Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Wahlvorschlag der Fraktion SPD und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Wahl eines Mitgliedes des Parlamentarischen
Kontrollgremiums gemäß §§ 4 und 5 Abs. 4 des
Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle
nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes
– Drucksache 14/3663 –
Die Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen
schlagen auf Drucksache 14/3663 den Abgeordneten
Hermann Bachmaier vor.
Bevor wir zur Wahl kommen, bitte ich um Ihre Auf-
merksamkeit für einige Hinweise zum Verfahren: Die er-
forderlichen blauen Stimmkarten wurden verteilt. Sollten
Sie noch keine erhalten haben, können Sie diese jetzt noch
von den Plenarsekretären bekommen. Sie benötigen also
eine blaue Stimmkarte. Für die Wahl benötigen Sie außer-
dem Ihren weißen Wahlausweis, den Sie – soweit noch
nicht geschehen – jetzt noch Ihrem Stimmkartenfach in
der Lobby entnehmen können.
Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mit-
glieder des Bundestages auf sich vereint, das heißt, min-
destens 335 Stimmen erhält. Stimmkarten, die mehr als
ein Kreuz, andere Namen oder Zusätze enthalten, sind
ungültig. Die Wahl ist nicht geheim. Sie können die
Stimmkarte deshalb an Ihren Plätzen ankreuzen. Bevor
Sie die Stimmkarte in eine der aufgestellten Wahlurnen
werfen, übergeben Sie bitte Ihren Wahlausweis einem der
Schriftführer an den Wahlurnen. Die Abgabe des Wahl-
ausweises gilt als Nachweis der Teilnahme an der Wahl.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen.
Ich eröffne die Wahl.
Haben alle Mitglieder des Hauses – auch die Schrift-
führer – ihre Stimmkarten abgegeben? – Das ist offen-
sichtlich noch nicht der Fall. – Ich frage noch einmal: Ha-
ben alle Mitglieder des Hauses – auch die Schriftführer –
ihre Stimmkarten abgegeben und gewählt? – Ich höre kei-
nen Widerspruch mehr. Das ist dann offensichtlich der
Fall.
Ich schließe die Wahl und bitte die Schriftführer, mit
der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Wahl gebe
ich später bekannt.
Wir setzen die Beratungen fort. Liebe Kolleginnen und
Kollegen, ich darf Sie bitten, wieder Platz zu nehmen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Vereinbarte Debatte
anlässlich des zehnten Jahrestages der Wirt-
schafts-, Währungs- und Sozialunion
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache zwei Zeitstunden vorgesehen, wobei die PDS
zehn Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und bitte Sie noch einmal
sehr herzlich, Platz zu nehmen, damit wir in die Beratun-
gen eintreten können. Das Wort hat Kollegin Sabine
Kaspereit, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag er-
innert heute an den 1. Juli 1990 – den Tag, an dem die
Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion in Kraft gesetzt
wurde. Es war der Beginn einer Entwicklung, von der zu
Recht gesagt wurde, dass danach nichts mehr so sein
würde, wie es vorher gewesen war. Dieser Tag war aber
auch der Schlusspunkt einer historischen Entwicklung,
deren Etappen wir heute in Erinnerung rufen müssen: den
17. Juni 1953 in der DDR, den Herbst 1956 in Ungarn,
den Frühling 1968 in Prag und den Winter 1980 in Polen
bis schließlich zum Mauerfall am 9. November 1989. Das
ist das Fundament, auf dem die Bürgerinnen und Bürger
der DDR in den Monaten vor dem 1. Juli 1990 in einer
friedlichen Revolution das kommunistische Regime der
SED beseitigen konnten.
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112. Sitzung
Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000
Beginn: 9.00 Uhr
Liebe Kollegin, einen
kleinen Moment! Liebe Kolleginnen und Kollegen dort
hinten, nehmen Sie doch Platz oder verlassen Sie den Ple-
narsaal!
Frau Kollegin Kaspereit hat eine sanfte Stimme und
würde sonst rhetorisch behindert werden. Herzlichen
Dank.
Vielen Dank, Herr Präsi-dent.Erst mit diesem Schritt wurde der Weg für die Vereini-gung Deutschlands in einem demokratischen und sozialenRechtsstaat frei gemacht. Es hatte sich gezeigt, dass dasBewusstsein und die Verantwortung für die gemeinsameGeschichte, persönliche und verwandtschaftliche Bezie-hungen und das Zusammengehörigkeitsgefühl derDeutschen stärker waren als eine kommunistische Ideo-logie und eine die Deutschen in Ost und West separie-rende Staatsräson.
Es war deshalb kein Zufall, dass die Deutschen bei derersten sich bietenden Gelegenheit die Chance zur Wie-dervereinigung nutzten. Das war unseren Nachbarn imWesten, aber auch im Osten immer selbstverständlich undimmer präsent. Nur dem einen oder anderen im eigenenLand schien das Gespür dafür abhanden gekommen zusein.
Dabei steht die historische Bedeutung des 1. Juli 1990außer Frage. Der Schritt zur Wirtschafts-, Währungs- undSozialunion war das zentrale Ereignis im Prozess derWiedervereinigung Deutschlands. Dieser Schritt war not-wendig und ohne Alternative. Heute – zehn Jahre nachden oft heftigen Debatten über ein Für und Wider – kanndas so bestimmt festgestellt werden.Doch die historische Bedeutung dieses Datums, dieGefühle der Betroffenen und ihre Erinnerungen an das Er-eignis fallen merkwürdig auseinander. Es scheint: Je wei-ter sich das Ereignis im zeitlichen Verlauf entfernt, destoschwerer fällt es, gemeinsame Bilder, Bewertungen undErinnerungen zu finden. Zu viele Hoffnungen wurdenseither enttäuscht, zu viele Wünsche blieben unerfüllt, zuviele Versprechen wurden gebrochen, zu viele Lebens-entwürfe über den Haufen geworfen und Biografien ent-wertet.Für nicht wenige in den neuen Ländern erscheint der1. Juli deshalb als der Sündenfall schlechthin. Das ist fürsie der Tag, an dem die Industrielandschaft der DDR plattgemacht wurde und von dem an Millionen ihren Arbeits-platz verloren. Das ist für sie der Tag, an dem das Volks-eigentum der DDR verschleudert wurde oder in west-deutsche Hände fiel. Das ist für sie der Tag, an dem dieSicherheit eines umfassenden, fürsorglichen Staates ver-schwand.All das ist grundfalsch. Die ehemals blühende ost-deutsche Industrielandschaft wurde während 40 JahrenSozialismus platt gemacht und nicht nach dem1. Juli 1990.
Millionenfache Arbeitslosigkeit war in den sozialisti-schen Betrieben und Verwaltungen versteckt worden. DasVolkseigentum stand zur Disposition einer winzigen Min-derheit von Funktionären, die es verkommen ließen. Derfür alles zuständige fürsorgliche Staat hatte die Leis-tungsbereitschaft der Menschen gelähmt. Die Region, dievor dem Zweiten Weltkrieg an der vordersten Front desindustriellen Fortschritts stand, wurde an die Peripherieder wirtschaftlichen Entwicklung gedrängt und fiel im-mer mehr zurück. Das ist die Wahrheit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die überwiegendeMehrheit der Ostdeutschen war und bleibt der 1. Juli 1990ein Tag der Freude und Erleichterung. Jetzt war klar, dassdie friedliche Revolution endgültig gesiegt hatte. Jetztwar klar, dass die Wiedervereinigung kommen würde,schnell kommen würde, und das entsprach den Wünschender überwältigenden Mehrheit der Menschen in Ost undWest.
Sosehr sich Freude und Erleichterung mit dem 1. Juli1990 verbinden – es gab auch Besorgnis vor dem, waskommen würde. Wir fühlten, dass sich unser Lebengrundlegend ändern muss.Seit dem Mauerfall setzte eine Umwertung aller bishergeltenden Normen und Werte ein, eine Kulturrevolutionim wahrsten Sinne des Wortes. Das, was zuvor des Teu-fels war, wurde nun hoch gelobt. Individualismus stattKollektivismus, Verfolgen eigener Interessen statt Solida-rität, Wettbewerb statt Planung, Konkurrenzverhalten,Selbstverwirklichung, Prestigedenken, ungenierter Ge-brauch der Ellenbogen, Egozentrismus – so wurden dieneuen Herausforderungen umschrieben, denen wir unsstellen mussten und doch nur schlecht stellen konnten.Ich kann mich noch erinnern: Als Kinderzahnärztinhatte ich größte Schwierigkeiten, mit den neuen Gege-benheiten im Gesundheitswesen zurechtzukommen. Nunhieß es nicht mehr allein, den Patienten in den Mund zuschauen, um zu sehen, ob sie gesunde Zähne hatten undwas zu tun wäre, wenn dies nicht der Fall war. Ich hatteaber nie gelernt, den Patienten zuerst ins Portemonnaieund dann in den Mund zu schauen.Mein Freundeskreis in der DDR, mit relativ homoge-nen Interessen verbunden, überlebte die Wende nicht undzerfiel. Wir sprachen nicht mehr dieselbe Sprache undhatten sehr unterschiedliche Probleme zu lösen. Der einegründete eine Firma, der Zweite brauchte eine halbe Mil-lion für eine Praxisgründung, der Dritte kam mit den Ver-änderungen im Schulsystem nicht zurecht. Urlaubsfotos
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aus der Karibik verletzten den Stolz meiner arbeitslosenNachbarin. Die Entscheidung für eine bestimmte Auto-marke rief Schulterzucken hervor, früher eher Freude da-rüber, dass das Auto endlich da war. Schließlich fehltendie gemeinsamen Gesprächsthemen, über die man pre-stige- und vorurteilsfrei hätte sprechen können.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bilder vom1. Juli 1990 sind haften geblieben und waren geprägt vonMenschenschlangen vor Sparkassen und Banken.Am2. Juli standen in den Regalen der Konsum-Verkaufsstel-len Waren, die wir nur aus der Werbung im Fernsehenkannten. Doch ebenso wie im Intershop waren diese Wa-ren nur gegen Westgeld zu erhalten. Aber – großes Stau-nen – wir hatten ja plötzlich die D-Mark. Und wir drehtenjede Mark zweimal um, bevor wir sie ausgaben.Das war der Schritt zur Wirtschafts-, Währungs- undSozialunion; aber es war weit mehr als nur der Tag, andem die Mark der DDR in D-Mark eingetauscht wurde.Entscheidend war: Die Wirtschafts-, Währungs- und So-zialunion hat die Grundlagen für den Weg zur sozialenMarktwirtschaft geschaffen und dieser Weg war bitternötig, auch wenn das damals noch nicht von allen so ge-sehen wurde.
Über das Ob, das Wie, das Wann einer Währungsunionwurde 1990 heftig gestritten, nicht nur in beiden Parla-menten, der Volkskammer und dem Bundestag, sondernauch innerhalb der Parteien, auch und gerade in meinerPartei. Angesichts der außerordentlichen Bedeutung die-ser Entscheidung war das nur allzu verständlich.Ein bunter Strauß von Meinungen, Ansichten, Thesenund Antithesen und Analysen wurde täglich feilgeboten.Gewissheiten von heute waren morgen schon widerlegt,Unsicherheiten und Befürchtungen wurden bald zu Tatsa-chen.Aber es hat doch keinen Sinn, heute den Neunmalklu-gen zu spielen. Deshalb halte ich die häufig geführte Was-wäre-wenn-Diskussion für so unnötig wie einen Kropf.Das Gesetz des Handelns lag jedoch nicht in den Par-lamenten, weder in Berlin noch in Bonn, sondern es lagbei den Regierungen. Und die brauchten häufig länger alsnotwenig, um Entwicklungen angemessen zu beurteilenund dementsprechend zu handeln.Es waren Sozialdemokraten, die bereits früh die Not-wendigkeit des Schrittes hin zur Währungsunion gefor-dert und in die politische Debatte eingeführt hatten.
Ich schaue mit Vergnügen auf die Tribüne dieses Hausesund begrüße unsere ehemalige Kollegin, das heutige Vor-standsmitglied der Kreditanstalt für Wiederaufbau, FrauIngrid Matthäus-Maier.
Zusammen mit ihrem Kollegen Wolfgang Roth hatteIngrid Matthäus-Maier in einer Pressemitteilung – bittehören Sie zu – vom 2. Februar 1990 die Bundesregierungaufgefordert – ich zitiere mit Genehmigung des Präsiden-ten –:Die Bundesregierung, insbesondere FinanzministerWaigel, muss endlich ihren Widerstand gegen einedeutsch-deutsche Währungsunion aufgeben.
Wer die Währungsunion auf den Sankt-Nimmer-leins-Tag verschiebt und sich, wie Herr Waigel, nurals Oberbedenkenträger betätigt, der schadet denDeutschen in Ost und West und behindert den orga-nischen Prozess der deutschen Einigung.
So weit Wolfgang Roth, damals wirtschaftspolitischerSprecher der SPD-Bundestagsfraktion, und IngridMatthäus-Maier, finanzpolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, am 2. Februar 1990.
Es waren im Übrigen auch Sozialdemokraten, die da-rauf gedrängt hatten, dass die mit der Währungsumstel-lung verbundenen schmerzlichen Anpassungsschritte so-zial und ökologisch begleitet werden müssten. Es ist nichtzuletzt das Verdienst der SPD gewesen, Währungs-, Wirt-schafts- und Sozialunion als gemeinsames Projekt desÜbergangs zur sozialen Marktwirtschaft zu definierenund in die politische Debatte einzuführen.
Es ist damals im Vorfeld der Entscheidungen häufigdas Bild eines millionenfachen Exodus von DDR-Bür-gern in die Bundesrepublik bemüht worden, um dasschnelle In-Kraft-Setzen der Wirtschafts-, Währungs- undSozialunion zu begründen. Ich halte dieses Bild für zu ein-seitig und für zu eng. Mit ihm werden falsche Akzente ge-setzt; denn es hat auch eine gewisse Suggestionskraft. DerSlogan „Kommt die D-Mark nicht zu uns, gehen wir zuihr“ hat zudem etwas Drohendes und wohl auch etwas Be-drohliches.Die Notwendigkeit einer schnellen Vereinigung warganz offensichtlich: Der Sozialismus in der DDR hatte –wie auch anderswo – buchstäblich abgewirtschaftet. ImÜbrigen wusste das keiner besser als die SED-Führungselbst. Ich erinnere an Ehrensperger und Schürer.Nein, meine Damen und Herren von der PDS, es gabzur schnellen Vereinigung keine Alternative. Es gab auchkeine Alternative zu einem radikalen Neuanfang in Wirt-schaft und Gesellschaft. Die Wahrheit ist, dass die Wie-dervereinigung die ostdeutsche Bevölkerung vor einemwirtschaftlichen und sozialen Absturz bewahrt hat.Vielen von uns war damals allerdings nicht klar, dassdie Wiedervereinigung nicht ein einmaliges Ereignis ist,sondern ein lang anhaltender, schwieriger Prozess seinwürde, den ich heute als eine einzigartige nationale Auf-gabe definieren möchte.
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Ich werde nie die Bemerkung meines Mannes vergessen,als er mich – noch immer berauscht von der Aussicht aufein ostdeutsches Wirtschaftswunder, das die damaligeKohl-Regierung uns täglich suggerierte – auf die Erdezurückholte mit der Frage: Und was ist, wenn das Geldausgegeben ist?Ja, was ist eigentlich, wenn den Menschen das Geldausgeht, wenn die Farbfernseher, die Videorekorder, dieKameras gekauft, die Autos angeschafft sind und der Ur-laub auf den Balearen vorbei ist? Die Wohnungen warennoch immer eng. Die sanitären Verhältnisse waren er-bärmlich. Die Braunkohleöfen und Fernheizungen stan-ken wie eh und je. Wenn man sich dann auch noch den Zu-stand der Fabriken und der Verwaltungen anschaute, dannwar klar: Uns trennen nicht Jahre, uns trennen Jahrzehntevon den Verhältnissen in den Betrieben und Verwaltungenin der alten Bundesrepublik. Die Verkehrswege, das Tele-fonnetz, die Wasserversorgung und die Abwasserentsor-gung waren nahezu unverändert auf dem Stand von vordem Zweiten, zum Teil sogar noch auf dem vor dem Ers-ten Weltkrieg.In den vergangenen zehn Jahren ist in Ostdeutschlandunendlich viel geschehen. Wer heute selbst durch abgele-gene Regionen reist, kommt häufig aus dem Staunen nichtmehr heraus. Ich lade gerade unsere westdeutschen Mit-bürgerinnen und Mitbürger ein, sich in den neuen Ländernumzusehen. Wer die Landschaften noch von Verwandten-besuchen zu DDR-Zeiten kennt, wird sehen, welche enor-men Fortschritte im vergangenen Jahrzehnt gemacht wor-den sind. Ich möchte das jetzt gar nicht alles aufzählen.Aber Sie werden dann auch sehen, was noch zu tun übriggeblieben ist. Sie werden besser verstehen, dass wir nochimmer auf die Solidarität aus dem Westen angewiesensind.
Mit der Entscheidung für einen schnellen Übergangzur Marktwirtschaft und zur Einheit und damit zur vollenIntegration in die Weltwirtschaft war das Todesurteil überden ostdeutschen Kapitalstock gesprochen, mit all denFolgen für Wachstum und Beschäftigung in den neuenLändern. Das war übrigens den Experten klar. Sie habensich ebenso klar dazu geäußert.Wenn heute das DIW beklagt, dass das Primat derPolitik über die Ökonomie einen hohen Preis geforderthat, so möchte ich dem nicht widersprechen; aber es wareine richtige und politisch mutige Entscheidung, die derAusnahmesituation angemessen war.
Es gehört allerdings zu den entscheidenden politischenFehlern der Kohl-Regierung, die Menschen in Ost undWest auf die Konsequenzen eines schnellen Übergangsnicht vorbereitet zu haben. Im Gegenteil, mit dem Geredeüber blühende Landschaften und über die Angleichungder Lebensverhältnisse in wenigen Jahren sind vor allenDingen Ostdeutsche fehlorientiert worden – mit fatalenFolgen für die weitere Entwicklung.
Die Zeitspanne vom 9. November 1989, dem Zeitpunktder Öffnung der Mauer, bis zum 3. Oktober 1990 war füruns eine Zeit der emotionalen Hochspannung und derüberschwänglichen Hoffnung, ja der illusionären Erwar-tungen. Es war eine Zeit der Erleichterung, der Erweite-rung unseres Horizonts und vor allem des besonderen Ge-schmacks der Freiheit, wie man ihn nur zu Zeiten von Re-volutionen schmeckt. Dies ist eine Erfahrung, die wirOstdeutschen unseren Mitbürgern in den alten Ländernvoraushaben und immer voraushaben werden.Wir wurden wieder Subjekt unserer Geschichte, Han-delnde, die ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmenkonnten. Dies ist nichts Abstraktes, sondern eine hautnaheErfahrung, die ich als Bürgermeisterin einer Gemeindevon nur wenigen hundert Einwohnern machen konnte.Die Gemeinde hatte plötzlich ihre kommunale Selbst-verwaltung entdeckt. Dies ist eine Erfahrung, die im Be-wusstsein hängen bleibt und die das Leben der überwälti-genden Mehrheit der Menschen in den neuen Ländernverändert hat.Letztendlich sind es diese alltäglichen Erfahrungen derSelbstbestimmung und der Verantwortung, die zählen. Siesind ein wesentlicher Teil des Fundamentes, auf dem wiruns seither bewegen und das uns in den kommenden Jah-ren trotz aller Probleme und Frustrationen immer wiedertragen wird.Danke schön.
Liebe Kolleginnenund Kollegen, ich darf Ihnen zwischendurch das Ergebnisder Wahl eines Mitglieds des Parlamentarischen Kon-trollgremiums bekannt geben. Abgegebene Stimmen 573.Ungültige Stimmen 1. Mit Ja haben gestimmt 390, mitNein haben gestimmt 167, Enthaltungen 15. 1)
Der Abgeordnete Hermann Bachmaier hat die nach § 4Abs. 4 des Gesetzes über die parlamentarische Kontrollenachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes erforderli-che Mehrheit von 335 Stimmen erreicht. Er ist damit alsMitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums ge-wählt.
Wir fahren in der Debatte fort. Ich gebe dem KollegenTheodor – – Theo Waigel, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.Dr. Theodor Waigel (von der CDU/CSUmit Beifall begrüßt): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine
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1) Anlage 2Damen und Herren! Herr Präsident, Sie dürfen ruhigTheodor zu mir sagen. Auch Franz Josef Strauß hat dasgesagt. Theodor heißt „Geschenk Gottes“. Nicht alle wis-sen das.
Ich bin also durchaus auf den ganzen Vornamen stolz.Der Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts-und Sozialunion war ein entscheidender Meilenstein imProzess der Wiedervereinigung zwischen dem 9. Novem-ber 1989 und dem 3. Oktober 1990. Die politische Be-deutung des Vertrages liegt auf der Hand: Er war der un-umkehrbare Schritt zur staatlichen Einheit Deutschlands.Das wussten wir und das wollten wir.
Mit der Übertragung der währungspolitischen Souve-ränität auf die Bundesbank war ein eigenständiger ost-deutscher Staat nicht zu vereinbaren. Es dauerte mehrals 40 Jahre von der letzten gesamtdeutschen Konferenzder Ministerpräsidenten in München bis zur erstenSitzung des gesamtdeutschen Bundestages. Viele hattendas Ziel der Wiedervereinigung schon aufgegeben. FrauKaspereit, manches von dem, was Sie gesagt haben, warrichtig; nicht alles war ganz richtig. Manchmal waren esganze Fraktionen, die den Gedanken an die Wiederverei-nigung schon aufgegeben hatten.
Aber ich will in die heutige Debatte keine zusätzlicheSchärfe hineinbringen.Die Teilung des deutschen Vaterlandes konnte nichtdas letzte Wort der Geschichte sein.Jedes Volk hat das Recht auf Selbstbestimmung.Auch namhafte Persönlichkeiten aus dem Bereich vonKunst und Kultur erhielten den Willen nach Gemeinsam-keiten aufrecht. Ich erinnere stellvertretend für viele anMartin Walser, der in den Münchner Kammerspielen einJahr vor der Wiedervereinigung ausführte:Aus meinem historischen Bewusstsein ist Deutsch-land nicht zu tilgen. Sie können neue Landkartendrucken, aber sie können mein Bewusstsein nicht neuherstellen. Ich weigere mich, an der Liquidierungvon Geschichte teilzunehmen.... Wir müssen dieWunde namens Deutschland offenhalten.Respekt, Martin Walser!
Heute wissen wir: Es war richtig, am Ziel der Einheitin Freiheit festzuhalten, auch wenn der Zeitpunkt derVereinigung nicht voraussehbar war. Es war die große his-torische Leistung von Helmut Kohl, die damalige Chancezur Wiedervereinigung mit Mut und mit Augenmaß er-griffen zu haben.
Otto von Bismarck lag sicherlich richtig mit seinem Hin-weis, die Geschichte habe nicht immer das große Los imTopf. Ob die staatliche Wiedervereinigung Jahre späternoch möglich gewesen wäre, ist mehr als fraglich. Ich binüberzeugt: Der Preis für die Zustimmung der Nachfolge-staaten der Sowjetunion zur Wiedervereinigung wäre mitSicherheit um ein Vielfaches höher gewesen als die18 Milliarden DM, die wir für den Abzug der letzten Rot-armisten von deutschem Boden bezahlt haben.Auch die ökonomische Bedeutung des Angebots derWährungsunion dürfte heute nicht mehr umstritten sein.Es war für die Ausreisewilligen ein Signal zum Bleiben,gleichsam der Startschuss für einen ökonomischenNeuanfang durch endgültige Absage an die sozialistischePlanwirtschaft und Übergang zum Modell der sozialenMarktwirtschaft.Das Konzept der Währungsunion steht historischohne Vorbild da. Die handelnden Politiker diesseits wiejenseits der Elbe konnten weder auf wissenschaftlichenoch auf empirische Untersuchungen zurückgreifen.Beiträge zur so genannten Transformationstheorie habenerst in späteren Jahren das Licht der Welt erblickt. Ichsage das vor allem an die Adresse der Ex-post-Besserwis-ser, die Jahre später lautstarke Kritik erhoben, von denenaber in den entscheidenden Wochen und Monaten nichtszu hören war.
Außer bedenkens- und dankenswerten Beiträgen vonKurt Biedenkopf und Karl Schiller sowie des Wissen-schaftlichen Beirats beim Wirtschaftsministerium galt da-mals unbestritten das Primat der Politik.Wer das Konzept der Währungsunion würdigen will,der muss sich der politischen Großwetterlage Ende der80er-Jahre erinnern. Der NATO-Doppelbeschluss hattedie sicherheitspolitische Entschlossenheit des Westensunterstrichen. Die Ergebnisse der Helsinki-Konferenzblieben auch den Menschen in Osteuropa nicht unbe-kannt. Michail Gorbatschow bemühte sich, mit systemim-manenten Reformen das sozialistische Wirtschafts- undGesellschaftsmodell im Osten zu reformieren. Die gra-vierenden Wirtschaftsprobleme des Ostblocks allerdingsberuhten auf einem Versagen des Systems. Was folgte,war eine politische Eigendynamik sondergleichen, an de-ren Ende die friedlichen Revolutionen in Warschau, Pragund Budapest standen.Dieser Entwicklung konnte sich der SED-Staat nichtentziehen. In 40 Jahren war es in Ostdeutschland nicht ge-lungen, eine eigene nationale Identität zu entwickeln.Trotz schön gefärbter Bilanzen nahmen die Wirt-schaftsprobleme zu. Die Transferleistungen der Bundes-republik und die Kredite des Westens trugen trotz gegen-teiliger Äußerungen keineswegs zur Verlängerung der Le-benszeit der DDR bei. Sie waren schon von ihremVolumen her nicht mehr als ein Tropfen auf den heißenStein.Die Demonstrationen von Ostberlin bis Leipzig ver-deutlichten ohne Wenn und Aber den Willen der Ostdeut-schen nach Veränderung. Das Streben nach Freiheit,
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Selbstbestimmung und Demokratie lässt sich auf Dauernicht unterdrücken.Die Öffnung der Mauer war die Folge. Die Bundes-regierung antwortete darauf mit dem Angebot zur poli-tischen und ökonomischen Zusammenarbeit. Die Zeitdrängte. Spielraum für Zwischen- oder Übergangslösun-gen bestand faktisch nicht. Die politische und ökonomi-sche Entwicklung hatte eine unaufhaltsame Eigendyna-mik gewonnen.Beim Angebot der Währungsunion spielten ökonomi-sche Notwendigkeiten eine wichtige Rolle. Es zeigte sichschnell: Eine eigenständige DDR würde aus eigener Kraftdie Defizite bei der Infrastruktur, im Umweltbereich, beider Arbeitsproduktivität, bei der Wettbewerbsfähigkeitund beim Konsumniveau nicht beseitigen können. Dieswar nur durch Mobilisierung westlichen Kapitals mög-lich. Entscheidend waren jedoch politische Gesichts-punkte. Bis Ende Dezember 1989 belief sich die Zahlder Übersiedler auf über 120 000. Nur dadurch, dass ih-nen ökonomische Zukunftsperspektiven eröffnet wurden,konnte eine weitere Abstimmung mit den Füßen verhin-dert werden. Dies war der politische Aspekt.
Bereits im Dezember, Frau Kaspereit, wurde im BMFeine Arbeitsgruppe eingerichtet. Ich erinnere mich nochgut an die Diskussionen, die wir damals im Rahmen einerKlausurtagung des Bundesministeriums der Finanzen zurKonkretisierung des Währungsprojekts führten. Zur glei-chen Zeit, am 19. Januar 1990, wies Kurt Biedenkopf aufdie Unmöglichkeit hin, die Währungsfrage behutsam zulösen, und die frühere Kollegin Ingrid Matthäus-Maierforderte in der „Zeit“ einen Währungsverbund mit einereinheitlichen Währung, also eine Währungsunion. DerSprung ins Wasser war unvermeidlich; mit den Wortenvon Vaclav Havel ausgedrückt: Man kann einen Abgrundnicht mit zwei Sprüngen überqueren. Man muss den mu-tigen Schritt auf einmal tun.
In der Tat war dies ein revolutionärer Schritt mit weit-reichenden, teilweise ungewissen Folgen. Aber gab es da-mals wirklich Erfolg versprechende Optionen für andereLösungen? Entscheidend war für mich die politische Dy-namik. Die Menschen im Osten verlangten überzeugendeSignale. Die Stimmen wurden lauter: Kommt die D-Mark,bleiben wir; kommt sie nicht, gehen wir zu ihr.Eine Alternative bestand sicherlich in der „Österreich-Lösung“, das heißt der Aufrechterhaltung einer politischund ökonomisch selbstständigen DDR. Ich will heutenicht die Schlachten von gestern wiederholen. Nur, eineneue Paragraphenmauer zum Stopp der Zuwanderung warmoralisch nicht mehr vertretbar. Wer heute glaubt, wirhätten damals noch die Zeit für Stufenlösungen gehabt,der muss den Menschen gleichzeitig sagen, dass wir eineneue Mauer aus Paragraphen, eine neue Mauer für denHandel, eine neue Mauer in Form von Ausreisebeschrän-kungen aufgerichtet hätten. Das wäre mit unserem Selbst-verständnis und mit der Verfassung Deutschlands nichtvereinbar gewesen.
Übrigens hätte auch der Verzicht auf die Einheit denOstdeutschen einen tief gehenden Strukturwandel mit Re-zession und Arbeitslosigkeit nicht erspart.Es gab damals Stimmen, die sich für einen Wirt-schafts- und Währungsverbund aussprachen. Nur wäreein Festkurs zwischen Ost-Mark und D-Mark mit ent-sprechender Interventionsverpflichtung der Bundesbankganz sicher politisch nicht durchsetzbar gewesen und aufden geschlossenen Widerstand aller deutschen Wirt-schaftsexperten gestoßen. Auch Kapitaltransfers, die derwestdeutsche Steuerzahler hätte aufbringen müssen, umein neues Wirtschaftsexperiment auf deutschem Bodenmit plan- und marktwirtschaftlichen Elementen zu finan-zieren, wären im Westen auf wenig Gegenliebe gestoßen.Es bleibt der wiederholte Hinweis auf Stufenlösun-gen. Doch auch diese Option hält im Rückblick nichtstand. Hätten wir gewartet, bis die ostdeutsche Wirtschaftdas westdeutsche Leistungs- und Produktionsniveauannähernd erreicht hätte, gäbe es noch heute keineWährungsunion, geschweige denn die Wiedervereini-gung.Meine Damen und Herren, als das Statistische Bundes-amt uns bei der Umsetzung der Europäischen Währungs-union mitteilte, dass unser Defizit 2,7 Prozent beträgt,wollte uns ein bestimmtes Wirtschaftsforschungsinstitutaufgrund seiner Berechnungen glauben machen – das hatviel Verwirrung geschaffen –, dass es bei 3,4 Prozentliege. Später hat sich herausgestellt, dass es bei 2,6 Pro-zent lag. Ausgerechnet dieses Institut kommt jetzt, nachzehn Jahren, im Rückblick zu dem Ergebnis, man hätteden Kurs auf 1:4 oder 1:5 festsetzen sollen. Ich frage Sie:Was hätten wohl die Menschen in Ostdeutschland gesagt,wenn wir die Rentner mit 150 bis 200 DM und die Ar-beitnehmer mit 350 bis 400 DM zurückgelassen hätten?Es ist doch geradezu abstrus, welche Vorstellungen zehnJahre später entwickelt werden!
Kollege Waigel, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckel?
Herr KollegeMeckel, ich schätze Sie sehr, aber ich bitte um Verständ-nis, dass ich hier im Zusammenhang vortragen möchte.Ich sehe bis heute kein besseres Konzept als die vonuns gewählte Währungsunion. Die DDR-Planwirtschaftwar am Ende. Ohne Marktwirtschaft und Gemeinschafts-währung wäre der dringend erforderliche Zufluss von öf-fentlichem und privatem Kapital aus Westdeutschland Il-lusion geblieben.
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Sicherlich: Der ökonomische Wiederaufbau dauertelänger und erfordert mehr Finanzmittel als ursprünglichgeplant. Exakte Daten über das tatsächliche Produkti-vitätsniveau und den Kapitalstock lagen nicht vor. Wasden erforderlichen Finanzaufwand betraf, gab es eben-falls nichts als vage Schätzungen. Selbst die Wirtschafts-forschungsinstitute standen weitgehend mit leeren Hän-den da. So bezifferte das von mir bereits apostrophierteDeutsche Institut für Wirtschaftsforschung den jährlichenSanierungsbedarf auf 50 Milliarden DM, während nachAuffassung der Berliner Experten die Sanierung der Be-triebe ausschließlich durch privates Kapital erfolgensollte.Noch bei den Verhandlungen über den Staatsvertragwurde von einem dreistelligen Milliardengewinn in derPrivatisierungsbilanz ausgegangen, der dann für die Be-teiligung der Mitarbeiter zur Verfügung gestellt werdensollte. Hans Modrow ging von 1 000 Milliarden Ostmarkbzw. 500 Milliarden DM aus. Detlef Rohwedder, der seinLeben auf tragische Weise verlor und dessen zu gedenkengerade heute Anlass ist,
ging von 600 Milliarden DM aus. Es gehört zu der Tragikin jenen Zeiten, dass Detlef Rohwedder damals um dieJahreswende seinen Posten verlassen wollte. Wir habenihn aber eindringlich gebeten, seine verdienstvolle Arbeitfortzuführen. Seiner und seiner Familie zu gedenken stehtuns in dieser Stunde gut an.Sicherlich mussten damals Kompromisse geschlossenwerden. Das gilt vor allem für die Regelung der Vermö-gensfragen. Ungeachtet unterschiedlicher Rechtsauffas-sungen über die Enteignungen in der Zeit von 1945 bis1949 bleibt daran zu erinnern, dass es ohne die damals ge-fundene Lösung nicht zur Zweidrittelmehrheit der DDR-Volkskammer zum Einigungsvertrag gekommen wäre.
Richard Schröder hat dies hier vor wenigen Wochen, wieich meine, eindrucksvoll und sehr ehrlich dargestellt.
Die Treuhand wurde später zu Unrecht zum Sünden-bock gestempelt. Auch wenn es in Einzelfällen zu Fehlerngekommen sein mag, so hat doch die Treuhand mit über40 000 Privatisierungen hervorragende Arbeit geleistet.Es war damals richtig, auf Experimente eines drittenWeges, auf staatliche und genossenschaftliche Eigen-tumskonstruktionen sowie auf dirigistische Strukturpoli-tik und Ähnliches zu verzichten. Unsere Leitlinie, vonRohwedder geprägt, war: schnelle Privatisierung, ent-schlossene Sanierung und behutsame Stilllegung.Die Währungsunion brachte für die ostdeutsche Wirt-schaft gewaltige Anpassungslasten mit sich. Der Über-gang zur Marktwirtschaft legte die Wettbewerbs-schwächen der Ostbetriebe offen. Aber die entscheiden-den Probleme resultieren nicht aus dem gewähltenWechselkurs, der ziemlich genau den Vorstellungen derBundesbank entsprach, sondern vor allem aus dem nichtvoraussehbaren Wegbrechen der Ostmärkte und der –darin sind sich nahezu alle deutschen Wirtschaftsforschereinig – zu schnellen Angleichung des Lohnniveaus.Wer den Erfolg der Währungsunion infrage zu stellenversucht, der hat den Kontakt mit den Realitäten verloren.Die Angleichung der Einkommens- und Lebensver-hältnisse in Deutschland ist in nur zehn Jahren spürbarvorankommen. Wer heute den Mangel an blühendenLandschaften beklagt, der verschweigt bewusst, wie dieSituation vor fünf oder vor zehn Jahren ausgesehen hat.
Die Umweltverschmutzung hat drastisch ab- und die Pro-duktivität kräftig zugenommen. Die Modernisierung derInfrastruktur ist für jeden sichtbar. Ein breiter Mittelstandhat sich etabliert. Viele Betriebe haben Anschluss an dasWeltmarktniveau gefunden.Wer heute Kosten und vermeintliche Erblasten beklagt,der hätte vor zehn Jahren, gerade aus dem Bereich derBundesländer, durchaus mehr Solidarität unter Beweisstellen können.
Innerhalb von zehn Jahren lässt sich jedoch das De-saster einer 40-jährigen Misswirtschaft nicht beseitigen.Die noch bestehenden Herausforderungen bezüglich desKapitalstocks, der Pro-Kopf-Produktion, der Export-schwäche und vor allem der Arbeitslosigkeit und desnachlassenden Wachstums können nur durch die Fortset-zung des Solidarpaktes bewältigt werden. Es wäre je-doch falsch, einer dauerhaften SubventionsmentalitätVorschub zu leisten. Deshalb müssen die Hilfen schritt-weise zurückgeführt werden.Die von vielen befürchteten gesamtwirtschaftlichenVerwerfungen blieben aus. Eine Überforderung der deut-schen Volkswirtschaft konnte verhindert werden. DieDämme haben gehalten! Sowohl bei der Wachstums- undBeschäftigungs- als auch bei der Preisentwicklung schnit-ten wir im Zeitraum 1990 bis 1998 besser ab als unsereEU-Partner. Der Vorsitzende des Währungsausschusses,der Brite Sir Nigel Wicks, hat vor ein paar Jahren im Eco-fin gesagt: Die deutsche Volkswirtschaft hat im letztenJahrzehnt Herausforderungen bewältigt wie keine andereVolkswirtschaft der Welt und wie sie vielleicht auch keineandere bewältigt hätte. Vier bis fünf Prozent des Brut-toinlandsproduktes für eine große nationale Herausforde-rung zur Verfügung zu stellen ist eine große nationaleLeistung.
Auch bei der Finanzierung der Wiedervereinigungwurden weitgehend die richtigen Schritte gewählt. Trotzder einigungsbedingten Sonderlasten haben wir das Defi-zitkriterium von Maastricht erreicht. Wie das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung in einer Si-mulationsrechnung ermittelt hat, war der von uns ge-wählte Mix von Ausgabenkürzungen, Steuererhöhungenund Ausweitung der Neuverschuldung unter den gegebe-nen Umständen und Rahmenbedingungen richtig. Aller-dings war die einseitige Lastenverschiebung auf den Bun-deshaushalt kein Ruhmesblatt für den deutschen Födera-lismus.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000
Dr. TheodorWaigel10599
Wie haltlos das Gerede von der Erblast ist, hat die Bun-desbank in ihrem Monatsbericht April dargelegt. Dortheißt es,dass die Finanzpolitik im letzten Jahrzehnt trotz derüberwiegend schwachen Wirtschaftsentwicklung aufKonsolidierungskurs war. Über den gesamten Zeit-raum hinweg wurde das konjunkturbereinigte Defizitstark reduziert, und zwar von 4 Prozent des BIP imJahr 1991 auf ½ Prozent im Jahr 1999.Verehrter Herr Staatssekretär, veranlassen Sie einmal,dass sich Ihr Minister das von seinem Freund Welteke zu-faxen lässt, damit er das nachlesen kann.
Zehn Jahre nach dem In-Kraft-Treten der Währungs-union besteht wahrlich kein Anlass zum Lamentieren. Diegrößte Solidaraktion in der deutschen Geschichte greift.Wer sich schon 1990 eine Schweiß-und-Tränen-Rede desBundeskanzlers gewünscht hätte, sei daran erinnert, dasssich in einer konsumorientierten Gesellschaft die Solida-ritätsbereitschaft, ausgedrückt als nationale Begeisterungfür Steuererhöhungen, in recht engen Grenzen hält.
Wer immer noch über die hohen Kosten der Einheitklagt, der sei an Ernst Jünger erinnert, der in diesem Zu-sammenhang auf die Frage „Was kostet die deutsche Ein-heit?“ geantwortet hat: „Wenn dein Bruder vor der Türsteht, lässt du ihn rein und fragst nicht, was es dich kostenwird.“
Ich füge hinzu: Was hätten nicht Adenauer, Schumacher,Heuss und Strauß gegeben, wenn sich ihnen die Chancezur Wiedervereinigung eröffnet hätte!
Meine Damen und Herren, ich darf mit einigen per-sönlichen Worten schließen. Das waren für mich damalsspannende und aufregende Tage: die Diskussionen in derFraktion, im Kabinett, im Bundestag, im Bundesrat,ebenso die Verhandlungen mit Walter Romberg, WalterSiegert, Lothar de Maizière und die Pressekonferenz da-mals am 1. Juli, die Angela Merkel in Ostberlin geleitethat. Wir hatten es nicht immer leicht miteinander.Man kann nicht allen danken, die zum Gelingen derWährungsunion beigetragen haben. Aber einige wenigeNamen seien genannt: für die CDU/CSU der damaligeBundeskanzler Kohl, die Bundesminister Seiters undSchäuble, der Fraktionsvorsitzende Dregger, der Landes-gruppenvorsitzende Bötsch und Michael Glos; für dieF.D.P. Bundesminister Genscher, der Vorsitzende GrafLambsdorff und der unvergessene FraktionsvorsitzendeWolfgang Mischnick; für die SPD der Fraktionsvorsit-zende Dr. Vogel, Frau Matthäus-Maier, Wolfgang Rothund natürlich der große alte Willy Brandt; für die Bun-desbank die Herren Pöhl, Schlesinger und Tietmeyer.Außerdem möchte ich – das sei mir erlaubt – vor allenDingen den Frauen und Männern im Bundesministeriumder Finanzen danken, die wirklich über Monate hinwegrund um die Uhr viel mehr geleistet haben, als man ei-gentlich normalerweise von jemandem erwarten kann.
Ich nenne nur die Namen Köhler, Klemm, Haller,Schmidt-Bleibtreu und Sarrazin und aus dem Kreis derStaatssekretäre Klaus Kinkel und von Würzen. Das wareine großartige Zusammenarbeit.Wir sind stolz, dass wir am Projekt der Währungsunionmitarbeiten und dadurch einen Beitrag zur Wiederverei-nigung leisten durften. Die Wiedervereinigung war, istund bleibt der entscheidende Schritt zur Entspannungauf dem Kontinent, das heißt zur Sicherung des Frie-dens durch die Beseitigung des größten Spannungsherdesin Europa. Damit erfolgte ein Paradigmenwechsel derWeltpolitik.
Die 90er-Jahre haben all jene widerlegt, die als Folgeder Wiedervereinigung ein Wiederaufflammen des deut-schen Nationalismus befürchtet hatten. Das vereinigteDeutschland hat sich zum berechenbaren und geschätztenPartner auf der Bühne der internationalen Politik ent-wickelt. Zusammen mit Frankreich haben wir das Projektder Europäischen Union mit einem gemeinsamen Wirt-schaftsverbund und einer einheitlichen Währung auf denWeg gebracht. Wenn wir diesen Weg mit Mut und mit Be-sonnenheit weiter verfolgen, dann können wir mit Opti-mismus auf Deutschlands Zukunft blicken.Die Jahre von 1990 bis 2000 werden einmal als dasbeste Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts in die deutscheGeschichte eingehen.
Es ist etwas Großartiges und es war uns vergönnt, diePräambel des Grundgesetzes, das politische Vermächtnisder Gründungsväter unserer Republik, zu verwirklichen.Im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott und denMenschen waren wir von dem Willen beseelt, die natio-nale und staatliche Einheit zu wahren und in einem ver-einten Europa dem Frieden in der Welt zu dienen. Dasdeutsche Volk hat in freier Selbstbestimmung seine Ein-heit und Freiheit vollendet.Ich danke Ihnen.
Bevor ich dem nächs-ten Redner das Wort erteile, möchte ich die Gelegenheitnutzen, sehr herzlich den ersten und letzten frei gewähl-ten Ministerpräsidenten der DDR, Lothar de Maizière,auf der Besuchertribüne zu begrüßen. Seien Sie uns herz-lich willkommen!
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Oswald Metzger,Bündnis 90/Die Grünen.
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Dr. TheodorWaigel10600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Angesichtsdessen, was Kollege Waigel soeben gesagt hat, möchte ichein paar Vorbemerkungen machen: Auch ich als Grünerbin der Auffassung, dass die Wiedervereinigung, die sichan die Währungsreform anschloss – die war praktisch dieVorstufe zur Wiedervereinigung –, einen Glücksfall fürdie deutsche Geschichte darstellt, vor allem deshalb, weilunser Volk im letzten Jahrhundert entscheidend dazubeitrug, dass über diesen Kontinent, ja über die ganzeWelt kriegerische Auseinandersetzungen kamen, und weildie Teilung als Folge des Zweiten Weltkriegs, denDeutschland zu verantworten hatte, nach einer friedlichenRevolution in einer nicht nur für Deutschland guten Weiseüberwunden werden konnte. Ein solches Glück haben aufdieser Welt nicht viele Völker.
Zum anderen stelle ich gerade deshalb, weil beide Re-gierungsfraktionen vorhin beim Lob für Helmut Kohl undseinen Beitrag zur deutschen Einheit nicht geklatscht ha-ben, fest: Ich persönlich bin der Meinung, dass man trotzpolitischer Konkurrenz und auch angesichts dessen, wasgestern im Untersuchungsausschuss passierte, nicht ver-leugnen kann, dass diese historische Leistung in seineAmtszeit fällt und er einen entscheidenden Anteil daranhatte, dass es zur Wiedervereinigung kam. Das zu würdi-gen gehört zum Anstand.
Wenn wir uns die ökonomischen Konsequenzen an-schauen, die, wie Sie, Herr Kollege Waigel, richtig gesagthaben, jetzt im Nachhinein vom DIW als Fehlkalkulationdemaskiert werden – das ist richtig, wenn man eine reinökonomische Betrachtung zum Beispiel im Hinblick aufdie Wechselkursparitäten der Währungsunion anstellt –,dann muss man feststellen: Es gibt in diesem Bereich,ökonomisch betrachtet, einige Kernfehler, die man hätteerkennen können; dann wären die Rentnerinnen undRentner sowie die Sparerinnen und Sparer nicht bestraftworden. Der entscheidende Fehler war, im Rahmen desUmrechnungskurses von 1:2 aus Buchungsschulden echteSchulden zu machen, die für viele Unternehmen in Ost-deutschland zu einer drückenden Last wurden.
Diese Last war eine Hiobsbotschaft für eine Ökonomie,die nach 40 Jahren sozialistischer Planwirtschaft und –was man nicht vergessen darf – nach einer nationalsozia-listischen Politik, die unter ökonomischen Aspekten auchnicht gerade gut war, zu Hinterlassenschaften geführt hat,die aufzuarbeiten waren.
Der zweite Kernfehler im Rahmen der Währungsunionwar aus unserer Sicht, dass das Versprechen von blühen-den Landschaften auf der Metaebene eine realitätsnaheEinschätzung der wirtschaftlichen Konsequenzen derWiedervereinigung und der Kosten verhindert hat unddass deshalb die in unserer Gesellschaft durchaus vorhan-dene Bereitschaft, für den Glücksfall Wiedervereinigungauch etwas zu zahlen, sträflich vernachlässigt wurde.
Allein dieses „rein in die Kartoffeln, raus aus den Kar-toffeln“ im Hinblick auf den Solidaritätszuschlag in denAnfangsjahren zeigt im Nachhinein deutlich, dass dieseFehleinschätzung die Kosten der Wiedervereinigungbuchstäblich diskreditiert hat und dass ab einem gewissenZeitpunkt die Kosten der Einheit von den politischen Par-teien im Westen Deutschlands als Belastung eingestuftwurden. Wir hätten in den Jahren 1989/90 an die Solida-rität der Menschen appellieren sollen und eine entspre-chende Weichenstellung vornehmen müssen.Diese Fehleinschätzung hat zu einem weiteren Pro-blem geführt, das Sie, Herr Waigel, überhaupt nicht be-leuchtet haben: Wir haben die Kosten der Einheit nichtnur in extremer Weise über Verschuldung finanziert, wasangesichts der damals bestehenden Herkulesaufgabe inTeilen durchaus vertretbar war, sondern wir haben sieauch auf die Sozialversicherungen abgewälzt. Sie, dieSie damals in der Regierung waren, haben dafür gerade-zustehen, dass der in den 90er-Jahren erfolgte Anstieg derSozialversicherungsbeiträge um 6,5 Prozent ein deutli-ches Zeichen dafür ist, dass die Sozialversicherungen unddamit verbunden die Lohnkosten sowie die Nettoeinkom-men der Arbeitnehmer die eigentliche Zahlmasse für dieTransfers in den Osten Deutschlands waren, was zu ex-tremen Bremsspuren in der deutschen Volkswirtschaftführte.
Zwar gibt es im Osten Deutschlands – das ist zu be-sichtigen – eine Vielzahl an Bauinvestitionen, die mit die-sen Transfers bezahlt wurden. Keine Frage! Aber dieblühenden Landschaften im Osten wurden damit erkauft,dass wir, ökonomisch gesehen, auf dem Arbeitsmarkt inDeutschland mit einem Anstieg der Arbeitskosten einabsolut falsches Signal gesetzt haben. Dadurch haben wirin Deutschland in den Jahren 1997/98 zusammen mit Ita-lien das Schlusslicht bei der wirtschaftlichen Entwicklungin Europa gebildet. Das war in Ihrer Amtszeit.Gott sei Dank läuft es jetzt – nicht nur aufgrund des Re-gierungswechsels, sondern auch aufgrund des weltwirt-schaftlichen Umfeldes – so gut, dass Deutschland im Mo-nat Mai beim realwirtschaftlichen Wachstum erstmalswieder in die Spitzengruppe der EU aufschließen konnte.Das ist dringend nötig, damit unser Land in der Lage ist,die Transfers in den Osten zu finanzieren, die auch nochin den nächsten Jahren und Jahrzehnten erfolgen müssen,wenn sie auch degressiv gestaltet sein müssen, damitkeine Subventionsmentalität gefördert wird.
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Ich komme auf ein weiteres Fehlkonstrukt bei derWährungsunion und vor allem bei dem, was danach kam,zu sprechen. Hier wundere ich mich über Sie, KollegeWaigel, dass Sie beklagten, der Bund sei der Hauptlast-träger der Wiedervereinigung gewesen. Wer hat denn1992 das Föderale Konsolidierungsprogramm für denBund verhandelt? Das war der damalige FinanzministerTheodor Waigel.
Zum gleichen Zeitpunkt wollte er bayerischer Minister-präsident werden. Dass angesichts dieser Situation die In-teressenlage des Bundesfinanzministers länderfreundlichwar, können Sie daran ablesen, dass die Steueranteile derBundesländer als Folge des Föderalen Konsolidierungs-programms inzwischen um etwa 8 bis 10 Prozent höhersind als die des Bundes.
Heute beklagt man aus Anlass des 10. Jahrestages, dassder Bund die Lasten zu schultern habe. Ich erinnere michnoch daran, dass Ihr damaliger CDU-Kollege Mayer-Vorfelder aus der Verhandlungsrunde nach Stuttgartzurückkam und verkündete, er habe ab 1995 Steueraus-fälle in Höhe von netto 2,5 Milliarden DM eingerechnet,nun seien es aber nur 1,5Milliarden DM. Wir wissen zwarnicht, was den Gesinnungswechsel im Bundesfinanz-ministerium bewirkt hat; aber das war die Situation. DieseLastenverschiebung zuungunsten des Bundes mussten Siedann im Laufe der weiteren Entwicklung in den 90er-Jah-ren büßen, als das Maastricht-Kriterium, nachdem 1996die Steuereinnahmen eingebrochen waren, im Jahr 1997fast nicht mehr erreichbar schien. Das dürfen Sie nichtvergessen; man kann es auch mit den Statistiken des BMFbelegen.Ein weiteres Problem der Wiedervereinigung war inökonomischer Hinsicht, dass die Treuhandanstalt alsAbwicklungsinstrument der alten DDR konzipiert warund deshalb auch beim BMF angesiedelt war. Ich habedurchaus großes Verständnis dafür, dass damals zum Bei-spiel die aufrechte Gruppe der Bündnisgrünen, die zwi-schen 1990 und 1994 überhaupt das Fähnlein der Grünenhier im gesamtdeutschen Parlament hochhielt, weil wirals West-Grüne nach der Wiedervereinigung hinausge-wählt wurden – womöglich auch als Folge unseres Um-gangs mit der Wiedervereinigung; das möchte ich durch-aus selbstkritisch sagen –, ähnlich wie Sozialdemokratengefordert hatte, die Treuhandanstalt bei den Ostländernanzusiedeln und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vielstärker an der Abwicklung der alten Betriebe zu beteili-gen, um den Ausverkauf aufzuhalten. Statt der erwarteten600 Milliarden DM, wie sie 1990 Optimisten noch erwar-teten, betrugen die Erlöse gerade einmal 75 Milliar-den DM.Möglicherweise hätte Herr Rohwedder – das sage ichauch, weil Sie zu Recht an seinen Tod sowie an die Dienst-vertragsverlängerung, die auf Bitten der Bundesregierungzustande kam, erinnert haben – einen besseren Job als an-dere gemacht, die in den Jahren danach in der Treuhand-anstalt etwas zu sagen hatten. Auf jeden Fall gehört dieAbwicklung der alten DDR-Wirtschaft durch die Treu-handanstalt nicht zum Ruhmesblatt dieser Republik.
Betrachtet man jetzt auch die emotionale Situation derMenschen im Osten im Vergleich zu der von denen imWesten unseres Landes, dann bedrückt mich als jeman-den, der aus dem reichen Süden der Republik kommt, woim Mai die Arbeitslosigkeit bei weniger als 3 Prozent lag,dass viele Menschen aus dem Osten, die mobil genugsind, im Westen Arbeit suchen müssen. Wir dürfen nichtvergessen, dass im letzten Jahr 195 000 Menschen ausdem Osten zu den Arbeitsplätzen in den Westen gegangensind; das war die vierthöchste Zahl seit 1989. Diese Bin-nenwanderung zeigt natürlich, dass die Infrastruktur-maßnahmen, die aus Steuermitteln mit solidarischerUnterstützung des Bundes und der Westländer ergriffenwurden, nicht verhindern konnten, dass die Produktivitätim Osten nach wie vor unter Westniveau liegt und die wirt-schaftliche Leistung im Osten nicht einmal die Konsum-kosten dort deckt. Die Transferleistungen zeigen ebensowie die doppelt so hohe Arbeitslosigkeit wie im Westen,dass diese Landstriche ökonomische Probleme haben.Angesichts dessen ist es zweifellos unsere Aufgabe –das sage ich ganz bewusst als Finanzpolitiker –, die Soli-darität mit den fünf neuen Bundesländern mit neuen, an-gepassten Instrumenten in den nächsten Jahren im Rah-men eines Solidarpaktes 2 weiterzuführen – das ist garkeine Frage –,
denn 80 Prozent der Menschen im Osten sagen, sie fühl-ten sich in diesem Lande als Bürgerinnen und Bürgerzweiter Klasse.
– Ich glaube, dass dies in der Grundtendenz noch immerstimmt; denn ich habe dort Verwandtschaft und habe auchpersönliche Gespräche geführt. Ich weiß, dass innerhalbvon zehn Jahren eines nicht ausradiert werden kann, näm-lich das Gefühl der Menschen, zwar in einem totalitärenStaat gelebt zu haben, jedoch in einer emotionalen Ge-borgenheit, in einem Staat, in dem Nachbarschaftshilfemanches von dem kompensiert hat, was er an Auskom-men, an materiellem Einkommen und an Freizügigkeitnicht gewährleisten konnte. Natürlich stellt deshalb dieUmstellung auf eine Wettbewerbsgesellschaft, von derwir, wenn es um Ökonomie geht, gerne reden – auch ichselber –, ein Problem dar. Das sollten wir beachten, diewir im Westen doch 45 Jahre lang die Konkurrenz mit derWeltwirtschaft auch auf den Arbeitsmärkten hatten.Ohne die Menschen, die sich nicht von Ost nach Westbewegen wollen, zu diskreditieren: Dass sich immer dieJungen, Ungebundenen, Mobilen und gut Ausgebildetenauf den Weg zu den Arbeitsplätzen begeben, führt schluss-endlich dazu, dass sich die Transferleistungen im Kon-
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Oswald Metzger10602
sumbereich für Arbeitslosigkeit und Rente strukturell vielstärker auf die neuen Bundesländer konzentrieren und da-mit das relative Verhältnis der Transfers den Subventi-onsanteil der östlichen Bundesländer hoch halten wird.Das ist gefährlich und deshalb müssen wir etwas tun.Auch die Tatsache, dass die junge Generation gegen-über allem, was fremd ist, auffällig reagiert, mutet michgrotesk an. In meiner Gegend mit einer Arbeitslosenquotevon 8 oder 10 Prozent ist die Zahl fremdenfeindlicherÜbergriffe vergleichsweise niedrig. Die sozialen Zuspit-zungen in bestimmten Regionen des Ostens sind daher ex-trem auffällig. Natürlich spielt die über 40 Jahre erfolgteVerdrängung der Probleme durch das ehemalige sozialis-tische System eine große Rolle. Eine Rolle spielt aberauch, dass wir es an der nötigen Aufklärung und auch anden nötigen Strategien, sich diesen Leuten zu nähern, ha-ben fehlen lassen. Wir müssen gegen die Ausgrenzung,gegen Übergriffe und gegen das Ermorden von Fremdenangehen. Das muss eine gesellschaftliche Aufgabe sein.Wir können die Radikalisierung von rechts als Antwortauf die nach wie vor vorhandene ökonomische Krise inden neuen Bundesländern nicht stillschweigend zulassen.
Wenn man sich die Perspektive für die Weiterentwick-lung im Osten anschaut, dann stellt man fest – das könnenSie im Ifo-Gutachten von gestern nachlesen –, dass im Be-reich des verarbeitenden Gewerbes der Arbeitsmarkt imOsten sektoral anzieht. Ich freue mich natürlich, dass be-stimmte Wachstumsregionen im Osten, vor allem im städ-tischen Bereich, in Dresden, Leipzig oder Erfurt, hin-sichtlich der Einkommen zu den am schwächsten ent-wickelten Regionen in Westdeutschland aufschließen.Daran sehen Sie die relative Entwicklung. Diese Ent-wicklung aber – das sollten wir uns selber eingestehen –muss immer in Relation zu den Transformationsländerngesehen werden, die an Ostdeutschland angrenzen.Schauen Sie sich doch einmal die Niveaus der Staaten mitähnlich kaputter Volkswirtschaft an, beispielsweise inTschechien und in Polen! Im Vergleich dazu liegt das Ni-veau in Ostdeutschland deutlich höher. Insofern müsstenwir als Westdeutsche angesichts des 10. Jahrestages derWährungsunion darauf hinweisen, dass ein ökonomischesWachstum in dieser Republik, das die Nachfrage nach Ar-beitskräften auf dem ersten Arbeitsmarkt mobilisiert, dieentscheidende Voraussetzung dafür ist, dass die Men-schen im Osten eine Chance haben.Als Süddeutscher in Berlin kann ich eines beobachten:Seit das Parlament hier ist, haben wir die Probleme derfünf ostdeutschen Länder wesentlich stärker im Blick. Sieliegen uns buchstäblich vor der Nase.
Das ist für die politische Wahrnehmung Gesamtdeutsch-lands ein großer Segen.In diesem Sinne hoffe ich und wünsche ich mir, dassdie Menschen im Osten wahrnehmen, dass sie nicht Men-schen zweiter Klasse sind und dass sich diese Republikbemüht, einen neuen Solidarpakt ab 2005 zu schmieden,der besonderen Belastungen in den ostdeutschen Bundes-ländern nach wie vor Rechnung trägt und trotzdem denMenschen im Westen die Gewissheit gibt, dass der Ostennicht mit alten Methoden zum Subventionsdschungel die-ses Landes wird. Die Menschen im Westen sollen wissen:Dies ist eine Investition in unsere gemeinsame Zukunft,damit Ostdeutschland nicht der Mezzogiorno der Bun-desrepublik wird.Vielen Dank.
Ich erteile nun das
Wort dem Kollegen Dr. Günter Rexrodt, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Nach zehn Jahren Wirtschafts-,Währungs- und Sozialunion in Deutschland wird dieöffentliche Diskussion überwiegend davon bestimmt, wasin Deutschland alles noch nicht geschafft ist, welche Feh-ler gemacht wurden, was uns trennt, welche Anpassungs-probleme und welche Konflikte es gibt. Die gibt es zu-hauf, und man wird sie in der Tat nur bewältigen können,wenn man sich mit ihnen auseinander setzt.Nach zehn Jahren Wirtschaftsunion muss es aber aucherlaubt sein, darüber nachzudenken, was erreicht wurdeund was die Deutschen miteinander verbindet. Ich halteim Übrigen die gerade in diesen Tagen wieder aufge-flammte Diskussion für müßig, in der die Wirtschafts- undSozialunion als ein ökonomischer Fehlgriff bezeichnetwird – eine Behauptung, die erhoben wird, obwohl nichtannähernd eine glaubwürdige und überzeugende Alterna-tive ins Feld geführt werden kann.
Insbesondere tut sich dabei das Deutsche Institut fürWirtschaftsforschung hervor. Da werden die frühe Ein-führung der D-Mark und das von den tatsächlichenWährungsrelationen abweichende Umtauschverhältnisals die Ursachen des Kollapses der DDR-Wirtschaft be-zeichnet. In rein mechanistischer, ökonometrischer Be-trachtung ist das vielleicht richtig. Es vernachlässigt abertotal den Tatbestand, dass eine ökonomisch separierteDDR – oder wie auch immer man das hätte nennen müs-sen – niemals aus eigener Kraft die Mittel hätte aufbrin-gen können, die zur Herstellung der Wettbewerbsfähig-keit ihrer Wirtschaft notwendig waren.
Private Investitionen wären angesichts einer unstetenwährungspolitischen und wirtschaftspolitischen Situationweitgehend ausgeblieben. Westliche Staatshilfe hätte an-gesichts andauernder Systemunterschiede noch wenigerAkzeptanz bei den Menschen gefunden. Der Mittelbedarfwäre unermesslich gewesen. Das Geld wäre in ein Fassohne Boden gefallen. Dieses separate Wirtschaftsgebiet
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Oswald Metzger10603
wäre nach kürzester Zeit zusammengebrochen wie einKartenhaus.Das DIW bemüht sich, diese These vom gemeinsamenpolitischen Dach und von unterschiedlichen wirtschaftli-chen Entwicklungen mit dem Hinweis auf das britischeCommonwealth oder das Verhältnis zwischen Hongkongund China zu untermauern. Ich will niemandem wehtun;aber es gibt auch eine wissenschaftliche Eitelkeit, wennman einmal etwas in die Welt gesetzt hat. Sie unterschei-det sich in nichts von der allgemein menschlichen.
Mir geht es nicht darum, die aus meiner Sicht prinzipi-elle Alternativlosigkeit des eingeschlagenen Weges miteinem durchschlagenden Erfolg dieser Entscheidunggleichzusetzen. Die Unterschiede zwischen Ost und Westsind auch heute noch für jedermann sichtbar – aber dasErreichte auch.Im Übrigen ist eine Währungs-, Wirtschafts- und So-zialunion mehr als nur Ökonomie. Der Name sagt dasschon. Sie war die Voraussetzung für die deutsche Einheit,und diese ist dadurch gekennzeichnet, dass sich die Deut-schen näher gekommen sind, dass sie eine gemeinsameErfahrungswelt haben, dass sie miteinander leben und ar-beiten, dass sie miteinander sprechen und miteinanderSorgen und Freude haben. Den grauen Alltag haben siegemein und auch den sonnigen. Das Gemeinsame zeigtsich im Übrigen auch in der Übereinstimmung von politi-schen Prioritäten, von Wünschen, Wertvorstellungen, Zu-neigungen und Abneigungen.Ich bin überzeugt, dass die Solidarität der Deutschenauch im ökonomischen Bereich viel größer ist, als immerbehauptet wird. Es ist auf der einen Seite doch ganz nor-mal, dass jemand im Westen danach fragt, was mit seinemGeld, das er als Steuerzahler zur Verfügung stellt, ge-macht wird. Es ist auf der anderen Seite ganz normal, dassMenschen in den neuen Bundesländern, die die Miserenicht persönlich verursacht haben, nicht jeden Tag Dankesagen wollen und Wohlverhalten zeigen möchten. Das istganz normal. Daraus ableiten zu wollen, die Wirtschafts-und Sozialunion, die Einheit sei den Deutschen zu teuer,liegt neben der Sache. Für die große Mehrheit der Deut-schen ist die deutsche Einheit Anlass zur Freude.
Wenn wir nach zehn Jahren Bilanz ziehen, können wirLicht und Schatten feststellen, aber insgesamt positiv indie Zukunft in einem gemeinsamen Europa schauen. Ichwüsste nicht, was ernsthaft und nachhaltig einer erfolg-reichen Entwicklung im Wege steht.Das heute Erreichte muss vor dem Hintergrund derAusgangssituation bewertet werden. Nun will ich nichtzum wiederholten Male das Bild von den verrottetenStraßen, den zerfallenen Städten, den unbeweglichenKombinaten und der mangelhaften Technologie be-mühen. Das ist aber alles wahr. Das alles kann man aller-dings beheben. Es gibt viel Schlimmeres. Dazu möchteich von meinen persönlichen Erfahrungen berichten: Ichwar vor wenigen Tagen in einer Kleinstadt in Thüringen,dort, wo ich vor 40 Jahren Abitur gemacht habe. Dort istfast alles schön repariert: die mittelalterlichen Stadtvier-tel, ein großer Teil der Kirchen und Sehenswürdigkeiten,die Infrastruktur. Das alles ist eine Pracht. Und doch istdiese kleine Stadt in einer erbärmlichen Verfassung: DieMenschen wandern ab, es ist nichts los. Das hat viele Ur-sachen, wie zum Beispiel den Zusammenbruch der Indus-trie.Aber es gibt eine Ursache, die wir in keiner Statistikfinden, die jedoch aus meiner Sicht die entscheidende ist:Die Ursache liegt im Fehlen einer lebendigen, gewachse-nen, selbstbewussten Bürgerkultur. Es gibt zu wenigBürger, die willens und in der Lage sind, die Dinge selbstin die Hand zu nehmen, Bürger, die verwurzelt in ihremGemeinwesen Kräfte mobilisieren, um etwas auf dieBeine zu stellen:
kulturell, wirtschaftlich und sozial. Diese Bürger sindnicht da. Dass sie nicht da sind, dass dies in den Köpfenausradiert worden ist, haben Sie von der PDS, hat dieDDR verursacht.
Dies in den Köpfen der Menschen zu heilen dauert25 Jahre. Dies ist viel schlimmer als die verrottetenStraßen und die grauen Häuser. Das muss mit aller Deut-lichkeit gesagt werden.
– Sie heulen zu Recht auf, weil Sie betroffen sind. Sie ken-nen das Sprichwort von den getroffenen Hunden, meineDamen und Herren.
Dennoch meine ich, dass dieses Aufbauwerk in denKöpfen gelingt. Es gibt viele Ansätze.Dabei müssen wir uns damit abfinden, dass es regio-nale Unterschiede geben wird. Ich will damit die beste-henden Ost-West-Gefälle nicht beschönigen, aber dass esDifferenzen zwischen Mecklenburg-Vorpommern undSachsen sowie zwischen Brandenburg und Nordrhein-Westfalen geben wird, müssen wir akzeptieren.Ich sprach von Licht und Schatten. Zum Licht gehörtohne Zweifel, dass der Privatisierungsprozess in der ge-werblichen Wirtschaft abgeschlossen werden konnte. DieUnternehmen, die heute in den neuen Ländern existieren,sind in aller Regel modern und leistungsfähig. In denneuen Ländern gibt es eine halbe Million Selbstständige.Diese sind quasi aus dem Nichts heraus entstanden.
Und doch – und das ist das Entscheidende – ist die wirt-schaftliche Basis insgesamt zu schmal. Die Selbstständi-
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gendichte beträgt bei den IHK-Unternehmen nur 20 Pro-zent der im Westen. Die gesamtwirtschaftliche Produkti-vität hat sich zwar von 30 auf 60 Prozent der west-deutschen erhöht, aber sie kommt in letzter Zeit nichtmehr in ausreichendem Maße voran.Das hat mehrere Ursachen, unter anderem die Überbe-setzung des öffentlichen Dienstes und – oft auch unterÖkonomen sehr wenig beachtet – die Tatsache, dass vieleostdeutsche Produkte insbesondere auf den Binnenmärk-ten noch geringere Preise erzielen als andere.Daraus entsteht ein weiteres Problem. Es ist der weitverbreitete Eindruck der Menschen in den neuen Ländern,für gleiche Arbeit weniger Lohn zu erhalten.
Aus der Sicht der Betroffenen ist das richtig und nach-vollziehbar. Aber ich muss hier – leider, sage ich aus-drücklich – als Ökonom antworten. Bei 40 Prozent gerin-gerer Produktivität im Ganzen müsste ein gleiches Lohn-niveau dazu führen, dass sich die Wettbewerbsfähigkeitder Unternehmen in den neuen Ländern weiter ver-schlechtert, mit der Folge höherer Arbeitslosigkeit. Diesewürde dann allgemein zu Recht wieder als Ungerechtig-keit empfunden. Schnelle Lösungen gibt es nicht. Nie-mand – weder die Opposition noch die Regierung – kennteinen Königsweg; und Sie von der PDS schon lange nicht.
Ich würde mir wünschen, dass wir bei den Flächenta-rifverträgen, die bei vielen Betrieben in den neuen Län-dern ohnehin nur noch auf dem Papier stehen, zu einerVeränderung kommen. Das würde viel Gutes mit sichbringen, gerade für die Arbeitnehmer in den Betrieben,die eine hohe Produktivität aufweisen. Da könnte manganz andere Lösungen finden.Wir sind bei dem Hauptproblem, der hohen Arbeitslo-sigkeit, meine Damen und Herren. Die Ursachen dafürsind bekannt. Aber keiner kennt auch hier einen Königs-weg. Inzwischen haben die Bundesregierung und die Re-gierungen der neuen Länder wenigstens erkannt, dass derStaat keine Arbeitsplätze verordnen kann. ABM und ähn-liche Maßnahmen sind geeignet, akute Probleme zu lösenoder Brücken zum regulären Arbeitsmarkt zu schlagen.Die Ursachen der Arbeitslosigkeit beseitigen sie nicht.Meine Damen und Herren, mit der Arbeitslosigkeit inden neuen Ländern fertig zu werden heißt die wirtschaft-liche Basis zu verbreitern, heißt Unternehmensgründun-gen zu fördern und günstige Bedingungen für mehr wirt-schaftliche Aktivität zu schaffen.Ich warne vor einer anhaltenden Überförderung derWirtschaft in den neuen Ländern.Ich möchte zum Schluss noch auf vier wichtige Punkteund Positionen hinweisen, die es weiter zu berücksichti-gen gilt:Erstens. Der Ausbau der Infrastruktur muss ohne Ab-striche fortgesetzt werden.Zweitens. Öffentliche Budgets der Gebietskörper-schaften müssen in angemessenem Umfang aufgefülltwerden, solange die Steuerkraft in den neuen Ländern nur34 Prozent der westdeutschen ausmacht.Drittens muss die Finanzierung der Sozialleistungen,wie sie für ganz Deutschland gelten, fortgesetzt werden.In diesem Zusammenhang von Transferleistungen in dieneuen Länder zu sprechen ist falsch und lässt in den neuenLändern Unmut und Unwillen entstehen.
Vierter Punkt. Wir müssen uns bei der Wirtschaftsför-derung in den neuen Ländern auf regionale Investitions-zuschüsse und auf Unternehmensgründungen konzentrie-ren.Meine Damen und Herren, ich habe mich bemüht, inmeinem Beitrag zum zehnjährigen Bestehen der Wirt-schafts-, Währungs- und Sozialunion nicht dem Musterdes tagespolitischen Schlagabtauschs zu folgen. Aber ei-nes muss ich doch sagen, und zwar an die Adresse desBundeskanzlers – ich verstehe, dass er nicht da ist –:Wenn man den Aufbau Ost im Wahlkampf zur Chefsacheerklärt, dann muss man das auch ausfüllen.
Dem Bundeskanzler ist der Aufbau Ost keine Herzenssa-che. Er vollzieht ihn als eine Pflichtübung. Diese Pflicht-übung ist ihm bei jedem Auftritt im Bundestag und in denneuen Ländern ins Gesicht geschrieben, meine Damenund Herren.
Es haben sich mit der Wirtschafts- und Währungsunionneue Gelegenheiten und Chancen für Deutschland in Eu-ropa eröffnet. Nach zehn Jahren lohnt es sich, einmal in-nezuhalten und die Dinge im Gesamtzusammenhang zusehen. Dabei sollte man bei aller Unzulänglichkeit auchein Stück Freude aufkommen lassen und, ich meine, auchein Stück Dankbarkeit.Danke schön.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Dr. Christa Luft, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! VerehrteKolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute anläss-lich des 10. Jahrestages der Wirtschafts -, Währungs- undSozialunion. In diesem Haus wird aber ebenso wie imganzen Land immer nur von der Währungsunion gespro-chen. Warum? Das geschieht wohl nicht deshalb, weil wirgerne mit einem Kürzel arbeiten, sondern weil von der ge-wollten und versprochenen Dreieinigkeit im Grunde ge-nommen nur die Währungsunion vorhanden ist.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000
Dr. Günter Rexrodt10605
Die Wirtschafts- und die Sozialunion lassen auf sich war-ten.Herr Kollege Rexrodt, diese Tatsache auf den Umstandzurückzuführen, dass es im Osten zu wenig aktive Bürge-rinnen und Bürger gibt, halte ich schon für ein grandiosesStück, das Sie sich hier geleistet haben.
Sie sollten einmal zum Brandenburger Tor gehen. Dortliegen hungerstreikende Handwerkerinnen und Handwer-ker aus Thüringen. Ich weiß nicht, aus welcher kleinenthüringischen Stadt Sie kommen. Sie könnten dort viel-leicht ehemalige Nachbarinnen und Nachbarn treffen, dienach der Währungsunion durch Gauner um Hab und Gutgebracht worden sind.
Viele, die während der DDR-Zeit als Handwerkerinnenund Handwerker überlebt haben, haben später als Selbst-ständige Existenzen gegründet und stehen jetzt vor derPleite. Das müssen Sie sich einmal vor Ort anschauen.
Der 1. Juli ist der Tag, an dem alle Bürgerinnen undBürger der DDR den legalen Zugang zur DeutschenMark bekommen haben. Sie haben sich seither manchlang gehegten Wunsch erfüllen können. Nach meinemEindruck möchte niemand dieses Symbol des Wohlstan-des – die harte Deutsche Mark – mehr missen. Die Sehn-sucht nach dem „harten Geld“, wie es damals hieß, habendie DDR-Oberen selbst erzeugt, indem sie in Genex-Ka-talogen und Intershop-Läden attraktive Waren angebotenhaben, die für selbst verdientes Geld nicht zu haben wa-ren. Das muss man deutlich sagen.Dennoch kam, Herr Kollege Waigel, das Signal für denBlitzstart in die Währungsunion weder aus Leipzig nochaus Merseburg oder aus Rostock. Das Signal für denBlitzstart in die Währungsunion kam vielmehr aus Bonn.Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl hat sehr wohlgewusst, dass möglicherweise bei den freien Wahlen zurVolkskammer am 18. März 1990 ein SPD-Sieg ins Hausstehen würde. Um das zu verhindern, hat er sich ganzschnell der in SPD-Kreisen bereits diskutierten Idee einerWährungsunion angenommen und diese verwirklicht.Sein Machtinstinkt hat ihn dabei nicht getrogen. Das mussman ihm zugestehen.Der 1. Juli war nicht nur der Tag, an dem die D-Markin den Osten kam. Der 1. Juli war zugleich der Tag, andem das Treuhandgesetz der De-Maizière-Regierung mitdem Gebot einer flächendeckenden und raschen Privati-sierung in Kraft trat. Damals ist der Grundstein für einStreben nach schneller Lohnerhöhung gelegt worden.Wenn über einem das Damoklesschwert schwebt, abge-wickelt und wegrationalisiert zu werden, kämpft mannatürlich um hohe Löhne. Denn man wusste, wonach sichdas Arbeitslosengeld nach dem neu eingeführten Sozial-recht berechnen würde. Das ist doch eine ganz normaleReaktion, die verständlich ist.Der 1. Juli war aber auch das Datum, an dem das Ge-biet zwischen Elbe und Oder urplötzlich zur Europä-ischen Union zugehörig wurde, und zwar ohne irgend-welche Beitrittsverhandlungen und damit auch ohne ver-einbarte Anpassungsfristen oder Schutzinstrumente fürdie Wirtschaft. Ich stelle fest: So viel Schock auf einmalwar nirgends und niemals zuvor. Mit den Folgen habenwir noch heute zu kämpfen.Trotz aller Warnungen von Ökonomen aus Ost und Westverzichteten die damals Verantwortlichen auf Strukturpo-litik; das war ein Fremdwort. Auf regionalpolitische Wei-chenstellungen wurde verzichtet. Das ist die bittere Wahr-heit.Gewiss, dank umfangreicher Finanztransfers ist es ge-lungen, die Infrastruktur zu modernisieren. Viele Woh-nungen sind saniert worden, die Innenstädte sind schönergeworden und manche industriellen Leuchttürme sindentstanden. Das ist alles richtig. Doch wahr ist auch: Nachdiesem Schock vom 1. Juli 1990 entstanden in den altenBundesländern 2 Millionen Arbeitsplätze neu und 4 Mil-lionen Arbeitsplätze wurden in den neuen Bundesländernabgebaut, sie gingen verloren. Da muss man sich doch fra-gen, woran das gelegen hat.
Geblieben sind im Osten, Frau Kollegin Bergmann-Pohl,eine ausgedünnte Industrielandschaft – das werden auchSie nicht bestreiten –, verödende Regionen und die Ab-wanderung junger, qualifizierter Menschen.Notwendig wäre damals gewesen, industrielle Kerne inZukunftsbranchen zu erhalten, mit den Altschulden an-ders umzugehen, als das geschehen ist, und vor allemMärkte zu stabilisieren. Wer will denn in eine Marktwirt-schaft übergehen ohne Märkte? Das ist bisher auch nir-gends auf der Welt gelungen. Das übrigens hätte HerrRohwedder auch anders gemacht.
Zu den Hauptfehlern des ersten Staatsvertrages wiespäter auch des Einigungsvertrages gehört übrigens, dassdie Weichen gestellt wurden für eine nahezu zwanghafteÜbertragung des westdeutschen Systems in all seinenFacetten auf die neuen Bundesländer. Die nachholendeModernisierung war damals die Losung. Für Innovationbestand überhaupt keine Chance. Im Osten gewonneneErfahrungen und gewachsene, überlebensfähige Struktu-ren hatten keine Chance. Dem Osten wurden das verkrus-tete Steuersystem und die reformbedürftigen Genehmi-gungsverfahren übergestülpt. Auch die Arbeitsförderung,die in den alten Bundesländern gewachsen war und dendortigen Bedingungen entsprach, wurde auf den Ostenübertragen, ohne eine den dortigen Gegebenheiten ange-passte Arbeitsmarktpolitik zu betreiben. Die fehlt imÜbrigen bis heute.Eine damals gewiss mögliche Einmalabgabe auf großeVermögen war für die verantwortlichen Politikerinnenund Politiker ebenfalls kein Thema, um einen Beitrag zur
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Dr. Christa Luft10606
Finanzierung der Einheit zu gewährleisten. Sie habenvielmehr die Sozialkassen belastet und Kreditfinanzie-rung mit Verschuldung vorgenommen.
Heute behaupten damals auf der Westseite verantwort-liche Politiker, sie hätten über den Osten und seine Wirt-schaft zu wenig gewusst. Nun ist ja nicht zu bestreiten,dass Details bestimmt nicht zu wissen waren. Die kanntenwir auch nicht. Aber dass man nicht habe voraussehenkönnen, was mit diesem Schock ohne Anpassungsfristenund ohne Schutzinstrumente geschehen würde, das istdoch arg zu bezweifeln.Ich will Ihnen jetzt nur die Aussage eines Einzigen, denSie immer wieder als Kronzeugen für den Zustand derDDR-Wirtschaft – auch in diesem Hause – zitieren, vor-halten. Ein Insider der DDR-Wirtschaft und ein Mitautordieser so genannten Geheimanalyse für das SED-Polit-büro von Ende Oktober 1989 hat ja nachher auch noch et-was geschrieben. Er hat vor kurzem seine „Deutsch-deut-schen Erinnerungen“ veröffentlicht. Darin heißt es, dasser von Mitte Januar bis Mitte März 1990 30 Gespräche mitdem BND geführt und Auskunft über die DDR-Wirtschaftgegeben hat. Wörtlich sagt er:Die Fragen prasselten nur so auf mich ein. Wie stehtes um die Verschuldung der DDR, wie um ihreProduktivität? Welche Kombinate sind erhaltens-wert, welche sollte man stilllegen? Augenscheinlichbereitete sich die Bundesregierung auf die Wirt-schafts- und Währungsunion vor.Was also passieren würde, wenn man eine Jahrzehntevom Weltmarkt abgeschottete Wirtschaft über Nacht mit300 Prozent Aufwertung auf den offenen Markt entlässt,war jedem ökonomisch Beschlagenen damals klar. Alleinmit Lohnkostensubventionen und Mehrwertsteuerpräfe-renzen hätte man manchen Absturz verhindern können.Hat denn jemals einer von den damals Verantwortli-chen in Ost wie in West nach den Stärken der ostdeutschenWirtschaft gefragt? Es war immer nur von den Schwächendie Rede. Daher finde ich es auch etwas seltsam, wennzehn Jahre nach der deutschen Einheit die CDU in ihrerLuckenwalder Erklärung plötzlich sagt, man müsse nunden Stärken des Ostens nachgehen und diesen Rechnungtragen. Ich kann dazu nur sagen: Die Hauptstärke desOstens waren immer seine qualifizierten Menschen. De-nen eine Chance zu geben ist das Gebot der Stunde.
Wir müssen endlich damit aufhören, nur über die res-pektablen – ich betone: respektablen – Finanztransfersvon West nach Ost zu reden. Ich habe große Achtung da-vor, weil es vor allem Gelder sind, die von den abhängigbeschäftigen Lohnsteuerzahlerinnen und Lohnsteuerzah-lern aufgebracht werden. Aber wann reden wir endlichauch darüber, welchen Vermögenstransfer es von Ostnach West gegeben hat, den es übrigens nach wie vor gibt?
Wann reden wir endlich darüber, welche Umsatz- und Ge-winnexplosionen es bei Unternehmen, Handelsketten so-wie bei Banken und Versicherungen gegeben hat? Hättensie alle ordentlich ihre Steuern auf die sich explosionsar-tig entwickelnden Gewinne gezahlt, dann wären die öf-fentlichen Kassen voller, als sie es heute sind.Zuletzt noch ein Punkt. Ich finde, es ist überfällig, dieVergabepraxis von Fördermitteln, also von Steuergeldern,insbesondere die Vergabepraxis in den Jahren 1990 bis1993 im Hinblick darauf zu durchleuchten, wo gesetzli-che Bestimmungen verletzt wurden, ja wo es sogar zu kri-minellen Handlungen gekommen ist. Die PDS-Fraktionwird in diesem Zusammenhang eine parlamentarischeInitiative ergreifen, um vielen unschuldig in wirtschaftli-che und soziale Not geratenen Existenzgründern, Hand-werkern und Gewerbetreibenden Gehör und Gerechtig-keit zu verschaffen.
An der Schwelle zum zweiten Jahrzehnt der deutschenEinheit muss es endlich darum gehen, den erfahrenen,überwiegend hoch qualifizierten Menschen im Osten – siesind, wie gesagt, die Hauptstärke des Ostens – eineChance zu geben, damit sie sich in das einbringen können,was wir im vereinten Land noch gemeinsam gestaltenmüssen. Die Massenarbeitslosigkeit darf nicht länger nurverbal bekämpft werden, so wie es leider auch unter Rot-Grün geschieht. Wir brauchen substanzielle neue Vor-schläge. Die Haushaltsberatungen werden uns dazu Gele-genheit geben.Danke schön.
Jetzt erteile ich das
Wort für die Bundesregierung Herrn Staatsminister Rolf
Schwanitz.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Wir debattieren heute über zehn Jahre Währungs-,Wirtschafts- und Sozialunion. Ich möchte ausdrücklichsagen: Es ist gut, dass wir das tun; denn der Staatsvertrag,den wir damals den ersten Staatsvertrag nannten, war eineganz zentrale Weichenstellung auf dem Weg hin zur staat-lichen Einheit. Wir können in der Rückschau die Be-deutung dieses Vorgangs für den ökonomischen und denvereinigungspolitischen Bereich überhaupt nicht unter-schätzen. Deswegen ist es richtig, dass wir abermals ver-suchen, die Dimension und die Vorgänge von damals indas gesellschaftliche Bewusstsein zu heben. Dazu sageich ein klares ein klares Ja.
Frau Kollegin Luft, ich sage ausdrücklich: Wir solltenden Dreiklang der Währungs-, Wirtschafts- und Sozial-union nicht im Nachhinein diskreditieren. Es ist fürmich – neben den wirtschaftlichen und währungspoliti-schen Leistungen – eine der ganz zentralen solidarischenLeistungen gewesen, dass es bereits damals gelungen war,
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Dr. Christa Luft10607
diesen schwierigen Vorgang sozial zu flankieren und sodie staatliche Einheit zu erzielen.
Gestatten Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Kolbe?
Herr Kollege Kolbe, ich bitte um Verständnis. Ich möchteim Zusammenhang fortfahren. Deswegen gestatte ichkeine Zwischenfrage.
Ich möchte im Folgenden weniger über Leistungen undFehler im damaligen Vorgehen reden. Ich stelle ausdrück-lich fest: Die großen Leistungen, die in der damaligen Si-tuation erbracht wurden, überwiegen bei weitem. Das,was mich persönlich umtreibt und was ich deswegen an-sprechen möchte, ist die Frage: Wenn wir heute auf die Er-eignisse von vor zehn Jahren zurückschauen – wir wissen,wie es im Osten vor der Vereinigung ausgesehen hat undwas in den letzten zehn Jahren passiert ist –, gibt es dannso etwas wie ein Fazit, gibt es so etwas wie eine bleibendeErkenntnis, aus der man Schlussfolgerungen für das zie-hen kann, was heute bei uns in Deutschland geschieht undwas auch im engeren Sinne die Politik angeht? Ich bin inder Tat der Auffassung, dass es ein solches Fazit gibt.Ich will vier Erkenntnisse, die mich ganz persönlichberühren, in dieser Debatte ansprechen.Die erste Erkenntnis, die ich aus dem Vergleich zwi-schen der heutigen Situation und der vor zehn Jahren ge-winne, ist, dass in Zeiten eines Wandels, eines Umbruchseines ganz besonders wichtig ist, nämlich der Mut zurVeränderung und die Fähigkeit der Politik, bei solchenUmbrüchen voranzugehen. Ich glaube, dass diese Er-kenntnis sehr gut in unsere heutige Zeit passt; denn wirstehen in Deutschland ohne Zweifel vor ganz enormenVeränderungen, die wir meistern müssen. Die Internatio-nalisierung von Politik, Ökonomie, die technologischenVeränderungen und der demographische Wandel müssengeschultert werden. Dies sind Themen, die das politischeTagesgeschäft und alle Debatten des Deutschen Bundes-tages durchziehen.Die Herausforderungen, die daraus für die Politik undfür die Gesellschaft insgesamt erwachsen, sind alt und zu-gleich neu. Nach meiner Auffassung erwarten die Men-schen von der Politik, nicht nur den Kampf um dieLufthoheit über den Stammtischen zu führen, sondernauch Entscheidungen zu treffen und Mut zu Veränderun-gen zu beweisen. Ein Fazit lautet deswegen, dass nicht dasVerdrängen oder das Aussitzen, sondern ein aktives Ge-stalten solcher Veränderungen wichtig ist. Mit Blick aufdie Ereignisse vor zehn Jahren ist dies ein Auftrag. Ichbitte um Nachsicht dafür, dass ich die eine oder andere Pa-rallele zu unseren aktuellen Debatten ziehe, beispiels-weise im Zusammenhang mit der Steuerreform oder denschwierigen Entscheidungen beim Rentenrecht.Ich sage ausdrücklich: Das ehrliche und wahre Be-mühen um einen Kompromiss ist richtig und notwendig.Aber irgendwann kommt die Zeit der Entscheidung.Jürgen Strube, der Vorstandsvorsitzende eines der welt-größten Chemieunternehmen, sagte in dieser Woche, wirin Deutschland seien dabei, den Begriff des Reformstausaus dem Sprachgebrauch zu verdrängen. Das ist zwar eingroßes Lob, aber es ist auch ein Auftrag an uns alle in die-sem Haus.
Eine Lehre aus der Zeit vor zehn Jahren besteht fürmich in der Aufforderung, dass wir uns Veränderungenstellen müssen und dass wir einen Umbruch nicht passiverleiden dürfen; vielmehr haben wir Prozesse aktiv zu ge-stalten und dabei müssen wir auch Wagnisse eingehen.Daran, dass wir uns dabei über Parteigrenzen hinweg ori-entieren und springen müssen, hat Herr Kollege Waigelheute im Zusammenhang mit dem Vorgang vor zehn Jah-ren erinnert. Ich sage ausdrücklich: Aus den parteipoliti-schen Schützengräben herauszukommen ist für mich einFazit der Ereignisse vor zehn Jahren. Das Ganze ist hoch-aktuell.
Die zweite Erkenntnis, die ich heute ansprechen will,ist, dass es heute, zehn Jahre danach, die Notwendigkeitgibt, über einen Perspektivwechsel im ostdeutschenSelbstverständnis öffentlich zu kommunizieren.
Keine Frage, damals vor zehn Jahren war unser Blick ein-deutig auf die Situation in den alten Bundesländern ge-richtet. Das ist überhaupt kein Vorwurf. Wir haben damalsintensiv gefragt, wann es in den neuen Bundesländern sowie in den alten Bundesländern sein wird. Die damaligeBundesrepublik Deutschland war der Maßstab, die ei-gentliche Perspektive. Das konnte nicht anders sein; dennes gab kein Vergleichsmodell und kein Alternativmodell.Natürlich bleibt die Gleichwertigkeit der Lebensverhält-nisse nicht nur Verfassungsgebot, sondern auch ein wich-tiges konsensuales Ziel in einer demokratischen und so-zial orientierten Gesellschaft.Meine Damen und Herren, dass BundestagspräsidentWolfgang Thierse in dieser Woche in der „Berliner Zei-tung“ eine Diskussion über eine neues ostdeutsches Leit-bild angestoßen hat, findet meine ausdrückliche Unter-stützung. Die Diskussion darüber, wie wir wegkommenvon einem Modell der nachholenden Modernisierung, beidem wir das Alte, Traditionelle im Blick haben, und hin-kommen zu einem Modell der, wie er sagt, europäischenVerbindungsregion als Leitmotiv für die Perspektive derneuen Länder, halte ich für notwendig und sehr wichtig.In der Tat steht Deutschland vor ganz zentralen Verän-derungen. Das sind die technologischen Veränderungen,die ich beschrieben habe, das ist die Notwendigkeit, welt-
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Staatsminister Rolf Schwanitz10608
weite Märkte zu erobern, und das ist natürlich auch diegeographische Veränderung. Wir sind ja nicht mehr Rand-region, sondern wir sind im Begriff, in Europa eine ganzzentrale geographische Stellung einzunehmen. Die neuenLänder haben hierbei ganz enorme Chancen. Wir müssendarüber reden, welche Konsequenzen das hat, und wirmüssen darum werben mit dem Ziel, dass dies auch insBewusstsein dringt und verarbeitet wird.Für mich gehören in eine solche Debatte über einenPerspektivwechsel, in die Diskussion über ein neues ost-deutsches Leitbild verschiedene Dinge. Drei will ich aus-drücklich benennen. Das Erste sind für mich die Erfah-rungen, die in den letzten Jahren in Ostdeutschlandgesammelt worden sind, Ostdeutschland als neue Wis-sensgesellschaft zu begreifen. Das Zweite, worüber nach-zudenken und zu diskutieren sich sehr lohnt, sind die In-novationserfahrungen, die in Ostdeutschland gesammeltwerden konnten. Das Dritte, was ich ansprechen will undwas ich sehr interessant finde, ist der Grundsatz, zu akti-vieren und zu motivieren, das heißt, Dinge mit den Men-schen gemeinsam voranzutreiben.Auf allen drei Feldern sind in den letzten zehn Jahrenganz enorme Entwicklungen vonstatten gegangen, sind inden neuen Ländern Erfahrungen besonderer Art gesam-melt worden und hat die Politik diese Entwicklung aktivunterstützt und wird das auch in Zukunft tun.Noch nie, meine Damen und Herren – ich möchte jetztetwas zu dem Thema Wissensgesellschaft sagen –, wardie Halbwertszeit beim Wissen so kurz. Neues Wissenaufzunehmen, zu vermitteln, ist zu einer Zukunftsfragefür die Gesellschaft insgesamt geworden. Das gilt natür-lich für alle in unserem Lande, auch europaweit, aber derOsten hat dabei hervorragende Erfahrungen gemacht.Was war der Transformationsprozess denn anderes alsein gigantischer Wandel von Wissen, der in Ostdeutsch-land in umfassendster Art geschultert und gemeistert wer-den musste! Viele ostdeutsche Hochschulen, viele Fach-hochschulen haben diese Chancen genutzt. Im nationalenund internationalen Rating finden sich ostdeutsche Ein-richtungen mittlerweile in Spitzenpositionen wieder. Inbemerkenswerter Art und Weise entstehen in diesenHochschulen und Fachhochschulen gerade mit Blick aufdie ostdeutsche Situation kooperative Strukturen.
Deshalb ist es richtig, gerade den Ausbau der ost-deutschen Forschung, den Ausbau der ostdeutschenHochschul- und Fachhochschullandschaft zu einem zen-tralen Thema zu machen.
Die Ostdeutschen haben hervorragende Chancen, hierKompetenzzentren zu entwickeln. Wenn gegenwärtig –lassen Sie mich wenigstens eine Zahl nennen – 27 Prozentder Projektfördermittel des Bundes, die für Biotech-nologie insgesamt ausgegeben werden, nach Ostdeutsch-land fließen, dann ist das ein Signal für diesen wichtigenVeränderungsprozess, auf den ich hinweisen wollte.Zu dem Leitbild, das ich ja beschrieben habe, gehörtnatürlich auch Ostdeutschland als Innovationsstandort.Lothar Späth hat in dieser Woche gesagt, nicht Subven-tionen, sondern Innovationen seien das prägende und daszentrale neue Bild in Ostdeutschland. Ich kann das nurausdrücklich unterstreichen. Deswegen muss sich auchdie Förderpolitik – auf diesem Wege sind wir, wie Sie wis-sen – dem Innovationsthema in verstärkter Form zuwen-den.Wir finden in Ostdeutschland bemerkenswerte neueBedingungen, die auch in der internationalen Perspektivevon hohem Interesse sind: kurze Verwaltungswege, eingegenüber der Industrie sehr aufgeschlossenes Klima inder Bevölkerung und Gesellschaft. Dieses ist in Kombi-nation mit der Innovationsunterstützung der öffentlichenHand eine hervorragende Voraussetzung, um gerade auchausländisches Investment nach Ostdeutschland zu führen.Das muss auch einmal ausgesprochen werden.
Ich möchte auch eine Bemerkung zu dem Themen-komplex Aktivieren und Motivation machen. Ich bin derfesten Überzeugung, dass es in Ostdeutschland enormePotenziale gibt, die sich im Ideenreichtum der Menschenin den Regionen niederschlagen. Wer wollte es mir ver-denken, dass ich hier unseren, wie ich finde, in der zwei-ten Phase sehr erfolgreichen Wettbewerb im Rahmen desProgramms Inno-Regio anspreche.Wie Sie wissen, wollen wir in den nächsten Jahren25 Modellregionen fördern. Ich will nicht verhehlen, dasses mich sehr überrascht hat, mit welcher Energie und In-tensität dieses erste, besonders auf Ostdeutschland zuge-schnittene Wettbewerbsinstrument in den Regionen auf-genommen worden ist, übrigens auch über Parteigrenzenhinweg. Ich habe das ja beobachtet. Auch viele Kollegin-nen und Kollegen der anderen Fraktionen gehen den Wegmit und bringen sich regional ein. Da geht ein Ruck durchdie Regionen. Wir tun gut daran, wenn wir nicht nur in-nerhalb der Kategorie dieser 25 Projekte denken, sondernwenn wir – auch da sind wir auf gutem Weg – diese Inno-vationspotenziale nicht versiegen lassen und die Motiva-tion der Menschen nicht enttäuschen, sondern gemeinsammit den Regierungen der neuen Länder befördern undauch weiter unterstützen.
Eine dritte Schlussfolgerung möchte ich aus dem Ver-gleich zu dem ziehen, was vor zehn Jahren war: Wir ha-ben auf dem Weg, den wir seitdem zurückgelegt haben,die Erfahrung gemacht, dass die Stärke der Bundesrepu-blik Deutschland nicht nur aus ihrer Vielfalt erwächst,sondern auch in der Gemeinsamkeit liegt. Das gilt fürDeutschland insgesamt und ist beispielsweise auch ausunserer Debatte über die Notwendigkeit einer weiterenUnterstützung des Aufbaus Ost durch einen Solidarpakt 2nach 2004 abzuleiten. Dies gilt aber auch und geradefür die Ostdeutschen untereinander. Die Menschen erwar-ten von uns allen einen ganzheitlichen Politikansatz. Sie
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orientieren sich bei dem, was sie wünschen und erwarten,nicht an Fragen politischer Zuständigkeit, sie konzentrie-ren sich in erster Linie auf die Problemlösung und erwar-ten dabei, dass die Politik mit ihnen an einem Strang zieht.Deshalb ist diese Erfahrung für mich auch eine Heraus-forderung der Politik auf allen Ebenen. Ich glaube, nie-mand darf sich davon ausnehmen.Wenn dies richtig ist, dann stellen sich eine ganzeReihe unbequemer Fragen auch jenseits von Hierarchienund jenseits von territorialen Zuständigkeiten, über dieanlässlich einer solchen Debatte offen geredet werdenmuss. Gemeinsamkeiten zwischen dem Bund und denneuen Ländern, aber auch zwischen den neuen Ländernuntereinander zu finden, herauszufiltern und diese aufzu-nehmen ist deshalb für mich und ein wichtiges Anliegen.Wir haben in diesem Bereich auch Erfolge zu verzeich-nen. Beispielsweise gilt dies für den zwischen dem Bundund den neuen Ländern nicht ohne Schwierigkeiten zu-stande gekommenen Beschluss, ausländische Direktin-vestitionen im Rahmen des so genannten IIC auch überden befristeten Auftrag hinaus anzuwerben. Das sindDinge, die man sinnvoll gemeinschaftlich tun kann.Diese Frage stellt sich aber auch bei anderen Themen-gebieten: im Bereich der Förderpolitik, im Bereich derBildungspolitik, beim Baurecht und bei anderen Dingen.Ich weiß, dass das schwierig ist, aber es muss bei einersolchen Debatte wie heute auch einmal möglich sein,quasi gegen den Strich zu denken und diese Themen an-zusprechen.Wenn es richtig ist, meine Damen und Herren, dass dieostdeutschen Länder nicht nur untereinander im Wettbe-werb stehen, sondern ostdeutsche Regionen schon längstin einem europaweiten Wettbewerb der Regionen stehen,zum Beispiel mit Irland oder mit Spanien, und sich derBlickwinkel in Zukunft auch noch auf Osteuropa auswei-ten wird, dann ist es in der Tat eine wichtige Erfahrungvon hoher Aktualität, wenn man Gemeinsamkeiten aus-macht und gemeinsame Stärken herausstellt.Ich will ausdrücklich noch eine weitere Erkenntnis an-sprechen. Angesichts der Entwicklungen, die wir erlebthaben, und angesichts der Entwicklungen, die noch voruns liegen, können wir nur in dem Maße erfolgreich sein,wie es uns gelingt, die Menschen bei diesen Entwicklun-gen mitzunehmen. Die Menschen in den neuen Bun-desländern können sich – ich habe in diesem Punkteine etwas andere Auffassung als Sie, Herr KollegeRexrodt – auf eine ganze Reihe von Stärken und Fähig-keiten besinnen, die sie aus 40 Jahren Leben in der DDRmit all den Schwierigkeiten und Bedrückungen, aber auchaus zehn Jahren Leben in den neuen Verhältnissen ge-wonnen haben.Zu diesen Fähigkeiten gehört für mich die Fähigkeit,mit Veränderungen fertig werden zu können. Dazu gehörtfür mich die Stärke, pragmatisch an Probleme herangehenzu können. Dazu gehört für mich die Fähigkeit, einen un-dogmatischen Lösungsansatz zu finden. Dazu gehört fürmich die Befähigung, kooperativ und nicht als Einzel-kämpfer an Lösungen heranzugehen. Wir müssen dieseStärken und dieses Potenzial, das in den Menschen steckt,betonen und ins Bewusstsein rücken.
Aber auch ein anderer Punkt muss offen angesprochenwerden: Wir müssen uns – das ist keine Frage – ändern.Wir müssen nämlich die Debatte um die EU-Osterweite-rung versachlichen; sie ist in den neuen Ländern nochnicht tiefgreifend genug geführt worden. Das soll keinVorwurf sein. Ich will in diesem Zusammenhang nur dieBesonderheit erwähnen, mit der sich der EU-Beitritt derneuen Länder 1990 vollzogen hat. Er war gewissermaßenvon den Vorgängen um die deutsch-deutsche Vereinigungüberlagert. Im Windschatten der deutschen Einheit sinddie neuen Länder Mitglieder der Europäischen Union ge-worden. Dieser Beitrittsprozess vollzog sich also andersals in den osteuropäischen Ländern, wo es eine mehr-jährige Diskussion gibt und wo man um eine entspre-chende Bewusstseinshaltung hinsichtlich dieses Prozes-ses ringt. Aus objektiven Gründen ist dies in den neuenBundesländern anders gewesen.Wir als Politiker haben die Verantwortung, die Verän-derungen im Bewusstsein zu berücksichtigen und not-wendige Konsequenzen aus diesen Veränderungen abzu-leiten. Wir dürfen dieses Thema nicht unter dem Ge-sichtspunkt des parteipolitischen Klein-Kleins sehen,sondern wir müssen in den nächsten Monaten und Jahrendiesen Wandel im Bewusstsein fair und aktiv begleiten.Wir dürfen nicht zulassen, dass dieses Potenzial der neuenLänder einfach versiegt.
Zum Schluss. Wir müssen uns jedem Angriff auf eineoffene Gesellschaft, jedem Signal der Intoleranz undFremdenfeindlichkeit, die auch zur ostdeutschen Rea-lität gehört, entgegenstellen.
Niemand sollte die Illusion haben, dass dieses Problemder Staat alleine mithilfe von Gesetzen lösen kann. DiePflicht, gegen Fremdenfeindlichkeit einzutreten, stelltsich jedem im täglichen Leben. Wir dürfen nicht weg-schauen; unser aller Zivilcourage ist in ganz starkemMaße gefordert.Ich wollte nicht unterlassen, diese Erfahrungen anzu-sprechen. Es ist keine Frage, dass zehn Jahre Wirtschafts-und Währungsunion eine historische Dimension haben.Aber es gibt noch viele Punkte, die uns heute und auchmorgen gedanklich beschäftigen müssen.Schönen Dank.
Ich erteile das Wortdem Ministerpräsidenten des Freistaates Sachsen, HerrnProfessor Biedenkopf.Ich darf mir die Bemerkung erlauben, dass ich gern anunsere gemeinsame Zeit vor zehn Jahren zurückdenke.
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Staatsminister Rolf Schwanitz10610
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Auch ich habe diese freundlichen Erinnerungen.Ich finde es gut, dass sich der Bundestag entschiedenhat, am heutigen Tag der zehnjährigen Wiederkehr desEintritts in die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunionzu gedenken, die mit dem 1. Juli 1990 vollzogen wurde.Der Mauerfall hat den Weg zur Einheit unwiderruflichgeöffnet. Die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunionhat die Einheit Realität werden lassen. Mit dem 3. Okto-ber 1990, mit dem Einigungsvertrag, mit der Entstehungder ostdeutschen Länder, mit dem Beitritt der DDR zurBundesrepublik Deutschland, beschlossen am 23.August,war die Einheit vollendet.Nach zehn Jahren kann man feststellen: Die nationaleEinheit hat sich in der nationalen Solidarität bewährt.
Bei allen Problemen, die auch heute in der Debattewieder angesprochen worden sind, finde ich: Wenn mannach zehn Jahren einen allgemeinen Rückblick und eineallgemeine Bewertung vornimmt, ist es wichtig, die Pro-portionen richtig zu setzen. Kein Mensch – jedenfalls ichnicht – hätte geglaubt, dass die deutsche Solidarität überzehn Jahre so selbstverständlich werden würde. Es hat inden letzten zehn Jahren keinen Versuch gegeben, denWesten unter Gesichtspunkten der Solidarität gegen denOsten auszuspielen. Es hat keinen politisch wirksamenVersuch gegeben – von keiner politischen Partei –, durchNeid- oder andere Argumente in Westdeutschland gegendie Solidarität Stimmen zu gewinnen. Die Solidarität wartrotz eines gewissen Maulens – wer mault nicht, wenn erSteuern zahlen muss? – eigentlich eine Selbstverständ-lichkeit. Diejenigen, die uns von außen betrachten, wissendas sehr viel besser als wir selbst. Sie sind beeindrucktvon dieser Solidarität und von ihrer Kontinuität.
Deutschland hat den Aufbau und die Erneuerung desöstlichen Teils Deutschlands angepackt. Das Ergebniskann sich sehen lassen.Die zweite Feststellung. Die bundesstaatliche Ord-nung hat sich bewährt. Unmittelbar nach dem 3. Ok-tober – Kollege Waigel hat schon auf das Zusammen-kommen der Ministerpräsidenten im Jahre 1947 in Mün-chen hingewiesen, dem einzigen Versuch, nach dem ver-lorenen Krieg die Einheit der Deutschen noch einmal zudemonstrieren; im Übrigen mit zum Teil dramatischenKonsequenzen auch für ostdeutsche Ministerpräsidenten,insbesondere für den sächsischen – trat am 9. Novemberder Bundesrat in Berlin zum ersten Mal mit allen 16 Län-dern zusammen. Ich muss gestehen, das war für mich alsNeuankömmling in dieser Runde ein persönlich bewe-gender Augenblick.Die bundesstaatliche Ordnung hat sich aber auch in derIntegration der Länder bewährt. Von Anfang an war esselbstverständlich, dass sie dazugehörten. Im Unterschiedzu Herrn Kollegen Schwanitz haben wir nicht immer von„Ostdeutschland“ gesprochen, sondern von „Sachsen,Thüringen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern,Berlin und Brandenburg“. Ich komme darauf gleich nocheinmal zurück.
– Ich suche keine Haare in der Suppe. Das überlasse ichIhnen, Herr Kollege.
Außerdem bin ich kein Suppenesser.Drittens. Die europäische Integration hat sich be-währt. Wir haben den Aufbau Ost so, wie wir ihn in denletzten zehn Jahren vollziehen konnten, auch mit beacht-licher Unterstützung und Hilfe der Europäischen Unionvollzogen. Ich möchte hier ausdrücklich an JacquesDelors erinnern, der vier- oder fünfmal in der Zeit seinerAmtstätigkeit mit den Ministerpräsidenten der ostdeut-schen Länder zusammengetroffen ist, um mit ihnen überdie Notwendigkeiten des Aufbaus dieses Teils Deutsch-lands zu diskutieren, seine Hilfe anzubieten und vor allemdie Probleme zu verstehen. Da gibt es bis heute Verstän-digungsschwierigkeiten. Das will ich gerne zugeben.Hier ist schon viel über die Entscheidung gesprochenworden, die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunionkurzfristig zu verwirklichen. Ich möchte noch einmal da-ran erinnern, dass der Sachverständigenrat zur Begut-achtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung am20. Januar der Bundesregierung empfohlen hatte, dieD-Mark gewissermaßen als Krönung, als Schlusspunktder Entwicklung einzuführen, zunächst einmal in derDDR die Marktwirtschaft zu verwirklichen, dann derDDR Zeit zu lassen, bis sie dahin kommt, dass sie eineKonvertibilität zwischen der Ostmark und der D-Markherstellen kann, und dann, wenn sich diese Konvertibilitätbewährt haben sollte, die D-Mark einzuführen. Seltenhabe ich von Sachverständigen so viel Unverstand gele-sen wie in diesem Gutachten.
Gleichwohl war es dann, wie ich meine, eine mutige Ent-scheidung der Bundesregierung unter Führung vonHelmut Kohl, wenige Wochen nach der Vorlage diesesGutachtens, das – ich empfehle Ihnen die Lektüre in denArchiven – von weiten Teilen positiv aufgenommenwurde, genau das Gegenteil zu beschließen. Es ist hier ge-sagt worden, das sei vorrangig eine politische Ent-scheidung gewesen. Das ist zweifellos richtig. Zweifelloshaben auch die Wanderbewegungen der Übersiedler vonOst nach West eine wichtige Rolle gespielt. Aber ichmöchte ausdrücklich feststellen: Die Entscheidung warauch ökonomisch richtig. Denn unterstellen wir einmal,es wäre möglich gewesen, die Bürgerinnen und Bürger inder damaligen DDR dazu zu überreden, dort zu bleiben,wo sie sind, und zunächst einmal zu versuchen, mit einergewissen Hilfe aus dem Westen ihre Probleme selbst zu
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lösen – es gibt doch hier in diesem Haus niemand, derglaubt, dass das funktioniert hätte
– gut; lassen wir das –: Die Folgen für Westdeutschlandwären ökonomisch viel katastrophaler gewesen. Dennwenn der Zeitpunkt gekommen wäre, zu dem die wande-rungswilligen Teile der Bevölkerung der damaligen DDR,nämlich diejenigen, die sich Berufschancen in West-deutschland ausrechnen konnten, also die Facharbeiter,die Ingenieure, die Techniker und andere, die ja über eineexzellente Ausbildung und außerdem über die in West-deutschland völlig abhanden gekommene Fähigkeit zurImprovisation verfügten,
gewandert wären und die Summe der zurückbleibendenArbeitskräfte unterhalb einer kritischen Masse gelegenhätte, dann wäre der Aufbau in Ostdeutschland unmöglichgewesen. Dann, aber nur dann wäre es zu einer dauerhaf-ten Alimentationssituation gekommen. Diese Alimentati-onssituation wäre nicht nur mit großen politischen, son-dern auch mit enormen ökonomischen Kosten verbundengewesen, und zwar weitgehend ohne Aussicht auf Verän-derung. Deshalb war die Entscheidung richtig.Es ist schon von Herrn Kollegen Waigel gesagtworden, dass die Anregung, die sich jetzt beim DIW wie-derholt, einen anderen Umrechnungskurs zu wählen,schlicht an der Wirklichkeit vorbeiging.
Das Einkommensniveau in der DDR lag zwischen 700und – das waren Höchsteinkommen, aber nur in ganzseltenen Fällen – 3 000 Ostmark. Der Industriearbeiter hatzwischen 900 und 1 100 Ostmark verdient. Eine Umstel-lung im Verhältnis von nur 1:3 hätte bedeutet, dass er einZehntel dessen verdient hätte, was sein westdeutscherKollege verdient hat. Es ist eine völlig abwegige Vorstel-lung, dass man bei den Einkommen anders als 1:1 hätteumstellen können.
Ich möchte daran erinnern, dass die 1:1-Umstellungdazu geführt hat, dass wir im Herbst 1990 beim Aufbaudes öffentlichen Dienstes mit 35 Prozent der Westgehäl-ter angefangen haben. Es war gar nicht so einfach, guteLeute für dieses Geld zu halten. Wir mussten Aus-nahmeregelungen schaffen, um den unbedingt erforderli-chen westdeutschen Sachverstand dazu bewegen zukönnen – notwendige Voraussetzung war ohnehin der Ide-alismus –, nach Osten zu kommen. Wir haben diese Son-derregelungen geschaffen. Dass der öffentliche Dienstinzwischen, nach zehn Jahren, 86 Prozent verdient – dasist immer noch mehr als das, was durchschnittlich in derWirtschaft verdient wird –, zeigt den relativ langen Wegdes Aufbaus der Einkommen.Die Entscheidung war richtig. Aber mindestens ebensowichtig ist mir die Feststellung, dass die BundesrepublikDeutschland diese Entscheidung eindrucksvoll verkraftethat.Ich möchte in diesem Zusammenhang nur zwei Datennennen: Es geht zunächst um die Schätzung der Kosten.Die Schätzung der Kosten, so wird gesagt, sei weitgehendverkehrt gewesen. Ich darf diejenigen, die sich schon1990 im Bundestag befunden haben, daran erinnern, dasswir am 7. Februar 1990 eine Aktuelle Stunde zur Frage derEinführung der Wirtschafts- und Währungsunion hatten.Das ganze Haus hat meiner Feststellung, die Kosten derEinheit seien kalkulierbar und sie würden nicht höher seinals der Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts bei angemes-senem Wachstum, zugestimmt. Der Zuwachs des Brut-toinlandsprodukts bei angemessenem Wachstum lag,nicht inflationsbereinigt, sondern nominal, bei ungefähr4,5 Prozent. 4,5 Prozent waren damals rund 100 Milliar-den DM. Der Einzige, der damals mitgerechnet hatte, hateinen Zuruf gemacht. Das war Graf Lambsdorff. Er hatgesagt, das sei ziemlich viel. Aber keiner hat sich darangestört.In den letzten zehn Jahren haben wir pro Jahr einedurchschnittliche Transferleistung von 4,5 Prozent desBruttoinlandsprodukts gehabt. Wir haben diesen Ein-bruch in der gesamtdeutschen Leistungsfähigkeit inner-halb von wenigen Jahren überwunden. Das Bruttoin-landsprodukt pro Kopf der Bevölkerung – einschließlichOstdeutschland – hat im Jahre 1997 wieder das Niveauvon 1990 erreicht und liegt heute wesentlich höher. Esentwickelt sich wieder genau parallel und im Übrigen mitdem gleichen Abstand zum durchschnittlichen Brutto-inlandsprodukt pro Einwohner der 14 anderen EU-Staatenund liegt an der Spitze.Aus Sicht zum Beispiel der Botschafter, die diese Zah-len kennen, heißt das: Deutschland hat, was das Bruttoin-landsprodukt pro Kopf der Bevölkerung angeht, innerhalbvon sieben Jahren die Integration von 17 Millionen Men-schen, eines Drittel seines Territoriums und einer bank-rotten Wirtschaft verkraftet. Das ist das eigentlich Ent-scheidende.
Im Zusammenhang mit dem Bruttoinlandsprodukt proErwerbstätigen, also der gesamtwirtschaftlichen Arbeits-produktivität, ist die Sache noch eindrucksvoller. Hier hatdie Bundesrepublik Deutschland innerhalb von fünf Jah-ren das Niveau von 1990 erreicht und eilt inzwischen imDurchschnitt mit steil ansteigender Kurve wieder in demalten Abstand vor den anderen 14 EU-Staaten nach oben.Das heißt, wir haben keinerlei Anlass, zu sagen, dassuns die Kosten der deutschen Einheit dauerhaft beschä-digt hätten. Was wir getan haben, ist: Wir haben dreimalauf den Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts verzichtet.Aber wir haben keine Nettobeeinträchtigung, jedenfallsnicht beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölke-rung. Dass die Zuwächse, soweit sie nach Ostdeutschlandtransportiert werden mussten, von der Bevölkerung getra-gen werden mussten, davon war hier schon die Rede. Ge-nau das macht im Übrigen die solidarische Leistung aus.Lassen Sie mich zum Schluss auf einige Fehler undSchwierigkeiten, die uns in Zukunft weiter beschäftigen
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werden, aber auch auf einige wichtige Aussichten hin-weisen. Ehe ich das tue, habe ich die Bitte, sich mit derBegrifflichkeit zu befassen. Herr Kollege Schwanitz hatso oft von „Ostdeutschland“ und von den „Regionen“ ge-sprochen, dass ich ihn im Verdacht habe, eine Länder-neugliederung zu planen.
Es gibt dieses Ostdeutschland vielleicht geographisch,aber nicht politisch. Die Präsidentin der Sächsischen Kir-chenleitung hat mir auf dem letzten Treffen erzählt, siehabe ihren heute 20-jährigen Sohn gefragt, ob er sich alsOstdeutscher oder als Deutscher empfinde. Die Antwortdieses jungen Mannes sei gewesen: Er fühle sich als Deut-scher und dann, wenn er mit einem Bayern zusammen-komme, als Sachse.
Ich bin ziemlich sicher, dass die Menschen in Thürin-gen, in Mecklenburg-Vorpommern, in Brandenburg undinsbesondere natürlich in Berlin
ein ähnliches Selbstverständnis im Hinblick auf ihre Iden-tität haben, weswegen, Herr Kollege Schwanitz, ich nichtglaube, dass das Suchen nach einem ostdeutschen Selbst-verständnis und einem ostdeutschen Leitbild zu den wich-tigsten Aufgaben gehört, die uns gestellt sind.
Zum Zweiten sollten wir uns irgendwann einmal abge-wöhnen, von „den neuen Bundesländern“ zu reden.
Der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäckerhat bei seinem ersten Besuch in Sachsen in einer Rede imRathaus zum Ausdruck gebracht, Sachsen gehöre zu denältesten Bundesländern in Deutschland und sei deshalb ei-gentlich nicht als „neues Bundesland“ zu bezeichnen. Dakann ich ihm nur Recht geben. Wir sollten daher anfan-gen, so wie wir selbstverständlich in Westdeutschland dif-ferenzieren, auch in Ostdeutschland zu differenzieren.Die Dinge sind verschieden, aber nicht notwendigerweisebesser oder schlechter. Diese Verschiedenheit ist für dieMenschen wichtig. Gerade wenn wir ihnen das Gefühl ei-ner eigenen Identität geben wollen, die sie auch in denletzten zehn Jahren erarbeitet haben, sollten wir diesenicht immer wieder mit unserer Begrifflichkeit relativie-ren.Die wichtigste Aufgabe liegt – das ist keine Frage –nach wie vor im Arbeitsmarkt, wobei wir eine zuneh-mende Diskrepanz zwischen einer hohen und wachsen-den Zahl von Langzeitarbeitslosen und einem ebenfallswachsenden Mangel an Facharbeitern haben. Wenn es unsnicht gelingt, diese Entwicklung in den Griff zu bekom-men, ist vorhersehbar, dass nicht der Mangel an Geld,sondern der Mangel an Facharbeitern – an Ingenieurenund Technikern in allen Bereichen, vor allen Dingen aberan Facharbeitern – die eigentliche Wachstumsbremse beieinem weiteren Aufbau der Länder im Osten Deutsch-lands wird.Deshalb begrüße ich, dass die Bundesregierung jetztauf experimentelle Weise versucht, neue Wege im Bereichder Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zu finden. Wir be-teiligen uns im Freistaat Sachsen an diesen Versuchen.Wir haben sie 1998 angeregt. Unser Vorschlag war, Ar-beitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenzuführen, weilwir glauben, dass die Instrumente, so wie sie jetzt gestal-tet sind, nicht geeignet sind, die Probleme zu lösen, mitdenen wir es gerade in diesem Bereich zu tun haben.Die zweite wirklich große Herausforderung wird diedemographische Entwicklung sein. Die nächsten zehnJahre müssen vor allem der Frage gewidmet werden, wiewir mit den Konsequenzen der demographischen Ent-wicklung in Deutschland fertig werden. Dieses Problemergibt sich in der Tat aus den Folgen der deutschen Ein-heit, insbesondere aus dem Geburtenverhalten der Ost-deutschen. Wir haben im Vergleich zu 1991 heute nochetwa 50 Prozent der Grundschüler an unseren Schulen.Dieser Rückgang der Zahl der jungen Menschen wird sichjetzt durch das ganze Schulsystem ziehen und in zehn, elfJahren die Universitäten erreichen. Es ist vorhersehbar,was es gerade im Blick auf den von Herrn Schwanitz an-gedeuteten und von uns seit Jahren nachhaltig betriebenenAufbau von neuen wissenschaftlichen Kompetenzen be-deutet, wenn wir hier an der Knappheit von geeignetenFrauen und Männern, die bereit sind, sich in diese Rich-tung auszubilden, scheitern sollten. Hier liegt in Zukunfteine der wirklich großen Herausforderungen für die wei-tere Entwicklung in ganz Deutschland.In diesen Zusammenhang gehört eine sachgerechteAnschlussregelung für den Solidarpakt. Alle ostdeut-schen Länder haben im letzten Jahr die Sachverhalte zurVorbereitung der Verhandlungen zusammengetragen. Wirhaben den Eindruck, dass wir in Bezug auf diese Sach-verhalte inzwischen einen weitgehenden Konsens habenund dass wir aufbauend auf diesen Konsens in fruchtbareVerhandlungen treten können.Ich begrüße es ausdrücklich, dass die letzte Zusam-menkunft der Ministerpräsidenten mit der Bundesregie-rung zu der gemeinsamen Feststellung geführt hat, dasswir diese Anschlussregelung noch in dieser Legislaturpe-riode verwirklichen wollen.
Es wäre verhängnisvoll – lassen Sie mich Ihnen dies vonder Länderseite sagen –, wenn wir es nicht schafften, einesolche Anschlussregelung vor Herbst 2002 in trockeneTücher zu bringen. Das würde nämlich bedeuten, dass wirMitte 2003 erneut mit Verhandlungen beginnen müsstenund dass alle Länder im Osten, die einen Doppelhaushalthaben, ihre Haushalte nicht beraten und beschließenkönnten, weil sie nicht wüssten, wo sie im Jahr 2005 ste-hen werden. Wir müssen das also zwei, drei Jahre vorherwissen; daher brauchen wir einen Beschluss vor der Bun-destagswahl. Meine Bitte an dieses Hohe Haus ist, uns ge-rade in dieser Frage zu unterstützen.
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Da ich heute Morgen aus Breslau, einer Stadt, die heuteauch aus Sicht der Polen eine deutsche Stadt ist, gekom-men bin – dort hat Kurt Masur gestern Abend aus Anlassder 1000-Jahr-Feier ein wunderschönes Konzert gege-ben – und hier verschiedentlich die „blühenden Land-schaften“ zitiert worden sind, möchte ich mir eine Be-merkung dazu erlauben. Ich habe Helmut Kohl immer an-ders verstanden, nämlich so, dass es im Vergleich zuanderen Regionen der Erde, insbesondere Europas,blühende Landschaften werden.
Verehrte Frau Kollegin Kaspereit, das habe ich im Frei-staat Sachsen von Anfang an gesagt und dafür habe ichimmer Mehrheiten bekommen.
Vielleicht hätten Sie dies in anderen ostdeutschen Län-dern, insbesondere in Sachsen, auch so deutlich sagen sol-len.
Wie gesagt, ich bin auf die blühenden Landschaften ge-kommen, weil ich gerade aus Breslau komme. Und wennman aus Tschechien oder aus Polen nach Sachsen zurück-kehrt, dann weiß man, was blühende Landschaften sind.
Wenn man dagegen davon ausgeht – dies sage ich, umIhren Unmut aufzunehmen –, dass man 40 Jahre Rück-stand in zwei oder drei Jahren aufholen kann, dann ist dieseine Illusion. Und dies hat Helmut Kohl den Ostdeutschenebenso wenig vorgetragen wie ich.
Zum Schluss möchte auch ich einen Dank ausspre-chen. Theo Waigel hat einer ganzen Reihe von Persön-lichkeiten gedankt. Ich schließe mich neben dem Dank anHelmut Kohl, dessen Leistung im Zusammenhang mit derdeutschen Einheit unbestritten ist und unbestritten bleibenwird, auch dem Dank an Lothar de Maizière an;
denn er hat mir sehr geholfen hat, die Probleme in Ost-deutschland kennen zu lernen.Vor allen Dingen aber möchte ich den Menschen dan-ken, die in den letzten zehn Jahren eine unglaubliche Leis-tung erbracht haben, eine Leistung, die man sich im Wes-ten nicht vorstellen kann. Da liegt in der Tat einsignifikanter Unterschied. Diese Menschen nämlich ha-ben praktisch all ihre bisherigen Sozialisierungserfahrun-gen aufgeben müssen. Nichts von dem, was sie gewohntwaren, ist geblieben. All das, was gekommen ist, war völ-lig neu. Wenn ein Chemiker im Alter von 55 Jahren auf-steht und fragt: Wofür braucht man Eigentum?, dann spie-gelt sich darin diese ganze Dramatik wider. Er konnte diesnicht lernen, denn es gab kein Eigentum, jedenfalls keinwirtschaftlich relevantes. Ein Mann, der auf dem Gebietder Naturwissenschaften gebildet war, wusste nicht, wasInstitutionen leisten müssen, damit eine freie markt-wirtschaftliche Ordnung gewährleistet ist. Er musste dieserst einmal begreifen. Das war ein unglaublicher Lern-prozess.80 Prozent aller Arbeitsplätze haben sich verändert.Am Anfang betrug die Arbeitslosigkeit 40 Prozent. Trotz-dem gab es keine blockierten Autobahnen, keinen Auf-stand und keine sozialen Demonstrationen. Es gab denWillen der Menschen, mit der Hilfe, die ihnen die West-deutschen gewährt haben, vor allem aber mit dem Glau-ben an ihre eigene Leistungsfähigkeit mit dieser Situationfertig zu werden. Und in der großen Mehrheit sind sie da-mit fertig geworden. Sie werden auch mit den Problemenfertig werden, die noch vor uns stehen; davon bin ichüberzeugt. Es wird immer einige geben, die verlieren.Diese Menschen brauchen unsere Hilfe und unsere Un-terstützung. Die große Mehrheit aber hat gewonnen undsie sieht dies auch so. Für diese Leistung möchte ichheute, nach zehn Jahren, besonders danken.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in die-
ser Debatte ist der Kollege Dr. Mathias Schubert, SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in denletzten zwei Stunden versucht, mit Blick auf einen sym-bolträchtigen Tag, den 1. Juli 1990, als Beginn derWirtschafts-, Währungs- und Sozialunion eine kritische,partiell auch selbstkritische Zwischenbilanz der Nach-wendezeit zu ziehen. Zehn Jahre sind eine historischkurze Zeitspanne; im Leben der Menschen im Osten sinddiese zehn Jahre jedoch ein bedeutender Teil.Weil Herr Ministerpräsident Biedenkopf dies ange-sprochen hat, will ich doch einmal definieren, was ich un-ter „Osten“ verstehe. Ich meine also die Länder Branden-burg, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-An-halt, Sachsen und Thüringen, und zwar in all ihrenhistorischen und politischen Besonderheiten sowie wirt-schaftlichen und regionalen Differenzierungen, die sieauch innerhalb der letzten zehn Jahre erfahren haben.Die Bewertung „Erfolg gegen Misserfolg“ hing – soauch bei dieser Debatte hier – stark von der Perspektivedes jeweiligen Betrachters ab: auf der einen Seite dieses„Toll, was wir in zehn Jahren geschaffen haben!“ und aufder anderen Seite dieses „Schade, dass wir nicht mehr er-reicht haben!“ Die Wertung all dessen, was schief gelau-fen ist oder als großer Wurf gefeiert werden kann, istnatürlich auch eine Frage des zeitlichen und des qualitati-ven Maßstabs, sicher auch der eigenen politischen Posi-tion. Insofern war die Debatte, die bisher hier zu diesemThema geführt worden ist, ausgesprochen konstruktiv.
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Aber eines, Frau Kollegin Luft, möchte ich dann dochsagen: Sie erwecken – zumindest in dem ersten Teil IhrerRede klang das zwischen den Zeilen an – den Eindruck,als sei der Osten das Jammertal und der ehemalige Sozia-lismus der Heilsbringer für Deutschland. Das ist falsch.
Mir liegt Gelingen mehr als Scheitern. So bin ich frohüber jedes überwundene kleine oder große Problem desdeutschen Transformationsprozesses. Aber ich weigeremich, an einem Tag wie diesem alte oder neue Problemeschönzureden wie ein dazu bestellter Sonntagsredner.Auch wenn im Alltag die Erinnerungen an Geschehnisseund Stimmungen aus der Wendezeit zu verblassen begin-nen, manchmal weit entfernt scheinen durch die Fülle derEreignisse, die dazwischengetreten sind, gönne ich mirzunächst eine ganz persönliche Bemerkung. Dieser 1. Juli1990 – vielleicht teilen Sie meinen Eindruck –, das warein Tag: ein Volk, eine Währung, der sichere Wechsel aufdie gemeinsame Zukunft!
Ich gebe gerne zu, dass ich an diesem Sonntag ebensofröhlich und mit den gleichen feuchten Händen wie meineNachbarn im beschaulichen brandenburgischen Mark-grafpieske den Geldtransporter vor unserem Dorfpostamtbegrüßte. Ja, diese Stimmung gehörte auch dazu. DieserAugenblick hatte natürlich auch etwas Symbolisches: Erbrachte ein Stück Freiheit, sich endlich im Westen bewe-gen zu können ohne dieses Unbehagen, sich dauernd ali-mentiert fühlen zu müssen, und gleichzeitig die Gewiss-heit, sein eigenes Einkommen fortan in D-Mark zu erhal-ten.Auch ich habe – zumindest an diesem Tag – der weit-verbreiteten Illusion einer schmerzfreien, mindestensaber einer schmerzarmen Einfügung der DDR in die Bun-desrepublik angehangen. Diese Illusion nährte sich auszweierlei: einer Unterschätzung der Wirtschaftskrise derDDR und – das sage ich ganz offen – einer gewissenÜberschätzung der Wirtschaftskraft der Bundesrepublik.Das hatte – dies erkennt man im Rückblick der Jahre –auch damit zu tun, dass die damalige Koalition mit Illu-sionen erfolgreich Politik machen konnte. Denn unmittel-bar wirksam wurden im Sommer 1990 nicht nur der Geld-umtausch und die erforderlichen Abschluss- und Eröff-nungsbilanzen der Unternehmen, wirksam wurden auchgrundlegende Richtungsentscheidungen im Rahmen derWirtschafts- und Sozialunion.Wirtschaftsunion hieß trotz aller Ungleichheiten derChancen und Bedingungen gemeinsamer Markt. Sozial-union hieß ebenso konsequent Übernahme des westdeut-schen Sozialgesetzbuches und damit angesichts absehba-rer flächendeckender Massenarbeitslosigkeit eine ex-treme Belastung der öffentlichen Haushalte wie derSozialhaushalte über die Jahre hinweg.Wie konkret dieses Gespenst werden konnte, war spä-testens klar, als der Umrechnungskurs auf 1:1 bzw.1:2 festgelegt worden war. Durch diese schlagartige Auf-wertung verloren die gesamten DDR-Betriebe im produ-zierenden Gewerbe alle Chancen auf neue Märkte undverloren natürlich auch heftigst auf ihren alten traditio-nellen Ostmärkten.Die damalige Bundesregierung war sich der drohendenBrüche und Schmerzen durchaus bewusst. KollegeWolfgang Schäuble beschreibt diese Situation auch ganzoffen in seinem Buch „Der Vertrag“, aus dem ich einigewenige Sätze zitiere. Er schreibt:Es war Lothar de Maizière genauso klar wieTietmeyer und mir, dass mit der Einführung derWestwährung DDR-Betriebe nicht mehr konkur-renzfähig sein würden. Wir konnten uns auch aus-malen, in welch dramatischer Weise dieser Eingriffsichtbar würde. Also ging es darum, wie wir verhin-dern konnten, dass dieser Teil Deutschlands zusam-menbrach.Einige Seiten weiter:Tietmeyer und ich wussten, dass auf FinanzministerTheo Waigel schwere Zeiten zukamen: Wie hoch dieHilfe ausfallen würde, darüber vermochten wir nurzu spekulieren.So weit Wolfgang Schäuble.
Jeder Wirtschaftspraktiker, jede ökonomische Theoriemusste deshalb 1990 eigentlich anraten, der DDR-Regie-rung viel Zeit für eine zunächst selbstständige Entwick-lung zu geben. Doch in der Praxis – das wissen wir alle –gab es diese Alternative in Wirklichkeit nie. Haupt-grund war aber nicht der ostdeutsche Ruf „Kommt dieD-Mark nicht zu uns, gehen wir zu ihr“, wie es damals aufden Plakaten häufig zu lesen war. Hauptgrund war ein an-derer: Kein verantwortlicher Politiker und natürlich auchkeine verantwortliche Politikerin in Ost wie in Westkonnte die Wiedererrichtung von Zoll- und Währungs-grenzen in Deutschland vertreten. Ich glaube, auch keinBürger, weder in West noch in Ost, hätte dies geduldet.Wenn wir heute über den Vereinigungsprozess urteilen,müssen wir zwei Tatsachen betrachten: Einerseits war dieDDR ungeeignet, in so kurzer Frist integrierter Teil einerder wettbewerbsfähigsten westlichen Marktdemokratien,nämlich der alten Bundesrepublik, zu werden. Und dochwar andererseits in der Realität diese sofortige Integra-tion unausweichlich. Die schwerwiegenden Folgen derschnellen Vereinigung im Rahmen der Wirtschafts-,Währungs- und Sozialunion waren also ebenso voraus-sehbar wie unvermeidlich.Ich will jetzt nicht weiter auf den 10 Jahre danach er-neut hochkochenden Streit der Wissenschaftler und derFinanzpolitiker zu diesem Thema eingehen. Wir solltenuns auch hüten, über das vereinte Deutschland vorwie-gend unter finanziellen Gesichtspunkten zu reden: Waskostet die Einheit? Wer bezahlt sie? Wer hat sie bezahltund wer wird sie weiter bezahlen?Gleichwohl erleben wir, dass 10 Jahre nach demIn-Kraft-Treten der Wirtschafts-, Währungs- und Sozial-union die Gestaltung der Vereinigung häufig genug zu
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einem reinen Belastungsdiskurs gemacht worden ist: zuwenig Hilfe für die einen, zu viel an Belastungen für dieanderen. Die Verantwortung für diese bedrückende Ent-wicklung liegt vorwiegend bei Ihnen, liebe Kolleginnenund Kollegen auf der rechten Seite des Hauses. Das mussich schon sagen. Sie haben es damals versäumt, den Men-schen in Ost- und Westdeutschland die Wahrheit zu sagen.Ob Sie die Wahrheit gewusst haben oder ob Sie sich ge-irrt haben, mag offen bleiben.
Darüber will ich auch nicht urteilen.Fest steht, dass Sie den Menschen im Osten ein schnel-leres Erreichen der viel beschworenen blühenden Land-schaften versprochen haben, und zwar in einer anderen In-terpretation und in einem anderen Verständnis, als Sie,Herr Biedenkopf, es eben gesagt haben.
Denen im Westen wurde versprochen, dass die Steuernnicht erhöht werden müssten, um die Kosten der Einheitzu finanzieren. Es ist erstaunlich, wie schnell Sie verges-sen wollen und wahrscheinlich auch müssen. Beide Ver-sprechen waren falsch, konnten nicht eingehalten, muss-ten gebrochen werden.
Wenn das DIW bei aller Kritik, die man an diesem Be-richt üben muss, in seiner 10-Jahres-Bilanz die Wirt-schafts-, Währungs- und Sozialunion als ein Musterbei-spiel dafür bezeichnet, dass für den Primat der Politik überdie Ökonomie oft ein hoher Preis zu zahlen ist, dann istdem zwar uneingeschränkt zuzustimmen, aber es gabeben keine Alternative zu dem, was gemacht worden ist.
Ich kann den früheren Bundesbankpräsidenten KarlOtto Pöhl verstehen, wenn er gestern in der „Süddeut-schen Zeitung“ in einem ausführlichen Interview von sei-ner tiefen Brüskierung spricht und die Einführung derWirtschafts-, Währungs- und Sozialunion als eine „Panik-reaktion aus der Hüfte geschossen“ beschreibt.
Aber auch da gilt: Es gab keine Alternative. – Urteilen Siedoch, nachdem Sie mich haben aussprechen lassen undnicht vorher!Ich hätte mir schon gewünscht, dass diese kritischenStimmen bereits in der Deutlichkeit 1990 zu hören gewe-sen wären, und zwar nicht gegen die Wirtschafts-,Währungs- und Sozialunion, sondern gerade weil sie po-litisch notwendig und unausweichlich war. Da dieWährungsunion konsequent mit politischer Symbolikverknüpft wurde, wurden die kritischen Stimmen, diedurchaus Richtiges über die belastenden Folgen dieserEntscheidung ausgesagt hatten, schnell als Einheitsgeg-ner abgemahnt. Das ist die Hypothek, die Sie zu tragen ha-ben.
Die Weitsichtigsten auch bei Ihnen – ich habe den Kol-legen Schäuble vorhin zitiert – wussten um die Unaus-weichlichkeit der Notwendigkeit und der Probleme derWirtschafts-, Währungs- und Sozialunion. Aber sie habensie öffentlich nicht benannt. Die offizielle Version, diePortokasse finanziert die Einheit, war aus wahltaktischen,das heißt aus machttaktischen Gründen selbstverständlicherfolgreich. Für das Zusammenwachsen aber wurden da-durch Ressentiments begründet, die zwischen Ost undWest bis heute wirken.Politische Verantwortung darf sich nicht in Illusionenund Machttaktik erschöpfen. Die Folgen dafür haben allezu tragen. Wir werden das Thema noch einmal behandeln,wenn wir über den Solidarpakt 2 reden, zu dem ich nach-her kurz noch ein paar Bemerkungen machen werde.Zur Beschreibung des ostdeutschen Transforma-tionsprozesses gehört es auch, über die Befindlichkeiten,über die Erfahrungen und das Selbstverständnis der Ost-deutschen einige Gedanken zu äußern. Der wirklich ent-scheidende, der substanzielle Wandel musste sich bei denMenschen vollziehen.Günter de Bruyn formulierte seine Momentaufnahme,die vermutlich uns allen oder zumindest vielen bekanntist, damals so:Also hat die Nation schlechte Laune. Sie ist wiedervereint, aber nicht glücklich.Richard Schröder, unser erster SPD-Fraktionsvor-sitzender in der Volkskammer und früherer Kollege imBundestag, hat für dieses Gefühl der Zerknirschtheit einescheinbar plausible Erklärung:Der Maßstab, an dem wir die innere Einheit messen,ist der Jubel der Nacht der Maueröffnung.Doch nicht einmal temperamentvollere Menschen als dieDeutschen – Brasilianer oder Spanier vielleicht – könnensich Tag für Tag in den Armen liegen und „Wahnsinn“schreien.Ich glaube, die Bilanz der Einheit kann sich zumindestin einem weiteren, nicht ganz unwichtigen Punkt, auf denauch hingewiesen werden muss, sehen lassen. Währendzum Beispiel Korsen für ihre Unabhängigkeit kämpfen,während eine Lega Nord in Italien marschiert, um den ar-men Süden abzuschütteln – wir könnten noch viele andereBeispiele aufführen –, käme niemand bei uns, weder inWest- noch in Ostdeutschland, darauf, für die Unabhän-gigkeit zu kämpfen. Ich hoffe, dass es auch die reichenSüdstaatler in Deutschland nicht so weit treiben werden.Im Vergleich zu anderen Völkern sind wir Deutschenuns doch recht einig. Der Vorrat an Gemeinsamkeiten inOst und West ist groß genug, um die Unterschiede auszu-halten, zu benennen und wenn nötig, natürlich auch imStreit miteinander auszutragen.
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Wir sollten ganz im Sinne der fünf bzw. sechs Länderund im Sinne von deren wachsendem Selbstbewusstseinversuchen, von der verbliebenen Vielfalt zu profitieren,und nicht Walter Ulbrichts Ideale von der Menschenge-meinschaft – er meinte natürlich eine sozialistische – un-ter dem Etikett der inneren Einheit neu aufleben lassen.Wir sollten von der Politik nicht fordern, sie solle einGemeinschaftsgefühl herstellen. Politik, die Gefühle pro-duzieren oder provozieren will, ist mir immer noch un-heimlich. Die Politik kann dafür allenfalls Voraussetzun-gen schaffen.Ministerpräsident Biedenkopf hat einmal in realisti-scher Weise formuliert, der Vollzug der deutschen Einheitstelle ein gesamtdeutsches Reformwerk dar. Dabei ha-ben die Reformerfahrungen, die die Ostdeutschen für denumfassenden Reformbedarf in Westdeutschland und inEuropa mitbringen, einen Prozess in Richtung auf einneues Selbstbewusstsein angestoßen.Die politischen und ökonomischen Prozesse im Ver-lauf der Transformation hatten zunächst – wir wissen dasalle – häufig zu biografischen Entwertungserfahrungengeführt. Alltägliche Verhaltensmuster, berufliche Kennt-nisse, soziale Erfahrungen und politische Überzeugungenhatten ihren Bezug auf ein völlig anderes System mit völ-lig anderen Werten und Zusammenhängen. Ich bin mir si-cher, dass sich diese notwendigen und oft schmerzvollenTransformationserfahrungen in der Zukunft als ein wich-tiger Vorteil erweisen werden.Die schwierigen neuen Bedingungen haben ein solchesMaß an Flexibilität, Mobilität und Anpassungsbereit-schaft abverlangt, wie es kaum eine Generation zuvor er-lebt hat. Genau daraus entwickelt sich ein Selbstbewusst-sein, das sich aus dem Gefühl eigener Leistung und einesselbst erarbeiteten Erfahrungsvorsprungs ableitet: Wirsind gut, wir sind zum Teil besser als manche Westdeut-sche, mobiler, flexibler und kreativer.
Auch soziologische Studien belegen diesen Trend. Ge-genwärtig finden deshalb – das ist kein Zufall, sondernhängt mit dieser Entwicklung zusammen – in vielen Be-reichen, etwa der ostdeutschen Wirtschaft, Selbstorgani-sationsprozesse zur Bündelung der Kräfte, der Innovati-onsfähigkeit und zur Organisation eines offensiven, glo-balen Marktzugangs statt. Dabei setzen wir vor allem aufdie zukunftsfähigen Wirtschaftsbranchen, wie etwa dieWerkstoffentwicklung, die Biotechnologie oder die Infor-mationstechnologie. Dieser innovative und konsequenteorganisierte Selbstorganisationsprozess findet unter ande-rem unter dem Stichwort der Regionalisierung statt. Mankönnte daher sagen, dass unter denjenigen, die sich daranbeteiligen ein regelrechter Aufbruch auch des eigenenSelbstbewusstseins stattfindet. – Das ist der eine Aspekt.Es gibt aber auch noch einen anderen Aspekt, nämlichden der neuen Qualität des Transformationsprozesses.Einer der Kernpunkte dabei wird sein – hierin hat KollegeSchwanitz Recht –, das Ziel dieses Prozesses neu zu be-stimmen. Darüber müssen wir einmal an einer ganz ande-ren Stelle reden. Bisher hieß eines der Ziele „Anpassungder Lebensverhältnisse Ost an West“. Anpassung oderAngleichung sind im Übrigen teilweise irreführendeBegriffe. Angleichung ist nur insofern richtig, als dieserBegriff in der Verfassung steht und einen Anspruch derOstdeutschen legitimiert. Er verlangt zum Beispiel, dasssich der Staat um annähernd gleiche Lebensverhältnissezu bemühen hat. Er legitimiert unter anderem, dass So-zialhilfeansprüche im Osten in gleicher Weise wie imWesten gelten.Doch bedeutet Angleichung wirklich den gleichen Pro-Kopf-Verbrauch an Spreewaldgurken in Ost und West?Heißt Angleichung wirklich, dass neben Hansa Rostockund Energie Cottbus auch der VfB Leipzig in der Bun-desliga spielt? Sind wir dann gleich, wenn die Westdeut-schen genauso viel Rotkäppchen-Sekt trinken wie dieOstdeutschen? Oder ist das etwa dann der Fall, wenn inSachsen genau so viele die PDS wählen wie in Baden-Württemberg?
– Nein, Herr Gysi, Sie werden mir zugestehen müssen,dass ich den Vergleich selbstverständlich so herum ge-bracht habe.Ich meine schon, dass der Begriff Angleichung völligfalsch gewählt wurde, wenn man darunter die Anwendunggleicher Instrumente der Politik für ungleiche Verhält-nisse versteht. Eine andere Lage verlangt andere Instru-mente.Ich befürchte, dass wir das mit den Mitteln und Me-thoden, die wir bislang zur Verfügung hatten, nie schaffenwerden. Denn das künftige Ziel der Transformation wirdnicht mehr die Angleichung, sondern die Entwicklungneuer Formen der Bündelung wirtschaftlicher Kräfte,neuer Inhalte der aktiven Arbeitsmarktpolitik, insbeson-dere auf den Feldern der Aus- und Weiterbildung, zu-kunftsfähiger Formen der sozialen Sicherungssysteme,nicht nur für den Osten, sondern eben auch für West-deutschland, sein. Diese gesellschaftlichen und politi-schen Innovationspotenziale wachsen – das behaupteich hier einmal sehr ungeschützt von dieser Stelle aus –zurzeit, wenn ich das richtig sehe, im Osten stärker als imWesten.Das ist unsere gemeinsame Chance. Deshalb bin ichmir sicher, dass wir aus ostdeutscher Erfahrung Anstößefür gesamtdeutsche Reformen geben müssen. Ich habemit Freude festgestellt, dass sowohl Kollege Metzger alsauch Kollege Rexrodt gerade im Blick auf die Entwick-lung der Wirtschaft sehr klar und sehr konkret darauf hin-gewiesen haben, dass hier neue Möglichkeiten und Me-thoden – hoffentlich im Konsens hier im Hause – ent-wickelt werden müssen.Insofern wird der Solidarpakt 2 eben auch eine ge-samtgesellschaftliche Aufgabe für West wie für Ost sein,eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ohne Ideologien,ohne Illusionen und natürlich auch ohne Machttaktik. Sieist zum einen eine Herausforderung an den Westen, näm-lich noch einmal die Bereitschaft zu einem großen solida-rischen Werk zu zeigen, und sie ist zum anderen eineHerausforderung an den Osten, nämlich mit Realitätssinnund mit flexiblen Reaktionen auf die Situation bei uns beiden Forderungen und neuen Überlegungen zu diesem
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Förderprogramm, insbesondere im Bereich Wissenschaftund Forschung, Kooperationen, Innovationen usw., zureagieren.
Der Solidarpakt 2 – das ist vielleicht auch eine Mög-lichkeit, eine solche Rede abzuschließen – ist die Fort-führung und vielleicht sogar – das werden wir allerdingserst in zehn oder noch mehr Jahren wissen – die Voll-endung dessen, was mit der Wirtschafts-, Währungs- undSozialunion begonnen hat.
Auch aus diesem politischen Grund scheint er mir so nötigzu sein, wie die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunionzum 1. Juli 1990 nötig gewesen ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache und rufe den Zusatztagesordnungspunkt 14 auf:
Aktuelle Stunde
Auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.
Besserer Schutz der Bevölkerung – insbeson-
dere von Kindern – vor Angriffen von Kampf-
hunden
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die F.D.P.-
Fraktion hat der Kollege Dr. Guido Westerwelle.
Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren Kolleginnen undKollegen! Am vergangenen Montag ist in Hamburg einkleiner Junge auf eine bestialische Weise ums Leben ge-kommen. Dieser Vorfall war der bislang schlimmste in ei-ner lange Reihe von Zwischenfällen mit den so genanntenKampfhunden.Die Problematik, die mit dem Halten und mit derExistenz dieser Tiere verbunden ist, ist seit langem be-kannt. Es gab regelmäßig auch Ansätze, sich dieser Pro-blematik anzunehmen. Mittlerweile wissen wir nach die-sem tragischen Vorfall, dass diese Ansätze bislang nichtausgereicht haben.Deswegen möchten wir als Freie Demokraten mit die-ser Aktuellen Stunde auch einen Beitrag dazu leisten, dassin diesem Hause ein überparteilicher Konsens gegen dasHalten von Kampfhunden gefunden werden kann.Wir begrüßen ausdrücklich, dass der Bundesinnenmi-nister in dieser Frage tätig geworden ist.
Wir begrüßen ausdrücklich, dass die Landesinnenministermittlerweile tätig geworden sind. Das rechtliche Instru-mentarium des Bundesgesetzgebers ist vergleichsweisegeringer, wenn man es mit dem vergleicht, was auf Lan-desebene möglich ist.Weil schon seit vielen Jahren über diese Problematikdiskutiert wird, möchte ich mir erlauben, hier zu sagen: Esist bedauerlich, dass die Landesinnenminister erst jetztgehandelt haben. Es ist bedauerlich, dass der Bundesge-setzgeber überhaupt tätig werden muss. Aber es ist gut,dass er es jetzt tatsächlich tut.
Wir alle haben in diesen Tagen zahlreiche Zuschriftenund zahlreiche Anrufe von Mitbürgerinnen und Mitbür-gern bekommen, die große Angst haben. Aber es gab auchInterventionen von denjenigen, die Kampfhunde halten.Ich möchte Folgendes in großer Klarheit sagen: Es gibt injedem freiheitlichen Gemeinwesen Abwägungen, die manvornehmen muss. Es gibt die Freiheitsrechte der einen.Aber es gibt auch den Opferschutz und den Schutz vorGefährdungen der anderen.
Für uns hat die Gefährdung durch Kampfhunde eine sol-che Dimension erreicht, dass der Schutz vor Gefährdun-gen Vorrang haben muss.
Das überwiegt alle anderen Gesichtspunkte, auch wennsie noch so sehr auf Selbstverwirklichung ausgerichtetsind. Für die deutsche Politik – ich denke, ich darf das füralle sagen; ich glaube, alle werden das hier sagen – ist derSchutz der Bevölkerung wichtiger als die Freiheit einigerKampfhundebesitzer, sich weiterhin so verirrt wie bisherverhalten zu dürfen.
Es hat überhaupt nichts mit den Freiheitsrechten zu tun,wenn man sagt, man wolle auch künftig in einem freienLand eine Art Raubtier durch die Straßen führen dürfen.Der Begriff Kampfhund hat schon fast eine verharmlo-sende Bedeutung bekommen. Es handelt sich um Kampf-maschinen, um Tiere, die genetisch auf ein beson-ders aggressives Verhalten hin gezüchtet werden, dieschmerzunempfindlich gezüchtet werden und die keiner-lei Hemmschwellen haben. Menschen, die solche Kampf-hunde einsetzen wollen, haben augenscheinlich selberPersönlichkeitsprobleme.
Wir lassen nicht zu, dass ein solcher Wunsch auf Kostender Kinder, der Schwächeren und der gesamten Bevölke-rung geht. Das kann nicht akzeptiert werden. In Deutsch-land hat auch niemand das Recht, ein Raubtier wie zumBeispiel einen Löwen oder einen Tiger an der Leine überdie Straße zu führen. Ein Kampfhund ist mit Sicherheitähnlich gefährlich wie solche Raubtiere für ein sechs-jähriges oder siebenjähriges Kind. Um den Schutz derKinder geht es.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000
Dr. Mathias Schubert10618
Wenn man heute gelesen und in den Nachrichten ver-folgt hat, dass zahlreiche Kampfhunde ausgesetzt werden,dann kann man nur feststellen: Das ist eine Verirrung, diekaum noch nachvollzogen werden kann. Wir sind der Auf-fassung, dass die Behörden mit entsprechenden personel-len und sachlichen Mitteln ausgestattet werden müssen,damit das Verbot der Innenminister auch tatsächlichdurchgesetzt werden kann.
Es ist gut, dass sie ein solches Verbot durchsetzen wol-len, und zwar bundeseinheitlich. Das werden wir parla-mentarisch unterstützen. Es ist notwendig, dass die Län-der, also diejenigen, die das Verbot durchsetzen müssen,die entsprechenden Behörden auch so ausstatten, dass siedie Einhaltung des Verbots überwachen können.
Ich möchte nur noch einen Schlussappell an Sie, HerrBundesinnenminister, richten, nachdem es im Laufe die-ser Woche eine erhebliche politische Entwicklung gege-ben hat: Wir werden das Problem nicht loswerden, weilnach einem entsprechenden Verbot Kampfhunde insbe-sondere aus osteuropäischen Ländern illegal importiertwerden. Das ist eine traurige Erscheinung. Wir wissen,dass in anderen europäischen Ländern auch anders mitKampfhunden umgegangen wird, als wir es künftig inDeutschland tun werden. Deswegen wäre es sinnvoll,wenn sich der Bundesinnenminister mit seinen europä-ischen Kollegen abstimmen würde, damit wir der Gefahr,die von Kampfhunden ausgeht, im gesamten Europa be-gegnen können. Europa kümmert sich um vieles. Hier hates wirklich Grund, sich gegen Kampfhunde und für denSchutz der Bevölkerung einzusetzen.Ich hoffe sehr, dass wir mit der von uns beantragtenAktuellen Stunde zu einem Konsens in dieser Frage bei-tragen. Das ist der Sinn dieser Aktuellen Stunde. Wennwir einen Konsens erzielen könnten, wären wir in derLage, kurzfristig entsprechende gesetzliche Regelungen –sofern sie notwendig sein sollten – durchzusetzen.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt der
Innensenator der Freien und Hansestadt Hamburg,
Hartmuth Wrocklage.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
FrauPräsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Hamburg hatte die Arbeit an einer neuen Hundeverord-nung in Umsetzung des Beschlusses der Innenminister-konferenz von Anfang Mai, Herr Westerwelle, eine Be-schlussfassung zum Schutz der Bevölkerung vor gefähr-lichen Hunden, sehr weit vorangetrieben, als am Montagdieser Woche der sechsjährige Volkan beim Spielen aufdem Schulhof vor den Augen seiner Klassenkameradenvon zwei Kampfhunden angegriffen und getötet wurde.Hamburg trauert um diesen kleinen Jungen.Aber es gibt auch Zorn, Empörung und Betroffenheit.Ich habe das am Montag in Wilhelmsburg selber erlebt. Esist tragisch, dass die neue Hamburger Hundeverordnung,vom Senat am vorigen Mittwoch beschlossen, für denkleinen Volkan zu spät kommt. Es macht ihn auch nichtlebendig, dass der Hundehalter, der die noch im Mai er-teilten Auflagen – Maulkorberlass, Leinenzwang – in ver-antwortungsloser Weise ignoriert hat und jetzt unter demVerdacht fahrlässiger Tötung in Haft sitzt.Die neue Hamburger Regelung, jetzt wohl die schärfs-te in Deutschland, enthält folgende Eckpunkte: Als So-fortmaßnahmen gelten für alle in der Verordnung aufge-führten Hunderassen und -kreuzungen ein Maulkorb- undLeinenzwang. Drei Hunderassen und ihre Kreuzungengelten ab sofort und unwiderleglich als gefährlicheHunde, deren Haltung verboten ist. Die Möglichkeit zumNachweis eines so genannten berechtigten Interesses ander Haltung eines Hundes dieser drei Rassen ist wegendes Eingriffs in das Eigentum vorgesehen. Ein solches In-teresse wird in der Praxis aber kaum festgestellt werdenkönnen.Bei zehn weiteren Rassen wird die Gefährlichkeit ver-mutet. Halter dieser Rassen müssen innerhalb von fünfMonaten bei den Ordnungsbehörden folgende Nachweiseerbringen: ein berechtigtes Interesse an der Haltung vonKampfhunden, die eigene Sachkunde und die Zuverläs-sigkeit des Hundehalters, die konkrete Ungefährlichkeitdes Hundes, die erfolgte Sterilisation bzw. Kastration desHundes und eine Haftpflichtversicherung für den Hund.Erst wenn diese Nachweise erbracht sind, wird eine Er-laubnis zur Haltung des Hundes erteilt.Der Hund wird durch einen implantierten fälschungs-sicheren Chip gekennzeichnet. Ordnungsbehörden undPolizei erhalten entsprechende Lesegeräte für den Chip.Zucht, Ausbildung und Handel mit allen in der Verord-nung genannten Rassen sind verboten. Bei Verstoß gegendiese Regelungen drohen die sofortige Einziehung desHundes und gegebenenfalls seine Tötung. Außerdem dro-hen empfindliche Ordnungsstrafen für den Halter, die wirkünftig bis auf 100 000 DM hinaufsetzen wollen. Wirwerden unsere Steuergesetze erheblich verschärfen. DieSteuer für den Kampfhund wird spürbar heraufgesetzt undbeträgt künftig 1 200 DM im Jahr.Trotz dieser landesrechtlichen sehr strengen Regelun-gen sind wir jetzt auf eine bundesrechtliche Flankierungangewiesen. Hierbei geht es vor allem um ein strafbe-wehrtes Zucht- und Importverbot und um Regelungen aufder europäischen Ebene. Darin stimme ich Ihnen zu, HerrDr. Westerwelle. Ich möchte mich ausdrücklich bei mei-nem Kollegen, dem Bundesinnenminister Schily, bedan-ken, der diese Initiative mit uns zusammen vorangetrie-ben und in das Bundeskabinett eingebracht hat.
– Ich weiß nicht, ob Sie auch gleich noch klatschen.An dieser Stelle möchte ich aber auch ein Wort an jeneim Bund richten – ich spreche Herrn Dr. Westerwelle di-rekt an –, die in den letzten Tagen anklagend auf die Lan-desgesetzgeber verwiesen haben. Wäre der Schuljunge
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000
Dr. Guido Westerwelle10619
am Montag in Hamburg nicht von einem Kampfhund,sondern durch ein Butterflymesser getötet worden, dannkönnte die Freie und Hansestadt auf ihren entsprechendenGesetzentwurf zum Verbot gefährlicher Messer verwei-sen, der seit langem auf Bundesebene anhängig ist unddessen Beratung immer wieder verschoben wird.
Hier gibt es einen Beruf des Bundesgesetzgebers zur Ge-setzgebung. Eine Vorschaltregelung ist aus meiner Sichtdringend erforderlich.Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Erfolgder neuen Hundeverordnung wird in allen Ländern anihrem Vollzug gemessen werden. Deshalb müssen diezuständigen Behörden, Ordnungsämter und Polizei, dieneuen Verordnungen jetzt überall konsequent umsetzenund dabei eng zusammenarbeiten. Eine entsprechendeVerstärkung der Kapazitäten ist erforderlich.Wir brauchen jetzt auch eine stärkere Kooperation mitden Tierschutzorganisationen, wir brauchen die Einsichtund die Mithilfe der Bevölkerung und wir brauchen dieUnterstützung der Medien beim Kampf gegen Kampf-hunde.In diesen Tagen ist die Stimmung in weiten Teilen derÖffentlichkeit sehr eindeutig: weg mit den Kampfhunden!Aber wir müssen uns klar machen, dass nicht wenigeHundehalter den Rechtsweg beschreiten werden. Das be-deutet, dass es in manchen Fällen schnelle Lösungen nichtgeben wird. Eine große Zahl von Hunden wird eingezo-gen und eingeschläfert werden müssen. Das wird nichteinfach sein, auch nicht in der öffentlichen Vermittlung.Wir alle kennen aus der Vergangenheit entsprechende Trä-nendrüsenkampagnen der einschlägigen Medien.In dieser Woche ist die Stimmung in Gesellschaft undPolitik eindeutig, aber in den kommenden Wochen kanndiese Stimmung durchaus umschlagen. Wir dürfen unsaber auch dann, meine Damen und Herren, nicht beirrenlassen.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Wolfgang Bosbach.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Kampfhunde müs-sen weg, runter von unseren Straßen, Schulhöfen undSpielplätzen, raus aus den Parks und anderen öffentlichenAnlagen, raus aus den öffentlichen Verkehrsmitteln. Esgeht nicht darum, ob jeder einzelne Hund einer jedenRasse, über die wir heute sprechen, ein besonders gefähr-liches Tier ist oder nicht, sondern es geht schlicht und er-greifend darum, dass es nun einmal ganz bestimmte Hun-derassen gibt, die noch gefährlicher sind als andere. Diegefährlichsten müssen im wahrsten Sinne des Wortes ausdem Verkehr gezogen werden, und zwar sofort, flächen-deckend und auf Dauer.
Wir brauchen unter anderem ein Verbot der Züchtung,der Kreuzung, ein Importverbot, ein Verbot des gewerbli-chen Handels mit diesen Tieren sowie spürbare Strafenfür Verstöße gegen diese Verbote. Daneben brauchen wirstrengere Kontrollen, ob die Vorschriften, die Auflagentatsächlich eingehalten werden. Denn was nützt ein Gebotoder Verbot, wenn wirksame Kontrollen und Sanktionenfehlen?! Alle anderen begleitenden Überlegungen wieAnlein- und Maulkorbzwang, höhere Hundesteuern fürbestimmte Rassen mögen sinnvoll sein, sind jedoch fürsich allein genommen unter keinem Gesichtspunkt einewirksame Maßnahme.Es muss unser gemeinsames Anliegen sein, dass be-stimmte Rassen zumindest mittelfristig von der Bild-fläche verschwinden, wie es in Frankreich und Dänemarkgeschehen ist. Diese Kampfhunde sind ungesicherte Waf-fen auf vier Pfoten, unberechenbar und in vielen Fällenvon ihrem Halter auch nicht zu beherrschen. Sie sind einetödliche Gefahr.Bitte jetzt kein Mitleid an der falschen Stelle, getreudem Motto: Nicht das Tier, sondern der Mensch ist dasProblem! Unser Mitgefühl muss dem toten Jungen undseinen Eltern gehören und nicht dem Besitzer des Hundes.Es mag ja durchaus sein, dass sich in vielen Fällen das ei-gentliche Problem am anderen Ende der Leine auf zweiBeinen befindet, aber dieser Gedanke hilft uns nicht wei-ter und löst kein Problem.Eine derartige Argumentation erinnert an die amerika-nische Waffenlobby, die ja auch regelmäßig verkündet,dass Schusswaffen nicht als solche gefährlich seien, son-dern erst dann, wenn sie in die falschen Hände gerieten.
Aus guten Gründen haben wir uns dieser Argumentationnie angeschlossen. Bei uns ist das Tragen von Schusswaf-fen grundsätzlich verboten,
weil viel zu gefährlich, und nicht etwa deshalb erlaubt,weil man nicht nur mit diesen Waffen, sondern beispiels-weise auch mit einem Messer töten könnte.Kurzum: Es geht in der heutigen Debatte und im Grund-sätzlichen nicht um Tierschutz, sondern um Menschen-schutz.
Es ist nicht länger hinnehmbar, dass Menschen – und hiervor allem Kinder – in Angst und Schrecken versetzt, ver-letzt oder gar getötet werden, nur weil einige – ich betone:einige – Hundehalter nicht mehr alle Latten am Zaun ha-ben. Was muss eigentlich noch passieren, damit sich end-lich überall die Erkenntnis durchsetzt, dass es so nichtweitergehen kann? Spätestens nach dem tragischen Vor-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000
Senator Hartmuth Wrocklage
10620
fall in Hamburg muss jeder wissen, dass Umdenken drin-gend nötig ist. Das Gegenteil ist der Fall. Ich zitiere ausder „Berliner Zeitung“ von gestern:Einen Maulkorbzwang für Kampfhunde lehntHeike I. ab. „Ein Maulkorb erzeugt bei den TierenFrustration und Aggression. Das macht sie gefähr-lich.“ Ihren eigenen beiden Kampfhunden, einemStafford-Mischling und einem American Stafford,will die Tierheimmitarbeiterin jedenfalls keinenMaulkorb anlegen. „Wenn ich kontrolliert werde, be-haupte ich einfach, dass es sich bei ihnen um einenJagdhund und um einen Boxermischling handelt.Wer will das überprüfen?“Das, meine Damen und Herren, ist genau die Denke,die sofortiges und konsequentes Handeln notwendigmacht. Es geht nicht um eine Diskriminierung von Hun-derassen – was immer das sein mag – oder um eine Kri-minalisierung von Hundehaltern – ein völlig abwegigerGedanke –, sondern ausschließlich um einen wirksamenund dauerhaften Schutz unserer Mitbürger vor Gefahren,um den Schutz von Rechtsgütern, die wichtiger sind alsder merkwürdige Wunsch eines Hundehalters, sein Lebenmit einem Pitbull, einem Tosa-Inu oder einem Mastiff zuteilen. Für die Jungs aus dem Rotlichtmilieu mag es einAlbtraum sein, statt mit einem Bullterrier mit einem Pu-del über die Reeperbahn zu laufen. Für mich ist das keinAlbtraum und für die Bevölkerung wäre es ein Segen.
Wir brauchen jetzt keine langen Debatten und keinezähen Verhandlungen über die Frage, ob man nicht dieeine oder andere Rasse als „besonders gefährlich“ oderlieber nur als „normal gefährlich“ einstufen sollte odernicht. Wir brauchen jetzt rasche und klare Entscheidun-gen. Die vielfach geäußerte Kritik, dass die Politik und diezuständigen Behörden mit den längst überfälligen Ent-scheidungen zu lange gewartet hätten, dürfen wir nichteinfach mit einem Schulterzucken, mit dem Hinweis aufkomplizierte Zuständigkeitsregelungen, die es ja in derTat gibt, oder mit dem Hinweis auf die einschlägigeRechtsprechung abtun. Die Kritik ist berechtigt. Die„Süddeutsche Zeitung“ hat mit der in einem Kommentargestellten Frage „Warum erst jetzt?“ völlig Recht.Treffen wir wenigstens jetzt so schnell wie möglich dienotwendigen Entscheidungen! Die Union wird die Regie-rung in diesem Vorhaben gerne und aus Überzeugung un-terstützen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege Cem
Özdemir.
FrauPräsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist bedauer-lich, dass es so lange gebraucht hat, bis Maßnahmen er-griffen werden können, die überfällig waren. Hätten dieLänder, die Parteien und die Politiker früher reagiert,wären dem einen oder anderen Verletzungen erspart ge-blieben, die ihn ein Leben lang entstellen werden, würdeder kleine Volkan vielleicht heute noch leben und anderenwären Angst und Schrecken, die sie in den letzten Jahrenbegleiteten, erspart geblieben. Insofern ist es gut, dass wiruns heute mit der Problematik Kampfhunde beschäftigen.Ich glaube aber, dass wir damit früher hätten anfangenmüssen. Diese Selbstkritik steht uns allen gut zu Gesicht.Ich möchte hier auch noch einmal die Länder anspre-chen. Ich finde es gut, dass die Bayern vorangegangensind und die Hamburger jetzt mit einem Maßnahmenpa-ket, bei dem man nichts mehr ergänzen kann, auf diesesProblem aufmerksam machen. Die anderen Länder soll-ten aber wenigstens in der Lage sein, bei diesen beidenLändern abzuschreiben. Das kann man – bei allem Res-pekt vor dem Föderalismus – durchaus einfordern. Ab-schreiben muss möglich sein. Bitte setzen Sie die Rege-lungen, die die Bayern und Hamburger gefunden haben,um! Dabei handelt es sich um Regelungen, denen man imGrunde genommen nichts mehr hinzufügen muss. Inso-fern sage ich: Guten Morgen, liebe Länder! Jetzt ist esZeit, dieses umzusetzen.Meine Fraktion hat bereits vor zehn Jahren einen An-trag eingebracht, in dem sie ein Kampfhundeverbot ge-fordert hat. Hätte man diesen Antrag damals angenom-men, dann hätten viele Kinder keine psychischen Schä-den, die dadurch entstanden sind, dass sie Angst vordiesen Hunden hatten, wenn sie sie in der Fußgängerzonesahen, davongetragen und hätten Jogger keine Angst ha-ben müssen, im Tiergarten zu joggen. Das alles wäre unserspart geblieben. Ich finde es absurd, dass wir mittler-weile eine Situation haben, in der sich Eltern darüber Ge-danken machen müssen, wie sie ihre Kinder auf Kampf-hunde vorbereiten. Umgekehrt würde viel eher ein Schuhdaraus: Wir wollen keine Kinder dressieren, sondern wirwollen, dass diese Hunde aus dem Stadtbild und aus un-serem Land verschwinden. Ich sehe keinen Grund – undmir wurde bisher auch noch kein Grund genannt –, wofürman Kampfhunde benötigt. Ich bin mir sicher, dass wiruns alle darüber einig sind, dass diese Tiere der Vergan-genheit angehören müssen.
Ich will aber auch nicht so tun, als ob wir die Einzigensind, die sich mit diesem Thema beschäftigt haben. Nein,meine Damen und Herren, auch die viertgrößte Fraktiondes Hauses, die F.D.P., hat sich nicht erst im Rahmen die-ser Aktuellen Stunde mit diesem Thema beschäftigt, HerrKollege Westerwelle, sondern auch früher schon einmal.Ich möchte aus einer sehr bemerkenswerten Erklärungvom 4. Mai 2000 zitieren. Dort wird beispielsweise ge-sagt: „Verbot von Kampfhunden wirkungslos – Leinen-zwang in der Fußgängerzone“. Angesichts der Forderungder Umweltministerin von Nordrhein-Westfalen, FrauBärbel Höhn, nach einem Verbot von Kampfhunderas-sen – man sieht, dieses Verbot war auch vorher schon imGespräch – erklärte dieselbe Abgeordnete von der F.D.P.:„keine Ausrottung von Hunderassen“.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000
Wolfgang Bosbach10621
Es wäre schon ganz gut gewesen, Herr Westerwelle,wenn Sie sich auch dazu geäußert hätten. Es wäre gut ge-wesen, Sie hätten das eine oder andere Wort dazu gefun-den, dass es Ihre Fraktion war, die sich vor nicht allzulanger Zeit genau gegen das ausgesprochen hat, was heuteder Innenminister vorschlägt, was einige der Länderschon gemacht haben und was überfällig ist. Die Kampf-hunde müssen weg. Wir brauchen kein falsches Verständ-nis für Kampfhunde oder für ihre Halter. Die Kinder undihre Eltern müssen sich auf den Spielplätzen sicherfühlen. Sicherheit ist jetzt angesagt.Ich möchte noch auf einen anderen Punkt eingehen.Die Forderung nach hohen Steuern ist nicht sinnvoll, dasich Zuhälter mit dickem Geldbeutel diese staatlich aner-kannten Luxusköter leisten können. Der Charakter einesHalters hängt nicht von seinem Geldbeutel ab. Das Dre-hen an der Steuerschraube ist nicht die Lösung des Pro-blems. Wir müssen andere Lösungen finden. Über einenMaßnahmen-Mix wurde ja schon gesprochen.Auch die Reaktion der Versicherungswirtschaft hatmich sehr geärgert. Der Verband hat sich gegen eine Haft-pflichtversicherung ausgesprochen. Es handelt sich mei-ner Meinung nach um ein unterentwickeltes Verantwor-tungsbewusstsein, das hier deutlich wird. Wenn schon dieschlimmsten Verletzungen, die Menschen davon getragenhaben, nicht rückgängig zu machen sind, dann müssenwenigstens die Angehörigen einen Anspruch darauf ha-ben, schnell, unkompliziert und unbürokratisch Schmer-zensgeld zu erhalten. Daher mein Appell an die Versiche-rungswirtschaft, ihre Haltung zu überdenken.Der Streit – Herr Kollege Bosbach hat schon zu Rechtdarauf hingewiesen – angesichts der Frage „Was ist ge-fährlicher: die Hunde oder die Hundebesitzer?“ ist einStreit, den wir uns nicht mehr leisten können. Wir müssenauf beiden Seiten gleichzeitig ansetzen. Neben bestimm-ten Hunderassen, die wir nicht mehr dulden wollen, müs-sen wir uns auch die Hundebesitzer anschauen. In diesemZusammenhang ist es sinnvoll, eine Art Hundeführer-schein einzuführen. Bestimmte Menschen sind nämlichschlicht und ergreifend charakterlich überfordert, be-stimmte Hunde zu halten. Wir müssen durchsetzen, dasssolche Menschen, die offensichtlich eine charakterlicheSymbiose mit ihrem Hund eingehen, solche Hunde zu-künftig nicht mehr ihr Eigen nennen dürfen.
Zum Schluss: Das Waffenrecht regelt bereits heute dieBerechtigung für den Besitz beispielsweise eines Luftge-wehrs oder eines Maschinengewehrs. Der Gradmesser isteine mögliche Gefährdung, ein möglicher Schaden odergar eine Kriegstauglichkeit. Ein „randalierender“ Dackelkann – auch wenn er will – gar nicht so große Schäden an-richten wie beispielsweise ein Pitbull im Blutrausch. Wirmüssen daher jetzt bei den besonders gefährlichen Tierenansetzen. Die Maßnahmen liegen auf dem Tisch. Es wirdZeit, dass wir handeln.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für die PDS-
Fraktion hat der Kollege Dr. Gregor Gysi.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Es gilt zu unterbinden – und zwarstrikt –, dass Kampfhunde verletzen und töten. Natürlichgibt es Millionen Hundehalter, die sich sehr verant-wortungsbewusst verhalten und die das Verhältnis vonMensch und Hund auf eine, wie ich finde, über Jahrhun-derte – und auch in den letzten Jahrzehnten – sehr ver-nünftige Weise gestaltet haben. Wenn sie wollen, dass die-ser Ruf erhalten bleibt, dann sollten sie uns eindeutig un-terstützen und sich nicht gegen uns stellen, wenn es darumgeht, das Wirken von Kampfhunden zu unterbinden. Siesollten dies tun, gerade um nicht mit denen auf eine Stufegestellt zu werden, die sich nicht verantwortungsbewusstverhalten.Ich erinnere an einen Vorfall in Berlin, bei dem wir zuwenig aufgeschrien haben. Als der Berliner Senat und dasAbgeordnetenhaus vorhatten, Maßnahmen gegen Kampf-hunde einzuleiten, planten Hundehalter eine Demonstra-tion mit Hunden und einem Judenstern daran. Das warempörend und skandalös. Dazu hätten wir damals ganzdeutlich Stellung nehmen müssen.
Ich sage aber auch: Rasseverbot ist zu wenig. Ichwerde dazu noch etwas sagen. Zunächst einmal zu demRuf nach Strafgesetzen.Im Grunde genommen geht es gar nicht um Strafge-setze. Wir haben schon den Mordparagraphen, den Tot-schlagparagraphen, die Paragraphen gegen schwere, ein-fache und fahrlässige Körperverletzung sowie gegen fahr-lässige Tötung. All diese Paragraphen können je nachEinzelfall Anwendung finden.Worum es allerdings geht, sind das Verbot einer Zuchtvon Kampfhunden, einer Abrichtung von Hunden zuKampfhunden und einer entsprechenden Haltung sowieentsprechende Importverbote und Handelsverbote. Wennman solche Verbote erlässt, muss die Verletzung einessolchen Verbotes natürlich auch unter Strafe gestellt wer-den, damit es überhaupt eine entsprechende Bedeutungerlangt.In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dassKampfhunde zunächst einmal keine „Erfindung“ von Pri-vatbesitzern sind, sondern in der Geschichte durchausauch vom Staat, von der Polizei häufig auf solche „Mit-tel“ zurückgegriffen worden ist, sich das Ganze dann ir-gendwann privatisiert hat
– völlig richtig, das habe ich doch gar nicht bestritten –und daraus jetzt ein völlig unkontrollierter Vorgang ge-worden ist, den es zu unterbinden gilt. Nur, im Kern müs-sen wir sehen, dass es schon früher Initiativen gab, auf dievöllig unzureichend zurückgegriffen wurde. Die Tier-schutzverbände fordern schon seit zehn Jahren ein Heim-tierzuchtgesetz. Aber es ist nichts passiert. Mit dem
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000
Cem Özdemir10622
Gesetz sollten die Lücken hinsichtlich Zucht, Haltung,Import und Handel mit Hunden geschlossen werden. Essollte auch ein Kastrationsgebot für Hunde geben, derenHalter über keine Zuchtgenehmigung verfügen. Eine sol-che Zucht muss ohnehin verboten werden.Notwendig sind auch eine Registrierungs- und Chip-pflicht sowie eine Haftpflichtversicherung. Darauf wurdeschon mehrfach hingewiesen.Über die Gefahr aggressiv gezüchteter Hunde wirdnicht erst seit gestern diskutiert. Immer wieder wurdenMenschen angegriffen. Es geht darum, zu verhindern,dass jetzt, in dieser aufgeputschten Situation, die Hunde-halter ihre Kampfhunde einfach auf der Strasse absetzen,bei Tierheimen abgeben, die völlig überfordert sind, dasProblem also einfach von sich weg in eine unbekannte Zu-kunft delegieren. Auch das ist nicht hinnehmbar. Das willich ganz deutlich sagen.Die PDS hat im Berliner Abgeordnetenhaus einen An-trag eingebracht, bei dem es um eine Bundesratsinitiativeging, schnellstmöglich einen Hundeführerschein für dasHalten und Führen von Hunden bestimmter Kategorieneinzuführen. Wir glauben, dass das wirklich zwingend er-forderlich ist. Auch andere Dinge sind mit hoher Verant-wortung verbunden. Ich nenne einmal das Auto – wir las-sen ja auch nicht jeden einfach so fahren –, das man sehrverantwortungsbewusst benutzen oder aber auch zu einerKampfmaschine machen kann. Das hängt in der Regelvom Fahrer ab. Das eigentliche Problem ist also nicht derHund, sondern der Halter. Welches Statussymbol will erhaben? Wogegen will er sich angeblich verteidigen oderwomit will er versuchen, eigene Schwäche zu korrigierenund Aggressivität nach außen und eine Stärke auszustrah-len, die er selbst nicht besitzt? Hier geht es um menschli-che Verhaltensweisen in negativer Hinsicht, die deutlichzugenommen haben.Deshalb genügt es nicht, allein über Hunde zu disku-tieren, sondern wir müssen uns auch über die Halter Ge-danken machen, über eine bestimmte Gruppe von Hal-tern, über eine bestimmte Aggressivität, die in unsererGesellschaft generell zugenommen hat, die sich jetzt aucham Umgang mit Hunden zeigt. Wenn wir nicht versu-chen, die gesellschaftspolitischen Probleme, die dahinterstecken, aufzuklären und wirksam zu bekämpfen, werdenwir in dieser Frage nicht weiter kommen. Heute ist es derHund, morgen kann es ein anderes Tier oder ein anderesInstrument sein. Also müssen wir etwas tiefer gehen, alsdas in den vergangenen Tagen der Fall war.
Wir sind übrigens auch für einen Sachkundenachweis.Das scheint uns dringend erforderlich zu sein, denn häu-fig werden solche Hunde auch unter Verletzung des Tier-schutzrechtes gezüchtet und gehalten. Sie werden ja erstscharf gemacht, indem sie partiell gequält werden. Auchdas muss man sehen. Auch dagegen muss verstärkt etwasunternommen werden.Lassen Sie uns also zügig handeln, konsequent han-deln, aber auch mit Besonnenheit handeln. Lassen Sie unsnicht von vornherein bestimmte Rassen von einer Rege-lung ausnehmen. Ich sage hier ganz deutlich: Auch derDeutsche Schäferhund kann ein Kampfhund sein. Wirsollten nicht aus irgendwelchen nationalen oder histori-schen oder kulturellen Gefühlen diese Rasse ausnehmen,sondern sagen: Bei allen Hunderassen, die sich dazu eig-nen – einschließlich Mischlingen –, muss das Gesetz grei-fen. Hier muss es Verbote geben, hier muss es bestimmteZwänge bei der Haltung und bei der Zucht geben. Es mussauch Kontrollen geben. Die Stellen, die die Kontrollendurchführen sollen, wie übrigens auch in Hamburg hin-sichtlich des Maulkorbzwanges etc., sind so armselig be-setzt, dass sich auch hier etwas ändern muss. Es nützt unsnämlich nichts, Verbote auszusprechen, wenn wir nachherüberhaupt nicht in der Lage sind, deren Einhaltung auchnur annähernd zu kontrollieren. Auch das muss neu undklar geregelt werden.
Wenn wir in dieser Hinsicht besonnen, aber auch sehrzügig und sehr konsequent vorgehen, dann könnten wirdieses Problem lösen. Wir sollten dabei aber nie verges-sen: Es geht letztlich um die Aggressivität von Menschenund deshalb um die Frage, wie wir die Aggressivität in un-serer Gesellschaft abbauen können.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Rolf Stöckel von der SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren! Wir haben alle das Bild vom toten Volkan vorAugen. Dieses Bild hat die gesamte Republik erschüttert,weil die Medien es vervielfältigt haben. Es hat die Kinderin dieser Republik traumatisiert. Wie viele Eltern – daschließe ich mich ausdrücklich ein – haben sich gefragt:Was wäre, wenn meinen Kindern so etwas Schrecklichespassiert wäre?Viel schlimmer: Wir wissen alle – es ist auch schon ge-sagt worden –, dass es in den letzten zehn Jahren zu Tau-senden solcher grausamer Unglücksfälle gekommen ist,mit schwersten Verletzungen, Verstümmelungen und im-mer wieder mit Todesfolge. Allein in Berlin wurden jähr-lich circa 1 800 Hundebisse von der Statistik erfasst. Wirwissen, dass Kinder davon überproportional betroffensind; das gilt auch für alte Menschen.Mit Recht fragen wir uns also alle, warum das nichtverhindert werden kann, warum die Politik und die Behör-den nach zehn Jahren zunehmender Zwischenfälle undDiskussionen und nach mehrmaligen Verschärfungen derBestimmungen es nicht vermocht haben, diese unheil-volle Entwicklung zu unterbinden. Ich meine, die Men-schen erwarten seit langer Zeit zu Recht, dass die Politikauf diesem Feld ihre Handlungsfähigkeit und auch ihrekurzfristige Durchschlagskraft unter Beweis stellt.Warum ist es in unserem Land nicht möglich, ein Kampf-hundeverbot, wie es etwa in Frankreich seit zehn Jahrenexistiert, durchzusetzen?
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000
Dr. Gregor Gysi10623
Natürlich müssen sich alle fragen und fragen lassen, obsie ihrer Verantwortung in diesem Punkt gerechtgewordensind oder ob die Verantwortung nur nach ganz unten ver-schoben wurde. Wie lange werden Betroffenheit und Em-pörung diesmal andauern? Wie lange werden der hekti-sche Aktivismus und der Verdacht rein populistischer Re-aktion diesmal anhalten? Oder wird sich wirklich spürbaretwas ändern?Was lässt denn das Problem mit aggressiven, bissigenHunden spezieller Züchtungen immer unerträglicher wer-den? Sind es die unterbesetzten, inkonsequenten Ord-nungsbehörden vor Ort, die mehr oder weniger ausrei-chende Länderverordnungen zum Leinen- und Maulkorb-zwang nicht durchsetzen und deren Nichteinhaltung nichtsanktionieren können? Sind es die Interessen der hiesigenZüchterlobby, ein unkontrollierbarer Schwarzmarkt? Ichnenne hier besonders die ehemaligen Ostblockländer. Istes ein Bedarf, der vom kriminellen Milieu ausgeht, odersind es minderwertigkeitskomplexbeladene, aggressiveoder auch sicherheitsfanatische Zeitgenossen in sozialenBrennpunkten, die über angedrohte Ordnungsstrafen nurmüde lächeln? Das alles ist angesprochen worden.Aber vielleicht ist es auch die – nicht nur den Deut-schen anhängende, das muss man hier sagen – Tierliebe,die den liebevollen Gefährten Hund, das kinderliebe Fa-milienmitglied nicht von pervers gezüchteten und gehal-tenen Bestien unterscheiden kann. – Erinnern wir uns: InDeutschland gab es immer eine Vorschrift für die Min-destgröße von Schäferhundezwingern, aber leider keinefür die Mindestgröße von Kinderzimmern. – Es ist wohleine Mischung aus allem.Wie krank ist eine Gesellschaft eigentlich, die die Frei-heit der Killerhundehaltung, egal, ob durch angeblich zuautorisierende Villenbesitzer oder labile Machos, überden Schutz und die körperliche Unversehrtheit von Men-schen, insbesondere von Kindern, im öffentlichen Raumstellt, darüber, sich frei von Angst vor aggressiven Hun-den in seiner Stadt bewegen zu können? Es ist richtig: DerStaat soll und kann nicht jedes Lebensrisiko, auch nichtfür Kinder, im Keim ersticken. Das wäre kein men-schenwürdiges Leben, in dem Kinder Erfahrungen ma-chen und sich zu selbstverantwortlichen Persönlichkeitenentwickeln sollten.Aber da sagt in diesen Tagen ein Landespolitiker, Kin-der sollten sich – und Eltern sollten sie dazu anhalten – beiGefahr entsprechend ruhig verhalten, nicht schreien undweglaufen, wenn ein aggressiver Hund auf sie zukommt;es sei ja nicht artgerecht, wenn Hunde grundsätzlich ander Leine oder mit Maulkorb laufen müssten. Ich frageuns alle: Wo leben wir eigentlich?
Ist nicht wenigstens der vertretbare und realisierbare Kin-derschutz in einer zivilisierten Gesellschaft durch denStaat zu organisieren? Oder sehe ich das falsch – und dieHaltung von Killerhunden ist unverzichtbarer Teil dernatürlichen Vielfalt, der Lebensqualität, der Freiheit desEinzelnen, die im Bedarfsfall sogar mit „Hundefutter aufSozialhilfe“ gefördert wird? Sind Kinder selbst schuld,wenn sie lebhaft sind, fangen spielen, laufen, springenund schreien und deshalb wie ein weglaufendes Kanin-chen den Jagdinstinkt und die Blutrünstigkeit der Killer-hunde auslösen?Ich meine, wir müssen den immer wieder beschwore-nen Auftrag ernst nehmen, Deutschland kinder- und fami-lienfreundlicher zu machen. Als Kinderbeauftragter derSPD-Fraktion – ich glaube, dass ich hier weitgehend auchfür die Kollegen der Kinderkommission spreche – frageich Sie ernsthaft, warum es diese von Menschen gezüch-teten und immer wieder unverantwortlich gehaltenenBestien überhaupt unter uns geben muss. Wir wissen, dassalle bisherigen Maßnahmen und Sanktionen, wahrschein-lich auch die jetzt diskutierten, weder konsequent nochbundesweit durchführbar sind und deshalb auch zukünf-tig die schlimmsten Angriffe, gerade auf Kinder, nichtverhindert werden können.Daher kann es nach meiner Abwägung nur eine Kon-sequenz geben – ich begrüße, dass Herr Westerwelle undandere Kollegen um einen Konsens gebeten haben –: dasstrafbewehrte bundesgesetzliche Verbot der Einfuhr,Züchtung und Haltung der als potenziell gefährlich ein-gestuften Hunderassen und aggressiv gezüchteten Hundeals zivilisationsfeindliche Produkte menschlicher Verir-rung. Wenn wir uns in diesem Hause dazu durchringenkönnten, dann wäre der grausame Tod des kleinen VolkanKaya am Montag dieser Woche nicht ganz sinnlos ge-wesen.Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner für
die Fraktion der CDU/CSU ist der Kollege Dr. Hans-Peter
Uhl.
Frau Präsidentin!Meine verehrten Damen und Herren! Jetzt, nachdem et-was passiert ist, haben es alle gewusst und sind sich alledarin einig, dass etwas geschehen muss. Doch, HerrInnensenator Wrocklage, noch vor einer Woche wäre esfür einen Menschen problemlos möglich gewesen, mit ei-nem römischen Kampfhund, mit einem Mastino Napole-tano, durch die Hamburger Innenstadt zu gehen. Die Po-lizei wäre nicht eingeschritten. Wäre derselbe Mensch miteinem Löwen durch die Hamburger Innenstadt gegangen,wäre die Polizei – mit Recht – natürlich sofort einge-schritten. Das kann nicht richtig sein; auch KollegeWesterwelle hat das schon festgestellt. Jetzt wollen alleganz schnell handeln.Im Innenausschuss haben der Kollege Wiefelspütz undStaatssekretär Körper richtiger- und dankenswerterweisegesagt, man müsse in diesem Zusammenhang von Bayernlernen. Es hat sich in der Tat leider wieder einmal be-wahrheitet, dass in Bayern beim Thema Sicherheit undOrdnung, also auch in diesem Lebensbereich, die Uhrenanders gehen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000
Rolf Stöckel10624
Ich muss einen weiteren Punkt hinzufügen: Eigentlichmüsste es heißen: von München lernen. Denn es war IhrParteifreund, Herr Westerwelle, und mein damaligerStadtratskollege Hildebrecht Braun, der Ende der 80er-Jahre gesagt hat, man müsse etwas gegen Kampfhunde inder Großstadt München tun. Daraufhin waren sich imKreisverwaltungsausschuss alle einig, dass etwas ge-schehen müsse. Das erfolgte dann auch 1990 und 1991.Daraus entstand die jetzt von allen gelobte bayerischeKampfhundeverordnung.Was lernen die Kommunalpolitiker aus allen Parteiendaraus? In den großen Kommunen tauchen die Problemeals Erstes auf. Hier werden die erforderlichen Regelungengeboren. In Bayern gibt es seither das Verbot der Zuchtund Kreuzung solcher Hunderassen und, was noch wich-tiger ist, das Scharfmachen und die Aggressionsdressurbedürfen einer besonderen Erlaubnis. Diese Erlaubniswird in aller Regel nicht erteilt. Denn es muss ein berech-tigtes Interesse vorliegen, einen solchen Hund zu besit-zen. Dazu ist eine Bedürfnisprüfung erforderlich. Dasheißt, wir gehen mit diesem Problem so um, als sei derKampfhund eine Waffe. Das ist der einzig richtige Um-gang mit diesem Thema.
Nun liegt ja ein entsprechender Beschluss der Innen-ministerkonferenz vor und jetzt will man auch in Ham-burg, Herr Wrocklage, ganz schnell handeln. Ich finde esschon empörend, dass Sie hier nichts, aber auch gar nichtsüber das sagen, was Sie im Jahre 1993, nachdem Sie vordem Verwaltungsgericht Hamburg mit Ihrer ursprüngli-chen Vorlage gescheitert sind,
und was Sie in den Jahren 1994, 1995, 1996, 1997, 1998und 1999 nicht getan haben, aber hätten tun sollen. Washaben Sie in den letzten sieben Jahren getan? Dass Siejetzt, vor allem nach dem Tod des Kindes, ganz schnell et-was tun, das ist selbstverständlich. Sie wären ja töricht,wenn Sie jetzt nichts täten. Bisher aber hat es am politi-schen Durchsetzungswillen gefehlt. Man wollte die Ham-burger Bevölkerung nicht so schützen, wie es sich gehörtund wie wir das in Bayern tun.Warum, Herr Özdemir, verschweigen Sie, dass dieHamburger Grünen es noch im Mai dieses Jahres, also vordem Unglück, abgelehnt haben, die bestehende Hambur-ger Verordnung zu verschärfen?
Das hätten Sie ehrlichkeitshalber hinzufügen sollen, stattdie F.D.P. anzugreifen. Nein, wir fordern ein bundes- undeuropaweites Handels- und Zuchtverbot sowie ein Im-portverbot von Kampfhunden; das wurde schon ange-sprochen.Was mir als Praktiker, nachdem ich elf Jahre für denVollzug zuständig war, wichtig ist, ist Folgendes:Was nützen die besten Gesetze, wenn sie nicht konsequentvollzogen werden?
Wenn es stimmt, was in der Presse steht, dann ging esbei dem Fall in Hamburg um einen 23-jährigen Hunde-halter, der wegen mindestens 18 einschlägiger Delikte po-lizeibekannt war: Raub, Erpressung und Körperverlet-zung sind Delikte, die man typischerweise mit Waffen be-geht, sei es mit einer Schusswaffe, sei es mit einemKampfhund. Dieser Hundehalter hat einen Brief von derOrdnungsbehörde bekommen – welch mächtiges Ein-schreiten! –, in dem ein Leinen- und Maulkorbzwang ver-fügt wurde. Man wusste aber, dass er auch dagegen ver-stieß.Angesichts dessen, meine Damen und Herren, brauchtman gar keine Kampfhundeverordnung – auch in Ham-burg nicht. Das ist eine Frage des unmittelbaren Vollzugs.Weil da Gefahr im Verzug ist, fährt die Polizei hin undnimmt dem Kerl die Hunde heute noch weg. So geht mandamit um; dazu braucht man keine zusätzliche Verord-nung. Das ist allgemeine Gefahrenabwehr, die auch fürHamburg gilt.
Mit einem betrunkenen Autofahrer führen Sie auch kei-nen Rechtsstreit, sondern nehmen ihm den Führerscheinund den Zündschlüssel weg. Wenn Sie erfahren, dass einWaffenbesitzer geisteskrank geworden ist, dann fahrenSie sofort hin und nehmen ihm die Schusswaffe weg. Dawird doch nicht lange korrespondiert. Dies weiß jederVollzugsbeamter, dem dieses Thema ernst ist.In Hamburg hat man die Dinge schleifen lassen. Denletzten Beweis dafür lieferte die Sozialsenatorin Roth, alssie noch vor zwei Monaten sagte:Wir können nicht hinter jeden Hund einen Polizistenstellen. Aber wir werden mit den Bezirken reden,dass sie künftig den Bußgeldrahmen besser aus-schöpfen.Mehr fällt der Dame nicht ein! Herr Wrocklage, warum isteine Sozialsenatorin bei Ihnen überhaupt für Kampfhundezuständig? Daran sieht man doch auch schon, dass mandas Problem in Hamburg in den letzten Jahren nicht rich-tig behandelt hat.Ich komme zum Schluss. Wir brauchen zwei Dinge:erstens schärfere Gesetze. Hier hat Herr Özdemir Recht.Schreiben Sie das bayerische Gesetz ab! Das wird ja nochmöglich sein. Es wird wohl auch gerichtsfest sein. Nochwichtiger ist zweitens ein konsequenter Vollzug, damit soetwas wie das entsetzliche Unglück von Hamburg keinzweites Mal passiert.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Rednerin istdie Kollegin Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000
Dr. Hans-Peter Uhl10625
Sehr
geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Her-
ren! In den Reden wurde eben der kleine Volkan erwähnt.
Ich möchte an dieser Stelle seinen Eltern unser Beileid
und unser tiefes Mitgefühl aussprechen. Ich habe eben-
falls drei Kinder und fühle mich sehr betroffen.
Die Bundesregierung tritt für den Schutz von Kindern
vor Unfällen, vor Missbrauch und auch vor gefährlichen
Hunden ein. Wir begrüßen es ganz außerordentlich, dass
sich jetzt bundeseinheitliche Maßnahmen und Vorgehens-
weisen durchsetzen, wie es die Grünen auch gefordert ha-
ben.
Lassen Sie mich auf den neuen Maßnahmenkatalog
weiter eingehen, zunächst auf das Zuchtverbot für
Kampfhunde, das von einigen Rednern bereits erwähnt
wurde. Diese Regelung bedarf einer Konkretisierung, ei-
ner Ausweitung auf den Begriff „gefährliche Hunde“,
weil beispielsweise bei Pitbulls oder Mixhunden natürlich
die Gefahr des Unterlaufens besteht. Es wurde ja aus der
„Bild“-Zeitung, glaube ich, vorgelesen, dass ein Hund
schlichtweg als Boxermischling ausgegeben wird; gene-
tisch kann man das nicht nachvollziehen. Man braucht
hier also Kriterien. Den Weg, den Bärbel Höhn in Nord-
rhein-Westfalen gewählt hat, als sie Kriterien für ein
Zuchtverbot von gefährlichen Hunden aufstellte, kann
man durchaus gehen.
Ich weise im Übrigen nur darauf hin, dass es im Bun-
destierschutzgesetz ein Verbot für Qual- und Aggressi-
onszucht gibt. Auch hier spielt die Frage des Vollzuges
eine wesentliche Rolle.
Zweitens geht es um ein Verbot des Imports von ent-
sprechenden Hunderassen und gefährlichen Hunden. Da-
mals haben wir gemeinsam mit der SPD im Vermittlungs-
ausschuss gefordert, ein solches Verbot im neuen Tier-
schutzgesetz zu verankern. Allerdings stellt sich natürlich
auch hier die Frage der Kontrolle und des Vollzuges. Man
benötigt dann an den Grenzen qualifizierte Kontrollbe-
amte. Des Weiteren ist eine Absicherung durch die EU-
Gesetzgebung notwendig, weil hier wettbewerbsrechtli-
che Anforderungen entgegenstehen. Auch hier besteht
also die Notwendigkeit der weiteren Ausgestaltung.
Drittens. Das Halten dieser Tiere soll nur mit Erlaub-
nisvorbehalt gestattet werden. Auch das ist eine vernünf-
tige Forderung. Allerdings muss ich auf das Problem der
nicht registrierten Tiere verweisen. Dieses Problem gibt
es in allen deutschen Städten. Ich denke, dass in diesem
Zusammenhang auch einmal über den Vorschlag der Grü-
nen in Berlin oder anderen Bundesländern in Richtung
einer Kennzeichnung nachgedacht werden muss. Wir
kennzeichnen inzwischen bei der landwirtschaftlichen
Nutztierhaltung fast jedes Tier. Das dürfte auch bei Hun-
derassen problemlos möglich sein. So könnte nachgewie-
sen werden – auch bei ausgesetzten Tieren –, wo diese
Hunde herkommen.
Vierter Punkt: Sachkundenachweis bzw. Hundeführer-
schein. Als ich diese Forderung vor vier Jahren erhoben
habe, bin ich in der „Bild“-Zeitung noch auf Seite 1 ge-
landet, so nach dem Motto: Jetzt sind sie völlig überge-
schnappt. Ich denke aber, dass sich dieser Weg in der
sachbezogenen Diskussion durchgesetzt hat. Dies dient
nicht nur dem Schutz der Halter, sondern auch dem der
Hunde, insbesondere aber dem Schutz der Menschen, die
mit diesen Tieren konfrontiert werden; denn Menschen,
die mit ihren Tieren nicht umzugehen wissen, können ih-
rer Verantwortung nicht gerecht werden. Das gilt natür-
lich nicht nur für die Pittbulls und Staffordshires, sondern
für alle Hunde ab einer gewissen „Kampfkapazität“.
Dass jetzt in Berlin für das Halten entsprechender
Hunde Unbedenklichkeitsnachweise eingefordert wer-
den, halte ich für sinnvoll. In diesem Zusammenhang
möchte ich auf das von Herrn Gysi erwähnte Heimtier-
zuchtgesetz zu sprechen kommen. Es ist wichtig, dass die-
ses Gesetz endlich kommt; daran soll jetzt gearbeitet wer-
den. Die Wesensprüfung, anhand derer man eine Ein-
schätzung über den Hund gewinnen kann, wird
wesentlicher Bestandteil für die Freigabe zur Zucht sein.
Das ist eine Forderung, die von den Hundezüchterver-
bänden schon lange erhoben wird.
Ich habe es schon angesprochen: Die Kontrollen müs-
sen weiter verstärkt werden. Städte wie zum Beispiel
Leipzig können noch so tolle Verordnungen erlassen – sie
müssen dann aber auch das entsprechende Personal zur
Verfügung stellen.
Zu dem letzten Punkt, der Haftpflicht. Es gibt eine
Haftpflichtversicherung für Hunde. Diese sollte jetzt auch
in Anspruch genommen werden, ungeachtet dessen, was
die Versicherer gesagt haben. Eine obligatorische Haft-
pflichtversicherung ist eine sinnvolle Angelegenheit. Alle
Maßnahmen müssen so ausgerichtet werden, dass sie mit
Augenmaß angewandt werden.
Lassen Sie mich noch ein Letztes sagen: Die Tier-
schutzvereine und Tierschutzverbände haben zurzeit in
Bezug auf die Halter größerer Hunde eine unglaublich
schwierige Aufgabe. Gleichzeitig werden sie bei der Fi-
nanzierung und der personellen Unterstützung alleine ge-
lassen. Ich möchte daher an die Länder plädieren, in de-
ren Aufgabenbereich dies fällt: Unterstützen Sie die Tier-
schutzverbände und die Tierheime, damit sie ihren
Aufgaben gerecht werden können und einen Beitrag dann
leisten können, einer Situation zu begegnen, die verständ-
licherweise ein Stück weit emotionalisiert ist! Sie können
dafür Sorge tragen, dass auch der Tierschutzaspekt zum
Tragen kommt.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt derKollege Klaus Haupt, F.D.P.-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 200010626
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Herr Özdemir, ich bedauere zutiefst,dass Sie angesichts der Problematik auf das Ritual derParteipolemik nicht verzichten konnten.
Ich halte Ihre Zitate für aus dem Zusammenhang gerissenund damit schlicht und einfach für unverschämt.
Ich zitiere nur einen Satz: Hier muss der illegalen Ag-gressionszucht ein Riegel vorgeschoben werden, wofürdie Innenminister das notwendige Personal zur Verfügungzu stellen haben.
Meine Damen und Herren, die F.D.P. muss sich nicht vor-werfen lassen, dass sie dieses Thema erst jetzt auf die Ta-gesordnung gesetzt hat; denn wir befassen uns seit zehnJahren damit. So haben wir zum Beispiel 1991 gefordert,die Haltung von Kampfhunden waffenrechtlich zu regeln.Der sinnlose Tod des Schülers in Hamburg hat, wieschon viele betont haben, zu einem Aufschrei in diesemLande geführt. Was mich persönlich entsetzt hat, war,dass es vor den Augen der Mitschüler, vieler Kinder, zudieser entsetzlichen Tragödie gekommen ist, auf demSchulgelände, wo Eltern ihre Kinder eigentlich in Sicher-heit wähnen.Wer sich die Ängste der Eltern, vor allem aber die derKinder, und die seelischen Konsequenzen für sie vorstellt,kann keine Endlosdebatten, keine Verniedlichungen undVerharmlosungen und keine theoretischen Seminare überHunde mehr ertragen.
Schon mehr als zehn Jahre ist das Problem virulent. DiePolitik hat – das müssen wir ehrlich eingestehen – die Lö-sung des Problems schlicht verschlafen und ist fahrlässigunentschlossen geblieben. Dass daraus beim BürgerZweifel an der Politik erwachsen, braucht uns eigentlichnicht zu wundern.Es darf jetzt keine Debatte darüber geben, ob Kampf-hunde bei richtiger Handhabung in unserer verstädtertenIndustriegesellschaft Platz haben oder nicht. Kampfhundesind gezielt auf höchste Aggressivität gezüchtet. Ja, alleHunde können beißen. Aber Kampfhunde sollen sich nachdem Willen ihrer Züchter in ihre Opfer regelrecht ver-beißen. Kampfhunde sind lebende Waffen und damit einepotenzielle Gefahr.
Es darf auch nicht mehr darüber diskutiert werden, anwelchem Ende der Leine das Problem zu suchen ist. Wennwir das Problem an dem einen Ende der Leine, beim Men-schen, kurzfristig nicht lösen können, müssen wir es ebenam anderen Ende der Leine, beim Hund, anpacken. Bür-ger, insbesondere die besorgten Eltern, erwarten von unsjetzt schnelles Handeln. Sie erwarten zu Recht null Tole-ranz gegenüber dem Kampfhundewahn. Es ist schon be-tont worden: Hier geht es um Opferschutz, um Freiheits-rechte der Bürger, der Kinder, und – wie der grausameVorfall in Hamburg leider zeigt – auch um Menschenle-ben. Als Kinderschutzbeauftragter meiner Fraktion sageich im Interesse der Kinder und der besorgten Eltern: Wirkommen um radikale Maßnahmen nicht herum.
Es ist doch schizophren, dass man in Deutschland als Vor-bestrafter zwar nicht in einen Schützenverein darf, wohlaber ohne weiteres blutrünstige Kampfhunde durch dieStraßen führen darf.
Es ist völlig klar – ohne Wenn und Aber –: Kampf-hunde sind in Deutschland überflüssig. Sie müssen alleohne Ausnahme verschwinden. Alle anderen Regelungensind nicht zu kontrollieren, nicht zu überwachen und auchnicht durchzusetzen, wie es zum Beispiel die Praxis desallgemeinen Hundeleinenzwangs in Berlin sehr deutlichzeigt. Eine halbherzige und verwirrende Kampfhunde-verordnung wird genauso wenig durchzusetzen sein.Die Ergebnisse der Telefonkonferenz der Innenministersind daher – das ist schon mehrfach betont wor-den – ein richtiger Schritt in die richtige Richtung – derKinderschutzbund hat diese Maßnahmen übrigens schonseit Jahren gefordert –, aber sie sind eben nur ein Schritt.Wir können uns jetzt auch keine Kompetenzstreitig-keiten leisten. Den besorgten Eltern ist es gleichgültig,welche Ebene wofür zuständig ist. Klar ist, dass keineEbene allein alle Probleme lösen kann. Zusammenarbeitist das Gebot der Stunde.
Dabei darf der Bund die Verantwortung nicht einfach nachunten abschieben. Auch der Bund hat Handlungsspiel-raum und muss diesen konsequent und energisch nutzen.Die F.D.P. fordert zu Recht, dass Hundehaltergrundsätzlich für alle Schäden voll verantwortlich sind,die ihre Tiere anrichten. Das betrifft – das ist schon mehr-fach betont worden – die strafrechtliche Verantwortung.Aber auch bei Ordnungswidrigkeiten im Zusammenhangmit der Hundehaltung besteht dringender Handlungsbe-darf. Die Bußgelder für diesbezügliche Verstöße sind vielzu niedrig. Hier müsste noch rasch etwas geschehen. Dieim Tierschutzgesetz vorhandene Ermächtigungsgrund-lage für Zuchtverordnungen muss sofort konsequent ge-nutzt werden. Die F.D.P. begrüßt, dass Sie, Herr Bun-desinnenminister Schily, hier ein Handeln der Bundesre-gierung in Aussicht gestellt haben. Ich sage aber nocheinmal: Jetzt müssen die Taten rasch und entschlossen fol-gen.An Sie gewandt, Herr Özdemir, betone ich: Schon1991 haben wir die Anwendung des Waffengesetzes auch
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10627
auf Hundehaltung, verknüpft mit einer Zuverlässigkeits-prüfung für Hundehalter, als eine Möglichkeit angesehen.Darüber wäre neu nachzudenken, wenn die Länder ihrerSchutzverantwortung gegenüber den Bürgern nicht so ge-recht werden, wie wir das erwarten.Meine Damen und Herren, wir dürfen nicht zulassen,dass Mütter um ihre Kinder zittern müssen, wenn sie imPark spazieren gehen oder ihre Kinder auf Spielplätzenumhertollen. Man kann übrigens Kindern nicht beibrin-gen, wie sie sich richtig verhalten sollen, wenn sichKampfhunde nähern: –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Haupt,
Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
– ganz ruhig bleiben, keine hek-
tischen Bewegungen. Kinder sind überfordert.
Ich unterstütze die Forderung des Kinderschutzbundes
ausdrücklich: Es kann nicht sein, dass wir Kinder dressie-
ren, damit Hunde zu ihrem Recht kommen. Nein, wir
müssen uns entscheiden; denn gerade die Schwächsten
unserer Gesellschaft, unsere Kinder, brauchen Schutz,
brauchen das Handeln des Staates, und zwar jetzt und
nicht halbherzig, sondern konsequent.
Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Als Nächster spricht
der Kollege Günter Graf, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin jetzt der zehnteRedner zu diesem Tagesordnungspunkt. Ich habe von allmeinen Vorrednern und Vorrednerinnen – zumindest imGrundsatz – vernommen, dass jetzt Handlungsbedarf be-steht und dass keine Zeit mehr bleibt, miteinander überZuständigkeitsfragen und dergleichen mehr zu diskutie-ren. Ich unterstreiche dies mit Nachdruck. Herr Uhl, ichhabe keine anderen Ausführungen von Ihnen erwartet,möchte aber nicht darauf eingehen. Dies hilft uns im Mo-ment auch nicht weiter. Ich denke, hier ist Gemeinsamkeitangesagt. Diese sollten wir pflegen.Vor diesem Hintergrund möchte ich dem Bundesin-nenminister in aller Deutlichkeit ganz herzlich dafür dan-ken, dass er bereits am 5. Mai 2000 bei der IMK in Düs-seldorf gemeinsam mit den Länderkollegen einen Be-schluss gefasst hat, der sich mit den zentralen Fragenbeschäftigt: Zuchtverbot, Verbot der Erziehung zur Ag-gressivität, Importverbote usw. All dies ist angesprochenworden. Auch Sie, liebe Vorrednerinnen und Vorredner,haben dies erwähnt. Jetzt geht es darum, dies umzusetzen.Hier sind in erster Linie die Länder gefordert, die auch da-bei sind.Ich möchte dem Bundesinnenminister noch für etwasanderes danken, nämlich für die Telefonkonferenz vonvorgestern. Dort hat er zugesagt, die rechtlichen Voraus-setzungen für ein Importverbot und dafür zu schaffen,dass Verstöße mit strafrechtlichen Sanktionen belegt wer-den. Aufgrund der Kompetenzverteilung ist eine Bundes-regelung notwendig.Ich möchte aber auch das Hohe Haus in Gänze auffor-dern. Es ist gut, dass jetzt gehandelt wird, wenn auch zuspät. Diese Diskussion hatten wir auch schon vor zehnJahren. Ich will aber nicht darüber reden, wer damals washätte tun können. Die farblichen Konstellationen der Re-gierungen in den Bundesländern und der Bundesregie-rung waren sehr unterschiedlich; insofern hilft eine Dis-kussion darüber nicht weiter.Wir müssen gemeinsam mit den Ländern erreichen,dass die Regelungen, die jetzt in Ruhe und Sachlichkeitgetroffen werden, zu einer Vereinheitlichung führen. Ichsage das vor folgendem Hintergrund: Wenn ein deutscherUrlauber mit seinem Hund von der Nordsee, von der ichkomme, nach Bayern fährt und sich an jeder Grenze zu ei-nem anderen Bundesland schlau machen muss, was er mitdiesem seinem Hund einer besonderen Rasse in diesemBundesland tun darf und muss, kann das nicht richtig sein.
Deshalb muss es unser Bestreben sein, im Nachhinein diebereits getroffenen Ländervereinbarungen ein Stück weiteinander anzugleichen, damit auch für die BevölkerungRechtsklarheit herrscht.Ich glaube, Sie, Herr Westerwelle, haben eingangs ge-sagt: Dies gilt nicht nur für die Länder der Bundesrepu-blik, sondern auch für das zusammenwachsende Europa.Wir haben die Grenzen abgeschafft. Es ist heute möglich,die Grenzen der Mitgliedstaaten innerhalb der Europä-ischen Union unkontrolliert zu passieren, wann man will.Nun sind die Regelungen in den Mitgliedstaaten derEU zur Kampfhundehaltung sehr unterschiedlich. Es gibtsehr restriktive Regelungen, aber auch solche, die imGrunde keine sind. In das eine Land darf ich hinein. AberNorwegen zum Beispiel lässt mich mit meinem Kampf-hund nicht hinein. Andere Länder lassen die Einreise zu,wenn ich dem Hund einen Maulkorb anlege.
Diese Beispiele zeigen, dass es uns jetzt darum gehenmuss, auch auf europäischer Ebene entsprechende Rege-lungen zu treffen, damit die Bevölkerung weiß, worum esgeht.Dass wir Regelungen brauchen, damit sich solche Vor-fälle, wie es sie übrigens immer schon gab, nicht wieder-holen, ist klar. Vor einem – weil es immer schnell falschaufgefasst werden kann – will ich allerdings warnen: Beiallen Regelungen, die wir treffen, bei allen Möglichkei-ten, die wir den Behörden, die damit umzugehen haben,einräumen, wird es immer einmal wieder zu solchen Vor-fällen kommen. Denn nicht jeder Vorfall kann von Geset-zen gedeckt werden. Das ist wie bei der Kriminalität. Wirkönnen alles Mögliche überwachen. Wir können den Ab-stand der Polizei zum Straftäter verringern. Aber die Nase
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000
Klaus Haupt10628
vorn hat immer der Straftäter. Auch der Kampfhund bzw.der Hund, welcher Rasse auch immer, hat stets die Nasevorn. Wir müssen alles in unseren Kräften Stehende tun,damit Vorfälle wie der in Hamburg mehr oder wenigerausgeschlossen werden.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat die Kol-
legin Beatrix Philipp, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Vizepräsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Graf, ichhabe natürlich nichts gegen einen Dank an den Bundes-innenminister.
Aber es wäre alles schneller gegangen, wenn man einfachvon den Bayern abgeschrieben hätte.
Ich beziehe mich dabei auf Herrn Wiefelspütz, der vor-gestern im Innenausschuss gesagt hat: Wir müssen vonden Bayern lernen.
Dass die Bayern sich das öfter wünschen als Sie und alsich, das wissen wir ja. Aber an dieser Stelle haben sie nuneinfach einmal Recht gehabt und es hätte den Vorgang si-cherlich sehr beschleunigt.
Das gilt natürlich auch, Herr Graf, für die europäischeEbene. Darüber, denke ich, werden wir noch an andererStelle reden müssen. Ich kann nur Dinge empfehlen, diesich besonders gut bewährt haben.Es ist deutlich darauf hinzuweisen: Wir sprechen heuteüber Kampfhunde, Herr Gysi, nicht über Hunde, die an-deren Menschen dienen,
wie Wachhunde, Blindenhunde oder Rettungshunde. Siehaben eben den Deutschen Schäferhund gerade noch „amSchwanz erwischt“. Wir müssen schon über das reden,was auf der Tagesordnung steht, und das sind Kampf-hunde.Kampfhunde sind, wie in der bayerischen Verordnungzu lesen ist, durch zwei Kriterien deutlich definiert. Ag-gressivität ist deren einziges Zuchtkriterium. Das trifft aufSchäferhunde nicht zu. Anlagebedingte Aggressivitätwird bei Kampfhunden durch Abrichten noch verstärkt.Die Methoden, die dabei angewandt werden – ich sage daseinmal für alle, die sich für Tierschützer halten –, sindganz eindeutig Tierquälerei. Als etwas anders kann mandas nicht bezeichnen.
Es zeichnet diese Tiere aus, dass sie am Ende dieserProzedur gegenüber allen aggressiv sind, außer gegen-über ihrem Halter. Es liegt in der Natur des Hundes – dasweiß jeder –, dass er sich an seinem Halter orientiert. Fürandere Menschen werden diese Hunde aber zur Bedro-hung. Die Kampfhunde haben sich – das ist auch schonmehrfach gesagt worden – zu einer ungesicherten Waffeentwickelt. Daher ist es nur konsequent, von dem Hunde-halter den Nachweis der Eignung und Zuverlässigkeit zuverlangen. Wie gesagt, die bayerischen Verordnungenhalten uns das deutlich vor Augen.Da diese Hunde häufig als Statussymbol und zur Kom-pensation von Minderwertigkeitskomplexen missbrauchtwerden, wird dort verlangt, dass der Besitzer ein berech-tigtes Interesse am Besitz eines solchen Hundes nach-weist.Wie groß die Tierliebe im Übrigen gerade bei diesenBesitzern ist, sieht man an den neuesten Tickermeldungenvon heute, die ja darauf hinweisen, dass diese Tiere ingroßer Zahl ausgesetzt werden. Es scheint also mit derTierliebe bei diesen Besitzern nicht besonders weit her zusein.Alle Appelle in der Vergangenheit, alle fürchterlichenVorkommnisse, alle Versuche, das Problem mit einfachenMitteln – etwa Maulkorb und Leine – in den Griff zu be-kommen, haben nicht den gewünschten Effekt gebracht.Schließlich war auch der Hamburger Hundehalter ver-pflichtet, seinen Hund mit Maulkorb an der Leine zuführen. Darauf ist von Herrn Dr. Uhl eben schon hin-gewiesen worden.Mit solch faulen Kompromissen kommen wir nichtweiter. Es geht um den Schutz von Menschen, die sich be-droht fühlen oder es tatsächlich sind. Das ist eigentlichegal. Wenn sich jemand subjektiv bedroht fühlt, muss manetwas dagegen tun, auch wenn er objektiv nicht bedrohtsein mag. Das trifft für andere Bereiche, die wir ja öfterim Innenausschuss besprechen, ebenfalls zu.Herr Graf hat darauf aufmerksam gemacht: Ein Blicknach Europa hilft auch hier. In diesem Punkt sind andereeuropäische Länder schon sehr viel weiter als wir. AuchHerr Bosbach hat bereits darauf hingewiesen. Ich willnicht so weit wie manche Bürgerinnen und Bürger gehen,die nun fordern, alle Kampfhunde einzuschläfern. Aber jenachdem, welche Erfahrungen der eine oder andere ge-macht hat, kann ich den Wunsch eigentlich verstehen.Meine Damen und Herren, als im Zusammenhang mitBSE 2 Millionen Rinder geschlachtet wurden, also Nutz-tiere, hat es hier keinen Aufschrei gegeben – 2 MillionenTiere, bei denen auch nur zum Teil der Verdacht auf BSEbestand. Da gab es keinen Aufschrei. Ich habe kein Ver-ständnis dafür, dass bei BSE allein der Verdacht aus-reichte, bei Kampfhunden aber nicht einmal der Nachweis
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000
Günter Graf
10629
der Gefährlichkeit der Tiere für eine solche Maßnahmeausreichen soll.
Ich kann das überhaupt nicht verstehen. Das ist eine falschverstandene Tierliebe. Schließlich wird ja auch ein harm-loser Schoßhund, der Tollwut hat, eingeschläfert. Auchhierüber gibt es überhaupt keine Debatte.Wie gesagt: Wir müssen uns auf die Menschen kon-zentrieren, und zwar auf der einen Seite auf diejenigen,für deren Schutz wir verantwortlich sind – das sind insbe-sondere Kinder und alte Menschen – auf der anderen Seiteaber auch auf diejenigen, die diese Hunde als Waffe miss-brauchen, die so genannten Halter. Des Weiteren müssenwir uns auf diejenigen konzentrieren, die mit diesen Hun-den ihre Geschäfte machen, indem sie mit diesen handeln,sie importieren oder züchten. Wir brauchen dringend denNachweis der eigenen Zuverlässigkeit bei den Haltern so-wie ein Import- und Zuchtverbot. Oberstes Ziel dabeimuss sein, dem Schutzbedürfnis unserer Bürger in hohemMaße Rechnung zu tragen.Es wird Zeit und sehr viel Geduld brauchen, bis sichdie Menschen wieder geschützt fühlen, bis sich diejenigenwieder sicher fühlen, die heute noch die Straßenseitewechseln, und bis sich die Menschen wieder trauen, Kin-der auf Spielplätze zu lassen, das heißt, bis sich die Men-schen nicht mehr in ihrer Freizügigkeit eingeschränktfühlen, weil sie manche Plätze aus Angst vor diesen Hun-den meiden. Wir müssen dafür sorgen, dass eine konse-quente Umsetzung und Kontrolle der Vorhaben erfolgt. Esmuss klar sein, dass der Schutz der Bevölkerung vor dervermeintlichen Freiheit des Einzelnen, der glaubt, zurEntfaltung seiner Persönlichkeit einen Kampfhund besit-zen zu müssen, Vorrang hat.Lassen Sie mich noch ein Letztes sagen: Wir werdenmehr Personal brauchen und müssen in den Ordnungsäm-tern dafür sorgen, dass dort Prioritäten gesetzt werden, sowie das in meiner Heimatstadt Düsseldorf unter demneuen Oberbürgermeister Joachim Erwin gestern gesche-hen ist. Ich sage Ihnen: Lieber eine Fahrzeugkontrolle we-niger und dafür eine Kampfhundehalterkontrolle mehr.Damit würden wir den Wünschen der Bevölkerung sehrentgegenkommen.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt der
Bundesminister des Innern, Otto Schily.
Frau Präsi-dentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Ich möchtevorweg sagen: Ich bedanke mich sehr herzlich für die Ein-mütigkeit in der Grundsatzfrage, die hier sichtbar gewor-den ist. Hinsichtlich der Vergangenheit kann man sicherdas eine oder andere kritische Wort anführen. Da mag je-der vor seiner Türe kehren.Herr Kollege Uhl, Sie haben den Finger auf Hamburggerichtet. Lesen Sie einmal die Liste der Aktivitäten inden Ländern. Dann werden Sie auch einige CDU-regierteLänder entdecken, die noch Nachholbedarf haben.
Ich will darüber jetzt aber nicht reden, weil die gefun-dene Einmütigkeit nicht infrage gestellt werden soll.Ich zögere auch nicht, dem Freistaat Bayern sowieHerrn Uhl selbst und der Stadtverwaltung von Münchenbesondere Anerkennung und besonderes Lob zu zollen.Wir sollten dieses Lob aber auch dem Land Brandenburgzuteil werden lassen, das – zwar nicht ganz so früh, aberimmerhin im Jahre 1998 – entsprechende Maßnahmen er-griffen hat. Ich denke, das ist eine richtige und faire Hal-tung in dieser Frage.Am 28. Juni dieses Jahres – also vor wenigen Tagen –ist in der „Süddeutschen Zeitung“ ein sehr lesenswerterArtikel zum Thema Kam pfhunde erschienen. Dieser Ar-tikel trug die Überschrift „Probleme an beiden Enden derLeine“. Genau das ist richtig. Das ist die richtige Beurtei-lung des Sachverhalts. Aufgrund dieser richtigen Beurtei-lung des Sachverhalts haben die Länderinnenminister undder Bundesinnenminister in großem Einvernehmen An-fang Mai ein Maßnahmenpaket beschlossen, das dieserBeurteilung entspricht.Ich will nicht alle Maßnahmen hier aufzählen. Ich willnur einige beispielhaft aufführen: Definition der Gefähr-lichkeit von Hunden, und zwar individuell sowie anhandbestimmter sozial inadäquater Verhaltensweisen oder abs-trakt durch Rassezugehörigkeit, Zuchtverbot für indivi-duell gefährliche Hunde oder als gefährlich eingestufteZuchtlinien, Kastrations- und Sterilisationsgebote unterBeachtung tierschutzgesetzlicher Grundsätze, Haltunggefährlicher Hunde nur mit Erlaubnisvorbehalt.
In der Schaltkonferenz am 28. Juni – also vor wenigenTagen – haben wir diese Maßnahmen noch einmal be-kräftigt und zu unserer Zufriedenheit feststellen können,dass alle Länder – ausnahmslos – Initiativen in Gang ge-setzt haben. Dafür will ich meinen Länderinnenminister-kollegen ausdrücklich danken.Ich will bekräftigen – das ist hier von vielen Kollegin-nen und Kollegen gesagt worden –: Ich halte die denkbarschärfsten Maßnahmen für geboten. Das Bundeskabinetthat zusätzliche Maßnahmen beschlossen: ein Importver-bot, ein Zuchtverbot im Tierschutzgesetz. Ich darf dasaber mit dem Hinweis verbinden: Es gibt bereits das Ver-bot der Aggressionszucht im Tierschutzgesetz und bei derAusbildung. Sie müssen immer daran denken: Es gehthier nicht um Tierschutz, sondern in erster Linie umMenschenschutz. Das sollten wir schon bedenken, damitdie Dinge nicht durcheinander geraten.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000
Beatrix Philipp10630
Für den Menschenschutz, für Sicherheit und Ordnung,sind die Länder im Rahmen der Polizeigesetze zuständig.Deshalb muss von diesen Zuständigkeiten Gebrauch ge-macht werden, zumal auch die entsprechenden Maßnah-men im Wege von Verordnungen dann schneller ihrenWeg nehmen können.Ich denke, es war auch richtig, dass wir auf meine An-regung hin jetzt beschlossen haben, dass wir, wenn aufLänderebene Gebote oder Verbote in Kraft gesetzt wer-den, sie mit einem so genannten Blankettgesetz auchstrafrechtlich bewehren und damit die Sanktionsdrohun-gen von der Ordnungswidrigkeit auf Vergehenstatbe-stände aufstocken. Auch das ist notwendig; denn das sindnicht irgendwelche Lappalien, sondern hier geht es umeine wirklich schwere Gefährdung von Menschen. Des-halb muss auch eine solche Sanktionsdrohung vorhandensein.
Wir werden das sehr schnell voranbringen. Das Import-verbot, für das wir auf Bundesebene zuständig sind, sollteergänzt werden durch ein Handelsverbot, für das wie-derum die Länder zuständig sind.Ich teile die Auffassung aller, die hier gesagt haben,dass natürlich alle diese Gebote und Verbote davon ab-hängig sind, dass in der Praxis der Vollzug gesichert wird.Anders kann es nicht funktionieren. Ich nehme aber gernedie Anregung des Kollegen Westerwelle und des KollegenGraf auf, dass wir auch auf europäischer Ebene initiativwerden müssen.Eines, meine Damen und Herren, muss kristallklar seinund ich bin überzeugt, dass wir darüber wirklich einegroßartige Einmütigkeit erzielt haben: Wir lassen nicht zu,dass das Leben und die Gesundheit von Menschen, insbe-sondere von Kindern und älteren Menschen, durch das Im-poniergehabe, die Aggressionslust, den Kompensationsbe-darf bei Ich-Schwäche und die Verantwortungslosigkeitbestimmter Hundehalter – ich schränke das ein, damit Sienicht meinen, das sei ein Pauschalurteil – in Gefahr ge-bracht werden. Das ist unsere gemeinsame Verantwortung.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Erwin Marschewski, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Herr Bundesinnenminister, ich bin Ihnen für die heu-tigen Ausführungen sehr dankbar. Sie finden die volleUnterstützung meiner Fraktion, der CDU/CSU.
Lassen Sie mich als letzten Redner meiner Fraktion ge-genüber den Angehörigen des Kindes, das in Hamburg aufso tragische Weise ums Leben gekommen ist, unser Mit-gefühl ausdrücken. Es schmerzt, feststellen zu müssen,dass für dieses Kind jede Hilfe zu spät kam.Darüber hinaus aber macht mich betroffen: Selbst nachdiesem Ereignis wurden in den letzten Tagen erneut meh-rere Menschen von Kampfhunden angefallen. Geradedeswegen bin ich doch entsetzt über das Hickhack, werdenn letzten Endes zuständig war, wer zuständig ist. Ichbin auch entsetzt, Herr Innensenator, über so manchesBundesland. Es wurde vieles geplant, es wurde wenig ver-wirklicht und es wurde ganz wenig durchgesetzt.Wir haben gebeten, diesen Punkt im Innenausschussdes Deutschen Bundestages zu behandeln. Sie, Herr Kol-lege Wiefelspütz, haben dem zögernd zugestimmt. Aberunser Ergebnis war: Es hat keinen Sinn, nur auf dieZuständigkeit der Länder zu verweisen. Wenn die Ländernicht handeln, muss der Bund, soweit er zuständig ist,selbst die Initiative ergreifen. Wir dürfen nicht warten, bisdie Länder entsprechende Verordnungen oder Gesetze er-lassen haben.
Wir teilen voll Ihre Meinung, Herr Innenminister: Es sinddie schärfsten Maßnahmen geboten. Dies gilt für dieHunde wie auch für die Hundehalter.Man fragt sich, warum das Interesse erst dann so großwird, wenn etwas Scheußliches passiert ist, obwohl jederweiß, dass Kampfhunde wandelnde Waffen sind, dass sienicht aus Tierliebe und zum eigenen Schutz gehalten wer-den, dass sie – das ist schon vorher gesagt worden – Sta-tussymbol sind und dass es darum geht, ein Bedrohungs-potenzial mit diesen Hunden aufzubauen, wie es Zuhältertun. Das darf nicht akzeptiert werden. Deswegen forderndie Bürger zu Recht – ich möchte die „Berliner Morgen-post“ zitieren –: Kampfhunde kastrieren, kontrollierenoder gleich generell verbieten. Recht haben sie, dieBerlinerinnen und Berliner, nach den schrecklichen Ge-schehnissen von Hamburg!Das Beispiel Bayern ist genannt worden. Es ist gut,dass die Innenminister im Rahmen einer Telefonkonfe-renz nun zu Ergebnissen gekommen sind. Aber Minister-beschlüsse allein – das lehrt die unmittelbare Vergangen-heit – beseitigen keine Gefahren. Es ist schon schlimm, soschreibt eine Zeitung, „dass ein Pitbull nötig ist“, so dasZitat, „um Politiker wach zu beißen“. Ein bisschen habendie Journalisten schon Recht. Deswegen fordere ich: ers-tens Zuchtverbote und Haltungsverbote für einschlägigVorbestrafte; zweitens Verbot der Einfuhr von gefährli-chen Hunden; drittens Anlein- und Maulkorbpflicht; vier-tens eine Wesensprüfung für alle Kampfhunde, die einzu-schläfern sind, wenn sie diese Prüfung nicht bestehen;fünftens eine harte Bestrafung der Halter, die keine or-dentlichen Zuchtpapiere vorweisen können. Das sind si-cherlich 99 Prozent. Sie sind die eigentlich Schuldigen.Zum Schluss: Ich gehe davon aus, dass die Länder jetzthandeln und dass sie den Vollzug des Verbots auch si-chern. Aber wenn dies in Zusammenarbeit mit den Län-dern nicht geschieht, dann müssen wir, Herr Bundes-innenminister, die Aufgabe übernehmen. Wenn wir dasnicht tun, haben wir uns alle in beträchtlichem Maße mit-schuldig gemacht.Herzlichen Dank.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000
Bundesminister Otto Schily10631
Das Wort hat nun der
Kollege Harald Friese, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr
geehrten Kolleginnen und Kollegen! Es hätte eine viel
schönere Debatte werden können; denn im Grunde ge-
nommen gibt es ja einen Konsens, nämlich ein Einver-
nehmen des Hauses, dass etwas gegen Kampfhunde getan
werden muss, und zwar schnell. Trotzdem gab es ein paar
Zwischentöne, die ich kurz ansprechen möchte.
Natürlich ist Bayern ein Vorbild. Aber das hätte für alle
Bundesländer gegolten, egal, ob A-Länder oder B-Länder.
Wenn jetzt die Frage gestellt wird: „Was hat der Bund ge-
macht?“, dann kann ich mir die Feststellung – nachdem
das Thema schon vor zehn Jahren hier im Bundestag dis-
kutiert wurde – nicht verkneifen anzumerken, dass in der
Zwischenzeit offensichtlich auch nicht viel geschehen ist.
Ich wollte aber eigentlich gar keine parteipolitische
Differenzierung in diese Debatte hineinbringen;
vielmehr wollte ich darauf hinweisen, dass die Politik
vielleicht zu Unrecht am Pranger steht. Es gab ja Verord-
nungen der Länder, zum Beispiel in Baden-Württemberg
und Hamburg, die aber von den Gerichten kassiert wur-
den. Daran lässt sich die babylonische Gefangenschaft
aufzeigen, in der sich im Augenblick die Politik befindet,
nämlich zwischen einer sehr detaillierten Rechtsprechung
und rechtsstaatlichen Grundsätzen. Wenn man konkret
handeln will, dann sagen die Gerichte plötzlich Nein. Die
Politik hat Angst, zu handeln und zu entscheiden, weil sie
befürchten muss, dass ihre Entscheidungen gerichtlich
kassiert werden.
Wir dürfen bei der ganzen Diskussion nicht vergessen,
dass rechtsstaatliche Grundsätze nicht über die Wupper
gehen dürfen. Aber wir müssen auch sehen: Wenn es ei-
nen rechtsstaatlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
gibt, dann nützt es überhaupt nichts, einen Anlein- und
Maulkorbzwang zu beschließen, der nachher nicht kon-
trolliert werden kann. Genau das wird die Praxis sein.
Weder Länder noch Gemeinden sind in der Lage – wenn
Hundehaltung nur mit Führerschein und Prüfung des
Hundes und des Halters erlaubt wird –, die Einhaltung ei-
ner solchen Vorschrift konkret zu kontrollieren.
Die Freiheit des Einzelnen – das ist der zweite rechts-
staatliche Grundsatz neben dem der Verhältnismäßigkeit –
hat natürlich zwangsläufig dort ihre Grenzen, wo die Frei-
heit des anderen anfängt und wo der Staat die Aufgabe
hat – das ist eine seiner vornehmsten Aufgaben, die aller-
dings immer mehr aus dem Blickfeld gerät –, für die Si-
cherheit seiner Bürger zu sorgen.
Das heißt, wir müssen, ohne rechtsstaatliche Grundsätze
zu verletzen, ganz klare Regelungen treffen, die geeignet
sind, die Kampfhunde tatsächlich von der Straße zu ent-
fernen.
Wenn ich die Beschlüsse der Innenministerkonferenz
lese, dann zweifele ich ein bisschen an den unendlichen
Ermessensüberlegungen, mit denen Haltung von Kampf-
hunden eingeschränkt werden soll. Aber lassen wir dies
dahingestellt.
Ich möchte namens der SPD-Fraktion sagen, dass wir
dem Bundesinnenminister ausdrücklich danken und dass
wir diese Politik – Importverbot, Zuchtverbot – mit Über-
zeugung fortführen wollen. Ich möchte hinzufügen: Wir
müssen einen Schritt weiter gehen und Überlegungen an-
stellen, ob es nicht so ist, dass letzten Endes nur ein Hal-
tungsverbot zum Ergebnis führen kann. Mit den differen-
zierten Regelungen und den differenzierten Prüfungen, ob
ein Hund tatsächlich gefährlich ist und ob ein Halter
tatsächlich geeignet ist, einen solchen Hund zu halten,
kommen wir nicht weiter. Ich bitte einfach darum, zu prü-
fen, ob man nicht für ein generelles Haltungsverbot sor-
gen kann.
Ich möchte einen dringenden Appell an die Länder rich-
ten: Die Funktionsfähigkeit des Föderalismus erweist sich
nicht daran, dass wir 16 verschiedene Regelungen bekom-
men. Die Funktionsfähigkeit des Föderalismus erweist
sich vielmehr daran, dass sich die Länder, wenn die
Notwendigkeit besteht, etwas bundeseinheitlich zu regeln –
der Kollege Graf hat darauf ausdrücklich hingewiesen –,
im Sinne eines kooperativen Föderalismus zusammenrau-
fen und eine gemeinsame Lösung finden, die dann von
den jeweiligen Landesparlamenten umgesetzt wird.
Was auf der Ebene des Polizeigesetzes möglich sein
soll – dort gibt es ja einen gemeinsamen Entwurf –, muss
erst recht in der Frage der Haltung von Kampfhunden
möglich sein. Ein Flickenteppich von landesrechtlichen
Regelungen in Deutschland kann mit Blick auf die euro-
päische Dimension nicht angemessen sein.
Pflegen wir das Pflänzchen der Gemeinsamkeit, das in
dieser Debatte sichtbar wurde! Überlegen wir, ob es recht-
lich möglich wäre, einen noch weiter gehenden Schritt zu
tun! Nur durch diesen Schritt werden wir das erreichen,
was wir wollen: Sicherheit auf unseren Straßen, Sicher-
heit für unsere Bürger. Mit dem unsinnigen Gefährdungs-
potenzial, das in der Haltung von Kampfhunden steckt,
muss Schluss sein; denn dafür gibt es keine Rechtferti-
gung.
Vielen Dank.
Ich weise jetzt daraufhin, dass Herr Innensenator Wrocklage aus Hamburgnoch etwas klarstellen möchte. Er hat noch Redezeit. Das
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 200010632
heißt, dass wir danach in die Fortsetzung der AktuellenStunde eintreten könnten. Aber ich glaube, an diesemFreitag belassen wir es bei den nächsten beiden Re-debeiträgen. Es ist so, dass nachher je ein Sprecher derFraktionen das Wort ergreifen könnte. Ich bitte Sie aberum Nachsicht, dass wir mit der Rede des Herrn Innen-ministers diese Debatte abschließen.Ich erteile dem Innensenator der Freien und HansestadtHamburg, Herrn Wrocklage, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Ich mache es ganz kurz. Ich nehme aus dieser Debatte den
Konsens darüber mit, dass wir Menschenschutz vor Tier-
schutz stellen und dass wir einhellig der Auffassung sind:
weg mit den Kampfhunden!
Ich nehme mit, dass es die Bereitschaft gibt, auch schwie-
rige Entscheidungen – ich habe sie in meiner Rede vorhin
angedeutet – mitzutragen.
Ich möchte nicht auf die Polemik des Kollegen Uhl ein-
gehen.
Ich möchte nur darauf hinweisen, dass es in den Ländern
unterschiedliche Rechtslagen gegeben hat. In Baden-
Württemberg herrscht aufgrund der dortigen Rechtspre-
chung eine ähnliche Situation vor wie bei uns. Das Land
Hamburg hat deswegen zusammen mit den Innenminis-
terkollegen die Innenministerbeschlusslage vom Mai her-
gestellt,
um damit die vorhandenen Möglichkeiten zu nutzen und
die Hundeverordnung zu erlassen, die ich hier vorhin vor-
gestellt habe. Das möchte ich klarstellen, damit jeder von
den richtigen Voraussetzungen ausgeht, Herr Uhl.
Vielen Dank.
Zur Sachlage möchte
ich Folgendes erläutern: Wenn der Herr Bundesinnenmi-
nister gesprochen hat, dann ist die Aktuelle Stunde ei-
gentlich beendet. Auf Verlangen einer Fraktion kann al-
lerdings erneut je ein Sprecher der Fraktionen das Wort
erhalten. Ich denke, das wollen wir alle nicht. Wenn Sie
einverstanden sind, dann lasse ich jetzt den Herrn Bun-
desinnenminister und anschließend für zwei Minuten
noch einen Vertreter der CDU/CSU sprechen.
Herr Minister, Sie haben das Wort.
Frau Präsi-
dentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Ich will auch
keine Rede halten, sondern möchte Ihnen nur eine sach-
liche Information geben; es geht nur um eine sachliche In-
formation.
Ich bin mit den Damen und Herren Kollegen ja völlig
einig darin, dass wir eine möglichst bundeseinheitliche
Regelung brauchen. Aber es geht eben um Gefahren für
die innere Sicherheit und Ordnung. Das ist Polizeirecht,
wofür die Länder zuständig sind.
Deshalb muss man darauf achten, die Zuständigkeiten
so rasch wie möglich in Anspruch zu nehmen, die beste-
hen.
Alles andere würde eine Verfassungsänderung vorausset-
zen. Das ist das Erste, was ich sagen wollte.
Das Zweite geht an den Kollegen aus meiner Fraktion,
der zuletzt geredet hat. Die Länderinnenminister haben
sich darauf geeinigt, dass nur noch eine Haltemöglichkeit
mit Erlaubnisvorbehalt besteht. In Bayern – dieses Bei-
spiel führe ich an, weil wir des Öfteren über Bayern gere-
det haben – ist danach de facto nicht eine einzige Erlaub-
nis mehr erteilt worden. Insofern ist das Halteverbot
durchgesetzt worden.
Ich meine, es ist sinnvoll, dass das zur sachlichen In-
formation am Schluss der Debatte hier noch gesagt wor-
den ist. Vielen Dank.
Der Kollege Uhl hatte
noch um zwei Minuten Redezeit gebeten. Diese Redezeit
bekommt er jetzt auch und dann ist die Aktuelle Stunde
beendet.
Herr Kollege Uhl, bitte.
Frau Präsidentin!Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In ganz großer Ruheund Sachlichkeit, Herr Innensenator Wrocklage, Folgen-des: Ich habe Sie nicht bezüglich Ihrer Tätigkeit im Jahre2000 gescholten, sondern ich habe Sie nur daran erinnert,dass das Verwaltungsgericht Hamburg im Jahre 1992 IhreHundeverordnung aufgehoben hat, und habe Sie gefragt,was Sie danach, also zwischen 1993 und 1999, siebenJahre lang, in Hamburg gemacht haben. Da fehlte derwirkliche politische Gestaltungswille.Ergänzend habe ich erwähnt, dass wir – das heißt, ichin meiner Zuständigkeit als Kreisverwaltungsreferent inMünchen – in diesen sieben Jahren keine einzige Kampf-hundehaltung erlaubt haben. In ganz München gibt es nurnoch drei Kampfhunde. Das sind Altbestände. Wir woll-ten diese Tiere nicht töten lassen, sondern haben sie mitMaulkorb- und Leinenzwang unter Kontrolle. – Das istunsere Tätigkeit seit 1992.
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Vizepräsidentin Anke Fuchs10633
Ich werfe Hamburg also vor – das gilt auch für andereBundesländer, die ähnlich untätig waren –, dass in den sie-ben Jahren bis zum Jahre 2000 dort nichts Konkretes pas-siert ist. Wenn man vor dem Verwaltungsgericht nichtdurchkommt, dann unternimmt man eben einen zweitenAnlauf, das heißt, man geht entweder zum Oberverwal-tungsgericht oder man kommt mit einer neuen Rechtsvor-lage. Beides ist nicht geschehen. Das ist mein ganzer Vor-wurf.
Es geht jetzt nicht
nach dem Motto „Wat dem einen sin Uhl, is dem annern
sin Nachtigall“,
sondern wir beenden hiermit die Aktuelle Stunde.
Ich rufe Punkt 20 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrages der Abgeordneten Dr.-Ing.
Rainer Jork, Katherina Reiche, Günter Nooke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Lehrstellenmangel Ost mit wirksamen Rege-
lungen angehen
– Drucksache 14/3185 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Dr. Rainer Jork für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wer die innere Ein-heit Deutschlandswill, wer dazu beitragen will, dass aus„hüben und drüben“ ein „wir“ wird, der muss dafür Sorgetragen, dass die Chancen der Menschen, vor allem derJugendlichen, in Nord und Süd, in Ost und West ver-gleichbar sind. Dieser Zustand ist noch nicht erreicht. ImOsten Deutschlands ist die Arbeitslosenquote bei Ju-gendlichen unter 25 Jahren ziemlich genau doppelt sogroß wie die in den westlichen Bundesländern. Im Wort-schatz der jetzt regierenden früheren Opposition wäredies als „Notstand“, als „Katastrophe“ durch den Blätter-wald gejagt worden. Jetzt wird das von den gleichen Per-sonen mit Durchschnittsangaben für die gesamte Bundes-republik und mit Steigerungsraten verkleistert.Ich sage es noch einmal ganz deutlich: Während dasVerhältnis der Zahl der Stellen zu der Zahl der Bewerberin den alten Bundesländern bei 0,86 liegt, lautet die ent-sprechende Zahl in den neuen Bundesländern 0,59. Es istklar, dass es da im Laufe der Zeit bestimmte Korrekturengeben wird.Die Bundesregierung half mit dem Sofortprogramm.Man muss sehen, was konkret vor Ort passiert ist. Dazuhaben die CDU/CSU-Bundestagsabgeordneten aus denöstlichen Bundesländern am 14. dieses Monats in Dres-den mit Kammern, Verbänden, Gewerkschaften, Berufs-schulen, Arbeitsämtern und anderen staatlichen Stelleneine Anhörung durchgeführt. Nahezu einstimmig wurdeformuliert, dass die Einmündung von Teilnehmern amJUMP-Programm in Lehrstellen und Arbeitsplätze nichtzufrieden stellend ist, dass keine zusätzlichen betriebli-chen Ausbildungsplätze entstanden, dass kaum Dauer-effekte festzustellen sind und dass der Start innerhalb desAusbildungsjahres zu einer erheblichen Störung des lau-fenden Betriebs führte. Nicht übersehen möchte ich je-doch den positiven Effekt. Jugendliche erhielten eineerste Startchance für ihr berufliches Leben. Hiervon pro-fitierten diejenigen, die sich in der von uns in den letztenJahren besonders beklagten Bugwelle befanden.In den neuen Bundesländern liegen besondere Bedin-gungen vor. Besondere Bedingungen erfordern besondereMethoden. Alle wissen, dass es dabei vor allem um dieFähigkeit und die Möglichkeit der Wirtschaft geht. Spe-zielle, auch befristete Methoden für die Jugendlichen inden neuen Bundesländern sind unverzichtbar.Ein Hauptpunkt in der Anhörung war natürlich dieFrage: Was hemmt die Bereitstellung von Lehrstellen inden neuen Bundesländern? Ich konzentriere mich jetzt aufdie betriebliche Ebene. Als Antworten kamen: schlechteAuftragslage und fehlende Planungssicherheit, ein zumTeil schlechtes Abgangsniveau der Schüler von allgemeinbildenden Schulen, die Defizite im sprachlichen, prakti-schen und naturwissenschaftlichen Bereich aufwiesen,fehlende materielle und personelle Voraussetzungen inden Unternehmen, das Fehlen einer grundlegenden Steu-erreform bzw. die starke Belastung der kleineren und mitt-leren Unternehmen durch die so genannte Ökosteuer.
Es wurden auch die Kosten für die Ausbildung und die andie Auszubildenden zu zahlende Vergütung genannt; dassteht für mich im Zusammenhang mit meinem erstenPunkt. Es ist nämlich absurd, wenn die Hälfte der staat-lichen Gelder – es sind meist circa 3 000 DM, die die Be-triebe als Lehrstellenförderung bekommen – wieder alsSteuern zurückgezahlt werden müssen. Das ist übrigensein Problem, um dessen Lösung wir uns schon währendder Amtszeit der alten Bundesregierung bemüht haben.Das ist uns damals nicht gelungen. Ich sage das ganz of-fen. Hier bestünde jetzt für Sie die Chance, einmal besserzu sein.Das Bündnis für Arbeit wurde in der Anhörung alseindeutig auf die westlichen Länder gestrickt beschrie-ben. Es funktioniert in den neuen Bundesländern nichtoder kaum, weil dort ein Mangel besteht.Sehr hilfreich sind bzw. waren Lehrstellenentwicklerund Ausbildungsverbünde. Insofern bedaure ich es außer-ordentlich, dass im Haushalt 2001 im Einzelplan 30 Strei-chungen vorgenommen werden.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000
Dr. Hans-Peter Uhl10634
In unserem Antrag, der Ihnen vorliegt, fordern wir imInteresse der neuen Bundesländer, das Sofortprogrammden im Osten herrschenden spezifischen Verhältnissen an-zupassen, falsche finanzielle Anreize zu beseitigen, vorallem finanzschwache kleinere und mittlere Unternehmenzu fördern, an geeigneter Stelle Lohnkostenzuschüsse zugeben, die Mobilität lehrstellensuchender Jugendlicher zufördern, die Lehrlingswohnheime zu unterstützen undeine mittelstandsfreundliche Finanz-, Wirtschafts- undSteuerpolitik zu starten. Wohlbemerkt müssen hierbei re-gionale und lokale Spezifika beachtet werden. Das liegt inder Natur der Sache dieses Problems und kann im Antragnachgelesen werden.Lassen Sie mich noch einige weitere Ergebnisse derAnhörung anführen: Im Vordergrund stand und steht nochheute die Frage, welche Maßnahmen die Ausbildungs-fähigkeit und -bereitschaft der kleineren und mittlerenBetriebe erhöhen können. Unmittelbar würden steuerli-che Vergünstigungen und Anreize wirken, sodann müss-ten Verbundausbildung und überbetriebliche Lehr-unterweisung gefördert werden; aber auch die schnelleVerabschiedung neuer Berufsfelder und die direkte För-derung von kleineren und mittleren Betrieben durch eineAnschubfinanzierung wäre sinnvoll. Wir wurden daraufhingewiesen, dass es in Österreich ein Modell gibt, daseine direkte Steuerentlastung der ausbildenden Betriebevorsieht.Wiederholt wurde die Forderung formuliert, die Ver-antwortung der Berufsschulen zu verdeutlichen und zuerhöhen. Dazu gehört auch, dass die theoretischen Leis-tungen in der Schule beim Facharbeiterabschluss ausrei-chend berücksichtigt werden. Ich entsinne mich: Auf mei-nem Facharbeiterbrief waren die theoretische und diepraktische Ausbildung gleichwertig enthalten. Ich haltediese Regelung für richtig und angemessen. Ich empfehlesehr, grundsätzliche Änderungen herbeizuführen, die dieAkzeptanz und die Wertigkeit der Berufsschulen erhöhen.Nicht fortführen sollte man Maßnahmen wie die Qua-lifizierungs-ABM, die auf einen künstlichen zweiten Ar-beitsmarkt orientieren. Es wurde immer wieder deutlichdas Ideal beschrieben, dass als Erstes Plätze in der dualenAusbildung – also mit einem betrieblichen Teil – ermög-licht werden. Sodann sollte als Zweites, sozusagen alsKompromiss, eine betriebsnahe Ausbildung organisiertwerden. Drittens sollten notfalls staatliche Maßnahmenerfolgen. Ich glaube, auch in diesem Punkt sind wir unseinig. Wir haben über diese Frage im Ausschuss wieder-holt diskutiert.Nachdrücklich wurde gefordert, die Lehrerfortbil-dung zu fördern und zu fordern. Ich sage bewusst: for-dern. Wir haben uns die Frage gestellt, ob man notfalls ei-nen gewissen Zwang ausüben sollte, damit Lehrer aktuellausgebildet und entsprechend befähigt sind. Diese Über-legung ist in dem Kreis bestätigt worden. Es geht darum,dass die Lehrer – gleichermaßen wie die Jugendlichen –auf die Realität vorbereitet werden. Ein weiterer wichti-ger Forderungspunkt war, die Ausbildungsdauer zu flexi-bilisieren.Mit Bezug auf unseren Antrag und die Anhörungmöchte ich eine kurze Zusammenfassung – was ist dabeiherausgekommen? – in acht Punkten formulieren:Erstens. Das Problem des Lehrstellenmangels Ost istnur lösbar, wenn die spezifischen Bedingungen beachtetwerden. Mit Gleichverteilung kann man nichts ausrich-ten.Zweitens. Eine Lösung ist dann möglich, wenn Zu-ständigkeits- und Ressortbarrieren überwunden werden.Ich erinnere mich an unsere Diskussionen im Ausschuss –und freue mich daher, Herr Minister Schwanitz, dass Siebei dieser Debatte anwesend sind –, die deutlich gemachthaben, dass dieser ressortübergreifende Ansatz realisiertwerden sollte.Drittens. Das duale System muss modernisiert werden.Es geht um neue Berufe und Ausbildungszeiten, um Mo-dularisierung und Finanzierungsfragen.Viertens. Ein wichtiger Grund für das Fehlen von be-trieblichen Ausbildungsplätzen war für alle Angesproche-nen die aktuelle wirtschaftliche Lage in den neuen Bun-desländern. Staatliche Hilfen sollten daher direkt in dieFörderung kleiner und mittlerer Betriebe fließen. Büro-kratische Hürden sollten abgebaut werden.Fünftens. Das Sofortprogramm JUMP war zu wenigeffektiv. Dass es auch gute Seiten hatte, haben wir wie-derholt gesagt. In Zukunft muss für eine bessere Koordi-nierung von Bundes- und Länderprogrammen und fürmehr Kontinuität gesorgt werden.Sechstens. Durchgehende Einigkeit herrschte in derAblehnung der Lehrstellenumlage und von Einstellungs-verpflichtungen nach Abschluss der Lehre.Siebtens. Deutlich war die Zustimmung zu einer Be-rufsausbildung mit Abitur.Achtens. Es wurde eine stärkere Ausrichtung der all-gemein bildenden Schulen auf soziale, praktische und na-turwissenschaftliche Bildung gefordert, um so die Ju-gendlichen besser auf die Anforderungen einer Berufs-ausbildung vorzubereiten.Zum Weltingenieurtag am 19. Juni – zeitgleich mit derEXPO – hörte ich folgenden Satz: Verantwortung zu über-nehmen gehört zur Würde des Menschen. – Das gilt be-sonders für junge Leute, die ihre Chancen sehen undwahrnehmen wollen und die für sich selbst Verantwortungübernehmen wollen und müssen. Geben wir den Jugend-lichen in den neuen Bundesländern eine seriöse Chancefür ein würdevolles Dasein! Dies ist für mich ein wesent-liches Kriterium für die Beantwortung der Frage, ob dieinnere Einheit Deutschlands erreicht oder erreichbar ist.
Gehen Sie den Lehrstellenmangel in den neuen Bundes-ländern mit wirksamen, ressortübergreifenden Maßnah-men an!Zum Schluss möchte ich noch bemerken, dass ichHerrn Schwanitz und der Frau Ministerin das Versprechengegeben habe, ihnen die Auswertung der Anhörung zuüberreichen. Ich gehe davon aus, dass wir mit einem ge-meinsamen Vorgehen die Situation auf diesem Gebiet ver-bessern können. Ich erlaube mir, Ihnen jetzt diese Aus-wertung zu geben.Danke.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000
Dr.-Ing. Rainer Jork10635
Wir haben gespannt
beobachtet, wie der Bericht übergeben wurde.
Nun erteile ich das Wort der Kollegin Ingrid Holzhüter,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Die rot-grüne Koalition fand be-
kanntlich zu Beginn ihrer Arbeit eine dramatische Situa-
tion auf dem Stellenmarkt vor. Diejenigen, die das mit zu
verantworten haben, mäkeln jetzt an JUMP herum. Ha-
ben Sie denn eigentlich jemals in einer Bildungseinrich-
tung mit den betroffenen Jugendlichen gesprochen? Ha-
ben Sie ihre persönlichen Hintergründe, die Mut- und
Hoffnungslosigkeit gespürt, ihr Bedürfnis nach Anerken-
nung und ihren berechtigten Wunsch, ernst genommen zu
werden?
Es ist wirklich eine Schande, wenn der kleine Rest
Hoffnung, den diese Menschen noch haben, durch partei-
politische Spielchen beschädigt wird und ihre Unsicher-
heit wächst.
Diese jungen Menschen haben unsere Fürsorge und Sym-
pathie verdient. Jeder Wunsch für sie lohnt.
Wer von Ihnen hat denn Kinder? Wer kennt ihre Zu-
versicht und ihr Suchen auf dem Weg? Sie allesamt sind
zu schade, um abgeschrieben und vergessen zu sein.
Wer kämpfen will, meine Damen und Herren, kann
verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren. Wir wer-
den kämpfen! Schade, dass wir es nicht gemeinsam tun.
Sie hatten Ihre Zeit und haben sie nicht gut genug ge-
nutzt. Wir werden es besser machen, auch wenn Sie in der
ersten Reihe schreien.
Wie das Statistische Bundesamt am 3. April mitteilte,
haben im Jahre 1999 636 600 Jugendliche einen Ausbil-
dungsvertrag abgeschlossen.
Frau Kollegin, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Jork?
Sowie ich Luft habe. Im Mo-
ment aber nicht.
– Frau Kollegin, Ihre spitze Zunge nehmen Sie doch bitte,
um Brot zu schneiden. Lassen Sie mich hier in Ruhe mei-
nen Vortrag zu Ende halten. Wenn Sie reden, halte ich
schließlich auch den Mund, obgleich mir das manchmal
schwer fällt.
Das waren gut 24 800 mehr als im Vorjahr. Die Statis-
tiker betonen, das Ende 1998 verabschiedete Sofortpro-
gramm der Bundesregierung JUMP hätte zu dieser Stei-
gerung beigetragen. In den neuen Ländern kletterte die
Zahl der Ausbildungsverträge um 5 900 und im früheren
Bundesgebiet, also in den alten Ländern einschließlich
Berlin, um 18 800. Das sind in der Regel 4 Prozent mehr.
Seit dem Start von JUMP vor eineinhalb Jahren konnte
über 200 000 jungen Menschen eine berufliche und damit
auch eine Lebensperspektive gegeben werden, hier insbe-
sondere auch durch berufsvorbereitende Maßnahmen. Im
Mai 2000 hat die Bundesanstalt für Arbeit zusätzlich
116 Millionen DM für JUMP bereitgestellt, die im We-
sentlichen den neuen Ländern zugute kommen. Wir alle
wissen, dass noch ein Unterschied bei den Ausbildungs-
plätzen besteht. Es ist gut, dass JUMP im Jahre 2001 fort-
gesetzt wird und dass die Bundesregierung das Sofort-
programm Lehrstellen Ost aufgelegt hat, um in den
neuen Ländern rund 17 000 zusätzliche Lehrstellen mit-
zufinanzieren.
Die kräftige konjunkturelle Entwicklung und steigende
Beitragseinnahmen bei zurückgehender gesamtdeutscher
Arbeitslosigkeit versetzen die Bundesanstalt für Arbeit in
die Lage, erstmals seit der deutschen Einheit eine aktive
Arbeitsmarktpolitik in dem bisherigen Umfang von
42,4 Milliarden DM, davon 2 Milliarden DM allein für
JUMP, aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Für das So-
fortprogramm Lehrstellen Ost werden 224 Millionen DM
aus dem Bundeshaushalt noch dazugetan.
Angesichts der unübersehbar klaren Erfolge dieser Po-
litik ist die Kritik am Sofortprogramm, wie sie hier zum
Ausdruck gebracht wurde, unverständlich. Wo ist sie
denn, die christdemokratische und christlich-soziale Al-
ternative dazu? Wo war sie denn in der vergangenen Ära
Blüm/Kohl? Wie viel Bimbes hatten Sie denn seinerzeit
für Ihre sieben „wirksamen Regeln“ übrig, darunter die
großzügige Förderung von mannigfaltigen Pendlerbei-
hilfen und Lehrlingswohnheimen, die nun von uns ge-
fordert wird? Auch der Vorwurf, das JUMP-Programm sei
eine kontraproduktive Konkurrenz zu Programmen der
Länder und würde die Klassen der Oberstufenzentren
halbieren, ist nicht nachvollziehbar und nicht realistisch.
Im Übrigen gibt es für JUMP eine wissenschaftliche
Begleitforschung durch das BIBB. Die Ergebnisse sind
bei der Wiedereinführung von JUMP berücksichtigt wor-
den und werden auch ständig auf ihre Wirksamkeit über-
prüft.
Frau Kollegin, gestat-
ten Sie nun eine Frage des Kollegen Dr. Jork?
Ja, jetzt soll er!
Herr Dr. Jork, bitte.
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Liebe Kollegin
Holzhüter, Sie haben gesagt, wir hätten die Chance nicht
genutzt. Ist Ihnen bekannt, dass wir vor vier Jahren eine
ähnliche Anhörung hatten und dass wir die damalige
Bundesregierung in vielen Punkten, übrigens auch den
vorhin genannten, angegangen sind und manches erreicht
haben und dass für uns damit in der Anhörung eine Kon-
tinuität besteht?
Eine zweite Frage, da Sie gesagt haben, ein Miteinan-
der sei nicht vorstellbar: Könnten Sie sich nicht vielleicht
doch vorstellen, dass wir miteinander vorangehen und
dass möglicherweise die Geste am Schluss, das Ergebnis
der Anhörung Ihren Ministern zu übergeben, genau da-
durch geprägt ist, dass wir uns dieses Miteinander im
Sinne der jungen Leute wünschen?
Dann haben Sie aber eine
komische Art, das auszudrücken. Bei mir ist das jedenfalls
nicht so angekommen. Bei mir ist die Konfrontation und
leider nicht die Gemeinsamkeit angekommen. Ich will
gerne annehmen, dass Sie nicht unisono vorhaben, gegen
uns zu sein. Aber das Miteinander müsste sich schon deut-
licher ausdrücken.
Ich will an dieser Stelle sagen: Natürlich tun auch wir
alles, um unsere Arbeit zu verbessern. So sind zum Bei-
spiel bei der Zinseinsparung im Zusammenhang mit Mo-
bilfunklizenzen die Schwerpunkte bei der Verwendung
der Gelder auf Bildung, Ausbildung und Forschung gelegt
worden. Es wäre ganz schön, wenn Sie auch das bemer-
ken würden und ich Sie nicht in ähnlicher Weise in einer
Zwischenfrage darauf hinweisen müsste.
Die Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt wird mit
Lohnkostenzuschüssen oder Prämien gefördert. Etliche
Kritiker stellen die Behauptung auf, dass zu viele Jugend-
liche gefördert würden, die überhaupt keine Förderung
bräuchten. Richtig ist: 77 Prozent der Teilnehmerinnen
und Teilnehmer waren vor Eintritt in das Sofortprogramm
arbeitslos, davon über 30 Prozent mehr als einmal. Schul-
abgänger, die keinen Ausbildungsplatz finden, sind
bei den Arbeitsämtern in der Regel als ausbildungsplatz-
suchend und nicht als arbeitslos registriert. Mit dem Pro-
gramm werden demzufolge vor allem die Jugendlichen
erreicht, deren Integration in den Arbeitsmarkt erschwert
ist und die besonderer Hilfe bedürfen. Seit Programm-
beginn wurden ungefähr 13 000 zusätzliche betriebliche
Ausbildungsplätze geschaffen. Auch das ist also ein Aus-
fluss aus diesem arbeitsmarktpolitischen Miteinander.
Statt, wie ursprünglich vorgesehen, für 2002, werden
die vereinbarten 40 000 neuen Ausbildungsplätze bereits
in diesem Jahr geschaffen. Darüber hinaus verpflichtet
sich die Wirtschaft im Rahmen der angestrebten Markt-
öffnung für ausländische IT-Spitzenkräfte, bis zum Jahr
2003 mindestens 20 000 weitere Ausbildungsplätze im
IT-Bereich bereitzustellen. Die Wirtschaftsinstitute be-
stätigen die Richtigkeit und Effizienz der Arbeitsmarkt-
politik des Bundes.
Dass der positive Trend auf dem Arbeitsmarkt in den
neuen Ländern erst mit Verspätung einsetzt, liegt auch an
den strukturellen Defiziten; das hatten Sie gesagt. Auch
daran ist die Vorgängerregierung nicht ganz unschuldig.
Wir wollen, dass die neuen Länder endlich am insgesamt
zu verzeichnenden Aufwärtstrend teilhaben und die ost-
deutschen Jugendlichen endlich Hoffnung schöpfen kön-
nen. Das wollen Sie ebenfalls, wie Sie hier gesagt haben.
Zum Schluss möchte ich ein Lied von Bettina Wegner
zitieren:
Grade, starke Menschen wär‘n ein schönes Ziel,
Leute ohne Rückgrat hab‘n wir schon zu viel.
Ich will nicht, dass dieses Rückgrat verbogen wird, in-
dem den jungen Menschen ständig eingeredet wird, dass
sie uns egal, ja überflüssig sind. Wir haben in dieser Rich-
tung einiges unternommen. Ich werde verdammt sauer,
wenn dies alles hier zerredet wird, weil die Opposition
sich profilieren will. Wir sind auf einem guten Weg und
diesen werden wir weitergehen.
Vielen Dank.
Nun hat das Wort die
Kollegin Cornelia Pieper, F.D.P.-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute Vor-mittag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunionaus Anlass ihres zehnten Jubiläums debattiert. Dem kannsich die Debatte über die Situation auf dem ostdeutschenArbeits- und Lehrstellenmarkt nach zehn Jahren deut-scher Einheit nahtlos anschließen.Insgesamt ist festzustellen, Frau Kollegin Holzhüter:Die beste Sozialpolitik für einen jungen Menschen ist,ihm einen Ausbildungsplatz bereitzustellen. Das ist über-haupt nicht strittig.
Das gilt ganz besonders für den sozial instabilen Osten.Ich verstehe nicht, warum Sie, wenn Ihnen der KollegeJork namens der Unionsfraktion in dieser Frage die Zu-sammenarbeit anbietet – auch ich würde das gerne na-mens der Fraktion der F.D.P. tun; denn uns ist die Zukunftjunger Menschen besonders wichtig –, das nicht einfachannehmen.
Trotz allem möchte ich noch einmal auf die Faktenzurückkommen. Zu den Tatsachen nach zehn Jahren Wirt-schaftsbilanz gehört auch, dass das Wachstum des Ostenshartnäckig hinter dem der alten Länder hinterherhinkt.Frühestens 2002, so optimistische Prognosen, wird dieKonjunktur Ostdeutschlands zum Westen aufschließen.
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Ökonomisch kann der Osten bereits seit drei Jahren nichtmehr mit den alten Ländern Schritt halten. Das gilt insbe-sondere für die Ausbildungsplatzsituation.In diesem Zusammenhang möchte ich Sie an die Fak-ten aus dem zuletzt vorgelegten Berufsbildungsberichterinnern. Denn der Zuwachs von 18 500 Ausbildungsver-trägen, der in diesem Bericht ausgewiesen wurde, kannnicht darüber hinwegtäuschen, dass die Zahl der von denBetrieben abgeschlossenen Ausbildungsverträge in denalten Ländern um 0,5 Prozent und in den neuen Ländernum 5 bis 10 Prozent zurückgegangen ist. Ich möchte zu-dem in Erinnerung rufen, dass 70 Prozent der betrieblichabgeschlossenen Ausbildungsverträge im Osten öffent-lich subventioniert sind. Das sind alarmierende Zahlen,die wir nicht einfach nur so zur Kenntnis nehmen können.Ich glaube, da muss man handeln.
Fakt ist auch, dass nach Informationen der Bundesan-stalt für Arbeit vom Mai dieses Jahres insgesamt 29 700junge Menschen im Rahmen des JUMP-Programmseine Ausbildungsplatzmaßnahme erhalten haben. Das istangesichts von Investitionen in Höhe von 2 MilliardenDM einfach zu wenig.
Angesichts dessen muss man nach der dauerhaften Effizi-enz dieses Programms fragen.
Deshalb können wir die einseitige Betrachtung der rot-grünen Bundesregierung in Bezug auf die Ausbildungs-platzsituation nicht akzeptieren. Lieber Kollege Tauss,diese einseitige Betrachtung führt nämlich bei Ihnen an-gesichts der Schieflage bei der betrieblichen Ausbildungzu Schönfärberei.
Deshalb bleiben wir dabei: Die beste Ausbildungs-platzpolitik ist eine offensive Mittelstandspolitik. DerMittelstand schafft zwei Drittel aller Ausbildungsplätze inDeutschland. Welche Bedingungen finden die Kleinst-und Kleinunternehmen in Ostdeutschland, die zumeistnur fünf bis zehn Beschäftigte und eine schwindende Ei-genkapitaldecke haben, denn vor? Seit Rot-Grün regiert,explodieren die Kosten.
Die Auftragslage für mittelständische Unternehmen, istaufgrund der zu geringen Investitionsquote in öffentli-chen Haushalten rückläufig.
Deswegen ist die Verbesserung der Ausbildungsplatzsi-tuation nicht alleinige Aufgabe der Bundesbildungsminis-terin, sondern auch eine gesamtgesellschaftliche. Es istalso ebenso Aufgabe des Wirtschaftsministers, sich mitdiesem Thema auseinander zu setzen.
Ihre Ökosteuer – das kann ich nicht oft genug wieder-holen – treibt die Handwerksmeister in den Ruin.
Ich finde es absurd, dass ausgerechnet die kleinen undmittelständischen Unternehmen nicht in die derzeit de-battierte Unternehmensteuerreform mit einbezogen wer-den, dass Sie die großen Konzerne bzw. die Kapitalge-sellschaften bevorteilen wollen und die kleinen Unter-nehmen im Hinblick auf eine Steuerentlastung außen vorlassen. Das ist meiner Meinung nach ein Skandal.
Als Letztes möchte ich Ihnen noch sagen, dass dieF.D.P.-Fraktion aufgrund der steigenden Zahlen der Aus-bildungsabbrecher und des bevorstehenden Fachkräfte-mangels auf eine Reform der beruflichen Bildungdrängt. Die Frage ist doch: Stolpert der Osten zukünftig ineine demographische Falle? Ich möchte an dieser Stellemit Genehmigung der Präsidentin den Jenaer SoziologenBehr zitieren, der sagte, die Konsequenzen aus dem de-mographischen Wandel könne sich in Westdeutschlandwahrscheinlich kaum jemand vorstellen. Der Fachkräfte-mangel werde in wenigen Jahren aufgrund der Radikalitätdes Umbruchs eine besonders dramatische und sehr spe-zifische ostdeutsche Ausprägung gewinnen.Das Institut für Wirtschaftsforschung in Halle hat beieiner Befragung in ostdeutschen Unternehmen festge-stellt, dass schon jetzt 30 Prozent dieser Unternehmen inspezialisierten Bereichen unbesetzte Arbeitsplätze haben.Ich glaube, hier müssen wir handeln. Wir wollen, dasseher praktisch orientierte junge Menschen bereits nachzwei Jahren einen Berufsabschluss haben können, der vonder Wirtschaft akzeptiert wird, und dass auf diesem Ba-sisberuf zukünftig mit Qualifizierungsbausteinen aufge-baut werden kann. Gerade bei innovativen Berufsbildern,etwa den IT-Berufen, kommt es auf eine flexible Ausbil-dung an, die die Menschen auf lebenslanges Lernen ori-entiert.
Frau Kollegin, Sie
müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss,Frau Präsidentin.Es kommt darauf an, dass moderne Berufsbilder wei-terentwickelt werden. Auch hier sehen wir in dem Antragder Union einen konstruktiven Ansatz. Wir unterstützendiesen Antrag.Namens meiner Fraktion sage ich abschließend, dasswir im Osten eine gemeinsame Initiative für mehr be-
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triebliche Ausbildungsplätze brauchen. Das erfordert eineMittelstandsoffensive. Hier hat die Bundesregierung bis-her allerdings mit ihrer mittelstandsfeindlichen und damitausbildungsplatzfeindlichen Politik auf ganzer Linie ver-sagt.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die
Kollegin Antje Hermenau.
Vielleicht könnten Sie Ihre Gespräche nachher draußenfortsetzen. – Danke schön.Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eigent-lich ist der Antrag, der heute von der CDU/CSU-Fraktionvorgelegt wurde, in fast allen Punkten erledigt. Daraufkomme ich gleich noch zurück. Lassen Sie mich zunächstaber auf den Punkt eingehen, der hier bisher eine so großeRolle gespielt hat: Offensichtlich ist der Kern der Debatte,die wir hier führen, die Frage, wer wie lange in welchemGraben sitzt. Wir können uns gern gegenseitig vorhalten,was uns allen in den letzten sechs Jahren nicht eingefallenist. Aber eines ist sicher: Die Anzahl der Betriebe in Ost-deutschland entscheidet darüber, wie viele Leute einenArbeitsplatz bzw. eine Lehrstelle finden. Ende der Durch-sage!
– Ja, so einfach ist das.Wenn man das weiß, dann muss man – dazu fehlt Ih-nen aber die passende Ideologie – verlangen, dass derStaat einspringt und das ergänzt, was die Wirtschaft alleinnoch nicht schafft. Wir können uns diese Forderung leis-ten, weil wir ideologisch in der linken Ecke verortet sind.Wir dürfen dann auch einmal ein staatliches Programmmachen; das geht dann in Ordnung.
Deshalb hatten wir auch immer einen Vorschlag anzubie-ten, was Ihnen verwehrt war,
und deshalb kommen Sie jetzt wieder mit der Leier derletzten sechs Jahre an und meinen, Sie hätten einen neuenAntrag vorgelegt. Das ist eigentlich schade.Beispielsweise haben Sie, Herr Jork, immer gegen dieUmlagefinanzierung gekämpft. Aber wenn Sie eine di-rekte Steuerentlastung für ausbildende mittelständischeBetriebe fordern, dann bedeutet das eine indirekte Um-lage. Das kann man natürlich auch so herum machen; aberes bleibt dasselbe.
Lassen Sie mich nun auf das zu sprechen kommen, waswir machen. Wir haben einen Konsens darüber – an die-ser Stelle komme ich auf Ihr Kooperationsangebotzurück –, dass die regionalen Aktivitäten eindeutig ver-stärkt werden müssen. Auch sind wir alle – vielleicht mitAusnahme der PDS; das werden wir gleich noch hören –der Auffassung, dass es notwendig ist, aus diesen staat-lichen Zwischenprogrammen auszusteigen und wiedermehr und mehr in die Ausbildung durch Wirtschaftsbe-triebe einzusteigen.
Ich will hier nicht noch einmal alle Zahlen vortragen.Interessant ist aber, dass in Ländern wie Bremen und demSaarland die Ausbildungsquote ebenso wie in Thüringenund Sachsen explosionsartig hoch gegangen ist – die Stei-gerung betrug zwischen 6 und 7 Prozent –, während an-dere Länder wie Bayern oder Brandenburg rückläufigeZahlen aufweisen. Bayern war heute ja schon als Vorbildin Sachen Kampfhunde erwähnt worden; bei den Lehr-stellen hat es diesmal nicht geklappt.Wir sind also alle der Meinung, dass es notwendig ist,aus diesen Programmen langsam auszusteigen. Auf deranderen Seite ist jedoch die spezifische Situation desOstens zu berücksichtigen. Wenn über beides hier imRaum Konsens besteht, dann ist es logisch, dass unserVorgehen genau richtig ist.
Wir haben einen Politikmix erarbeitet, in dem ver-schiedene Maßnahmen zielgerichtet dafür sorgen sollen,der spezifischen Situation im Osten, soweit es geht, Herrzu werden. Sie wissen, wir werden noch ungefähr fünfJahre lang diese Verzerrung haben. Wir haben im Bünd-nis für Arbeit nicht nur den Ausbildungskonsens, son-dern auch die Ausbildungskonferenzen beschlossen, diezum Teil schon sehr aktiv sind. Wir haben Nachvermitt-lungsaktionen durchgeführt, die von September bis Aprileine große Entschärfung auf dem Ausbildungsstellen-markt gebracht haben. Das wissen alle, die sich damit be-schäftigt haben. Es gibt auch wieder ein Sonderprogrammfür Lehrstellen im Osten und eine Reihe von regionalenInitiativen.Auf eine Initiative möchte ich noch zu sprechen kom-men. Bitte lachen Sie nicht, diese Initiative von den Be-rufsbildungsfunktionären des DGB im Osten heißt„Trabi plus“. Nun kann man ja sagen, Gewerkschaftenseien unbeweglich. Ich muss auch sagen: Ich habe vieleso kennen gelernt. Aber dieser Vorschlag ist wirklich fle-xibel.
Die Überlegung ist, bis zum Wendeknick im Jahr 2005ungefähr 15 000 Arbeitsplätze im Osten zu stabilisieren.Zudem soll eine Chance geboten werden, von derPro-Kopf-Förderung wegzukommen; denn wenn die
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mittelständischen Betriebe, die gefördert werden sollen,immer in den Startlöchern sitzen und darauf warten, dasssie vom Staat wieder 3 000 bis 8 000 DM pro Jahr be-kommen, wenn sie einen Lehrling aufnehmen, entsprichtdies noch lange keiner vernünftigen Ausbildungsförde-rung. Um es einmal klar zu sagen: Hier geht es nur umMitnahmeeffekte.Den Vorschlag „Trabi plus“ finde ich deshalb so inte-ressant, weil er zum einen kostengünstiger ist: Statt26 000 DM für eine außerbetriebliche Maßnahme auszu-geben, verbrauchen wir nur noch 9 000 bis 12 000 DM proLehrstelle und darin sind bereits Sachmittelkostenzu-schüsse enthalten. Außerdem werden nur zusätzliche Aus-bildungsstellen finanziert. Die Feststellung, ob es sich umeine zusätzliche Ausbildungsstelle handelt oder nicht, er-folgt anhand eines Querschnitts der letzten drei Jahre. Dasfinde ich auch sehr wichtig; denn so kann sich keinerdurchmogeln. Zudem stellt dies auch für kleinere Unter-nehmen, die in der Ausbildung vielleicht noch nicht so er-fahren sind oder noch nicht die Ausbildungsfähigkeit er-langt haben, eine große Hilfestellung dar. Ich glaube also,dass dies eine gezielte Mittelstandsförderung im Bereichder beruflichen Ausbildung ist.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Gerhard Jüttemann.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Die Bundesregierung hat im jüngsten
Berufsbildungsbericht eingestanden, dass die Zahl der
angebotenen Lehrstellen im Osten erneut drastisch zu-
rückgegangen ist, und zwar um 5 bis 10 Prozent.
Die Katastrophe des sich seit Jahren verschärfenden
Lehrstellenmangels im Osten hat vor allem zwei Ursa-
chen. Die erste Ursache sind die Liquidierung fast der
gesamten wirtschaftlichen und wissenschaftlich-techni-
schen Potenziale in den ersten Jahren nach der Verei-
nigung sowie die Beseitigung eines Großteils der Arbeits-
plätze. Zudem gibt es auch im zehnten Jahr der Einheit
kein tragfähiges Konzept eines nachhaltigen wirtschaftli-
chen Aufschwungs der neuen Bundesländer, der dazu
führen würde, dass der Osten vom Tropf des Westens ge-
nommen werden könnte.
Die zweite Ursache ist der in der gesamten Bundesre-
publik zu beobachtende Trend, dass sich die Betriebe aus
Wettbewerbs- und daher aus Kostengründen von der Be-
rufsausbildung verabschieden. Der Staat fördert diesen
Trend, indem er bei Fachleuteengpässen Green Cards aus-
stellt und die überfällige Umlagefinanzierung der Ausbil-
dung verhindert.
Es ist doch schon ein unglaublicher Skandal, dass in
der gesamten Bundesrepublik circa 50 Prozent der aus-
bildungsgeeigneten Betriebe – darunter sind vor allem die
großen – keine Lehrlinge mehr ausbilden. 50 Prozent,
Tendenz fallend – wann wollen Sie denn endlich etwas
dagegen tun?
In Ostdeutschland wurden 1999 5 000 betriebliche
Lehrstellen weniger bereitgestellt als im Jahr davor. Da-
mit schrumpfte das Angebot unter das von 1991; es
reichte kaum noch für die Hälfte der Bewerber. Aber al-
les, was der Bundesregierung dazu einfällt, ist das Sofort-
programm einer Schmalspurausbildung, mit dem die Sta-
tistiken vorübergehend geschönt werden. Von 133 000 zu
Beginn dieses Jahres in das Programm integrierten Ju-
gendlichen hatten nicht einmal 25 000 die Chance auf ein
reguläres Beschäftigungsverhältnis. Das heißt, nicht ein-
mal jedem Fünften der Geförderten ist wirklich nachhal-
tig geholfen worden. Mehr als vier von fünf waren nach
der Förderung wieder arbeitslos.
Aber der Propagandaeffekt ist der Regierung schon
einmal 2 Milliarden DM pro Jahr wert.
Warum wohl? Weil sie damit von ihren eigentlichen
Wahlversprechen in Sachen Ausbildung ablenken kann.
Im SPD-Wahlprogramm heißt es nämlich:
Wirtschaft und öffentlicher Dienst müssen in eigener
Verantwortung für ein ausreichendes Lehrstellenan-
gebot sorgen. Anderenfalls wird auf gesetzlicher
Grundlage ein fairer, bundesweiter Leistungsaus-
gleich zwischen ausbildenden und nicht ausbilden-
den Betrieben notwendig.
Wir befinden uns in der Mitte der Legislaturperiode
und dass das zitierte „anderenfalls“ eingetreten ist, steht
schwarz auf weiß im Berufsbildungsbericht:
Ein von der Wirtschaft getragenes ausreichendes
Ausbildungsplatzangebot konnte noch nicht erreicht
werden. Dies gilt insbesondere für die neuen Länder.
Es besteht also dringender Handlungsbedarf; denn dem
Vorwurf, Ihre Wahlversprechen nicht einzuhalten, werden
Sie sich doch nicht auch noch auf diesem Gebiet ausset-
zen wollen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und hoffe nur, dass
Sie die duale Ausbildung nicht ganz aus den Augen ver-
lieren.
Das Wort hat nun dieBundesministerin Edelgard Bulmahn.Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildungund Forschung: Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenHerren und Damen! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich habe vorhin gedacht: Das ist ja mal eine Debatte, beider wir in vielen Punkten übereinstimmen. Nach Ihrem
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000
Antje Hermenau10640
Beitrag, Herr Jüttemann, stelle ich fest, dass es doch eineReihe von Punkten gibt, bei denen wir in diesem Parla-ment im Dissens sind.Wenn wir über die Situation der Ausbildung in denneuen Bundesländern debattieren, reden wir über die Le-bens- und Berufschancen von 140 000 jungen Menschen.Deshalb muss man zur Kenntnis nehmen – das erwarte ichvon einem Parlamentarier auch, Herr Jüttemann –, wasgemacht worden ist, welche Initiativen gestartet wordensind. Wenn man eine solche solide Sachevaluierung nichtdurchführt, wird man weder den Anforderungen an einepolitische Arbeit noch den Erwartungen der Jugendlichengerecht. Ich werde in meinem Redebeitrag noch auf dieeinzelnen Punkte eingehen.Es geht, liebe Kolleginnen und Kollegen, um die Zu-kunft der jungen Generation. Auf der politischen Tages-ordnung gehört diese ganz nach oben. Das ist bei dieserBundesregierung der Fall.
Das sehen Sie, wenn Sie einen Blick in den Haushalt die-ses Jahres werfen. Die Bundesregierung hat sehr bewusst –weil sie will, dass die Zukunftschancen für unsere Ju-gendlichen besser werden – die Ausgaben für Bildungund Forschung um 5,3 Prozent gegenüber dem letztenHaushaltsjahr erhöht. Obwohl andere Ressorts Kürzun-gen hinnehmen mussten, haben wir einen klaren Schwer-punkt auf die Ausgaben für Bildung und Forschung ge-setzt.Wir haben darüber hinaus durch unsere Steuerpolitikdem Rechnung getragen, was Sie einfordern, Frau Pieper.
Wir haben mit der Steuerreform, die wir jetzt vorlegen –ich hoffe, dass Sie diese Steuerreform im Bundesrat un-terstützen, damit sie umgesetzt werden kann –,
erhebliche Verbesserungen für kleine und mittelständi-sche Unternehmen vorgesehen,
die ihnen Erleichterungen bringen werden.Auch bei der Ökosteuer haben wir Erleichterungen fürdie kleinen und mittleren Unternehmen berücksichtigt.Denn im Gegensatz zu Ihnen, die Sie immer nur über dieBelastung der kleinen und mittleren Unternehmen durchdie Sozialversicherungsbeiträge geredet haben, haben wirden ersten Schritt zur Begrenzung der Sozialversiche-rungsbeiträge gemacht.
Sie wissen, dass gerade kleine und mittelständische Un-ternehmen zu einem großen Teil personalintensive Unter-nehmen sind. Das ist ein wesentlicher Unterschied zu dengroßen Unternehmen. Wir nutzen die Mittel aus der Öko-steuer,
um durch eine Reduzierung der Sozialversicherungs-beiträge den personalintensiven Unternehmen zur Seitezu stehen.
Frau Ministerin, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegen Pieper?
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Nach diesem Gedanken.
Last, not least leisten wir – auch das fordern Sie ein –
ressortübergreifende Zusammenarbeit, die richtig und
notwendig ist. Dies gilt sowohl für Programme der For-
schungspolitik, die in meinem Haus entwickelt worden
sind – zum Beispiel das Programm Inno-Regio –, als auch
für Programme des Bundeswirtschaftsministeriums. Wir
wollen in den neuen Bundesländern industrielle Kerne
ausbauen. Sie alle wissen – das bestreitet von Ihnen auch
niemand –, dass das Programm Inno-Regio hervorragend
läuft und genau diese Funktion erfüllt.
Wir machen also keine einseitige Politik, sondern ha-
ben die gesamte Bandbreite dessen, was notwendig ist, im
Blick. Denn eines kann ich nur nachhaltig unterstreichen:
In den neuen Bundesländern sind mehr moderne Betriebe
notwendig, insbesondere aus dem Bereich der Hochtech-
nologie. Ich würde mich freuen, wenn man in dieser Hin-
sicht gemeinsam an einem Strang zieht.
Jetzt kommt die Zwi-
schenfrage. – Bitte sehr, Frau Kollegin Pieper.
Frau Ministerin, nach IhrenAusführungen zur Unternehmensteuerreform und zurÖkosteuer möchte ich Sie fragen: Mit welchen PunktenIhrer Reformkonzepte haben Sie denn die kleinen undmittelständischen Unternehmen in den neuen Bundeslän-dern entlastet? Denn gerade bei der Ökosteuer wurden jaEntlastungen für die energieintensiven Großunternehmengeschaffen, während die Kleinen davon ausgeschlossenwurden.
Ist Ihnen bewusst, dass die Mehrheit der Kleinstunterneh-men im Osten Betriebe mit fünf bis zehn Beschäftigtensind, also keinesfalls mit dem Mittelstand in den altenBundesländern verglichen werden können?
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000
Bundesministerin Edelgard Bulmahn10641
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildungund Forschung: Ich denke, ich habe das vorhin schon aus-führlich dargestellt.
Wir leiten die Einkünfte aus der Ökosteuer nicht in denallgemeinen Steuertopf,
– auch das unterscheidet uns im Übrigen von anderen Re-gierungen –, sondern wir setzen die Mittel aus der Öko-steuer ganz gezielt ein, um die Sozialversicherungs-beiträge zu senken. Das haben wir auch bereits gemacht.Dies ist eine erhebliche Erleichterung gerade für die per-sonalintensiven Betriebe.
Ich kann nur wiederholen: Sie wissen, dass kleine undmittelständische Unternehmen personalintensiv sind. Dasunterscheidet sie von den großen Betrieben, die in einemwesentlich stärkeren Maße kapital- und geräteintensivsind.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe vorhin ge-sagt, es kommt darauf an, dass wir Vorsorge treffen, damitdie Jugendlichen eine gute Ausbildung erhalten. Wir ha-ben dies getan, weil wir gerade in den neuen Bundeslän-dern leider eine Situation vorgefunden haben, die dadurchgekennzeichnet war, dass es über Jahre hinweg keinenZuwachs bei der Zahl der betrieblichen Ausbildungsstät-ten gab. Über Jahre hinweg haben unter Ihrer Regierung,meine Damen und Herren von der Opposition, viele Ju-gendliche keinen Ausbildungsplatz gefunden. Deshalbhaben wir gesagt: Wir brauchen ein Bündel an Maßnah-men, einen Mix – wie das auch meine Kolleginnen darge-stellt haben – aus staatlicher Vorsorge und gleichzeitig zutreffenden Vereinbarungen, um die Zahl der betrieblichenAusbildungsplätze zu erhöhen. Beides muss geschehen.Ich halte es für völlig falsch und deplatziert, das eine ge-gen das andere zu stellen. Im Augenblick brauchen wirbeides.
Deshalb sollte man vorwärts schauen: Erstens. Das So-fortprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslo-sigkeit hat eine wichtige Funktion erfüllt und wird sieauch weiterhin erfüllen. Wir haben im Rahmen diesesProgramms vielen Jugendlichen gerade in den neuenBundesländern ein Ausbildungsplatzangebot machenkönnen. Herr Jüttemann, ich verstehe Ihren Kommentarüberhaupt nicht. Denn die Jugendlichen, die ihre Ausbil-dung im Rahmen dieses Sofortprogramms begonnen ha-ben, befinden sich noch in der Ausbildung. Diese habenihre Ausbildung noch gar nicht abgeschlossen. Das istauch logisch, denn diese dauert drei bis dreieinhalb Jahre.Dazu kann ich nur sagen: Adam Riese. Wenn man rech-net, weiß man, dass diese Jugendlichen ihre Ausbildungnoch nicht beendet haben. Aussagen über den Erfolg kön-nen wir erst nach Beendigung der Ausbildung treffen.Zweitens. Ich habe gemeinsam mit der Bundesanstaltfür Arbeit, mit den Ländern und den Sozialpartnern Ver-besserungsvorschläge für die zweite Phase des Sofortpro-gramms, die in diesem Jahr läuft, gemacht. Wir haben einesehr sorgfältige regionale Analyse durchgeführt. Die Mit-tel des Sofortprogramms – das zeigt diese regionale Ana-lyse – werden dort eingesetzt, wo betriebliche Ausbil-dungsplätze nicht in ausreichender Zahl vorhanden sind,weil wir keine Konkurrenzsituation wollen.Drittens. Ich habe mit den neuen Bundesländern dasAusbildungsprogramm Ost 2000 beschlossen. Wir ha-ben die Zahl der Ausbildungsplätze noch einmal aufge-stockt, weil dies notwendig war und ich die Jugendlichennicht im Regen stehen lassen will, sondern sie ein Ausbil-dungsangebot haben sollen.
Wir haben es mit diesen und den betrieblichen Maß-nahmen, auf die ich gleich noch eingehen werde, erreicht,dass von den knapp 10 000 Jugendlichen, die am 30. Sep-tember des letzten Jahres noch ohne Ausbildungsplatzwaren, nur noch 2 000 übrig sind. Auch diese 2 000 Ju-gendlichen haben mehrere Ausbildungsplatzangebote er-halten. Ich kann aber keinen Jugendlichen zwingen, einenAusbildungsplatz anzunehmen. Allein schon diese erheb-liche Verringerung, die uns gelungen ist, macht deutlich,dass diese unterschiedlichen Angebote, diese Initiativen,die wir auf den Weg gebracht haben, Wirkung zeigen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, entscheidend ist dasEngagement der Wirtschaft – das sage ich immer wie-der, an jeder Stelle und auch hier in diesem Hause –, eineausreichende Zahl von Ausbildungsplätzen anzubieten,um damit den Jugendlichen Lernmöglichkeiten im Be-trieb zu bieten. Dies wollen wir, dies ist unsere Zielset-zung.
Gerade in den neuen Bundesländern müssen dafürnoch mehr Betriebe gewonnen werden. Ich sage den Be-trieben auch immer sehr klar, dass die Ausbildung inihrem eigenen Interesse liegt, weil sie dann auch überFachkräfte verfügen, die die entsprechende qualitativ guteAusbildung erhalten haben. Denn wir wissen, dass ab demJahre 2005 die Zahl der Jugendlichen erheblich zurück-gehen wird, sodass praktisch schon jetzt eine Fachkräf-telücke, ein Fachkräftemangel erkennbar ist. Deswegenist das, was die Betriebe leisten müssen, auch Zukunfts-vorsorge.Ich habe den Eindruck, dass die Betriebe dies auchlangsam begreifen. Denn in diesem Jahr – ich finde, auchdas muss man zur Kenntnis nehmen – gibt es eine äußersterfreuliche Entwicklung. Wir haben bei einem überpro-portionalen Anstieg der Ausbildungsplätze in den neuenBundesländern eine Zunahme der betrieblichen Ausbil-dungsplätze um rund 9 Prozent. Das ist zum ersten Malein wirklich spürbarer Zuwachs. Es ist ein Ergebnis der
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 200010642
Vereinbarung des Bündnisses für Arbeit, die wir im Som-mer des letzten Jahres beschlossen haben. Sie konntenatürlich nicht schon im letzten Jahr zu einer deutlichenVerbesserung der Ausbildungsplatzsituation beitragen,wird jetzt aber spürbar. Deshalb bitte ich darum, dasGanze nicht herunterzureden. Damit demotivieren wir dieLeute nämlich wieder. Vielmehr müssen wir den Anstiegder Zahl der Ausbildungsplätze entsprechend honorierenund gleichzeitig sagen: Das ist noch nicht genug, wir müs-sen noch mehr tun.
Wir brauchen noch mehr Betriebe, damit wir allen Ju-gendlichen einen betrieblichen Ausbildungsplatz anbietenkönnen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, was vonseiten derCDU/CSU-Fraktion vorgelegt worden ist, entspricht invielen Punkten dem, was wir bereits in Angriff genommenhaben. Wir haben das Programm „Ausbildungsplatz-entwickler“. Wir unterstützen damit die Menschen vorOrt, in die Betriebe zu gehen und sie während der gesam-ten Ausbildung zu informieren, zu beraten, zu begleitenund zu unterstützen. Wir haben dieses Programm vonsei-ten der Bundesregierung noch aufgestockt; denn dieStärke dieses unmittelbaren Kontaktes hat ein ganz großesGewicht.
Wir haben den Ausbau der Verbundausbildung fort-gesetzt, um auch die kleinen und mittleren Betriebe, diesagen, ich kann mir Ausbildung in meinem Betrieb alleinenicht leisten, zur Ausbildung zu motivieren. Wir habenpraktisch die Hilfe leistungsstarker Unternehmen als re-gionale „lead companies“ gewonnen, um damit kleineund mittlere Unternehmen noch stärker für die Ausbil-dung zugewinnen.
Frau Ministerin, ich
muss Sie an Ihre Redezeit erinnern.
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Herr Jork, Sie haben eine falsche Aussage
gemacht. Die Mittel für diese Programme werden im
Haushalt für das Jahr 2001 nicht gekürzt, sondern sie blei-
ben auf dem gleichen Niveau. Schauen Sie bitte noch ein-
mal in den Haushaltsentwurf! Dann werden Sie es fest-
stellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir legen ein großes
Gewicht auf die gezielte Regionalberatung, weil es sich
zur Sicherung und Weiterentwicklung des Ausbildungs-
platzangebotes als das A und O erwiesen hat. Wir arbeiten
mit Hochdruck an der Modernisierung von Berufen.
13 neue sind bereits gesetzlich fixiert, vier neue Berufe
haben wir in diesem Jahr beschlossen, 30 Berufe sind noch
in der Flotte, wie wir in Nord-deutschland sagen. Das
heißt, wir arbeiten mit Hochdruck daran.
Wir haben die modernen Technologien und die neuen
Medien nicht nur als Mittel genutzt. Vielmehr haben wir
der Ausbildung gerade in diesem Bereich eine zentrale
Bedeutung beigemessen. Deshalb auch die Verabredung
mit den Unternehmen – die ja die Ausbildung leisten müs-
sen – die Zahl der ausbildenden Betriebe noch einmal von
40 000 auf 60 000 zu erhöhen. Die Ergebnisse, die uns
jetzt vorliegen, zeigen deutlich, dass das kein überhöhtes
Ziel ist. Wir werden dieses Ziel erreichen.
Frau Ministerin, ich
muss Sie leider an Ihre Redezeit erinnern, weil wir sonst
eine neue Runde eröffnen.
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Deshalb, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, sage ich kurz: Wir arbeiten dafür und werden weiter
dafür arbeiten, diese positive Trendwende fortzusetzen.
Das sollten alle anderen in diesem Parlament auch tun.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aus-sprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlageauf Drucksache 14/3185 an die in der Tagesordnung auf-geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein-verstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 22 sowie Zu-satzpunkte 12 und 13 auf:22. Beratung des Antrags der Fraktion der PDSErleichterte und erweiterte Rehabilitierungund Entschädigung für Opfer der politischenVerfolgung in der DDR– Drucksache 14/2928 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsausschussZP 12 Erste Beratung des von den Abgeordneten Günter
der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Drit-ten Gesetzes zur Bereinigung von SED-Unrecht
– Drucksache 14/3665 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
InnenausschussRechtsausschussHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GOZP 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter
CDU/CSU
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000
Bundesministerin Edelgard Bulmahn10643
Den jenseits von Oder und Neiße Verschlepptenwirksam und dauerhaft helfen– Drucksache 14/3670 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
InnenausschussRechtsausschussHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die PDSfünf Minuten erhalten soll. – Dazu höre ich keinen Wi-derspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort derKollegin Petra Pau, PDS-Fraktion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Dass wir uns binnen eines halben Jah-
res erneut mit der Rehabilitierung und Entschädigung po-
litisch Verfolgter der DDR befassen müssen, war vorher-
sehbar. Der Grund liegt darin, dass die Verbesserungen,
die im Dezember 1999 beschlossen wurden, zum Teil
halbherzig und vor allem bürokratisch waren. Ich wieder-
hole das auch deshalb, weil wir seinerzeit schon weiter ge-
hende Anträge gestellt haben.
Vielleicht erinnert sich auch Herr Staatsminister
Schwanitz noch daran. Ich hoffe, dass ich künftig in Ver-
anstaltungen mit Betroffenen nicht mehr damit konfron-
tiert werde, dass mit Bezug auf ihn behauptet wird, die
PDS blockiere die erweiterten Entschädigungszahlungen
sowie die unbürokratische Lösung dieses Problems. Es ist
zum einen zu viel der Ehre, dass Sie meinen, wir könnten
das blockieren; zum anderen entspricht es aber auch nicht
den Tatsachen. Sie erinnern sich: Wir haben im Dezember
weiter gehende Vorschläge gemacht.
Die PDS-Fraktion hat drei Anträge gestellt. Wir wol-
len, dass erstens die entschädigungsberechtigten Opfer
ihre Nachzahlungen von Amts wegen erhalten – die Pra-
xis seit In-Kraft-Treten des Gesetzes am 1. Januar 2000
zeigt, dass viele Betroffene trotz aller Öffentlichkeitsar-
beit nicht erreicht wurden und somit nicht in der Lage wa-
ren, ihre Anträge zu stellen –, zweitens verfolgte Schüle-
rinnen und Schüler, denen Berufs- und Studienmöglich-
keiten verwehrt wurden, in den rentenrechtlichen
Nachteilsausgleich einbezogen werden, drittens Haftfol-
gegesundheitsschäden dort anerkannt werden, wo sie zu
vermuten sind.
Sie wissen alle – wir haben noch die Schilderungen der
Betroffenen im Ohr –, wie schwierig es heute ist, Nach-
weise für diese Schäden zu erbringen. Dazu gehört, Herr
Schwanitz, auch die Einlösung Ihres Versprechens, dass
abgelehnte Anträge auf Anerkennung haftbedingter Ge-
sundheitsschäden nochmals von qualifizierten Gutachtern
überprüft werden sollen. Kurzum: Wir wollen gleiches
Recht für bislang benachteiligte Opfergruppen und wir
wollen im Interesse der Betroffenen bürokratische Hür-
den abbauen.
Alle drei Vorschläge haben bereits im Dezember eine
Rolle gespielt und wurden auch in der Anhörung des Aus-
schusses für Angelegenheiten der neuen Länder am
19. November 1999 von Betroffenen und den Sprechern
ihrer Verbände formuliert und begründet. Wir beantragen,
dass diese notwendigen Nachbesserungen so in Gesetzes-
form gegossen werden, dass diese per 3. Okto-
ber 2000 – also zum zehnten Jahrestag der staatlichen Ein-
heit – in Kraft treten können.
Es liegt uns ein weiterer Antrag der CDU/CSU-Frak-
tion vor, nämlich der Entwurf eines Dritten Gesetzes zur
Bereinigung von SED-Unrecht. Mit diesem werden eben-
falls Forderungen aus den Opferverbänden aufgegriffen,
vor allem die nach einer Ehrenpension für die Opfer poli-
tischer Verfolgung im Beitrittsgebiet. Beide Anträge – der
der PDS und der der CDU/CSU – korrespondieren mitei-
nander, gehen aber auch jeweils weiter als der andere.
So hat die CDU/CSU mit ihrem Entwurf die Betroffenen
im Blick, die bereits Entschädigungen erhalten, das heißt,
diese Anerkennung besitzen, während die PDS wei-
tere Betroffene einbeziehen will. Umgekehrt will die
CDU/CSU die Höhe der Entschädigung anheben, und
zwar auf eine nicht anrechnungsfähige Pension von
1 000 DM monatlich.
Ich denke, wir sollten diese beiden Anträge in den Aus-
schüssen gemeinsam prüfen und die zum Teil vorhande-
nen Fragezeichen in der konkreten Umsetzung gemein-
sam auflösen. Auch das vorgeschlagene Finanzierungs-
modell, mit dem der Bund zu 60 Prozent und die Län-
der – also wohl vorwiegend die neuen Bundesländer – zu
40 Prozent zuständig würden, gehört aus meiner Sicht auf
den Prüfstand.
Danke schön.
Jetzt hat der Kollege
Günter Nooke von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Sehrgeehrte Damen und Herren! Ich möchte die Zeit nutzen,um unseren Gesetzentwurf noch einmal zu begründen, daes – Frau Pau, Sie müssen das einfach akzeptieren – fürviele Opfer schwierig ist, wenn Sie sich als ehemaligePionierleiterin und Privilegierte des Systems dieses The-mas allzu stark annehmen.
Ich will aber deutlich sagen: Wenn wir in der Sache ge-meinsam vorankommen, ist das mit Ihnen auch zu ma-chen. Die Hauptsache ist, dass wir am Ende materiell zu-gunsten der Opfer etwas erreichen.Vor knapp zwei Wochen, am 17. Juni, nahm ich an ei-ner Gedenkfeier ehemaliger Häftlinge in Berlin-Charlot-tenburg teil. An diesem Jahrestag des Volksaufstandes ge-gen die SED-Diktatur in der DDR, der lange Zeit auchbundesdeutscher Feiertag war, nahmen nur wenige Men-schen teil. In absehbarer Zeit wird es kaum noch Zeugendes Aufstandes von 1953 geben.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000
Vizepräsidentin Anke Fuchs10644
Vor fast genau einem Jahr, am 17. Juni 1999, habe ichin diesem Hohen Hause ebenfalls zu diesem Thema ge-sprochen. Die damalige Rede stand noch ganz unter demEindruck des Urteils des Bundesverfassungsgerichts be-züglich der Sonderrenten für diejenigen, deren Versor-gung der SED besonders am Herzen lag. Seither lebenehemals Privilegierte des SED-Regimes im Rechtsfrie-den. Angeblich hat dieses Urteil, wie eine Pressemittei-lung des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialord-nung damals mit Bezug auf das Urteil des Bundesver-fassungsgerichts lautete, die notwendige Klärung her-beigeführt und eben zu jenem Rechtsfrieden geführt.Nun kann man sich gewiss gut vorstellen, dass alleinaufgrund der Nachzahlungen, die der betroffene Perso-nenkreis erhält, ein friedliches Leben im Rechtsstaat mehrals nur gesichert ist. Aber dieser Rechtsfrieden hat eine to-tale Schieflage. Ich will an diesem Ort und zu diesemZeitpunkt nicht wiederholen, was ich damals zu diesemUrteil gesagt habe, und mein Unbehagen nicht noch ein-mal zum Ausdruck bringen. Mir geht es vor allem um die-jenigen, die ich eingangs genannt hatte. Es geht um eineschnelle und unbürokratische Lösung für die in der DDRpolitisch Verfolgten. Sie ist dringlicher denn je.
Meine Damen und Herren, wir müssen genau hinhörenund hinschauen, wie unser Umgang mit 40 Jahren SED-Diktatur im Deutschen Bundestag bei den Opfern wahr-genommen wird. Sie können nicht so laut schreien, wie esmit vielfältiger Unterstützung den Privilegierten desSED-Regimes möglich war.Wir haben heute Vormittag über die Währungs-, Wirt-schafts- und Sozialunion gesprochen. Wir haben damitüber die Erfolgsgeschichte dieses Landes debattiert; da-rüber kann überhaupt kein Zweifel bestehen. Für diemeisten Menschen in unserem Land war das ein politi-scher Erfolg, und für die Menschen in der damaligen DDRwar es ein politischer und wirtschaftlicher Erfolg.Die Hoffnungen derjenigen, die bis 1989 dem politi-schen System der DDR Opposition und Widerstand ent-gegengesetzt hatten, haben sich allerdings nur zum Teilerfüllt. Ich sage hier ganz bewusst als Mitglied derCDU/CSU-Bundestagsfraktion: In diesem Hohen Hauseist in den vergangenen Jahren, nicht nur im letzten Jahr,zu wenig für die Opfer der SED-Diktatur getan worden.
– Ja, da können wir klatschen.
Gerade an der Debatte über die Währungs-, Wirt-schafts- und Sozialunion ist doch heute Vormittag einesklar geworden: dass dringende politische Entscheidungennotwendig sind und nicht nur von der Kassenlage abhän-gig gemacht werden dürfen. Ich halte die Frage nach ei-ner angemessenen und gerechten Entschädigung für dieOpfer der SED-Diktatur in erster Linie für eine Frage despolitischen Willens. Wir hier im Deutschen Bundestagsollten diesen politischen Willen demonstrieren und einesolche angemessene Entschädigung durchsetzen, undzwar jetzt.Ich hatte vor einem Jahr bei der Begründung des da-mals von der CDU/CSU-Fraktion eingebrachten Gesetz-entwurfes zum Zweiten SED-Unrechtsbereinigungsge-setz ausdrücklich darauf hingewiesen, dass dieses nur ei-nen ersten, viel zu bescheidenen Beitrag zur Verbesserungder Lage der Opfer des SED-Regimes zu leisten vermag.Ich hatte weiterhin zu Protokoll gegeben, dass sich künf-tige Regelungen in dieser Frage in stärkerem Maße an denvon den Opferverbänden geforderten 1 400 DM monatli-che Rente orientieren müssten.Eine Orientierung an den Renten für Opfer des Natio-nalsozialismus – das ist ja die Grundlage für die Forde-rung der Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft –ist aus unserer Sicht durchaus verständlich. Es kann keinZweifel daran bestehen, dass es beim Rückblick auf diebeiden deutschen Diktaturen im vergangenen Jahrhundertkeine Opfer zweiter Klasse geben darf.Eine Behandlung des Themas ausschließlich nach Kas-senlage halte ich in diesem Falle auch deshalb für schäd-lich und unaufrichtig, weil eben diese Nachzahlungen ausden Zusatz- und Sonderversorgungssystemen, die vielenehemaligen SED-Kadern – Professoren für Marxismus-Leninismus und sozialistisches Recht – zuteil werden,letztlich mehr Geld erfordern als die berechtigten Vorstel-lungen der SED-Opfer.
Herr Staatsminister Schwanitz, Sie sagten in der De-batte über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunionheute Morgen, man müsse sich gegen den Angriff auf dieoffene Gesellschaft wehren und sich diesem entschlossenentgegenstellen. Was meinen Sie denn damit? Sollen etwaunter Einschluss der alten SED-Kader Bündnisse gegenRechtsextremismus geschmiedet werden? Sollen ehema-lige Staatsbürgerkundelehrer der DDR den Schülern mitantikapitalistischem, ideologischem Unterton die not-wendige Toleranz gegenüber Ausländern beibringen?
Auf der anderen Seite werden diejenigen, die sich zu Zei-ten der SED-Diktatur gegen diese SED-Kader, ML-Professoren und Staatsbürgerkundelehrer oft mit nichtmehr als einem mutigen Wort wehren konnten, weiter mitFüßen getreten. Schafft das wirklich Bewusstsein? Trägtdas zur politischen Bildung bei?Ich glaube, die Bundesregierung will mit dem, was siean Billigregelungen beim Thema Opfer der SED-Diktaturanbietet, dies sogar abschließend regeln. Ich sage deutlichfür meine Fraktion: Wir werden dies nicht zulassen.
Die CDU/CSU-Fraktion möchte mit dem vorliegendenEntwurf eines Dritten Gesetzes zur Bereinigung vonSED-Unrecht einen wirklichen Rechtsfrieden im Landeherstellen. Wir halten die derzeitigen Rentenregelungenfür politische Opfer des SED-Regimes für nicht ausrei-chend und demzufolge für ungerecht. Von einem Rechts-frieden kann keine Rede sein. Mit dem vorgelegten
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000
Günter Nooke10645
Gesetzentwurf würde man aus unserer Sicht nicht nur derSituation der Opfer politischer Verfolgung in der DDR ge-recht werden und diese weiter verbessern; vielmehr wäredie von meiner Fraktion vorgeschlagene Ehrenpensionvon 1 000 DM monatlich auch ein deutliches politischesSignal.Wir haben außerdem klargestellt, dass die Kapital-entschädigung – 1 000 DM pro Haftmonat – auch einSignal für die Andersartigkeit der Haft in Bautzen im Ver-gleich zur Haft im heutigen Moabit wäre. Ich glaube, auchdie Verschleppten jenseits von Oder und Neiße braucheneine unbürokratische Regelung.Aber ich sage ganz deutlich: Der besondere Stellen-wert und die Bedeutung von Opposition und Widerstandwerden mit diesem Gesetz hervorgehoben. Die Men-schen, denen mit diesem Gesetz geholfen werden soll, ha-ben zu Zeiten der Diktatur für eine offene Gesellschaftgekämpft. Auf diese Menschen, Herr Schwanitz, müsstenSie zugehen, wenn Sie ein Zeichen setzen wollen.
Opposition und Widerstand gegen die SED-Diktatur,die diese schließlich beseitigt haben, gehören zu den his-torischen Leistungen, auf die alle Deutschen mit Rechtstolz sein können. Fast 150 Jahre deutscher Geschichteohne erfolgreichen Kampf für Freiheit wurden mit demZusammenbruch der DDR beendet. Aber dies war mit vie-len persönlichen Opfern verbunden. Solange sich die Op-fer des SED-Regimes wie politische Opfer zweiter Klassefühlen müssen, solange ist nach meiner Auffassung derRechtstaat in der Pflicht. Der materielle Wert der Ehren-pension wird die verlorenen Jahre der Haft und die Zeitder intensiven Verfolgung durch die Staatssicherheit derDDR auch diesmal nicht wiederbringen können. Abereine Ehrenpension kann in sozialer und ökonomischerHinsicht die fortwirkenden Probleme, unter denen geradedie Opfer der SED-Diktatur zu leiden haben, lindern hel-fen.Unser Ziel ist es, mit unserem Gesetzentwurf, den Siegut und gern auch als einen Neuanfang bei uns verstehenkönnen, jetzt eine endgültige Regelung für die Opferdurchzusetzen. Auch dies ist eine grundsätzliche Voraus-setzung zur Erlangung wirklichen Rechtsfriedens. Wirsollten nicht wie in anderen Fällen 50 oder 60 Jahre war-ten.
Die Vokabeln „sozialer Frieden“ und „soziale Gerech-tigkeit“ benutzen gerade die Sozialdemokraten sehr häu-fig. Ich möchte Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegenvon der SPD-Fraktion, ganz besonders darum bitten, denvorliegenden Gesetzentwurf auf Brauchbarkeit zu prüfenund gemeinsam mit uns schnell und erfolgreich über ihnzu verhandeln. Herr Staatsminister Schwanitz, das istauch ein Angebot an die Bundesregierung, ihre bisherigePolitik zu diesem Thema zu überdenken.Danke schön.
Das Wort hat nun die
Kollegin Barbara Wittig, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Zunächst ein Wort zu Herrn Nooke. HerrNooke, ich weiß, dass Sie gerne polarisieren; insofernhabe ich mich über manche Passagen Ihrer Rede nichtgewundert. Das möchte ich als Vorbemerkung sagen.
– Darauf komme ich nachher gerne zurück.Als wir am 26. November des vergangenen Jahres denGesetzentwurf zur Verbesserung rehabilitierungsrechtli-cher Vorschriften für die Opfer der politischen Verfolgungin der ehemaligen DDR verabschiedet haben, waren wiruns einig, dass wesentliche Verbesserungen für die Be-troffenen erreicht werden konnten. Die Rehabilitierungund die Entschädigung der Menschen, die in der DDR undzuvor in der Sowjetischen Besatzungszone Opfer der po-litischen Verfolgung geworden sind, sind eine Anerken-nung des Leids der Verfolgten und ihrer Widerstandsleis-tung. Die Leistungen nach den Rehabilitierungsgesetzenkönnen jedoch nur Nachteile ausgleichen. Mit Geld auf-zuwiegen ist das erlittene Schicksal, das den Menschenzugefügte Leid jedoch nicht.Diese Sicht entspricht auch dem Geist der Ehrener-klärung des Deutschen Bundestages vom 17. Juni 1992,in der all jenen tiefer Respekt und Dank bezeugt wird, diedurch ihr persönliches Opfer dazu beigetragen haben,nach über 40 Jahren das geteilte Deutschland in Freiheitwieder zu einen.Die gesetzlichen Regelungen zur Rehabilitierung undEntschädigung haben die Situation der Opfer der politi-schen Verfolgung nachhaltig erleichtert und verbessert.Zu nennen sind zum Beispiel die nun einheitlicheHaftentschädigung von 600 DM pro Haftmonat, die bes-sere Unterstützung der Hinterbliebenen von Todesopfern,die Verlängerung der Antragsfristen aller drei Rehabilitie-rungsgesetze um zwei Jahre. Dies sind wirklich wesentli-che Verbesserungen.
Auch die PDS kommt mit ihrem Antrag auf Drucksa-che 14/2928 nicht umhin, dies anzuerkennen. In Nr. 1 ih-res Antrags fordern Sie, dass die bereits anerkannten Op-fer entsprechende Nachzahlungen von Amts wegen er-halten. Bisher ist ein formloser Antrag erforderlich. Dasvon der PDS geforderte Verfahren führt zu einem unver-tretbaren hohen Verwaltungsaufwand und mindert ihnnicht etwa, wie die PDS behauptet.Erinnern Sie sich doch bitte an die Berichterstatterge-spräche im vergangenen Herbst! Wir haben über dieseProbleme diskutiert und erkannt, dass beispielsweise diefür die Auszahlung der Kapitalentschädigungen zuständi-gen Landesbehörden feststellen müssten, ob die Berech-tigten noch am Leben sind, ob sie am gleichen Ort woh-nen, ob sie im Falle des Wegzugs eine Feststellung des
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000
Günter Nooke10646
neuen Wohnortes betreiben müssten, ob sie die Abgabe andie neue zuständige Behörde veranlassen müssten und an-deres mehr. Im Erbfall müssten sie die Erben ermitteln,was teilweise sehr schwierig ist.Dagegen ist die gegenwärtige Praxis über einen form-losen Antrag zumutbar und durch die Opfer und ihre An-gehörigen leicht zu erledigen. Die Bearbeitung kann ohneVerzug beginnen und zügig zu Ende geführt werden. Vonden Verfolgtenverbänden wird dieses Verfahren übrigensmitgetragen.Zur Einbeziehung verfolgter Schüler, wie in Nr. 2 desAntrags gefordert, ist Folgendes zu sagen: Der Nach-teilsausgleich in der Rentenversicherung ist strikt be-rufsbezogen und deswegen muss der Verfolgte bestimm-ten Berufsgruppen und bestimmten Qualifizierungsberei-chen zugeordnet werden.
Dies setzt voraus, dass das Berufsbild bereits zum Zeit-punkt des Eingriffes, also zum Zeitpunkt der Verfol-gungsmaßnahme, hinreichend konkretisiert ist. Genaudiese notwendige Konkretisierung des Berufsbildes fehltbei dem Eingriff in die vorberufliche Ausbildung. Esmüssten hypothetische Lebensläufe über lange Zeiträumenachvollzogen werden.
Dies dürfte fast unmöglich sein. Darüber haben wir in denAusschüssen bereits in der Vergangenheit diskutiert.
– Herr Nooke, ich zum Beispiel durfte aufgrund meinersozialen Herkunft nicht zur Oberschule gehen und es warnicht damit zu rechnen, dass ich einmal im Bundestaglande.Demgegenüber haben die am schwersten Betroffenen,die sofort in Haft genommenen Schüler, ihren Nachteils-ausgleich in der Rentenversicherung geltend machen kön-nen; denn Haftzeiten sind nach allgemeinrechtlichenRegelungen als Ersatzzeiten in der Rentenversicherunganzurechnen.Zur Anerkennung haftbedingter Gesundheitsschä-den ist zu sagen: Richtig ist, dass es in der Vergangenheitbei der Anerkennung haft- bzw. verfolgungsbedingter Ge-sundheitsschäden Probleme gegeben hat, und zwar auchnach dem Häftlingshilfegesetz. Dies wurde von den Op-ferverbänden zu Recht beklagt. Zur Beseitigung diesesMissstandes schlägt die PDS nun die vorhin schon ange-führte Vermutungsregelung vor. Nach meiner Auffassungwürde die Einführung eines solchen Vermutungstatbe-standes immer auch dessen Widerlegbarkeit implizierenund die Verwaltungsbehörden gegebenenfalls sogar dar-auf orientieren, die in dem Antrag aufgestellten Behaup-tungen zu überprüfen und zu widerlegen, statt die positi-ven Tatsachen zu ermitteln und sämtliche Beweiserleich-terungen anzuwenden. Im Übrigen dürfte bekannt sein,dass ein Vermutungstatbestand dem System des sozialenEntschädigungsrechts völlig fremd ist und unter demAspekt der Gleichbehandlung aller dann generell ein-führbar wäre. So erfolgt die Anerkennung von verfol-gungsbedingten Gesundheitsschäden gegenwärtig nachden Kausalitätsgrundsätzen des sozialen Entschädi-gungsrechts mit wesentlichen Beweiserleichterungen wieGlaubhaftmachen, Annahme der Wahrscheinlichkeit desursächlichen Zusammenhangs und anderes mehr.Die korrekte und konsequente Anwendung des gelten-den Rechts sichert den Betroffenen ihre Rechte. Eine Ta-gung vom 30. November bis zum 2. Dezember 1999 mitden Versorgungsverwaltungen der Länder in Magdeburgunter Federführung des Bundesministeriums für Arbeitund Sozialordnung hat unterstrichen, dass die bestehen-den Regelungen des sozialen Entschädigungsrechts mitder dort geltenden Kausalitätsnorm der wesentlichen Be-dingungen in jedem Fall eine sachgerechte Entscheidunggarantieren, wenn alle gesetzlich vorgesehenen Beweiser-leichterungen genutzt werden.Um mögliche Härtefälle auszugleichen, ist auch eineÜberprüfung der seit 1991 durch Ablehnung abgeschlos-senen Fälle vorgesehen. Neue medizinisch-wissenschaft-liche Erkenntnisse, vor allem solche zu psychischen Fol-gen politischer Haft, lassen sicherlich auch neue Ent-scheidungen in abgelehnten Fällen zu. Diese werden dannvon Amts wegen bei einer zentrale Stelle durch besondersgeschulte und erfahrene Sachbearbeiter und Gutachterüberprüft und gegebenenfalls neu entschieden.Durch diese Maßnahmen wird aufgrund bestehenderGesetzeslage durch entsprechende Verwaltungsanwen-dung auch garantiert, dass die legitimen Rechte derOpfer in Übereinstimmung mit ihren Verbänden gewahrtwerden.Im Übrigen möchte ich daran erinnern, dass im Ver-laufe der Ausschussberatungen die Bundesregierung ge-beten wurde, einen Bericht vorzulegen. Sie hat dies fürHerbst dieses Jahres zugesagt.Die CDU/CSU-Fraktion bringt nun einen Entwurf fürein Drittes Gesetz zur Bereinigung von SED-Unrecht ein.Schon im Herbst des vergangenen Jahres, als wir über dieVerbesserung der rehabilitierungsrechtlichen Vorschriftendiskutiert haben, spielte die Einführung einer Ehrenpen-sion eine Rolle. Die konkreten Fakten hat Herr Nooke ge-nannt. Ich muss Sie an dieser Stelle fragen, meine Damenund Herren von der CDU/CSU: Warum wecken Sie jetztmit Ihren Vorstellungen bei den Betroffenen unerfüllbareHoffnungen? Schließlich hatten Sie acht Jahre Zeit, umIhre Vorstellungen umzusetzen.
Um auf einen Teil Ihrer Rede einzugehen, Herr Nooke –Sie haben eben selbst zu Recht gesagt, es sei immer eineFrage des politischen Willens –, sage ich Ihnen, dass es Ih-nen hier am politischen Willen gefehlt hat.Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang an Folgen-des erinnern: Im Jahre 1992 legte die CDU/CSU-F.D.P.-Regierung einen Entwurf eines strafrechtlichen Reha-bilitierungsgesetzes vor. Dieser sah eine Kapitalentschä-digung in Höhe von „300 DM“ vor. Am 17. Juni 1992
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Barbara Wittig10647
haben 42 Abgeordnete Ihrer Fraktion in einer Erklärungbetont, dass esAufgabe der Bundesregierung gewesen wäre, einerEhrenschuld des Staates von solchem Rang durchentsprechende finanzielle Umschichtungen im Haus-halt zur gerechten Erfüllung zu verhelfen. DieserAufgabe ist sie nicht gerecht geworden. Ein finanz-wirksames Gesetz kann jedoch nicht gegen den Bun-desfinanzminister finanziell aufgestockt werden.So weit das Zitat aus der 12. Wahlperiode.Interessant ist übrigens – das werden Sie feststellen,wenn Sie das einmal nachlesen –, dass zu den Unter-zeichnern auch Abgeordnete gehören, die nun in der Op-position ganz andere Forderungen aufmachen, wie zumBeispiel Frau Merkel. Sie verlangen wider besseres Wis-sen von uns, was sie selber nicht gemacht haben. Erst imVermittlungsausschuss wurde auf Druck der SPD-Seiteder Betrag für diejenigen, die nach der Haft in der ehe-maligen DDR verbleiben mussten, auf 550 DM angeho-ben. Die neue Regierung hat diese Ungerechtigkeit besei-tigt und die Kapitalentschädigung einheitlich auf 600 DMangehoben. Haben Sie das alles vergessen?Vergessen zu haben scheinen Sie auch, dass die Ver-besserungen der rehabilitierungsrechtlichen Leistun-gen Ende des vergangenen Jahres im federführenden Aus-schuss für Angelegenheiten der neuen Länder einstimmigangenommen wurden. Herr Nooke sprach vorhin widerbesseres Wissen von „Billiglösungen“. Übrigens warenIhnen die Urteile des Bundesverfassungsgerichts vom28. April 1999 zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt. Des-halb muss ich noch einmal auf einen Teil der BegründungIhres Gesetzentwurfs eingehen. Dort heißt es:Die bisherigen fiskalpolitisch motivierten Überle-gungen, die einer solchen angemessenen Würdigungbislang entgegengestanden haben, lassen sich ange-sichts der vom Bundesverfassungsgericht getroffe-nen Entscheidungen vom 28. April 1999 zu Fragender Überleitung von Ansprüchen und Anwartschaf-ten aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen derDDR in die gesetzliche Rentenversicherung des wie-dervereinigten Deutschlands und der Umsetzungdieser Entscheidungen durch die Bundesregierungnicht länger aufrechterhalten.
Anzumerken ist hierzu, dass das Bundesverfassungs-gericht in seinen Urteilen deutlich gemacht hat, dass dieteilweise drastischen Entgeltbegrenzungen im Rahmender Rentenüberleitung kein rentenrechtlich tauglichesElement zur Vergangenheitsbewältigung sind. Klarzustel-len ist außerdem, dass Sie es waren, die die Entgeltbe-grenzungen der ersten frei gewählten Volkskammer nichtakzeptiert haben. Sie sind mit den von Ihnen vorgenom-menen weiteren Verschärfungen bewusst ein hohes ver-fassungsrechtliches Risiko eingegangen. Das Gericht hatin diesem besonders kontrovers diskutierten Bereich desdeutschen Einigungsprozesses nun eine notwendigeKlärung herbeigeführt – insofern haben Sie mit dem, wasSie in Ihrer Begründung gesagt haben, vollkommen Recht –und logischerweise die Bundesregierung zur Umsetzungdieser Gerichtsurteile aufgefordert. So weit zu diesemThema.Ausführlich werden wir in den Ausschüssen auch IhreDrucksache 14/3670 diskutieren. Ich bitte Sie, meine Da-men und Herren von beiden Seiten der Opposition, sichwirklich noch einmal über die von mir genannten FaktenGedanken zu machen. Die weitere Diskussion sollte dannnatürlich intensiv in den Ausschüssen erfolgen.Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
Jetzt hat das Wort der
Kollege Jürgen Türk, F.D.P.-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schon Ende letztenJahres, als wir das zweite Rehabilitierungsgesetz disku-tierten, habe ich deutlich gemacht, dass wir, weil es einenFortschritt in der Sache darstellt, ihm zustimmen, habeaber auch deutlich gemacht, dass es keineswegs ausreicht,
denn eine entsprechende Wiedergutmachung darf tatsäch-lich nicht an der Finanzlage scheitern. Die F.D.P.-Fraktionhat deshalb damals bei der Beratung des Gesetzentwurfeseinen Entschließungsantrag eingebracht. Er sah vor, denOpfern eine Opferpension zu gewähren und Beweiser-leichterungen für die Anerkennung von Gesundheitsschä-den von Verfolgten einzuführen.Die eine Forderung findet sich im Gesetzentwurf derCDU/CSU wieder, die andere ist im PDS-Antrag enthal-ten. Die Zuerkennung einer Opferrente für politischVerfolgte ist eine der Hauptforderungen auch der Opfer-verbände und wohl auch eine berechtigte. Die Betroffe-nen klagen seit Jahren darüber, dass eine solche Rente denVerfolgten des Nazi-Regimes in der ehemaligen DDR vonAnfang an – richtigerweise – anstandslos gewährt wurde,sie selber aber aus Finanzierungsgründen, wie immer wie-der betont wurde, leer ausgingen. Dabei hätte man bei-spielsweise die aus natürlichen Gründen frei werdendenMittel des Nazi-Opfer-Fonds umwidmen können – dashaben wir damals vorgeschlagen; ich glaube, das gehtauch heute noch – für die Opfer der SED-Diktatur, ganzdavon abgesehen, dass Finanzminister Eichel jetzt unver-mutet viele zusätzliche Milliarden DM zusätzlich in dieKasse bekommt. Die Situation ist also eine andere.Die Betroffenen erfüllt mit zusätzlicher Verbitterung,dass aufgrund der Entscheidung des Bundesverfassungs-gerichts vom Dezember 1999 zu Fragen der Überleitungvon Zusatz- und Sonderversorgungssystemen der DDRihre einstigen Peiniger und Verfolger materiell jetzt oftdeutlich besser gestellt sind als sie selbst. Das ist in der Tatfatal. Über diesen Punkt müssen wir gemeinsam nach-denken.Wenig befriedigend ist auch, dass Opfer, die aufgrundder Verfolgung dauerhafte Gesundheitsschäden erlittenhaben – auch das ist in Ihrem Antrag erwähnt –, kaum eineChance haben, dass diese anerkannt werden. 95 Prozent
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Barbara Wittig10648
dieser Anträge werden abgeschmettert, weil der Nachweishaftbedingter Krankheit natürlich äußerst schwierig ist.Welcher DDR-Haftarzt hat schon als Grund für eineKrankheit „Misshandlung“ angegeben? Deshalb sind wir,so meine ich, den Opfern Beweiserleichterungen schul-dig.Ich plädiere dafür, den Gesetzentwurf der CDU/CSUum diesen Punkt zu ergänzen. Er würde dann unsere un-eingeschränkte Zustimmung finden. Zustimmen könntenwir auch dem PDS-Vorschlag, dass die Gewährung derEntschädigung von Amts wegen vorzunehmen ist.Aber vielleicht schaffen wir es – das würde eine großeAusnahme darstellen –, im Ausschuss einen gemeinsa-men Antrag zu formulieren. Darüber würden wir uns sehrfreuen.Vielen Dank.
Jetzt hat der KollegeHans-Christian Ströbele vom Bündnis 90/Die Grünen dasWort.
legen! Kollege Nooke, Sie wollen den Opfern der DDR-Diktatur eine monatliche Rente von 1 000 DM geben,längstens zehn Jahre. Sie wollen außerdem Nachzahlun-gen für Kapitalentschädigungen in Höhe von insgesamt800 Millionen DM zahlen. Sie haben in Ihrem Gesetzent-wurf ehrlicherweise die Zahlen genannt: 1,5 MilliardenDM würden die Renten kosten. Auf zehn Jahre gesehensind das Kosten in Höhe von 15 Milliarden DM. Vielleichtliegt der Betrag ein wenig niedriger, weil der eine oder dieandere Betroffene inzwischen gestorben ist.Entsprechende Überlegungen sind schon häufiger imBundestag und in den Ausschüssen angestellt worden.Diese sind vom Grundansatz her auch richtig. Das ge-schehene Unrecht kann man zwar nicht wieder gutma-chen, aber man kann den Opfern für die erlittenen LeidenGeld zahlen. Das ist grundsätzlich richtig. Als die Damenund Herren von der CDU/CSU diese Überlegungen un-terschrieben haben: Was haben Ihre Kollegen Ihnen ge-sagt, warum in den acht Jahren, in denen das Geldvorhanden war und in denen sie die Macht im Parlamenthatten, entsprechende Regelungen zu verabschieden,diese Überlegungen nicht umgesetzt wurden? Die Ideewar ja nicht neu; sie gab es schon damals.Warum sind entsprechende Maßnahmen damals nichteingeleitet worden? Es gibt auf diese Frage nur eine ein-zige Antwort: Sie wollten das damals nicht, weil die Pri-oritätensetzung, die Sie jetzt anmahnen – jetzt sagen Sie,man müsse andere Vorhaben im Augenblick sein lassen,damit man diese 15 Milliarden DM plus 800 Millio-nen DM zur Verfügung stellen kann –, damals eine anderewar. Warum wollen Sie sie jetzt? – Weil Sie genau wissen,dass Sie dafür keine Verantwortung tragen. Sie könnenentsprechende Vorschläge machen, aber nicht be-schließen. Damit können Sie in der Öffentlichkeit für sichReklame machen.Was aber nicht in Ordnung ist: Damit wecken Sie Hoff-nungen bei Menschen, die möglicherweise Anspruch aufeine solche Ehrenrente hätten.
Auf diese Weise kann man mit dem Thema nicht umge-hen. Sie wissen ja auch aus Ihrer eigenen Regierungszeit,dass das entsprechende Geld nicht vorhanden ist. Es gehtnicht nur um die 1 000 DM, sondern es geht in der Summe –ich habe es zusammengerechnet – um Milliardenbeträge,die angesichts der ungeheuren anderen Lasten und Zah-lungen, die schon geleistet werden, nicht zur Verfügungstehen.Wir waren bestrebt – wir haben das schon damals an-gemahnt; seinerzeit gehörten Sie noch den Bündnisgrü-nen an –,
dass wenigstens Gerechtigkeit geschaffen wird, dass Ge-rechtigkeit für die Opfer in West und Ost geschaffenwird. Das haben wir gemacht. Das haben wir Ende desletzten Jahres auf den Weg gebracht. Wir haben verab-schiedet, dass der Tag Untersuchungshaft oder Strafhaftim Westen genauso viel gilt und mindestens genauso vielan Entschädigung bringt wie im Osten. Nicht einmal dashaben Sie damals hinbekommen. Deshalb können Siejetzt unmöglich einen solchen Vorschlag unterbreiten.Es gibt auch noch einen inhaltlichen Grund. Sie kön-nen doch nicht jemanden, der berufliche Nachteile hatte,mit jemandem gleichsetzen, der vielleicht fünf Jahre imGefängnis gewesen ist. Das tun Sie aber in Ihrem Gesetz-entwurf. Sie können doch nicht demjenigen, der fünfJahre im Gefängnis gewesen ist, 1 000 DM pro Monat ge-währen und demjenigen, der zwei Wochen im Gefängnisgewesen ist oder berufliche Nachteile hatte, ebenfalls.Das wäre doch für diejenigen, denen gegenüber Sie dasrechtfertigen müssten, eine ungeheuer ungerechte Lö-sung. Deshalb ist auch immanent gedacht die Vorstellung,die Sie hier entwickelt haben, nicht richtig. Wir wehrenuns dagegen, weil damit nicht erfüllbare Ansprüche ge-weckt werden. Diese Attitüde sollten Sie als ehemaligerBündnisgrüner – wir mussten das auch tun – endlich ein-mal ablegen.
Ich komme nun zu den Vorstellungen der PDS. Ichverstehe – ich finde es auch grundsätzlich richtig –, dassman zum Jahrestag am 3. Oktober, – so haben Sie dasauch gemeint – ein auch materielles Zeichen setzen will.Die Zeichen, die Sie setzen wollen, sind dafür aber unge-eignet. Wir können uns gern überlegen, ob uns noch etwasanderes einfällt. Das ist ja noch ein paar Monate hin. Abersozusagen aufgedrängte Nachzahlungen zu fordern, zufordern, die Leute erst noch zu suchen, um ihnen Nach-zahlungen zu gewähren, obwohl sie gar keinen Antragstellen, halte ich für den falschen Weg. Es ist schon daraufhingewiesen worden, dass das einen ganz erheblichenbürokratischen Aufwand verursacht, der viel Geld kostet.Dieses Geld sollte man lieber den Opfern direkt zukom-men lassen. Das heißt, man könnte sich überlegen, eineKampagne zu machen, öffentliche Hinweise zu geben,
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000
Jürgen Türk10649
damit diejenigen, die anspruchsberechtigt sind, Anträgestellen. Man könnte vielleicht auch die Vertreterverbändefinanziell in die Lage versetzen, wirksamer zu verbreiten,dass Anträge gestellt werden können. Das fände ich rich-tig und vernünftig.Hinsichtlich der Leute, die aufgrund einer abgebroche-nen schulischen Ausbildung Nachteile haben, halte ichdas für problematisch, weil ein hypothetischer Lebenslaufberechnet werden müsste. Das ist mit zu vielen Unwäg-barkeiten verbunden.Für die Opfer, die für gesundheitliche Haftschädeneine Entschädigung haben wollen, müssen nachweisen,dass aufgrund der Haft eine Gesundheitsschädigung ent-standen ist. Das ist ungeheuer schwierig, darin gebe ichIhnen Recht. Dieses Problem sind wir aber angegangen.Es ist zugesagt, dass – das halte ich für wesentlich wirk-samer – alle alten Entscheidungen noch einmal nach denneuen Vorschriften überprüft werden. Das wird auch ge-tan. Der Deutsche Bundestag sollte aufpassen, dass dasauch tatsächlich umgesetzt wird. Er sollte seine Kontroll-funktion ausüben. Dann ist diesen Opfern mehr geholfen.Für das Setzen von Signalen bin ich immer gern zuhaben. Das wären aber nicht die richtigen, praktikablenZeichen, die man zum 3. Oktober zu setzen hat.Seien wir realistisch! Versuchen wir nicht, ungerecht-fertigte Forderungen zu erheben! In den Beratungen soll-ten Sie von diesen Vorschlägen Abstand nehmen.
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 14/2928, 14/3665 und 14/3670 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –
Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Rainer Funke, Jörg
van Essen, weiteren Abgeordneten und der Frak-
tion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Reform der Juristenausbildung
– Drucksache 14/2666 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Die Aussprache gestaltet sich dadurch, dass die Reden
zu Protokoll gegeben worden sind – ein Jammer; es steht
so viel Schönes drin.1) Aber ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/2666 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie ein-
verstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Mittwoch, den 5. Juli 2000, 13 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen allen ein schönes Wochenende.
Die Sitzung ist geschlossen.