bände. Die Frage ist, auf welchem Weg man das bewerk-
stelligen kann.
Es gibt den Weg, dass die Tarifpartner dies selbst tun.
Ich teile die Diagnose, die die Kollegen Kolb und
Schemken gegeben haben: Hier ist zwar viel geschehen,
aber nicht genug.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Dr. Thea Dückert
13735
Es stellt sich die Frage: Wo muss der Gesetzgeber die
Voraussetzungen schaffen, damit betriebliche Bündnisse
für Arbeit geschlossen werden können? Herr Kollege
Kolb, jetzt müssen wir natürlich scharf unterscheiden:
Will man, dass Betriebsrat und Arbeitgeber anstelle der
Tarifparteien verhandeln sollen, um einen Tarifvertrag
abzuschließen, oder will man die Abweichung vom Tarif-
vertrag ermöglichen? Diese beiden Fragen muss man
streng unterscheiden.
Ihr Vorschlag läuft darauf hinaus, den Betriebsrat zu ei-
ner Tarifpartei zu machen.
Das scheint mir gerade aus liberalistischer ordnungspoli-
tischer Sicht bedenklich zu sein, weil Sie per Mehrheit
über den Inhalt eines eigentlich privat-autonomen Vertra-
ges bestimmen wollen. Sie wollen mit 75-prozentiger
Mehrheit über den Inhalt eines Vertrages entscheiden, den
die anderen 25 Prozent auf der Grundlage der Privatauto-
nomie abgeschlossen haben. Das ist der klassische Fall
der Fremdbestimmung.
Die von Ihnen angestrebte Möglichkeit, eine größere Fle-
xibilisierung auch in Abweichung von Tarifverträgen zu
erreichen, ist aus meiner Sicht unbestreitbar.
Es geht in dieser Diskussion, Herr Kollege Brandner,
eigentlich darum, zwei Verbote aufzuheben. Das eine ist
das Verbot – –
Herr Kol-
lege Göhner, Sie müssen schon sagen, auf wen Sie sich in
Ihrer Kurzintervention beziehen.
Auf Herrn Kolb
und Herrn Brandner. Deshalb habe ich beide angespro-
chen, zunächst Herrn Kolb und dann Herrn Brandner.
Das ist
aber nicht üblich. Üblich ist, dass man sich auf eine Rede
bezieht, und dann kann ich dem Angesprochenen Gele-
genheit geben zu antworten.
Herr Präsident,
darf ich fragen, ob es nach der Geschäftsordnung zulässig
ist – nach meiner Kenntnis ist das der Fall –, dass man auf
zwei Vorredner Bezug nimmt?
Es geht
auch um die Ökonomie der Debatte. Es könnte dazu
kommen, dass Sie zehn Vorredner ansprechen.
Einverstanden. –
Ich wäre bereits fertig, wenn wir diese Intervention jetzt
nicht gehabt hätten.
Kollege Brandner, es geht um die Beseitigung von
zwei Verboten. Das eine ist, dass man nach geltendem
Recht eine abweichende Vereinbarung zwischen Arbeit-
nehmer und Arbeitgeber nur treffen kann, wenn es keine
vorherige Regelungsabrede mit dem Betriebsrat gegeben
hat. Das ist die Konsequenz aus der Entscheidung des
Bundesarbeitsgerichtes im Burda-Fall. Hier finde ich es
sehr wohl der Diskussion wert, ob wir nicht das Tarifver-
tragsgesetz ändern müssen, damit solche Vereinbarungen
auch unter Beteiligung des Betriebsrates getroffen werden
können. Das zweite – –
Herr Kol-
lege, Ihr Zeitlimit ist weit überschritten.
Das zweite Ver-
bot, um das es geht, Herr Präsident, – –
Ich kann
Ihnen jetzt keine Verlängerung mehr geben. Sie sind
schon eine halbe Minute über der Zeit.
Geben Sie mir
doch die Zeit, Herr Präsident, die Sie für Ihre Intervention
gebraucht haben! Dann wäre ich fertig.
Das geht
nicht. Vielen Dank.
Das bedauere
ich.
Herr Kol-
lege Kolb, Sie haben die Möglichkeit zu antworten.
Ich gehe gern auf den
Einwand des Kollegen Göhner ein.
Wenn Sie so wollen, wird durch unseren Vorschlag der
Betriebsrat auf der betrieblichen Ebene zur Tarifpartei.
Das ist, wenn ich es richtig sehe, auch der Grund, warum
sich manche Arbeitgeberverbände und ihre Ge-
schäftsführer, ja sogar Hauptgeschäftsführer, mit diesem
Vorschlag sehr schwer tun. Trotzdem stehen wir zu die-
sem Vorschlag.
Kollege Göhner, wenn ich auch dies noch sagen darf:
Sie beklagen die Fremdbestimmung von 25 durch 75 Pro-
zent. Aber was passiert denn beispielsweise im Fall der
Allgemeinverbindlicherklärung? Da werden Arbeitneh-
mer in Unternehmen, die überhaupt nicht tarifgebunden
sind,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Dr. Reinhard Göhner
13736
unter die, ich sage einmal: Knute des Tarifvertrages ge-
zwungen, auf die Gefahr hin, dass das Unternehmen da-
durch in seiner Existenz gefährdet wird. Das finde ich un-
gleich schlimmer.
Auch da müssten Sie dann bitte konsequenterweise den
Finger in die Wunde legen.
Ich denke, damit sind die Punkte, die Sie hier ange-
sprochen haben, ausgeräumt.
Ich finde es sehr gut, dass wenigstens von der CDU das
Signal gekommen ist, dass man darüber reden muss. Dann
tun wir es doch bitte! Es ist doch unübersehbar, dass es in
unserem Land Handlungsbedarf gibt. Außer der SPD
scheinen das alle oder zumindest einige in allen Parteien
so zu sehen.
Ich lade Sie ein: Setzen wir uns zusammen! Es muss et-
was passieren im Interesse der mittelständischen Unter-
nehmen und auch der Arbeitnehmer in diesen Unterneh-
men.
Vielen Dank.
Herr Kol-
lege Brandner, Sie haben ebenfalls Gelegenheit zu ant-
worten. Ich bitte Sie, sich so kurz wie möglich zu fassen.
Ich werde es so kurz wie
möglich machen, Herr Präsident.
Der erste Punkt ist die Flexibilität, die angemahnt wor-
den ist. Die Flexibilität ist Angelegenheit der Tarifver-
tragsparteien selbst. Dafür brauchen wir keine Verände-
rung des Tarifvertragsgesetzes und schon gar keine
Veränderung im Betriebsverfassungsgesetz.
Es ist in dieser Gesellschaft ganz wesentlich, dass die
Schutz-, die Ordnungs- und die Gestaltungsfunktionen
auf tarifvertraglicher Seite so verlässlich bleiben, wie sie
sind. Die Tarifverträge haben letztlich dafür gesorgt, dass
wir so lange sozialen Frieden in diesem Lande gehabt ha-
ben. Dieser Frieden hat der Gesellschaft und den Betrie-
ben nicht geschadet, sondern hat für eine positive wirt-
schaftliche Entwicklung gesorgt.
Lassen Sie mich als Zweites sagen: Das Bündnis für
Arbeit ist eine gute Gelegenheit, praktikable Lösungen für
die Sanierungsfälle anzustreben, von denen hier zum Bei-
spiel auch Herr Göhner gesprochen hat. Man muss Über-
legungen anstellen, wie in Sanierungsfällen – zum Bei-
spiel auch in dem aktuellen Fall – durch gesetzliche
Begleitung vorausschauende Regelungen geschaffen
werden können.
Ich plädiere sehr dafür – ich habe das selber oft genug er-
lebt –, in einer Krisensituation einen Sanierungstarifver-
trag abzuschließen. Damit kann man betriebsbezogen auf
die Probleme eingehen, die Ursache für die betriebliche
Krise sind. Das ist in der Fläche nicht möglich; es kommt
wirklich darauf an, dass man sich den betrieblichen Fall
genauer ansieht. Das führt letztlich dazu, dass eine be-
grenzte Veränderung des Flächentarifvertrages genutzt
wird, um eine Sanierung durchzuführen. Dann kann der
Flächentarifvertrag mit allen seinen Wirkungen in Kraft
gesetzt werden, um Tarifkonkurrenz – Schmutzkonkur-
renz – auszuschließen und Verlässlichkeit im Tarifver-
tragssystem zu erhalten.
Als letz-
tem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich das
Wort der Kollegin Dr. Heidi Knake-Werner von der PDS-
Fraktion.
Herr Kolb, wie kön-
nen Sie das überhaupt vermuten?
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man
spürt die Absicht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
F.D.P., und ist verstimmt. Herr Dr. Kolb, Ihre Formulie-
rung „die Knute des Tarifvertrages“ spricht wirklich
Bände darüber, wie Sie dieses soziale Instrument über-
haupt einschätzen.
Was also soll dieser Antrag? Er hat nichts mit der tarif-
politischen Wirklichkeit zu tun.
Dass neue Arbeitsplätze auf der Grundlage Ihres An-
trags entstehen, liegt wirklich im Bereich der Spekula-
tion. Ihr Antrag hat offensichtlich vor allem das Ziel, zu
verhindern, dass die Bündnisgrünen Ihnen zukünftig
bei der Demontage des Tarifsystems den Rang ablau-
fen.
Insofern kann ich Ihren Antrag ganz gut verstehen.
Die sechs in Ihrem Antrag genannten Punkte zielen da-
rauf ab, sämtliche Kernbestandteile des deutschen Tarif-
vertragsrechts zu zerschlagen. Tarifverträge regeln heute
Mindeststandards und Mindestarbeitsbedingungen. Sie
aber stellen Mindeststandards sozusagen als Höchstgren-
zen dar, stellen sie also zur Disposition und wollen die Ta-
rifverträge weiter nach unten öffnen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Dr. Heinrich L. Kolb
13737
Sie wollen eine totale Verbetrieblichung der Tarifpolitik.
Ich sage Ihnen deutlich: Häuserkampf gegen Flächenta-
rifverträge zerstört den sozialen Frieden. Genau das be-
absichtigen Sie.
Sie wollen die Umkehr des Günstigkeitsprinzips zu einem
Prinzip freiwilliger Schlechterstellung. Das passiert aller-
dings unter dem Druck in den neuen Ländern. Sie wollen
außerdem die Aussetzung gewerkschaftlicher Tarifkom-
missionen durch die Betriebsräte. Damit nicht genug: Sie
wollen den zeitlichen Fortbestand des Tarifvertrages be-
grenzen und die Allgemeinverbindlichkeit abschaffen.
Gäbe es nach Annahme eines solchen Antrages über-
haupt noch etwas, das an das deutsche Tarifvertrags-
system erinnert? – Nein, es gäbe nichts.
Das ist auch Ihre Absicht. Sie wollen nämlich kein fle-
xibles Tarifvertragssystem. Sie wollen gar kein Tarifver-
tragssystem.
Das wird aus Ihrer Begründung auch sehr deutlich; denn
Sie behaupten, in der Regel orientierten sich Tarifab-
schlüsse an der Leistungsfähigkeit einiger weniger großer
Unternehmen. Das ist doch der blanke Unsinn! Wo leben
Sie eigentlich? Ist Ihnen völlig unbekannt, dass immer
mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer trotz tarifver-
traglicher Bezahlung selbst bei Vollzeitarbeit an der Ar-
mutsgrenze leben? Ist Ihnen entgangen, dass die Tarifsta-
tistik seit Jahren Gruppen ausweist, die gerade einmal die
Sozialhilfegrenze erreichen? Am meisten trifft das natür-
lich allein erziehende Frauen.
Was meinen Sie eigentlich mit starren Tarifvorgaben?
Haben Sie überhaupt noch nicht mitbekommen, dass zum
Beispiel in der Statistik des Bundesarbeitsministeriums
Schwankungsbreiten beim Monatseinkommen zwischen
1 000 und 20 000 DM ausgewiesen sind?
Was ist daran starr? Das sind doch wirklich enorme
Lohnspreizungen, die für alles andere als für ein starres
Tarifvertragssystem stehen.
Sie müssen sich wirklich an dieser Stelle fragen lassen:
Wie viel soziales Auseinanderdriften dieser Gesellschaft
wollen Sie eigentlich noch zulassen?
Kommen
Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.
Ich komme zum
Schluss. – Ihr ganzer Antrag steht genau dafür. Dank Ih-
rer ideologischen Fixierung auf die Deregulierung von
Arbeitsbeziehungen nehmen Sie nicht einmal zur Kennt-
nis, dass dieses Tarifvertragssystem von enormer wirt-
schaftlicher Bedeutung in unserer Gesellschaft ist. Fragen
Sie Ihre Klientel.
Frau Kol-
legin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Mein letzter Satz. –
Ihnen geht es darum: Der Flächentarifvertrag soll weg
und Sie erhoffen sich dabei gleichzeitig eine Schwächung
der Eingriffsmöglichkeiten der Gewerkschaften.
Diese wollen Sie schwächen; das ist Ihre erklärte Absicht.
Ich hoffe, es wird sich eine Mehrheit finden, die das ver-
hindert.
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/2612 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie den Zu-
satzpunkt 6 auf:
10. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses
– zu dem Antrag der Abgeordneten Alfred
Hartenbach, Margot von Renesse, Wilhelm
Schmidt , Dr. Peter Struck und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Volker Beck , Irmingard Schewe-
Gerigk, Claudia Roth , weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Rehabilitierung der im Nationalsozialis-
mus verfolgten Homosexuellen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Christina
Schenk, Ulla Jelpke, Sabine Jünger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Unrechtserklärung der nationalsozialisti-
schen §§ 175 und 175 a Nr. 4 Reichsstrafge-
setzbuch sowie Rehabilitierung und Ent-
schädigung für die schwulen und lesbischen
Opfer des NS-Regimes
– Drucksachen 14/2984 , 14/2619,
14/4894 –
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Dr. Heidi Knake-Werner
13738
Berichterstattung:
Abgeordnete Margot von Renesse
Dr. Jürgen Gebh
Volker Beck
Jörg van Essen
Christina Schenk
ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses zu
dem Antrag der Abgeordneten Christina Schenk,
Ulla Jelpke, Sabine Jünger, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der PDS
Rehabilitierung und Entschädigung für die
strafrechtliche Verfolgung einvernehmlicher
gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen
zwischen Erwachsenen in der Bundesrepublik
Deutschland und der Deutschen Demokrati-
schen Republik
– Drucksachen 14/2620, 14/4914 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Margot von Renesse
Dr. Jürgen Gehb
Volker Beck
Jörg van Essen
Christina Schenk
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Bevor ich die Aussprache eröffne, teile ich mit, dass
Frau Bundesministerin Däubler-Gmelin sich wegen der
Betreuung einer ausländischen Delegation entschuldigt
hat.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat das
Wort die Kollegin Margot von Renesse von der SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Zu diesem Thema ist zu später Stunde
schon vieles gesagt worden, sodass man davon ausgehen
kann, dass fast alles gesagt worden ist. Ich sehe, dass ich
zwölf Minuten Redezeit habe. Ich hoffe und erwarte, dass
ich diese Zeit nicht brauche.
Ich werde Ihnen als Erstes eine Geschichte erzählen.
Ich denke, dass Grundsatzdiskussionen nicht mehr ange-
bracht sind, zumal wir, Herr Gehb, Frau Schenk, Herr
Beck, Herr van Essen, eine gute Übereinkunft erzielt ha-
ben.
Mein Mann, 1930 geboren, war gegen Ende des Krie-
ges Jungzugführer bei den Pimpfen. Das war nichts Be-
sonderes, das waren in seinem Alter sehr viele. Er traf sich
einmal in der Woche mit einigen Freunden aus seiner
Klasse, die wie er auch Jungzugführer waren, im Akten-
keller seines Vaters, weil die Jungs einfach Spaß aneinan-
der hatten.
Zu ihnen stieß ein 20-jähriger Soldat mit einer Kriegs-
verletzung, die ausheilte, der deshalb eine Weile in seiner
Heimat war. Man nannte so etwas Heimatschuss, glaube
ich. Da er noch Traditionen der bündischen Jugend
pflegte, brachte er ihnen Lieder bei, die in der HJ nicht ge-
sungen wurden.
Dann passierte es, dass in Schneidemühl die Parteikäs-
ten eingeschmissen wurden, was gegen Ende des Krieges
an vielen Orten geschah. Man bezichtigte die so genann-
ten Edelweißpiraten, das getan zu haben. Da bekannt war,
dass diese Jungs sich mit dem Soldaten trafen, war schnell
ausgemacht, dass mein Mann und seine Freunde die Edel-
weißpiraten von Schneidemühl waren.
Die Ehre, unehrenhaft aus der HJ ausgestoßen worden
zu sein, widerfuhr meinem Mann, ohne dass er eigentlich
etwas dafür konnte.
Der junge Soldat wurde erschossen, und zwar weil er
bezichtigt wurde, homosexuelle Beziehungen zu diesen
Jungs aufgenommen zu haben. Mein Mann erzählte mir,
dass er nach Berlin fahren musste, begleitet von seinem
Vater, und dass er und seine Kameraden dort als Zeugen
vernommen wurden. Dabei durften sie sich nicht hinset-
zen, sie mussten stundenlang stehen. Wenn sie sich an die
Wand anlehnten, wenn sie müde wurden, wurden sie an-
gebrüllt: Verräter dürfen sich nicht anlehnen. – Es ging um
Homosexualität und es endete mit dem Tod dieses
20-Jährigen. Mein Mann schwört Stein und Bein, dass er
selber von Homosexualität nichts gemerkt hatte.
Diesem jungen Mann können wir nicht mehr helfen.
Wir können vielen nicht mehr helfen, auch wenn sie diese
Zeit überlebt haben. Infolge der späteren, nach wie vor be-
stehenden Verdächtigung und der strafrechtlichen Verfol-
gung von Homosexuellen haben sich viele noch nicht ein-
mal um Rehabilitierung bemüht, obgleich, wie wir alle
wissen, die Urteile aus der Zeit von vor 1945 keine Ur-
teile in unserem Sinne waren, sondern Vernichtungsfeld-
züge gegen Leute, die man schlicht und einfach für Ab-
schaum hielt, für Menschen, die es in der menschlichen
Gesellschaft nicht einmal mehr verdienten, der Gunst ei-
nes ordnungsgemäßen Strafverfahrens gewürdigt zu wer-
den, in dem sie sich verteidigen konnten.
Diesen Leuten können wir nicht mehr helfen. Ob wir
mit diesem Gesetz überhaupt noch jemandem helfen kön-
nen, wissen wir nicht zu sagen. Denn alles, was wir vom
Bundesfinanzministerium erfahren haben, spricht dafür,
dass diejenigen, die Anträge zu stellen sich getraut haben,
obgleich Homosexualität noch lange Zeit strafbar war, in-
zwischen rehabilitiert sind und ihnen die Entschädigun-
gen zuteil wurden, die sie aufgrund der entsprechenden
Gesetze erhalten konnten.
Wir werden vielleicht noch denjenigen helfen, von de-
nen wir nichts wissen, die noch leben und die keine An-
träge gestellt haben, weil sie sich scheuten, mit ihrer ho-
mosexuellen Neigung ans Licht der Öffentlichkeit zu
treten. Denn es war auch in unserer Gesellschaft noch
viele Jahr verpönt, verfemt und gesellschaftlich geächtet,
sich als homosexuell zu bekennen.
Vielleicht helfen wir noch einigen, umso besser. Aber
viel wichtiger ist, dass wir dieses Kapitel nun endlich ab-
schließen, indem wir bekennen, dass wir mit diesen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
13739
Verurteilungen, wie wir sie auch in der Zeit nach 1945 in
der Bundesrepublik und zunächst auch noch in der DDR
fortgesetzt haben, Unrecht getan und damit Menschen in
ihren Rechten verletzt haben. Das ist eine wichtige Er-
klärung und es ist gut, dass wir alle dahinter stehen.
Es ist gut, dass wir alle dahinter stehen, weil über dieses
Thema in diesem Hause so viel Streit herrschte, zwar
nicht über diese spezielle Frage, aber über die Einordnung
und Behandlung von Homosexualität. Es ist gut, dass wir
hier etwas Gemeinsames zustande bringen. Dafür danke
ich allen Beteiligten von Herzen.
Was die Verurteilungen nach 1945 angeht, so bekennen
wir, dass es Unrecht war; so weit, so gut. Aber vieles, was
in strafrechtlichen Tatbeständen gefasst war, zum Beispiel
die Verurteilungspraxis hinsichtlich der schweren Kuppe-
lei zwischen Verlobten – Urteile aus dem Ruhrgebiet, wo
es immer hieß: verlobt ist verheiratet –, machen wir nicht
rückgängig, obgleich wir solche Urteile heute nicht mehr
fällen würden. Getilgt sind sie aus dem Strafregister: Wer
immer verurteilt worden ist, es ist ihm jedenfalls nicht
mehr nachzuweisen, dass er jemals in irgendeiner Form in
seinem polizeilichen Führungszeugnis eine Verurteilung
dieser Art gehabt hat. Insoweit brauchen wir nichts mehr
zu erledigen, was schon schlicht durch Zeitablauf erledigt
ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin von
Renesse, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Christina Schenk?
Frau Schenk, ich
möchte relativ bald Schluss machen, wenn Sie erlauben.
Wir haben uns schon öfter unterhalten und werden uns
auch in Zukunft öfter unterhalten. Sie wissen, dass ich
gerne auf Zwischenfragen eingehe, aber im Augenblick
ist mir nicht danach. Entschuldigen Sie!
Ich denke, dass die Verurteilungen, die wir nach 1945
in der DDR und in der Bundesrepublik erlebt haben, da-
rauf basierten, dass zwei Gruppen nicht beachtet wurden,
als man in Herrenchiemsee zusammensaß und nachträg-
lich Hitler verhinderte. Es wurde ein Grundrechtskata-
log verabschiedet, durch den versucht wurde, die Erfah-
rung, dass Menschenwürde antastbar ist, umzusetzen in
eine Norm, dass Menschenwürde unantastbar ist. Man hat
aber zwei Gruppen von Menschen nicht berücksichtigt,
die man nach wie vor nicht sah. Das waren die Behinder-
ten, die der Euthanasie zum Opfer gefallen sind – darüber
stand nichts in Art. 3 Abs. 3 GG; das ist erst später nach-
geliefert worden –, und es waren die Homosexuellen, die
man damals noch für Menschen hielt, die der Strafe zuge-
führt werden mussten. Dies waren zwei Gruppen, die als
die total anderen angesehen wurden und denen Unrecht
geschehen war, das man einfach übersah. Man hat sich mit
dieser Frage nicht auseinander gesetzt, nicht in der Bun-
desrepublik und nicht in der DDR, auch wenn in Letz-
terer – zur Ehre der DDR sei jedenfalls das gesagt – die
verschärfenden Bedingungen der NS-strafrechtlichen
Veränderungen damals relativ früh weggenommen wor-
den sind. Richtig auseinander gesetzt hat man sich mit
dem Unrecht nicht, weder in dem einen noch in dem an-
deren Gebiet, das wir jetzt zusammen Deutschland nen-
nen. Das gemeinsame Deutschland ist es denen, die dar-
unter zu leiden hatten, schuldig, dass dieses Unrecht
getilgt wird.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Dr. Jürgen Gehb für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Unmittelbar nach Kriegsende,
als das volle Ausmaß der Gräuel jedermann bewusst war,
planten die Länder noch eine unterschiedslose Entschä-
digung aller KZ-Opfer. Darüber hinaus sollten politisch
und rassisch Verfolgte in die Entschädigung einbezogen
werden. Über die Ausweitung auf Zwangssterilisierte und
Geisteskranke oder gar eine Entschädigung von Homose-
xuellen sowie Sinti und Roma erzielten die Ländervertre-
ter 1947 allerdings keine einheitliche Auffassung mehr.
Aus heutiger Sicht mag es ebenfalls bitter sein, wenn
ein ehemaliger Kollege aus unseren Reihen, selbst NS-
Verfolgter und ins KZ verschleppt, bei den Beratungen
zur Wiedergutmachung Anfang der 50er-Jahre die Finan-
zierbarkeit als nicht gefährdet ansah, weil nur eine sehr
überschaubare Gruppe von Opfern entschädigungswürdig
sei. Schwule und Lesben gehörten selbst als KZ-Opfer
nicht zu den „würdigen“ Verfolgten.
Hier wird in der Rückschau ein Problem der Wieder-
gutmachung und auch der gesellschaftlichen Anerken-
nung der verschiedenen NS-Opfer deutlich. Diejenigen
Verfolgtengruppen mit dem höchsten Organisationsgrad,
die in der Regel auch über die entsprechende gesell-
schaftliche Reputation verfügten, vertraten ihre Interes-
sen am wirksamsten. In Politik, Verwaltung, Justiz und
Medien trafen ihre Anliegen auf entsprechenden Wider-
hall. Eine solche Feststellung ist in jedem anderen politi-
schen Zusammenhang eine bare Selbstverständlichkeit.
Bei der Wiedergutmachung hätte man es sich anders ge-
wünscht.
Leid gab es in diesen Jahren für Schwule und Lesben
ausreichend; denn die Nationalsozialisten machten aus ih-
rer Homosexuellenfeindlichkeit keinen Hehl. Das juristi-
sche Mittel ihrer Verfolgung war die Verschärfung des
§ 175 im Jahre 1935. Von nun an war jede Form der Un-
zucht – bis hin zum „Blick in wollüstiger Absicht“ – straf-
bar. In der SS- und Polizeigerichtsbarkeit war der Straftat-
bestand des § 175 gar mit der Todesstrafe belegt, die bis
in die letzten Tage des Regimes auch vollzogen wurde.
Einer stark intensivierten Verfolgung, einhergehend
mit zahlreichen Beschuldigungen und Denunziationen,
wie Sie, Frau von Renesse, es eben eindrucksvoll ge-
schildert haben, war nach der Strafverschärfung Tür und
Tor geöffnet. Immer mehr Schwule im gesamten Reich
wurden nach der Verbüßung ihrer Gefängnisstrafe in
Schutzhaft genommen. Dies bedeutet im Klartext: Sie
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Margot von Renesse
13740
wurden in Konzentrationslager verschleppt, wo sie in der
Lagerhierarchie oft an unterster Stelle standen und zu
Tausenden nicht überlebten. Eindrucksvoll, wenn auch
bedrückend hat dies im Sommer dieses Jahres eine Aus-
stellung im KZ Sachsenhausen vor den Toren Berlins uns
allen vor Augen geführt.
Ich halte es für gut, dass der Bundestag mit der heuti-
gen Debatte und dem vorliegenden Antrag dieser lange
Zeit nicht wahrgenommenen Opfergruppe gedenkt und
eine Rehabilitierung vornimmt. Die Zustimmung des
ganzen Hauses, die zu erwarten ist, verstärkt das öffent-
liche Zeichen, das wir heute setzen wollen.
Etwas verwundert darf man allerdings schon sein, wie
überaus vorsichtig die Koalitionsfraktionen mit einer
diesbezüglichen Ergänzung des NS-Aufhebungsge-
setzes umgegangen sind. Wurde von ihnen noch zu Op-
positionszeiten die Nichtigkeitserklärung aller Urteile be-
antragt, wie es auch der Gesetzesantrag Hamburgs vom
9. November 1999 im Bundesrat vorsieht, schrumpfte
dieses Anliegen im ursprünglich eingebrachten Antrag zu
einem Prüfauftrag. Heute nun wird die Bundesregierung
ersucht, einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen.
Sollten die Argumente des Bundesjustizministeriums,
die im Rechtsausschuss des Bundesrates bei der Behand-
lung des Hamburger Antrages so vehement gegen eine
Ergänzung des NS-Aufhebungsgesetzes formuliert wur-
den, doch so gewichtig sein, dass die Koalitionsfraktionen
so überaus vorsichtig agierten? Steht die Bundesjustizmi-
nisterin und ihr Haus nicht hinter dem Anliegen und der
juristischen Umsetzung durch die Koalitionsfraktionen?
Ich bin jedenfalls neugierig, wann und mit welchem In-
halt das Bundesjustizministerium einen Gesetzentwurf
vorlegen wird.
Ich selbst habe in meiner Rede zur ersten Lesung ge-
sagt, dass ich gut damit hätte leben können, wenn durch
das NS-Aufhebungsgesetz all dem ein Ende gesetzt
würde, weil der Zeitraum von 1935 bis 1945 einen ge-
wissen Wertungswiderspruch in sich birgt. Es ist ein Wi-
derspruch, dass diejenigen, die in der NS-Zeit verurteilt
worden sind, ohne besonderen Antrag rehabilitiert wer-
den, und die anderen weiter mit der Stigmatisierung leben
müssen. Ich habe das in der ersten Lesung ausgeführt und
will es jetzt nicht weiter vertiefen, weil wir uns in dem Be-
richterstattergespräch – das in sehr harmonischer Weise
verlaufen ist, wofür ich mich herzlich bedanken möchte –
so entschieden haben. Die Entscheidung wird keine un-
geteilte Zustimmung finden, vielleicht auch nicht in mei-
ner Fraktion.
Bereits vor drei Jahren, als sich dieses Haus zum ers-
ten Mal in seiner Geschichte speziell mit dem Schicksal
der homosexuellen NS-Opfer beschäftigte, sprach mein
Kollege Eckart von Klaeden etwas aus, das ich heute nur
unterstreichen kann. Es war kein Ruhmesblatt unserer
bundesdeutschen Rechtsgeschichte, dass der verschärfte
§ 175 erst 1969 in einem ersten Schritt reformiert und erst
1994 gänzlich abgeschafft wurde.
Wir sollten jedoch vorsichtig sein, vorschnell den Stab
über unsere Vorgänger zu brechen. Denn sie waren – und
nicht nur in Deutschland – in dieser Frage selbstverständ-
lich Kinder ihrer Zeit. Wir wissen nicht, wie spätere Ge-
nerationen über unsere Ansichten, Moralvorstellungen
und politischen Entscheidungen urteilen werden. Ich bin
auch nicht dafür, dass wir bei jeder Reform auf die Vor-
väter mit Fingern zeigen. Eine solche Entwicklung wird
man möglicherweise im Zusammenhang mit der Diskus-
sion über den § 218 Strafgesetzbuch in vielen Jahren be-
obachten können. Man läuft immer Gefahr, Auffassun-
gen, die zu dem jeweiligen Zeitpunkt durchaus ihre
Berechtigung hatten, von der nachfolgenden Generation
mit Bedauern oder gar dem Stigma des Unrechts belegt
werden. Das ist nicht das Anliegen meiner Fraktion.
In unserer Republik, die sich als demokratisches Ge-
meinwesen versteht, werden Gesetze geändert oder abge-
schafft, wenn sich Auffassungen wandeln und es eine aus-
reichende politische Mehrheit hierfür gibt. Dies ist der
alltägliche und einer Demokratie angemessene Weg, mit
Veränderungen umzugehen. Anlässlich einer solchen No-
velle – und dies geschah auch bei den verschiedenen Re-
formen des § 175 – werden in diesem Haus die Gründe für
Veränderungen benannt, historische Wertungen abgege-
ben und gegebenenfalls auch Worte des Bedauerns ausge-
sprochen.
Ich habe daher Verständnis für Mitglieder dieses Hau-
ses und auch meiner Fraktion, die sich mehr als schwer
tun, ja, die es ablehnen, dass der Bundestag ex post, nach
Jahren oder gar Jahrzehnten, Entscheidungen früherer
Gesetzgeber in einem förmlichen Beschluss bewertet. Für
diese grundsätzliche Einstellung der Kollegen zu gewis-
sen Verfahrensweisen bitte ich um den Respekt dieses
Hauses.
Einfordern will und muss ich auch den Respekt und die
Gesetzestreue dieses Hauses vor den Entscheidungen
des Bundesverfassungsgerichts. Das Urteil aus dem
Jahr 1957 mag man aus heutiger Sicht bedauern und auch
für falsch halten. Man mag auch beklagen, dass das Ver-
fassungsgericht nicht die Gelegenheit hatte, eventuell den
Urteilsspruch – wie in anderen Fällen auch – selbst zu kor-
rigieren. Die vorliegende Entscheidung aus dem Jahr
1957 entfaltet aber nun einmal Bindungswirkung nach
§ 31 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes; das habe
ich in meiner Rede in der ersten Lesung ausführlich dar-
gestellt. Dies gilt auch für den Gesetzgeber, also für uns,
den Deutschen Bundestag. Wir können das Verfassungs-
gericht nicht korrigieren. Über die weiteren rechtlichen
und formalen Mängel des PDS-Antrags und ähnlicher
Vorstellungen ist ausreichend im Rechtsausschuss ge-
sprochen worden.
Es bleibt uns allerdings unbenommen festzustellen,
dass Schwulen und Lesben in unserem Lande über viele
Jahre die Anerkennung versagt blieb, die ihnen zukommt.
Lange – aus heutigem Blickwinkel wahrscheinlich zu
lange – wurden sie kriminalisiert, stigmatisiert und in der
Entfaltung ihrer Persönlichkeit behindert.
Allein die Existenz des § 175 führte beispielsweise
dazu, dass in den Anfangsjahren dieser Republik ein zu-
fällig als Homosexueller enttarnter Taxifahrer die Kon-
zession verlor oder die Approbation für einen schwulen
Arzt von der Kammer nicht erteilt wurde. Der bekannte
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Dr. Jürgen Gehb
13741
Journalist Peter von Zahn, der 1965 den ersten Fernseh-
beitrag zu diesem Thema produzierte, erinnert sich in ei-
nem Interview:
Ein Vorfall, der für die damalige Einstellung zu Ho-
mosexuellen bezeichnend war, hat sich mir einge-
prägt: Unser Hauptzeuge ... wurde vorsichtshalber
nur von hinten gefilmt. Sein Arbeitgeber, Inhaber ei-
nes Bestattungsinstituts, erkannte ihn jedoch an der
Stimme. Er kündigte ihm die Stellung mit der Be-
gründung, seine Kunden würden bei der Über-
führung der Verstorbenen durch ein Institut mit sol-
chem Personal unruhig werden. Wir hatten viel
Mühe, für den armen Kerl eine neue Position zu fin-
den.
In mehreren Stufen wandelte sich im Laufe der Jahre
das gesellschaftliche Klima. Allerdings war man selbst in
den 70er-Jahren noch weit von dem selbstverständlichen
Umgang mit Schwulen und Lesben entfernt, auf den wir
heute, erst recht in dieser Stadt, treffen. Wäre dies in den
70er-Jahren unter einer sozialliberalen Koalition der Fall
gewesen, hätte es bereits 1972 eine geschlechtsneutrale
Jugendschutzvorschrift, eine Gleichbehandlung der Alters-
grenzen bei Homo- wie Heterosexuellen und eine Strei-
chung des § 175 gegeben. All die guten Gründe des Jah-
res 1994 waren offensichtlich im Jahre 1972 unter
Liberalen wie Sozialdemokraten noch nicht mehrheits-
fähig.
Das sage ich gar nicht mit Häme. Ich möchte nur eine
Sensibilität für die historische Entwicklung schaffen,
die unstrittig in den letzten Jahrzehnten stattfand, und
vielleicht auch den einen oder anderen vor einem Über-
maß an Selbstgerechtigkeit bewahren. Ich wage keine
Einschätzung, ob jedes Mitglied dieses Hauses, auch auf
der linken Seite, inzwischen völlig unverkrampft und vor-
urteilslos mit diesem Thema umgehen kann. Historisch
Interessierten empfehle ich die Lektüre des Bändchens
„Die Linke und das Laster“ des angesehenen Historikers
Günter Grau. Ich meine, ein wenig Bescheidenheit in die-
ser Frage steht uns allen gut an.
Selbstverständlich gehört in diesen Kontext auch der
Blick über den eigenen nationalen Tellerrand hinaus.
Nach 1945 war Homosexualität nicht nur in Deutschland
einvernehmlich strafbewehrt. Erfreulicherweise fand die
Liberalisierung dann nicht nur in Deutschland statt. Im
europaweiten Vergleich liegen wir sogar recht gut im
Mittelfeld. Ich denke nur an das Urteil des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte gegen das Vereinigte
Königreich aus dem Jahr 1981 oder an die Tatsache, dass
Irland erst 1993 entsprechende Korrekturen seiner Ge-
setzgebung vornahm. Die Straßburger Urteile aus den
80er-Jahren als Messlatte für die 50er- oder 60er-Jahre zu
nehmen ist jenseits der juristischen Unhaltbarkeit schlicht
und einfach unhistorisch. Ich möchte nicht wissen, wie
Straßburg in den 50er-Jahren geurteilt hätte. Deshalb plä-
diere ich auch dafür, diese Art von unnützen Scheinge-
fechten einzustellen. Hilfreicher sind da schon Überle-
gungen, wie sie auch im vorliegenden Antrag angestoßen
werden, wie den homosexuellen NS-Opfern und ihren
entrechteten Organisationen ein Ausgleich zuteil bzw. ge-
genwärtige Bürger- und Menschenrechtsarbeit gefördert
werden kann.
Erlauben Sie mir in diesem Kontext, auf einen spekta-
kulären, im moralischen Sinne offenen Fall hinzuweisen.
Wenige Meter entfernt, dort, wo jetzt das Kanzleramt er-
richtet wird, befand sich einst das Magnus-Hirschfeld-
Institut. Formalrechtlich mag das Rückerstattungsver-
fahren in der Nachkriegszeit ordnungsgemäß abgewickelt
worden sein. Es bleibt allerdings ein bitterer Nachge-
schmack, da alle Entschädigungszahlungen an die Allge-
meine Treuhand Organisation erfolgten, die sicherlich
viel Gutes mit dem Geld bewirkte, allerdings faktisch der
eindeutige testamentarische Wille des Stifters bei diesem
Verfahren missachtet wurde.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, bitte
achten Sie auf Ihre Redezeit.
Als der Härtefonds
für verfolgte Juden in den 80er-Jahren eingerichtet wurde,
wurde neben der Individualentschädigung auch der Zen-
tralrat der Juden im Sinne einer Kollektiventschädigung
mit einer Zahlung aus diesem Fonds bedacht. Der Härte-
fonds für verfolgte Nichtjuden sah bisher eine solche
Möglichkeit nicht vor. Warum sollen Mittel, die bisher
nicht aus diesem Fonds abgeflossen sind, nicht für eine
Art Kollektiventschädigung zur Verfügung stehen? Im
Sinne einer Gleichbehandlung der Opfer wäre dies nur
recht und billig.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Gehb,
ich möchte Sie noch einmal daran erinnern, zum Schluss
zu kommen; denn Sie haben Ihre Redezeit reichlich über-
schritten.
Wir wollen mit der
heutigen Debatte sicherlich keinen Schlussstrich ziehen,
wir wollen aber einen Schlussstein legen. Dieses Haus
will in Einmütigkeit den homosexuellen Opfern der NS-
Zeit Respekt und Anerkennung zollen. Mit der Zustim-
mung zum vorliegenden Antrag möchte die CDU/CSU-
Fraktion dies bekunden.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Um-
gang mit den homosexuellen Opfern des Nationalsozia-
lismus ist wahrlich kein Ruhmesblatt für die Bundesrepu-
blik. Im Gegenteil: Es war eine Schande. Das gilt übrigens
auch für große Teile der DDR-Geschichte. Heute sind die
meisten der homosexuellen NS-Opfer, die Zuchthaus und
Konzentrationslager überlebt haben, nicht mehr unter
uns. Den Toten können wir nicht mehr helfen. Wir können
sie nicht mehr persönlich um Entschuldigung bitten. Wir
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Dr. Jürgen Gehb
13742
können hier nur posthum ihre Ehre wiedergeben. Genau
das tun wir heute. 51 Jahre nach der Verabschiedung des
Grundgesetzes wird auch den verfolgten Homosexuellen
ihre Ehre wiedergegeben. Endlich ist es so weit.
Vor fünf Jahren haben Bündnis 90/Die Grünen erst-
mals einen Vorstoß zur Rehabilitierung der Opfer des
§ 175 unternommen – damals noch ohne Erfolg. Heute
zeichnet sich eine breite Mehrheit im Bundestag ab. Das
ist ein sehr gutes Ergebnis einer langen und oftmals auch
quälenden Debatte. Es ist ungeheuer wichtig, dass wir
nicht mit knapper Mehrheit abstimmen, sondern ein Sig-
nal über Parteigrenzen hinaus senden.
Was können wir noch tun? Das NS-Aufhebungsgesetz
muss um Verurteilungen nach § 175 ergänzt werden. Es
ist für die wenigen noch lebenden Opfer schlichtweg un-
zumutbar, dass sie sich einer Einzelfallprüfung unterzie-
hen sollen. Das kann niemand ernsthaft von ihnen verlan-
gen. Ich möchte in diesem Hohen Haus daran erinnern:
Eines der wesentlichen Motive für die Verabschiedung
des NS-Aufhebungsgesetzes war, Abstand von Einzelfall-
prüfungen zu nehmen.
Wir, der Gesetzgeber, sind in der Pflicht, den Opfern
und ihren Angehörigen unmissverständlich zu sagen: Die
Strafbarkeit homosexueller Beziehungen war und ist
menschenrechtswidrig.
Die Verurteilungen wurden von einem Verbrecherregime
ausgesprochen, das die Homosexualität ausmerzen woll-
te. Der Ausmerzungsgedanke hat in der Reichszentrale
zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung im
Reichssicherheitshauptamt, nicht weit von hier in der
Wilhelmstraße, organisatorisch seine Vergegenständli-
chung erfahren. Die Verurteilungen waren Unrecht – ohne
Wenn und Aber.
Neben der Rehabilitierung müssen wir uns auch die
Entschädigung für die Verfolgung der Homosexuellen
und für die Zerschlagung der schwulen und lesbischen
Bürgerrechtsbewegung noch einmal vornehmen. An die-
ser Stelle müssen Lücken geschlossen werden. Dabei ist
heute vor allem an einen kollektiven Ausgleich zu denken,
der die Anerkennung des Unrechts verdeutlicht und der
Förderung homosexueller Menschenrechtsarbeit gewid-
met ist, zum Beispiel in Form einer Stiftung, die vielleicht
den Namen von Dr. Magnus Hirschfeld trägt.
Ebenso sollten wir den Initiativen, die Bürgerinnen und
Bürger unterstützen, die sich in der Erforschung und in
der Erinnerungsarbeit hinsichtlich der Homosexuellen-
verfolgung engagieren, entsprechend unter die Arme grei-
fen. Auf diesem Feld haben Menschen mit geringen Mit-
teln schon Großes geleistet. Das verdient unseren
allergrößten Respekt. Hier müssen wir noch mehr Unter-
stützung geben.
Die heutige Entschließung befasst sich auch mit der
Zeit nach 1945. Der § 175 blieb in der verschärften NS-
Fassung in der Bundesrepublik Deutschland bis 1969
unverändert in Kraft. Dies war auch ein Grund, warum
Menschen weder Nachfolgeorganisationen der Weimarer
Bürgerrechtsbewegung gründen konnten noch individuell
verfolgte homosexuelle Naziopfer den Mut haben konn-
ten, nach dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz Entschä-
digungen für ihre KZ-Lagerhaft zu beantragen. Sie hätten
sich damit selbst denunziert und vermutlich einer neuerli-
chen Strafverfolgung ausgesetzt.
Halten wir uns vor Augen: Auch im demokratischen
Staat wurden Männer ins Gefängnis geworfen, nur weil
sie einen anderen Mann liebten. Für viele Menschen sind
diese drei Ziffern – 175 – zum Schrecken ihres Lebens
geworden. Deswegen ist es so wichtig, dass sich der Ge-
setzgeber endlich ganz ausdrücklich zu seiner Verantwor-
tung bekennt. Es geht um die Verantwortung dafür, dass
durch die fortbestehende Strafandrohung auch in der Bun-
desrepublik homosexuelle Bürger in ihrer Menschen-
würde verletzt wurden.
Diese Erklärung ist ein historisches Signal. Der Deut-
sche Bundestag bittet damit die Menschen um Vergebung,
die unter einem ungerechten Gesetz gelitten haben.
Mit der heutigen Entschließung setzen wir eine end-
gültige klare Zäsur gegenüber einer unseligen deutschen
Rechtstradition. Nach dem Lebenspartnerschaftsgesetz
folgt nun ein weiterer längst überfälliger Schritt, der mehr
Gerechtigkeit für Homosexuelle schafft. Ich bin froh, dass
wir diesen Schritt gemeinsam mit den demokratischen
Parteien gehen können, weil ich glaube, dass dies auch ein
Signal an andere Länder ist, wo die Rechte von Homose-
xuellen noch nicht geachtet werden: Dieses demokrati-
sche Land hatte die Größe, sich zu seinen Fehlern zu be-
kennen und die Menschen, die darunter gelitten haben,
um Entschuldigung zu bitten. Wiedergutmachen und
Zurückgehen zum Status quo ante können wir nicht. Aber
wir können unsere Fehler erkennen und damit auch glaub-
würdig für die Menschenrechte in aller Welt eintreten.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Kol-
lege Jörg van Essen für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
kann nahtlos an das anschließen, was Volker Beck gesagt
hat. Ich freue mich am meisten darüber, dass wir zu einem
gemeinsamen Ergebnis gekommen sind, quer durch das
Haus. Das hat sich ja schon bei der ersten Lesung abge-
zeichnet, als Rot-Grün noch eher vorsichtig und die PDS
mutiger war und sich dann auf einmal ein Konsens ab-
zeichnete, mehr zu machen, mehr in Richtung des PDS-
Antrages. Ich bin darüber froh, weil sich auch die Christ-
demokraten im Hause dem Gedanken nicht verschließen
wollten, dass wir hier etwas aufzuarbeiten haben, dass wir
anzuerkennen haben, dass in unserem Lande Menschen
wegen ihrer sexuellen Identität in einer Weise verfolgt
worden sind, die absolut inakzeptabel ist.
Ich bitte insbesondere die Kollegen, die eher zurück-
haltend sind – sie gibt es wahrscheinlich in allen Fraktio-
nen –, noch einmal nachzudenken. Der eine oder andere
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Volker Beck
13743
wird sagen: Na ja, da ist vielleicht etwas passiert, was wir
heute auch unter Strafe stellen. – Aber das, was dann an
Strafe gefolgt ist, war immer unmenschlich. Das hat nie
dem Rechtsstaat entsprochen. Das war in der Zeit des
Dritten Reiches immer Ausdruck des Willens, homosexu-
elle Menschen, Männer wie Frauen, zu vernichten. Des-
halb ist es eines Rechtsstaates nicht würdig, wenn wir uns
davon nicht distanzieren, wenn wir nicht einen klaren
Schlussstrich ziehen.
Daher finde ich das Signal, dass wir quer durch das
ganze Haus zu diesem Entschluss kommen, besonders
wichtig. Aus diesem Grunde bitte ich auch diejenigen, die
vielleicht eher Bedenken haben, über ihren Schatten zu
springen, mitzustimmen und damit das wunderbare Si-
gnal, das wir heute Abend geben, auch persönlich zu ver-
stärken.
Ich bitte aber um Nachsicht, dass wir uns bewusst nur
auf die Zeit des Dritten Reiches konzentrieren können und
insofern differenzieren müssen. Wir haben in der ersten
Lesung deutlich gemacht, dass auch in der Zeit nach 1945
Menschen schrecklich gelitten haben, dass die Folgen ei-
ner Verurteilung weit über das hinausgingen, was Strafe
eigentlich bewirken soll, nämlich bis hin zur Vernichtung
aller Lebenschancen, bis zur sozialen Ächtung.
Wir müssen feststellen, dass es dies leider in vielen an-
deren Bereichen in ähnlicher Form auch gab. Wir haben
Urteile – ich kann das wiederholen, was ich in der ersten
Lesung gesagt habe –, angesichts derer wir die Hände
über dem Kopf zusammenschlagen. Es waren Alltagsde-
likte, für die man mehrere Monate ins Gefängnis ge-
schickt wurde. Es gab unglaublich harte Urteile gerade in
diesem Bereich, weil vieles von dem, was während des
Dritten Reiches an Unrecht gesät worden ist, Nachwir-
kungen hatte.
Deswegen ist es für uns ganz außerordentlich schwie-
rig, die Zeit nach 1945 aus heutiger Sicht so zu beurteilen,
dass wir sagen: Wir erklären das für Unrecht; wenn wir
nämlich in einem Bereich damit anfingen, das aber nicht
auch auf andere Bereiche ausdehnten, würden wir nicht
wirklich zu Gerechtigkeit kommen. Ich ahne, dass es viele
Bereiche gibt, bei denen wir aus heutiger Sicht sagen müs-
sen, dass wir mit den damaligen Urteilen nicht einver-
standen sein können.
Deshalb denke ich, dass das, was wir tun, der richtige
Weg ist. Wir machen unser Mögliches. Wir bedauern, dass
wir Menschen Unrecht getan haben und dass Menschen
gelitten haben. Ich glaube, dass es für die Betroffenen
ganz außerordentlich wichtig ist, dass der Gesetzgeber
dies anerkennt. Daher werden wir zustimmen. Ich bin
froh, dass wir als Berichterstatter einen gemeinsamen
Text gefunden haben, in den sich jeder einbringen konnte.
Auch das ist wichtig. Jeder hat einen Teil des Textes ge-
staltet. Deshalb stimmt die F.D.P.-Bundestagsfraktion
diesem Antrag gerne zu.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Christina Schenk für die
PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Endlich wird eine hoffentlich breite
Mehrheit des Bundestages die Verfolgung von Homose-
xuellen in der Zeit des Nationalsozialismus als das be-
nennen, was sie war: typisch nationalsozialistisches Un-
recht. Ein solches Bekenntnis wird dazu beitragen, die
Ehre der homosexuellen Opfer des Naziregimes wieder
herzustellen. Diese Klarstellung, meine ich, ist lange
überfällig. Sie kommt spät und für viele Opfer leider viel
zu spät. Dennoch ist sie ein wichtiges politisches Signal
im Prozess der Aufarbeitung der nationalsozialistischen
Vergangenheit Deutschlands.
Die PDS hat im Januar dieses Jahres als erste Fraktion
Anträge zu diesem Problem vorgelegt. Wir begrüßen es
ausdrücklich, dass sich SPD und Grüne den Forderungen
der PDS in weiten Teilen angeschlossen haben. Genauso
ausdrücklich begrüßen wir es, dass darüber hinaus zwi-
schen den Berichterstattern aller Fraktionen eine gemein-
same Antragsformulierung möglich gewesen ist.
Allerdings – das möchte ich deutlich sagen – gibt es
auch jetzt noch keinen Grund zur Euphorie. Was uns hier
zur Abstimmung vorliegt, ist ein Antrag und kein Gesetz-
entwurf. Vorerst wird lediglich ein Handlungsauftrag an
die Bundesregierung beschlossen, das NS-Aufhebungs-
gesetz um die §§ 175 und 175 a Nr. 4 zu ergänzen. Hin-
sichtlich der finanziellen Entschädigung wird nochmals
ein Bericht angefordert, auch wenn uns ein solcher bereits
vorliegt. Er besagt das Altbekannte: Eine individuelle
Entschädigung der Opfer der Homosexuellenverfolgung
in der NS-Zeit hat nicht stattgefunden. Es gab bisher auch
keinen kollektiven Ausgleich für die Enteignung und Zer-
schlagung der homosexuellen Bürgerrechtsbewegung, ih-
rer Organisationen, Verlage und Institutionen.
Die Tatsachen sind bekannt. Die PDS-Fraktion fordert
die Bundesregierung zu schnellem Handeln auf. Die Re-
habilitierung der homosexuellen Opfer des NS-Regimes
ist erst dann wirklich erreicht, wenn der Bundestag die
entsprechenden gesetzlichen Regelungen und Haushalts-
titel beschließt.
Völlig unbefriedigend bleibt aus unserer Sicht die Si-
tuation bezüglich der Homosexuellenverfolgung nach
1945 in beiden deutschen Staaten. Hier wird es heute le-
diglich eine Entschuldigung dafür geben, dass in der Bun-
desrepublik noch bis 1969 die nationalsozialistische Fas-
sung des § 175 fortgegolten hat. In der DDR ist sie – das
ist bereits erwähnt worden – bereits 1950 außer Kraft ge-
setzt worden.
Die PDS hatte nun in ihrem Antrag gefordert, jegliche
Strafverfolgung einvernehmlicher homosexueller Kon-
takte zwischen Erwachsenen als menschenrechtswidrige
Justizpraxis anzuerkennen. Herr Gehb und Frau von
Renesse, es geht hier nicht um eine neue Bewertung eines
bis dato strafwürdig angesehenen Verhaltens, wie sie ja
gelegentlich auch Anlass für Strafrechtsreformen ist,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Jörg van Essen
13744
sondern es geht hier um eine Verletzung von Grundrech-
ten von Anfang an und um rechtswidrige Verurteilungen.
Deshalb meinen wir, dass hier sowohl eine Streichung der
noch im Strafregister enthaltenen Vorstrafen sowie eine
finanzielle Entschädigung der schwulen Opfer der Ho-
mosexuellen-verfolgung geboten gewesen wären. Leider
ist dies von der SPD, den Grünen und auch den anderen
Fraktionen abgelehnt worden.
Zum Schluss möchte ich sagen: Das leidvolle Kapitel
der Homosexuellenverfolgung ist noch lange nicht abge-
schlossen. Die PDS-Fraktion wird mit Nachdruck darauf
drängen, dass die nach wie vor ausstehenden Schritte so
schnell wie möglich gegangen werden.
Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Rechts-
ausschusses auf Drucksache 14/4894. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe a) die Annahme des Antrags
der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 14/2984 zur Rehabilitierung
der im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen in
der Ausschussfassung. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wir stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange-
nommen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss auf Drucksache
14/4894 unter Buchstabe b), den Antrag der Fraktion der
PDS auf Drucksache 14/2619 zur Unrechtserklärung der
nationalsozialistischen §§ 175 und 175 a Nr. 4 Reichs-
strafgesetzbuch sowie zur Rehabilitierung und Entschädi-
gung für die schwulen und lesbischen Opfer des NS-Re-
gimes für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig ange-
nommen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Rechts-
ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der PDS zur Re-
habilitierung und Entschädigung für die strafrechtliche
Verfolgung einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher sexu-
eller Handlungen zwischen Erwachsenen in der Bundesre-
publik Deutschland und der Deutschen Demokratischen
Republik auf Drucksache 14/4914. Der Rechtsausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/2620 abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-
lung ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenom-
men.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
ten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes über die Anpassung von
Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und
Ländern 2000/2001
– Drucksache 14/4247 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Als erster Redner spricht für die CDU/CSU-Fraktion
der Kollege Meinrad Belle.
Frau Präsidentin! Meine
Damen! Meine Herren! Was soll denn das? Wir haben den
inhaltlich gleichen Entschließungsantrag der CDU/CSU-
Fraktion auf Gleichbehandlung der Beamten und Versor-
gungsempfänger mit den Angestellten im öffentlichen
Dienst im September doch erst abgelehnt. Jetzt bringen
die sogar noch einen Gesetzentwurf ein. Das ist doch
unnötig. Der wird doch ohnehin abgelehnt. – So mögen
Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, viel-
leicht denken und nachher wahrscheinlich auch argumen-
tieren.
Ich will Ihre Frage daher von vornherein beantworten:
Wir wollen Sie natürlich ein bisschen ärgern. Aber Spaß
beiseite: Wir wollen Sie auch auf den Pfad der Tugend
führen und Ihnen etwas ins Gewissen reden; denn Sie sind
mit Ihrer Besoldungspolitik auf dem völlig falschen Weg.
Wir sollten, so meine ich, heute Abend die üblichen Spiel-
chen zwischen Regierung und Opposition beiseite lassen
und uns offen, ernsthaft und ohne jegliche Hintergedan-
ken mit dem Problem und der Vorgeschichte auseinander
setzen.
Ich versichere Ihnen: Es ist uns wirklich nicht leicht ge-
fallen, die Dienstrechtsreform ein Jahr vor der letzten
Bundestagswahl und die Versorgungsrechtsreform nur
wenige Monate vor der letzten Bundestagswahl mit ihren
ganz erheblichen Kürzungsmaßnahmen bei den Bezügen
jedes Beamten und jedes Versorgungsempfängers
durchzuführen. Ich will es kurz ins Gedächtnis rufen: Die
Dienstrechtsreform bringt, bezogen auf das Jahr 2008, für
Bund, Länder und Gemeinden Einsparungen in Höhe von
22,8 Milliarden DM; ab 2008 werden sich dann jährlich
3,8 Milliarden DM Einsparungen ergeben. Gleichzeitig
kürzen wir im Versorgungsreformgesetz durch struktu-
relle Einzelmaßnahmen bereits jetzt die Versorgungsaus-
gaben um jährlich 5 Milliarden DM. Das führt über die
Versorgungsrücklage zu einer dauerhaften Kürzung der
Bezüge der aktiven Beamten und der Versorgungsemp-
fänger um 3 Prozent.
Sehen Sie in irgendeiner anderen Branche durchgängig
Gehalts- und Rentenkürzungen? Jedermann musste klar
sein: Diese einschneidenden Kürzungsmaßnahmen wür-
den Auswirkungen bei der Bundestagswahl haben – und
sie hatten es. Wir aber waren von der Notwendigkeit über-
zeugt und haben deshalb die Reformen verwirklicht.
Gerne gebe ich zu, dass Sie diesen Weg teilweise ge-
meinsam mit uns zurückgelegt haben. Das war gut und
verdient auch Anerkennung. Sie sollten daraus aber auch
die richtigen Konsequenzen ziehen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Christina Schenk
13745
Ich will Sie nun nicht im Einzelnen zitieren; das haben
wir im September gemacht. Wir alle – Sie wie auch wir –
waren gemeinsam der Überzeugung, dass jetzt für Son-
deropfer der Beamten und Versorgungsempfänger im
öffentlichen Dienst kein Raum mehr sei. Natürlich ist es
schwer, sich gegen den Finanzminister durchzusetzen.
Ich gebe offen zu, dass ich nicht weiß, ob es uns im um-
gekehrten Falle gelungen wäre, uns gegen den eigenen Fi-
nanzminister zu behaupten.
Sie mögen mich vielleicht auch als den letzten oder
vorletzten Politromantiker bezeichnen. Aber ich versuche
auch in der Opposition, meine Zusagen an die Be-
troffenen, an die Verbände einzuhalten.
Es tut mir daher wirklich weh, wenn ich sehen muss,
dass es heute ohne Rücksicht auf Dienstrechts- und Ver-
sorgungsrechtsreform mit den Sonderopfern, mit den
verzögerten Übertragungen, mit den tatsächlichen Null-
runden bei den Versorgungsempfängern genauso weiter-
geht wie früher, als es – das ist das Entscheidende – die
Dienstrechts- und Versorgungsrechtsreform noch nicht
gab. Daher geht doch der Vorwurf, den Sie uns im Sep-
tember gemacht haben und den Sie heute vielleicht – oder
sogar wahrscheinlich – wiederholen werden, wir hätten in
früheren Zeiten ebenfalls die Tarifabschlüsse verzögert
übertragen oder wir hätten früher sogar Besoldungser-
höhungen unterhalb der Inflationsrate durchgeführt,
unter diesen Umständen ins Leere; denn das war vor der
Dienstrechts- und Versorgungsrechtsreform. Tatsächlich
liegt dazwischen eben diese Reform mit ihren erheblichen
Kürzungsmaßnahmen bei den einzelnen Beamten und
Versorgungsempfängern.
Ich habe daher heute die herzliche Bitte an Sie: Ver-
gessen Sie die parteipolitischen Gegensätze, überdenken
Sie die Situation und sprechen Sie auch ein ehrliches und
klärendes Wort als Beamtenpolitiker – wenn nicht heute,
dann vielleicht doch im weiteren Gesetzgebungsverfah-
ren.
Ich sage dies heute auch bewusst im Hinblick auf die
weitere Fortführung der Versorgungsrechtsreform nach
der nun von Ihnen neu in die Wege geleiteten Rentenre-
form. Bedenken Sie bitte: Sie haben die Rentenreform der
letzten Legislaturperiode nach Ihrem Wahlsieg zwar
zurückgenommen; aber nachdem nun auch der Versor-
gungsabschlag im Falle des vorzeitigen Eintritts in den
Ruhestand ab 1. Januar 2001 in Kraft gesetzt ist – wir ha-
ben zugestimmt, wir haben es mit getragen –, wirken sich
die Kürzungsmaßnahmen des Dienstrechtsreformgeset-
zes und des Versorgungsreformgesetzes bereits seit 1998
bei jedem Beamten und Versorgungsempfänger aus.
Berücksichtigen Sie dies bitte bei der Fortführung der
Versorgungsrechtsreform und kehren Sie bei der Besol-
dungsanpassung auf den Pfad der Tugend zurück.
Sonst zerstören Sie – das ist mir wirklich ernst – die
Grundlagen für künftige Gespräche mit den Betroffenen
und den Verbänden über jeden weiteren sinnvollen Re-
formansatz. Die Glaubwürdigkeit und das Vertrauen in
die Politik sind heute bereits bei den betroffenen Versor-
gungsempfängern wie Beamten erheblich beschädigt.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt spricht der Kol-
lege Hans-Peter Kemper für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsi-
dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte
zunächst meinem Kollegen Meinrad Belle für die sehr
sachliche und sehr ehrliche Rede danken.
Herr Belle, Sie wollen uns auf den Pfad der Tugend
führen. Ich sage Ihnen: Sie wollen uns auf einen Pfad
locken, auf dem Sie selbst nie gegangen sind. Das ist das
Problem dabei. Denn Sie fordern jetzt etwas, was Sie
während Ihrer Regierungszeit in 16 Jahren nicht gemacht
haben. Das geht auch in Richtung meines geschätzten
Kollegen Max Stadler, der gleich wieder sagen wird:
Mein Kollege Kemper hat da vorn Dinge vertreten, hinter
denen er wohl gar nicht steht.
So ist es, wenn man aus der Opposition in die Regie-
rung kommt; dann wird man mit den eigenen Forderun-
gen aus der Oppositionszeit konfrontiert und stellt fest,
dass es eine Menge Geld kostet, was man da gefordert
hat.
Andererseits ist es aber so, dass diejenigen, die aus der
Regierung in die Opposition kommen, plötzlich Forde-
rungen stellen, die sie selbst während der Zeit, als sie die
Chance dazu hatten, nie verwirklicht haben.
Es ist richtig, Herr Belle: Wir haben vor einigen Wochen
hier gestanden, haben die gleiche Diskussion geführt, die
Argumente sind dieselben gewesen. Wir haben in der Op-
position die inhaltsgleiche Übernahme von Tarifergebnis-
sen gefordert und haben das auch gemacht. Wir haben im
ersten Schritt 2 Prozent und im zweiten Schritt 2,4 Pro-
zent abzüglich der Versorgungsrücklage beschlossen. Das
war nicht so ganz einfach. Sie wissen, dass der Finanzmi-
nister – Sie haben ihn bereits angesprochen – sehr hart ist.
Er rückt so leicht keine Mark heraus.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Meinrad Belle
13746
Mithilfe unseres Staatssekretärs, mithilfe unseres Innen-
ministers, aber auch mithilfe Innenpolitiker im Innenaus-
schuss – nicht nur der sozialdemokratischen – ist es ge-
lungen, dieses Ergebnis, das wir heute auf dem Tisch
haben, zu erreichen.
Führen Sie sich einmal die Ausgangslage vor Augen.
Aufgrund der immensen Verschuldung, die wir vorgefun-
den haben, hat der Finanzminister zunächst einmal ge-
sagt: Es ist nur ein Inflationsausgleich möglich. Das
bedeutete eine Erhöhung um 0,6 Prozent im ersten Schritt
und um 1,6 Prozent im zweiten Schritt. Dass wir heute
diese relativ starken Besoldungserhöhungen vorneh-
men, ist auch ein Verdienst derjenigen, die sich als beam-
tenpolitische Sprecher im Innenausschuss verstehen.
Deswegen – und nicht nur, weil bald Weihnachten ist –
möchte ich meinen Dank an die übrigen Berichterstatter
für die sachliche Zusammenarbeit im Innenausschuss aus-
sprechen. Es gibt wenig Streit. Wir verhandeln meistens
auf einer sehr soliden Basis. Die Zusammenarbeit macht
also Spaß. Dafür ein ganz herzliches Dankeschön.
Sie müssen uns natürlich kritisieren. Das haben wir ja
auch gemacht, als wir in der Opposition waren. Sie tun das
oft gegen Ihre Überzeugung. Das ist auch nicht schlimm.
Wir nehmen Ihre Vorschläge auf, wenn sie vernünftig
sind; das haben Sie jetzt bei der Kindergeldabsicherung
gesehen. Sie haben den Vorschlag gemacht, die Regelung
über das dritte und jedes weitere Kind von Beamten in das
Gesetz über die Versorgungsabschläge aufzunehmen. Das
haben wir gemacht. Da, wo Sie vernünftige Vorschläge
machen, sind wir für sie offen, nehmen sie auf und setzen
sie auch um.
Wir haben die inhaltsgleiche Übertragung geschafft,
aber nicht die zeitgleiche. Das hing mit den zerrütteten Fi-
nanzen zusammen. Dem mussten wir Rechnung tragen.
Aber wichtig ist: Wir hatten keine Niveauabsenkungen,
die dauerhaft schädliche Folgen für die Beamten und die
Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst gehabt hätten, zu
verzeichnen. Der negative Basiseffekt ist ausgeblieben.
Den haben wir gemeinsam verhindert.
Ich habe den Sparzwang mehrfach angesprochen. Das
ist eine schwierige Situation. Aber ich kann Ihnen sagen:
Sie können beruhigt in Ihre Weihnachtsferien fahren. Die
rot-grüne Koalition hat die Staatsfinanzen weitgehend
stabilisiert. Die Zukunft Ihrer Kinder und Enkelkinder ist
einigermaßen gesichert.
Sie können in Ruhe Weihnachten feiern.
Die Minderausgaben bei dieser ganzen Aktion belaufen
sich auf 3,5 Milliarden DM, wobei der Bund nur geringfü-
gig betroffen ist. Wir haben 660Millionen DM eingespart.
Aber bei den Ländern ging es um 2,5 Milliarden DM. Sie
waren es, die gesagt haben: Macht diese Änderung, die die
CDU will, bitte nicht! – Es waren auch die CDU-regierten
neuen Bundesländer, die gesagt haben: Wir können das
nicht bezahlen.
Die Übertragung der Tarifergebnisse lässt die akti-
ven und die Ruhestandsbeamten trotz schwieriger Haus-
haltslage an der allgemeinen Einkommensentwicklung
teilhaben. Das war nicht immer so; das haben Sie selbst
angesprochen. In den Jahren 1989, 1993, 1994, 1996 und
1997 haben die Besoldungserhöhungen jeweils unter dem
Tarifabschluss gelegen. Auch die zeitgleiche Übertragung
ist Ihnen 1991, 1993, 1994, 1995 und 1997 nicht geglückt.
Von daher ist das, was Sie jetzt fordern, genau das, was
Sie selbst nicht gemacht haben.
Auch die Angleichung der Bezüge in den neuen Bun-
desländern ist Ihnen nicht geglückt. Wir haben in drei
wichtigen Schritten eine Annäherung der Ostbezüge bis
auf 90 Prozent der Westbezüge hingekriegt. Ich weiß, dass
es den Menschen in den neuen Bundesländern nicht zu
vermitteln ist, dass sie für die gleiche Arbeit, teilweise in
den gleichen Dienststellen und den gleichen Bundes-
wehreinheiten, weniger Geld bekommen als die, die im
Westen in den Dienst eingetreten sind.
Das kann uns auf die Dauer nicht beruhigen. Wir müssen
gemeinsam darum kämpfen, dass sich das ändert. Das
werden wir auch hinkriegen, aber langsam, weil die neuen
Bundesländer hier sonst überfordert wären. Wir können
keine Beschlüsse fassen, die unsere Länder in die Knie
zwingen. Deswegen kann das nur im Konsens mit den
Bundesländern gemacht werden, so unangenehm das
auch im Moment ist.
Mit dem jetzt vorliegenden Ergebnis erkennen wir die
Leistungen im öffentlichen Dienst. Dort werden gute
Leistungen erbracht. Wer gute Leistungen erbringt, der
hat es auch verdient, dass er dafür vernünftig entlohnt
wird.
Ich will mit einem letzten Satz daran erinnern, dass
viele im öffentlichen Dienst, bei der Polizei und der Feu-
erwehr, arbeiten müssen, während wir in die Weihnachts-
ferien gehen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Kemper,
Sie müssen bitte an Ihre Redezeit denken.
Vielen Dank, Frau Prä-
sidentin. Ich bin dabei, mich zu verabschieden.
Viele müssen über Heiligabend Dienst versehen. Sie
stehen für unsere Sicherheit ein. Feuerwehr und Polizei
sorgen dafür, dass wir in Ruhe Weihnachten feiern kön-
nen. Dafür möchte ich ihnen von hier aus öffentlich dan-
ken. Ich denke, dem werden Sie sich nicht verschließen.
Ich wünsche den Mitgliedern dieses Hauses und natürlich
auch Ihnen, Frau Präsidentin –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das ist ein langer Ab-
schied.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Hans-Peter Kemper
13747
– ich danke für Ihre
Großmut –, ein schönes Weihnachtsfest und einen guten
Rutsch ins neue Jahr.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Kol-
lege Dr. Max Stadler für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Das, was Kollege
Kemper gerade zum Besten gegeben hat, erinnert an den
bekannten Filmtitel „Der kurze Weg zum langen Ab-
schied“.
Aber nun zum Thema: Wir haben schon am 28. Sep-
tember 2000 in gleicher Besetzung eine identische De-
batte veranstaltet. Anlass war damals der Gesetzentwurf
der F.D.P.-Fraktion, mit dem eine zeit- und inhaltsglei-
che Übernahme des Ergebnisses der Tarifverhandlun-
gen auf die Beamten und Versorgungsempfänger verlangt
worden ist. Nunmehr hat die CDU/CSU-Fraktion am
10. Oktober dieses Jahres erfreulicherweise mit einem
nahezu wortgleichen Gesetzentwurf nachgezogen,
der heute in erster Lesung zu behandeln ist und der, wie
Sie sich leicht vorstellen können, von der F.D.P. freund-
lich aufgenommen und gewürdigt wird. Denn dieser Ge-
setzentwurf gibt uns ein zweites Mal Gelegenheit, an die
Regierungsfraktionen zu appellieren, schlicht und einfach
das zu tun, was sie in ihrer eigenen Zeit als Oppositions-
fraktionen immer wieder verlangt haben.
Ich meine, wir sollten diese Debatte zum Anlass neh-
men, uns wenigstens auf einen Grundsatz zu verständi-
gen: Es darf weder eine Schlechter- noch eine Besserstel-
lung von Beamten und Versorgungsempfängern geben.
Vielmehr muss eine Gleichstellung gegenüber den Arbei-
tern und Angestellten des öffentlichen Dienstes erfolgen.
Das muss der Grundsatz sein.
Nun wenden Sie natürlich zu Recht ein, dass auch wir
in der Vergangenheit nicht immer in der Lage gewesen
sind – denn auch da hat es Sparzwänge gegeben –, diesen
Grundsatz in Reinkultur zu verwirklichen. Aber dies darf
kein Freibrief dafür sein, jetzt von Tarifrunde zu Tarif-
runde mit der Übertragung des Tarifergebnisses so zuzu-
warten, wie Sie es diesmal tun.
Vielmehr muss man in jedem Einzelfall prüfen, wie die
Lage genau ist. Meine Meinung zum diesjährigen Tarifer-
gebnis ist, dass es wirklich maßvoll ist. Die Tarifvertrags-
parteien haben – das werden auch Sie nicht bestreiten –
Vernunft bewiesen. Ich glaube, sie haben nicht überzogen.
Deswegen wäre es dieses Mal sehr wohl möglich, das Ta-
rifergebnis zeit- und inhaltsgleich auf die Beamtenschaft
zu übertragen. Sie wollen aber für viele Beamte im Jahr
2000 faktisch eine Nullrunde. Dem werden wir nicht zu-
stimmen.
Ich darf Sie auch noch darauf hinweisen, welche Un-
gereimtheit bei den Betroffenen besonderen Ärger ver-
ursacht: Die Angestellten bekommen bekanntlich eine
Einmalzahlung von 400 DM für das Jahr 2000. Die
Einmalzahlung wird auch dann ausgezahlt, wenn es sich
um sehr gut vergütete Angestellte handelt; das Wort
„Besserverdiener“ will ich jetzt vorsichtshalber gar nicht
erwähnen. Dagegen bekommt zum Beispiel die vom Kol-
legen Kemper gerade angesprochene Berufsgruppe der
Polizeibeamten diese Einmalzahlung in manchen Fällen
möglicherweise nicht.
– Ja, es gibt eine Differenzierung. Gleichwohl besteht hier
eine Ungleichbehandlung von Angestellten und Beamten,
die sich finanziell für den Einzelnen so sehr gar nicht aus-
wirkt, die aber doch als eine Diskriminierung empfunden
wird und für die Sie bei den betroffenen Beamten und Ver-
sorgungsempfängern kein Verständnis erwarten können.
Noch wäre Gelegenheit, Ihre Haltung zu korrigieren.
Die zweite Debatte hier im Plenum bietet Ihnen die Mög-
lichkeit dazu. Sie sollten die Gesetzentwürfe der F.D.P.
und der Union dazu nutzen, diese Chance wahrzunehmen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Helmut Wilhelm für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Helmut Wilhelm (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Ich spreche insbesondere Sie an, meine Damen und Her-
ren von der CDU/CSU. Wahre Freunde erkennt man in
der Not. Sie wollen den Anschein erwecken, Freunde der
Beamtinnen und Beamten zu sein. Als ehemaliger und
auch als zukünftiger Beamter war ich fast geneigt zu glau-
ben, Sie nehmen dieses Anliegen wirklich ernst. Dann aber
hat mich Ihr Gesetzentwurf doch veranlasst, in die Tiefen
der Vergangenheit hinabzusteigen. Herr Kollege Belle, Sie
haben es schon richtig vermutet: Da bin ich fündig gewor-
den. Sie erinnern sich: Während Ihrer Regierungszeit wur-
den Besoldung und Versorgung doch mehrfach unterhalb
der Inflationsraten angehoben und auch die Anpassung der
Besoldung an das dem Tarifergebnis für Angestellte mehr-
fach verschoben. Herr Kollege Belle, Sie haben das ehrlich
eingeräumt. Dafür möchte auch ich mich ganz herzlich be-
danken.
Was tut denn eigentlich diese Bundesregierung? Es ist
vorgesehen, das Ergebnis der Tarifverhandlungen für den
öffentlichen Dienst in gleichem Umfang und zeitlich nur
geringfügig verschoben zu übernehmen. Bezüge und
Pensionen werden im ersten Schritt um 2 Prozent und im
zweiten Schritt um weitere 2,4 Prozent erhöht, abzüglich
jeweils von 0,2 Prozent Versorgungseinbehalt. Damit stei-
gen die Gehälter während unserer bisherigen Regierungs-
zeit durchaus real. Wir setzen also machbare Lösungen
um.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 200013748
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, in der
Nach-Kohl-Ära sollten die Zeiten der Versprechungen ins
Blaue der Vergangenheit angehören. Vorlagen sollten ei-
nen soliden Deckungsvorschlag enthalten. Die frühere
Regierungskoalition von Ihnen hat uns doch in die heutige
schwierige Haushaltssituation gebracht. Ich glaube, Sie
müssen zur Kenntnis nehmen: Diese Bundesregierung
wird bei all ihren Entscheidungen auch darauf achten,
dass Ausgaben finanzierbar bleiben und sich der Schul-
denstand nicht weiter erhöht. Diese Bundesregierung
macht aber das, was möglich ist.
Nicht umsonst hat ja auch der Bundesrat einen gleich
gerichteten Antrag Ende September abgelehnt. Denn die
Länder als Hauptarbeitgeber von Beamten wären von
Ihrem jeztigen Gesetzentwurf – hätte er Erfolg – beson-
ders betroffen; sie scheinen nicht unheimlich begeistert
davon zu sein. Tun Sie denen das doch nicht an! Einige
Bundesländer werden ja auch von der CDU bzw. der CSU
geführt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Heidemarie Ehlert für die PDS-Fraktion.
Heidemarie Ehlert (von der PDS mit Beifall
begrüßt): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es
gibt nicht nur Beamtensprecher, sondern auch -spreche-
rinnen. Auch ich bin Beamtin. Liebe Regierungsvertreter,
Sie müssen den Beamtinnen und Beamten schon einmal
erklären, warum Sie denen nicht nur das Weihnachtsge-
schenk in Höhe von 400 DM nicht gönnen, sondern das
alles andere auch noch auf den Zeitraum September bis
Dezember verschoben haben. Das ist wirklich nur ein
Trostpflaster, wohingegen Sie beim Weihnachtsgeld für
einen geschassten Minister nicht gespart haben.
Sie müssen meinen Kolleginnen und Kollegen im Fi-
nanzamt Halle-West einmal erklären, warum sie für glei-
che Arbeit nur 87 Prozent und nicht wie ihre Kollegen in
Duisburg oder Hamburg 100 Prozent bekommen.
Es wurde die Forderung gestellt, Leistung müsse vergütet
werden. Wer Leistungen fordert, muss auch bereit sein,
sie zu bezahlen. Es geht doch nicht um Geschenke an Be-
amte.
Es wurde vom Bundestagswahlkampf gesprochen.
Liebe CDU, ich glaube, Sie wollen die Beamtinnen und
Beamten wieder zurückgewinnen. Irgendwie kommen
Sie da zu spät: Fünfmal geht die Verschiebung der An-
gleichung der Besoldung auf Ihr Konto, nur einmal auf
das Konto dieser Regierung. Wo liegen also die größeren
Lasten?
Spaß beiseite; das Thema ist ernst. Es ist von einem
sparsamen Finanzminister die Rede, dem wir es zu ver-
danken haben, dass die Beamten wieder einmal bluten
sollen. Aber dieser Finanzminister gibt locker 2 Milli-
onen DM für eine Werbekampagne zur Steuerreform
aus.
Ein anderes Beispiel: Heute hat der Haushaltsaus-
schuss locker zweimal 50 Millionen DM für Waffensys-
teme und – im Nachtragshaushalt über Nacht – locker
10 Milliarden DM für ein Großraumflugzeug beschlos-
sen. Erklären Sie dies bitte den Damen und Herren Be-
amten und Richtern! Erklären Sie vor allen Dingen den
Soldaten aus den neuen Bundesländern, die nach wie vor
nur beim Einsatz im Kosovo 100 Prozent erhalten, aber
nur 87 Prozent bekommen, wenn sie wieder zurückge-
kehrt sind, warum das Geld für sie nicht vorhanden ist, es
aber für solche Projekte wie die eben genannten herausge-
worfen werden kann.
Sie müssen schon ehrlich sagen, was Sie wollen. Sagen
Sie es den Betroffenen bitte noch vor Weihnachten! Sie
haben die Chance dazu.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in die-
ser Debatte ist der Parlamentarische Staatssekretär im
Bundesinnenministerium, Fritz Rudolf Körper.
F
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Ich hätte Sie gern schneller zur Kuba-Debatte
schreiten lassen. Aber ich muss doch noch einige Bemer-
kungen zu diesem Thema machen.
Wenn man den Kollegen Belle hört, dann muss man
fairerweise sagen: moderat im Ton, aber im Ansinnen
doch etwas populistisch. Wenn man sieht – darüber sollte
man sprechen –, wie die Anpassungen zu Ihrer Regie-
rungszeit aussahen – zum Beispiel lag die Inflationsrate
1989 bei 2,9 Prozent und Ihre Anpassung bei 1,4 Pro-
zent –, dann muss man sagen: Das war alles andere als so-
zial, fair und gerecht.
1993 war es ähnlich: 3,7 Prozent Inflationsrate und nur
3 Prozent Erhöhung. Auch das war alles andere als sozial
und gerecht. Lieber Herr Belle, ich könnte diese Reihe
fortsetzen. Sie haben nicht nur zwei Sündenfälle began-
gen, sondern mehrere. Das muss man hier einfach fest-
halten.
Eine zweite Bemerkung an die linke Seite, was das
Thema Ost/West-Tarife anbelangt. Ich will es kurz auf
den Nenner bringen.
Wer beispielsweise die Angleichung in einem Schritt ge-
fordert hat, muss wissen, dass er damit eine Forderung
von 9 Milliarden DM Mehrkosten pro Jahr gestellt hat.
Auch an dieser Stelle geht das PDS-Motto „Geld braucht
man nur zu beschließen“ nicht auf. Es gilt vielmehr: Geld
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Helmut Wilhelm
13749
muss man haben, um eine solche Maßnahme finanzieren
zu können.
Eine weitere Bemerkung: Wie ernst das Thema Besol-
dung und Versorgungsanpassung auf Bundesratsebene
genommen wird, kann ich Ihnen am Verhalten des Saar-
landes verdeutlichen, welches diesen populistischen An-
trag gestellt und gleichzeitig einen Gesetzentwurf einge-
bracht hat, mit dem die Gehälter für die Berufsanfänger
abgesenkt werden sollen. Das passt überhaupt nicht zu-
sammen. Das sollte sich dieses Land gehörig hinter die
Ohren schreiben.
Ich will in aller Kürze noch Folgendes sagen: Die pro-
zentuale Anpassung entspricht dem Tarifergebnis: 2 Pro-
zent zum 1. Januar 2001 und 2,4 Prozent zum 1. Januar
2002. Von einer Abkoppelung kann also überhaupt nicht
die Rede sein. Im Gegenteil: In der Zeit von 1999 bis 2002
gibt es eine lineare Erhöhung von 7,5 Prozent. Sie wären
froh, wenn Sie das in Ihrer Regierungszeit erreicht hätten.
Folgendes will ich Ihnen ebenfalls in aller Offenheit sa-
gen und an einem Beispiel verdeutlichen: Das Nettoein-
kommen eines Oberinspektors in Besoldungsgruppe A 10
– 40 Jahre, verheiratet, zwei Kinder, Steuerklasse III –
steigt in den Jahren 2000 und 2001 einschließlich steuerli-
cher Entlastungen und der Kindergelderhöhung um mo-
natlich 250 DM. Das entspricht einer prozentualen Netto-
Steigerung von 5 Prozent. Das kann sich sehen lassen.
Dr. Klaus Grehn [PDS]: Rechenkünste!)
Was mich wirklich nachdenklich stimmt – lieber Herr
Belle und lieber Herr Stadler, das muss ich Ihnen einmal
deutlich sagen –: Wir haben uns die Mühe gemacht, ein-
mal eine Rechnung aufzustellen, wie viel Mehrkosten ge-
genüber der Regierungsvorlage durch Ihren Gesetzent-
wurf – wenn er beschlossen würde – entstehen würden.
Wir kamen zu dem Ergebnis, dass die Kosten sage und
schreibe 3,3 Milliarden DM – 2,4 Milliarden DM aufge-
teilt auf die Länder und für den Bund rund 550 Milli-
onen DM – betragen würden. Ich halte es schlichtweg für
unseriös, einen solchen Vorschlag zu machen, ohne
gleichzeitig einen Deckungsvorschlag vorzulegen.
Dass Sie zu der Frage der Kostendeckung gänzlich
schweigen, ist für mich überraschend. Stil und Form las-
sen mich auch ein bisschen an der Ernsthaftigkeit Ihres
Entwurfs zweifeln, auch wenn er sich für eine Veröffent-
lichung in dem einen oder anderen Presseorgan gut zu eig-
nen scheint. Deswegen werden wir diesem Entwurf nicht
zustimmen, was Sie sicherlich nicht überraschen wird.
Schönen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 14/4247 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu an-
derweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung
– zu dem Antrag der Abgeordneten Adelheid
Tröscher, Friedhelm-Julius Beucher, Lothar
Mark, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika
Köster-Loßack, Hans-Christian Ströbele,
Kerstin Müller , Rezzo Schlauch und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba
– zu dem Antrag der Abgeordneten Carsten
Hübner, Dr. Barbara Höll, Heidi Lippmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
PDS
Aufnahme der Entwicklungszusammenar-
beit mit Kuba im Jahr 2000
– Drucksachen 14/3128, 14/2263, 14/4580 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Adelheid Tröscher
Klaus Jürgen Hedrich
Hans-Christian Ströbele
Joachim Günther
Carsten Hübner
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist für die
SPD-Fraktion die Kollegin Adelheid Tröscher.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Zu so später Stunde noch ein
Ausflug in die große weite Welt, nämlich nach Kuba. Es
war richtig, die Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba
aufzunehmen. Es ist auch richtig, dass wir darüber spre-
chen. Wenn wir innerhalb weniger Monate schon kon-
krete Ergebnisse vorweisen können, heißt das, dass die
Ministerin, Heidemarie Wieczorek-Zeul, sehr gute Arbeit
geleistet hat.
Die Aufnahme der Entwicklungszusammenarbeit war
eine Initialzündung. So kann ich Ihnen mitteilen, dass der
Vorsitzende der Kultusministerkonferenz, der Bremer
Bildungssenator Willi Lemke, dieser Tage in einer Pres-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Parl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper
13750
semeldung berichtete, dass Kuba und Deutschland in
allernächster Zeit ein Kulturabkommen abschließen wer-
den; die Länder sind also mit im Boot.
Willi Lemke war nämlich vorige Woche auf Einladung
des kubanischen Bildungsministers in Havanna und
konnte sich selber ein Bild machen. Nachhaltige Ent-
wicklung braucht Bildung, auch bei uns. Es ist ein unbe-
streitbarer Erfolg für unsere Ziele in der Entwicklungspo-
litik, wenn viele Hochschulvertreter aus unserem Land
sagen, sie wollten unbedingt die Projekte zwischen Hoch-
schulen und Forschungsinstituten auf Kuba und in
Deutschland voranbringen.
Niemand von uns verschweigt die noch immer schwie-
rige Lage in den Bereichen Demokratie, Menschenrechte
und Pressefreiheit auf Kuba. Doch wo wären wir, wenn
unsere Regierung keinen Anfang gewagt hätte? Auch des-
halb hat der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenar-
beit und Entwicklung die Zustände kritisch in seine Be-
schlussempfehlung aufgenommen. Ich will Sie an dieser
Stelle fragen: Wo sehen Sie die Alternativen, wenn selbst
Bischöfe, etwa Bischof Kamphaus, und Vertreter der an-
deren Kirchen sowie Vertreter von Stiftungen und Nicht-
regierungsorganisationen im Dialog und im Kontakt den
einzigen gangbaren Weg zu Veränderungen sehen? Auch
die kubanische katholische Kirche schließt sich dieser
Sicht an. Dies konnten wir aus Gesprächen mit dem Bi-
schof von Havanna als positive Stellungnahme mitneh-
men.
Wir werden nicht müde zu wiederholen, dass die Auf-
nahme der Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba nicht
zuletzt auf der EU-Position zum Thema Kuba beruht. Un-
ter französischer Ratspräsidentschaft ist noch in diesen
Tagen eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen
EU und Kuba vorgesehen. Ist Jacques Chirac verdächtig,
einen karibischen Diktator zu hofieren? Nur durch die
Einbindung in Entschuldungsstrategien internationalen
Zuschnitts kann man auf dauerhafte Veränderungen in der
innerkubanischen Gesellschaft hoffen.
Nur wenn sich die kubanische Regierung auf Mit-
gliedschaften wie beispielsweise beim Lomé-Folgeab-
kommen einlässt, kann man sie aufgrund der Verpflich-
tungen, die damit zusammenhängen, anmahnen, über die
Menschenrechtssituation vor der eigenen Haustür nach-
zudenken und diese zu verbessern. Verhärtung und Isolie-
rung waren in einem Konflikt noch nie die besseren Rat-
geber.
Sie alle sollten wissen, dass der Ansatz unserer Minis-
terin, sich auf Projekte im Umwelt- und Gesundheitswe-
sen in der Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba zu
konzentrieren, erfolgreicher und gewinnbringender für
uns alle ist.
Hochrangige republikanische US-Politiker fordern in
einem Bericht, der vor wenigen Tagen in den USA veröf-
fentlicht wurde, eine radikale Reform der Beziehungen
zwischen den USA und Kuba,
und zwar in Richtung Auflockerung der Embargo-Be-
stimmungen. Das betrifft in erster Linie natürlich Han-
delsbeziehungen, von denen dann US-Unternehmen bald
wieder profitieren könnten. Aber auch die Visabestim-
mungen – für beide Reiserichtungen: USA–Kuba und
Kuba–USA – sollen deutlich vereinfacht werden.
Der „Council of Foreign Relations“, in dem sowohl
Demokraten als auch Republikaner mitarbeiten, schlägt
ganz ähnliche Wege der Kooperation und Joint Ventures
vor, auch wir von der Koalition wollen das. Es geschehen
also noch Zeichen und Wunder.
Zwei ehemalige republikanische Staatssekretäre – der
eine, William D. Rogers, arbeitete für Richard Nixon, der
andere, Bernard Aronson, für George Bush Senior – gel-
ten als Hauptautoren des Berichts über die Auflockerung
der Embargo-Bestimmungen. Sie sehen also: Die Em-
bargo-Bestimmungen haben sich aufgelöst und sehen
mittlerweile sozusagen aus wie ein Schweizer Käse.
Die Nichtregierungsorganisationen, von denen ich
selbst einige Vertreter im Januar dieses Jahres auf Kuba
getroffen habe – übrigens zusammen mit dem Kollegen
Kraus und dem Kollegen Günther – haben allesamt unse-
ren Weg des Dialogs und der Projektzusammenarbeit
gelobt. Sie haben sehr deutlich gesagt, dass dies der ein-
zige Weg ist, von dem auch die Arbeit der Nichtregie-
rungsorganisationen profitieren könnte. Nur wenn die
Welt nach Kuba blickt, kann man auch die Fehltritte wie
Menschenrechtsverletzungen sehen.
Wagen wir nun die Demokratieförderung für Kuba,
meine Kolleginnen und Kollegen! Warten wir nicht, bis
die Zeit über uns hinweggeht.
Danke sehr.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Erika Reinhardt für die Fraktion der
CDU/CSU.
Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! „Entwicklungs-
politik braucht Menschenrechte – Menschenrechte brau-
chen Entwicklung!“ –
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Adelheid Tröscher
13751
Das sind die Worte der Bundesministerin Wieczorek-Zeul
vom 29. Juni dieses Jahres. Ich muss sagen: Es sind gute
Worte; denn die Wahrung der Menschenrechte ist eine
der wichtigsten Voraussetzungen der entwicklungspoli-
tischen Zusammenarbeit,
und zwar aus moralischen Erwägungen, aber auch aus Er-
wägungen der Nachhaltigkeit unserer Hilfen.
Sie, Frau Ministerin, haben seit Ihrem Amtsantritt im-
mer wieder betont: Die Bundesregierung setzt sich heute
mehr denn je für den Schutz und die Achtung der Men-
schenrechte ein. „Mehr denn je“, das waren Ihre Worte in
einer Pressemitteilung. Wir begrüßen diesen Einsatz. Sie
werden uns bei dieser Sache immer an Ihrer Seite haben.
– Seien wir doch ganz ehrlich. Wie sieht es denn in Kuba
aus, in einem Land, mit dem Sie offizielle entwicklungs-
politische Zusammenarbeit auf staatlicher Ebene betrei-
ben wollen?
Das Gesetz zum Schutz der nationalen Unabhängigkeit
und Ökonomie Kubas vom 15. März 1999 erlaubt will-
kürliche Maßnahmen gegen jedermann, der dem Regime
nicht genehm ist. Im April 2000 startete die kubanische
Regierung eine neue Kampagne gegen die katholische
Kirche. In einem Werbespot wird eine dominikanische
Schwester dämonisiert.
Im Frühjahr 2000 zog Kuba sein Beitrittsgesuch zur
AKP-Gruppe zurück, ein Rückzug, der nach der Verur-
teilung Kubas durch die Genfer Menschenrechtsorgani-
sation erfolgte. Der Verurteilung hat übrigens auch
Deutschland zugestimmt.
Es reicht nicht, Frau Ministerin, wenn der Außenminis-
ter sich in einem Gespräch mit Ihnen zu den Prinzipien,
die im Lomé-Abkommen festgelegt sind, bekennt, aber
im Grunde anders gehandelt wird. Ende Juni wurde einem
Vertreter der Konrad-Adenauer-Stiftung die Einreise nach
Kuba mit der Mitteilung verweigert, Kuba habe kein In-
teresse an der Kooperation mit dieser Stiftung.
Im Sommer stieg die Fluchtwelle aus Kuba dramatisch
an. Allein im Juli dieses Jahres erreichten mehr als
220 Kubaner unter lebensgefährlichen Bedingungen das
rettende US-Ufer. Im August 2000 gab Amnesty Interna-
tional bekannt, dass im vergangenen Jahr in Kuba bis zu
30 Menschen hingerichtet oder zum Tode verurteilt wur-
den: Umgerechnet auf die Gesamtbevölkerung sind dies
doppelt so viele wie in China und fünfmal so viele wie in
den USA. Damit das ganz klar ist: Ich bin grundsätzlich
gegen die Todesstrafe. Ganz egal, wo sie ausgesprochen
wird: Ein solches Urteil darf es nicht geben. Wir haben ja
heute erst eine Diskussion darüber geführt.
Kuba unterhält nach wie vor die größte und teuerste Ar-
mee Lateinamerikas. Auch das ist ein eklatanter Verstoß
gegen unsere Kriterien.
Diese Fakten, unsere Erfahrungen und Versuche einer
Zusammenarbeit – auch Minister Spranger hat sich schon
um Zusammenarbeit bemüht; das ist nichts Neues – sowie
die Ergebnisse internationaler Studien weisen klar darauf
hin, dass sich Kuba im Gegensatz zu anderen Ländern wie
Polen und Ungarn auch in Zukunft nicht an Marktwirt-
schaft orientieren will. Es bleibt bei einer planwirtschaft-
lichen Ausrichtung; es ist keinerlei Veränderung zu er-
warten. Vizepräsident Carlos Lage hat dies klar auf eine
Frage von mir bestätigt, als er damals in Deutschland war.
Frau Ministerin, Sie setzen in Ihrem Konzept sehr stark
auf „Wandel durch Zusammenarbeit“. Daran ist ja auch
etwas Gutes. Dazu gehören aber beide Seiten. Deshalb
muss man schon fragen: Glauben Sie wirklich, Havanna
werde Dissidenten dulden, politische Gefangene freilas-
sen und Opposition legalisieren? Bisher haben wir gegen-
teilige Erfahrungen gemacht. Ohne die Maßstäbe, ohne
die Kriterien, die auch Kuba binden, werden wir wenig er-
reichen.
Wir halten es auch für falsch, unterschiedliche Maß-
stäbe anzulegen. So hat die Bundesregierung in einer Ant-
wort auf eine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion ihre
Gründe gegen die Aufhebung der gegen Myanmar ge-
richteten Sanktionen und die Wiederaufnahme der ent-
wicklungspolitischen Zusammenarbeit dargelegt. Demo-
kratie, Achtung der Menschenrechte und Rechtsstaat-
lichkeit wurden hier explizit als Voraussetzung genannt.
Frau Ministerin, dadurch wird deutlich, dass Sie mit
zweierlei Maß messen. Es gibt ja eine ganze Liste weite-
rer Staaten, mit denen das BMZ gerade aus diesen Grün-
den keine entwicklungspolitische Zusammenarbeit auf
staatlicher Ebene unterhält: Liberia, Afghanistan, Togo
und Somalia; es gibt eine Reihe von Staaten.
Es ist daher unverständlich, wenn das BMZ im Falle
Kubas über die dortigen Missstände wohlwollend hin-
wegsieht und dem unbelehrbaren Diktator Castro ein
großzügiger Vertrauensvorschuss eingeräumt wird.
– Doch, lieber Kollege Schuster, es ist schon so. Hier gibt
es Menschenrechtsverletzungen, die man aber einfach
nicht sehen will.
Wir sind sehr für eine Zusammenarbeit.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Adelheid Tröscher
13752
Wir halten sie für richtig und haben immer gesagt: Wir
brauchen eine verstärkte Zusammenarbeit mit den Nicht-
regierungsorganisationen in Kuba. Ich bin der Meinung:
Wir müssen dort verstärkt ansetzen. Wir wollen der Be-
völkerung und den Menschen vor Ort helfen.
Das kann man erreichen, indem man stärker mit Nichtre-
gierungsorganisationen vor Ort zusammenarbeitet.
Wir haben uns dabei an einen gemeinsamen Beschluss
des Deutschen Bundestages vom 14. Januar 1993 gehal-
ten, der auf einen Antrag der SPD vom 17. Dezember
1991 zurückgeht. In diesem Beschluss – hören Sie gut zu;
ich zitiere aus Ziffer 2 – steht die Aufforderung an die
Bundesregierung, „zu keiner Zusammenarbeit bereit zu
sein, die als Unterstützung der Diktatur verstanden wer-
den könnte; allenfalls können Projekte insbesondere über
Nichtregierungsorganisationen gefördert werden, die der
Not leidenden Bevölkerung direkt, dem Umweltschutz
oder demokratischen Kräften und Reformen zugute kom-
men.“
Damals ging es ebenfalls um Kuba. Das ist der richtige
Ansatz; hier sind wir uns voll und ganz einig. Nur tun Sie
jetzt etwas anderes.
Wir stehen zu diesen Kriterien. Wir müssen diese Maß-
stäbe entweder an alle anlegen oder wir werden unglaub-
würdig.
Ich sage es noch einmal: Wir wollen Unterstützung auf
der nichtstaatlichen Ebene. Wir wollen, dass die Demo-
kratisierung dort vorangeht. Wir wollen, dass Menschen-
rechtsverletzungen aufhören. Wir wollen stärker auf der
Nichtregierungsebene aktiv werden.
Die relative Unabhängigkeit dieser von Nichtregie-
rungsorganisationen geleisteten Entwicklungshilfe von
diplomatischen und administrativen Zwängen staatlicher
Regierungspolitik bietet die Chance zu direkter Hilfe,
ohne das System politisch aufzuwerten. Die engen Ver-
bindungen zu gesellschaftlichen Gruppen in den Partner-
ländern stellen unter diesen Bedingungen erfahrungs-
gemäß bessere Voraussetzungen für sinnvolle Projekt-
ansätze gerade im Bereich der Stärkung der Menschen-
rechte und der Demokratisierung dar.
Sie helfen eher dem Umbruch des totalitären Einparteien-
systems in Richtung eines demokratischen Mehrparteien-
systems, in dem die Menschenrechte beachtet werden und
in dem die Bevölkerung am politischen Meinungsbil-
dungsprozess beteiligt wird.
Diese Art der Hilfe ist deswegen das bessere Instru-
ment. Wir wollen keine Isolierungspolitik gegenüber
Kuba; das möchte ich hier ausdrücklich betonen. Wir sind
für Gespräche und Kontakte. Wir sind vor allem für eine
verstärkte Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisa-
tionen, um den Menschen in Kuba zu helfen. Es geht um
die Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit der deutschen
Entwicklungspolitik.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Kol-
lege Hans-Christian Ströbele für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
legen! Die richtige Kubapolitik kommt spät, auch heute
sehr spät, aber nicht zu spät. Der Frau Ministerin haben
wir es zu verdanken, dass die Debatte entgegen anderen
Erwartungen doch noch stattfinden kann.
Frau Reinhardt, Blockade und Embargo gegen Kuba
sind Elemente einer Politik des Kalten Krieges, der nun
einmal vorbei ist.
Das wissen eigentlich alle: die US-Amerikaner, die Eu-
ropäer, wir und wohl auch die CDU/CSU. Aber Sie ziehen
nicht die richtige Schlussfolgerung aus der Tatsache, dass
der Kalte Krieg nun einmal vorbei ist. Diese Blockade-
und Embargopolitik gegen Kuba ist gescheitert. Das, was
die US-Amerikaner wollten, nämlich den Sturz Fidel
Castros, ist nicht erreicht – er ist der am längsten amtie-
rende Staatschef ganz Südamerikas –; auch die Men-
schenrechte und die bürgerlichen Freiheitsrechte wurden
in Kuba nicht gesichert. Auf diesem Gebiet ist Erhebli-
ches zu tun.
Wenn eine solche Politik gescheitert ist, muss man sie
ändern. Man muss dann zu einer Politik der Entspan-
nung kommen. Das haben Ihnen die Sozialliberalen in
den 70er-Jahren mühevoll beibringen müssen. Im Rah-
men einer Politik der Entspannung muss man dann zu ei-
ner wirksamen Entwicklungszusammenarbeit kommen,
um eine Verbesserung der Bürger- und Freiheitsrechte zu
erreichen.
Frau Kollegin Reinhardt, in Ihrer Aufzählung habe ich
die Beseitigung der erheblichen wirtschaftlichen Folgen
der Blockade für die gesamte Bevölkerung Kubas ver-
misst. In Ihren Forderungen fehlt eine Verbesserung der
sozialen, der wirtschaftlichen und der Ernährungssitua-
tion in Kuba. Das ist für uns ein ganz wesentlicher Aspekt,
warum wir eine andere Entwicklungszusammenarbeit mit
Kuba wollen.
Viele Hunderttausende Deutsche fahren als Touristen
nach Kuba und verbringen dort ihren Urlaub. Sie leisten
damit Entwicklungszusammenarbeit, auch wenn ich sa-
gen muss: nicht immer zum Wohle des Landes. Deshalb
ist es wichtig und richtig, dass auch die offizielle deutsche
Politik Entwicklungszusammenarbeit praktiziert, aber
eine bessere, nachhaltigere und eine – ich sage das im
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Adelheid Tröscher
13753
Anschluss an die Diskussion, die heute hier stattgefunden
hat –, die den Menschen, der ganzen Insel, der Umwelt
und den Interessen der ganzen Region zugute kommt.
Deshalb tun wir eigentlich nur das, was Tausende von
US-amerikanischen Industriellen jedes Jahr tun, nämlich
dorthin zu fahren und Geschäfte zu machen. Viele deut-
sche Industrielle – bis hin zum Präsidenten des Bundes-
verbandes der Deutschen Industrie – fordern nämlich,
dorthin zu gehen, um vor Ort offen und klar zu sagen: Es
müssen demokratische Verhältnisse hergestellt werden,
eine wirksame Opposition muss zugelassen werden,
Presse- und Meinungsfreiheit – ein ganz wichtiges Grund-
recht für eine demokratische Entwicklung – müssen her-
gestellt werden, politische Gefangene müssen aus den Ge-
fängnissen entlassen werden und natürlich darf es keine
Todesstrafe, erst recht nicht ihre Vollstreckung, geben.
Das kann man aber Fidel Castro nur klarmachen, wenn
man vor Ort ist. Er wird auf uns hören, wenn wir dazu bei-
tragen, dass sich die Lage für seine Insel und für die Be-
völkerung dort verbessert. Deshalb unterstützen wir die
Politik der zuständigen Ministerin, die seit dem Amtsan-
tritt dieser Bundesregierung eingesetzt hat: eine lang-
same, aber kontinuierliche Entwicklungspolitik mit Blick
auf Ressourcen, Umwelt, Gesundheitsvorsorge und Fort-
bildung.
Natürlich unterstützen wir in erster Linie die Nichtre-
gierungsorganisationen, soweit sie vor Ort sind – es gibt
leider nur sehr wenige in Kuba – und wir unterstützen vor
allem die deutschen Nichtregierungsorganisationen, die
Kirchen und Stiftungen, weil sie eine wichtige Aufbauar-
beit für eine Zivilgesellschaft leisten. Das trägt dann zu ei-
ner Veränderung der politischen Verhältnisse auf Kuba in
unserem Sinne bei, so wie es auch Frau Reinhardt gefor-
dert hat.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der nächste Redner
dieser Debatte ist der Kollege Carsten Hübner, PDS-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Reinhardt, Sie
haben gesagt, Sie hielten es für ungerecht und nicht für
sachgerecht, wenn ein unterschiedliches Maß angelegt
würde. Ich kann dazu nur sagen: Ich kenne Indonesien
und auch die Türkei. Wer mit Indonesien aufs Engste zu-
sammenarbeitet und die Türkei seit Jahrzehnten als
NATO-Partner akzeptiert, denkt in gespaltenen Katego-
rien – nicht nur, dass er mit gespaltener Zunge spricht –,
wenn er sagt, unter Berücksichtigung von Menschen-
rechtsfragen sei keine Annäherung an Kuba möglich.
Es wird Sie nicht verwundern, dass wir damit sehr zu-
frieden sind, dass die Entwicklungszusammenarbeit mit
Kuba jetzt unter Dach und Fach ist. Wir sind der Meinung,
dass hinsichtlich der Fragen von bilateralen Beziehungen
und der Aufhebung des Embargos noch Erhebliches auf
den Weg zu bringen ist. Sowohl die Bundesrepublik als
auch Europa haben eine erhebliche Verantwortung, diese
Barrieren zu beseitigen und dabei zu helfen, die Pro-
bleme, die aus der Isolation Kubas in den letzten Jahr-
zehnten entstanden sind, möglichst im Sinne der kubani-
schen Bevölkerung und einer demokratischen Entwick-
lung in den Griff zu bekommen.
Die Menschen auf Kuba haben diese Initiativen seit
langer Zeit verdient. Sie sind – wenn man es genauer be-
trachtet – die letzten Opfer der Logik des Kalten Krieges.
Wenn vonseiten der Bundesrepublik Deutschland der
Schlüssel gereicht wird, um das Tor für eine solche Ent-
wicklung aufzuschließen, halte ich das für eine sehr ver-
nünftige Entwicklung. Ich danke der Ministerin ganz aus-
drücklich für ihre Initiative,
wobei ich nicht verheimlichen möchte, dass die erste par-
lamentarische Initiative dazu selbstverständlich von der
PDS ausgegangen ist.
Es war sehr sinnvoll, dass Sie sich dieser Initiative ange-
schlossen haben, dass Sie sie weiterentwickelt
– „realisiert“ – und mit Mitteln ausgestattet haben, wie wir
das zunächst nicht erwarten konnten. Ich wäre sehr froh
darüber und fände es sehr vernünftig, wenn wir das auch
in vielen anderen Bereichen schaffen würden.
Natürlich sind auch wir mit der Menschenrechtssitua-
tion in Kuba nicht zufrieden. Vor dem Hintergrund der
vorhin geführten Debatte über Todesstrafe und Men-
schenrechtsstandards möchte ich sagen: Ich empfinde es
für mich als Verpflichtung, dieselben Maßstäbe in Kuba
anzulegen. Deswegen stelle ich fest: Demokratische Re-
formen in Kuba sind unumgänglich, gerade um das zu
retten, was viele in Kuba jetzt retten wollen, nämlich den
Sozialismus. Wenn man ihn als Wert an sich, als Wertvor-
stellung und Weltanschauung begreift, dann muss man
auch begreifen: Ohne Demokratie funktioniert der Sozia-
lismus an keinem Ort der Welt.
Das haben wir hier erlebt. Wir sprechen aus eigener Er-
fahrung. Demokratische Reformen müssen sein.
Es muss auch Reformen im Bereich der Menschen-
rechte und der bürgerlichen Freiheitsrechte geben. Ent-
wicklungsarbeit kann dafür Impulse geben und für den
notwendigen Dialog sorgen. Auch wir werden mithilfe
unserer Stiftung versuchen, den notwendigen Dialog in
diesem Bereich zu fördern. Ich wünsche mir, dass die
CDU die Potenziale und Chancen erkennt. Die CSU tut
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Hans-Christian Ströbele
13754
das mit der Hanns-Seidel-Stiftung schon lange. Soweit
ich weiß, gibt es keine andere Stiftung, die auf eine so
lange Tradition im Hinblick auf Kuba zurückblicken
kann. Ich hoffe, sie hat diese Tradition im Sinne der För-
derung des notwendigen Dialogs genutzt. Ich denke, wir
sollten zusammen in diesem Sinne weitermachen und
schauen, welche Potenziale sich dort noch erschließen
lassen.
Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat die Bun-
desministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-Zeul.
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe
vor wenigen Tagen ein Schreiben von Christina Rau er-
halten. Sie ist Vorsitzende des Kuratoriums einer Schule
auf Spiekeroog. Sie hatte mich im Frühjahr gebeten, auf
meiner Kubareise zu helfen, dass ein Partnerschaftsver-
trag mit einer kubanischen Internatsschule abge-
schlossen werden kann. Frau Rau hat mir jetzt mitgeteilt,
dass ein solcher Vertrag schon nach kürzester Zeit abge-
schlossen werden konnte, und dass es schon im nächsten
Jahr einen Schüler- und Lehreraustausch geben wird.
Dies soll nur ein kleines Beispiel sein, um Ihnen zu zei-
gen, dass von der Aufnahme öffentlicher Entwicklungs-
zusammenarbeit mit Kuba positive Signale und kurz-,
mittel- und langfristige Wirkungen ausgehen, und zwar
für die Kontakte zwischen den Menschen und für die Ver-
besserung der Situation der Menschen auf Kuba. Nur da-
rum geht es in unserer Entwicklungszusammenarbeit.
Die Planungen für das Projekt der deutschen
Entwicklungszusammenarbeit im Bereich der Wüsten-
bekämpfung in Kuba kommen gut voran. Von diesem
Projekt werden Impulse auch für die regionale Zusam-
menarbeit in Mittelamerika und für Lateinamerika insge-
samt ausgehen. Es gibt einen engen Erfahrungsaustausch
mit anderen lateinamerikanischen Ländern. Auch das ist
für Veränderungsprozesse wichtig. Fortbildungen kubani-
scher Umweltfachleute in Deutschland sind geplant.
Möglicherweise wird es auch eine Zusammenarbeit im
Bereich eines Konzeptes für alternative Energien geben.
Im Übrigen – darüber reden manche Leute wie der
Blinde von der Farbe – haben alle deutschen Nichtregie-
rungsorganisationen, mit deren Vertretern wir in Kuba zu-
sammengetroffen sind, gesagt: Sie stärken uns durch Ihre
Präsenz auf Kuba den Rücken und unterstützen unsere Ar-
beit als Nichtregierungsorganisationen. Unter diesem Ge-
sichtspunkt habe ich auch ein besonderes Lob von der
Hanns-Seidel-Stiftung erhalten.
An die Adresse der Kollegin Reinhardt möchte ich
sagen – vielleicht ist Ihnen das nicht bekannt –: Wir
unterstützen mit 6 Millionen DM Nichtregierungsorgani-
sationen, Kirchen und Stiftungen auf Kuba. Im Rahmen
des Projekts der offiziellen Entwicklungszusammen-
arbeit, das wir jetzt beschlossen haben, werden in der ers-
ten Stufe 3Millionen DM und danach 2Millionen DM für
einen entsprechenden Fonds zur Verfügung gestellt, mit
dem die Weiterentwicklung gefördert werden soll. Diese
Relationen machen deutlich, dass es Ihnen offensichtlich
um etwas völlig anderes geht, wenn Sie die Aufnahme der
offiziellen Entwicklungszusammenarbeit kritisieren.
Ich will an dieser Stelle Folgendes sagen: Wir müssen
die Entwicklungszusammenarbeit nach unseren eigenen
Vorstellungen ausrichten. Sollen wir immer erst darauf
warten, bis man – in der amerikanischen Regierung oder
wo auch immer erkennt –, dass bisherige Wege falsch wa-
ren? Ich will an dieser Stelle deutlich machen: Wir sind
für unsere eigenen Entscheidungen verantwortlich.
Im Übrigen spürt auch die Wirtschaft die Auswirkun-
gen der besseren Beziehungen zu Kuba. Vor wenigen Wo-
chen hat eine Veranstaltung des BDI stattgefunden, an der
– man höre und staune – die kubanische Investitionsmi-
nisterin Martha Lomas und auch ich teilgenommen haben.
Wir, Hans-Olaf Henkel, Frau Lomas und ich, saßen auf
dem Podium. Der Saal war voll von deutschen Unterneh-
mern, die ein Interesse daran haben, die wirtschaftlichen
Beziehungen zu Kuba zu erneuern.
Es ist ein gutes Zeichen, dass das möglich ist.
Auf dieser Veranstaltung hat Hans-Olaf Henkel, der
mit mir nun wirklich weder verschwistert noch verschwä-
gert noch sonst irgendwie befreundet ist, gesagt – ich zi-
tiere –:
Die Bedingungen für ein Engagement auf Kuba sind
heute so gut wie kaum jemals zuvor.
An dieser Stelle will ich darauf hinweisen, dass deut-
sche Unternehmen Hermes-Bürgschaften für Geschäfte
mit Kuba endlich in Anspruch nehmen können. Kurz nach
meiner Reise ist ein Umschuldungsabkommen unter-
zeichnet worden, das die Voraussetzung dafür war. Damit
ist ein altes Hemmnis für die Zusammenarbeit der Wirt-
schaft mit Kuba ausgeräumt worden. Das ist gut so.
Die alte Bundesregierung – Frau Tröscher hat es bereits
angesprochen – hat in dieser Frage eine Forderung nach
der anderen im Hinblick auf den Kulturaustausch ge-
stellt. Mittlerweile – darüber ist in der Öffentlichkeit bis-
her kaum berichtet worden – fallen im kulturellen Aus-
tausch mit Kuba die Hindernisse. Vor wenigen Tagen
– auch darauf hat Frau Tröscher hingewiesen – hat der
Vorsitzende der Kultusministerkonferenz, Willi Lemke,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Carsten Hübner
13755
einen so genannten Letter of Intent in Kuba gemeinsam
mit der kubanischen Seite unterschrieben. Dies bietet nun
die Möglichkeit für einen Wissenschafts- und Hoch-
schulaustausch. Es gibt dafür einen ganz hervorragenden
Anknüpfungspunkt: Die 35 000 Kubaner und Kubanerin-
nen, die die deutsche Sprache sprechen, sind für uns
ideale Bündnis- und Kontaktpartner.
Wir wollen den freimütigen, den offenen politischen
Dialog mit Kuba fortführen – ich selbst habe einen sol-
chen Dialog praktiziert – und die Zusammenarbeit aus-
bauen. Am besten wäre es, wenn das nicht nur bilateral,
sondern auch im Rahmen des neuen Cotonou-Abkom-
mens, des Abkommens zwischen der EU und den afrika-
nischen, karibischen und pazifischen Ländern, geschähe.
Wir sind nach wie vor der Meinung, dass Kuba Mitglied
dieser so genannten AKP-Gruppe werden sollte. Das
schaffte einen viel besseren Dialog über alle politischen
Fragen.
Ich sage in jedem Land – in Kuba im Gespräch mit
Fidel Castro, in Uganda im Gespräch mit Herrn
Museveni –, dass ich prinzipiell gegen die Todesstrafe
bin, dass ich dafür bin, die Todesstrafe zu ächten. Für
mich ist absolut klar, dass die Todesstrafe niemals vollzo-
gen werden sollte.
Ich möchte gerne wissen, wer von Ihnen diese Auffassung
in den Entwicklungsländern tatsächlich vertreten würde,
ohne Rücksicht auf den entsprechenden Gesprächspartner
zu nehmen.
– Ich sage das auch mit Bezug auf Länder wie die USA;
in der Tat.
Ich begrüße es, dass sich der Deutsche Bundestag mit
dem heutigen Beschluss die Position der Bundesregie-
rung zu Eigen macht. Diese Entscheidung ist auch ein
Signal gegen eine seit 40 Jahren bestehende Blockadepo-
litik durch die USA, die zuletzt vor wenigen Wochen,
Anfang November, von der Generalversammlung der
Vereinten Nationen erneut verurteilt worden ist. Wir set-
zen auf Kooperation; denn nur das nützt den Menschen.
Wir wollen dazu beitragen, dass sich die internationale
Gemeinschaft gegenüber Kuba und dass sich Kuba ge-
genüber der internationalen Gemeinschaft öffnet. Kurz
gesagt: Wir setzen auf Wandel durch Zusammenarbeit
und auf die Erfahrung unseres Landes bzw. Europas. Die-
ses Prinzip ist im Interesse der Menschenrechte so gut,
dass in dieser Frage jeder Zweifler verstummen muss.
Ich bedanke mich sehr herzlich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der Kollege Joachim
Günther von der F.D.P.-Fraktion hat seine Rede zu Proto-
koll gegeben. – Ich sehe keinen Widerspruch im Haus.
Dann schließe ich die Aussprache.
Wir kommen damit zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung auf Drucksache 14/4580. Der Ausschuss emp-
fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die
Annahme des Antrags der Fraktion der SPD und der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen zur Entwicklungszusam-
menarbeit mit Kuba, Drucksache 14/3128, in der Aus-
schussfassung. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist gegen
die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe b
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion der PDS zur Aufnahme der Entwicklungszu-
sammenarbeit mit Kuba im Jahr 2000, Drucksa-
che 14/2263. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS-Frak-
tion und eine Stimme aus den Reihen der SPD-Fraktion
angenommen.
Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 13 sowie den Zu-
satzpunkt 7:
13. Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Hofbauer, Peter Hintze, Peter Altmaier, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Die deutschen Grenzregionen auf die EU-Er-
weiterung durch einen Grenzgürtel-Aktions-
plan vorbereiten
– Drucksache 14/4643 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter
Gloser, Hans-Werner Bertl, Hans Büttner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Christian Sterzing, Ulrike Höfken,
Claudia Roth weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Flankierung der Erweiterung der Europä-
ischen Union als innenpolitische Aufgabe
– Drucksache 14/4886 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kol-
lege Rainer Fornahl für die SPD-Fraktion.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
13756
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ist es Fügung oder Zufall, dass wir heute, am
Tag des Beginns des Europäischen Rates von Nizza,
über ein sehr gewichtiges Teilproblem des Erweiterungs-
prozesses der Europäischen Union debattieren, nämlich
über die Vorbereitung und den Heranführungsprozess im
Grenzbereich zwischen Deutschland und den künftigen
Mitgliedstaaten Polen und Tschechien? Nizza ist aber bei
aller Bedeutung der zu treffenden Entscheidungen für die
Handlungsfähigkeit eines künftigen Europas mit 25 bis 30
Mitgliedstaaten nicht das eigentliche Zentrum Europas,
zumindest nicht geographisch oder kulturell. Der Mittel-
punkt Europas liegt jenseits der Ostgrenzen, der balti-
schen Staaten, Polens und der Slowakei, von Kan-
didatenländern mit jahrhundertealter kultureller Tradi-
tion. Wer das nicht glauben mag: Ein Blick in den Atlas
wird ihm das sehr deutlich vor Augen führen.
Die genannten und noch andere Beitrittskandidaten
gehören aber ohne Zweifel zu Europa, zur Wertegemein-
schaft der Fünfzehn uneingeschränkt dazu. Der Zusam-
menbruch des kommunistischen Herrschaftssystems
1989/90 hat das Ende der Trennung des alten Westeuro-
pas von seinen östlichen europäischen Nachbarn mar-
kiert. Innerhalb einer Frist von zehn Jahren sind diese
Staaten bereits in die europäische Wirtschafts- und Kul-
turzone integriert mit allen Pflichten, aber noch ohne we-
sentliche Rechte.
Dabei war und ist dort ein Transformationsprozess mit
gewaltigen Veränderungen in der Gesellschaft und für die
Menschen im Gange, der seinesgleichen sucht. Ähnliches
lief und läuft seit 1990 in den neuen Bundesländern ab,
aber, – das muss man an der Stelle deutlich sagen mit ei-
ner gewaltigen solidarischen Unterstützung des Bundes
und der alten Länder auf der einen und einer kolossalen
Bereitschaft zur Veränderung diesen Prozess zu einem
guten Ende zu führen, und auch zur Opferbereitschaft der
Menschen in Ostdeutschland, was mehr als beein-
druckend ist.
Trotz einer Vielzahl von noch nicht gelösten Proble-
men des Aufholprozesses beiderseits der Grenze gibt es
grundsätzlich keinen Grund zu Skeptizismus und Pessi-
mismus. Die Damen und Herren der Opposition links und
rechts der Mitte sehen das offensichtlich manchmal leider
anders. Teile – ich betone: Teile – von CDU und CSU ha-
ben seit 1998 eine wundersame europapolitische Kehrt-
wende gemacht und tragen den Europaskeptizismuswie
eine Monstranz vor sich her.
So lösen wir aber die noch offenen Probleme und Fra-
gen überhaupt nicht. Wir lösen sie nur, wenn wir aus dem
Bekenntnis zur Erweiterung der EU die notwendigen
Schlussfolgerungen ziehen sowie plausible Konzepte und
Strategien entwickeln.
An dieser Stelle möchte ich Ihnen, meine Damen und
Herren von der jetzigen Opposition und früheren Regie-
rungskoalition, die Frage stellen: Was wäre gewesen,
wenn die Prophezeiung Ihres Altkanzlers Kohl, Polen
werde im Jahre 2000 Mitglied der Europäischen Union,
eingetroffen wäre? Dann stünden wir heute, Ende des Jah-
res 2000, vor genau der Fülle von Problemen, die im ana-
lytischen Teil Ihres heutigen Antrags beschrieben sind.
Aber wir hätten eine Not; denn Ihr Antrag käme genau
fünf Jahre zu spät.
Um genau dieses Problem beim realen Beitritt – viel-
leicht nach dem Jahre 2003 – nicht zu haben, werden Bun-
desregierung und Koalition die erforderlichen Strategien
entwickeln und die notwendigen Maßnahmen konsequent
ergreifen. Wir haben übrigens bereits umfangreich gehan-
delt: Wir haben beispielsweise mehr Mittel aus den EU-
Strukturfonds für Ziel-1-Gebiete und Ziel-2-Gebiete, die
Grenzregionen, sowohl in den neuen als auch in den alten
Ländern, zum Beispiel in Bayern, bereitgestellt. EFRE-
Mittel aus dem EU-Haushalt für die Jahre 2000 bis 2006
dienten zur Auflage eines speziellen Infrastruktur-Investi-
tionsprogramms 1999 bis 2002 für Ostdeutschland. Dies
geschah in Abstimmung und Übereinstimmung mit den
Bundesländern.
Wir haben einen 25-Fragen-Katalog zur Erweiterung
der Europäischen Union aufgelegt, der heute im Druck
war und ab morgen veröffentlicht werden kann. Wir ha-
ben die Investitionspauschale für Unternehmen in den
ostdeutschen Grenzregionen angehoben. Auch das war
ein Schritt zur Unterstützung der Grenzregionen und zur
Lösung ihrer Probleme. Am 28. Juni dieses Jahres haben
wir als Bundestagsfraktion ein Positionspapier für eine
Strategie zur Flankierung der Osterweiterung vorgelegt
und veröffentlicht.
Wahrscheinlich war dieses Papier der Auslöser für die
Große Anfrage der CDU/CSU zur Osterweiterung vom
4. Juli 2000. Die Antwort der Bundesregierung steht noch
aus – bei dem ungeheuer komplexen Problem, um das es
hier geht, ist das sicherlich nicht verwunderlich –; aber sie
wird für Anfang des nächsten Jahres erwartet und dann zu
einer weiteren, intensiven Debatte führen. Ich gehe davon
aus, dass der heute zur Debatte stehende Antrag der
CDU/CSU zur Auflage eines Grenzgürtelaktionsplanes
dann mit Sicherheit obsolet sein wird.
Insbesondere in den grenznahen Regionen von Meck-
lenburg-Vorpommern bis Bayern verstärkt sich mit dem
heranrückenden Beitritt von Polen und Tschechien die
Diskussion über die Chancen und Probleme der Erweite-
rung. Dabei ist leider festzustellen, dass man sich vielfach
im Bereich von Hoffnungen, Befürchtungen, Vermutun-
gen und Spekulationen bewegt. Aber eine kürzlich veröf-
fentliche Umfrage hat erstaunlicherweise und entgegen
anders lautenden Meinungen und Positionen – auch in
Ihrem Papier – deutlich gemacht, dass die Zustimmung
zur Osterweiterung in den neuen Bundesländern signifi-
kant größer ist als in den alten Bundesländern. Das sollte
man hier an dieser Stelle einmal deutlich vermerken.
Meines Erachtens sind bei der Suche nach der richtigen
Strategie zur Flankierung des Erweiterungsprozesses
insgesamt Sachlichkeit und Nüchternheit, aber auch die
Beachtung von Zuständigkeiten bei der Frage nach den
richtigen Konzepten gefragt. Unser Ansatz geht grund-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000 13757
sätzlich davon aus, dass die Abfederung des Anpassungs-
druckes dann am besten gelingt, wenn sich die Verhält-
nisse beiderseits der jetzt noch bestehenden EU-
Außengrenze in der Vor-Beitrittsphase auf einem hohen
Niveau weitgehend angleichen lassen. Deshalb ist die
grenzüberschreitende Zusammenarbeit, beispielsweise in
den Euro-Regionen „Neiße“, „Pro Europa-Viadrina“ und
„Egrensis“, von ganz zentraler Bedeutung.
Die schon seit Jahren bestehenden Kontakte und Ini-
tiativen durch gemeinsame Wirtschaftsfördergesell-
schaften, Kammerzusammenschlüsse wie die unter dem
Namen Elbe-Oder, kommunale Partnerschaften sowie
grenzüberschreitende Projekte im kulturellen, sportlichen
und sozialen Bereich sind deshalb schon lange prakti-
zierte Grenzgürtelaktionen. Das Rad muss deshalb,
glaube ich, nicht noch einmal neu erfunden werden.
Dass genau dieser beschriebene Ansatz einer grenz-
überschreitenden Zusammenarbeit auf den skizzierten
und anderen Feldern richtig ist und auch gewünscht wird,
hat die SPD-Arbeitsgruppe Europa, haben beispielsweise
meine Kollegen Gloser und Kaspereit und ich auf Reisen
in die Grenzregionen sowohl auf deutscher als auch auf
polnischer und tschechischer Seite erlebt. Wir waren dort
sehr beeindruckt.
Selbstverständlich wissen wir aber ebenso um die
Konflikte und offenen Fragen, die zwar von Region zu
Region durchaus unterschiedlich krass, aber doch – auch
in Unter- und Oberfranken – vorhanden sind. Hierbei han-
delt es sich beispielsweise um Arbeitsmarktrisiken, insbe-
sondere im Bau- und Transportbereich, die Wettbewerbs-
fähigkeit der kleinen und mittelständischen Betriebe, des
Handwerks und des Dienstleistungsgewerbes, Probleme
im Bereich der organisierten Kriminalität und bei der Si-
cherung der Grenzen und – nicht zu vergessen – Defizite
im Bereich der grenzüberschreitenden Infrastruktur.
Ich sage es noch einmal: Es gibt bereits eine Vielzahl
von Programmen, Projekten und Initiativen, um den An-
passungsdruck abzubauen. Ob sie zum zügigen Abbau der
beschriebenen Probleme ausreichen, das scheint für uns
die entscheidende Frage zu sein.
Selbstverständlich ist dies Gegenstand intensiver Ana-
lyse. Dieser widmen sich derzeit die EU-Kommission, die
Bundesregierung, aber auch die Bundesländer. Ich ver-
weise auf die Beratung der Europaminister der Länder in
Schlangenbad im Mai dieses Jahres. Wichtig ist, dass die
Herausforderungen nur gemeinsam in Zusammenarbeit
zwischen EU, Bund, Ländern und den betroffenen Regio-
nen gemeistert werden können. Das bedeutet aber auch,
dass die vorhandenen Handlungsspielräume auf jeder
Ebene bis hin zu den Regionen eigenständig ausgeschöpft
werden müssen.
Sie können sicher sein: Die Bundesregierung wird die
durch den vorliegenden Koalitionsantrag formulierten
Hausaufgaben zügig erledigen. Damit werden dann die
Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die erweiterungs-
bedingten Anpassungslasten in den Grenzregionen zu-
mindest im Bereich der Zuständigkeit des Bundes wei-
testgehend abgefedert werden können. Das wird nicht
einfach; es wird aber, so denke ich, ohne einen Grenzland-
aktionsplan gelingen.
Über die konkreten Ansätze wie beispielsweise zur
noch besseren Nutzung der Gemeinschaftsaufgabe „Re-
gionale Wirtschaftsförderung“, zu Übergangsregelungen
im Arbeitsmarkt und im Dienstleistungsbereich, zur Rea-
lisierung einer erweiterungskompatiblen Infrastruktur,
sowie zu Kriminalitäts- und Sicherheitsfragen hinaus
werden wir im Verlauf der weiteren Beratungen in den
Ausschüssen – beide Anträge werden ja überwiesen –
sicherlich noch ausgiebig diskutieren und über die richti-
gen Lösungen streiten können. Dies alles muss in eine
dringend erforderliche und umfassende Informations-
und Kommunikationskampagne eingebunden werden;
denn es ist richtig, die Bürger in einen sachlichen Dialog
über Chancen und Risiken einer Erweiterung umfassend
einzubeziehen. Nicht nur dabei sind wir mit dem Be-
schluss der Bundesländer zur EU-Erweiterung vom
29.Mai dieses Jahres in Schlangenbad durchaus d’accord.
Wenn es nun noch gelänge, das Projekt „Strategie zur
Flankierung der Erweiterung im Bereich der Grenz-
regionen“ in dem alten, über Jahre bestehenden europa-
politischen Konsens zu vereinbaren, dann, so glaube ich,
wäre das ein gutes Omen für den Europäischen Rat in
Nizza. Ich denke, wir alle sollten Bundeskanzler Schröder
und den anderen Staats- und Regierungschefs die Daumen
drücken für einen erfolgreichen Abschluss und damit für
die richtigen Voraussetzungen für die Vollendung des Er-
weiterungsprozesses.
Ich drücke meine Daumen jedenfalls. Hoffen Sie mit, dass
wir ein gutes Ergebnis erreichen, damit wir den Erweite-
rungsprozess zügig und erfolgreich zu Ende führen kön-
nen.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die CDU/CSU
spricht jetzt der Kollege Klaus Hofbauer.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen! Herr
Kollege, recht herzlichen Dank für Ihre Rede. Sie haben
alle Argumente vorgetragen, die für den Antrag der
CDU/CSU-Fraktion sprechen. Ich darf Sie nun bitten, un-
seren Antrag zu unterstützen.
Die Osterweiterung muss gelingen. Das Ob der Erwei-
terung steht außerhalb jeglicher Frage. Bei der jetzigen
Diskussion geht es allein um das Wie.
Sie ist zurzeit und in den nächsten Jahren wohl die
wichtigste und zugleich schwierigste Aufgaben der Euro-
päischen Union. Der Bundesrepublik Deutschland kommt
dabei eine vorrangige Verantwortung zu, da wir mit den
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Rainer Fornahl
13758
Beitrittsländern Polen und Tschechien eine gemeinsame
Grenze haben. Aus vielerlei Gründen muss unser Land
Motor und Initiator dieses Themas sein.
Es gibt sehr viele Facetten und Mosaiksteine, mit de-
nen wir diese Zusammenarbeit ausbauen müssen. Herr
Kollege, ich teile Ihre Auffassung, dass es in den letzten
zehn Jahren seit Öffnung der Grenze zwischen Bayern
und Tschechien außerordentlich viele gemeinsame Akti-
vitäten und Aktionen gab, insbesondere im kulturellen,
aber auch im menschlichen Bereich. Ich bin der Meinung,
dass gerade die Grenzregionen beiderseits dieser Grenze
eine Klammerfunktion für die Osterweiterung über-
nehmen können.
Aber uns muss bewusst sein, dass einige wesentliche
Fragen offen sind und dass wir die Sorgen der Menschen
sehr ernst nehmen müssen. Ich habe den Eindruck, dass
die Bundesregierung und auch die Koalitionsfraktionen
die Sorgen der Menschen beiseite schieben wollen.
Dies können wir einfach nicht zulassen.
Es gibt Probleme bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit.
Die Billiglohnsituation wird auch nach dem Beitritt die-
ser Länder bestehen bleiben. Es gibt Probleme im Bereich
des Mittelstands, des Handwerks, der Landwirtschaft, im
Dienstleistungsbereich, im Umweltschutzbereich und
auch bei der inneren Sicherheit.
Gerade diese Fragen spielen im Grenzland eine ganz
besondere Rolle.
Ich möchte nur zwei Beispiele aufzeigen, die uns be-
schäftigen; das ist einmal die Zusammenarbeit im Mittel-
stand und zum anderen natürlich auch das Lohngefälle,
das unsere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beson-
ders berührt. Ich darf klar und deutlich feststellen, dass
der Antrag der CDU/CSU-Fraktion in völliger Über-
einstimmung mit der Arbeitsgemeinschaft der Wirt-
schaftskammern entlang der Grenze zu den mittel- und
osteuropäischen Beitrittsstaaten gestellt worden ist. Wir
arbeiten hier eng mit der Wirtschaft zusammen.
Die Wirtschaft fordert dieses Programm.
Ein weiterer Punkt, meine sehr geehrten Damen und
Herren, der für uns entscheidend ist: Vor wenigen Wochen
haben die Länder Mecklenburg-Vorpommern, Berlin,
Brandenburg, der Freistaat Sachsen und der Freistaat
Bayern dieselbe Forderung gestellt, die wir in unserem
Antrag formuliert haben. Warum stimmen Sie dieser län-
derübergreifenden Initiative nicht zu? Selbst der Kom-
missar Verheugen hat in den letzten Wochen klar und
deutlich diese Forderung aufgestellt. Es fehlen im Grunde
genommen nur noch die Bundesregierung und die Koali-
tionsfraktionen, damit diese Initiative unterstützt und ge-
meinsam getragen werden kann.
Die Probleme im Grenzland sind ganz spezifischer Art;
deswegen ist diese Aktion in besonderem Maße notwen-
dig.
Zusammenfassend lassen Sie mich Folgendes feststel-
len. Erstens. Wir müssen – das ist die Grundlage unseres
Antrags – die Chancen der Osterweiterung verständli-
cher herausarbeiten und den Menschen konkret vermit-
teln. Die Menschen nehmen diese Sache noch nicht auf,
weil die Informationen über die Chancen durch diese
Bundesregierung fehlen.
Der zweite Punkt richtet sich darauf, die Sorgen der
Menschen offen und ohne Vorbehalte aufzunehmen und
sie in die politischen Entscheidungsprozesse einzubrin-
gen.
Drittens. Die bereits vorhandenen grenzüberschreiten-
den Projekte sind zu stärken. Für mich ist ganz entschei-
dend, dass wir nicht nur auf einen bestimmten Termin des
Beitritts hinarbeiten – das ist natürlich ein zentraler
Punkt –, sondern jetzt noch mehr die konkrete Zusam-
menarbeit verstärken und mit den verschiedenen Maß-
nahmen sofort beginnen.
Deswegen meine ich: Im Interesse der Menschen in
den Grenzgebieten sollten wir dieser Arbeit neuen
Schwung geben,
sollten wir neue Initiativen ergreifen. Deshalb darf ich
herzlich darum bitten, unserem Antrag zuzustimmen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Kol-
lege Christian Sterzing für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Beitrittsprozess verlangt ganz erhebliche Anstrengungen,
und zwar natürlich ganz besonders von den Beitrittslän-
dern. Wir sollten auch hier darauf hinweisen, dass gerade
diese Länder einen ganz schwierigen Transformations-
prozess durchlaufen, der ihnen enorme Lasten abver-
langt. Die EU unterstützt diesen Veränderungs-, diesen
Strukturanpassungsprozess mit erheblichen Mitteln. Wir
stellen gemäß der Agenda 2000 jährlich 6 Milliarden DM
an Vorbeitrittshilfen bereit; ab 2002 sind dann für die
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Klaus Hofbauer
13759
Beitrittsländer jährlich 12,6 Milliarden DM vorgesehen.
Deutschland zahlt davon etwa 2 Milliarden DM.
Ich glaube, es ist wichtig, deutlich zu machen, dass
diese finanzielle Unterstützung für uns kein Opfer bedeu-
tet, sondern historische Pflicht und Investition in die Zu-
kunft zugleich.
Insofern sollte die erste Botschaft dieser Debatte lauten,
dass die finanzielle Unterstützung der Erweiterung eine
Investition in die Zukunft in unser aller Interesse ist.
Der Erweiterungsprozess führt zu einem gewaltigen
Strukturwandel nicht nur in den Beitrittsländern, sondern
natürlich auch bei uns. Schon jetzt hat sich der Handel
mit den mittel- und osteuropäischen Ländern erheblich
gewandelt. Er hat in den letzten Jahren erheblich zuge-
nommen. Wir sind für die meisten mittel- und osteuropä-
ischen Beitrittsländer der wichtigste Handelspartner. Po-
len und Tschechien wickeln etwa 60 bis 70 Prozent ihres
Außenhandels mit den EU-Ländern ab. Der Handel mit
den Beitrittsländern hat für uns natürlich keine derart
große Bedeutung. Aber immerhin macht dieser Handel
mittlerweile mindestens 0,2 bis 0,3 Prozent unseres jähr-
lichen Wirtschaftswachstums aus. Das bedeutet, dass
dieser Handel, der seit den Europa-Abkommen erheblich
zugenommen hat, schon heute bei uns und gerade auch in
den Grenzregionen mindestens 80 000 Arbeitsplätze si-
chert. Die Tendenz ist sicherlich steigend. Schätzungen
besagen, dass nach den Beitritten mittelfristig mit einem
zusätzlichen Wachstum von 1 Prozent pro Jahr zu rechnen
ist.
Wenn wir uns all das anschauen, muss die zweite Bot-
schaft dieser Debatte lauten: Von der Erweiterung profi-
tieren wirtschaftlich gerade wir hier in Deutschland.
Wenn wir uns die Zahlen im Einzelnen anschauen, dann
stellen wir fest, dass der Erweiterungsprozess schon heute
entgegen vielen Vorurteilen und Befürchtungen keinen
Verlust an Arbeitsplätzen bedeutet, sondern im Gegenteil
Arbeitsplätze bei uns sichert. Insofern bringt die Erweite-
rung nicht nur mittel- und langfristig, sondern – und dies
sollte die dritte Botschaft sein – schon heute erhebliche
wirtschaftliche Vorteile.
Große Chancen bietet dieser Prozess gerade auch den
Grenzregionen. Sie rücken von der bisherigen Randlage,
von dem toten Winkel, in dem sich viele dieser Regionen
befanden, nun in eine Mittellage. Das eröffnet neue wirt-
schaftliche, politische und kulturelle Chancen. Wir müs-
sen feststellen, dass viele dieser Grenzregionen gar nicht
so schlecht auf diesen Veränderungsprozess vorbereitet
sind, der schon lange im Gange ist. In den letzten Jahren
haben wir im Zuge der Wiedervereinigung Erhebliches in
die Infrastruktur investiert. In vielen Bereichen befinden
sich diese Grenzregionen in einer hervorragenden Aus-
gangssituation, was nicht ausschließt, dass in bestimmten
Bereichen noch Lücken zu schließen sind. Dieser Verän-
derungsprozess ist also längst im Gange. Er wird durch
den Beitritt, der in diesem Prozess nur eine Station be-
deutet, schlussendlich nur noch forciert, verstärkt, be-
schleunigt.
Wenn wir diese Chancen beschreiben, die der Erweite-
rungsprozess gerade auch für die Grenzregionen mit sich
bringt, dann wollen wir damit nicht darüber hinwegtäu-
schen, dass es natürlich auch Risiken und Gefahren gibt,
dass es in diesem Prozess nicht nur Gewinner geben wird,
sondern dass Menschen, die von diesem Strukturwandel
in besonderer Weise betroffen sind, unserer Hilfe und un-
serer Unterstützung bedürfen. Wir müssen hier sehr deut-
lich sagen, dass wir uns sowohl in den Ländern als auch
im Bund dieser Verantwortung stellen. Jede politische
Ebene muss hier ihre Verantwortung wahrnehmen. Wir
müssen alle drei Ebenen – Länder, Bund und EU – in den
Blick nehmen.
Die regionale Wirtschafts- und Strukturförderung
ist primär eine Aufgabe der Länder. Hier gibt es eine
Reihe von Instrumenten, die, in der Vergangenheit er-
probt, sicherlich auch in der Zukunft – vielleicht zielge-
nauer – eingesetzt werden können.
Es gibt vonseiten des Bundes die Gemeinschaftsauf-
gabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“.
Auch hier, glaube ich, verfügen wir über ein Instrumenta-
rium, mit dem wir uns seit Jahren um die regionale Struk-
tur- und Wirtschaftsförderung kümmern und Anpassungs-
prozesse gestalten. Auch dieses Instrument müssen wir in
besonderer Weise auf die Bedürfnisse der Regionen zu-
schneiden.
Aber natürlich ist auch die EU gefragt. Es wurde heute
schon erwähnt: Kommissar Verheugen hat ja gesagt, dass
ein Aktionsprogramm in Arbeit ist. Insofern wird es in Zu-
kunft darauf ankommen, dass gerade diese drei Ebenen
zusammenarbeiten bzw. ein kohärentes Konzept erarbei-
ten, um den regionalen Strukturwandel gezielt zu unter-
stützen.
Wir glauben, dass es besonderer Hilfen, und zwar im
Bereich der Arbeitsmarktpolitik, der Unterstützung von
kleinen und mittleren Unternehmen, und eines gezielten
Aufbaus der Infrastruktur bedarf.
Ein ganz besonderes Augenmerk muss politisch, wirt-
schaftlich, aber auch kulturell auf die grenzüberschrei-
tende Zusammenarbeit gelegt werden.
Ziel sollte auf jeden Fall sein, nicht alte Strukturen
mühsam und mit viel Geld aufrechtzuerhalten, sondern
den notwendigen Strukturwandel durch die Unterstützung
von innovativen und zukunftsträchtigen Projekten zu
flankieren.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Sterzing, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Die letzte Botschaft zum Schluss meiner Rede lautet: Wir
werden die Menschen bei diesem durch die Erweiterung
forcierten Strukturanpassungsprozess nicht alleine lassen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Christian Sterzing
13760
Wir werden alles Notwendige tun, um im Zusammenwir-
ken aller drei Ebenen, des Bundes, der Länder und der
EU, die Chancen, die mit der Erweiterung verbunden
sind, tatsächlich zu realisieren und die Risiken zu mini-
mieren.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Kol-
lege Ernst Burgbacher für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Ob die Osterweiterung
gelingen kann, hängt zuallererst von den Ergebnissen der
Konferenz in Nizza ab. Ich mache keinen Hehl daraus:
Wir schauen mit großer Sorge nach Nizza. Ich habe die
Angst, dass es dort zu einem Kompromiss auf dem kleins-
ten gemeinsamen Nenner kommen wird, was der Ost-
erweiterung erheblich schaden würde und was das Zu-
standekommen bzw. den Erfolg dieser Erweiterung ge-
fährden würde.
Ich glaube, wir alle in diesem Hause sind uns einig,
dass die Osterweiterung die Chance ist. Elf Jahre nach der
deutschen Wiedervereinigung geht es jetzt um die Wie-
dervereinigung Europas. Es ist wohl breiter Konsens, dass
an diesem Ziel überhaupt kein Zweifel bestehen kann.
Mit großer Sorge erfüllt uns aber auch, dass die Zu-
stimmung in der Bevölkerung ganz offensichtlich ab-
nimmt. Zahlen sagen uns, dass im Augenblick noch ein
Drittel der deutschen Bevölkerung die Osterweiterung be-
jaht. Deshalb gilt es, auch in der politischen Auseinander-
setzung die Akzente etwas anders zu setzen. Wir gehen
auch hier viel zu sehr auf die Risiken ein und betonen viel
zu wenig die im politischen, aber auch im wirtschaftlichen
Bereich bestehenden Chancen.
Ich denke, das müssen wir alle und auch die EU-Kom-
mission ändern. Ich warte darauf, dass Kommissar Ver-
heugen jetzt wirklich seine Informationskampagne star-
tet, die er vor über einem Jahr im Europaausschuss
angekündigt hat. Ich warte auch auf verstärkte Initiativen
der Bundesregierung hinsichtlich weiterer Informationen.
Wir dürfen nicht den Fehler wiederholen, den wir beim
Euro gemacht haben, nämlich dass wir die Bevölkerung
nicht ausreichend in diesen Prozess miteinbinden.
– Wir alle haben diesen Fehler gemacht und ein Stück weit
die Situation unterschätzt. Wir alle müssen jetzt mitei-
nander daran arbeiten, diesen Fehler nicht zu wiederho-
len. Wir müssen die Bevölkerung auf diesem Weg mit-
nehmen.
Es ist also dringend erforderlich, eine breite Debatte und
Informationskampagne zu führen und die Menschen von
den Vorteilen dieser Erweiterung zu überzeugen.
Gerade die Grenzregionen profitieren ganz besonders
von dieser europäischen Erweiterung. Allerdings – auch
das müssen wir deutlich sagen –, werden auf die Men-
schen dort in der Übergangszeit erhebliche Probleme zu-
kommen, gerade in den Grenzregionen. Ich denke in die-
sem Zusammenhang vor allem an die mittelständische
Wirtschaft und an die Handwerksbetriebe. Diese werden
einem verstärkten Konkurrenzdruck ausgesetzt sein. Des-
halb müssen wir den betroffenen Unternehmen in diesem
Wettbewerb, den wir grundsätzlich für gut halten, auch
helfen. Dies hat die F.D.P. immer gefordert.
Es gibt übrigens Erfahrungen aus der Zeit des Beitritts
von Spanien und Portugal. Damals gab es das Integrierte
Mittelmeerprogramm, von dem auch Frankreich, Italien
und Griechenland profitiert haben. Genau so etwas müs-
sen wir jetzt wiederholen.
Ich denke daran, dass die PHARE- und Interreg-Pro-
gramme von beiden Seiten der Grenze aufeinander abge-
stimmt werden, sodass wir auch in diesem Bereich ent-
sprechende Erfolge erzielen können. Wir brauchen
insofern eine sehr enge Zusammenarbeit von Bundesre-
gierung und Landesregierungen; anders wird das nicht zu
schultern sein.
Lassen Sie mich aus liberaler Sicht noch eines hinzu-
fügen. Es ist wichtig, dass sich die Betroffenen in diesen
Gebieten selbst vorbereiten. Daher ist die Initiative der
Wirtschaftskammern entlang der Grenze vorbildlich.
Die neu gegründete Kammerunion Elbe/Oder, in der sich
30 Industrie- und Handelskammern aus Deutschland,
Polen und der Tschechischen Republik zusammenge-
schlossen haben, um den Erweiterungsprozess gemein-
sam vorzubereiten und zu begleiten, wurde schon ge-
nannt.
Meine Damen und Herren, wir alle müssen gemeinsam
handeln, weil wir auch gemeinsam von dieser Erweite-
rung profitieren werden. Der Leitsatz für diese ganze Dis-
kussion muss sein: Nicht Abschottung oder Lamentieren
ist die Parole, sondern konkretes Handeln im Sinne einer
Vorwärtsstrategie.
Ich danke Ihnen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Christian Sterzing
13761
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der nächste Redner ist
der Kollege Uwe Hiksch für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Gerade die heutigen EU-Außen-
grenzen sind häufig strukturschwache Regionen. In Ost-
deutschland wurde durch die falsche Wirtschafts- und
Strukturpolitik der alten Bundesregierung faktisch die ge-
samte Region entindustrialisiert. In Westdeutschland ist
im Bereich der EU-Außengrenzen feststellbar, dass durch
die spezifischen Möglichkeiten der Förderpolitik vor al-
len Dingen verlängerte Werkbänke und arbeitsintensive
industrielle Fördermöglichkeiten favorisiert wurden. Kri-
tische Ökonomen wie zum Beispiel die Memorandum-
Gruppe haben seit vielen Jahren in ihren alternativen
Wirtschaftsgutachten darauf hingewiesen, dass die beste-
henden Förderinstrumente mit dem so genannten Export-
Basis-Konzept und der reinen Verlagerung von arbeitsin-
tensiven, einfachen und lohnintensiven Teilen der
Produktion keine wirkliche Weiterentwicklung dieser
strukturschwachen Region ermöglicht haben.
Durch die vielfach vorhandenen alten Industrieberei-
che – in Nord- und Ostbayern zum Beispiel die Möbelin-
dustrie, die Porzellanindustrie, die Textilindustrie und die
feinkeramische Industrie – und das darüber hinaus vor-
handene verarbeitende Gewerbe sowie durch den Struk-
turwandel aufgrund der Öffnung der Grenzen wurden Ar-
beitsplatzverlagerungen und Arbeitsplatzabbau noch
mehr als bisher gefördert.
Die Osterweiterung der Europäischen Union bietet für
die Menschen und die Regionen in den heutigen EU-
Grenzregionen durchaus große Chancen. Trotzdem emp-
finden viele Menschen gerade auch in den Grenzregionen
Skepsis und Angst. Die PDS-Bundestagsfraktion tritt des-
halb dafür ein, dass die die bayerischen und ostdeutschen
Grenzregionen betreffenden Fragen in einem interregio-
nalen und gesamteuropäischen Zusammenhang diskutiert
werden. Wir halten es für problematisch, dass in dem
CDU/CSU-Antrag die Frage nach den Bedürfnissen der
europäischen Grenzregionen mit der Forderung nach ei-
nem rein deutschen Sonderprogramm verbunden wird.
Denn wir sind der Überzeugung, dass in europäischen
Verhandlungsrunden ein rein deutsches Programm, das
nur für deutsche Grenzregionen ausgelegt sein soll, sicher
nicht durchgesetzt werden kann. Deshalb treten wir dafür
ein, dass alle Grenzregionen, die an mittel- und osteu-
ropäischen Staaten liegen, gemeinsam in ein solches Ak-
tionsprogramm eingeführt werden, wie das Günter
Verheugen richtigerweise gefordert hat.
Wir sind der Überzeugung, dass mit einem solchen ge-
samteuropäischen Ansatz die Entwicklungschance nutzt
werden sollen und nicht nur ein Förderprogramm ge-
schaffen werden darf. Dieses darf nicht nur auf der deut-
schen oder der österreichischen Seite angelegt werden.
Vielmehr benötigen wir eine Regionalpolitik, die eine
vorwärtsstrebende Infrastruktur und Weiterentwicklun-
gen ermöglichen soll. Das muss ein Aktionsprogramm
sein, wie es die Industrie- und Handelskammern von
Mecklenburg-Vorpommern bis Bayern, aber auch die
Landesminister von Mecklenburg-Vorpommern bis Bay-
ern gefordert haben. Es muss eine Strukturpolitik sein, die
die interregionale Zusammenarbeit zwischen den deut-
schen oder österreichischen Grenzregionen auf der einen
Seite und den slowakischen, tschechischen oder polni-
schen Grenzregionen auf der andere Seite fördert, wie bei-
spielsweise die Zusammenarbeit von kleinen und mittel-
ständischen Unternehmen auf beiden Seiten der Grenze
fördert und die sich dafür einsetzt, dass die Zusammenar-
beit innerhalb der Grenzregionen neben der wirtschaftli-
chen Frage auch die kulturellen, die sportlichen, die gren-
züberschreitenden zivilgesellschaftlichen und auch die
bildungspolitischen Ansätze erfassen muss.
In diesem Sinne sind wir der Überzeugung, dass der
Antrag der CDU/CSU viel zu kurz greift, dass er ein rein
populistischer Ansatz ist, mit dem versucht wird, billig
Politik zu machen. Was Kommissar Günther Verheugen
vorgeschlagen hat, nämlich gemeinsam für die Grenzre-
gionen auf beiden Seiten der Grenzregionen zu arbeiten
und das europaweit umzusetzen, ist sicher der bessere An-
satz, den wir, die PDS, unterstützten werden.
Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der letzte Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Arnold Vaatz für die
CDU/CSU-Fraktion.
Arnold Vaatz (von Abgeordneten der
CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Im Laufe des Tages hieß es mehrfach,
dass dieser Tagesordnungspunkt abgesetzt werden soll.
Dann gab es mehrere Umfragen, ob die Reden nicht zu
Protokoll gegeben werden sollten. Da hat mich ein biss-
chen der Verdacht beschlichen, dass dieses Gespräch dem
einen oder anderen Kollegen heute vielleicht nicht so an-
genehm wäre.
: Ah!)
Meine Damen und Herren! Wir gebrauchen oft den Be-
griff der EU-Osterweiterung. Ich muss sagen: Je häufi-
ger ich den Begriff höre, umso weniger gern verwende ich
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 200013762
ihn, und zwar aus dem einfachen Grund: Das scheint mir
alles etwas zu eurozentristisch zu sein. Der Begriff wirkt
etwas imperial.
Es handelt sich bei der EU-Osterweiterung nämlich um
nichts anderes als um die Vereinigung von Europa. Was
sich dahinter verbirgt, werden die Menschen, die in den
Grenzgebieten wohnen, zuallererst spüren,
lange bevor man das in Brüssel oder anderswo feststellt.
Demzufolge gehört ein solcher Antrag ins Zentrum der
parlamentarischen Debatte und nicht an den äußersten
Rand.
Gerade weil es hierbei um die Vereinigung Europas
geht, kann diese Angelegenheit sehr schnell misslingen.
Wenn man heute nach Nizza schaut, von wo berichtet
wurde, dass die Repräsentanten der Beitrittskandidaten
sehr frustriert abgefahren seien, schwant einem schon,
dass die Vereinigung misslingen kann. Unser Antrag ist
genau darauf gerichtet, unseren eigenen Anteil beizutra-
gen, damit dieser Prozess eben nicht misslingt.
Dazu gehört, dass wir nicht nur die großen Themen an-
packen, sondern auch die lokale und die regionale Seite
dieses Prozesses ganz präzise vorbereiten. Wir werden
nämlich nur dann Erfolg haben, wenn auch die Menschen
in den schwächsten Regionen mit den kompliziertesten
Bedingungen unseres Landes, nämlich in den Grenzre-
gionen, die europäische Vereinigung wirklich wollen.
Nur dann werden wir Erfolg haben.
Nun sage ich Ihnen einmal etwas über diese Grenzre-
gionen: Als Beispiel nenne ich die Stadt Görlitz, eine
wunderschöne Stadt, eine Perle für meine Begriffe, zum
Weltkulturerbe zählend. Sie hatte 1990 76 000 Einwoh-
ner. Jetzt hat sie noch 62 000. Das ist ein Bevölkerungs-
schwund von 17 Prozent in zehn Jahren.
Sebnitz, dieser kleine Ort an der tschechischen Grenze,
der vor einigen Tagen grundlos und mit hysterischem Ei-
fer von der Presse als vermeintlich brauner Popanz auf-
gebaut wurde,
der journalistisch quasi fast eingeäschert und nebenbei
wirtschaftlich fertig gemacht wurde, hat ungefähr 13 Pro-
zent seiner Einwohner verloren.
– Das ist ein Ort in der Grenzregion; das ist das Thema,
Herr Kollege.
Die Frage ist: Wie wollen wir es stoppen, dass die Men-
schen, dass die Fachkräfte, gerade diejenigen, die sich im
Leben etwas zutrauen von dort wegziehen?
– Herr Kollege Fornahl, Sie haben richtig darauf hinge-
wiesen: Die EU-Erweiterung findet in Ostdeutschland
große Zustimmung. Wir wollen aber auch, dass sie so
groß bleibt, wie sie ist.
Wenn Sie weiterhin die Interessen der Grenzregionen an
den Rand Ihrer politischen Beschäftigung rücken,
dann wird diese Bereitschaft möglicherweise schwinden.
Genau das wollen wir verhindern.
Ich finde es auch gut, dass Herr Kollege Burgbacher
darauf hingewiesen hat, dass wir das Rad nicht neu erfin-
den müssen. Wir haben das Integrierte Mittelmeerpro-
gramm; dieses müsste lediglich auf den gegenwärtig zur
Debatte stehenden Tatbestand übertragen werden. Nur
dazu bräuchten Sie Ja zu sagen. Dann wären wir schon ei-
nen großen Schritt weiter.
Aber das, was wir im Augenblick von Ihnen hören, ist lei-
der sehr wenig konkret. Das trifft auch auf Ihren Antrag
zu – wir haben ihn uns ganz sorgfältig durchgelesen. Wir
hätten zugestimmt, wenn er nicht ein zahnloser Antrag
wäre, wenn er nicht überhaupt nichts Konkretes enthielte.
Das ist aber leider der Fall.
Wir haben ganz konkret vorgeschlagen, uns an das Mit-
telmeerprogramm anzulehnen. Sie bräuchten nur zuzu-
stimmen; dann wäre die Sache erledigt.
Lassen Sie mich zuletzt noch eines bemerken: Wir
müssen auch wissen, dass das Ganze sehr viel kosten
wird. Das bedeutet aber auch, dass wir uns von vornher-
ein darüber klar sein müssen, dass diese Aktivitäten für
das Randprogramm natürlich nicht zulasten der Zuwen-
dungen gehen dürfen, die für die neuen Bundesländer
dringend erforderlich sind, solange sie noch Ziel-1-Ge-
biete sind; und auch darüber hinaus.
Ich bin sehr gespannt, wie Ihre Lösung aussehen wird.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Arnold Vaatz
13763
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/4643 und 14/4886 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie an den Aus-
schuss für Arbeit und Sozialordnung vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Hannelore Rönsch ,
Ernst Hinsken, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Sicherung der Volksfeste und des Schau-
stellergewerbes in der Bundesrepublik
Deutschland
– zu dem Antrag der Abgeordneten Brunhilde
Irber, Dr. Eberhard Brecht, Annette Faße, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD,
der Abgeordneten Sylvia Voß, Matthias
Berninger, Thea Dückert, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN, der Abgeordneten Ernst
Burgbacher, Hildebrecht Braun ,
Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der F.D.P. sowie der Abgeordne-
ten Rosel Neuhäuser, Dr. Heinrich Fink, Rolf
Kutzmutz, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion
der PDS
Sicherung der Volksfeste, des Markthan-
dels und des Schaustellergewerbes
– Drucksachen 14/1312, 14/3786, 14/4836 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Brähmig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich begrüße im Namen aller Kolleginnen und Kollegen
recht herzlich auf der Besuchertribüne die Präsidenten
und Vizepräsidenten der Schaustellerverbände der Bun-
desrepublik.
Ich eröffne die Aussprache. Zunächst hat der Parla-
mentarische Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministe-
rium, Siegmar Mosdorf, das Wort.
S
Frau Präsiden-
tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen
uns heute mit einer wichtigen Branche, die im Wesentli-
chen davon lebt, dass sie einfallsreich ist, dass sie kreativ
ist und dass sie auf vielfältige Weise die Bürger anspricht,
und zwar so anspricht, dass sie sich auch zu Hause fühlen:
5 000 Betriebe mit in der Spitze 40 000 Beschäftigten, die
zusammen einen Umsatz von rund 1,5 Milliarden DM pro
Jahr generieren; rund 10 000 Veranstaltungen im Jahr, die
etwa 200 Millionen Menschen erreichen: Das sind ein-
drucksvolle Zahlen, die zeigen, dass es sich hier um eine
wichtige Branche handelt, die unser Dankeschön ver-
dient.
Frau Präsidentin, wenn Sie mir das gestatten, möchte
ich die Herren – leider sind es nur heute Herren – auch
persönlich begrüßen: den Ehrenpräsidenten und Konsul,
Herrn Wollenschläger,
den Präsidenten Herrn Krameyer,
den Vizepräsidenten Herrn Ritter,
den Vizepräsidenten Herrn Arenz
und die ganze Mannschaft, die dabei ist.
Wir freuen uns sehr, dass Sie hier sind. Sie bringen damit,
dass Sie zu dieser fortgeschrittenen Stunde hier sind, auch
zum Ausdruck, wie ernst Sie dieses Thema nehmen.
– Das hat keiner geglaubt!
Der Ausschuss für Tourismus – ich möchte das aus-
drücklich interfraktionell sagen – hat sich sehr ernsthaft
mit diesen Fragen und auch damit beschäftigt, wie wir
– und zwar im ganz konkreten Fall – helfen können.
Sie wissen, dass die Kommunen selber auch Verant-
wortung tragen. Es gibt auch da Zuständigkeiten, in die
wir uns nicht einmischen können. Aber da, wo wir selber
Verantwortung tragen, haben wir durchaus die Absicht,
den Menschen, die in der Branche arbeiten, aber auch den
Menschen ganz konkret zu helfen, denen man mit den
Festen Freude macht, die man verwurzelt, denen man da-
mit auch ein Stück Heimatgefühl gibt.
Deshalb freue ich mich, Ihnen heute neun Punkte nen-
nen zu können, an denen wir in den letzten zwölf Mona-
ten gearbeitet haben und die zu Ergebnissen geführt ha-
ben, die uns zufrieden stellen:
Erstens. Die vermehrte Nutzung einer Dauererlaubnis
für die gastronomischen Angebote der Schausteller nach
§ 2 des Gaststättengesetzes ist von unserem Haus mit den
Ländern abgestimmt worden. Die entsprechende Ände-
rung in der Musterverwaltungsvorschrift ist verabschiedet
und in Kraft. Damit können Gebühren für die ansonsten
bei jedem Fest notwendige Gestattung eingespart werden.
Ich finde, das ist ein wichtiges Ergebnis.
Zweitens. Die finanzielle Unterstützung der Deutschen
Zentrale für Tourismus wird im nächsten Jahr vom
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Vizepräsidentin Petra Bläss
13764
Umfang her nicht nur beibehalten, sondern sogar um
2,4 Millionen DM erhöht.
Bei den Marketingaktivitäten der DZTwird auf die Volks-
feste als besondere Attraktion verwiesen. Paradebeispiele
hierfür sind natürlich das Oktoberfest, der Cannstatter
Wasen, die Weihnachtsmärkte und viele andere Feste
mehr, die wir aus unseren Gemeinden und Städten ken-
nen.
Drittens. Die Bearbeitungszeit für Anträge auf die Ver-
mittlung von ausländischen Aushilfskräften wird ver-
kürzt. Im November wurde die entsprechende Änderung
der Durchführungsverordnung zum Ausländergesetz in
Kraft gesetzt. Auch das ist für sie eine wichtige Unter-
stützung.
Viertens. Die Bundesregierung plant nicht, an dem er-
mäßigten Mehrwertsteuersatz für Lebensmittel und für
schaustellerische Dienstleistungen etwas zu ändern. Die
diesbezügliche Sorge der Schausteller ist damit aus-
geräumt. Sie können davon ausgehen, dass sich daran
nichts ändert.
Fünftens. Die Vorführfristen von Fahrzeugen beim
TÜV – für die Schausteller ein ganz besonderes Pro-
blem – haben wir bereits zum 1. Dezember letzten Jahres
flexibilisiert. Damit lassen sich die TÜV-Termine besser
auf die Schaustellersaison abstimmen und es gibt weniger
Bürokratie. Auch das ist ein wichtiger Fortschritt.
Sechstens. Hinsichtlich der Erleichterung für die Ertei-
lung von Führerscheinen werden wir uns an die jetzt für
die Thematik federführende Brüsseler Administration
wenden und bitten, bei der nächsten Novellierung der
Führerscheinrichtlinie Ausnahmen für den Betrieb
langsamer Fahrzeuge aufzunehmen. Dies hätte dann auch
Auswirkungen auf das Schaustellergewerbe. Wir wissen,
dass gerade das für sie ein großes Problem ist. Deshalb
werden wir darüber mit Brüssel reden.
Siebtens. Die Befreiung von den Fahrverboten an
Sonn- und Feiertagen gehört an sich nicht in die Zustän-
digkeit des Bundes. Wir haben uns aber bei den Ländern
dafür eingesetzt und sie haben uns zugesichert, dass sie
bei Ausnahmegenehmigungen großzügig verfahren wer-
den. Auch in den Fällen, in denen der Schausteller auf-
grund unvorhersehbarer Verzögerungen an einem Sonn-
tag fahren muss, wollen die Länder nicht unbedingt auf
einem Bußgeld bestehen, sondern eine Ausnahmegeneh-
migung erteilen. Auch das ist eine wichtige Hilfe.
Achtens. Der Bildungsbereich ist ein sensibles Feld.
Jeder, der sich ein bisschen auskennt, weiß, dass Schau-
spieler, nein, Schausteller – –
– Ja, aber das ist gar nicht so weit weg. Beide leben von
ihrem Brain, von ihrem Know-how, von ihrem Wissen,
von ihren Talenten.
Die Schausteller sind viel unterwegs, deshalb geht es auch
die Familien etwas an.
– Sie müssen mal hingehen, dann wissen Sie das auch.
Weil hier Probleme auch für die Familien und für die Kin-
der bestehen, haben wir uns im Bildungsbereich beson-
ders engagiert.
Wir haben uns für Maßnahmen eingesetzt, die den spezi-
fischen Schwierigkeiten der mitreisenden Schausteller-
kinder Rechnung tragen werden. Dazu gehören das Schul-
begleittagebuch, um eine kontinuierliche und bessere
Unterrichtung der Kinder an unterschiedlichen Schulen
zu gewährleisten, sowie Sonderlehrgänge und Blockun-
terricht in den Wintermonaten beim Berufsschulunter-
richt.
Wir begrüßen auch die Empfehlung der Kultusminis-
terkonferenz, dass bundesweit einheitlich 10 DM pro
Kind und pro Tag für die Heimunterbringung von Schau-
stellerkindern gezahlt werden soll. Das sind ganz kon-
krete Erleichterungen, die ihnen auch helfen.
Neuntens und letztens. Wir setzen uns in Gesprächen
mit der BAM und den Schaustellerverbänden dafür ein,
dass Feuerwerke auf Volksfesten gezündet werden kön-
nen und trotzdem der Schutz für die entsprechenden Be-
sucher gewährleistet ist. Wir wollen, dass die Genehmi-
gungen leichter erteilt werden können, aber legen
natürlich auch auf die Sicherheit Wert; das ist genau auf-
einander abgestimmt. Die Schausteller sind verantwor-
tungsvolle Leute und sie nehmen dieses verantwortungs-
volle Gewerbe auch ernst.
Ich glaube, insgesamt gesehen haben wir in diesen
zwölf Monaten wichtige Entscheidungen vorangebracht.
Ich bin sicher, dass die Schausteller das nicht nur aner-
kennen, sondern uns diese wichtigen Leistungen auch ein
Stück weit zurückgeben, indem sie Identität stiften und
uns ein Heimatgefühl vermitteln. Die Volksfeste gehören
gleichsam zum historischen Kulturgut, auf das wir in
Deutschland stolz sein können.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär,
ich habe jetzt ein Problem. Sie sprechen eigentlich schon
länger, als Ihre Redezeit erlaubt, aber es gibt noch eine
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf
13765
Frage des Kollegen Hinsken. Wenn es eine kurze ist, dann
lasse ich sie zu.
S
Aber gerne,
Ernst Hinsken.
Verehrte Frau Präsiden-
tin, es ist eine ganz kurze Frage. Ich möchte Herrn Staats-
sekretär Mosdorf nur fragen, ob er bereit ist, der Vollstän-
digkeit halber noch darauf zu verweisen, dass seine neun
Punkte sämtlich auf Anträge der Opposition, insbeson-
dere der CDU-Fraktion, zurückgehen.
S
Unser Haus ist
ja auch für das Urheberrecht zuständig, deshalb ist das
eine berechtigte Frage. Frau Präsidentin, ich wollte ge-
rade zum Schluss den Vorsitzenden des Tourismusaus-
schusses noch einmal besonders würdigen; denn Ernst
Hinsken gehört nun wirklich zu denjenigen, die die
Schausteller und die Feste oft besuchen.
Wenn er dann noch seine Backwaren mitbringt, dann ist
er unschlagbar.
Ich will also ausdrücklich sagen: Es war ein interfrak-
tioneller Antrag, an dem sich alle beteiligt haben und bei
dem alle engagiert waren. Das gilt für die SPD, für die
CDU, für die F.D.P., für die Grünen und auch für die PDS:
An diesem Diskussionsprozess haben sich alle beteiligt.
Ich glaube, wir können alle stolz darauf sein, lieber Ernst,
dass wir einen Schritt vorangekommen sind.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der nächste Redner ist
der Kollege Thomas Dörflinger von der CDU/CSU.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Verehrte Vertreter des Schausteller-
verbandes! Dank der Initiative der CDU/CSU-Bundes-
tagsfraktion,
darauf sei hingewiesen – von daher, Herr Staatssekretär,
bin ich Ihnen für Ihre Schlussbemerkung dankbar –, de-
battieren wir heute über die Zukunft eines Zweiges des
Tourismusgewerbes, der bislang weitgehend im Schatten
der Politik und der öffentlichen Diskussion stand.
– Ich darf Sie einmal daran erinnern, dass Sie seit zwei
Jahren regieren; für den Fall, dass das in Vergessenheit ge-
raten sein sollte.
Bei jährlich 200 Millionen Besuchern der Volksfeste
ist es nicht nur die Pflicht der Politiker, sich in die
200 Millionen Besucher einzureihen, sondern sich auch
selbst als Gestalterinnen und Gestalter zu verstehen. Da-
bei sei allerdings angemerkt: Es ist schon bedauerlich,
dass zwischen der Einbringung des Antrags der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion und der Behandlung des
interfraktionellen Antrags ein ganzes Jahr verstrichen ist,
in dem man, durchaus auch im Sinne der Branche, etwas
hätte bewegen können.
Die Verzögerung ist bedauerlich. Aber, Herr Staatsse-
kretär – da Sie uns gelobt haben, komme ich nicht darum
herum, Sie auch zu loben –, ich muss sagen: Sie sind die
Sache gar nicht unclever angegangen; Sie haben nämlich
die Verzögerung genutzt, einige unserer Forderungen auf-
zunehmen und abzuarbeiten. Das will ich durchaus aner-
kennen und auch begrüßen. Allerdings – das füge ich wie-
der als Einschränkung hinzu – ist das kein Fingerzeig auf
einen durchgängigen Lern- und Erkenntnisprozess der
Bundesregierung.
Ich möchte zwei Punkte herausgreifen, die auch Sie ge-
nannt haben: zum einen die Ausnahmegenehmigungen,
die seit Dezember 1999 Verlängerungen der Vorführfrist
von Fahrzeugen beim TÜV von sechs auf acht Monate er-
möglichen, und zum anderen die Einigung der Kultusmi-
nisterkonferenz, für Schaustellerjugendliche in den Be-
rufsschulen in den Wintermonaten Blockunterricht
vorzusehen. Beides sind Entscheidungen, die der Branche
durchaus entgegenkommen.
Natürlich besteht auch weiterhin Handlungsbedarf; Sie
haben es eben bereits angedeutet. Beispielsweise sollten
wir die Kommunen auffordern, die Arbeit der Branche
nicht durch Bagatellsteuern zu erschweren, was nicht nur
eine finanzielle, sondern auch eine bürokratische Dimen-
sion hat. Auch dürfen Transporte von und zu Volksfesten
nicht durch unnötige Auflagen erschwert werden.
Zum Thema Verkehr füge ich hinzu: Wir sollten uns
keinen Illusionen hinsichtlich der Funktion der Schiene
für das Gewerbe hingeben.
Wenn Schausteller und Geräte vom „Dom“ in Hamburg
zu den Wasen in Stuttgart transportiert werden sollen, hat
die Schiene womöglich eine Funktion. Aber wenn der
Transport vom Fridolinsfest in Bad Säckingen über den
Schwyzertag in Tiengen zur Waldshuter Chilbi – das ist in
meinem Wahlkreis – führt, dann wird die Schiene auch bei
noch so guter Infrastrukturausstattung keine Funktion ha-
ben; man wird weiterhin auf die Straße angewiesen sein.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Vizepräsidentin Petra Bläss
13766
Interessanterweise wurde im interfraktionellen Antrag
allerdings die Forderung an das Bundeswirtschaftsminis-
terium weggelassen, auf die Länder und Regionen einzu-
wirken, koordinierte Konzepte zu entwickeln, die die
Volksfeste als Destination integrieren. Das wäre bei-
spielsweise eine Aufgabe, die dem Tourismusbeirat der
Bundesregierung zukommt, der ansonsten weitgehend
eine Feiertagsveranstaltung zu werden droht. Auf diesem
Feld könnte sich der Tourismusbeirat durchaus aktiv zei-
gen, insbesondere vor dem Hintergrund, dass wir – eben-
falls auf unsere Initiative hin – das Jahr 2001 zum Jahr
des Tourismus in Deutschland erklärt haben.
Meine Damen und Herren, wenn wir Anträge formu-
lieren, die beispielsweise an Länder und Kommunen
adressiert sind, dann müssen wir uns als Bundesgesetzge-
ber natürlich auch an die eigene Nase fassen und darüber
nachdenken, was wir denn tun könnten. In diesem Zu-
sammenhang muss ich schon einmal daran erinnern, dass
auch im Interesse des Schaustellergewerbes über die Neu-
regelung der 630-Mark-Jobs,
über die Neuregelung der so genannten Scheinselbststän-
digkeit und insbesondere über das Thema Ökosteuer ge-
redet werden sollte. Wenn Sie diese drei Punkte, Herr
Staatssekretär, zukünftig auch noch umsetzten, dann hät-
ten wir neben den traditionellen Volksfesten und dem be-
vorstehenden Weihnachtsfest einen weiteren Grund zum
Feiern. Dann wäre nämlich nach zwei Jahren endlich ein-
mal in der Politik in Deutschland etwas Vernünftiges pas-
siert.
Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die nächste Rednerin
ist die Kollegin Sylvia Voß für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr ge-
ehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zu dieser Zeit finden wir allerorts sehr heimelige Weih-
nachtsmärkte. Jährlich gehört es für mehr als 200 Milli-
onen Besucher in ihrer Freizeit dazu, sich auf einem der
über 10 000 Volks- und Schützenfeste in Deutschland zu
vergnügen. Im Schaustellergewerbe sorgen immerhin
34 000 Menschen dafür, dass die Achterbahnen sicher
stehen, die Gewinnlose gut gemischt sind
und die kandierten Äpfel nicht ausgehen. Die Zahlen be-
legen, dass im traditionellen Bereich der Freizeit- und
Tourismuswirtschaft zweifellos etwas ganz Außerge-
wöhnliches gelingt, nämlich Gäste aller Altersklassen und
sozialen Schichten für Besuche auf den Jahrmärkten, Kir-
messen, Wochen- und Weihnachtsmärkten zu begeistern.
Unterschiedlich ist nur die Art, wie die Gäste es bevor-
zugen, sich zu amüsieren. Selbst für diejenigen, die eine
Fahrt mit der Achterbahn oder dem Riesenrad scheuen,
weil sie nach dem Genuss einer köstlichen Zuckerwatte
die Loopings oder die Höhe nicht vertragen, besteht nicht
die Gefahr, dass Langeweile aufkommt. Unzählige
Schau-, Belustigungs-, Verkaufs- und Schießgeschäfte
bieten den Besuchern eine ungeheure Abwechslung und
locken sie auf die Volksfeste.
– Hören Sie mir doch erst einmal zu.
Volksfeste gehören seit jeher zum Kulturgut in
Deutschland. Unser Wille ist es, dass sie auch in Zukunft
lebendig bleiben. Volksfeste unterstützen die Attraktivität
des Tourismusstandortes Deutschland. Es ist auch den
Volksfesten und Jahrmärkten zu verdanken, dass der Städ-
tetourismus Zuwachsraten verzeichnet.
Wir werden der kulturellen Tradition und dem Brauch-
tum, das den Festen zugrunde liegt, die Aufmerksamkeit
schenken, die sie verdient haben. Von der alten Bundesre-
gierung konnte man das leider nicht behaupten.
In den Jahren, in denen die CDU/CSU der Regierung
angehörte, erschien Ihnen die Sicherung der Volksfeste
und des Berufsstandes der Schausteller offensichtlich
nicht wichtig genug, um sich diesem Problem wirklich
ernsthaft zu widmen. Erst in der Rolle der Opposition be-
sinnt man sich eines Besseren.
Das ist gut, immerhin. Der erfreuliche Gedanke liegt
nahe, dass man nunmehr eigene Versäumnisse wiedergut-
machen möchte. Wie aber ist es dann zu bewerten, dass es
für die CDU/CSU so schwer ist? In der Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses heißt es:
Der CDU/CSU-Fraktion sei es allerdings aus
grundsätzlichen innerfraktionellen Erwägungen nicht
möglich gewesen, diesen interfraktionellen Antrag
mitzutragen.
An diesem Punkt drängt sich doch der Gedanke auf, dass
in der CDU/CSU-Fraktion, jenseits der Arbeitsgruppe
Tourismus, immer noch ein Desinteresse an der Zukunft
der Volksfeste überwiegt – wie schon in den langen, lan-
gen Jahren davor.
Im Gegensatz dazu aber weiß die jetzige Bundesregie-
rung sowohl die Bedeutung als auch die angenehme und
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Thomas Dörflinger
13767
heitere Atmosphäre von Volksfesten und Jahrmärkten
sehr wohl zu schätzen.
Es wurden bereits zahlreiche Maßnahmen in die Wege ge-
leitet, die die Situation dieser Branche verbessern und so-
mit zum Erhalt des volkstümlichen Brauchtums beitra-
gen. Es freut mich, Ihnen in Erinnerung rufen zu können,
dass für die ganz jungen Familienmitglieder der Schau-
steller bereits einige Steine aus dem Weg geräumt werden
konnten. Um die berufliche Förderung für die Kinder der
auf Jahrmärkten beschäftigten Eltern zu verbessern, wird
es dank eines Schulbegleittagebuchs Lehrern der unter-
schiedlichen Schulen künftig möglich sein, im Unterricht
besser auf diese Kinder einzugehen.
Bedacht haben wir auch die Jahre nach der Schulzeit.
Trotz der Tatsache, das viele Jugendliche als feste Ar-
beitskräfte in den familiengeführten Betrieben unentbehr-
lich sind, sollen diese Jugendlichen keineswegs auf eine
Ausbildung verzichten müssen. In den Wintermonaten
können sie auf Sonderlehrgängen und im Block unter-
richtet werden.
Wir haben, wie Herr Mosdorf schon ausführte, in den
letzten Monaten noch eine ganze Reihe mehr geleistet. Es
ist ein ermutigendes Zeichen für die Branche, aber auch
für die parlamentarische Arbeit, dass der vorliegende An-
trag gemeinsam von den Koalitionsfraktionen und den
Fraktionen von F.D.P. und PDS getragen wird. Das zeugt
von der Fähigkeit der beteiligen Fraktionen, im Interesse
von Problemlösungen konstruktiv zusammenzuarbeiten.
Die prinzipiellen politischen Differenzen werden dabei
allerdings nicht vergessen. Ich erinnere an die Haltung zur
Ökosteuer. Ich will darauf hier nicht mehr eingehen; das
haben wir an anderer Stelle ausführlich diskutiert.
Den hier anwesenden Damen und Herren von der
CDU/CSU-Fraktion, die entgegen ihrer Überzeugung
dem vorliegenden Antrag nicht zustimmen wollen oder
dürfen, empfehle ich, statt Adventskalender gegen die
Ökosteuer zu basteln, die besinnliche Weihnachtszeit
dazu zu nutzen, sich auf einem der derzeit zahlreich statt-
findenden Weihnachtsmärkte zu amüsieren, auf dass Ih-
nen dort endlich ein Ökolichtlein aufgehe.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der nächste Redner ist
der Kollege Ernst Burgbacher von der F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ich freue mich, heute zu diesem
Thema reden zu dürfen, da ich ein leidenschaftlicher Be-
sucher von Volksfesten bin.
Wenn man persönlich hinter einem Thema steht, lässt sich
leichter darüber reden.
Dieser Branche, klein- und mittelständisch geprägt und
für Frohsinn sorgend, ist manchmal selbst nicht zum La-
chen zumute, weil die Situation in vielen Bereichen – ich
werde gleich konkret darauf kommen – wirklich schwie-
rig ist. Umso mehr freut es mich, dass wir zu diesem
Thema bei viel gegenseitiger Kompromissbereitschaft ei-
nen interfraktionellen Antrag hinbekommen haben. Frau
Voß, ich empfand Ihre Polemik als völlig deplatziert,
weil Sie ganz genau wissen, dass die ursprüngliche Initia-
tive bei der CDU/CSU lag und es ganz andere Ursachen
hat, dass die Kollegen nicht zustimmen. Ein bisschen
mehr Souveränität wäre ganz schön.
Die Kostensituation des Schaustellergewerbes ist in
einigen Punkten sehr schwierig. Ich möchte das an einem
Beispiel konkretisieren. Ich habe nämlich Anregungen für
meine Rede, meine Herren auf der Zuschauertribüne, auf
unserem traditionellen Volksfest bekommen, auf dem ich
jedes Jahr mit Schaustellern zusammensitze. Die frage ich
gerne: Wo sind denn die wahren Probleme? Deshalb kann
ich hier einiges beitragen. So wurde mir gesagt, dass ein
Boxauto – ich fahre bis heute gerne Boxauto – 8 500 DM
kostet, bis es auf der Bahn steht. Dieses Geld – das bitte
ich zu bedenken – muss erst einmal eingefahren werden.
Wenn das möglich sein soll, muss vieles stimmen.
Ich muss auch die Probleme ansprechen, die im inter-
fraktionellen Antrag nicht genannt werden konnten, weil
er ansonsten keine Mehrheit bekommen hätte, zum Bei-
spiel die Arbeitskräfte. Sie haben sich jetzt durchgerun-
gen, Ausländer nach einer Wartezeit von zwölf Monaten
arbeiten zu lassen.
Hätten Sie unserem Antrag zugestimmt, in dem wir vor-
geschlagen haben, die Arbeitserlaubnispflicht ganz auf-
zuheben, wären wir ein ganzes Stück weiter.
Herr Staatssekretär Mosdorf hat vorhin zu Recht da-
rauf hingewiesen, dass diese Regierung
– nur Lärmen hilft auch nicht weiter – auch viel Positives
gemacht hat. Allerdings war es oft nur der Ausgleich für
unsägliche Regelungen. Natürlich leidet die Branche
massiv unter der Neuregelung der 630-Mark-Jobs. Das ist
doch überhaupt keine Frage.
Natürlich leidet diese Branche, die hohe Transport- und
Energiekosten hat, massiv unter der Ökosteuer. Auch das
ist keine Frage.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Sylvia Voß
13768
– Manchmal frage ich mich, wo Sie leben. Natürlich wird
Ihnen jeder bestätigen, wie groß die Probleme in dieser
Branche sind. Es wird nicht durch lautes Schreien besser,
sondern nur dadurch, dass man die Konsequenzen zieht
und dementsprechend handelt.
Ich spreche den folgenden Punkt ganz bewusst an. Wir
appellieren immer an die Kommunen. Ich weiß nicht, ob
das so produktiv ist, ob sich die Kommunen daraufhin
nicht eher abschotten. Aber wir müssen es trotzdem tun;
denn die Entwicklung, die Jahrmärkte und die Volksfeste
aus der Stadt herauszudrängen, ist verheerend für das
Schaustellergewerbe. Denn dann sind es nicht mehr die
Feste, die sie einmal waren. Deshalb sollten diejenigen
von uns, die in der Kommunalpolitik tätig sind oder Ein-
fluss haben, alles daransetzen, dass die traditionellen
Volksfestplätze erhalten bleiben.
– Herr Kollege, schreien Sie nicht dazwischen. Das steht
auch so im Antrag. Da Sie ihn mit unterschrieben haben,
sollten Sie mir auch in diesem Punkt zustimmen.
Probleme für die Schausteller sehe ich auch in den
massiv erhöhten Abgaben der Kommunen und in den Öff-
nungszeiten, um die es – das weiß ich aus eigener Erfah-
rung – immer mehr Konflikte gibt, weil diejenigen, die in
unmittelbarer Nachbarschaft von Volksfestplätzen woh-
nen, durchzusetzen versuchen, dass die Jahrmärkte und
Volksfeste früher schließen. Auch das ist natürlich für die
Branche ein riesengroßes Problem. Hier müssen wir auf
die Kommunen massiv einwirken.
Wir haben das gemeinsame Ziel, Volksfeste und Jahr-
märkte zu erhalten. Wir wollen dem Schaustellergewerbe
helfen. Wir versprechen Ihnen: Wir werden das künftig,
wo immer es geht, im Konsens tun. Ich sage Ihnen: Wenn
Politik ein Stück weit Frohsinn fördern kann, dann ist das
eine schöne Sache. Im Jahr des Tourismus gibt es den
Wahlspruch: Deutschland – nix wie hin! Sagen wir doch
jetzt: Jahrmärkte und Volksfeste – nix wie hin!
Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt die
Kollegin Rosel Neuhäuser für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Liebe Kollegen vom Deutschen
Schaustellerverband! Es ist uns selbst nach 15 Stunden
Diskussionen im Plenum dieses Hauses ein freudiger An-
lass, uns mit dem interfraktionellen Antrag zur Verbesse-
rung Ihrer Situation zu beschäftigen. Es sollte keine Ne-
gativdiskussion über diesen Antrag geben, an dem wir
gemeinsam gearbeitet haben; denn er ist ein Schritt in die
richtige Richtung. Wir wollen ihn heute zum Erfolg
führen.
Vor mehr als einem Jahr habe ich hier im Auftrag mei-
ner Fraktion festgestellt, dass Volksfeste oder Kirmessen,
Stadt- oder Vereinsfeste und auch der Weihnachtsmarkt,
der jetzt überall stattfindet, immer Orte der Ge-
meinsamkeit, der Freude, aber auch der Entspannung
sind. Das spüren wir alle an der Resonanz solcher Feste.
Wer auf den Weihnachtsmarkt geht, der weiß, was dort los
ist. Wir haben einen interfraktionellen Antrag vorgelegt,
in dem die in der ersten Beratung von allen Fraktionen an-
gesprochenen Fragen behandelt werden. Was im Antrag
steht, war der kleinste gemeinsame Nenner.
Das ist ein wichtiger Erfolg.
Der Wert der Gemeinsamkeit, wie ich ihn eben in Be-
zug auf Volksfeste angesprochen habe, wird auch in der
Gemeinsamkeit dieses Antrags deutlich.
Wir haben damals zum Beispiel gefordert, dass Regelun-
gen zu dem Beantragungsverfahren, zu den steuerlich-
rechtlichen Fragen, zu den Gebührenordnungen und im
Bereich der Transporte geschaffen werden müssen und
dass diese Regelungen möglichst an die EU-Richtlinien
angeglichen werden sollten. Diese Ziele haben wir alle
gemeinsam formuliert.
Ich muss heute dennoch mein Unverständnis darüber
zum Ausdruck bringen, dass es trotz inhaltlicher Zusam-
menarbeit und Übereinstimmung – wir haben hier in der
ersten Lesung über den Antrag der CDU/CSU-Fraktion
diskutiert; auch im Ausschuss haben wir uns mit ihm aus-
einander gesetzt – für die CDU/CSU nicht möglich war,
diesen Antrag mitzutragen.
Ich sprach zu Beginn meiner Rede von der Gemeinsam-
keit und auch von der Freude, die Volksfeste für die Men-
schen bedeuten können. Im Interesse des Verbandes und
der Menschen in unserem Lande hätten wir deshalb unser
Anliegen gemeinsam zum Ausdruck bringen sollen.
Als ich vor wenigen Tagen den großen und schönen
Weihnachtsmarkt in Berlin besucht habe, habe ich dort
Tausende von Menschen hinströmen sehen. Ich habe viele
leuchtende Kinderaugen gesehen. Ich habe aber auch die
leuchtenden Augen von Erwachsenen gesehen. Ich habe
Schießbuden, Bratwurststände, Kinderkarussells und vie-
les mehr gesehen.
Ich habe natürlich auch beim Gespensterschloss vorbei-
geschaut.
An diesem Gespensterschloss hängt ein Seil, an dem ein
Weihnachtsmann hoch- und runterklettert.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Ernst Burgbacher
13769
Das ist genau das Problem, das die CDU hat: Sie arbeitet
sich von unten nach oben, sie arbeitet mit uns gemeinsam
am Antrag. Als sie oben war, weil der Antrag ausgearbei-
tet war, und in der Fraktion das Problem geklärt werden
sollte, dass auch die PDS den Antrag unterzeichnet, ging
es wieder herunter.
Ich denke, so soll es nicht sein.
– Das ist keine falsche Interpretation.
Sie haben in der eigenen Partei ein Problem, wenn es
um Inhalte geht. Sie sollten sich mit Ihrem Fraktionsvor-
stand auseinander setzen und den unsäglichen Unverein-
barkeitsbeschluss, den es im Hinblick auf den Umgang
mit der PDS noch gibt, im Interesse der Sache endlich
vom Tisch nehmen. Das täte nicht nur der CDU/CSU,
sondern auch der Branche der Schausteller gut.
Ich möchte noch einen Satz zu dem sagen, was Herr
Burgbacher und Herr Mosdorf schon angesprochen ha-
ben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das müsste aber ein
kurzer Satz sein, Frau Kollegin Neuhäuser.
Im Interesse der Schaustel-
ler ist es wichtig, dass wir die Kommunen aufrufen,
gründlich darüber nachzudenken, wie lange man es noch
zulassen will, dass die Volksfestplätze immer weiter von
den Innenstädten weg hinaus in die Randzonen getrieben
werden. Die Städte brauchen ihre kulturellen Zentren.
Es ist wichtig, dass die Kommunen hier ihrer Verantwor-
tung gerecht werden.
Ich wünsche allen noch viel Freude auf Weihnachts-
märkten, auf Volksfesten und auf anderen derartigen Ver-
anstaltungen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das war ein sehr lan-
ger vorweihnachtlicher Satz.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Marianne Klappert,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kollegen! Liebe Kolleginnen! Wenn ich auf die Uhr
schaue, dann stelle ich fest, dass wir mittlerweile zwei-
einhalb Stunden über die Zeit sind. Viele Kollegen und
Kolleginnen haben es heute in den frühen Abendstunden
geschafft, mit den Schaustellern – ich freue mich, dass sie
es so lange ausgehalten haben – einen der schönsten
Weihnachtsmärkte, nämlich hier in Berlin, zu besuchen.
– Kollege Kubatschka und ich, wir mussten leider arbei-
ten und konnten nicht an dem Besuch teilnehmen.
Es ist deutlich geworden, dass wir alle, die Kollegen
der CDU/CSU, der F.D.P., des Bündnisses 90/Die Grünen
und der PDS, eines gemeinsam wollen: Wir wollen dem
Gewerbe unserer Schausteller die Chance geben, sich
weiterzuentwickeln und zu stabilisieren.
– Richtig, Ernst Hinsken! Deshalb würde ich mich freuen
– ich werbe noch einmal darum –, wenn wir es trotz aller
Kaspereien schaffen würden, heute Abend diesem Antrag
alle miteinander zum Wohle der Schausteller gemeinsam
zuzustimmen, den wir über ein Jahr in harter Arbeit bera-
ten haben.
Herr Dörflinger, wir haben Ihren Antrag ernst genom-
men. Sie wissen genauso gut wie ich: Der Tourismusaus-
schuss ist ein Ausschuss mit Querschnittsaufgaben. Wir
haben es in dieser Zeit geschafft, nicht nur fünf Fraktio-
nen, sondern auch all die anderen Arbeitsgruppen und
Ausschüsse zu beteiligen. Ich will mich beim Staatsse-
kretär Mosdorf bedanken, der es mit uns gemeinsam ge-
schafft hat, die Anregungen, die in Ihrem Antrag enthal-
ten waren, wirklich auch umzusetzen.
Das unterscheidet uns: Sie schreiben Anträge und halten
hier große Reden, aber wir handeln. Wir haben es ge-
schafft, dass ein Gutachten in Auftrag gegeben worden ist.
Das hätten Sie in den 16 Jahren, wo Sie Regierungspar-
teien waren, längst machen können. Wir haben es ge-
schafft.
Es ist doch zum Lachen, wenn Sie heute immer kom-
men und sagen: Sie sind seit zwei Jahren an der Regie-
rung. Sie hatten doch wirklich Zeit genug, das umzuset-
zen.
Von dem Gutachten, das diese Bundesregierung nun mit-
finanziert, erhoffen wir uns, dass es Ergebnisse bringt, die
nicht nur zum Wohle der Schausteller sind, sondern dem
gesamten Umfeld dienen. Wir müssen weiter daran arbei-
ten, dass wir mehr erreichen, dass im Mittelpunkt unserer
Städte weiterhin Attraktionen stehen. Wir erleben es doch
jetzt bei den Weihnachtsmärkten. Was wären denn man-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Rosel Neuhäuser
13770
che Städte, wenn nicht die Tradition aufrechterhalten
würde? Was haben Sie denn dazu beigetragen?
Da sind Sie nun wirklich in der Pflicht.
– Das habe ich eben gesagt.
Ich will noch eines sagen: Wir haben gerade hier die
Schwierigkeit, dass es nicht nur darum geht, bundespoli-
tisch Entscheidungen zu treffen. Viele Schwierigkeiten,
die unsere Schausteller haben, liegen im Bereich der
Kommunen.
Wir hatten heute Nachmittag Gelegenheit, in der Ar-
beitsgruppe Kommunalpolitik der SPD-Bundestagsfrak-
tion mit den Schaustellern gemeinsam zu diskutieren, wie
wir helfen können, damit das, was heute Abend beschlos-
sen wird, bei den Kommunen auch ankommt, dass trans-
parent wird, wo Schwierigkeiten liegen. Ich glaube, da
sind wir auf einem guten Weg. Wir sagen, wir müssen es
gemeinsam schaffen. Das kann nicht nur der Bund, das
können nicht nur die Länder und die Kommunen, sondern
das muss gemeinsam gemacht werden. Es ist nicht unbe-
dingt üblich, dass der Deutsche Bundestag in einem An-
trag formuliert: Wir fordern die Bundesregierung auf,
dazu beizutragen, dass in den Städten und Gemeinden auf
Volksfesten auf die Anwendung von Bagatellsteuern ver-
zichtet wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Hinsken
hat eine weitere Zwischenfrage. Frau Klappert, lassen Sie
die zu?
Ja.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte, Herr Hinsken.
Verehrte Frau Kollegin
Klappert, pflichten Sie mir bei in der Feststellung: Wenn
es die Ökosteuer nicht gäbe,
würde es auch nicht einen Kaufkraftabfluss in Höhe von
35 Milliarden DM geben, was dazu führen würde, dass
viele Leute vermehrt Volksfeste, Kirmessen usw. besu-
chen könnten?
Und pflichten Sie mir darüber hinaus bei, dass hierfür
nicht die Kommunen verantwortlich zeichnen, sondern in
erster Linie die Bundesregierung? Und die wird maßgeb-
lich von Ihrer Fraktion gestellt.
Herr Kollege Hinsken,
nun will ich Ihnen eines sagen: Es gibt sehr viele Groß-
eltern, die heute mit ihren Enkelkindern zu jeder Kirmes
und zu Volksfesten gehen. Die können sich das erlau-
ben. Die Familienväter sind froh und dankbar, dass sie
statt 22 Prozent ab dem 1. Januar 2000 nur 19,1 Prozent
an Rentenbeiträgen zu zahlen haben.
– Herr Brähmig, warten Sie einmal ab und lassen Sie uns
das einmal ganz ordentlich machen. – Ich weiß, dass die
Familien froh sind, dass sie mehr Kindergeld bekommen
haben,
dass sie weniger Lohnnebenkosten zu zahlen haben und
dass sie wieder in der Lage sind, mit ihren Kindern ge-
meinsam zu Volksfesten zu gehen. Sie freuen sich, dass
dort, bei diesen Volksfesten, Jung und Alt zusammen-
kommen. Das ist doch wirklich etwas!
Es gibt für die Familien wieder viel mehr Freiräume.
Sie können wieder mehr Geld ausgeben und das macht
Spaß.
– Der Kollege Brähmig kann ja gleich fünf Minuten
über die Ökosteuer sprechen.
Wir haben dieses Thema in allen Ausschüssen immer wie-
der diskutiert; aber jetzt bringt es doch nichts mehr.
Ich möchte für meine Fraktion sagen, wie groß unser
Interesse ist, dass wir Volksfeste, Kirmessen und Ähnli-
ches aufrechterhalten.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich ganz beson-
ders bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des zustän-
digen Ministeriums bedanken, die die gemeinsame Arbeit
unterstützt haben. Ich glaube, hier ist ein ganz herzliches
Dankeschön angebracht; denn nur so kommt man ge-
meinsam weiter.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, wir haben es geschafft: Der Freitagmorgen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Marianne Klappert
13771
ist erreicht. Wie man sieht und hört, ist auch die Volks-
feststimmung fast erreicht.
Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Klaus Brähmig.
Klaus Brähmig (von Abgeordneten der
CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen!
Zu Beginn meiner Ausführungen begrüße ich ebenfalls
ganz herzlich die Vertreter des Deutschen Schausteller-
bundes und des Bundesverbandes Deutscher Schausteller
und Marktkaufleute.
Ich glaube, heute ist für das Schaustellergewerbe und die
deutschen Volksfeste ein großer Tag.
Auf Initiative der Unionsparteien und vor allem unse-
res Ausschussvorsitzenden, Ernst Hinsken,
wurde dem Anliegen dieser mittelständischen Unterneh-
men in Deutschland im Jahre 1999 erstmals ein spezifi-
scher Antrag gewidmet, über den wir im November des
letzten Jahres in einer Plenardebatte mit großem Einver-
nehmen und ohne das sonst übliche Parteiengezänk dis-
kutiert haben.
Leider wurde dieses Thema heute zu einer sehr
ungünstigen Debattenzeit auf die Tagesordnung gesetzt.
Daraus schließe ich, dass dem Tourismus trotz seiner un-
verkennbar hohen gesamtwirtschaftlichen Bedeutung in
der Politik und auch in diesem Hohen Haus noch nicht die
Bedeutung zugemessen wird, die ihm gebührt.
Meine Damen und Herren, gestern Mittag hat Bundes-
wirtschaftsminister Müller das Jahr des Tourismus in
Deutschland 2001 im Kulturforum Berlin eröffnet.
– Das stimmt natürlich; Sie haben Recht. Das war vor-
gestern. Gerade im Jahr des Tourismus sollten wir als Tou-
rismuspolitiker gemeinschaftlich dafür Sorge tragen, dass
die Branchenvertreter und die Bevölkerung eine Chance
erhalten, die tourismuspolitischen Debatten live im Fern-
sehen mitzuerleben.
Wir alle wollen, dass dieses Aktionsjahr ein Erfolg
wird und sich in der Bevölkerung ein Bewusstsein dafür
entwickelt, dass der Tourismus wie kaum eine andere
Branche dazu geeignet ist, kurz-, mittel- und langfristig
im weltweiten Wettbewerb Arbeitsplätze in Deutschland
zu sichern bzw. auch in großem Maße neue zu schaffen.
Dabei muss stärker als bisher darauf hingewiesen werden,
welche Einmaligkeit, Vielfalt und Tradition gerade im
deutschen Schaustellergewerbe und in den deutschen
Volksfesten stecken. Dies gilt von Flensburg bis Berchtes-
gaden und von Saarbrücken bis Görlitz.
Nicht zuletzt trägt die einmalige und jahrhundertealte
Volksfestkultur mit Jahrmärkten, Kirmessen, Schützen-
festen und gerade jetzt mit wunderschönen Weihnachts-
märkten immer wieder zu Reisen von Gästen aus der
ganzen Welt nach Deutschland bei. Stellvertretend seien
hier nur der weltbekannte Christkindlmarkt in Nürnberg
und der Dresdner Striezelmarkt genannt.
Ihr Engagement, sehr geehrte Damen und Herren der
Schaustellerverbände, ist also ein unerlässlicher Beitrag
für das Image des Reiselandes und Wirtschaftsstandor-
tes Deutschland. Umso wichtiger wäre es gewesen, sehr
geehrter Herr Staatssekretär Mosdorf, diese beiden Ver-
bände aktiv in die Planung zum Jahr des Tourismus in
Deutschland 2001 einzubinden. Dies kann man aber si-
cherlich noch nachholen. – Sie haben heute Abend am
Rande der Debatte sicherlich erste Gespräche mit den
Herren geführt. – Ich glaube, das wird in der nächsten Zeit
Realität.
In der Arbeitsgruppe zu dem Aktionsjahr hätten die
Vertreter der Schausteller dann eine gute Gelegenheit,
ihre Probleme bei der örtlichen Durchführung von Volks-
festen mit den Vertretern des Deutschen Städtetages, des
Deutschen Städte- und Gemeindebundes und des Deut-
schen Landkreistages zu erörtern, die ebenfalls Mitglieder
dieser Arbeitsgruppe sind.
Wir sollten in diesem Jahr sogar noch einen Schritt
weitergehen. Es muss herausgearbeitet werden, welche
Potenziale in diesem Tourismussektor liegen; Herr Staats-
sekretär Mosdorf hat die wirtschaftliche Bedeutung an-
hand von Zahlen hier deutlich gemacht. Dies gelingt nach
meiner Überzeugung nur mit einer nationalen Studie zum
Thema „Schaustellergewerbe und Volksfeste als Wirt-
schaftsfaktor“,
die wir gemeinsam, Bundesregierung und Tourismusaus-
schuss, im Jahr 2001 endgültig auf den Weg bringen soll-
ten.
Inzwischen sind einige Forderungen aus unserem An-
trag vom Juli 1999 abgearbeitet, andere Probleme in den
Zuständigkeiten von Kommunen, Bundesländern, Bund
und EU müssen weiterhin einer vernünftigen Lösung
zugeführt werden. Dabei sollte stets im Vordergrund ste-
hen, dass die Branche entwicklungsfähige Rahmenbedin-
gungen braucht: nicht Regulierung, sondern Deregu-
lierung,
nicht Bürokratisierung, sondern Entbürokratisierung,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Vizepräsidentin Petra Bläss
13772
nicht nur Privatisierung der Infrastruktur in den Gemein-
den, sondern ein Bekenntnis zur Daseinsfürsorge der öf-
fentlichen Hand zur Gewährleistung eines fairen Wettbe-
werbs der Anbieter.
Bei den Rahmenbedingungen kann ich die Problema-
tik der Ökosteuer gerade für die Schaustellerbranche
nicht unerwähnt lassen. Die Bundesregierung räumt offen
ein, dass sich hier durch besondere Belastungen für das
Gewerbe ergeben. In der Antwort auf die Große Anfrage
der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu den Auswirkungen
der Ökosteuer und der hohen Kraftstoffpreise auf den
Deutschlandtourismus heißt es dazu, dass im Schau-
stellergewerbe die Belastung durch die Mineralöl- und
Stromsteuererhöhung im Rahmen der ökologischen Steu-
erreform die Entlastung aus der mit dem Steuermehrauf-
kommen finanzierten Senkung und Stabilisierung der
Beitragssätze in der Rentenversicherung übersteigen
dürfte. Als Ursachen dafür werden der verhältnismäßig
hohe Strombedarf für die Beleuchtung und für den Betrieb
energieintensiver Fahrgeschäfte, die geringe Beschäfti-
gung rentenversicherungspflichtiger Arbeitnehmer und
die besondere Bedeutung der Kraftstoffkosten aufgrund
der betriebsnotwendigen Mobilität genannt. Diese Kosten
erhöhen sich, wie wir wissen, ab dem 1. Januar des kom-
menden Jahres nochmals und belasten somit die Schau-
steller und ihre Unternehmen. Wie wollen Sie dieser be-
sonders belasteten Branche erklären, dass in wenigen
Wochen eine weitere Stufe der Ökosteuer in Kraft tritt?
Schaffen Sie die Ökosteuer lieber endlich ab!
Setzen Sie damit ein positives Signal für den Start ins Jahr
des Tourismus in Deutschland 2001!
Abschließend möchte ich im Namen der CDU/CSU-
Bundestagsfraktion und meiner Kollegen, die heute
Abend anwesend sind, aber auch im Namen all derjeni-
gen, die heute Abend – man müsste besser sagen: heute
Vormittag –
– heute früh, entschuldigen Sie –, nicht hier sind, ganz
herzlich bei allen in der Tourismusbranche Tätigen in der
Bundesrepublik Deutschland für ihr unermüdliches Enga-
gement im Jahr 2000 Dank sagen. Meine sehr geehrten
Damen und Herren, für die kommenden Festtage und für
das neue Jahr 2001 wünschen wir Ihnen alles Gute, Schaf-
fenskraft und Gottes Segen.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die zwei-
fellos temperamentvolle Aussprache und bedanke mich
im Namen des Sitzungsvorstandes für die Teilhabe an den
kulinarischen Köstlichkeiten.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Tourismus auf Drucksache 14/4836. Der Aus-
schuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschluss-
empfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
CDU/CSU zur Sicherung der Volksfeste und des Schau-
stellergewerbes in der Bundesrepublik Deutschland,
Drucksache 14/1312. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist gegen die Stimmen der CDU/
CSU-Fraktion bei Enthaltung der F.D.P.-Fraktion ange-
nommen.
Weiter empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe a sei-
ner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der
Fraktionen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der
F.D.P. und der PDS, Drucksache 14/3786, zur Sicherung
der Volksfeste, des Markthandels und des Schaustellerge-
werbes in der Ausschussfassung. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung der CDU/
CSU-Fraktion angenommen worden.
Ich bedanke mich noch einmal für die Aufmerksamkeit
unserer späten Gäste. Ich denke, Sie haben alle Rekorde
gebrochen. So spät hatten wir hier noch keine offiziellen
Gäste im Parlament.
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Sozialord-
nung zu dem Antrag der Abgeord-
neten Dr. Klaus Grehn, Ursula Lötzer, Uwe
Hiksch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der PDS
Die Weichen für eine neue Vollbeschäftigung in
Europa stellen
– Drucksache 14/3030, 14/3789 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Brandner
– Es geht noch ein bisschen weiter; es wäre nett, wenn die
Kolleginnen und Kollegen noch auf ihren Sitzen bleiben
könnten und diejenigen, die gehen wollen, jetzt wirklich
schnell den Saal verlassen würden.
Die Kolleginnen und Kollegen Doris Barnett,
Dorothea Störr-Ritter, Dr. Thea Dückert, Dirk Niebel und
Dr. Klaus Grehn haben ihre Reden zu Protokoll gege-
ben1. – Ich sehe keinen Widerspruch im Haus. Deshalb
kommen wir sofort zur Abstimmung über die Beschlus-
semp-fehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialord-
nung zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem Titel
„Die Weichen für eine neue Vollbeschäftigung in Europa
stellen“, Drucksache 14/3789. Der Ausschuss empfiehlt,
den Antrag auf Drucksache 14/3030 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist gegen die
Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Klaus Brähmig
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1 Anlage 3
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Rah-
menbedingungen für elektronische Signaturen
und zur Änderung weiterer Vorschriften
– Drucksache 14/4662 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Die Kolleginnen und Kollegen Hubertus Heil,
Margareta Wolf, Rainer Funke, Ursula Lötzer sowie der
Parlamentarische Staatssekretär Siegmar Mosdorf haben
ihre Reden zu Protokoll gegeben.1 – Auch hiergegen sehe
ich keinen Widerspruch.
Das Wort gewünscht hat allerdings der Kollege
Dr. Martin Mayer von der CDU/CSU-Fraktion. Ihm er-
teile ich auch jetzt das Wort.
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, dies
ist ein wichtiges Thema für die Entwicklung der Informa-
tionsgesellschaft, und es lohnt sich, hier im Plenum – auch
wenn es schon spät ist – darüber zu reden.
Eine digitale Signatur – im Gesetzentwurf „elektroni-
sche Signatur“ genannt – ist ein elektronisches Verfahren,
das ein Siegel erzeugt, mit dem man sicherstellen kann,
dass Dokumente, die über das Netz versandt werden, un-
verfälscht sind und dass man den Empfänger eindeutig
identifizieren kann. Das nennt man zum einen die Authen-
tifizierung und zum anderen die Identifizierung. Einfache
Formen von digitalen Signaturen sind bereits üblich, und
zwar in Unternehmen und in geschlossenen Systemen wie
beim Homebanking.
Seit dem 1. August 1997 gibt es in Deutschland ein
Signaturgesetz. Nach diesem Signaturgesetz sind in der
Europäischen Union am 13. Dezember 1999 Richtlinien
erlassen worden. Diese Richtlinien erfordern nunmehr
eine Anpassung des deutschen Gesetzes, wobei in dem
neuen Signaturgesetz nicht nur eine Anpassung erfolgt,
sondern auch Folgerungen aus den Bewertungen in dem
Bericht der Bundesregierung zum Informations- und
Kommunikationsdienste-Gesetz gezogen werden.
Der Spielraum ist für die Bundesregierung wegen des
europäischen Rahmens verhältnismäßig gering. Das Si-
gnaturgesetz und der vorliegende Gesetzentwurf befassen
sich nicht mit den bereits erwähnten geschlossenen Sys-
temen, sondern mit offenen Systemen, in denen auch zwi-
schen einander unbekannten Teilnehmern die Unver-
fälschtheit der Nachricht und die Identifizierung des
Absenders sichergestellt werden können.
Die elektronische Signatur, auf die sich das Gesetz be-
zieht, beruht auf einem System zweier elektronischer
Schlüssel, eines privaten und eines öffentlichen Schlüs-
sels. Diese Schlüssel werden von einem so genannten
Zertifizierungsdienst – auch Trustcenter genannt – er-
zeugt; der private Schlüssel darf nur dem Inhaber be-
kannt sein, der öffentliche muss über das Netz abrufbar
sein.
– Und dabei mache ich es noch so einfach.
Der Gesetzentwurf regelt nicht die technischen Ver-
fahren wie Kryptographie und Datenträger. Er definiert
vielmehr die Anforderungen an die verschiedenen Zertifi-
zierungsdienste, die diese Signaturen ausgeben, ein-
schließlich der Haftungsfrage und der zuständigen Auf-
sichtsbehörde.
Die digitale Signatur ist Grundvoraussetzung dafür,
dass Dokumente, die im PC gespeichert und im Netz
verschickt werden, nicht verändert und – das wiederhole
ich – dem Autor eindeutig zugeordnet werden können.
Der Absender einer Nachricht ist damit im Streitfall
rechtskräftig feststellbar, und der Inhalt der Nachricht
kann bewiesen werden. Die digitale Signatur ist deshalb
von Bedeutung, wenn die Beweiskraft ein besonderes Ge-
wicht hat und im Privatrecht und im öffentlichen Recht
besondere Formvorschriften – wie insbesondere das Er-
fordernis der handschriftlichen Unterschrift – bestehen.
Die Entwicklung der digitalen Signatur hat deshalb ins-
gesamt eine Schlüsselstellung bei der Anwendung der
neuen Informations- und Kommunikationsdienste. Sie hat
enorme wirtschaftliche Bedeutung.
Das ganze System einer Zertifizierungsinfrastruk-
tur, englisch „public key infrastructure“, PKI, genannt, ist
für die Betreiber mit sehr hohen Investitionen verbunden.
Wer als Nutzer eine digitale Signatur verwenden will,
braucht zu den Schlüsseln auch die Hard- und Software zu
ihrer Anwendung. Das kostet Geld und Zeit für die In-
stallierung.
In Deutschland gibt es bisher zwei Einrichtungen,
die einen derartigen Schlüssel vergeben, nämlich Sign-
trust von der Deutschen Telekom AG und Telesec von
der Deutschen Post AG. Zudem steht eine Hand voll
Einrichtungen, die ebenfalls digitale Signaturen verge-
ben wollen, in den Startlöchern. Bisher gibt es aller-
dings kaum Anwendungen außerhalb geschlossener
Systeme.
Die Frage, ob sich Signaturen, die nach dem deutschen
Signaturgesetz anerkannt sind, oder andere, auch nicht
staatlich anerkannte, durchsetzen, ist noch offen. Das ist
aber die entscheidende Frage. Wer als Erster ein einfaches
und preiswertes Gesamtsystem anbietet, das den Sicher-
heitsvorstellungen der meisten Bürger entspricht, wird als
Sieger hervorgehen.
Gegenwärtig kämpft eine Fülle von Firmen international
um die Poleposition,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Vizepräsidentin Petra Bläss
13774
1 Anlage 4
um einen Vergleich mit der Formel 1 zu nehmen. Wie
viele durch das Ziel fahren werden und wer als Sieger her-
vorgeht, ist noch offen.
Fest stehen jedoch zwei Dinge: Erstens wird das Land
im weltweiten Wettbewerb einen beachtlichen Vor-
sprung haben, in dem sich als Erstes eine massenhafte An-
wendung der digitalen Signatur findet und durchsetzt.
Zweitens wird dasjenige Unternehmen, dessen System
der digitalen Signatur weltweit als Erstes eine massen-
hafte Anwendung findet, die besten Aussichten haben, am
Schluss als Sieger hervorzugehen. Der Zeitfaktor hat also
eine enorme Bedeutung.
– Warten Sie nur ab.
Deutschland war mit der Schaffung des Signaturge-
setzes 1997 sehr schnell im Vergleich zu anderen Län-
dern. Die zwei Jahre, die die EU benötigte, um eine
Richtlinie zu verabschieden, waren schon ein zu lan-
ger Zeitraum. Seit der Verabschiedung der EU-Richt-
linie ist mittlerweile mehr als ein Jahr vergangen.
Durch mangelnden Einsatz der Bundesregierung ist
wertvolle Zeit im internationalen Wettbewerb vertan
worden.
Dazu kommt ein Weiteres: Solange noch immer offen
ist, wann die digitale Signatur mit der handschriftlich
geleisteten Unterschrift gleichgesetzt wird, hilft das Si-
gnaturgesetz nur wenig. Ein Signaturgesetz ohne Gleich-
setzung der handschriftlichen Unterschrift mit der digi-
talen Signatur ist wie ein Trockenskikurs.
Es ist wie die Ausgabe von Telefonkarten in einem Land,
in dem es nur Münztelefone gibt. Deshalb müssen das öf-
fentliche und das private Recht rasch angepasst werden.
Die Bundesregierung hat zwar mittlerweile – –
– Das ist das Interesse der Bundesregierung an den mo-
dernen Informations- und Kommunikationsdiensten!
Die Bundesregierung hat zwar mittlerweile einen Ge-
setzentwurf zur Anpassung der Formvorschriften des Pri-
vatrechts an den modernen Rechtsgeschäftsverkehr vor-
gelegt. Dieser Gesetzentwurf wird aber erst im neuen Jahr
in erster Lesung behandelt. Er müsste gleichzeitig mit
dem Signaturgesetz verabschiedet werden.
Der Rückstand der Bundesregierung wird besonders
deutlich, wenn wir einen Blick auf die USAwerfen: Dort
trat bereits zum 1. Oktober 2000 ein Gesetz in Kraft, das
die digitale Signatur der Unterschrift in weiten Teilen des
Handelsrechts gleichstellt.
Noch schlimmer ist die Situation bei der Anwendung
der Elektronik im Hinblick auf das Verhältnis von Bür-
gern und Unternehmen zu staatlichen und kommunalen
Stellen. Für die Anpassung der Vorschriften des öffent-
lichen Rechts an die Erfordernisse der elektronischen
Kommunikation gibt es noch nicht einmal einen Refe-
rentenentwurf. Dem Vernehmen nach braucht die Bun-
desregierung noch bis zur Sommerpause, um einen Ge-
setzentwurf vorzulegen. Dabei könnte gerade vom
staatlichen Bereich ein wichtiger Impuls für die An-
wendung der digitalen Signatur in Deutschland ausge-
hen.
Wo bleibt denn eigentlich die Fantasie des Bundes-
innenministers
– keiner in der Bundesregierung kümmert sich um dieses
Thema –, wenn es darum geht, diejenigen öffentlich-
rechtlichen Anwendungen herauszufinden, bei denen die
Signatur sofort angewendet werden könnte?
– Auf Ihre klugen Bemerkungen habe ich gerade noch ge-
wartet. – Die Bundesregierung ist jedenfalls gefordert, die
Anpassung des Privatrechts und des öffentlichen Rechts
an die Erfordernisse der elektronischen Übertragung
künftig mit wesentlich mehr Nachdruck zu betreiben als
bisher. Nur dann kann das Signaturgesetz seine Wirkung
entfalten.
Über die einzelnen Bestimmungen des Entwurfes des
Gesetzes hinsichtlich der Rahmenbedingungen für elek-
tronische Signaturen gibt es im Übrigen verhältnismäßig
wenig Streit. Es geht zum einen um Fragen der Haftung.
Zum anderen wird zu prüfen sein, ob das Gesetz flexibel
genug ist, um auch der Abwicklung von Geschäften über
das Handy gerecht zu werden. Das Signaturgesetz muss
jedenfalls den schnellen Innovationszyklen der elektroni-
schen Märkte vom E-Commerce im Festnetz zum
M-Commerce über Mobilfunk folgen können. Es geht da-
rum – lassen Sie mich das abschließend sagen –, neue Ent-
wicklungen nicht zu behindern, sondern zu fördern, damit
Deutschland bei den Informationsdiensten Spitze ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfes auf Drucksache 14/4662 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es an-
derweitige Vorschläge? – Das ist offensichtlich nicht der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind jetzt, um
0.23 Uhr, am Ende unserer Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf heute, Freitag, den 8. Dezember 2000, 9 Uhr, ein.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Dezember 2000
Dr. Martin Mayer
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Ich bedanke mich bei den Kolleginnen und Kollegen,
die tatsächlich bis zur letzten Minute ausgeharrt haben,
und schließe die Sitzung.