Protokoll:
14112

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 14

  • date_rangeSitzungsnummer: 112

  • date_rangeDatum: 30. Juni 2000

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 14:49 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Begrüßung des ersten und letzten frei gewähl- ten Ministerpräsidenten der DDR, Herrn Lothar de Maizière . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10600 D Tagesordnungspunkt 19: Wahlvorschlag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wahl eines Mitgliedes des Parlamentarischen Kon- trollgremiums gemäß §§ 4 und 5 Abs. 4 des Gesetzes über die parlamentarische Kon- trolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes (Kontrollgremium – PKGrG) (Drucksache 14/3663) . . . . . . . . . . . . . . . 10593 A Wahl des Abgeordneten Hermann Bachmaier als Mitglied des Parlamentarischen Kontroll- gremiums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10593 B Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10596 D Tagesordnungspunkt 17: Vereinbarte Debatte anlässlich des zehnten Jahrestages derWirtschafts-, Währungs- und Sozialunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10593 C Sabine Kaspereit SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10593 D Dr. Theodor Waigel CDU/CSU . . . . . . . . . . . 10596 D Oswald Metzger BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10601 A Dr. Günter Rexrodt F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . 10603 C Dr. Christa Luft PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10605 D Rolf Schwanitz, Staatsminister BK . . . . . . . . 10607 D Dr. Kurt Biedenkopf, Ministerpräsident (Sachsen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10611 A Dr. Mathias Schubert SPD . . . . . . . . . . . . . . . 10614 D Zusatztagesordnungspunkt 14: Aktuelle Stunde betr. besserer Schutz der Bevölkerung – insbesondere von Kindern – vorAngriffen von Kampfhunden . . . . . . 10618 A Dr. Guido Westerwelle F.D.P. . . . . . . . . . . . . . 10618 B Hartmuth Wrocklage, Senator (Hamburg) . . . 10619 B Wolfgang Bosbach CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 10620 B Cem Özdemir BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10621 B Dr. Gregor Gysi PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10622 C Rolf Stöckel SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10623 D Dr. Hans-Peter Uhl CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 10624 D Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10626 A Klaus Haupt F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10627 A Günter Graf (Friesoythe) SPD . . . . . . . . . . . . 10628 B Beatrix Philipp CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 10629 A Otto Schily, Bundesminister BMI . . . . . . . . . 10630 B Erwin Marschewski (Recklinghausen) CDU/ CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10631 B Harald Friese SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10632 A Hartmuth Wrocklage, Senator (Hamburg) . . . 10633 A Otto Schily, Bundesminister BMI . . . . . . . . . 10633 C Dr. Hans-Peter Uhl CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 10633 D Tagesordnungspunkt 20: Antrag der Abgeordneten Dr.-Ing. Rainer Jork, Katherina Reiche, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion CDU/CSU: Lehrstellenmangel Ost mit wirksamen Regelungen angehen (Drucksache 14/3185) . . . . . . . . . . . . . . . 10634 A Plenarprotokoll 14/112 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 112. Sitzung Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 I n h a l t : Dr.-Ing. Rainer Jork CDU/CSU . . . . . . . . . . . 10634 B Ingrid Holzhüter SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10636 A Dr.-Ing. Rainer Jork CDU/CSU . . . . . . . . . 10637 A Cornelia Pieper F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10637 D Antje Hermenau BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10639 A Gerhard Jüttemann PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 10640 B Edelgard Bulmahn, Bundesministerin BF . . . 10640 D Cornelia Pieper F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . 10641 D Tagesordnungspunkt 22: Antrag der Fraktion PDS: Erleichterte und erweiterte Rehabilitierung und Ent- schädigung für Opfer der politischen Verfolgung in der DDR (Drucksache 14/2928) . . . . . . . . . . . . . . . 10643 D in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 12: Erste Beratung des von den Abgeordneten Günter Nooke, Ulrich Adam, weiteren Ab- geordneten und der Fraktion CDU/CSU ein- gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Bereinigung von SED-Unrecht (Drittes SED-Unrechtsbereinigungsgesetz) (Drucksache 14/3665) . . . . . . . . . . . . . . . 10643 D in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 13: Antrag der Abgeordneten Günter Nooke, Ulrich Adam, weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Den jenseits von Oder und Neiße Verschleppten wirksam und dauerhaft helfen (Drucksache 14/3670) . . . . . . . . . . . . . . . 10643 D Petra Pau PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10644 A Günter Nooke CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 10644 D Barbara Wittig SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10646 C Jürgen Türk F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10648 C Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10649 A Tagesordnungspunkt 24: Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Rainer Funke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Reform der Juristenausbildung (Drucksache 14/2666) . . . . . . . . . . . . . . . 10650 C Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10650 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 10651 A Anlage 2 Namensverzeichnis der Mitglieder des Deut- schen Bundestages, die an der Wahl eines Mit- gliedes des Parlamentarischen Kontrollgremiums gemäß §§ 4 und 5 des Gesetzes über die parla- mentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes (Kontrollgremium – PKGrG) teilgenommen haben (Tagesordnungs- punkt 19) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10652 B Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zum Entwurf ei- nes Gesetzes zur Reform der Juris- tenausbildung – JurAusbReformG – (Tagesordnungspunkt 24) 10654 B Norbert Röttgen CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 10654 B Joachim Stünker SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10655 C Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10657 B Dr. Edzard Schmidt-Jortzig F.D.P. . . . . . . . . . 10658 C Dr. Evelyn Kenzler PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 10659 B Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär BMJ . . . 10659 D Anlage 4 Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10660 C Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000II Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000
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    Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 Hans-Christian Ströbele 10650 (C) (D) (A) (B) 1) Anlage 3 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10651 (C) (D) (A) (B) Altmaier, Peter CDU/CSU 30.06.2000 Becker-Inglau, Ingrid SPD 30.06.2000 Behrendt, Wolfgang SPD 30.06.2000* Bernhardt, Otto CDU/CSU 30.06.2000 Dr. Böhmer, Maria CDU/CSU 30.06.2000 Dr. Bötsch, Wolfgang CDU/CSU 30.06.2000 Brudlewsky, Monika CDU/CSU 30.06.2000 Brüderle, Rainer F.D.P. 30.06.2000 Bühler (Bruchsal), CDU/CSU 30.06.2000* Klaus Buwitt, Dankward CDU/CSU 30.06.2000* Carstens (Emstek), CDU/CSU 30.06.2000 Manfred Deß, Albert CDU/CSU 30.06.2000 Doss, Hansjürgen CDU/CSU 30.06.2000 Eichhorn, Maria CDU/CSU 30.06.2000 Fischer (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 30.06.2000 Joseph DIE GRÜNEN Follak, Iris SPD 30.06.2000 Friedhoff, Paul K. F.D.P. 30.06.2000 Friedrich (Bayreuth), F.D.P. 30.06.2000 Horst Friedrich (Altenburg), SPD 30.06.2000 Peter Fromme, Jochen-Konrad CDU/CSU 30.06.2000 Dr. Fuchs, Ruth PDS 30.06.2000 Gebhardt, Fred PDS 30.06.2000 Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 30.06.2000 Haack (Extertal), Karl SPD 30.06.2000* Hermann Freiherr von Hammerstein, CDU/CSU 30.06.2000 Carl-Detlev Hauser (Rednitz- CDU/CSU 30.06.2000 hembach), Hansgeorg Dr. Haussmann, Helmut F.D.P. 30.06.2000 Hedrich, Klaus-Jürgen CDU/CSU 30.06.2000 Heyne, Kristin BÜNDNIS 90/ 30.06.2000 DIE GRÜNEN Hintze, Peter CDU/CSU 30.06.2000 Dr. Höll, Barbara PDS 30.06.2000 Hörster, Joachim CDU/CSU 30.06.2000* Dr. Hornhues, Karl-Heinz CDU/CSU 30.06.2000* Hornung, Siegfried CDU/CSU 30.06.2000* Jünger, Sabine PDS 30.06.2000 Dr. Kahl, Harald CDU/CSU 30.06.2000 Kampeter, Steffen CDU/CSU 30.06.2000 Dr. Kolb, Heinrich F.D.P. 30.06.2000 Leonhard Dr. Krogmann, Martina CDU/CSU 30.06.2000 Lintner, Eduard CDU/CSU 30.06.2000* Lippmann, Heidi PDS 30.06.2000 Lüth, Heidemarie PDS 30.06.2000 Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 30.06.2000* Erich Marquardt, Angela PDS 30.06.2000 Prof. Dr. Meyer (Ulm), SPD 30.06.2000 Jürgen Michels, Meinolf CDU/CSU 30.06.2000 Mosdorf, Siegmar SPD 30.06.2000 Neumann (Gotha), SPD 30.06.2000* Gerhard Dr. Pflüger, Friedbert CDU/CSU 30.06.2000 Ronsöhr, CDU/CSU 30.06.2000 Heinrich-Wilhelm Dr. Schäfer, Hansjörg SPD 30.06.2000 Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 30.06.2000 Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 30.06.2000 Hans Peter von Schmude, Michael CDU/CSU 30.06.2000* Feiherr von CDU/CSU 30.06.2000 Schorlemer, Reinhard entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlagen zum Stenographischen Bericht Schröder, Gerhard SPD 30.06.2000 Schüßler, Gerhard F.D.P. 30.06.2000 Dr. Solms, Hermann F.D.P. 30.06.2000 Otto Sothmann, Bärbel CDU/CSU 30.06.2000 Steen, Antje-Marie SPD 30.06 .2000 Steinbach, Erika CDU/CSU 30.06.2000 Uldall, Gunnar CDU/CSU 30.06.2000 Wettig-Danielmeier, SPD 30.06.2000 Inge Wieczorek-Zeul, SPD 30.06.2000 Heidemarie Wiese (Hannover), SPD 30.06.2000 Heino Wimmer (Neuss), Willy CDU/CSU 30.06.2000 Dr. Wodarg, Wolfgang SPD 30.06.2000* Dr. Wolf, Winfried PDS 30.06.2000 Zierer, Benno CDU/CSU 30.06.2000* * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- lung des Europarates Anlage 2 Namensverzeichnis der Mitglieder des Deutschen Bundestages, die an der Wahl eines Mitgliedes des Parlamentari- schen Kontrollgremiums gemäß §§ 4 und 5 des Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes (Kontrollgremium – PKGrG) teilgenommen ha- ben (Tagesordnungspunkt 19) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10652 (C) (D) (A) (B) SPD Brigitte Adler Gerd Andres Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Hermann Bachmaier Ernst Bahr Doris Barnett Dr. Hans Peter Bartels Eckhardt Barthel (Berlin) Klaus Barthel (Starnberg) Ingrid Becker-Inglau Wolfgang Behrendt Dr. Axel Berg Friedhelm Julius Beucher Petra Bierwirth Rudolf Bindig Lothar Binding (Heidelberg) Kurt Bodewig Klaus Brandner Anni Brandt-Elsweier Willi Brase Dr. Eberhard Brecht Bernhard Brinkmann (Hildesheim) Rainer Brinkmann (Detmold) Hans-Günter Bruckmann Edelgard Bulmahn Ursula Burchardt Dr. Michael Bürsch Hans Martin Bury Hans Büttner (Ingolstadt) Marion Caspers-Merk Wolf-Michael Catenhusen Dr. Peter Danckert Dr. Herta Däubler-Gmelin Christel Deichmann Karl Diller Peter Dreßen Rudolf Dreßler Detlef Dzembritzki Dieter Dzewas Dr. Peter Eckardt Sebastian Edathy Ludwig Eich Marga Elser Peter Enders Gernot Erler Petra Ernstberger Annette Faße Lothar Fischer (Homburg) Gabriele Fograscher Norbert Formanski Rainer Fornahl Hans Forster Dagmar Freitag Lilo Friedrich (Mettmann) Harald Friese Anke Fuchs (Köln) Arne Fuhrmann Prof. Monika Ganseforth Iris Gleicke Günter Gloser Uwe Göllner Renate Gradistanac Günter Graf (Friesoythe) Angelika Graf (Rosenheim) Dieter Grasedieck Monika Griefahn Kerstin Griese Achim Großmann Wolfgang Grotthaus Karl Hermann Haack (Extertal) Hans-Joachim Hacker Klaus Hagemann Manfred Hampel Christel Hanewinckel Alfred Hartenbach Anke Hartnagel Klaus Hasenfratz Nina Hauer Hubertus Heil Reinhold Hemker Frank Hempel Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Monika Heubaum Reinhold Hiller (Lübeck) Stephan Hilsberg Gerd Höfer Jelena Hoffmann (Chemnitz) Walter Hoffmann (Darmstadt) Iris Hoffmann (Wismar) Frank Hofmann (Volkach) Ingrid Holzhüter Eike Hovermann Christel Humme Lothar Ibrügger Barbara Imhof Brunhilde Irber Gabriele Iwersen Renate Jäger Jann-Peter Janssen Ilse Janz Prof. Dr. Uwe Jens Volker Jung (Düsseldorf) Johannes Kahrs Ulrich Kasparick Sabine Kaspereit Susanne Kastner Hans-Peter Kemper Klaus Kirschner Marianne Klappert Siegrun Klemmer Hans-Ulrich Klose Walter Kolbow Fritz Rudolf Körper Karin Kortmann Anette Kramme Nicolette Kressl Volker Kröning Angelika Krüger-Leißner Horst Kubatschka Ernst Küchler Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Konrad Kunick Dr. Uwe Küster Werner Labsch Christine Lambrecht Brigitte Lange Christian Lange (Backnang) Detlev von Larcher Christine Lehder Waltraud Lehn Robert Leidinger Klaus Lennartz Dr. Elke Leonhard Eckhart Lewering Götz-Peter Lohmann (Neubrandenburg) Christa Lörcher Erika Lotz Dr. Christine Lucyga Dieter Maaß (Herne) Winfried Mante Dirk Manzewski Tobias Marhold Lothar Mark Ulrike Mascher Christoph Matschie Heide Mattischeck Markus Meckel Ulrike Mehl Ulrike Merten Angelika Mertens Prof. Dr. Jürgen Meyer (Ulm) Ursula Mogg Christoph Moosbauer Siegmar Mosdorf Michael Müller (Düsseldorf) Jutta Müller (Völklingen) Christian Müller (Zittau) Franz Müntefering Andrea Nahles Volker Neumann (Bramsche) Gerhard Neumann (Gotha) Dr. Edith Niehuis Dr. Rolf Niese Dietmar Nietan Günter Oesinghaus Eckhard Ohl Leyla Onur Manfred Opel Holger Ortel Adolf Ostertag Kurt Palis Albrecht Papenroth Prof. Dr. Martin Pfaff Georg Pfannenstein Johannes Pflug Prof. Dr. Eckhart Pick Joachim Poß Karin Rehbock-Zureich Dr. Carola Reimann Margot von Renesse Renate Rennebach Bernd Reuter Reinhold Robbe Gudrun Roos René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth (Heringen) Birgit Roth (Speyer) Gerhard Rübenkönig Marlene Rupprecht Thomas Sauer Dr. Hansjörg Schäfer Gudrun Schaich-Walch Rudolf Scharping Bernd Scheelen Dr. Hermann Scheer Siegfried Scheffler Horst Schild Otto Schily Dieter Schloten Horst Schmidbauer (Nürnberg) Ulla Schmidt (Aachen) Dagmar Schmidt (Meschede) Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Regina Schmidt-Zadel Heinz Schmitt (Berg) Carsten Schneider Dr. Emil Schnell Walter Schöler Olaf Scholz Karsten Schönfeld Fritz Schösser Ottmar Schreiner Gisela Schröter Dr. Mathias Schubert Richard Schuhmann (Delitzsch) Brigitte Schulte (Hameln) Reinhard Schultz (Everswinkel) Volkmar Schultz (Köln) Ewald Schurer Dr. R. Werner Schuster Dietmar Schütz (Oldenburg) Dr. Angelica Schwall-Düren Rolf Schwanitz Bodo Seidenthal Erika Simm Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Wieland Sorge Wolfgang Spanier Dr. Margrit Spielmann Jörg-Otto Spiller Dr. Ditmar Staffelt Ludwig Stiegler Rolf Stöckel Rita Streb-Hesse Reinhold Strobl (Amberg) Dr. Peter Struck Joachim Stünker Joachim Tappe Jörg Tauss Jella Teuchner Dr. Gerald Thalheim Wolfgang Thierse Franz Thönnes Uta Titze-Stecher Adelheid Tröscher Hans-Eberhard Urbaniak Rüdiger Veit Simone Violka Ute Vogt (Pforzheim) Hans Georg Wagner Hedi Wegener Dr. Konstanze Wegner Wolfgang Weiermann Reinhard Weis (Stendal) Matthias Weisheit Gunter Weißgerber Gert Weisskirchen (Wiesloch) Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker Jochen Welt Dr. Rainer Wend Hildegard Wester Lydia Westrich Inge Wettig-Danielmeier Dr. Margrit Wetzel Dr. Norbert Wieczorek Jürgen Wieczorek (Böhlen) Helmut Wieczorek (Duisburg) Heidemarie Wieczorek-Zeul Dieter Wiefelspütz Heino Wiese (Hannover) Klaus Wiesehügel Brigitte Wimmer (Karlsruhe) Engelbert Wistuba Barbara Wittig Dr. Wolfgang Wodarg Verena Wohlleben Hanna Wolf (München) Waltraud Wolff (Zielitz) Heidemarie Wright Uta Zapf Dr. Christoph Zöpel Peter Zumkley CDU/CSU Ulrich Adam Ilse Aigner Dietrich Austermann Norbert Barthle Dr. Wolf Bauer Günter Baumann Brigitte Baumeister Meinrad Belle Dr. Sabine Bergmann-Pohl Hans-Dirk Bierling Dr. Joseph-Theodor Blank Renate Blank Dr. Heribert Blens Dr. Norbert Blüm Friedrich Bohl Sylvia Bonitz Jochen Borchert Wolfgang Börnsen (Bönstrup) Wolfgang Bosbach Dr. Wolfgang Bötsch Klaus Brähmig Dr. Ralf Brauksiepe Paul Breuer Georg Brunnhuber Hartmut Büttner (Schönebeck) Cajus Caesar Manfred Carstens (Emstek) Leo Dautzenberg Wolfgang Dehnel Hubert Deittert Renate Diemers Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Rainer Eppelmann Ilse Falk Dr. Hans Georg Faust Albrecht Feibel Ingrid Fischbach Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) Dr. Gerhard Friedrich (Erlangen) Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) Erich G. Fritz Hans-Joachim Fuchtel Dr. Jürgen Gehb Norbert Geis Dr. Heiner Geißler Georg Girisch Michael Glos Peter Götz Hermann Gröhe Manfred Grund Horst Günther (Duisburg) Gottfried Haschke (Großhennersdorf ) Gerda Hasselfeldt Norbert Hauser (Bonn) Klaus-Jürgen Hedrich Helmut Heiderich Ursula Heinen Siegfried Helias Hans Jochen Henke Ernst Hinsken Klaus Hofbauer Martin Hohmann Klaus Holetschek Josef Hollerith Hubert Hüppe Susanne Jaffke Georg Janovsky Dr.-Ing. Rainer Jork Bartholomäus Kalb Dr.-Ing. Dietmar Kansy Irmgard Karwatzki Volker Kauder Eckart von Klaeden Ulrich Klinkert Dr. Helmut Kohl Manfred Kolbe Norbert Königshofen Eva-Maria Kors Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Rudolf Kraus Dr.-Ing. Paul Krüger Karl Lamers Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) Dr. Norbert Lammert Helmut Lamp Dr. Paul Laufs Karl-Josef Laumann Vera Lengsfeld Peter Letzgus Ursula Lietz Walter Link (Diepholz) Eduard Lintner Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) Dr. Manfred Lischewski Dr. Michael Luther Erwin Marschewski (Recklinghausen) Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn) Wolfgang Meckelburg Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Friedrich Merz Hans Michelbach Dr. Gerd Müller Bernward Müller (Jena) Elmar Müller (Kirchheim) Bernd Neumann (Bremen) Günter Nooke Franz Obermeier Friedhelm Ost Eduard Oswald Norbert Otto (Erfurt) Dr. Peter Paziorek Anton Pfeifer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Marlies Pretzlaff Hans Raidel Dr. Peter Ramsauer Helmut Rauber Christa Reichard (Dresden) Katherina Reiche Erika Reinhardt Hans-Peter Repnik Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Franz Romer Hannelore Rönsch (Wiesbaden) Dr. Klaus Rose Kurt J. Rossmanith Adolf Roth (Gießen) Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Volker Rühe Anita Schäfer Heinz Schemken Karl-Heinz Scherhag Gerhard Scheu Norbert Schindler Bernd Schmidbauer Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10653 (C) (D) (A) (B) Christian Schmidt (Fürth) Dr.-Ing. Joachim Schmidt (Halsbrücke) Andreas Schmidt (Mülheim) Birgit Schnieber-Jastram Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Rupert Scholz Dr. Erika Schuchardt Wolfgang Schulhoff Diethard Schütze (Berlin) Clemens Schwalbe Dr. Christian Schwarz- Schilling Wilhelm-Josef Sebastian Horst Seehofer Heinz Seiffert Rudolf Seiters Bernd Siebert Werner Siemann Johannes Singhammer Carl-Dieter Spranger Wolfgang Steiger Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten Andreas Storm Dorothea Störr-Ritter Max Straubinger Matthäus Strebl Thomas Strobl (Heilbronn) Michael Stübgen Dr. Rita Süssmuth Dr. Susanne Tiemann Edeltraut Töpfer Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Angelika Volquartz Dr. Theodor Waigel Peter Weiß (Emmendingen) Gerald Weiß (Groß-Gerau) Annette Widmann-Mauz Heinz Wiese (Ehingen) Hans-Otto Wilhelm (Mainz) Klaus-Peter Willsch Bernd Wilz Matthias Wissmann Werner Wittlich Aribert Wolf Elke Wülfing Wolfgang Zeitlmann Wolfgang Zöller BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN Gila Altmann (Aurich) Marieluise Beck (Bremen) Volker Beck (Köln) Angelika Beer Matthias Berninger Grietje Bettin Annelie Buntenbach Ekin Deligöz Dr. Thea Dückert Franziska Eichstädt-Bohlig Dr. Uschi Eid Hans-Josef Fell Andrea Fischer (Berlin) Katrin Dagmar Göring- Eckardt Rita Grießhaber Antje Hermenau Ulrike Höfken Michaele Hustedt Monika Knoche Dr. Angelika Köster-Loßack Steffi Lemke Dr. Helmut Lippelt Dr. Reinhard Loske Oswald Metzger Kerstin Müller (Köln) Winfried Nachtwei Christa Nickels Cem Özdemir Simone Probst Claudia Roth (Augsburg) Christine Scheel Irmingard Schewe-Gerigk Rezzo Schlauch Albert Schmidt (Hitzhofen) Werner Schulz (Leipzig) Christian Simmert Christian Sterzing Hans-Christian Ströbele Jürgen Trittin Dr. Ludger Volmer Sylvia Voß Helmut Wilhelm (Amberg) Margareta Wolf (Frankfurt) F.D.P. Ina Albowitz Hildebrecht Braun (Augsburg) Ernst Burgbacher Jörg van Essen Ulrike Flach Gisela Frick Rainer Funke Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Joachim Günther (Plauen) Dr. Karlheinz Guttmacher Klaus Haupt Ulrich Heinrich Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Ulrich Irmer Dr. Klaus Kinkel Gudrun Kopp Jürgen Koppelin Ina Lenke Sabine Leutheusser- Schnarrenberger Dirk Niebel Günther Friedrich Nolting Hans-Joachim Otto (Frankfurt) Detlef Parr Cornelia Pieper Dr. Günter Rexrodt Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Dr. Irmgard Schwaetzer Marita Sehn Dr. Max Stadler Carl-Ludwig Thiele Dr. Dieter Thomae Dr. Guido Westerwelle PDS Dr. Dietmar Bartsch Maritta Böttcher Eva-Maria Bulling-Schröter Roland Claus Heidemarie Ehlert Dr. Heinrich Fink Dr. Klaus Grehn Dr. Gregor Gysi Uwe Hiksch Ulla Jelpke Gerhard Jüttemann Dr. Evelyn Kenzler Rolf Kutzmutz Ursula Lötzer Dr. Christa Luft Kersten Naumann Rosel Neuhäuser Petra Pau Dr. Uwe-Jens Rössel Christina Schenk Dr. Ilja Seifert Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10654 (C) (D) (A) (B) Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen des Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU Abgeordnete Bühler, Klaus, CDU/CSU Buwitt, Dankward CDU/CSU Hornhues, Dr., Karl-Heinz, CDU/CSU Hornung, Siegfried CDU/CSU Hörster, Joachim CDU/CSU Maaß (Wilhelmshaven), Erich, CDU/CSU Michels, Meinolf, CDU/CSU von Schmude, Michael CDU/CSU Zierer, Benno, CDU/CSU Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden Zum Entwurf eines Gesetzes zur Reform der Ju- ristenausbildung – JurAusbReformG(Tagesord- nungspunkt 24) Norbert Röttgen (CDU/CSU): Die Juristenausbil- dung in ihrer heutigen Grundkonzeption ist 200 Jahre alt. Seither wird über ihre Reform diskutiert, ohne dass sich bedeutende Änderungen wirklich haben durchsetzen kön- nen. Dennoch besteht Verbesserungsbedarf. Wenn sich die nunmehr erneut geführte Debatte dadurch von frühe- ren unterscheiden soll, dass sie zu Ergebnissen führt, ist es unerlässlich, drei Fragen klar zu beantworten: Erstens. Was sind die Reformgründe, also die Missstände in der gegenwärtigen Ausbildung? Zweitens. Was sind die Re- formziele? Drittens. Was sind die geeigneten Instru- mente? Ich komme zum ersten Punkt, den Reformgründen. Vier Probleme belasten die gegenwärtige Juristenausbil- dung in unserem Land. Als Erstes ist zu nennen, dass es sich bei dem gegenwärtigen Jurastudium um ein Mas- senstudium mit einem inakzeptablen Missverhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden handelt. Dieses Ver- hältnis liegt bei 1:120 und muss zu einer abnehmenden Qualität der Ausbildung führen. Das zweite Problem liegt darin, dass die Studenten es im Studium und in den Examina mit einer Stofffülle zu tun haben, die praktisch kaum noch zu bewältigen ist. Tech- nisierung, Digitalisierung und Internationalisierung ma- chen nicht nur die Wirklichkeit komplex, sondern führen auch zu einem enormen Umfang und einer enormen Kom- plexität der juristischen Stofffülle. Zusammen mit der feh- lenden Verzahnung von Studien- und Prüfungsinhalten führt diese Stofffülle zu einer den wissenschaftlichen An- spruch des Studiums aushöhlenden Examensfixierung seitens der Studenten. Das dritte Problem der gegenwärtigen juristischen Ausbildung besteht darin, dass sie am Bedarf des Arbeits- marktes vorbeigeht. Leidtragende der weit über den Be- darf hinausgehenden Ausbildung ist insbesondere die An- waltschaft. Drei von vier Absolventen werden Rechtsan- walt, viele, weil sie diesen Beruf ergreifen wollen, viel zu viele mangels Alternative. Der vierte gravierende Mangel der gegenwärtigen Aus- bildung besteht darin, dass sie nach Art und Gesamtdauer dazu führt, dass die internationale Konkurrenzfähigkeit der deutschen Juristen abnimmt, obwohl sie wegen der In- ternationalisierung des Rechtsverkehrs immer wichtiger wird. Was sind angesichts dieser Missstände die Reformziele und die zu ihrer Verwirklichung nötigen Reformschritte? Die Ausbildung verbessern und nicht verbilligen ist mei- nes Erachtens die oberste Maxime. Wer sich diesem Ziel anschließt, muss im Hinblick auf das von der Justizminis- terkonferenz mehrheitlich befürwortete Einphasen-Mo- dell feststellen, dass es auf dem bisherigen Kostenniveau ohne Qualitätseinbußen nicht realisierbar ist. Wer also das Einphasen-Modell befürwortet und gleichzeitig sparen möchte, greift die Qualität der juristischen Ausbildung an. Ein positives Reformziel besteht darin, das Studium an die Universität zurückzuholen. Im Zentrum steht dabei die Einführung einer Universitätsprüfung als Studienab- schluss. Damit würde endlich die Verbindung geschaffen zwischen universitärer Ausbildung und Prüfung. Univer- sitätsprüfung heißt, dass diejenigen, die lehren, auch prü- fen, und dass das, was gelehrt wurde, auch geprüft wird. Das Studium würde dadurch eine angemessene Aufwer- tung erfahren. Weiterhin ist eine Universitätsprüfung die unerlässliche Voraussetzung für effektive Zwischenprü- fungen während des Studiums. Diese sind zwingend nötig, wenn das Problem der Massen nicht erst am Ende, sondern sinnvollerweise am Anfang der Ausbildung an- gegangen werden soll. Hierfür muss aber das Eigeninte- resse der Professoren begründet werden. Das juristische Studium bedarf weiterhin einer Er- neuerung auch im Hinblick auf die Studieninhalte. Nötig ist eine neue Definition einerseits von Kernkompetenzen, die jeder Jurist beherrschen muss und die die Grundlagen, Strukturen und die Methodik des Rechts und der Rechts- anwendung betreffen, sowie von Spezialkompetenzen, die für einzelne Rechtsgebiete Detailwissen beinhalten. Im Zusammenhang mit dieser Diskussion muss sicherlich auch über eine Modernisierung der Studieninhalte geredet werden. Dies bedeutet etwa, dass wir zumindest bereit sein müssen, darüber zu diskutieren, ob das Strafrecht, das in der Berufspraxis relativ weniger Juristen eine Rolle spielt, als a priori wichtiger angesehen werden muss als etwa das alle Lebens- und Rechtsbereiche durchdringende Europarecht. Schließlich ein weiterer Reformvorschlag: Die Uni- versitätsprüfung sollte als berufsqualifizierender Ab- schluss mit Ausnahme der Rechtspflegeberufe konzipiert sein. In den anderen Fällen fehlt dem Referendariat als staatlich finanzierte Ausbildung nämlich nicht nur die Rechtfertigung, sondern in weiten Teilen die Eignung. Das Rechtspflegereferendariat kann dabei kürzer sein als das heutige Referendariat und würde auf diese Weise auch einen Beitrag zur notwendigen Verkürzung der juristi- schen Ausbildung leisten. Insgesamt möchte ich für die CDU/CSU-Bundestags- fraktion feststellen: Auch wenn die Diskussion um die ju- ristische Ausbildung alt ist und vielleicht niemals beendet wird, müssen wir einen neuen, beherzten Reformversuch unternehmen. Oberstes Ziel muss eine Verbesserung der Qualität und der Konkurrenzfähigkeit der juristischen Ausbildung sein. Dies wird nur auf der Grundlage eines offenen und sachlichen Dialoges innerhalb des Bundesta- ges und zwischen Bundestag und Bundesrat möglich sein. Die CDU/CSU-Fraktion wird hierzu konstruktive, kon- zeptionell gute und realistische Vorschläge einbringen. Joachim Stünker (SPD): Bei allem sonstigen Streit in der Rechtspolitik, in einem sind sich im Grunde alle Akteure einig: Ob Sie sich in der juristischen Berufspra- xis, im rechtswissenschaftlichen Bereich, bei den Studie- renden oder unter Justizpolitikerinnen und Justizpoliti- kern erkundigen, eine grundlegende Reform der Juristen- ausbildung wird von allen für dringend notwendig erachtet. Insofern rennen die Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P. mit ihrem Gesetzentwurf offene Türen ein: In diversen Arbeitsgruppen, Landesjustizministerien und Universitätszirkeln wird intensiv an realisierbaren Kon- zepten gearbeitet. Und auch die Regierungsfraktionen haben in der Koalitionsvereinbarung im Kapitel „Justiz- reform“ vereinbart – Zitat –: „Die Aus- und Fortbildung der Juristinnen und Juristen werden wir unter Berück- sichtigung der Anforderungen einer modernisierten Rechtsordnung reformieren.“ Die Bundesjustizministerin hat ebenfalls öffentlich bekräftigt, dass die Reform der Juristenausbildung auf der rechtspolitischen Agenda der Bundesregierung stehe. Eine solche Reform ist auch bitter nötig: Juristische Fa- kultäten leiden seit Jahren an Überfüllung, darunter leidet die Qualität der Ausbildung. Zurzeit studieren genauso viele junge Menschen Jura wie Juristen in den traditio- nellen Berufen arbeiten. Starke Inanspruchnahme der Re- petitorien zeigt problematisches Auseinanderfallen von Ausbildungsinhalten und Prüfungsanforderungen. Exa- menfixiertes Lernen, eingepauktes Einzelwissen statt übergreifendes Verständnis; Anforderungen durch Eu- ropäisierung des Rechts; Referendariat bisher zu staats- und justizorientiert, obwohl überwiegend spätere Berufs- tätigkeit in anderen Feldern, zum Beispiel Rechtsgestal- tung fehlt; unzureichende Vorbereitung auf die juristische Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10655 (C) (D) (A) (B) Praxis. Die Berufssituation erfordert erweitere Fähigkei- ten: betriebswirtschaftliche Kenntnisse, soziale Kompe- tenzen, Teamfähigkeit. Die hohe Misserfolgsquote im Examen nach Jahren der Ausbildung ist Auszubildenden gegenüber nicht verantwortbar. Wartezeiten im Referen- dariat von bis zu weit über 12 Monaten sind jungen Men- schen nicht zumutbar und volkswirtschaftlich unverant- wortlich. Wie gesagt, offene Türen also! Der von der F.D.P.-Fraktion mit dem vorliegenden Ge- setzentwurf eingeschlagene Weg ist allerdings kein taug- liches Mittel zur Unterstützung dieses Reformprozesses. Die Initiierung eines Bundesgesetzes zum jetzigen Zeit- punkt wirkt den Einigungsbestrebungen im Rahmen der Justizministerkonferenz des Bundes und der Länder ent- gegen und ist insofern kontraproduktiv. Wie Sie wissen, hat es hier in den letzten Jahren eine erstaunliche Entwicklung gegeben. Nach dem Appell des so genannten Ladenburger Kreises, einer Gruppe von Hochschullehrern um den ehemaligen Bundesverfas- sungsrichter Professor Dr. Bockenförde, zu einer grund- legenden Reform der juristischen Ausbildung im Jahr 1997 ist das Thema Juristenausbildung endlich wieder auf die rechtspolitische Agenda gesetzt worden. Am 5. No- vember 1998 haben sich die Justizministerinnen und Jus- tizminister auf ihrer Herbstkonferenz nach intensiver Dis- kussion mit breiter Mehrheit im Grundsatz für eine ein- phasige Ausbildungskonzeption nach dem Modell der praxisintegrierten universitären Juristenausbildung aus- gesprochen. Nach diesem Modell sollen die praktischen Ausbil- dungselemente in das Studium integriert und das Refe- rendariat sowie das zweite Staatsexamen abgeschafft wer- den. Das Studium soll in Grund- und Vertiefungsstudium mit Zwischenprüfung sowie einem einjährigen Praxis- block getrennt werden und direkt berufsqualifizierend sein. Gleichzeitig soll das Verhältnis zwischen Studieren- den und Lehrenden deutlich verbessert werden, um ver- mehrt in Seminaren und Kleingruppen ausbilden zu kön- nen – eine echte Qualitätssteigerung also, zu der die Kul- tusministerkonferenz schon ihre Zustimmung erteilt hat. In den konkreten Berufen sollen die Absolventen dann in einer berufsspezifischen Einarbeitungsphase nach dem Prinzip von Traineeprogrammen in Verantwortung der je- weiligen Arbeitgeber vorbereitet werden, allerdings ohne erneute Prüfung am Ende. Leitbild dieser Konzeption ist mit einer treffenden Formulierung des Ladenburger Ma- nifestes „der rechtsgelehrte, allseits einarbeitungsfähige Jurist, der über juristische Urteilskraft verfügt“. Diese Konzeption einer einphasigen praxisintegrierten universitären Juristenausbildung ist am 10. November 1999 auf der Herbst-Justizministerkonferenz erneut be- stätigt worden. Gleichzeitig ist eine Arbeitsgruppe unter der Federführung Baden-Württembergs beauftragt wor- den, das Modell weiterzuentwickeln und konkrete Ver- handlungen mit der Innenministerkonferenz sowie den Wissenschafts- und Finanzressorts über die Umsetzung zu führen. Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen begrüßen diesen Einigungsprozess ausdrücklich. Die Ju- ristenausbildung ist zu wesentlichen Teilen Ländersache. Insbesondere für den wichtigen Bereich des Universitäts- studiums sind bundesgesetzlich allenfalls Rahmensetzun- gen unter anderem über das deutsche Richtergesetz mög- lich. Wir unterstützen deshalb die Bemühungen der Jus- tizministerkonferenz und sind zuversichtlich, dass es dort in nächster Zeit – eventuell schon im Rahmen der Herbst- Konferenz – zu einer endgültigen Einigung kommen wird. Auf der Grundlage einer solchen Einigung sollte dann ein zwischen Bund und Ländern abgestimmter Ge- setzgebungsprozess erfolgen. Um keine Missverständnisse entstehen zu lassen: Im Rahmen der von uns angestrebtem großen Justizreform kommt insbesondere auch der Juristenausbildung eine große Bedeutung zu. Die grundlegende Reform sollte des- halb meines Erachtens noch in dieser Legislaturperiode legislativ zum Abschluss gebracht werden. Sollte sich herausstellen, dass es im Rahmen der Justizministerkon- ferenz nicht zur Einigung kommen kann, wird eine Ge- setzesinitiative in diesem Hohen Hause unerlässlich sein. Zum jetzigen Zeitpunkt aber sehen wir noch gute Chan- cen für eine Einigung und lehnen daher ein bundesge- setzliches Vorpreschen ab. Hinzu kommt, dass der hier vorgelegte Gesetzentwurf auch inhaltlich nicht auf der Höhe der Zeit ist und mir ehr- lich gesagt auch nicht besonders durchdacht erscheint. Ich will die wesentlichen Kritikpunkte kurz umreißen: Erstens. In der Fachdiskussion ist unstrittig, dass eine grundlegende Reform der Juristenausbildung gut abge- stimmt die Bereiche Universitätsstudium und Praxisaus- bildung umfassen muss. Nur so können die nötige Ver- besserung der Gesamtausbildung und die Verzahnung von Theorie und Praxis erreicht werden. Eine Reform, die sich nicht beiden Ausbildungsteilen widmet, wird notwendig Stückwerk bleiben. In dem Gesetzentwurf fehlt jedoch der Bereich der zukünftigen Gestaltung des Universitäts- studiums völlig. Sie widmen sich ausschließlich der Ab- schaffung bzw. Umgestaltung des Referendariats und greifen damit einfach zu kurz. Zweitens. Mit dem Entwurf verfolgt die F.D.P. die Ab- kehr von der Ausbildung zum Einheitsjuristen. Darin sehe ich einen schwerwiegenden Fehler. Das Modell des Ein- heitsjuristen bietet unbestreitbare Vorteile, um die uns viele Länder beneiden: So treten bei uns in weit geringe- rem Maße zum Beispiel Entfremdung und Gegensätze zwischen den juristischen Fachprofessionen auf als in an- deren Ländern. Niemand wird gezwungen, sich für oder gegen eine bestimmte Berufssparte zu entscheiden, bevor er sie kennengelernt hat. Die große Bandbreite der Aus- bildung bietet eine bessere berufliche Perspektive für Absolventinnen und Absolventen. Gerade im Zuge der Europäisierung des Rechts wird eine gute juristische All- gemeinausbildung immer wichtiger, da für jede Speziali- sierung ein Überblick über die gesamte Rechtsordnung erforderlich ist. Außerdem garantiert das Modell des Ein- heitsjuristen jedermann ohne Rücksicht auf Einkommen, Stand oder persönliche Beziehungen den Erwerb einer einheitlichen Zugangsberechtigung für jeden juristischen Beruf. Drittens. Sie halten zumindest für den Bereich von An- waltschaft, Justiz und öffentlicher Verwaltung an einem zweistufigen Ausbildungsmodell fest. Damit stehen Sie in Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10656 (C) (D) (A) (B) Widerspruch zu den Beschlüssen der Justizministerkonfe- renz und der überwiegenden Auffassung in der bundes- weiten Reformdiskussion. Es besteht inzwischen weitge- hend Zustimmung zum Modell einer praxisintegrierten universitären einphasigen Juristenausbildung. Viertens. Weiterhin sehe ich bei der vorgesehenen feh- lenden gesetzlichen Konkretisierung des Umfangs der Ausbildungszeit bei einem Rechtsanwalt und deren Ver- gütung die Gefahr des Fehlens einer ausreichenden Zahl von Ausbildungsplätzen bzw. der Vergabe von knappen Plätzen nach sachfremden Kriterien. Wenn wir sehen, wie sich die Situation im Bereich der Medizin bei Assistenz- ärzten darstellt, halte ich dies nicht für einen erstrebens- werten Zustand. Fünftens. Gerade bezüglich der Ausgestaltung des von Ihnen vorgeschlagenen Anwaltsvorbereitungsdienstes wäre der unumgängliche Einfluss des Staates nicht mehr gegeben. Dieser ist meines Erachtens aber für die Ausbil- dung des Rechtsanwalts als unabhängiges Organ der Rechtspflege unabweisbar geboten. Sechstens. Zu guter Letzt halte ich den Entwurf für in sich nicht stimmig. Sie wollen den Einheitsjuristen aus grundsätzlichen Erwägungen abschaffen. Für den Bereich von Anwaltschaft, Justiz und öffentlicher Verwaltung bleibt er aber im Ergebnis völlig aufrechterhalten. Sie führen zwar separate Spartenausbildungen mit Abschluss- prüfungen ein, im Ergebnis berechtigt jedoch jeder Spar- tenabschluss auch zum Berufszugang für alle anderen Sparten. Wie dies mit der Kritik an fehlender Spezialisie- rung und Verbesserung der Praxisausbildung zu vereinba- ren sein soll, ist mir unverständlich. Im Ergebnis hinterlässt Ihr Entwurf daher den Ein- druck: Der Anwaltschaft soll die Möglichkeit eingeräumt werden, den Zugang zum Anwaltsberuf durch das „Na- delöhr“ eines besonderen Vorbereitungsdienstes zu steu- ern und zu begrenzen. Das kann aber nicht Maßstab einer verantwortbaren Reform der Juristenausbildung sein. Die Einführung eines berufsqualifizierenden juristi- schen Abschlusses bereits am Studienende halte ich zwar grundsätzlich für begrüßenswert. In ihrem Vorschlag er- folgt sie aber ohne Absicherung der notwendigen Stär- kung der Praxisorientierung und weiterer qualitativer Ver- besserungen des Studiums und dient nur dazu, eine Zu- gangsbegrenzung für die Spartenausbildungen als Richter, Staatsanwalt, Rechtsanwalt oder Verwaltungsbe- amter zu ermöglichen. Abschließend kann ich nur feststellen, dass Ihr Ent- wurf entgegen der Überschrift keine echte „Reform der Juristenausbildung“ darstellt, sondern ein Herumdoktern an Symptomen und damit nur Stückwerk. Halten Sie sich lieber an die Justizministerkonferenz und Ihren Partei- freund Goll aus Baden-Württemberg. Dessen Ideen und Vorschläge passen besser zum Titel „Reform“ und hätten uns heute eine bessere Debatte beschert. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Einigkeit besteht darüber, dass die Ausbildung der Juristinnen und Juristen reformbedürftig ist; diese Not- wendigkeit ist im Entwurf der F.D.P. auch eindrucksvoll dargelegt. Allerdings stellt der F.D.P.-Entwurf aus vielen Gründen nicht die Lösung des Problems dar: Erstens. Die Abschaffung des obligatorischen ersten Staatsexamens wird in der Realität dazu führen, dass die- jenigen Absolventinnen und Absolventen ohne Staatsexa- men als Juristinnen und Juristen zweiter Klasse eingestuft werden. Nach bisherigem Stand werden mindestens sie- ben Bundesländer die ausschließlich universitäre Prüfung nicht mitmachen. Die „Universitätsabschlussjuristinnen und -juristen“ werden sowohl bei der Vergabe der Ausbildungsplätze für den Vorbereitungsdienst als auch als Bewerberinnen und Bewerber auf dem Arbeitsmarkt erheblich schlechtere Chancen haben als die „Staatsexamensjuristinnen und -ju- risten“. Einheitlichkeit, Vergleichbarkeit und Chancen- gleichheit sind mit diesem Modell nicht gewahrt. Die Beibehaltung des obligatorischen ersten Staatsexa- mens ist deshalb dringend geboten; allerdings sollte der Bundesgesetzgeber den Prüfern der jeweiligen Univer- sitäten mehr Einfluss auf die Prüfungen ermöglichen, zum Beispiel die Federführung bei der Auswahl der Aufgaben den Hochschullehrern zu überlassen. Zweitens. Entschieden abzulehnen ist die Eingangs- prüfung für den Vorbereitungsdienst. Abgesehen von verfassungsrechtlichen Bedenken – Art. 12: entweder ist die universitäre Abschlussprüfung die Qualifikation für den Vorbereitungsdienst oder nicht –, ist dies der un- taugliche Versuch, die nicht gegebene Einheitlichkeit der Abschlussprüfungen nachträglich auf Kosten der Uni-Ab- solventinnen und -Absolventen herzustellen. Was sollen diejenigen tun, die diese Prüfung nicht be- stehen? Wer bereitet auf diese Prüfung – wahrscheinlich mit bis zu diesem Zeitpunkt nur unzulänglich vermittel- tem Praxiswissen gespickt – vor? Bei der Eingangsprü- fung für den Anwaltsvorbereitungsdienst droht die Gefahr einer Bedarfsprüfung. Drittens. Zwar ist die Dreiteilung des Vorbereitungs- dienstes zu begrüßen. Allerdings sollen die heikelsten Punkte – Gestaltung der Ausbildungssituation, Finanzie- rung des Anwaltsvorbereitungsdienstes und Besetzung der Prüfungsorgane per Rechtsverordnung des BMJ im Benehmen mit der Bundesrechtsanwaltskammer unter Zustimmung des Bundesrates geregelt werden. Als zentrale Ausbildungsstelle wird als Ort eine An- waltsakademie vorgeschlagen, die es noch zu gründen gelte. Dabei wird verschwiegen, dass es bundesweit be- reits Fortbildungsakademien für Anwälte gibt, für deren Seminare hohe Gebühren gezahlt werden müssen. Nicht gesagt wird, wer in welcher Höhe den Anwalts- vorbereitungsdienst finanzieren soll. Viertens. Die im Rahmen der Kosten aufgeführten Ein- schätzungen, dass die Landesjustizhaushalte entlastet und der Zuwachs bei den Wissenschaftshaushalten zur Ver- besserung der universitären Ausbildung kaum ins Ge- wicht fallen würden, gehen in mehrfacher Hinsicht an der Realität vorbei. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10657 (C) (D) (A) (B) a) Die Entlastungen bei den Landesjustizhaushalten werden wahrscheinlich nicht in dem erhofften Maße eintreten, weil sowohl für den Justizvorbe- reitungs- als auch den Verwaltungsvorbereitungs- dienst Vorhaltekosten entstehen. Mit der Abschaf- fung der bisher obligatorischen Staatsanwalt- schaftsstation wird der staatsanwaltschaftliche Sitzungsdienst auf Amtsgerichtsebene, der bisher überwiegend von Rechtsreferendarinnen und -re- ferendaren wahrgenommen wird, bundesweit zu- sammenbrechen. Der Sitzungsdienst muss dann von neu eingestellten Staatsanwältinnen und Staatsanwälten wahrgenommen werden. Da eine Praxisphase – wo auch immer verortet – unerläss- lich ist, muss diese auch finanziert werden. Die Finanzierung sollte nicht mehr, wie bisher, im Rahmen eines starren Beamtenverhältnisses auf Widerruf erfolgen, sondern flexibler als Angestell- tenverhältnis ausgestaltet werden. Auch die Höhe der Bezüge bzw. des Gehalts muss bei einem allein stehenden Referendar nicht unbedingt circa 2 000 DM brutto betragen; allerdings erfordert eine sozialverträgliche Ausgestaltung des Vorbe- reitungsdienstes ein Mindestgehalt von 1 700 DM brutto; von einer Entlastung der Justizhaushalte kann also keinesfalls die Rede sein. b) Die Einschätzung, dass der Zuwachs der Mittel für die universitäre Ausbildung kaum ins Gewicht fal- len werde, ist entschieden zu verneinen. Abgesehen davon, dass aus den oben genannten Grün- den kaum Mittel aus den Justizhaushalten an die Univer- sitäten zu verteilen sein werden, sind für eine studentin- nen- und studentengerechte universitäre Ausbildung strukturelle – insbesondere personelle – Veränderungen der bisherigen Lehrkörper an den Universitäten ebenso erforderlich, wie eine erheblich bessere Finanzausstat- tung der ausbildenden Institute: Ohne den kostenintensiven Ausbau bzw. die Neuschaf- fung eines im Verhältnis zu den bisherigen Lehrstuhlin- haberinnen und -inhabern und im Rahmen der Institute unabhängigen sowie eigenständigen akademischen Mit- tel- und Oberbaus, der unabhängig von Forschungsinte- ressen und -verpflichtungen die Studentinnen und Stu- denten mit didaktisch modernen Lehrmethoden kontinu- ierlich und systematisch Theorie und Praxis miteinander verzahnend ausbildet, ist jede Ausbildungsreform zum Scheitern verurteilt. Im Unterschied zu heute müssen die Lehrstuhlinha- ber/Dozentinnen und Dozenten keine akademische Lauf- bahn an der Universität einschlagen. Die Qualitätskontrolle der Lehre erfolgt durch eine echte Evaluierung, wie sie bei Privatakademien schon bis- her üblich ist. Diese strukturelle und personelle Neuerung wird die Landeswissenschaftshaushalte für die 38 deutschen Uni- versitätsstandorte mit rechtswissenschaftlichen Fakultä- ten Milliarden kosten. Es gäbe noch weitere Kritikpunkte, die ich aus Zeit- gründen leider nicht mehr ansprechen kann. Eines ist jedenfalls klar, das Modell der F.D.P. kann so nicht unsere Zustimmung finden. Die Koalition wird nach Diskussion und Abstimmung mit den Justizministerien der Länder einen eigenen Vorschlag vorlegen. Die Juris- tenausbildung muss der Änderung der Gesellschaft und des Berufsbildes der Juristen angepasst werden. Sie darf nicht zur Heranbildung von „Fachidioten“ des Rechts führen, sondern muss interdisziplinärer werden und Juris- tinnen und Juristen bilden, die gewohnt sind, über den Tellerrand des Juristischen zu blicken und gesellschaftli- che Zusammenhänge zu begreifen und in ihre Arbeit ein- zubeziehen. Die Juristenausbildung muss aber auch für alle, die diese wollen, offen bleiben, unabhängig von eigenem Ein- kommen und Vermögen und den finanziellen Verhältnis- sen der Eltern. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (F.D.P.): Mit der heuti- gen ersten Lesung des von uns eingebrachten Entwurfs ei- nes Gesetzes zur Reform der Juristenausbildung kommt endlich das parlamentarische Verfahren zu einem wirklich überfälligen Modernisierungsprojekt in Gang. Schon seit vielen Jahren wird die Malaise der überkommenen Juris- tenausbildung beklagt. Das Studium ist längst aus ver- nünftigen Kanalisierungen ausgebrochen. Die Stofffülle ist zu groß, die wissenschaftlichen Lehrmethoden halten mit einer Effektivitätsausrichtung längst nicht mehr Schritt, die betreffenden Fakultäten und Fachbereiche sind unzureichend ausgestattet und die faktische Studien- zeit ist nach wie vor zu lang. Natürlich sind hierfür letzt- lich die Länder zuständig. Aber der Bund gibt über seine Zulassungsregeln zum Richter- und Anwaltsberuf sowie zum höheren Verwaltungsdienst die maßgeblichen Richt- werte vor. Erst recht der zum vollen Qualifikationsausweis uner- lässliche Referendardienst – samt Zweitem Staats- examen – ist in seinem heutigen Zuschnitt total veraltet und ineffektiv. Wirtschaft und Anwaltschaft kritisieren schon seit langem, dass er schwerpunktmäßig auf den Richterberuf ausgerichtet ist, obwohl nur noch knapp 3 Prozent der jungen Juristen in diese Berufssparte und die Staatsanwaltschaft gelangen. Auch soll der „normale“ Nachwuchsjurist natürlich stärkere Fremdsprachenkom- petenz erwerben, sich in Ökonomie, Politik und Sozialem auskennen und am Ende schließlich nicht wesentlich älter sein als seine Konkurrenten aus den anderen EU-Staaten auf dem zunehmend europäischen Berufsmarkt. Das alles erbringt die überkommene Referendarausbildung in kei- ner Weise. Dass die Länder zudem über die hohen Refe- rendariatskosten klagen, die insgesamt bei rund 1 Milli- arde DM liegen dürften und die ohnehin strapazierten Justizhaushalte belasten, kann immerhin die Reformbe- reitschaft voranbringen. Eine Antwort auf die drängenden Forderungen des Er- neuerungsbedarfs sollte allemal beherzt statt halbherzig ausfallen. Sie muss den Realitäten gewandelter juristi- scher Berufsziele, begrenzter berufsplanerischer Lernzeit und staatlicher Finanzausstattung ebenso Rechnung tra- gen wie den gewandelten Anforderungsbedingungen, der fortgeschrittenen Spezialisierung und dem europäischen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10658 (C) (D) (A) (B) Angleichungsdruck. Und sie muss tunlichst nicht nur die herkömmliche zweite Phase der Juristenausbildung, also das Referendariat, reformieren, sondern auch die erste, die Studienphase mit einbeziehen. Insgesamt jedenfalls sind nicht Nivellierung und Qualitätsabstriche die Devise, sondern Konzentration, inhaltliches Durchparieren und Qualitätssteigerung. Der von der F.D.P.-Fraktion vorgelegte Gesetzentwurf sieht demzufolge vor, dass das gestraffte, reorganisierte und verbesserte Studium mit seiner betreffenden Ab- schlussprüfung die allgemeine Berufsqualifikation als Ju- rist erbringt. Lediglich die spezifischen Juristenberufe, für die der Staat Verantwortung trägt, brauchen dann noch eine zusätzliche, praktische Ausbildung, zu welcher die Bewerber nunmehr nach entsprechend qualitativer Aus- wahl zugelassen werden. Ein allgemeines Referendariat, das zum Regelwerdegang gehört und auf dessen Absol- vierung jeder Bewerber nach dem Ersten Staatsexamen einen Anspruch hat, wird es also nicht mehr geben. Die spezifische Zusatzausbildung findet in drei Sparten statt – daher die Bezeichnung „Neptunmodell“ – nämlich einem Justiz-, einem Verwaltungs- und einem Anwaltsvorberei- tungsdienst, zwischen denen volle Durchlässigkeit si- chergestellt wird. Die selektierte Zusatzausbildung endet jeweils mit einer bereichsspezifischen Staatsprüfung, die den beiden Nachbarexamen qualitativ gleichwertig ist. Über die Einzelheiten wird in den Ausschussberatungen hoffentlich noch ausführlich diskutiert. Das vorgeschlagene Modell hat gegenüber dem von den meisten Ländern wohl favorisierten Konzept einer Einstufigkeit den Vorteil, dass es den notwendigen Re- form- und Straffungsbedarf nicht mit Qualitätsabstrichen erkauft, sondern inhaltlich durchstarten will. Deshalb sollte es im Weiteren die definitive Richtung angeben. Denn nur gut ausgebildeter und vorbereiteter Nachwuchs kann in Zukunft den hohen Qualitätsanforderungen des rechtswissenschaftlich geschulten, europäisch orientier- ten Juristenbedarfs genügen. Die F.D.P.-Fraktion hofft dringend, dass damit die notwendige politische Erörte- rung des Komplexes nun endlich vorankommt. Dr. Evelyn Kenzler (PDS): Gleich welche Stellung- nahme man zur gegenwärtigen Juristenausbildung in Deutschland einholt, sie sind sich alle in ihrem Urteil ei- nig: reformbedürftig! Untersuchungen zeigen, dass die bislang immer wieder versuchten Reformen weniger aus inhaltlichen Gründen gescheitert sind. Sie scheiterten meist an der unzureichenden Gesetzesvorbereitung. Wenn es also eine zentrale Erfahrung gibt, dann ist es diese: Es muss von der Rechtspolitik ein Forum für die Konsens- findung aller Akteure bereitgestellt werden, auf dem die Leitbilder und Profile moderner Juristenberufe erarbeitet werden können, bevor dann das Gesetzgebungsverfahren eingeleitet wird. Und genau das ist das Problem des vor- liegenden Entwurfs. Der Gesetzentwurf enthält Richtiges und Wichtiges, genügt aber letztlich nicht dem, was die F.D.P. zumindest ansatzweise als Herausforderungen an eine moderne Juris- tenausbildung selbst benennt. Bedauerlicherweise ist der Entwurf maßgeblich von dem Gedanken der Entlastung der Landesjustizhaushalte getragen, statt konsequent von den inhaltlichen Erfordernissen einer modernen Juristen- ausbildung in Gänze auszugehen. Die für den juristischen Vorbereitungsdienst als zu hoch empfundenen Kosten dürfen nicht die zentrale Überlegung bei der Ausbildung der Fachleute sein. Ich bin für Kosteneinsparungen dort, wo sie Sinn machen und nicht zulasten der zukünftigen Juristengeneration gehen. Doch man sollte hier nicht das Pferd von hinten aufzäumen. Es geht in erster Linie um Qualität und Dauer und dann um die Kosten. Im Mittelpunkt des vorliegenden Entwurfs steht die Trennung der Vorbereitungsdienste speziell für die Justiz, die Anwaltschaft und die Verwaltung. Dies würde ohne Zweifel eine verbesserte Vorbereitung auf das Berufsle- ben bedeuten. Doch kann man sich damit begnügen? Ein Juristenausbildungsreformgesetz, das sich im Wesentli- chen in einer Spezifizierung der Vorbereitungsdienste er- schöpft, reicht angesichts des von manchen als miserabel bezeichneten Zustands der juristischen Ausbildung insge- samt nicht aus. Theorie und Praxis müssen so frühzeitig wie möglich verzahnt werden, weshalb eine praxisinte- grierte universitäre Juristenausbildung von vornherein sinnvoll ist. Das bedeutet für mich keinen Abschied vom rechtswissenschaftlichen Studium, zu dem ich nicht zu- letzt auch die Beibehaltung einer rechtsphilosophischen, soziologischen und historischen Ausbildung zähle. Sowohl an der Struktur und als auch den Inhalten des Studiums müssen Veränderungen vorgenommen werden. Darauf näher einzugehen reicht die Zeit nicht. Deshalb nur so viel: Solange das juristische Repetitorium – außer- halb der Universitäten mit den damit verbundenen Kos- ten – für die Mehrzahl der Studenten unverzichtbar zum Bestehen des Examens ist, ist für mich das Jura-Studium nicht in Ordnung. Der Vorschlag, das Studienabschlus- sexamen in die Verantwortung der Universitäten zurück- zugeben, ist nicht nur deshalb zu begrüßen. Aber alles in allem möchte ich, dass der F.D.P.-Entwurf in einen größe- ren Wurf zur Neugestaltung der juristischen Ausbildung einfließt. Dr. Eckart Pick, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- nister der Justiz:Die Juristenausbildung gilt allgemein als reformbedürftig. Als erstes Argument für eine Reform wird meist darauf hingewiesen, dass die gegenwärtige Ju- ristenausbildung in ihrer Grundkonzeption seit 200 Jah- ren besteht. Dies gilt auch für die Begründung des Ent- wurfs der F.D.P.-Fraktion. Wenn wir über eine Ausbil- dungsreform diskutieren, dürfen wir aber gerade nicht außer Acht lassen, dass wir im Kern über Strukturen spre- chen, die über diesen langen Zeitraum gewachsen sind und sich auch zu einem großen Teil bewährt haben. Ich möchte damit nicht die Reformbedürftigkeit außer Rede stellen. Jedoch kann die lange Tradition allein kein Argu- ment für eine Reform sein. Auch ich bin der Ansicht, dass es an der Zeit ist, die Ju- ristenausbildung zu reformieren. Die Anforderungen an den Juristen von heute müssen angepasst werden. Ich bin jedoch für eine durchdachte und ausgereifte Lösung. Schnellschüsse helfen niemandem, am wenigsten den jungen Menschen, die ein Recht auf eine arbeitsmarktge- rechte, aber auch gründliche Ausbildung haben. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10659 (C) (D) (A) (B) Der vorliegende Entwurf kann nicht überzeugen. An- statt Lösungen für die drängende Frage, wie die Juristen- ausbildung in Zukunft ausgestaltet werden kann, anzubie- ten, wirft der Entwurf mehr Probleme auf, als es bisher zu bewältigen gilt. Wird einerseits eine Spezialisierung der Juristen ange- strebt, bleibt völlig unklar, wie diese aussehen soll. Eben- falls offen bleibt die genauere Ausgestaltung des vorge- schlagenen Anwaltsvorbereitungsdienstes. Aber genau um diese Frage müsste es doch gehen! Die Durchlässig- keit zwischen den einzelnen Berufssparten gilt es in Zu- kunft zu erhalten. Da stimme ich dem Anliegen des Ent- wurfs zu. Aber einerseits werden die Ausbildungsgänge getrennt und sollen zu einer Spezialisierung führen, um dann andererseits doch einen faktisch voraussetzungslo- sen Übergang in einen anderen juristischen Beruf zuzu- lassen. So lässt sich die Schaffung von drei verschiede- nen, organisatorisch getrennten Vorbereitungsdiensten nicht rechtfertigen. Schließlich bleibt eine zentrale Frage völlig ungeklärt, nämlich wie der Zugang zu den einzelnen Vorbereitungs- diensten geregelt wird. Hieran schließt sich die für die Kandidaten wichtige Frage an, ob ihnen trotz eines Uni- versitätsabschlusses ein Zugang verwehrt werden kann, und für die Länder bleibt unklar, welcher Finanzierungs- bedarf sich tatsächlich ergibt. Es dürfen nicht allein fiskalische Gründe ausschlagge- bend sein, wenn über eine Reform der Juristenausbildung gesprochen wird. Dieser Entwurf lädt jedoch geradezu dazu ein. Es soll vielleicht auch über die finanziellen Mit- tel die Zahl der Absolventen der Vorbereitungsdienste und so mittelbar die der Juristen insgesamt beschränkt werden. Die Juristenausbildung ist die ureigene Domäne der Länder. Sie sind es daher auch, die für ihre Reform zu sor- gen haben. Die Länder haben sich des Themas zwar an- genommen, bisher allerdings ohne greifbaren Erfolg. Bereits 1996 hat die Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister über verschiedene Grundmodelle dis- kutiert. Ein konkretes Reformmodell wurde intensiv wei- terentwickelt. Dann sind die Reformbestrebungen der Länder allerdings ins Stocken geraten. Auch auf der Ju- stiz-ministerkonferenz im vergangenen Mai konnten die Reformüberlegungen trotz langer Diskussionen nicht fi- nalisiert werden. Ich bedaure das sehr, war dieses Thema aufgrund von Analysen doch sehr gründlich vorbereitet worden. Die Verunsicherung, die diese lang andauernden, zum Teil inhaltlich kontroversen Überlegungen für die an- gehenden Juristen bewirken, ist erheblich. Ich spüre dies regelmäßig an der Zahl der Anfragen verunsicherter Exa- menskandidaten. Dies muss nun bald ein Ende haben. Ich unterstütze deshalb nachdrücklich die Initiative der Rechtspolitikerinnen und Rechtspolitiker der Koalitions- fraktionen, im Herbst hier einen Schwerpunkt der Bera- tungen zu bilden. Dabei wird das wichtigste Anliegen sein, eine Reform der Juristenausbildung zu begleiten, die durchdacht und ausgereift ist. Die Bedürfnisse der jun- gen, in der Ausbildung befindlichen Juristen sind wesent- lich zu beachten. Die Interessen von Justiz, Verwaltung, Anwaltschaft und Wirtschaft werden Berücksichtigung finden müssen. Gerade aber auch die Belange des Recht suchenden Publikums dürfen hierüber nicht vergessen werden. Anlage 4 Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung Der Bundesrat hat in seiner 752. Sitzung am 9. Juni 2000 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzu- stimmen, bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Absatz 2 Grundgesetz nicht zu stellen: – Gesetz zur Sicherstellung der Rentenauszahlung im Vormonat (Rentenauszahlungsgesetz) – Zweites Gesetz zur Fortentwicklung der Alters- teilzeit – Gesetz zur Änderung von Vorschriften über die Tätigkeit der Steuerberater (7. StBÄndG) – Zehntes Gesetz zur Änderung des Arzneimittel- gesetzes – Gesetz zur Neuordnung seuchenrechtlicher Vor- schriften (Seuchenrechtsneuordnungsgesetz– SeuchRNeuG) – Gesetz zu der Vierten Änderung des Überein- kommens über den Internationalen Währungs- fonds (IWF) – Gesetz zu den Übereinkommen vom 19. Dezember 1996 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden zum Schengener Durchführungsüber- einkommen und zu dem Übereinkommen vom 18. Mai 1999 über die Assoziierung der Republik Island und des Königreichs Norwegen – Gesetz zu dem Protokoll vom 9. September 1998 zur Änderung des Europäischen Übereinkom- mens vom 5. Mai 1989 über das grenzüberschrei- tende Fernsehen – Gesetz zu dem Vertrag vom 5. November 1998 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Antigua und Barbuda über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen – Gesetz zu dem Vertrag vom 25. August 1998 zwi- schen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Mexikanischen Staaten über die För- derung und den gegenseitigen Schutz von Kapi- talanlagen – Gesetz zur Änderung; und Ergänzung des Straf- verfahrensrechts – Strafverfahrensänderungsge- setz 1999 (StVÄG 1999) – Einundzwanzigstes Gesetz zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und Achtzehntes Gesetz zur Änderung des Europaabgeordnetengesetzes – Gesetz zur weiteren steuerlichen Förderung von Stiftungen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10660 (C) (D) (A) (B) – Gesetz über Fernabsatzverträge und andere Fragen des Verbraucherrechts sowie zur Umstel- lung von Vorschriften auf Euro – Viertes Gesetz zur Änderung des Futtermittelge- setzes Die Fraktion der SPD hat mit Schreiben vom 28. Juni 2000 den Koalitionsantrag „25 Jahre KSZE/OSZE“ – Drucksache 14/3399 – zurückgezogen. Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mit- geteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu der nachstehenden Vorlage absieht: Innenausschuss – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Wahlkreiskommission für die 14. Wahlperi- ode des Deutschen Bundestages gemäß § 3 Bundeswahl- gesetz (BWG) – Drucksachen 14/2597, 14/3084 Nr. 1 – Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung – Unterrichtung durch die Bundesregierung Erfahrungsbericht der Bundesregierung zu den Auswir- kungen des im Jahre 1996 in Kraft getretenen Ände- rungsgesetzes zum Ladenschlussgesetz – Drucksachen 14/2489, 14/2736 Nr. 2 – Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über ihre Bemühungen zur Stärkung der gesetzgeberischen Befugnisse des Europä- ischen Parlaments 1999 – Drucksachen 14/2835, 14/2947 Nr. 1.3 – Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU- Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Bera- tung abgesehen hat. Auswärtiger Ausschuss Drucksache 14/2817 Nr. 1.3 Drucksache 14/2817 Nr. 1.9 Innenausschuss Drucksache 14/2952 Nr. 2.6 Drucksache 14/2952 Nr. 2.22 Drucksache 14/3050 Nr. 2.18 Drucksache 14/3050 Nr. 2.20; Finanzausschuss Drucksache 14/3341 Nr. 2.5 Drucksache 14/3341 Nr. 2.15 Drucksache 14/3341 Nr. 2.40 Ausschuss fürWirtschaft und Technologie Drucksache 14/3146 Nr. 2.3 8 Drucksache 14/3207 Nr. 1.1 Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Drucksache 14/3428 Nr. 2.5 Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Drucksache 14/2952 Nr. 1.3 Drucksache 14/2952 Nr. 2.1 Drucksache 14/2952 Nr. 2.2 . Ausschuss für Verkehr, Bau und Wohnhngswesen Drucksache 14/2104 Nr. 2.23 Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- schätzung Drucksache 14/3146 Nr. 2.34 Drucksache 14/3146 Nr. 2.35. Drucksache 14/3146 Nr. 2:36 Drucksache 14/3146 Nr. 2.37 Drucksache 14/3341 Nr. 2.8 Drucksache 14/3341 Nr. 2.14 Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Drucksache 14/2952 Nr. 2.15 Drucksache 14/2952 Nr. 2.26 Drucksache 14/3146 Nr. 1.2 Drucksache 14/3146 Nr. 2.5 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10661 (C) (D) (A) (B) Druck: MuK. Medien-und Kommunikations GmbH, Berlin
Gesamtes Protokol
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1411200000
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Wahlvorschlag der Fraktion SPD und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Wahl eines Mitgliedes des Parlamentarischen
Kontrollgremiums gemäß §§ 4 und 5 Abs. 4 des
Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle
nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes

(Kontrollgremium – PKGrG)

– Drucksache 14/3663 –

Die Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen
schlagen auf Drucksache 14/3663 den Abgeordneten
Hermann Bachmaier vor.

Bevor wir zur Wahl kommen, bitte ich um Ihre Auf-
merksamkeit für einige Hinweise zum Verfahren: Die er-
forderlichen blauen Stimmkarten wurden verteilt. Sollten
Sie noch keine erhalten haben, können Sie diese jetzt noch
von den Plenarsekretären bekommen. Sie benötigen also
eine blaue Stimmkarte. Für die Wahl benötigen Sie außer-
dem Ihren weißen Wahlausweis, den Sie – soweit noch
nicht geschehen – jetzt noch Ihrem Stimmkartenfach in
der Lobby entnehmen können.

Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mit-
glieder des Bundestages auf sich vereint, das heißt, min-
destens 335 Stimmen erhält. Stimmkarten, die mehr als
ein Kreuz, andere Namen oder Zusätze enthalten, sind
ungültig. Die Wahl ist nicht geheim. Sie können die
Stimmkarte deshalb an Ihren Plätzen ankreuzen. Bevor
Sie die Stimmkarte in eine der aufgestellten Wahlurnen
werfen, übergeben Sie bitte Ihren Wahlausweis einem der
Schriftführer an den Wahlurnen. Die Abgabe des Wahl-
ausweises gilt als Nachweis der Teilnahme an der Wahl.

Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen.

Ich eröffne die Wahl.
Haben alle Mitglieder des Hauses – auch die Schrift-

führer – ihre Stimmkarten abgegeben? – Das ist offen-

sichtlich noch nicht der Fall. – Ich frage noch einmal: Ha-
ben alle Mitglieder des Hauses – auch die Schriftführer –
ihre Stimmkarten abgegeben und gewählt? – Ich höre kei-
nen Widerspruch mehr. Das ist dann offensichtlich der
Fall.

Ich schließe die Wahl und bitte die Schriftführer, mit
der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Wahl gebe
ich später bekannt.

Wir setzen die Beratungen fort. Liebe Kolleginnen und
Kollegen, ich darf Sie bitten, wieder Platz zu nehmen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Vereinbarte Debatte
anlässlich des zehnten Jahrestages der Wirt-
schafts-, Währungs- und Sozialunion

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache zwei Zeitstunden vorgesehen, wobei die PDS
zehn Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und bitte Sie noch einmal
sehr herzlich, Platz zu nehmen, damit wir in die Beratun-
gen eintreten können. Das Wort hat Kollegin Sabine
Kaspereit, SPD-Fraktion.


Sabine Kaspereit (SPD):
Rede ID: ID1411200100
Herr Präsident! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag er-
innert heute an den 1. Juli 1990 – den Tag, an dem die
Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion in Kraft gesetzt
wurde. Es war der Beginn einer Entwicklung, von der zu
Recht gesagt wurde, dass danach nichts mehr so sein
würde, wie es vorher gewesen war. Dieser Tag war aber
auch der Schlusspunkt einer historischen Entwicklung,
deren Etappen wir heute in Erinnerung rufen müssen: den
17. Juni 1953 in der DDR, den Herbst 1956 in Ungarn,
den Frühling 1968 in Prag und den Winter 1980 in Polen
bis schließlich zum Mauerfall am 9. November 1989. Das
ist das Fundament, auf dem die Bürgerinnen und Bürger
der DDR in den Monaten vor dem 1. Juli 1990 in einer
friedlichen Revolution das kommunistische Regime der
SED beseitigen konnten.

10593


(C)



(D)



(A)



(B)


112. Sitzung

Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000

Beginn: 9.00 Uhr


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1411200200
Liebe Kollegin, einen
kleinen Moment! Liebe Kolleginnen und Kollegen dort
hinten, nehmen Sie doch Platz oder verlassen Sie den Ple-
narsaal!


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Frau Kollegin Kaspereit hat eine sanfte Stimme und
würde sonst rhetorisch behindert werden. Herzlichen
Dank.


Sabine Kaspereit (SPD):
Rede ID: ID1411200300
Vielen Dank, Herr Präsi-
dent.

Erst mit diesem Schritt wurde der Weg für die Vereini-
gung Deutschlands in einem demokratischen und sozialen
Rechtsstaat frei gemacht. Es hatte sich gezeigt, dass das
Bewusstsein und die Verantwortung für die gemeinsame
Geschichte, persönliche und verwandtschaftliche Bezie-
hungen und das Zusammengehörigkeitsgefühl der
Deutschen stärker waren als eine kommunistische Ideo-
logie und eine die Deutschen in Ost und West separie-
rende Staatsräson.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es war deshalb kein Zufall, dass die Deutschen bei der

ersten sich bietenden Gelegenheit die Chance zur Wie-
dervereinigung nutzten. Das war unseren Nachbarn im
Westen, aber auch im Osten immer selbstverständlich und
immer präsent. Nur dem einen oder anderen im eigenen
Land schien das Gespür dafür abhanden gekommen zu
sein.


(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Dabei steht die historische Bedeutung des 1. Juli 1990

außer Frage. Der Schritt zur Wirtschafts-, Währungs- und
Sozialunion war das zentrale Ereignis im Prozess der
Wiedervereinigung Deutschlands. Dieser Schritt war not-
wendig und ohne Alternative. Heute – zehn Jahre nach
den oft heftigen Debatten über ein Für und Wider – kann
das so bestimmt festgestellt werden.

Doch die historische Bedeutung dieses Datums, die
Gefühle der Betroffenen und ihre Erinnerungen an das Er-
eignis fallen merkwürdig auseinander. Es scheint: Je wei-
ter sich das Ereignis im zeitlichen Verlauf entfernt, desto
schwerer fällt es, gemeinsame Bilder, Bewertungen und
Erinnerungen zu finden. Zu viele Hoffnungen wurden
seither enttäuscht, zu viele Wünsche blieben unerfüllt, zu
viele Versprechen wurden gebrochen, zu viele Lebens-
entwürfe über den Haufen geworfen und Biografien ent-
wertet.

Für nicht wenige in den neuen Ländern erscheint der
1. Juli deshalb als der Sündenfall schlechthin. Das ist für
sie der Tag, an dem die Industrielandschaft der DDR platt
gemacht wurde und von dem an Millionen ihren Arbeits-
platz verloren. Das ist für sie der Tag, an dem das Volks-
eigentum der DDR verschleudert wurde oder in west-
deutsche Hände fiel. Das ist für sie der Tag, an dem die
Sicherheit eines umfassenden, fürsorglichen Staates ver-
schwand.

All das ist grundfalsch. Die ehemals blühende ost-
deutsche Industrielandschaft wurde während 40 Jahren
Sozialismus platt gemacht und nicht nach dem
1. Juli 1990.


(Beifall bei der SPD und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Millionenfache Arbeitslosigkeit war in den sozialisti-
schen Betrieben und Verwaltungen versteckt worden. Das
Volkseigentum stand zur Disposition einer winzigen Min-
derheit von Funktionären, die es verkommen ließen. Der
für alles zuständige fürsorgliche Staat hatte die Leis-
tungsbereitschaft der Menschen gelähmt. Die Region, die
vor dem Zweiten Weltkrieg an der vordersten Front des
industriellen Fortschritts stand, wurde an die Peripherie
der wirtschaftlichen Entwicklung gedrängt und fiel im-
mer mehr zurück. Das ist die Wahrheit.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die überwiegende
Mehrheit der Ostdeutschen war und bleibt der 1. Juli 1990
ein Tag der Freude und Erleichterung. Jetzt war klar, dass
die friedliche Revolution endgültig gesiegt hatte. Jetzt
war klar, dass die Wiedervereinigung kommen würde,
schnell kommen würde, und das entsprach den Wünschen
der überwältigenden Mehrheit der Menschen in Ost und
West.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Sosehr sich Freude und Erleichterung mit dem 1. Juli
1990 verbinden – es gab auch Besorgnis vor dem, was
kommen würde. Wir fühlten, dass sich unser Leben
grundlegend ändern muss.

Seit dem Mauerfall setzte eine Umwertung aller bisher
geltenden Normen und Werte ein, eine Kulturrevolution
im wahrsten Sinne des Wortes. Das, was zuvor des Teu-
fels war, wurde nun hoch gelobt. Individualismus statt
Kollektivismus, Verfolgen eigener Interessen statt Solida-
rität, Wettbewerb statt Planung, Konkurrenzverhalten,
Selbstverwirklichung, Prestigedenken, ungenierter Ge-
brauch der Ellenbogen, Egozentrismus – so wurden die
neuen Herausforderungen umschrieben, denen wir uns
stellen mussten und doch nur schlecht stellen konnten.

Ich kann mich noch erinnern: Als Kinderzahnärztin
hatte ich größte Schwierigkeiten, mit den neuen Gege-
benheiten im Gesundheitswesen zurechtzukommen. Nun
hieß es nicht mehr allein, den Patienten in den Mund zu
schauen, um zu sehen, ob sie gesunde Zähne hatten und
was zu tun wäre, wenn dies nicht der Fall war. Ich hatte
aber nie gelernt, den Patienten zuerst ins Portemonnaie
und dann in den Mund zu schauen.

Mein Freundeskreis in der DDR, mit relativ homoge-
nen Interessen verbunden, überlebte die Wende nicht und
zerfiel. Wir sprachen nicht mehr dieselbe Sprache und
hatten sehr unterschiedliche Probleme zu lösen. Der eine
gründete eine Firma, der Zweite brauchte eine halbe Mil-
lion für eine Praxisgründung, der Dritte kam mit den Ver-
änderungen im Schulsystem nicht zurecht. Urlaubsfotos






(C)



(D)



(A)



(B)


aus der Karibik verletzten den Stolz meiner arbeitslosen
Nachbarin. Die Entscheidung für eine bestimmte Auto-
marke rief Schulterzucken hervor, früher eher Freude da-
rüber, dass das Auto endlich da war. Schließlich fehlten
die gemeinsamen Gesprächsthemen, über die man pre-
stige- und vorurteilsfrei hätte sprechen können.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bilder vom
1. Juli 1990 sind haften geblieben und waren geprägt von
Menschenschlangen vor Sparkassen und Banken.Am
2. Juli standen in den Regalen der Konsum-Verkaufsstel-
len Waren, die wir nur aus der Werbung im Fernsehen
kannten. Doch ebenso wie im Intershop waren diese Wa-
ren nur gegen Westgeld zu erhalten. Aber – großes Stau-
nen – wir hatten ja plötzlich die D-Mark. Und wir drehten
jede Mark zweimal um, bevor wir sie ausgaben.

Das war der Schritt zur Wirtschafts-, Währungs- und
Sozialunion; aber es war weit mehr als nur der Tag, an
dem die Mark der DDR in D-Mark eingetauscht wurde.
Entscheidend war: Die Wirtschafts-, Währungs- und So-
zialunion hat die Grundlagen für den Weg zur sozialen
Marktwirtschaft geschaffen und dieser Weg war bitter
nötig, auch wenn das damals noch nicht von allen so ge-
sehen wurde.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Über das Ob, das Wie, das Wann einer Währungsunion

wurde 1990 heftig gestritten, nicht nur in beiden Parla-
menten, der Volkskammer und dem Bundestag, sondern
auch innerhalb der Parteien, auch und gerade in meiner
Partei. Angesichts der außerordentlichen Bedeutung die-
ser Entscheidung war das nur allzu verständlich.

Ein bunter Strauß von Meinungen, Ansichten, Thesen
und Antithesen und Analysen wurde täglich feilgeboten.
Gewissheiten von heute waren morgen schon widerlegt,
Unsicherheiten und Befürchtungen wurden bald zu Tatsa-
chen.

Aber es hat doch keinen Sinn, heute den Neunmalklu-
gen zu spielen. Deshalb halte ich die häufig geführte Was-
wäre-wenn-Diskussion für so unnötig wie einen Kropf.
Das Gesetz des Handelns lag jedoch nicht in den Par-
lamenten, weder in Berlin noch in Bonn, sondern es lag
bei den Regierungen. Und die brauchten häufig länger als
notwenig, um Entwicklungen angemessen zu beurteilen
und dementsprechend zu handeln.

Es waren Sozialdemokraten, die bereits früh die Not-
wendigkeit des Schrittes hin zur Währungsunion gefor-
dert und in die politische Debatte eingeführt hatten.


(Beifall bei der SPD – Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Ich schaue mit Vergnügen auf die Tribüne dieses Hauses
und begrüße unsere ehemalige Kollegin, das heutige Vor-
standsmitglied der Kreditanstalt für Wiederaufbau, Frau
Ingrid Matthäus-Maier.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der PDS)


Zusammen mit ihrem Kollegen Wolfgang Roth hatte
Ingrid Matthäus-Maier in einer Pressemitteilung – bitte
hören Sie zu – vom 2. Februar 1990 die Bundesregierung

aufgefordert – ich zitiere mit Genehmigung des Präsiden-
ten –:

Die Bundesregierung, insbesondere Finanzminister
Waigel, muss endlich ihren Widerstand gegen eine
deutsch-deutsche Währungsunion aufgeben.


(Lachen bei der CDU/CSU)

Wer die Währungsunion auf den Sankt-Nimmer-
leins-Tag verschiebt und sich, wie Herr Waigel, nur
als Oberbedenkenträger betätigt, der schadet den
Deutschen in Ost und West und behindert den orga-
nischen Prozess der deutschen Einigung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/ CSU]: Das ist ja peinlich!)


So weit Wolfgang Roth, damals wirtschaftspolitischer
Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, und Ingrid
Matthäus-Maier, finanzpolitische Sprecherin der SPD-
Bundestagsfraktion, am 2. Februar 1990.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die hat doch nur vom Jäger 90 gesprochen!)


Es waren im Übrigen auch Sozialdemokraten, die da-
rauf gedrängt hatten, dass die mit der Währungsumstel-
lung verbundenen schmerzlichen Anpassungsschritte so-
zial und ökologisch begleitet werden müssten. Es ist nicht
zuletzt das Verdienst der SPD gewesen, Währungs-, Wirt-
schafts- und Sozialunion als gemeinsames Projekt des
Übergangs zur sozialen Marktwirtschaft zu definieren
und in die politische Debatte einzuführen.


(Beifall bei der SPD)

Es ist damals im Vorfeld der Entscheidungen häufig

das Bild eines millionenfachen Exodus von DDR-Bür-
gern in die Bundesrepublik bemüht worden, um das
schnelle In-Kraft-Setzen der Wirtschafts-, Währungs- und
Sozialunion zu begründen. Ich halte dieses Bild für zu ein-
seitig und für zu eng. Mit ihm werden falsche Akzente ge-
setzt; denn es hat auch eine gewisse Suggestionskraft. Der
Slogan „Kommt die D-Mark nicht zu uns, gehen wir zu
ihr“ hat zudem etwas Drohendes und wohl auch etwas Be-
drohliches.

Die Notwendigkeit einer schnellen Vereinigung war
ganz offensichtlich: Der Sozialismus in der DDR hatte –
wie auch anderswo – buchstäblich abgewirtschaftet. Im
Übrigen wusste das keiner besser als die SED-Führung
selbst. Ich erinnere an Ehrensperger und Schürer.

Nein, meine Damen und Herren von der PDS, es gab
zur schnellen Vereinigung keine Alternative. Es gab auch
keine Alternative zu einem radikalen Neuanfang in Wirt-
schaft und Gesellschaft. Die Wahrheit ist, dass die Wie-
dervereinigung die ostdeutsche Bevölkerung vor einem
wirtschaftlichen und sozialen Absturz bewahrt hat.

Vielen von uns war damals allerdings nicht klar, dass
die Wiedervereinigung nicht ein einmaliges Ereignis ist,
sondern ein lang anhaltender, schwieriger Prozess sein
würde, den ich heute als eine einzigartige nationale Auf-
gabe definieren möchte.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)





Sabine Kaspereit

10595


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich werde nie die Bemerkung meines Mannes vergessen,
als er mich – noch immer berauscht von der Aussicht auf
ein ostdeutsches Wirtschaftswunder, das die damalige
Kohl-Regierung uns täglich suggerierte – auf die Erde
zurückholte mit der Frage: Und was ist, wenn das Geld
ausgegeben ist?

Ja, was ist eigentlich, wenn den Menschen das Geld
ausgeht, wenn die Farbfernseher, die Videorekorder, die
Kameras gekauft, die Autos angeschafft sind und der Ur-
laub auf den Balearen vorbei ist? Die Wohnungen waren
noch immer eng. Die sanitären Verhältnisse waren er-
bärmlich. Die Braunkohleöfen und Fernheizungen stan-
ken wie eh und je. Wenn man sich dann auch noch den Zu-
stand der Fabriken und der Verwaltungen anschaute, dann
war klar: Uns trennen nicht Jahre, uns trennen Jahrzehnte
von den Verhältnissen in den Betrieben und Verwaltungen
in der alten Bundesrepublik. Die Verkehrswege, das Tele-
fonnetz, die Wasserversorgung und die Abwasserentsor-
gung waren nahezu unverändert auf dem Stand von vor
dem Zweiten, zum Teil sogar noch auf dem vor dem Ers-
ten Weltkrieg.

In den vergangenen zehn Jahren ist in Ostdeutschland
unendlich viel geschehen. Wer heute selbst durch abgele-
gene Regionen reist, kommt häufig aus dem Staunen nicht
mehr heraus. Ich lade gerade unsere westdeutschen Mit-
bürgerinnen und Mitbürger ein, sich in den neuen Ländern
umzusehen. Wer die Landschaften noch von Verwandten-
besuchen zu DDR-Zeiten kennt, wird sehen, welche enor-
men Fortschritte im vergangenen Jahrzehnt gemacht wor-
den sind. Ich möchte das jetzt gar nicht alles aufzählen.
Aber Sie werden dann auch sehen, was noch zu tun übrig
geblieben ist. Sie werden besser verstehen, dass wir noch
immer auf die Solidarität aus dem Westen angewiesen
sind.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Mit der Entscheidung für einen schnellen Übergang
zur Marktwirtschaft und zur Einheit und damit zur vollen
Integration in die Weltwirtschaft war das Todesurteil über
den ostdeutschen Kapitalstock gesprochen, mit all den
Folgen für Wachstum und Beschäftigung in den neuen
Ländern. Das war übrigens den Experten klar. Sie haben
sich ebenso klar dazu geäußert.

Wenn heute das DIW beklagt, dass das Primat der
Politik über die Ökonomie einen hohen Preis gefordert
hat, so möchte ich dem nicht widersprechen; aber es war
eine richtige und politisch mutige Entscheidung, die der
Ausnahmesituation angemessen war.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es gehört allerdings zu den entscheidenden politischen

Fehlern der Kohl-Regierung, die Menschen in Ost und
West auf die Konsequenzen eines schnellen Übergangs
nicht vorbereitet zu haben. Im Gegenteil, mit dem Gerede
über blühende Landschaften und über die Angleichung
der Lebensverhältnisse in wenigen Jahren sind vor allen
Dingen Ostdeutsche fehlorientiert worden – mit fatalen
Folgen für die weitere Entwicklung.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Zeitspanne vom 9. November 1989, dem Zeitpunkt
der Öffnung der Mauer, bis zum 3. Oktober 1990 war für
uns eine Zeit der emotionalen Hochspannung und der
überschwänglichen Hoffnung, ja der illusionären Erwar-
tungen. Es war eine Zeit der Erleichterung, der Erweite-
rung unseres Horizonts und vor allem des besonderen Ge-
schmacks der Freiheit, wie man ihn nur zu Zeiten von Re-
volutionen schmeckt. Dies ist eine Erfahrung, die wir
Ostdeutschen unseren Mitbürgern in den alten Ländern
voraushaben und immer voraushaben werden.

Wir wurden wieder Subjekt unserer Geschichte, Han-
delnde, die ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen
konnten. Dies ist nichts Abstraktes, sondern eine hautnahe
Erfahrung, die ich als Bürgermeisterin einer Gemeinde
von nur wenigen hundert Einwohnern machen konnte.
Die Gemeinde hatte plötzlich ihre kommunale Selbst-
verwaltung entdeckt. Dies ist eine Erfahrung, die im Be-
wusstsein hängen bleibt und die das Leben der überwälti-
genden Mehrheit der Menschen in den neuen Ländern
verändert hat.

Letztendlich sind es diese alltäglichen Erfahrungen der
Selbstbestimmung und der Verantwortung, die zählen. Sie
sind ein wesentlicher Teil des Fundamentes, auf dem wir
uns seither bewegen und das uns in den kommenden Jah-
ren trotz aller Probleme und Frustrationen immer wieder
tragen wird.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1411200400
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich darf Ihnen zwischendurch das Ergebnis
der Wahl eines Mitglieds des Parlamentarischen Kon-
trollgremiums bekannt geben. Abgegebene Stimmen 573.
Ungültige Stimmen 1. Mit Ja haben gestimmt 390, mit
Nein haben gestimmt 167, Enthaltungen 15. 1)


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Der Abgeordnete Hermann Bachmaier hat die nach § 4
Abs. 4 des Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle
nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes erforderli-
che Mehrheit von 335 Stimmen erreicht. Er ist damit als
Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums ge-
wählt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS)


Wir fahren in der Debatte fort. Ich gebe dem Kollegen
Theodor – – Theo Waigel, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Dr. Theodor Waigel (CDU/CSU) (von der CDU/CSU
mit Beifall begrüßt): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine




Sabine Kaspereit
10596


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 2

Damen und Herren! Herr Präsident, Sie dürfen ruhig
Theodor zu mir sagen. Auch Franz Josef Strauß hat das
gesagt. Theodor heißt „Geschenk Gottes“. Nicht alle wis-
sen das.


(Heiterkeit im ganzen Hause – Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Ich bin also durchaus auf den ganzen Vornamen stolz.
Der Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts-

und Sozialunion war ein entscheidender Meilenstein im
Prozess der Wiedervereinigung zwischen dem 9. Novem-
ber 1989 und dem 3. Oktober 1990. Die politische Be-
deutung des Vertrages liegt auf der Hand: Er war der un-
umkehrbare Schritt zur staatlichen Einheit Deutschlands.
Das wussten wir und das wollten wir.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Mit der Übertragung der währungspolitischen Souve-

ränität auf die Bundesbank war ein eigenständiger ost-
deutscher Staat nicht zu vereinbaren. Es dauerte mehr
als 40 Jahre von der letzten gesamtdeutschen Konferenz
der Ministerpräsidenten in München bis zur ersten
Sitzung des gesamtdeutschen Bundestages. Viele hatten
das Ziel der Wiedervereinigung schon aufgegeben. Frau
Kaspereit, manches von dem, was Sie gesagt haben, war
richtig; nicht alles war ganz richtig. Manchmal waren es
ganze Fraktionen, die den Gedanken an die Wiederverei-
nigung schon aufgegeben hatten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Aber ich will in die heutige Debatte keine zusätzliche
Schärfe hineinbringen.

Die Teilung des deutschen Vaterlandes konnte nicht
das letzte Wort der Geschichte sein.
Jedes Volk hat das Recht auf Selbstbestimmung.

Auch namhafte Persönlichkeiten aus dem Bereich von
Kunst und Kultur erhielten den Willen nach Gemeinsam-
keiten aufrecht. Ich erinnere stellvertretend für viele an
Martin Walser, der in den Münchner Kammerspielen ein
Jahr vor der Wiedervereinigung ausführte:

Aus meinem historischen Bewusstsein ist Deutsch-
land nicht zu tilgen. Sie können neue Landkarten
drucken, aber sie können mein Bewusstsein nicht neu
herstellen. Ich weigere mich, an der Liquidierung
von Geschichte teilzunehmen.... Wir müssen die
Wunde namens Deutschland offenhalten.

Respekt, Martin Walser!

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Heute wissen wir: Es war richtig, am Ziel der Einheit
in Freiheit festzuhalten, auch wenn der Zeitpunkt der
Vereinigung nicht voraussehbar war. Es war die große his-
torische Leistung von Helmut Kohl, die damalige Chance
zur Wiedervereinigung mit Mut und mit Augenmaß er-
griffen zu haben.


(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der F.D.P.)


Otto von Bismarck lag sicherlich richtig mit seinem Hin-
weis, die Geschichte habe nicht immer das große Los im
Topf. Ob die staatliche Wiedervereinigung Jahre später
noch möglich gewesen wäre, ist mehr als fraglich. Ich bin
überzeugt: Der Preis für die Zustimmung der Nachfolge-
staaten der Sowjetunion zur Wiedervereinigung wäre mit
Sicherheit um ein Vielfaches höher gewesen als die
18 Milliarden DM, die wir für den Abzug der letzten Rot-
armisten von deutschem Boden bezahlt haben.

Auch die ökonomische Bedeutung des Angebots der
Währungsunion dürfte heute nicht mehr umstritten sein.
Es war für die Ausreisewilligen ein Signal zum Bleiben,
gleichsam der Startschuss für einen ökonomischen
Neuanfang durch endgültige Absage an die sozialistische
Planwirtschaft und Übergang zum Modell der sozialen
Marktwirtschaft.

Das Konzept der Währungsunion steht historisch
ohne Vorbild da. Die handelnden Politiker diesseits wie
jenseits der Elbe konnten weder auf wissenschaftliche
noch auf empirische Untersuchungen zurückgreifen.
Beiträge zur so genannten Transformationstheorie haben
erst in späteren Jahren das Licht der Welt erblickt. Ich
sage das vor allem an die Adresse der Ex-post-Besserwis-
ser, die Jahre später lautstarke Kritik erhoben, von denen
aber in den entscheidenden Wochen und Monaten nichts
zu hören war.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Außer bedenkens- und dankenswerten Beiträgen von

Kurt Biedenkopf und Karl Schiller sowie des Wissen-
schaftlichen Beirats beim Wirtschaftsministerium galt da-
mals unbestritten das Primat der Politik.

Wer das Konzept der Währungsunion würdigen will,
der muss sich der politischen Großwetterlage Ende der
80er-Jahre erinnern. Der NATO-Doppelbeschluss hatte
die sicherheitspolitische Entschlossenheit des Westens
unterstrichen. Die Ergebnisse der Helsinki-Konferenz
blieben auch den Menschen in Osteuropa nicht unbe-
kannt. Michail Gorbatschow bemühte sich, mit systemim-
manenten Reformen das sozialistische Wirtschafts- und
Gesellschaftsmodell im Osten zu reformieren. Die gra-
vierenden Wirtschaftsprobleme des Ostblocks allerdings
beruhten auf einem Versagen des Systems. Was folgte,
war eine politische Eigendynamik sondergleichen, an de-
ren Ende die friedlichen Revolutionen in Warschau, Prag
und Budapest standen.

Dieser Entwicklung konnte sich der SED-Staat nicht
entziehen. In 40 Jahren war es in Ostdeutschland nicht ge-
lungen, eine eigene nationale Identität zu entwickeln.
Trotz schön gefärbter Bilanzen nahmen die Wirt-
schaftsprobleme zu. Die Transferleistungen der Bundes-
republik und die Kredite des Westens trugen trotz gegen-
teiliger Äußerungen keineswegs zur Verlängerung der Le-
benszeit der DDR bei. Sie waren schon von ihrem
Volumen her nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen
Stein.

Die Demonstrationen von Ostberlin bis Leipzig ver-
deutlichten ohne Wenn und Aber den Willen der Ostdeut-
schen nach Veränderung. Das Streben nach Freiheit,




Dr. TheodorWaigel

10597


(C)



(D)



(A)



(B)


Selbstbestimmung und Demokratie lässt sich auf Dauer
nicht unterdrücken.

Die Öffnung der Mauer war die Folge. Die Bundes-
regierung antwortete darauf mit dem Angebot zur poli-
tischen und ökonomischen Zusammenarbeit. Die Zeit
drängte. Spielraum für Zwischen- oder Übergangslösun-
gen bestand faktisch nicht. Die politische und ökonomi-
sche Entwicklung hatte eine unaufhaltsame Eigendyna-
mik gewonnen.

Beim Angebot der Währungsunion spielten ökonomi-
sche Notwendigkeiten eine wichtige Rolle. Es zeigte sich
schnell: Eine eigenständige DDR würde aus eigener Kraft
die Defizite bei der Infrastruktur, im Umweltbereich, bei
der Arbeitsproduktivität, bei der Wettbewerbsfähigkeit
und beim Konsumniveau nicht beseitigen können. Dies
war nur durch Mobilisierung westlichen Kapitals mög-
lich. Entscheidend waren jedoch politische Gesichts-
punkte. Bis Ende Dezember 1989 belief sich die Zahl
der Übersiedler auf über 120 000. Nur dadurch, dass ih-
nen ökonomische Zukunftsperspektiven eröffnet wurden,
konnte eine weitere Abstimmung mit den Füßen verhin-
dert werden. Dies war der politische Aspekt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Bereits im Dezember, Frau Kaspereit, wurde im BMF
eine Arbeitsgruppe eingerichtet. Ich erinnere mich noch
gut an die Diskussionen, die wir damals im Rahmen einer
Klausurtagung des Bundesministeriums der Finanzen zur
Konkretisierung des Währungsprojekts führten. Zur glei-
chen Zeit, am 19. Januar 1990, wies Kurt Biedenkopf auf
die Unmöglichkeit hin, die Währungsfrage behutsam zu
lösen, und die frühere Kollegin Ingrid Matthäus-Maier
forderte in der „Zeit“ einen Währungsverbund mit einer
einheitlichen Währung, also eine Währungsunion. Der
Sprung ins Wasser war unvermeidlich; mit den Worten
von Vaclav Havel ausgedrückt: Man kann einen Abgrund
nicht mit zwei Sprüngen überqueren. Man muss den mu-
tigen Schritt auf einmal tun.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In der Tat war dies ein revolutionärer Schritt mit weit-
reichenden, teilweise ungewissen Folgen. Aber gab es da-
mals wirklich Erfolg versprechende Optionen für andere
Lösungen? Entscheidend war für mich die politische Dy-
namik. Die Menschen im Osten verlangten überzeugende
Signale. Die Stimmen wurden lauter: Kommt die D-Mark,
bleiben wir; kommt sie nicht, gehen wir zu ihr.

Eine Alternative bestand sicherlich in der „Österreich-
Lösung“, das heißt der Aufrechterhaltung einer politisch
und ökonomisch selbstständigen DDR. Ich will heute
nicht die Schlachten von gestern wiederholen. Nur, eine
neue Paragraphenmauer zum Stopp der Zuwanderung war
moralisch nicht mehr vertretbar. Wer heute glaubt, wir
hätten damals noch die Zeit für Stufenlösungen gehabt,
der muss den Menschen gleichzeitig sagen, dass wir eine
neue Mauer aus Paragraphen, eine neue Mauer für den
Handel, eine neue Mauer in Form von Ausreisebeschrän-
kungen aufgerichtet hätten. Das wäre mit unserem Selbst-

verständnis und mit der Verfassung Deutschlands nicht
vereinbar gewesen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Übrigens hätte auch der Verzicht auf die Einheit den
Ostdeutschen einen tief gehenden Strukturwandel mit Re-
zession und Arbeitslosigkeit nicht erspart.

Es gab damals Stimmen, die sich für einen Wirt-
schafts- und Währungsverbund aussprachen. Nur wäre
ein Festkurs zwischen Ost-Mark und D-Mark mit ent-
sprechender Interventionsverpflichtung der Bundesbank
ganz sicher politisch nicht durchsetzbar gewesen und auf
den geschlossenen Widerstand aller deutschen Wirt-
schaftsexperten gestoßen. Auch Kapitaltransfers, die der
westdeutsche Steuerzahler hätte aufbringen müssen, um
ein neues Wirtschaftsexperiment auf deutschem Boden
mit plan- und marktwirtschaftlichen Elementen zu finan-
zieren, wären im Westen auf wenig Gegenliebe gestoßen.

Es bleibt der wiederholte Hinweis auf Stufenlösun-
gen. Doch auch diese Option hält im Rückblick nicht
stand. Hätten wir gewartet, bis die ostdeutsche Wirtschaft
das westdeutsche Leistungs- und Produktionsniveau
annähernd erreicht hätte, gäbe es noch heute keine
Währungsunion, geschweige denn die Wiedervereini-
gung.

Meine Damen und Herren, als das Statistische Bundes-
amt uns bei der Umsetzung der Europäischen Währungs-
union mitteilte, dass unser Defizit 2,7 Prozent beträgt,
wollte uns ein bestimmtes Wirtschaftsforschungsinstitut
aufgrund seiner Berechnungen glauben machen – das hat
viel Verwirrung geschaffen –, dass es bei 3,4 Prozent
liege. Später hat sich herausgestellt, dass es bei 2,6 Pro-
zent lag. Ausgerechnet dieses Institut kommt jetzt, nach
zehn Jahren, im Rückblick zu dem Ergebnis, man hätte
den Kurs auf 1:4 oder 1:5 festsetzen sollen. Ich frage Sie:
Was hätten wohl die Menschen in Ostdeutschland gesagt,
wenn wir die Rentner mit 150 bis 200 DM und die Ar-
beitnehmer mit 350 bis 400 DM zurückgelassen hätten?
Es ist doch geradezu abstrus, welche Vorstellungen zehn
Jahre später entwickelt werden!


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1411200500
Kollege Waigel, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckel?


Dr. Theodor Waigel (CSU):
Rede ID: ID1411200600
Herr Kollege
Meckel, ich schätze Sie sehr, aber ich bitte um Verständ-
nis, dass ich hier im Zusammenhang vortragen möchte.

Ich sehe bis heute kein besseres Konzept als die von
uns gewählte Währungsunion. Die DDR-Planwirtschaft
war am Ende. Ohne Marktwirtschaft und Gemeinschafts-
währung wäre der dringend erforderliche Zufluss von öf-
fentlichem und privatem Kapital aus Westdeutschland Il-
lusion geblieben.




Dr. TheodorWaigel
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(C)



(D)



(A)



(B)


Sicherlich: Der ökonomische Wiederaufbau dauerte
länger und erfordert mehr Finanzmittel als ursprünglich
geplant. Exakte Daten über das tatsächliche Produkti-
vitätsniveau und den Kapitalstock lagen nicht vor. Was
den erforderlichen Finanzaufwand betraf, gab es eben-
falls nichts als vage Schätzungen. Selbst die Wirtschafts-
forschungsinstitute standen weitgehend mit leeren Hän-
den da. So bezifferte das von mir bereits apostrophierte
Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung den jährlichen
Sanierungsbedarf auf 50 Milliarden DM, während nach
Auffassung der Berliner Experten die Sanierung der Be-
triebe ausschließlich durch privates Kapital erfolgen
sollte.

Noch bei den Verhandlungen über den Staatsvertrag
wurde von einem dreistelligen Milliardengewinn in der
Privatisierungsbilanz ausgegangen, der dann für die Be-
teiligung der Mitarbeiter zur Verfügung gestellt werden
sollte. Hans Modrow ging von 1 000 Milliarden Ostmark
bzw. 500 Milliarden DM aus. Detlef Rohwedder, der sein
Leben auf tragische Weise verlor und dessen zu gedenken
gerade heute Anlass ist,


(Beifall im ganzen Hause)

ging von 600 Milliarden DM aus. Es gehört zu der Tragik
in jenen Zeiten, dass Detlef Rohwedder damals um die
Jahreswende seinen Posten verlassen wollte. Wir haben
ihn aber eindringlich gebeten, seine verdienstvolle Arbeit
fortzuführen. Seiner und seiner Familie zu gedenken steht
uns in dieser Stunde gut an.

Sicherlich mussten damals Kompromisse geschlossen
werden. Das gilt vor allem für die Regelung der Vermö-
gensfragen. Ungeachtet unterschiedlicher Rechtsauffas-
sungen über die Enteignungen in der Zeit von 1945 bis
1949 bleibt daran zu erinnern, dass es ohne die damals ge-
fundene Lösung nicht zur Zweidrittelmehrheit der DDR-
Volkskammer zum Einigungsvertrag gekommen wäre.


(Zustimmung bei der SPD)

Richard Schröder hat dies hier vor wenigen Wochen, wie
ich meine, eindrucksvoll und sehr ehrlich dargestellt.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Treuhand wurde später zu Unrecht zum Sünden-
bock gestempelt. Auch wenn es in Einzelfällen zu Fehlern
gekommen sein mag, so hat doch die Treuhand mit über
40 000 Privatisierungen hervorragende Arbeit geleistet.
Es war damals richtig, auf Experimente eines dritten
Weges, auf staatliche und genossenschaftliche Eigen-
tumskonstruktionen sowie auf dirigistische Strukturpoli-
tik und Ähnliches zu verzichten. Unsere Leitlinie, von
Rohwedder geprägt, war: schnelle Privatisierung, ent-
schlossene Sanierung und behutsame Stilllegung.

Die Währungsunion brachte für die ostdeutsche Wirt-
schaft gewaltige Anpassungslasten mit sich. Der Über-
gang zur Marktwirtschaft legte die Wettbewerbs-
schwächen der Ostbetriebe offen. Aber die entscheiden-
den Probleme resultieren nicht aus dem gewählten
Wechselkurs, der ziemlich genau den Vorstellungen der
Bundesbank entsprach, sondern vor allem aus dem nicht

voraussehbaren Wegbrechen der Ostmärkte und der –
darin sind sich nahezu alle deutschen Wirtschaftsforscher
einig – zu schnellen Angleichung des Lohnniveaus.

Wer den Erfolg der Währungsunion infrage zu stellen
versucht, der hat den Kontakt mit den Realitäten verloren.
Die Angleichung der Einkommens- und Lebensver-
hältnisse in Deutschland ist in nur zehn Jahren spürbar
vorankommen. Wer heute den Mangel an blühenden
Landschaften beklagt, der verschweigt bewusst, wie die
Situation vor fünf oder vor zehn Jahren ausgesehen hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Umweltverschmutzung hat drastisch ab- und die Pro-
duktivität kräftig zugenommen. Die Modernisierung der
Infrastruktur ist für jeden sichtbar. Ein breiter Mittelstand
hat sich etabliert. Viele Betriebe haben Anschluss an das
Weltmarktniveau gefunden.

Wer heute Kosten und vermeintliche Erblasten beklagt,
der hätte vor zehn Jahren, gerade aus dem Bereich der
Bundesländer, durchaus mehr Solidarität unter Beweis
stellen können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Innerhalb von zehn Jahren lässt sich jedoch das De-

saster einer 40-jährigen Misswirtschaft nicht beseitigen.
Die noch bestehenden Herausforderungen bezüglich des
Kapitalstocks, der Pro-Kopf-Produktion, der Export-
schwäche und vor allem der Arbeitslosigkeit und des
nachlassenden Wachstums können nur durch die Fortset-
zung des Solidarpaktes bewältigt werden. Es wäre je-
doch falsch, einer dauerhaften Subventionsmentalität
Vorschub zu leisten. Deshalb müssen die Hilfen schritt-
weise zurückgeführt werden.

Die von vielen befürchteten gesamtwirtschaftlichen
Verwerfungen blieben aus. Eine Überforderung der deut-
schen Volkswirtschaft konnte verhindert werden. Die
Dämme haben gehalten! Sowohl bei der Wachstums- und
Beschäftigungs- als auch bei der Preisentwicklung schnit-
ten wir im Zeitraum 1990 bis 1998 besser ab als unsere
EU-Partner. Der Vorsitzende des Währungsausschusses,
der Brite Sir Nigel Wicks, hat vor ein paar Jahren im Eco-
fin gesagt: Die deutsche Volkswirtschaft hat im letzten
Jahrzehnt Herausforderungen bewältigt wie keine andere
Volkswirtschaft der Welt und wie sie vielleicht auch keine
andere bewältigt hätte. Vier bis fünf Prozent des Brut-
toinlandsproduktes für eine große nationale Herausforde-
rung zur Verfügung zu stellen ist eine große nationale
Leistung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Auch bei der Finanzierung der Wiedervereinigung

wurden weitgehend die richtigen Schritte gewählt. Trotz
der einigungsbedingten Sonderlasten haben wir das Defi-
zitkriterium von Maastricht erreicht. Wie das Rheinisch-
Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung in einer Si-
mulationsrechnung ermittelt hat, war der von uns ge-
wählte Mix von Ausgabenkürzungen, Steuererhöhungen
und Ausweitung der Neuverschuldung unter den gegebe-
nen Umständen und Rahmenbedingungen richtig. Aller-
dings war die einseitige Lastenverschiebung auf den Bun-
deshaushalt kein Ruhmesblatt für den deutschen Födera-
lismus.




Dr. TheodorWaigel

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(D)



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(B)


Wie haltlos das Gerede von der Erblast ist, hat die Bun-
desbank in ihrem Monatsbericht April dargelegt. Dort
heißt es,

dass die Finanzpolitik im letzten Jahrzehnt trotz der
überwiegend schwachen Wirtschaftsentwicklung auf
Konsolidierungskurs war. Über den gesamten Zeit-
raum hinweg wurde das konjunkturbereinigte Defizit
stark reduziert, und zwar von 4 Prozent des BIP im
Jahr 1991 auf ½ Prozent im Jahr 1999.

Verehrter Herr Staatssekretär, veranlassen Sie einmal,
dass sich Ihr Minister das von seinem Freund Welteke zu-
faxen lässt, damit er das nachlesen kann.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Zehn Jahre nach dem In-Kraft-Treten der Währungs-
union besteht wahrlich kein Anlass zum Lamentieren. Die
größte Solidaraktion in der deutschen Geschichte greift.
Wer sich schon 1990 eine Schweiß-und-Tränen-Rede des
Bundeskanzlers gewünscht hätte, sei daran erinnert, dass
sich in einer konsumorientierten Gesellschaft die Solida-
ritätsbereitschaft, ausgedrückt als nationale Begeisterung
für Steuererhöhungen, in recht engen Grenzen hält.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Wer immer noch über die hohen Kosten der Einheit

klagt, der sei an Ernst Jünger erinnert, der in diesem Zu-
sammenhang auf die Frage „Was kostet die deutsche Ein-
heit?“ geantwortet hat: „Wenn dein Bruder vor der Tür
steht, lässt du ihn rein und fragst nicht, was es dich kosten
wird.“


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich füge hinzu: Was hätten nicht Adenauer, Schumacher,
Heuss und Strauß gegeben, wenn sich ihnen die Chance
zur Wiedervereinigung eröffnet hätte!


(Zuruf von der SPD: Bei Strauß: ein Geschäft machen!)


Meine Damen und Herren, ich darf mit einigen per-
sönlichen Worten schließen. Das waren für mich damals
spannende und aufregende Tage: die Diskussionen in der
Fraktion, im Kabinett, im Bundestag, im Bundesrat,
ebenso die Verhandlungen mit Walter Romberg, Walter
Siegert, Lothar de Maizière und die Pressekonferenz da-
mals am 1. Juli, die Angela Merkel in Ostberlin geleitet
hat. Wir hatten es nicht immer leicht miteinander.

Man kann nicht allen danken, die zum Gelingen der
Währungsunion beigetragen haben. Aber einige wenige
Namen seien genannt: für die CDU/CSU der damalige
Bundeskanzler Kohl, die Bundesminister Seiters und
Schäuble, der Fraktionsvorsitzende Dregger, der Landes-
gruppenvorsitzende Bötsch und Michael Glos; für die
F.D.P. Bundesminister Genscher, der Vorsitzende Graf
Lambsdorff und der unvergessene Fraktionsvorsitzende
Wolfgang Mischnick; für die SPD der Fraktionsvorsit-
zende Dr. Vogel, Frau Matthäus-Maier, Wolfgang Roth
und natürlich der große alte Willy Brandt; für die Bun-
desbank die Herren Pöhl, Schlesinger und Tietmeyer.
Außerdem möchte ich – das sei mir erlaubt – vor allen
Dingen den Frauen und Männern im Bundesministerium
der Finanzen danken, die wirklich über Monate hinweg

rund um die Uhr viel mehr geleistet haben, als man ei-
gentlich normalerweise von jemandem erwarten kann.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich nenne nur die Namen Köhler, Klemm, Haller,
Schmidt-Bleibtreu und Sarrazin und aus dem Kreis der
Staatssekretäre Klaus Kinkel und von Würzen. Das war
eine großartige Zusammenarbeit.

Wir sind stolz, dass wir am Projekt der Währungsunion
mitarbeiten und dadurch einen Beitrag zur Wiederverei-
nigung leisten durften. Die Wiedervereinigung war, ist
und bleibt der entscheidende Schritt zur Entspannung
auf dem Kontinent, das heißt zur Sicherung des Frie-
dens durch die Beseitigung des größten Spannungsherdes
in Europa. Damit erfolgte ein Paradigmenwechsel der
Weltpolitik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die 90er-Jahre haben all jene widerlegt, die als Folge
der Wiedervereinigung ein Wiederaufflammen des deut-
schen Nationalismus befürchtet hatten. Das vereinigte
Deutschland hat sich zum berechenbaren und geschätzten
Partner auf der Bühne der internationalen Politik ent-
wickelt. Zusammen mit Frankreich haben wir das Projekt
der Europäischen Union mit einem gemeinsamen Wirt-
schaftsverbund und einer einheitlichen Währung auf den
Weg gebracht. Wenn wir diesen Weg mit Mut und mit Be-
sonnenheit weiter verfolgen, dann können wir mit Opti-
mismus auf Deutschlands Zukunft blicken.

Die Jahre von 1990 bis 2000 werden einmal als das
beste Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts in die deutsche
Geschichte eingehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist etwas Großartiges und es war uns vergönnt, die
Präambel des Grundgesetzes, das politische Vermächtnis
der Gründungsväter unserer Republik, zu verwirklichen.
Im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott und den
Menschen waren wir von dem Willen beseelt, die natio-
nale und staatliche Einheit zu wahren und in einem ver-
einten Europa dem Frieden in der Welt zu dienen. Das
deutsche Volk hat in freier Selbstbestimmung seine Ein-
heit und Freiheit vollendet.

Ich danke Ihnen.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1411200700
Bevor ich dem nächs-
ten Redner das Wort erteile, möchte ich die Gelegenheit
nutzen, sehr herzlich den ersten und letzten frei gewähl-
ten Ministerpräsidenten der DDR, Lothar de Maizière,
auf der Besuchertribüne zu begrüßen. Seien Sie uns herz-
lich willkommen!


(Beifall)

Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Oswald Metzger,

Bündnis 90/Die Grünen.




Dr. TheodorWaigel
10600


(C)



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(B)



Oswald Metzger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411200800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Angesichts
dessen, was Kollege Waigel soeben gesagt hat, möchte ich
ein paar Vorbemerkungen machen: Auch ich als Grüner
bin der Auffassung, dass die Wiedervereinigung, die sich
an die Währungsreform anschloss – die war praktisch die
Vorstufe zur Wiedervereinigung –, einen Glücksfall für
die deutsche Geschichte darstellt, vor allem deshalb, weil
unser Volk im letzten Jahrhundert entscheidend dazu
beitrug, dass über diesen Kontinent, ja über die ganze
Welt kriegerische Auseinandersetzungen kamen, und weil
die Teilung als Folge des Zweiten Weltkriegs, den
Deutschland zu verantworten hatte, nach einer friedlichen
Revolution in einer nicht nur für Deutschland guten Weise
überwunden werden konnte. Ein solches Glück haben auf
dieser Welt nicht viele Völker.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Zum anderen stelle ich gerade deshalb, weil beide Re-
gierungsfraktionen vorhin beim Lob für Helmut Kohl und
seinen Beitrag zur deutschen Einheit nicht geklatscht ha-
ben, fest: Ich persönlich bin der Meinung, dass man trotz
politischer Konkurrenz und auch angesichts dessen, was
gestern im Untersuchungsausschuss passierte, nicht ver-
leugnen kann, dass diese historische Leistung in seine
Amtszeit fällt und er einen entscheidenden Anteil daran
hatte, dass es zur Wiedervereinigung kam. Das zu würdi-
gen gehört zum Anstand.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der SPD sowie bei der CDU/ CSU und der F.D.P.)


Wenn wir uns die ökonomischen Konsequenzen an-
schauen, die, wie Sie, Herr Kollege Waigel, richtig gesagt
haben, jetzt im Nachhinein vom DIW als Fehlkalkulation
demaskiert werden – das ist richtig, wenn man eine rein
ökonomische Betrachtung zum Beispiel im Hinblick auf
die Wechselkursparitäten der Währungsunion anstellt –,
dann muss man feststellen: Es gibt in diesem Bereich,
ökonomisch betrachtet, einige Kernfehler, die man hätte
erkennen können; dann wären die Rentnerinnen und
Rentner sowie die Sparerinnen und Sparer nicht bestraft
worden. Der entscheidende Fehler war, im Rahmen des
Umrechnungskurses von 1:2 aus Buchungsschulden echte
Schulden zu machen, die für viele Unternehmen in Ost-
deutschland zu einer drückenden Last wurden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS – Dr. Theodor Waigel [CDU/CSU]: Wir haben jeden Sanierungsfähigen entschuldet!)


Diese Last war eine Hiobsbotschaft für eine Ökonomie,
die nach 40 Jahren sozialistischer Planwirtschaft und –
was man nicht vergessen darf – nach einer nationalsozia-
listischen Politik, die unter ökonomischen Aspekten auch
nicht gerade gut war, zu Hinterlassenschaften geführt hat,
die aufzuarbeiten waren.


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Anke Fuchs)

Der zweite Kernfehler im Rahmen der Währungsunion

war aus unserer Sicht, dass das Versprechen von blühen-

den Landschaften auf der Metaebene eine realitätsnahe
Einschätzung der wirtschaftlichen Konsequenzen der
Wiedervereinigung und der Kosten verhindert hat und
dass deshalb die in unserer Gesellschaft durchaus vorhan-
dene Bereitschaft, für den Glücksfall Wiedervereinigung
auch etwas zu zahlen, sträflich vernachlässigt wurde.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Allein dieses „rein in die Kartoffeln, raus aus den Kar-
toffeln“ im Hinblick auf den Solidaritätszuschlag in den
Anfangsjahren zeigt im Nachhinein deutlich, dass diese
Fehleinschätzung die Kosten der Wiedervereinigung
buchstäblich diskreditiert hat und dass ab einem gewissen
Zeitpunkt die Kosten der Einheit von den politischen Par-
teien im Westen Deutschlands als Belastung eingestuft
wurden. Wir hätten in den Jahren 1989/90 an die Solida-
rität der Menschen appellieren sollen und eine entspre-
chende Weichenstellung vornehmen müssen.

Diese Fehleinschätzung hat zu einem weiteren Pro-
blem geführt, das Sie, Herr Waigel, überhaupt nicht be-
leuchtet haben: Wir haben die Kosten der Einheit nicht
nur in extremer Weise über Verschuldung finanziert, was
angesichts der damals bestehenden Herkulesaufgabe in
Teilen durchaus vertretbar war, sondern wir haben sie
auch auf die Sozialversicherungen abgewälzt. Sie, die
Sie damals in der Regierung waren, haben dafür gerade-
zustehen, dass der in den 90er-Jahren erfolgte Anstieg der
Sozialversicherungsbeiträge um 6,5 Prozent ein deutli-
ches Zeichen dafür ist, dass die Sozialversicherungen und
damit verbunden die Lohnkosten sowie die Nettoeinkom-
men der Arbeitnehmer die eigentliche Zahlmasse für die
Transfers in den Osten Deutschlands waren, was zu ex-
tremen Bremsspuren in der deutschen Volkswirtschaft
führte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Zwar gibt es im Osten Deutschlands – das ist zu be-
sichtigen – eine Vielzahl an Bauinvestitionen, die mit die-
sen Transfers bezahlt wurden. Keine Frage! Aber die
blühenden Landschaften im Osten wurden damit erkauft,
dass wir, ökonomisch gesehen, auf dem Arbeitsmarkt in
Deutschland mit einem Anstieg der Arbeitskosten ein
absolut falsches Signal gesetzt haben. Dadurch haben wir
in Deutschland in den Jahren 1997/98 zusammen mit Ita-
lien das Schlusslicht bei der wirtschaftlichen Entwicklung
in Europa gebildet. Das war in Ihrer Amtszeit.

Gott sei Dank läuft es jetzt – nicht nur aufgrund des Re-
gierungswechsels, sondern auch aufgrund des weltwirt-
schaftlichen Umfeldes – so gut, dass Deutschland im Mo-
nat Mai beim realwirtschaftlichen Wachstum erstmals
wieder in die Spitzengruppe der EU aufschließen konnte.
Das ist dringend nötig, damit unser Land in der Lage ist,
die Transfers in den Osten zu finanzieren, die auch noch
in den nächsten Jahren und Jahrzehnten erfolgen müssen,
wenn sie auch degressiv gestaltet sein müssen, damit
keine Subventionsmentalität gefördert wird.






(C)



(D)



(A)



(B)


Ich komme auf ein weiteres Fehlkonstrukt bei der
Währungsunion und vor allem bei dem, was danach kam,
zu sprechen. Hier wundere ich mich über Sie, Kollege
Waigel, dass Sie beklagten, der Bund sei der Hauptlast-
träger der Wiedervereinigung gewesen. Wer hat denn
1992 das Föderale Konsolidierungsprogramm für den
Bund verhandelt? Das war der damalige Finanzminister
Theodor Waigel.


(Dr. Theodor Waigel [CDU/CSU]: Und wo brauchten wir die Zustimmung?)


Zum gleichen Zeitpunkt wollte er bayerischer Minister-
präsident werden. Dass angesichts dieser Situation die In-
teressenlage des Bundesfinanzministers länderfreundlich
war, können Sie daran ablesen, dass die Steueranteile der
Bundesländer als Folge des Föderalen Konsolidierungs-
programms inzwischen um etwa 8 bis 10 Prozent höher
sind als die des Bundes.


(Dr. Theodor Waigel [CDU/CSU]: Metzger, das liegt unter Ihrem Niveau!)


Heute beklagt man aus Anlass des 10. Jahrestages, dass
der Bund die Lasten zu schultern habe. Ich erinnere mich
noch daran, dass Ihr damaliger CDU-Kollege Mayer-
Vorfelder aus der Verhandlungsrunde nach Stuttgart
zurückkam und verkündete, er habe ab 1995 Steueraus-
fälle in Höhe von netto 2,5 Milliarden DM eingerechnet,
nun seien es aber nur 1,5Milliarden DM. Wir wissen zwar
nicht, was den Gesinnungswechsel im Bundesfinanz-
ministerium bewirkt hat; aber das war die Situation. Diese
Lastenverschiebung zuungunsten des Bundes mussten Sie
dann im Laufe der weiteren Entwicklung in den 90er-Jah-
ren büßen, als das Maastricht-Kriterium, nachdem 1996
die Steuereinnahmen eingebrochen waren, im Jahr 1997
fast nicht mehr erreichbar schien. Das dürfen Sie nicht
vergessen; man kann es auch mit den Statistiken des BMF
belegen.

Ein weiteres Problem der Wiedervereinigung war in
ökonomischer Hinsicht, dass die Treuhandanstalt als
Abwicklungsinstrument der alten DDR konzipiert war
und deshalb auch beim BMF angesiedelt war. Ich habe
durchaus großes Verständnis dafür, dass damals zum Bei-
spiel die aufrechte Gruppe der Bündnisgrünen, die zwi-
schen 1990 und 1994 überhaupt das Fähnlein der Grünen
hier im gesamtdeutschen Parlament hochhielt, weil wir
als West-Grüne nach der Wiedervereinigung hinausge-
wählt wurden – womöglich auch als Folge unseres Um-
gangs mit der Wiedervereinigung; das möchte ich durch-
aus selbstkritisch sagen –, ähnlich wie Sozialdemokraten
gefordert hatte, die Treuhandanstalt bei den Ostländern
anzusiedeln und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter viel
stärker an der Abwicklung der alten Betriebe zu beteili-
gen, um den Ausverkauf aufzuhalten. Statt der erwarteten
600 Milliarden DM, wie sie 1990 Optimisten noch erwar-
teten, betrugen die Erlöse gerade einmal 75 Milliar-
den DM.

Möglicherweise hätte Herr Rohwedder – das sage ich
auch, weil Sie zu Recht an seinen Tod sowie an die Dienst-
vertragsverlängerung, die auf Bitten der Bundesregierung
zustande kam, erinnert haben – einen besseren Job als an-
dere gemacht, die in den Jahren danach in der Treuhand-

anstalt etwas zu sagen hatten. Auf jeden Fall gehört die
Abwicklung der alten DDR-Wirtschaft durch die Treu-
handanstalt nicht zum Ruhmesblatt dieser Republik.


(Beifall des Abg. Werner Schulz [Leipzig] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] sowie bei Abgeordneten der PDS)


Betrachtet man jetzt auch die emotionale Situation der
Menschen im Osten im Vergleich zu der von denen im
Westen unseres Landes, dann bedrückt mich als jeman-
den, der aus dem reichen Süden der Republik kommt, wo
im Mai die Arbeitslosigkeit bei weniger als 3 Prozent lag,
dass viele Menschen aus dem Osten, die mobil genug
sind, im Westen Arbeit suchen müssen. Wir dürfen nicht
vergessen, dass im letzten Jahr 195 000 Menschen aus
dem Osten zu den Arbeitsplätzen in den Westen gegangen
sind; das war die vierthöchste Zahl seit 1989. Diese Bin-
nenwanderung zeigt natürlich, dass die Infrastruktur-
maßnahmen, die aus Steuermitteln mit solidarischer
Unterstützung des Bundes und der Westländer ergriffen
wurden, nicht verhindern konnten, dass die Produktivität
im Osten nach wie vor unter Westniveau liegt und die wirt-
schaftliche Leistung im Osten nicht einmal die Konsum-
kosten dort deckt. Die Transferleistungen zeigen ebenso
wie die doppelt so hohe Arbeitslosigkeit wie im Westen,
dass diese Landstriche ökonomische Probleme haben.

Angesichts dessen ist es zweifellos unsere Aufgabe –
das sage ich ganz bewusst als Finanzpolitiker –, die Soli-
darität mit den fünf neuen Bundesländern mit neuen, an-
gepassten Instrumenten in den nächsten Jahren im Rah-
men eines Solidarpaktes 2 weiterzuführen – das ist gar
keine Frage –,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


denn 80 Prozent der Menschen im Osten sagen, sie fühl-
ten sich in diesem Lande als Bürgerinnen und Bürger
zweiter Klasse.


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Das stimmt aber nicht mehr!)


– Ich glaube, dass dies in der Grundtendenz noch immer
stimmt; denn ich habe dort Verwandtschaft und habe auch
persönliche Gespräche geführt. Ich weiß, dass innerhalb
von zehn Jahren eines nicht ausradiert werden kann, näm-
lich das Gefühl der Menschen, zwar in einem totalitären
Staat gelebt zu haben, jedoch in einer emotionalen Ge-
borgenheit, in einem Staat, in dem Nachbarschaftshilfe
manches von dem kompensiert hat, was er an Auskom-
men, an materiellem Einkommen und an Freizügigkeit
nicht gewährleisten konnte. Natürlich stellt deshalb die
Umstellung auf eine Wettbewerbsgesellschaft, von der
wir, wenn es um Ökonomie geht, gerne reden – auch ich
selber –, ein Problem dar. Das sollten wir beachten, die
wir im Westen doch 45 Jahre lang die Konkurrenz mit der
Weltwirtschaft auch auf den Arbeitsmärkten hatten.

Ohne die Menschen, die sich nicht von Ost nach West
bewegen wollen, zu diskreditieren: Dass sich immer die
Jungen, Ungebundenen, Mobilen und gut Ausgebildeten
auf den Weg zu den Arbeitsplätzen begeben, führt schluss-
endlich dazu, dass sich die Transferleistungen im Kon-




Oswald Metzger
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(D)



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(B)


sumbereich für Arbeitslosigkeit und Rente strukturell viel
stärker auf die neuen Bundesländer konzentrieren und da-
mit das relative Verhältnis der Transfers den Subventi-
onsanteil der östlichen Bundesländer hoch halten wird.
Das ist gefährlich und deshalb müssen wir etwas tun.

Auch die Tatsache, dass die junge Generation gegen-
über allem, was fremd ist, auffällig reagiert, mutet mich
grotesk an. In meiner Gegend mit einer Arbeitslosenquote
von 8 oder 10 Prozent ist die Zahl fremdenfeindlicher
Übergriffe vergleichsweise niedrig. Die sozialen Zuspit-
zungen in bestimmten Regionen des Ostens sind daher ex-
trem auffällig. Natürlich spielt die über 40 Jahre erfolgte
Verdrängung der Probleme durch das ehemalige sozialis-
tische System eine große Rolle. Eine Rolle spielt aber
auch, dass wir es an der nötigen Aufklärung und auch an
den nötigen Strategien, sich diesen Leuten zu nähern, ha-
ben fehlen lassen. Wir müssen gegen die Ausgrenzung,
gegen Übergriffe und gegen das Ermorden von Fremden
angehen. Das muss eine gesellschaftliche Aufgabe sein.
Wir können die Radikalisierung von rechts als Antwort
auf die nach wie vor vorhandene ökonomische Krise in
den neuen Bundesländern nicht stillschweigend zulassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn man sich die Perspektive für die Weiterentwick-
lung im Osten anschaut, dann stellt man fest – das können
Sie im Ifo-Gutachten von gestern nachlesen –, dass im Be-
reich des verarbeitenden Gewerbes der Arbeitsmarkt im
Osten sektoral anzieht. Ich freue mich natürlich, dass be-
stimmte Wachstumsregionen im Osten, vor allem im städ-
tischen Bereich, in Dresden, Leipzig oder Erfurt, hin-
sichtlich der Einkommen zu den am schwächsten ent-
wickelten Regionen in Westdeutschland aufschließen.
Daran sehen Sie die relative Entwicklung. Diese Ent-
wicklung aber – das sollten wir uns selber eingestehen –
muss immer in Relation zu den Transformationsländern
gesehen werden, die an Ostdeutschland angrenzen.
Schauen Sie sich doch einmal die Niveaus der Staaten mit
ähnlich kaputter Volkswirtschaft an, beispielsweise in
Tschechien und in Polen! Im Vergleich dazu liegt das Ni-
veau in Ostdeutschland deutlich höher. Insofern müssten
wir als Westdeutsche angesichts des 10. Jahrestages der
Währungsunion darauf hinweisen, dass ein ökonomisches
Wachstum in dieser Republik, das die Nachfrage nach Ar-
beitskräften auf dem ersten Arbeitsmarkt mobilisiert, die
entscheidende Voraussetzung dafür ist, dass die Men-
schen im Osten eine Chance haben.

Als Süddeutscher in Berlin kann ich eines beobachten:
Seit das Parlament hier ist, haben wir die Probleme der
fünf ostdeutschen Länder wesentlich stärker im Blick. Sie
liegen uns buchstäblich vor der Nase.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das ist für die politische Wahrnehmung Gesamtdeutsch-
lands ein großer Segen.

In diesem Sinne hoffe ich und wünsche ich mir, dass
die Menschen im Osten wahrnehmen, dass sie nicht Men-
schen zweiter Klasse sind und dass sich diese Republik

bemüht, einen neuen Solidarpakt ab 2005 zu schmieden,
der besonderen Belastungen in den ostdeutschen Bundes-
ländern nach wie vor Rechnung trägt und trotzdem den
Menschen im Westen die Gewissheit gibt, dass der Osten
nicht mit alten Methoden zum Subventionsdschungel die-
ses Landes wird. Die Menschen im Westen sollen wissen:
Dies ist eine Investition in unsere gemeinsame Zukunft,
damit Ostdeutschland nicht der Mezzogiorno der Bun-
desrepublik wird.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411200900
Ich erteile nun das
Wort dem Kollegen Dr. Günter Rexrodt, F.D.P.-Fraktion.


Dr. Günter Rexrodt (FDP):
Rede ID: ID1411201000
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Nach zehn Jahren Wirtschafts-,
Währungs- und Sozialunion in Deutschland wird die
öffentliche Diskussion überwiegend davon bestimmt, was
in Deutschland alles noch nicht geschafft ist, welche Feh-
ler gemacht wurden, was uns trennt, welche Anpassungs-
probleme und welche Konflikte es gibt. Die gibt es zu-
hauf, und man wird sie in der Tat nur bewältigen können,
wenn man sich mit ihnen auseinander setzt.

Nach zehn Jahren Wirtschaftsunion muss es aber auch
erlaubt sein, darüber nachzudenken, was erreicht wurde
und was die Deutschen miteinander verbindet. Ich halte
im Übrigen die gerade in diesen Tagen wieder aufge-
flammte Diskussion für müßig, in der die Wirtschafts- und
Sozialunion als ein ökonomischer Fehlgriff bezeichnet
wird – eine Behauptung, die erhoben wird, obwohl nicht
annähernd eine glaubwürdige und überzeugende Alterna-
tive ins Feld geführt werden kann.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Insbesondere tut sich dabei das Deutsche Institut für

Wirtschaftsforschung hervor. Da werden die frühe Ein-
führung der D-Mark und das von den tatsächlichen
Währungsrelationen abweichende Umtauschverhältnis
als die Ursachen des Kollapses der DDR-Wirtschaft be-
zeichnet. In rein mechanistischer, ökonometrischer Be-
trachtung ist das vielleicht richtig. Es vernachlässigt aber
total den Tatbestand, dass eine ökonomisch separierte
DDR – oder wie auch immer man das hätte nennen müs-
sen – niemals aus eigener Kraft die Mittel hätte aufbrin-
gen können, die zur Herstellung der Wettbewerbsfähig-
keit ihrer Wirtschaft notwendig waren.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Private Investitionen wären angesichts einer unsteten
währungspolitischen und wirtschaftspolitischen Situation
weitgehend ausgeblieben. Westliche Staatshilfe hätte an-
gesichts andauernder Systemunterschiede noch weniger
Akzeptanz bei den Menschen gefunden. Der Mittelbedarf
wäre unermesslich gewesen. Das Geld wäre in ein Fass
ohne Boden gefallen. Dieses separate Wirtschaftsgebiet




Oswald Metzger

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(D)



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(B)


wäre nach kürzester Zeit zusammengebrochen wie ein
Kartenhaus.

Das DIW bemüht sich, diese These vom gemeinsamen
politischen Dach und von unterschiedlichen wirtschaftli-
chen Entwicklungen mit dem Hinweis auf das britische
Commonwealth oder das Verhältnis zwischen Hongkong
und China zu untermauern. Ich will niemandem wehtun;
aber es gibt auch eine wissenschaftliche Eitelkeit, wenn
man einmal etwas in die Welt gesetzt hat. Sie unterschei-
det sich in nichts von der allgemein menschlichen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Mir geht es nicht darum, die aus meiner Sicht prinzipi-

elle Alternativlosigkeit des eingeschlagenen Weges mit
einem durchschlagenden Erfolg dieser Entscheidung
gleichzusetzen. Die Unterschiede zwischen Ost und West
sind auch heute noch für jedermann sichtbar – aber das
Erreichte auch.

Im Übrigen ist eine Währungs-, Wirtschafts- und So-
zialunion mehr als nur Ökonomie. Der Name sagt das
schon. Sie war die Voraussetzung für die deutsche Einheit,
und diese ist dadurch gekennzeichnet, dass sich die Deut-
schen näher gekommen sind, dass sie eine gemeinsame
Erfahrungswelt haben, dass sie miteinander leben und ar-
beiten, dass sie miteinander sprechen und miteinander
Sorgen und Freude haben. Den grauen Alltag haben sie
gemein und auch den sonnigen. Das Gemeinsame zeigt
sich im Übrigen auch in der Übereinstimmung von politi-
schen Prioritäten, von Wünschen, Wertvorstellungen, Zu-
neigungen und Abneigungen.

Ich bin überzeugt, dass die Solidarität der Deutschen
auch im ökonomischen Bereich viel größer ist, als immer
behauptet wird. Es ist auf der einen Seite doch ganz nor-
mal, dass jemand im Westen danach fragt, was mit seinem
Geld, das er als Steuerzahler zur Verfügung stellt, ge-
macht wird. Es ist auf der anderen Seite ganz normal, dass
Menschen in den neuen Bundesländern, die die Misere
nicht persönlich verursacht haben, nicht jeden Tag Danke
sagen wollen und Wohlverhalten zeigen möchten. Das ist
ganz normal. Daraus ableiten zu wollen, die Wirtschafts-
und Sozialunion, die Einheit sei den Deutschen zu teuer,
liegt neben der Sache. Für die große Mehrheit der Deut-
schen ist die deutsche Einheit Anlass zur Freude.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wenn wir nach zehn Jahren Bilanz ziehen, können wir
Licht und Schatten feststellen, aber insgesamt positiv in
die Zukunft in einem gemeinsamen Europa schauen. Ich
wüsste nicht, was ernsthaft und nachhaltig einer erfolg-
reichen Entwicklung im Wege steht.

Das heute Erreichte muss vor dem Hintergrund der
Ausgangssituation bewertet werden. Nun will ich nicht
zum wiederholten Male das Bild von den verrotteten
Straßen, den zerfallenen Städten, den unbeweglichen
Kombinaten und der mangelhaften Technologie be-
mühen. Das ist aber alles wahr. Das alles kann man aller-
dings beheben. Es gibt viel Schlimmeres. Dazu möchte
ich von meinen persönlichen Erfahrungen berichten: Ich
war vor wenigen Tagen in einer Kleinstadt in Thüringen,

dort, wo ich vor 40 Jahren Abitur gemacht habe. Dort ist
fast alles schön repariert: die mittelalterlichen Stadtvier-
tel, ein großer Teil der Kirchen und Sehenswürdigkeiten,
die Infrastruktur. Das alles ist eine Pracht. Und doch ist
diese kleine Stadt in einer erbärmlichen Verfassung: Die
Menschen wandern ab, es ist nichts los. Das hat viele Ur-
sachen, wie zum Beispiel den Zusammenbruch der Indus-
trie.

Aber es gibt eine Ursache, die wir in keiner Statistik
finden, die jedoch aus meiner Sicht die entscheidende ist:
Die Ursache liegt im Fehlen einer lebendigen, gewachse-
nen, selbstbewussten Bürgerkultur. Es gibt zu wenig
Bürger, die willens und in der Lage sind, die Dinge selbst
in die Hand zu nehmen, Bürger, die verwurzelt in ihrem
Gemeinwesen Kräfte mobilisieren, um etwas auf die
Beine zu stellen:


(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Einfach Unsinn!)

kulturell, wirtschaftlich und sozial. Diese Bürger sind
nicht da. Dass sie nicht da sind, dass dies in den Köpfen
ausradiert worden ist, haben Sie von der PDS, hat die
DDR verursacht.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der PDS)


Dies in den Köpfen der Menschen zu heilen dauert
25 Jahre. Dies ist viel schlimmer als die verrotteten
Straßen und die grauen Häuser. Das muss mit aller Deut-
lichkeit gesagt werden.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der PDS)


– Sie heulen zu Recht auf, weil Sie betroffen sind. Sie ken-
nen das Sprichwort von den getroffenen Hunden, meine
Damen und Herren.


(Dr. Gregor Gysi [PDS]: Gehrcke kommt doch aus dem Westen!)


Dennoch meine ich, dass dieses Aufbauwerk in den
Köpfen gelingt. Es gibt viele Ansätze.

Dabei müssen wir uns damit abfinden, dass es regio-
nale Unterschiede geben wird. Ich will damit die beste-
henden Ost-West-Gefälle nicht beschönigen, aber dass es
Differenzen zwischen Mecklenburg-Vorpommern und
Sachsen sowie zwischen Brandenburg und Nordrhein-
Westfalen geben wird, müssen wir akzeptieren.

Ich sprach von Licht und Schatten. Zum Licht gehört
ohne Zweifel, dass der Privatisierungsprozess in der ge-
werblichen Wirtschaft abgeschlossen werden konnte. Die
Unternehmen, die heute in den neuen Ländern existieren,
sind in aller Regel modern und leistungsfähig. In den
neuen Ländern gibt es eine halbe Million Selbstständige.
Diese sind quasi aus dem Nichts heraus entstanden.


(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Bürger!)

Und doch – und das ist das Entscheidende – ist die wirt-

schaftliche Basis insgesamt zu schmal. Die Selbstständi-




Dr. Günter Rexrodt
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(D)



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(B)


gendichte beträgt bei den IHK-Unternehmen nur 20 Pro-
zent der im Westen. Die gesamtwirtschaftliche Produkti-
vität hat sich zwar von 30 auf 60 Prozent der west-
deutschen erhöht, aber sie kommt in letzter Zeit nicht
mehr in ausreichendem Maße voran.

Das hat mehrere Ursachen, unter anderem die Überbe-
setzung des öffentlichen Dienstes und – oft auch unter
Ökonomen sehr wenig beachtet – die Tatsache, dass viele
ostdeutsche Produkte insbesondere auf den Binnenmärk-
ten noch geringere Preise erzielen als andere.

Daraus entsteht ein weiteres Problem. Es ist der weit
verbreitete Eindruck der Menschen in den neuen Ländern,
für gleiche Arbeit weniger Lohn zu erhalten.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Das ist auch wahr!)

Aus der Sicht der Betroffenen ist das richtig und nach-

vollziehbar. Aber ich muss hier – leider, sage ich aus-
drücklich – als Ökonom antworten. Bei 40 Prozent gerin-
gerer Produktivität im Ganzen müsste ein gleiches Lohn-
niveau dazu führen, dass sich die Wettbewerbsfähigkeit
der Unternehmen in den neuen Ländern weiter ver-
schlechtert, mit der Folge höherer Arbeitslosigkeit. Diese
würde dann allgemein zu Recht wieder als Ungerechtig-
keit empfunden. Schnelle Lösungen gibt es nicht. Nie-
mand – weder die Opposition noch die Regierung – kennt
einen Königsweg; und Sie von der PDS schon lange nicht.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich würde mir wünschen, dass wir bei den Flächenta-
rifverträgen, die bei vielen Betrieben in den neuen Län-
dern ohnehin nur noch auf dem Papier stehen, zu einer
Veränderung kommen. Das würde viel Gutes mit sich
bringen, gerade für die Arbeitnehmer in den Betrieben,
die eine hohe Produktivität aufweisen. Da könnte man
ganz andere Lösungen finden.

Wir sind bei dem Hauptproblem, der hohen Arbeitslo-
sigkeit, meine Damen und Herren. Die Ursachen dafür
sind bekannt. Aber keiner kennt auch hier einen Königs-
weg. Inzwischen haben die Bundesregierung und die Re-
gierungen der neuen Länder wenigstens erkannt, dass der
Staat keine Arbeitsplätze verordnen kann. ABM und ähn-
liche Maßnahmen sind geeignet, akute Probleme zu lösen
oder Brücken zum regulären Arbeitsmarkt zu schlagen.
Die Ursachen der Arbeitslosigkeit beseitigen sie nicht.

Meine Damen und Herren, mit der Arbeitslosigkeit in
den neuen Ländern fertig zu werden heißt die wirtschaft-
liche Basis zu verbreitern, heißt Unternehmensgründun-
gen zu fördern und günstige Bedingungen für mehr wirt-
schaftliche Aktivität zu schaffen.

Ich warne vor einer anhaltenden Überförderung der
Wirtschaft in den neuen Ländern.

Ich möchte zum Schluss noch auf vier wichtige Punkte
und Positionen hinweisen, die es weiter zu berücksichti-
gen gilt:

Erstens. Der Ausbau der Infrastruktur muss ohne Ab-
striche fortgesetzt werden.

Zweitens. Öffentliche Budgets der Gebietskörper-
schaften müssen in angemessenem Umfang aufgefüllt
werden, solange die Steuerkraft in den neuen Ländern nur
34 Prozent der westdeutschen ausmacht.

Drittens muss die Finanzierung der Sozialleistungen,
wie sie für ganz Deutschland gelten, fortgesetzt werden.
In diesem Zusammenhang von Transferleistungen in die
neuen Länder zu sprechen ist falsch und lässt in den neuen
Ländern Unmut und Unwillen entstehen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Vierter Punkt. Wir müssen uns bei der Wirtschaftsför-
derung in den neuen Ländern auf regionale Investitions-
zuschüsse und auf Unternehmensgründungen konzentrie-
ren.

Meine Damen und Herren, ich habe mich bemüht, in
meinem Beitrag zum zehnjährigen Bestehen der Wirt-
schafts-, Währungs- und Sozialunion nicht dem Muster
des tagespolitischen Schlagabtauschs zu folgen. Aber ei-
nes muss ich doch sagen, und zwar an die Adresse des
Bundeskanzlers – ich verstehe, dass er nicht da ist –:
Wenn man den Aufbau Ost im Wahlkampf zur Chefsache
erklärt, dann muss man das auch ausfüllen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der PDS)


Dem Bundeskanzler ist der Aufbau Ost keine Herzenssa-
che. Er vollzieht ihn als eine Pflichtübung. Diese Pflicht-
übung ist ihm bei jedem Auftritt im Bundestag und in den
neuen Ländern ins Gesicht geschrieben, meine Damen
und Herren.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es haben sich mit der Wirtschafts- und Währungsunion
neue Gelegenheiten und Chancen für Deutschland in Eu-
ropa eröffnet. Nach zehn Jahren lohnt es sich, einmal in-
nezuhalten und die Dinge im Gesamtzusammenhang zu
sehen. Dabei sollte man bei aller Unzulänglichkeit auch
ein Stück Freude aufkommen lassen und, ich meine, auch
ein Stück Dankbarkeit.

Danke schön.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411201100
Ich erteile das Wort
der Kollegin Dr. Christa Luft, PDS-Fraktion.


Dr. Christa Luft (PDS):
Rede ID: ID1411201200
Frau Präsidentin! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute anläss-
lich des 10. Jahrestages der Wirtschafts -, Währungs- und
Sozialunion. In diesem Haus wird aber ebenso wie im
ganzen Land immer nur von der Währungsunion gespro-
chen. Warum? Das geschieht wohl nicht deshalb, weil wir
gerne mit einem Kürzel arbeiten, sondern weil von der ge-
wollten und versprochenen Dreieinigkeit im Grunde ge-
nommen nur die Währungsunion vorhanden ist.


(Beifall bei der PDS)





Dr. Günter Rexrodt

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(D)



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(B)


Die Wirtschafts- und die Sozialunion lassen auf sich war-
ten.

Herr Kollege Rexrodt, diese Tatsache auf den Umstand
zurückzuführen, dass es im Osten zu wenig aktive Bürge-
rinnen und Bürger gibt, halte ich schon für ein grandioses
Stück, das Sie sich hier geleistet haben.


(Beifall bei der PDS – Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Das habe ich nicht gesagt! Ich habe von einer Bürgerkultur gesprochen, die Sie vernichtet, neutralisiert und proletarisiert haben!)


Sie sollten einmal zum Brandenburger Tor gehen. Dort
liegen hungerstreikende Handwerkerinnen und Handwer-
ker aus Thüringen. Ich weiß nicht, aus welcher kleinen
thüringischen Stadt Sie kommen. Sie könnten dort viel-
leicht ehemalige Nachbarinnen und Nachbarn treffen, die
nach der Währungsunion durch Gauner um Hab und Gut
gebracht worden sind.


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Frau Luft, wissen Sie, was eine Bürgerkultur ist?)


Viele, die während der DDR-Zeit als Handwerkerinnen
und Handwerker überlebt haben, haben später als Selbst-
ständige Existenzen gegründet und stehen jetzt vor der
Pleite. Das müssen Sie sich einmal vor Ort anschauen.


(Beifall bei der PDS – Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Sie wissen gar nicht, was ich meine!)


Der 1. Juli ist der Tag, an dem alle Bürgerinnen und
Bürger der DDR den legalen Zugang zur Deutschen
Mark bekommen haben. Sie haben sich seither manch
lang gehegten Wunsch erfüllen können. Nach meinem
Eindruck möchte niemand dieses Symbol des Wohlstan-
des – die harte Deutsche Mark – mehr missen. Die Sehn-
sucht nach dem „harten Geld“, wie es damals hieß, haben
die DDR-Oberen selbst erzeugt, indem sie in Genex-Ka-
talogen und Intershop-Läden attraktive Waren angeboten
haben, die für selbst verdientes Geld nicht zu haben wa-
ren. Das muss man deutlich sagen.

Dennoch kam, Herr Kollege Waigel, das Signal für den
Blitzstart in die Währungsunion weder aus Leipzig noch
aus Merseburg oder aus Rostock. Das Signal für den
Blitzstart in die Währungsunion kam vielmehr aus Bonn.
Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl hat sehr wohl
gewusst, dass möglicherweise bei den freien Wahlen zur
Volkskammer am 18. März 1990 ein SPD-Sieg ins Haus
stehen würde. Um das zu verhindern, hat er sich ganz
schnell der in SPD-Kreisen bereits diskutierten Idee einer
Währungsunion angenommen und diese verwirklicht.
Sein Machtinstinkt hat ihn dabei nicht getrogen. Das muss
man ihm zugestehen.

Der 1. Juli war nicht nur der Tag, an dem die D-Mark
in den Osten kam. Der 1. Juli war zugleich der Tag, an
dem das Treuhandgesetz der De-Maizière-Regierung mit
dem Gebot einer flächendeckenden und raschen Privati-
sierung in Kraft trat. Damals ist der Grundstein für ein
Streben nach schneller Lohnerhöhung gelegt worden.
Wenn über einem das Damoklesschwert schwebt, abge-
wickelt und wegrationalisiert zu werden, kämpft man
natürlich um hohe Löhne. Denn man wusste, wonach sich
das Arbeitslosengeld nach dem neu eingeführten Sozial-

recht berechnen würde. Das ist doch eine ganz normale
Reaktion, die verständlich ist.

Der 1. Juli war aber auch das Datum, an dem das Ge-
biet zwischen Elbe und Oder urplötzlich zur Europä-
ischen Union zugehörig wurde, und zwar ohne irgend-
welche Beitrittsverhandlungen und damit auch ohne ver-
einbarte Anpassungsfristen oder Schutzinstrumente für
die Wirtschaft. Ich stelle fest: So viel Schock auf einmal
war nirgends und niemals zuvor. Mit den Folgen haben
wir noch heute zu kämpfen.
Trotz aller Warnungen von Ökonomen aus Ost und West
verzichteten die damals Verantwortlichen auf Strukturpo-
litik; das war ein Fremdwort. Auf regionalpolitische Wei-
chenstellungen wurde verzichtet. Das ist die bittere Wahr-
heit.

Gewiss, dank umfangreicher Finanztransfers ist es ge-
lungen, die Infrastruktur zu modernisieren. Viele Woh-
nungen sind saniert worden, die Innenstädte sind schöner
geworden und manche industriellen Leuchttürme sind
entstanden. Das ist alles richtig. Doch wahr ist auch: Nach
diesem Schock vom 1. Juli 1990 entstanden in den alten
Bundesländern 2 Millionen Arbeitsplätze neu und 4 Mil-
lionen Arbeitsplätze wurden in den neuen Bundesländern
abgebaut, sie gingen verloren. Da muss man sich doch fra-
gen, woran das gelegen hat.


(Zuruf der Abg. Dr. Sabine Bergmann-Pohl [CDU/CSU])


Geblieben sind im Osten, Frau Kollegin Bergmann-Pohl,
eine ausgedünnte Industrielandschaft – das werden auch
Sie nicht bestreiten –, verödende Regionen und die Ab-
wanderung junger, qualifizierter Menschen.

Notwendig wäre damals gewesen, industrielle Kerne in
Zukunftsbranchen zu erhalten, mit den Altschulden an-
ders umzugehen, als das geschehen ist, und vor allem
Märkte zu stabilisieren. Wer will denn in eine Marktwirt-
schaft übergehen ohne Märkte? Das ist bisher auch nir-
gends auf der Welt gelungen. Das übrigens hätte Herr
Rohwedder auch anders gemacht.


(Beifall bei der PDS)

Zu den Hauptfehlern des ersten Staatsvertrages wie

später auch des Einigungsvertrages gehört übrigens, dass
die Weichen gestellt wurden für eine nahezu zwanghafte
Übertragung des westdeutschen Systems in all seinen
Facetten auf die neuen Bundesländer. Die nachholende
Modernisierung war damals die Losung. Für Innovation
bestand überhaupt keine Chance. Im Osten gewonnene
Erfahrungen und gewachsene, überlebensfähige Struktu-
ren hatten keine Chance. Dem Osten wurden das verkrus-
tete Steuersystem und die reformbedürftigen Genehmi-
gungsverfahren übergestülpt. Auch die Arbeitsförderung,
die in den alten Bundesländern gewachsen war und den
dortigen Bedingungen entsprach, wurde auf den Osten
übertragen, ohne eine den dortigen Gegebenheiten ange-
passte Arbeitsmarktpolitik zu betreiben. Die fehlt im
Übrigen bis heute.

Eine damals gewiss mögliche Einmalabgabe auf große
Vermögen war für die verantwortlichen Politikerinnen
und Politiker ebenfalls kein Thema, um einen Beitrag zur




Dr. Christa Luft
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(C)



(D)



(A)



(B)


Finanzierung der Einheit zu gewährleisten. Sie haben
vielmehr die Sozialkassen belastet und Kreditfinanzie-
rung mit Verschuldung vorgenommen.


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Wann bekennen Sie sich mal zur deutschen Einheit, Frau Luft?)


Heute behaupten damals auf der Westseite verantwort-
liche Politiker, sie hätten über den Osten und seine Wirt-
schaft zu wenig gewusst. Nun ist ja nicht zu bestreiten,
dass Details bestimmt nicht zu wissen waren. Die kannten
wir auch nicht. Aber dass man nicht habe voraussehen
können, was mit diesem Schock ohne Anpassungsfristen
und ohne Schutzinstrumente geschehen würde, das ist
doch arg zu bezweifeln.

Ich will Ihnen jetzt nur die Aussage eines Einzigen, den
Sie immer wieder als Kronzeugen für den Zustand der
DDR-Wirtschaft – auch in diesem Hause – zitieren, vor-
halten. Ein Insider der DDR-Wirtschaft und ein Mitautor
dieser so genannten Geheimanalyse für das SED-Polit-
büro von Ende Oktober 1989 hat ja nachher auch noch et-
was geschrieben. Er hat vor kurzem seine „Deutsch-deut-
schen Erinnerungen“ veröffentlicht. Darin heißt es, dass
er von Mitte Januar bis Mitte März 1990 30 Gespräche mit
dem BND geführt und Auskunft über die DDR-Wirtschaft
gegeben hat. Wörtlich sagt er:

Die Fragen prasselten nur so auf mich ein. Wie steht
es um die Verschuldung der DDR, wie um ihre
Produktivität? Welche Kombinate sind erhaltens-
wert, welche sollte man stilllegen? Augenscheinlich
bereitete sich die Bundesregierung auf die Wirt-
schafts- und Währungsunion vor.

Was also passieren würde, wenn man eine Jahrzehnte
vom Weltmarkt abgeschottete Wirtschaft über Nacht mit
300 Prozent Aufwertung auf den offenen Markt entlässt,
war jedem ökonomisch Beschlagenen damals klar. Allein
mit Lohnkostensubventionen und Mehrwertsteuerpräfe-
renzen hätte man manchen Absturz verhindern können.

Hat denn jemals einer von den damals Verantwortli-
chen in Ost wie in West nach den Stärken der ostdeutschen
Wirtschaft gefragt? Es war immer nur von den Schwächen
die Rede. Daher finde ich es auch etwas seltsam, wenn
zehn Jahre nach der deutschen Einheit die CDU in ihrer
Luckenwalder Erklärung plötzlich sagt, man müsse nun
den Stärken des Ostens nachgehen und diesen Rechnung
tragen. Ich kann dazu nur sagen: Die Hauptstärke des
Ostens waren immer seine qualifizierten Menschen. De-
nen eine Chance zu geben ist das Gebot der Stunde.


(Beifall bei der PDS)

Wir müssen endlich damit aufhören, nur über die res-

pektablen – ich betone: respektablen – Finanztransfers
von West nach Ost zu reden. Ich habe große Achtung da-
vor, weil es vor allem Gelder sind, die von den abhängig
beschäftigen Lohnsteuerzahlerinnen und Lohnsteuerzah-
lern aufgebracht werden. Aber wann reden wir endlich
auch darüber, welchen Vermögenstransfer es von Ost
nach West gegeben hat, den es übrigens nach wie vor gibt?


(Beifall bei der PDS)


Wann reden wir endlich darüber, welche Umsatz- und Ge-
winnexplosionen es bei Unternehmen, Handelsketten so-
wie bei Banken und Versicherungen gegeben hat? Hätten
sie alle ordentlich ihre Steuern auf die sich explosionsar-
tig entwickelnden Gewinne gezahlt, dann wären die öf-
fentlichen Kassen voller, als sie es heute sind.

Zuletzt noch ein Punkt. Ich finde, es ist überfällig, die
Vergabepraxis von Fördermitteln, also von Steuergeldern,
insbesondere die Vergabepraxis in den Jahren 1990 bis
1993 im Hinblick darauf zu durchleuchten, wo gesetzli-
che Bestimmungen verletzt wurden, ja wo es sogar zu kri-
minellen Handlungen gekommen ist. Die PDS-Fraktion
wird in diesem Zusammenhang eine parlamentarische
Initiative ergreifen, um vielen unschuldig in wirtschaftli-
che und soziale Not geratenen Existenzgründern, Hand-
werkern und Gewerbetreibenden Gehör und Gerechtig-
keit zu verschaffen.


(Beifall bei der PDS)

An der Schwelle zum zweiten Jahrzehnt der deutschen

Einheit muss es endlich darum gehen, den erfahrenen,
überwiegend hoch qualifizierten Menschen im Osten – sie
sind, wie gesagt, die Hauptstärke des Ostens – eine
Chance zu geben, damit sie sich in das einbringen können,
was wir im vereinten Land noch gemeinsam gestalten
müssen. Die Massenarbeitslosigkeit darf nicht länger nur
verbal bekämpft werden, so wie es leider auch unter Rot-
Grün geschieht. Wir brauchen substanzielle neue Vor-
schläge. Die Haushaltsberatungen werden uns dazu Gele-
genheit geben.

Danke schön.

(Beifall bei der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411201300
Jetzt erteile ich das
Wort für die Bundesregierung Herrn Staatsminister Rolf
Schwanitz.


Rolf Schwanitz (SPD):
Rede ID: ID1411201400

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Wir debattieren heute über zehn Jahre Währungs-,
Wirtschafts- und Sozialunion. Ich möchte ausdrücklich
sagen: Es ist gut, dass wir das tun; denn der Staatsvertrag,
den wir damals den ersten Staatsvertrag nannten, war eine
ganz zentrale Weichenstellung auf dem Weg hin zur staat-
lichen Einheit. Wir können in der Rückschau die Be-
deutung dieses Vorgangs für den ökonomischen und den
vereinigungspolitischen Bereich überhaupt nicht unter-
schätzen. Deswegen ist es richtig, dass wir abermals ver-
suchen, die Dimension und die Vorgänge von damals in
das gesellschaftliche Bewusstsein zu heben. Dazu sage
ich ein klares ein klares Ja.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Frau Kollegin Luft, ich sage ausdrücklich: Wir sollten

den Dreiklang der Währungs-, Wirtschafts- und Sozial-
union nicht im Nachhinein diskreditieren. Es ist für
mich – neben den wirtschaftlichen und währungspoliti-
schen Leistungen – eine der ganz zentralen solidarischen
Leistungen gewesen, dass es bereits damals gelungen war,




Dr. Christa Luft

10607


(C)



(D)



(A)



(B)


diesen schwierigen Vorgang sozial zu flankieren und so
die staatliche Einheit zu erzielen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411201500
Gestatten Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Kolbe?


Rolf Schwanitz (SPD):
Rede ID: ID1411201600

Herr Kollege Kolbe, ich bitte um Verständnis. Ich möchte
im Zusammenhang fortfahren. Deswegen gestatte ich
keine Zwischenfrage.


(Hannelore Rönsch [Wiesbaden] [CDU/CSU]: Wo ist denn der Bundeskanzler? – Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Wo ist der Wirtschaftsminister?)


Ich möchte im Folgenden weniger über Leistungen und
Fehler im damaligen Vorgehen reden. Ich stelle ausdrück-
lich fest: Die großen Leistungen, die in der damaligen Si-
tuation erbracht wurden, überwiegen bei weitem. Das,
was mich persönlich umtreibt und was ich deswegen an-
sprechen möchte, ist die Frage: Wenn wir heute auf die Er-
eignisse von vor zehn Jahren zurückschauen – wir wissen,
wie es im Osten vor der Vereinigung ausgesehen hat und
was in den letzten zehn Jahren passiert ist –, gibt es dann
so etwas wie ein Fazit, gibt es so etwas wie eine bleibende
Erkenntnis, aus der man Schlussfolgerungen für das zie-
hen kann, was heute bei uns in Deutschland geschieht und
was auch im engeren Sinne die Politik angeht? Ich bin in
der Tat der Auffassung, dass es ein solches Fazit gibt.
Ich will vier Erkenntnisse, die mich ganz persönlich
berühren, in dieser Debatte ansprechen.

Die erste Erkenntnis, die ich aus dem Vergleich zwi-
schen der heutigen Situation und der vor zehn Jahren ge-
winne, ist, dass in Zeiten eines Wandels, eines Umbruchs
eines ganz besonders wichtig ist, nämlich der Mut zur
Veränderung und die Fähigkeit der Politik, bei solchen
Umbrüchen voranzugehen. Ich glaube, dass diese Er-
kenntnis sehr gut in unsere heutige Zeit passt; denn wir
stehen in Deutschland ohne Zweifel vor ganz enormen
Veränderungen, die wir meistern müssen. Die Internatio-
nalisierung von Politik, Ökonomie, die technologischen
Veränderungen und der demographische Wandel müssen
geschultert werden. Dies sind Themen, die das politische
Tagesgeschäft und alle Debatten des Deutschen Bundes-
tages durchziehen.

Die Herausforderungen, die daraus für die Politik und
für die Gesellschaft insgesamt erwachsen, sind alt und zu-
gleich neu. Nach meiner Auffassung erwarten die Men-
schen von der Politik, nicht nur den Kampf um die
Lufthoheit über den Stammtischen zu führen, sondern
auch Entscheidungen zu treffen und Mut zu Veränderun-
gen zu beweisen. Ein Fazit lautet deswegen, dass nicht das
Verdrängen oder das Aussitzen, sondern ein aktives Ge-
stalten solcher Veränderungen wichtig ist. Mit Blick auf
die Ereignisse vor zehn Jahren ist dies ein Auftrag. Ich
bitte um Nachsicht dafür, dass ich die eine oder andere Pa-
rallele zu unseren aktuellen Debatten ziehe, beispiels-

weise im Zusammenhang mit der Steuerreform oder den
schwierigen Entscheidungen beim Rentenrecht.

Ich sage ausdrücklich: Das ehrliche und wahre Be-
mühen um einen Kompromiss ist richtig und notwendig.
Aber irgendwann kommt die Zeit der Entscheidung.
Jürgen Strube, der Vorstandsvorsitzende eines der welt-
größten Chemieunternehmen, sagte in dieser Woche, wir
in Deutschland seien dabei, den Begriff des Reformstaus
aus dem Sprachgebrauch zu verdrängen. Das ist zwar ein
großes Lob, aber es ist auch ein Auftrag an uns alle in die-
sem Haus.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Eine Lehre aus der Zeit vor zehn Jahren besteht für
mich in der Aufforderung, dass wir uns Veränderungen
stellen müssen und dass wir einen Umbruch nicht passiv
erleiden dürfen; vielmehr haben wir Prozesse aktiv zu ge-
stalten und dabei müssen wir auch Wagnisse eingehen.
Daran, dass wir uns dabei über Parteigrenzen hinweg ori-
entieren und springen müssen, hat Herr Kollege Waigel
heute im Zusammenhang mit dem Vorgang vor zehn Jah-
ren erinnert. Ich sage ausdrücklich: Aus den parteipoliti-
schen Schützengräben herauszukommen ist für mich ein
Fazit der Ereignisse vor zehn Jahren. Das Ganze ist hoch-
aktuell.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die zweite Erkenntnis, die ich heute ansprechen will,
ist, dass es heute, zehn Jahre danach, die Notwendigkeit
gibt, über einen Perspektivwechsel im ostdeutschen
Selbstverständnis öffentlich zu kommunizieren.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Was heißt das denn?)


Keine Frage, damals vor zehn Jahren war unser Blick ein-
deutig auf die Situation in den alten Bundesländern ge-
richtet. Das ist überhaupt kein Vorwurf. Wir haben damals
intensiv gefragt, wann es in den neuen Bundesländern so
wie in den alten Bundesländern sein wird. Die damalige
Bundesrepublik Deutschland war der Maßstab, die ei-
gentliche Perspektive. Das konnte nicht anders sein; denn
es gab kein Vergleichsmodell und kein Alternativmodell.
Natürlich bleibt die Gleichwertigkeit der Lebensverhält-
nisse nicht nur Verfassungsgebot, sondern auch ein wich-
tiges konsensuales Ziel in einer demokratischen und so-
zial orientierten Gesellschaft.

Meine Damen und Herren, dass Bundestagspräsident
Wolfgang Thierse in dieser Woche in der „Berliner Zei-
tung“ eine Diskussion über eine neues ostdeutsches Leit-
bild angestoßen hat, findet meine ausdrückliche Unter-
stützung. Die Diskussion darüber, wie wir wegkommen
von einem Modell der nachholenden Modernisierung, bei
dem wir das Alte, Traditionelle im Blick haben, und hin-
kommen zu einem Modell der, wie er sagt, europäischen
Verbindungsregion als Leitmotiv für die Perspektive der
neuen Länder, halte ich für notwendig und sehr wichtig.

In der Tat steht Deutschland vor ganz zentralen Verän-
derungen. Das sind die technologischen Veränderungen,
die ich beschrieben habe, das ist die Notwendigkeit, welt-




Staatsminister Rolf Schwanitz
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weite Märkte zu erobern, und das ist natürlich auch die
geographische Veränderung. Wir sind ja nicht mehr Rand-
region, sondern wir sind im Begriff, in Europa eine ganz
zentrale geographische Stellung einzunehmen. Die neuen
Länder haben hierbei ganz enorme Chancen. Wir müssen
darüber reden, welche Konsequenzen das hat, und wir
müssen darum werben mit dem Ziel, dass dies auch ins
Bewusstsein dringt und verarbeitet wird.

Für mich gehören in eine solche Debatte über einen
Perspektivwechsel, in die Diskussion über ein neues ost-
deutsches Leitbild verschiedene Dinge. Drei will ich aus-
drücklich benennen. Das Erste sind für mich die Erfah-
rungen, die in den letzten Jahren in Ostdeutschland
gesammelt worden sind, Ostdeutschland als neue Wis-
sensgesellschaft zu begreifen. Das Zweite, worüber nach-
zudenken und zu diskutieren sich sehr lohnt, sind die In-
novationserfahrungen, die in Ostdeutschland gesammelt
werden konnten. Das Dritte, was ich ansprechen will und
was ich sehr interessant finde, ist der Grundsatz, zu akti-
vieren und zu motivieren, das heißt, Dinge mit den Men-
schen gemeinsam voranzutreiben.

Auf allen drei Feldern sind in den letzten zehn Jahren
ganz enorme Entwicklungen vonstatten gegangen, sind in
den neuen Ländern Erfahrungen besonderer Art gesam-
melt worden und hat die Politik diese Entwicklung aktiv
unterstützt und wird das auch in Zukunft tun.

Noch nie, meine Damen und Herren – ich möchte jetzt
etwas zu dem Thema Wissensgesellschaft sagen –, war
die Halbwertszeit beim Wissen so kurz. Neues Wissen
aufzunehmen, zu vermitteln, ist zu einer Zukunftsfrage
für die Gesellschaft insgesamt geworden. Das gilt natür-
lich für alle in unserem Lande, auch europaweit, aber der
Osten hat dabei hervorragende Erfahrungen gemacht.

Was war der Transformationsprozess denn anderes als
ein gigantischer Wandel von Wissen, der in Ostdeutsch-
land in umfassendster Art geschultert und gemeistert wer-
den musste! Viele ostdeutsche Hochschulen, viele Fach-
hochschulen haben diese Chancen genutzt. Im nationalen
und internationalen Rating finden sich ostdeutsche Ein-
richtungen mittlerweile in Spitzenpositionen wieder. In
bemerkenswerter Art und Weise entstehen in diesen
Hochschulen und Fachhochschulen gerade mit Blick auf
die ostdeutsche Situation kooperative Strukturen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb ist es richtig, gerade den Ausbau der ost-
deutschen Forschung, den Ausbau der ostdeutschen
Hochschul- und Fachhochschullandschaft zu einem zen-
tralen Thema zu machen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Ostdeutschen haben hervorragende Chancen, hier
Kompetenzzentren zu entwickeln. Wenn gegenwärtig –
lassen Sie mich wenigstens eine Zahl nennen – 27 Prozent
der Projektfördermittel des Bundes, die für Biotech-
nologie insgesamt ausgegeben werden, nach Ostdeutsch-
land fließen, dann ist das ein Signal für diesen wichtigen
Veränderungsprozess, auf den ich hinweisen wollte.

Zu dem Leitbild, das ich ja beschrieben habe, gehört
natürlich auch Ostdeutschland als Innovationsstandort.
Lothar Späth hat in dieser Woche gesagt, nicht Subven-
tionen, sondern Innovationen seien das prägende und das
zentrale neue Bild in Ostdeutschland. Ich kann das nur
ausdrücklich unterstreichen. Deswegen muss sich auch
die Förderpolitik – auf diesem Wege sind wir, wie Sie wis-
sen – dem Innovationsthema in verstärkter Form zuwen-
den.

Wir finden in Ostdeutschland bemerkenswerte neue
Bedingungen, die auch in der internationalen Perspektive
von hohem Interesse sind: kurze Verwaltungswege, ein
gegenüber der Industrie sehr aufgeschlossenes Klima in
der Bevölkerung und Gesellschaft. Dieses ist in Kombi-
nation mit der Innovationsunterstützung der öffentlichen
Hand eine hervorragende Voraussetzung, um gerade auch
ausländisches Investment nach Ostdeutschland zu führen.
Das muss auch einmal ausgesprochen werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich möchte auch eine Bemerkung zu dem Themen-
komplex Aktivieren und Motivation machen. Ich bin der
festen Überzeugung, dass es in Ostdeutschland enorme
Potenziale gibt, die sich im Ideenreichtum der Menschen
in den Regionen niederschlagen. Wer wollte es mir ver-
denken, dass ich hier unseren, wie ich finde, in der zwei-
ten Phase sehr erfolgreichen Wettbewerb im Rahmen des
Programms Inno-Regio anspreche.

Wie Sie wissen, wollen wir in den nächsten Jahren
25 Modellregionen fördern. Ich will nicht verhehlen, dass
es mich sehr überrascht hat, mit welcher Energie und In-
tensität dieses erste, besonders auf Ostdeutschland zuge-
schnittene Wettbewerbsinstrument in den Regionen auf-
genommen worden ist, übrigens auch über Parteigrenzen
hinweg. Ich habe das ja beobachtet. Auch viele Kollegin-
nen und Kollegen der anderen Fraktionen gehen den Weg
mit und bringen sich regional ein. Da geht ein Ruck durch
die Regionen. Wir tun gut daran, wenn wir nicht nur in-
nerhalb der Kategorie dieser 25 Projekte denken, sondern
wenn wir – auch da sind wir auf gutem Weg – diese Inno-
vationspotenziale nicht versiegen lassen und die Motiva-
tion der Menschen nicht enttäuschen, sondern gemeinsam
mit den Regierungen der neuen Länder befördern und
auch weiter unterstützen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Eine dritte Schlussfolgerung möchte ich aus dem Ver-
gleich zu dem ziehen, was vor zehn Jahren war: Wir ha-
ben auf dem Weg, den wir seitdem zurückgelegt haben,
die Erfahrung gemacht, dass die Stärke der Bundesrepu-
blik Deutschland nicht nur aus ihrer Vielfalt erwächst,
sondern auch in der Gemeinsamkeit liegt. Das gilt für
Deutschland insgesamt und ist beispielsweise auch aus
unserer Debatte über die Notwendigkeit einer weiteren
Unterstützung des Aufbaus Ost durch einen Solidarpakt 2
nach 2004 abzuleiten. Dies gilt aber auch und gerade
für die Ostdeutschen untereinander. Die Menschen erwar-
ten von uns allen einen ganzheitlichen Politikansatz. Sie




Staatsminister Rolf Schwanitz

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orientieren sich bei dem, was sie wünschen und erwarten,
nicht an Fragen politischer Zuständigkeit, sie konzentrie-
ren sich in erster Linie auf die Problemlösung und erwar-
ten dabei, dass die Politik mit ihnen an einem Strang zieht.
Deshalb ist diese Erfahrung für mich auch eine Heraus-
forderung der Politik auf allen Ebenen. Ich glaube, nie-
mand darf sich davon ausnehmen.

Wenn dies richtig ist, dann stellen sich eine ganze
Reihe unbequemer Fragen auch jenseits von Hierarchien
und jenseits von territorialen Zuständigkeiten, über die
anlässlich einer solchen Debatte offen geredet werden
muss. Gemeinsamkeiten zwischen dem Bund und den
neuen Ländern, aber auch zwischen den neuen Ländern
untereinander zu finden, herauszufiltern und diese aufzu-
nehmen ist deshalb für mich und ein wichtiges Anliegen.
Wir haben in diesem Bereich auch Erfolge zu verzeich-
nen. Beispielsweise gilt dies für den zwischen dem Bund
und den neuen Ländern nicht ohne Schwierigkeiten zu-
stande gekommenen Beschluss, ausländische Direktin-
vestitionen im Rahmen des so genannten IIC auch über
den befristeten Auftrag hinaus anzuwerben. Das sind
Dinge, die man sinnvoll gemeinschaftlich tun kann.

Diese Frage stellt sich aber auch bei anderen Themen-
gebieten: im Bereich der Förderpolitik, im Bereich der
Bildungspolitik, beim Baurecht und bei anderen Dingen.
Ich weiß, dass das schwierig ist, aber es muss bei einer
solchen Debatte wie heute auch einmal möglich sein,
quasi gegen den Strich zu denken und diese Themen an-
zusprechen.

Wenn es richtig ist, meine Damen und Herren, dass die
ostdeutschen Länder nicht nur untereinander im Wettbe-
werb stehen, sondern ostdeutsche Regionen schon längst
in einem europaweiten Wettbewerb der Regionen stehen,
zum Beispiel mit Irland oder mit Spanien, und sich der
Blickwinkel in Zukunft auch noch auf Osteuropa auswei-
ten wird, dann ist es in der Tat eine wichtige Erfahrung
von hoher Aktualität, wenn man Gemeinsamkeiten aus-
macht und gemeinsame Stärken herausstellt.

Ich will ausdrücklich noch eine weitere Erkenntnis an-
sprechen. Angesichts der Entwicklungen, die wir erlebt
haben, und angesichts der Entwicklungen, die noch vor
uns liegen, können wir nur in dem Maße erfolgreich sein,
wie es uns gelingt, die Menschen bei diesen Entwicklun-
gen mitzunehmen. Die Menschen in den neuen Bun-
desländern können sich – ich habe in diesem Punkt
eine etwas andere Auffassung als Sie, Herr Kollege
Rexrodt – auf eine ganze Reihe von Stärken und Fähig-
keiten besinnen, die sie aus 40 Jahren Leben in der DDR
mit all den Schwierigkeiten und Bedrückungen, aber auch
aus zehn Jahren Leben in den neuen Verhältnissen ge-
wonnen haben.

Zu diesen Fähigkeiten gehört für mich die Fähigkeit,
mit Veränderungen fertig werden zu können. Dazu gehört
für mich die Stärke, pragmatisch an Probleme herangehen
zu können. Dazu gehört für mich die Fähigkeit, einen un-
dogmatischen Lösungsansatz zu finden. Dazu gehört für
mich die Befähigung, kooperativ und nicht als Einzel-
kämpfer an Lösungen heranzugehen. Wir müssen diese
Stärken und dieses Potenzial, das in den Menschen steckt,
betonen und ins Bewusstsein rücken.


(Beifall der Abg. Sabine Kaspereit [SPD])


Aber auch ein anderer Punkt muss offen angesprochen
werden: Wir müssen uns – das ist keine Frage – ändern.
Wir müssen nämlich die Debatte um die EU-Osterweite-
rung versachlichen; sie ist in den neuen Ländern noch
nicht tiefgreifend genug geführt worden. Das soll kein
Vorwurf sein. Ich will in diesem Zusammenhang nur die
Besonderheit erwähnen, mit der sich der EU-Beitritt der
neuen Länder 1990 vollzogen hat. Er war gewissermaßen
von den Vorgängen um die deutsch-deutsche Vereinigung
überlagert. Im Windschatten der deutschen Einheit sind
die neuen Länder Mitglieder der Europäischen Union ge-
worden. Dieser Beitrittsprozess vollzog sich also anders
als in den osteuropäischen Ländern, wo es eine mehr-
jährige Diskussion gibt und wo man um eine entspre-
chende Bewusstseinshaltung hinsichtlich dieses Prozes-
ses ringt. Aus objektiven Gründen ist dies in den neuen
Bundesländern anders gewesen.

Wir als Politiker haben die Verantwortung, die Verän-
derungen im Bewusstsein zu berücksichtigen und not-
wendige Konsequenzen aus diesen Veränderungen abzu-
leiten. Wir dürfen dieses Thema nicht unter dem Ge-
sichtspunkt des parteipolitischen Klein-Kleins sehen,
sondern wir müssen in den nächsten Monaten und Jahren
diesen Wandel im Bewusstsein fair und aktiv begleiten.
Wir dürfen nicht zulassen, dass dieses Potenzial der neuen
Länder einfach versiegt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zum Schluss. Wir müssen uns jedem Angriff auf eine
offene Gesellschaft, jedem Signal der Intoleranz und
Fremdenfeindlichkeit, die auch zur ostdeutschen Rea-
lität gehört, entgegenstellen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und der PDS)


Niemand sollte die Illusion haben, dass dieses Problem
der Staat alleine mithilfe von Gesetzen lösen kann. Die
Pflicht, gegen Fremdenfeindlichkeit einzutreten, stellt
sich jedem im täglichen Leben. Wir dürfen nicht weg-
schauen; unser aller Zivilcourage ist in ganz starkem
Maße gefordert.

Ich wollte nicht unterlassen, diese Erfahrungen anzu-
sprechen. Es ist keine Frage, dass zehn Jahre Wirtschafts-
und Währungsunion eine historische Dimension haben.
Aber es gibt noch viele Punkte, die uns heute und auch
morgen gedanklich beschäftigen müssen.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411201700
Ich erteile das Wort
dem Ministerpräsidenten des Freistaates Sachsen, Herrn
Professor Biedenkopf.

Ich darf mir die Bemerkung erlauben, dass ich gern an
unsere gemeinsame Zeit vor zehn Jahren zurückdenke.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)





Staatsminister Rolf Schwanitz
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411201800

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Auch ich habe diese freundlichen Erinnerungen.

Ich finde es gut, dass sich der Bundestag entschieden
hat, am heutigen Tag der zehnjährigen Wiederkehr des
Eintritts in die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion
zu gedenken, die mit dem 1. Juli 1990 vollzogen wurde.

Der Mauerfall hat den Weg zur Einheit unwiderruflich
geöffnet. Die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion
hat die Einheit Realität werden lassen. Mit dem 3. Okto-
ber 1990, mit dem Einigungsvertrag, mit der Entstehung
der ostdeutschen Länder, mit dem Beitritt der DDR zur
Bundesrepublik Deutschland, beschlossen am 23.August,
war die Einheit vollendet.

Nach zehn Jahren kann man feststellen: Die nationale
Einheit hat sich in der nationalen Solidarität bewährt.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Bei allen Problemen, die auch heute in der Debatte
wieder angesprochen worden sind, finde ich: Wenn man
nach zehn Jahren einen allgemeinen Rückblick und eine
allgemeine Bewertung vornimmt, ist es wichtig, die Pro-
portionen richtig zu setzen. Kein Mensch – jedenfalls ich
nicht – hätte geglaubt, dass die deutsche Solidarität über
zehn Jahre so selbstverständlich werden würde. Es hat in
den letzten zehn Jahren keinen Versuch gegeben, den
Westen unter Gesichtspunkten der Solidarität gegen den
Osten auszuspielen. Es hat keinen politisch wirksamen
Versuch gegeben – von keiner politischen Partei –, durch
Neid- oder andere Argumente in Westdeutschland gegen
die Solidarität Stimmen zu gewinnen. Die Solidarität war
trotz eines gewissen Maulens – wer mault nicht, wenn er
Steuern zahlen muss? – eigentlich eine Selbstverständ-
lichkeit. Diejenigen, die uns von außen betrachten, wissen
das sehr viel besser als wir selbst. Sie sind beeindruckt
von dieser Solidarität und von ihrer Kontinuität.


(Vo r s i t z : Vizepräsidentin Petra Bläss)

Deutschland hat den Aufbau und die Erneuerung des

östlichen Teils Deutschlands angepackt. Das Ergebnis
kann sich sehen lassen.

Die zweite Feststellung. Die bundesstaatliche Ord-
nung hat sich bewährt. Unmittelbar nach dem 3. Ok-
tober – Kollege Waigel hat schon auf das Zusammen-
kommen der Ministerpräsidenten im Jahre 1947 in Mün-
chen hingewiesen, dem einzigen Versuch, nach dem ver-
lorenen Krieg die Einheit der Deutschen noch einmal zu
demonstrieren; im Übrigen mit zum Teil dramatischen
Konsequenzen auch für ostdeutsche Ministerpräsidenten,
insbesondere für den sächsischen – trat am 9. November
der Bundesrat in Berlin zum ersten Mal mit allen 16 Län-
dern zusammen. Ich muss gestehen, das war für mich als
Neuankömmling in dieser Runde ein persönlich bewe-
gender Augenblick.

Die bundesstaatliche Ordnung hat sich aber auch in der
Integration der Länder bewährt. Von Anfang an war es
selbstverständlich, dass sie dazugehörten. Im Unterschied
zu Herrn Kollegen Schwanitz haben wir nicht immer von

„Ostdeutschland“ gesprochen, sondern von „Sachsen,
Thüringen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern,
Berlin und Brandenburg“. Ich komme darauf gleich noch
einmal zurück.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie haben aber lange gesucht, um ein Haar in der Suppe zu finden!)


– Ich suche keine Haare in der Suppe. Das überlasse ich
Ihnen, Herr Kollege.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Dr. Uwe Küster [SPD]: Die Suppe haben Sie serviert!)


Außerdem bin ich kein Suppenesser.
Drittens. Die europäische Integration hat sich be-

währt. Wir haben den Aufbau Ost so, wie wir ihn in den
letzten zehn Jahren vollziehen konnten, auch mit beacht-
licher Unterstützung und Hilfe der Europäischen Union
vollzogen. Ich möchte hier ausdrücklich an Jacques
Delors erinnern, der vier- oder fünfmal in der Zeit seiner
Amtstätigkeit mit den Ministerpräsidenten der ostdeut-
schen Länder zusammengetroffen ist, um mit ihnen über
die Notwendigkeiten des Aufbaus dieses Teils Deutsch-
lands zu diskutieren, seine Hilfe anzubieten und vor allem
die Probleme zu verstehen. Da gibt es bis heute Verstän-
digungsschwierigkeiten. Das will ich gerne zugeben.

Hier ist schon viel über die Entscheidung gesprochen
worden, die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion
kurzfristig zu verwirklichen. Ich möchte noch einmal da-
ran erinnern, dass der Sachverständigenrat zur Begut-
achtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung am
20. Januar der Bundesregierung empfohlen hatte, die
D-Mark gewissermaßen als Krönung, als Schlusspunkt
der Entwicklung einzuführen, zunächst einmal in der
DDR die Marktwirtschaft zu verwirklichen, dann der
DDR Zeit zu lassen, bis sie dahin kommt, dass sie eine
Konvertibilität zwischen der Ostmark und der D-Mark
herstellen kann, und dann, wenn sich diese Konvertibilität
bewährt haben sollte, die D-Mark einzuführen. Selten
habe ich von Sachverständigen so viel Unverstand gele-
sen wie in diesem Gutachten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Gleichwohl war es dann, wie ich meine, eine mutige Ent-
scheidung der Bundesregierung unter Führung von
Helmut Kohl, wenige Wochen nach der Vorlage dieses
Gutachtens, das – ich empfehle Ihnen die Lektüre in den
Archiven – von weiten Teilen positiv aufgenommen
wurde, genau das Gegenteil zu beschließen. Es ist hier ge-
sagt worden, das sei vorrangig eine politische Ent-
scheidung gewesen. Das ist zweifellos richtig. Zweifellos
haben auch die Wanderbewegungen der Übersiedler von
Ost nach West eine wichtige Rolle gespielt. Aber ich
möchte ausdrücklich feststellen: Die Entscheidung war
auch ökonomisch richtig. Denn unterstellen wir einmal,
es wäre möglich gewesen, die Bürgerinnen und Bürger in
der damaligen DDR dazu zu überreden, dort zu bleiben,
wo sie sind, und zunächst einmal zu versuchen, mit einer
gewissen Hilfe aus dem Westen ihre Probleme selbst zu






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lösen – es gibt doch hier in diesem Haus niemand, der
glaubt, dass das funktioniert hätte


(Zuruf von der CDU/CSU: Doch, Frau Luft!)

– gut; lassen wir das –: Die Folgen für Westdeutschland
wären ökonomisch viel katastrophaler gewesen. Denn
wenn der Zeitpunkt gekommen wäre, zu dem die wande-
rungswilligen Teile der Bevölkerung der damaligen DDR,
nämlich diejenigen, die sich Berufschancen in West-
deutschland ausrechnen konnten, also die Facharbeiter,
die Ingenieure, die Techniker und andere, die ja über eine
exzellente Ausbildung und außerdem über die in West-
deutschland völlig abhanden gekommene Fähigkeit zur
Improvisation verfügten,


(Heiterkeit)

gewandert wären und die Summe der zurückbleibenden
Arbeitskräfte unterhalb einer kritischen Masse gelegen
hätte, dann wäre der Aufbau in Ostdeutschland unmöglich
gewesen. Dann, aber nur dann wäre es zu einer dauerhaf-
ten Alimentationssituation gekommen. Diese Alimentati-
onssituation wäre nicht nur mit großen politischen, son-
dern auch mit enormen ökonomischen Kosten verbunden
gewesen, und zwar weitgehend ohne Aussicht auf Verän-
derung. Deshalb war die Entscheidung richtig.

Es ist schon von Herrn Kollegen Waigel gesagt
worden, dass die Anregung, die sich jetzt beim DIW wie-
derholt, einen anderen Umrechnungskurs zu wählen,
schlicht an der Wirklichkeit vorbeiging.


(Dr. Theodor Waigel [CDU/CSU]: Wohl mehr!)

Das Einkommensniveau in der DDR lag zwischen 700
und – das waren Höchsteinkommen, aber nur in ganz
seltenen Fällen – 3 000 Ostmark. Der Industriearbeiter hat
zwischen 900 und 1 100 Ostmark verdient. Eine Umstel-
lung im Verhältnis von nur 1:3 hätte bedeutet, dass er ein
Zehntel dessen verdient hätte, was sein westdeutscher
Kollege verdient hat. Es ist eine völlig abwegige Vorstel-
lung, dass man bei den Einkommen anders als 1:1 hätte
umstellen können.


(Beifall des Abg. Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.])

Ich möchte daran erinnern, dass die 1:1-Umstellung

dazu geführt hat, dass wir im Herbst 1990 beim Aufbau
des öffentlichen Dienstes mit 35 Prozent der Westgehäl-
ter angefangen haben. Es war gar nicht so einfach, gute
Leute für dieses Geld zu halten. Wir mussten Aus-
nahmeregelungen schaffen, um den unbedingt erforderli-
chen westdeutschen Sachverstand dazu bewegen zu
können – notwendige Voraussetzung war ohnehin der Ide-
alismus –, nach Osten zu kommen. Wir haben diese Son-
derregelungen geschaffen. Dass der öffentliche Dienst
inzwischen, nach zehn Jahren, 86 Prozent verdient – das
ist immer noch mehr als das, was durchschnittlich in der
Wirtschaft verdient wird –, zeigt den relativ langen Weg
des Aufbaus der Einkommen.

Die Entscheidung war richtig. Aber mindestens ebenso
wichtig ist mir die Feststellung, dass die Bundesrepublik
Deutschland diese Entscheidung eindrucksvoll verkraftet
hat.

Ich möchte in diesem Zusammenhang nur zwei Daten
nennen: Es geht zunächst um die Schätzung der Kosten.
Die Schätzung der Kosten, so wird gesagt, sei weitgehend
verkehrt gewesen. Ich darf diejenigen, die sich schon
1990 im Bundestag befunden haben, daran erinnern, dass
wir am 7. Februar 1990 eine Aktuelle Stunde zur Frage der
Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion hatten.
Das ganze Haus hat meiner Feststellung, die Kosten der
Einheit seien kalkulierbar und sie würden nicht höher sein
als der Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts bei angemes-
senem Wachstum, zugestimmt. Der Zuwachs des Brut-
toinlandsprodukts bei angemessenem Wachstum lag,
nicht inflationsbereinigt, sondern nominal, bei ungefähr
4,5 Prozent. 4,5 Prozent waren damals rund 100 Milliar-
den DM. Der Einzige, der damals mitgerechnet hatte, hat
einen Zuruf gemacht. Das war Graf Lambsdorff. Er hat
gesagt, das sei ziemlich viel. Aber keiner hat sich daran
gestört.

In den letzten zehn Jahren haben wir pro Jahr eine
durchschnittliche Transferleistung von 4,5 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts gehabt. Wir haben diesen Ein-
bruch in der gesamtdeutschen Leistungsfähigkeit inner-
halb von wenigen Jahren überwunden. Das Bruttoin-
landsprodukt pro Kopf der Bevölkerung – einschließlich
Ostdeutschland – hat im Jahre 1997 wieder das Niveau
von 1990 erreicht und liegt heute wesentlich höher. Es
entwickelt sich wieder genau parallel und im Übrigen mit
dem gleichen Abstand zum durchschnittlichen Brutto-
inlandsprodukt pro Einwohner der 14 anderen EU-Staaten
und liegt an der Spitze.

Aus Sicht zum Beispiel der Botschafter, die diese Zah-
len kennen, heißt das: Deutschland hat, was das Bruttoin-
landsprodukt pro Kopf der Bevölkerung angeht, innerhalb
von sieben Jahren die Integration von 17 Millionen Men-
schen, eines Drittel seines Territoriums und einer bank-
rotten Wirtschaft verkraftet. Das ist das eigentlich Ent-
scheidende.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie des Abg. Werner Schulz [Leipzig] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Im Zusammenhang mit dem Bruttoinlandsprodukt pro
Erwerbstätigen, also der gesamtwirtschaftlichen Arbeits-
produktivität, ist die Sache noch eindrucksvoller. Hier hat
die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von fünf Jah-
ren das Niveau von 1990 erreicht und eilt inzwischen im
Durchschnitt mit steil ansteigender Kurve wieder in dem
alten Abstand vor den anderen 14 EU-Staaten nach oben.

Das heißt, wir haben keinerlei Anlass, zu sagen, dass
uns die Kosten der deutschen Einheit dauerhaft beschä-
digt hätten. Was wir getan haben, ist: Wir haben dreimal
auf den Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts verzichtet.
Aber wir haben keine Nettobeeinträchtigung, jedenfalls
nicht beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölke-
rung. Dass die Zuwächse, soweit sie nach Ostdeutschland
transportiert werden mussten, von der Bevölkerung getra-
gen werden mussten, davon war hier schon die Rede. Ge-
nau das macht im Übrigen die solidarische Leistung aus.

Lassen Sie mich zum Schluss auf einige Fehler und
Schwierigkeiten, die uns in Zukunft weiter beschäftigen




Ministerpräsident Dr. Kurt Biedenkopf (Sachsen)

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werden, aber auch auf einige wichtige Aussichten hin-
weisen. Ehe ich das tue, habe ich die Bitte, sich mit der
Begrifflichkeit zu befassen. Herr Kollege Schwanitz hat
so oft von „Ostdeutschland“ und von den „Regionen“ ge-
sprochen, dass ich ihn im Verdacht habe, eine Länder-
neugliederung zu planen.


(Heiterkeit bei der SPD – Dr. Emil Schnell [SPD]: Das ist aber auch überfällig!)


Es gibt dieses Ostdeutschland vielleicht geographisch,
aber nicht politisch. Die Präsidentin der Sächsischen Kir-
chenleitung hat mir auf dem letzten Treffen erzählt, sie
habe ihren heute 20-jährigen Sohn gefragt, ob er sich als
Ostdeutscher oder als Deutscher empfinde. Die Antwort
dieses jungen Mannes sei gewesen: Er fühle sich als Deut-
scher und dann, wenn er mit einem Bayern zusammen-
komme, als Sachse.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P.)


Ich bin ziemlich sicher, dass die Menschen in Thürin-
gen, in Mecklenburg-Vorpommern, in Brandenburg und
insbesondere natürlich in Berlin


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Richtig!)

ein ähnliches Selbstverständnis im Hinblick auf ihre Iden-
tität haben, weswegen, Herr Kollege Schwanitz, ich nicht
glaube, dass das Suchen nach einem ostdeutschen Selbst-
verständnis und einem ostdeutschen Leitbild zu den wich-
tigsten Aufgaben gehört, die uns gestellt sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Sabine Kaspereit [SPD]: Das ist schon nötig, Herr Biedenkopf!)


Zum Zweiten sollten wir uns irgendwann einmal abge-
wöhnen, von „den neuen Bundesländern“ zu reden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker
hat bei seinem ersten Besuch in Sachsen in einer Rede im
Rathaus zum Ausdruck gebracht, Sachsen gehöre zu den
ältesten Bundesländern in Deutschland und sei deshalb ei-
gentlich nicht als „neues Bundesland“ zu bezeichnen. Da
kann ich ihm nur Recht geben. Wir sollten daher anfan-
gen, so wie wir selbstverständlich in Westdeutschland dif-
ferenzieren, auch in Ostdeutschland zu differenzieren.
Die Dinge sind verschieden, aber nicht notwendigerweise
besser oder schlechter. Diese Verschiedenheit ist für die
Menschen wichtig. Gerade wenn wir ihnen das Gefühl ei-
ner eigenen Identität geben wollen, die sie auch in den
letzten zehn Jahren erarbeitet haben, sollten wir diese
nicht immer wieder mit unserer Begrifflichkeit relativie-
ren.

Die wichtigste Aufgabe liegt – das ist keine Frage –
nach wie vor im Arbeitsmarkt, wobei wir eine zuneh-
mende Diskrepanz zwischen einer hohen und wachsen-
den Zahl von Langzeitarbeitslosen und einem ebenfalls
wachsenden Mangel an Facharbeitern haben. Wenn es uns
nicht gelingt, diese Entwicklung in den Griff zu bekom-
men, ist vorhersehbar, dass nicht der Mangel an Geld,
sondern der Mangel an Facharbeitern – an Ingenieuren

und Technikern in allen Bereichen, vor allen Dingen aber
an Facharbeitern – die eigentliche Wachstumsbremse bei
einem weiteren Aufbau der Länder im Osten Deutsch-
lands wird.

Deshalb begrüße ich, dass die Bundesregierung jetzt
auf experimentelle Weise versucht, neue Wege im Bereich
der Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zu finden. Wir be-
teiligen uns im Freistaat Sachsen an diesen Versuchen.
Wir haben sie 1998 angeregt. Unser Vorschlag war, Ar-
beitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenzuführen, weil
wir glauben, dass die Instrumente, so wie sie jetzt gestal-
tet sind, nicht geeignet sind, die Probleme zu lösen, mit
denen wir es gerade in diesem Bereich zu tun haben.

Die zweite wirklich große Herausforderung wird die
demographische Entwicklung sein. Die nächsten zehn
Jahre müssen vor allem der Frage gewidmet werden, wie
wir mit den Konsequenzen der demographischen Ent-
wicklung in Deutschland fertig werden. Dieses Problem
ergibt sich in der Tat aus den Folgen der deutschen Ein-
heit, insbesondere aus dem Geburtenverhalten der Ost-
deutschen. Wir haben im Vergleich zu 1991 heute noch
etwa 50 Prozent der Grundschüler an unseren Schulen.
Dieser Rückgang der Zahl der jungen Menschen wird sich
jetzt durch das ganze Schulsystem ziehen und in zehn, elf
Jahren die Universitäten erreichen. Es ist vorhersehbar,
was es gerade im Blick auf den von Herrn Schwanitz an-
gedeuteten und von uns seit Jahren nachhaltig betriebenen
Aufbau von neuen wissenschaftlichen Kompetenzen be-
deutet, wenn wir hier an der Knappheit von geeigneten
Frauen und Männern, die bereit sind, sich in diese Rich-
tung auszubilden, scheitern sollten. Hier liegt in Zukunft
eine der wirklich großen Herausforderungen für die wei-
tere Entwicklung in ganz Deutschland.

In diesen Zusammenhang gehört eine sachgerechte
Anschlussregelung für den Solidarpakt. Alle ostdeut-
schen Länder haben im letzten Jahr die Sachverhalte zur
Vorbereitung der Verhandlungen zusammengetragen. Wir
haben den Eindruck, dass wir in Bezug auf diese Sach-
verhalte inzwischen einen weitgehenden Konsens haben
und dass wir aufbauend auf diesen Konsens in fruchtbare
Verhandlungen treten können.

Ich begrüße es ausdrücklich, dass die letzte Zusam-
menkunft der Ministerpräsidenten mit der Bundesregie-
rung zu der gemeinsamen Feststellung geführt hat, dass
wir diese Anschlussregelung noch in dieser Legislaturpe-
riode verwirklichen wollen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Angeordneten der CDU/CSU und des Abg. Oswald Metzger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es wäre verhängnisvoll – lassen Sie mich Ihnen dies von
der Länderseite sagen –, wenn wir es nicht schafften, eine
solche Anschlussregelung vor Herbst 2002 in trockene
Tücher zu bringen. Das würde nämlich bedeuten, dass wir
Mitte 2003 erneut mit Verhandlungen beginnen müssten
und dass alle Länder im Osten, die einen Doppelhaushalt
haben, ihre Haushalte nicht beraten und beschließen
könnten, weil sie nicht wüssten, wo sie im Jahr 2005 ste-
hen werden. Wir müssen das also zwei, drei Jahre vorher
wissen; daher brauchen wir einen Beschluss vor der Bun-
destagswahl. Meine Bitte an dieses Hohe Haus ist, uns ge-
rade in dieser Frage zu unterstützen.




Ministerpräsident Dr. Kurt Biedenkopf (Sachsen)


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(B)


Da ich heute Morgen aus Breslau, einer Stadt, die heute
auch aus Sicht der Polen eine deutsche Stadt ist, gekom-
men bin – dort hat Kurt Masur gestern Abend aus Anlass
der 1000-Jahr-Feier ein wunderschönes Konzert gege-
ben – und hier verschiedentlich die „blühenden Land-
schaften“ zitiert worden sind, möchte ich mir eine Be-
merkung dazu erlauben. Ich habe Helmut Kohl immer an-
ders verstanden, nämlich so, dass es im Vergleich zu
anderen Regionen der Erde, insbesondere Europas,
blühende Landschaften werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei der SPD)


Verehrte Frau Kollegin Kaspereit, das habe ich im Frei-
staat Sachsen von Anfang an gesagt und dafür habe ich
immer Mehrheiten bekommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Vielleicht hätten Sie dies in anderen ostdeutschen Län-
dern, insbesondere in Sachsen, auch so deutlich sagen sol-
len.


(Sabine Kaspereit [SPD]: Der Kanzler hat es anders gesagt!)


Wie gesagt, ich bin auf die blühenden Landschaften ge-
kommen, weil ich gerade aus Breslau komme. Und wenn
man aus Tschechien oder aus Polen nach Sachsen zurück-
kehrt, dann weiß man, was blühende Landschaften sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wenn man dagegen davon ausgeht – dies sage ich, um
Ihren Unmut aufzunehmen –, dass man 40 Jahre Rück-
stand in zwei oder drei Jahren aufholen kann, dann ist dies
eine Illusion. Und dies hat Helmut Kohl den Ostdeutschen
ebenso wenig vorgetragen wie ich.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Zum Schluss möchte auch ich einen Dank ausspre-
chen. Theo Waigel hat einer ganzen Reihe von Persön-
lichkeiten gedankt. Ich schließe mich neben dem Dank an
Helmut Kohl, dessen Leistung im Zusammenhang mit der
deutschen Einheit unbestritten ist und unbestritten bleiben
wird, auch dem Dank an Lothar de Maizière an;


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und des Abg. Werner Schulz [Leipzig] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


denn er hat mir sehr geholfen hat, die Probleme in Ost-
deutschland kennen zu lernen.

Vor allen Dingen aber möchte ich den Menschen dan-
ken, die in den letzten zehn Jahren eine unglaubliche Leis-
tung erbracht haben, eine Leistung, die man sich im Wes-
ten nicht vorstellen kann. Da liegt in der Tat ein
signifikanter Unterschied. Diese Menschen nämlich ha-
ben praktisch all ihre bisherigen Sozialisierungserfahrun-
gen aufgeben müssen. Nichts von dem, was sie gewohnt
waren, ist geblieben. All das, was gekommen ist, war völ-
lig neu. Wenn ein Chemiker im Alter von 55 Jahren auf-
steht und fragt: Wofür braucht man Eigentum?, dann spie-
gelt sich darin diese ganze Dramatik wider. Er konnte dies
nicht lernen, denn es gab kein Eigentum, jedenfalls kein

wirtschaftlich relevantes. Ein Mann, der auf dem Gebiet
der Naturwissenschaften gebildet war, wusste nicht, was
Institutionen leisten müssen, damit eine freie markt-
wirtschaftliche Ordnung gewährleistet ist. Er musste dies
erst einmal begreifen. Das war ein unglaublicher Lern-
prozess.

80 Prozent aller Arbeitsplätze haben sich verändert.
Am Anfang betrug die Arbeitslosigkeit 40 Prozent. Trotz-
dem gab es keine blockierten Autobahnen, keinen Auf-
stand und keine sozialen Demonstrationen. Es gab den
Willen der Menschen, mit der Hilfe, die ihnen die West-
deutschen gewährt haben, vor allem aber mit dem Glau-
ben an ihre eigene Leistungsfähigkeit mit dieser Situation
fertig zu werden. Und in der großen Mehrheit sind sie da-
mit fertig geworden. Sie werden auch mit den Problemen
fertig werden, die noch vor uns stehen; davon bin ich
überzeugt. Es wird immer einige geben, die verlieren.
Diese Menschen brauchen unsere Hilfe und unsere Un-
terstützung. Die große Mehrheit aber hat gewonnen und
sie sieht dies auch so. Für diese Leistung möchte ich
heute, nach zehn Jahren, besonders danken.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411201900
Letzter Redner in die-
ser Debatte ist der Kollege Dr. Mathias Schubert, SPD-
Fraktion.


Dr. Mathias Schubert (SPD):
Rede ID: ID1411202000
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in den
letzten zwei Stunden versucht, mit Blick auf einen sym-
bolträchtigen Tag, den 1. Juli 1990, als Beginn der
Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion eine kritische,
partiell auch selbstkritische Zwischenbilanz der Nach-
wendezeit zu ziehen. Zehn Jahre sind eine historisch
kurze Zeitspanne; im Leben der Menschen im Osten sind
diese zehn Jahre jedoch ein bedeutender Teil.

Weil Herr Ministerpräsident Biedenkopf dies ange-
sprochen hat, will ich doch einmal definieren, was ich un-
ter „Osten“ verstehe. Ich meine also die Länder Branden-
burg, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-An-
halt, Sachsen und Thüringen, und zwar in all ihren
historischen und politischen Besonderheiten sowie wirt-
schaftlichen und regionalen Differenzierungen, die sie
auch innerhalb der letzten zehn Jahre erfahren haben.

Die Bewertung „Erfolg gegen Misserfolg“ hing – so
auch bei dieser Debatte hier – stark von der Perspektive
des jeweiligen Betrachters ab: auf der einen Seite dieses
„Toll, was wir in zehn Jahren geschaffen haben!“ und auf
der anderen Seite dieses „Schade, dass wir nicht mehr er-
reicht haben!“ Die Wertung all dessen, was schief gelau-
fen ist oder als großer Wurf gefeiert werden kann, ist
natürlich auch eine Frage des zeitlichen und des qualitati-
ven Maßstabs, sicher auch der eigenen politischen Posi-
tion. Insofern war die Debatte, die bisher hier zu diesem
Thema geführt worden ist, ausgesprochen konstruktiv.




Ministerpräsident Dr. Kurt Biedenkopf (Sachsen)

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Aber eines, Frau Kollegin Luft, möchte ich dann doch
sagen: Sie erwecken – zumindest in dem ersten Teil Ihrer
Rede klang das zwischen den Zeilen an – den Eindruck,
als sei der Osten das Jammertal und der ehemalige Sozia-
lismus der Heilsbringer für Deutschland. Das ist falsch.


(Dr. Christa Luft [PDS]: Eine richtige Floskel!)


Mir liegt Gelingen mehr als Scheitern. So bin ich froh
über jedes überwundene kleine oder große Problem des
deutschen Transformationsprozesses. Aber ich weigere
mich, an einem Tag wie diesem alte oder neue Probleme
schönzureden wie ein dazu bestellter Sonntagsredner.
Auch wenn im Alltag die Erinnerungen an Geschehnisse
und Stimmungen aus der Wendezeit zu verblassen begin-
nen, manchmal weit entfernt scheinen durch die Fülle der
Ereignisse, die dazwischengetreten sind, gönne ich mir
zunächst eine ganz persönliche Bemerkung. Dieser 1. Juli
1990 – vielleicht teilen Sie meinen Eindruck –, das war
ein Tag: ein Volk, eine Währung, der sichere Wechsel auf
die gemeinsame Zukunft!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Theodor Waigel [CDU/CSU])


Ich gebe gerne zu, dass ich an diesem Sonntag ebenso
fröhlich und mit den gleichen feuchten Händen wie meine
Nachbarn im beschaulichen brandenburgischen Mark-
grafpieske den Geldtransporter vor unserem Dorfpostamt
begrüßte. Ja, diese Stimmung gehörte auch dazu. Dieser
Augenblick hatte natürlich auch etwas Symbolisches: Er
brachte ein Stück Freiheit, sich endlich im Westen bewe-
gen zu können ohne dieses Unbehagen, sich dauernd ali-
mentiert fühlen zu müssen, und gleichzeitig die Gewiss-
heit, sein eigenes Einkommen fortan in D-Mark zu erhal-
ten.

Auch ich habe – zumindest an diesem Tag – der weit-
verbreiteten Illusion einer schmerzfreien, mindestens
aber einer schmerzarmen Einfügung der DDR in die Bun-
desrepublik angehangen. Diese Illusion nährte sich aus
zweierlei: einer Unterschätzung der Wirtschaftskrise der
DDR und – das sage ich ganz offen – einer gewissen
Überschätzung der Wirtschaftskraft der Bundesrepublik.
Das hatte – dies erkennt man im Rückblick der Jahre –
auch damit zu tun, dass die damalige Koalition mit Illu-
sionen erfolgreich Politik machen konnte. Denn unmittel-
bar wirksam wurden im Sommer 1990 nicht nur der Geld-
umtausch und die erforderlichen Abschluss- und Eröff-
nungsbilanzen der Unternehmen, wirksam wurden auch
grundlegende Richtungsentscheidungen im Rahmen der
Wirtschafts- und Sozialunion.

Wirtschaftsunion hieß trotz aller Ungleichheiten der
Chancen und Bedingungen gemeinsamer Markt. Sozial-
union hieß ebenso konsequent Übernahme des westdeut-
schen Sozialgesetzbuches und damit angesichts absehba-
rer flächendeckender Massenarbeitslosigkeit eine ex-
treme Belastung der öffentlichen Haushalte wie der
Sozialhaushalte über die Jahre hinweg.

Wie konkret dieses Gespenst werden konnte, war spä-
testens klar, als der Umrechnungskurs auf 1:1 bzw.
1:2 festgelegt worden war. Durch diese schlagartige Auf-

wertung verloren die gesamten DDR-Betriebe im produ-
zierenden Gewerbe alle Chancen auf neue Märkte und
verloren natürlich auch heftigst auf ihren alten traditio-
nellen Ostmärkten.

Die damalige Bundesregierung war sich der drohenden
Brüche und Schmerzen durchaus bewusst. Kollege
Wolfgang Schäuble beschreibt diese Situation auch ganz
offen in seinem Buch „Der Vertrag“, aus dem ich einige
wenige Sätze zitiere. Er schreibt:

Es war Lothar de Maizière genauso klar wie
Tietmeyer und mir, dass mit der Einführung der
Westwährung DDR-Betriebe nicht mehr konkur-
renzfähig sein würden. Wir konnten uns auch aus-
malen, in welch dramatischer Weise dieser Eingriff
sichtbar würde. Also ging es darum, wie wir verhin-
dern konnten, dass dieser Teil Deutschlands zusam-
menbrach.

Einige Seiten weiter:
Tietmeyer und ich wussten, dass auf Finanzminister
Theo Waigel schwere Zeiten zukamen: Wie hoch die
Hilfe ausfallen würde, darüber vermochten wir nur
zu spekulieren.

So weit Wolfgang Schäuble.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Wo er Recht hat, hat er Recht!)

Jeder Wirtschaftspraktiker, jede ökonomische Theorie

musste deshalb 1990 eigentlich anraten, der DDR-Regie-
rung viel Zeit für eine zunächst selbstständige Entwick-
lung zu geben. Doch in der Praxis – das wissen wir alle –
gab es diese Alternative in Wirklichkeit nie. Haupt-
grund war aber nicht der ostdeutsche Ruf „Kommt die
D-Mark nicht zu uns, gehen wir zu ihr“, wie es damals auf
den Plakaten häufig zu lesen war. Hauptgrund war ein an-
derer: Kein verantwortlicher Politiker und natürlich auch
keine verantwortliche Politikerin in Ost wie in West
konnte die Wiedererrichtung von Zoll- und Währungs-
grenzen in Deutschland vertreten. Ich glaube, auch kein
Bürger, weder in West noch in Ost, hätte dies geduldet.

Wenn wir heute über den Vereinigungsprozess urteilen,
müssen wir zwei Tatsachen betrachten: Einerseits war die
DDR ungeeignet, in so kurzer Frist integrierter Teil einer
der wettbewerbsfähigsten westlichen Marktdemokratien,
nämlich der alten Bundesrepublik, zu werden. Und doch
war andererseits in der Realität diese sofortige Integra-
tion unausweichlich. Die schwerwiegenden Folgen der
schnellen Vereinigung im Rahmen der Wirtschafts-,
Währungs- und Sozialunion waren also ebenso voraus-
sehbar wie unvermeidlich.

Ich will jetzt nicht weiter auf den 10 Jahre danach er-
neut hochkochenden Streit der Wissenschaftler und der
Finanzpolitiker zu diesem Thema eingehen. Wir sollten
uns auch hüten, über das vereinte Deutschland vorwie-
gend unter finanziellen Gesichtspunkten zu reden: Was
kostet die Einheit? Wer bezahlt sie? Wer hat sie bezahlt
und wer wird sie weiter bezahlen?

Gleichwohl erleben wir, dass 10 Jahre nach dem
In-Kraft-Treten der Wirtschafts-, Währungs- und Sozial-
union die Gestaltung der Vereinigung häufig genug zu




Dr. Mathias Schubert

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einem reinen Belastungsdiskurs gemacht worden ist: zu
wenig Hilfe für die einen, zu viel an Belastungen für die
anderen. Die Verantwortung für diese bedrückende Ent-
wicklung liegt vorwiegend bei Ihnen, liebe Kolleginnen
und Kollegen auf der rechten Seite des Hauses. Das muss
ich schon sagen. Sie haben es damals versäumt, den Men-
schen in Ost- und Westdeutschland die Wahrheit zu sagen.
Ob Sie die Wahrheit gewusst haben oder ob Sie sich ge-
irrt haben, mag offen bleiben.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Was ist denn die Wahrheit?)


Darüber will ich auch nicht urteilen.
Fest steht, dass Sie den Menschen im Osten ein schnel-

leres Erreichen der viel beschworenen blühenden Land-
schaften versprochen haben, und zwar in einer anderen In-
terpretation und in einem anderen Verständnis, als Sie,
Herr Biedenkopf, es eben gesagt haben.


(Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Was Sie erzählen, ist dummes Zeug!)


Denen im Westen wurde versprochen, dass die Steuern
nicht erhöht werden müssten, um die Kosten der Einheit
zu finanzieren. Es ist erstaunlich, wie schnell Sie verges-
sen wollen und wahrscheinlich auch müssen. Beide Ver-
sprechen waren falsch, konnten nicht eingehalten, muss-
ten gebrochen werden.


(Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Sie hätten dies alles gewusst?)


Wenn das DIW bei aller Kritik, die man an diesem Be-
richt üben muss, in seiner 10-Jahres-Bilanz die Wirt-
schafts-, Währungs- und Sozialunion als ein Musterbei-
spiel dafür bezeichnet, dass für den Primat der Politik über
die Ökonomie oft ein hoher Preis zu zahlen ist, dann ist
dem zwar uneingeschränkt zuzustimmen, aber es gab
eben keine Alternative zu dem, was gemacht worden ist.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Jetzt widersprechen Sie sich aber!)


Ich kann den früheren Bundesbankpräsidenten Karl
Otto Pöhl verstehen, wenn er gestern in der „Süddeut-
schen Zeitung“ in einem ausführlichen Interview von sei-
ner tiefen Brüskierung spricht und die Einführung der
Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion als eine „Panik-
reaktion aus der Hüfte geschossen“ beschreibt.


(Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Quatsch!)


Aber auch da gilt: Es gab keine Alternative. – Urteilen Sie
doch, nachdem Sie mich haben aussprechen lassen und
nicht vorher!

Ich hätte mir schon gewünscht, dass diese kritischen
Stimmen bereits in der Deutlichkeit 1990 zu hören gewe-
sen wären, und zwar nicht gegen die Wirtschafts-,
Währungs- und Sozialunion, sondern gerade weil sie po-
litisch notwendig und unausweichlich war. Da die
Währungsunion konsequent mit politischer Symbolik
verknüpft wurde, wurden die kritischen Stimmen, die
durchaus Richtiges über die belastenden Folgen dieser
Entscheidung ausgesagt hatten, schnell als Einheitsgeg-

ner abgemahnt. Das ist die Hypothek, die Sie zu tragen ha-
ben.


(Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Ihr müsst doch einmal klatschen!)


Die Weitsichtigsten auch bei Ihnen – ich habe den Kol-
legen Schäuble vorhin zitiert – wussten um die Unaus-
weichlichkeit der Notwendigkeit und der Probleme der
Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion. Aber sie haben
sie öffentlich nicht benannt. Die offizielle Version, die
Portokasse finanziert die Einheit, war aus wahltaktischen,
das heißt aus machttaktischen Gründen selbstverständlich
erfolgreich. Für das Zusammenwachsen aber wurden da-
durch Ressentiments begründet, die zwischen Ost und
West bis heute wirken.

Politische Verantwortung darf sich nicht in Illusionen
und Machttaktik erschöpfen. Die Folgen dafür haben alle
zu tragen. Wir werden das Thema noch einmal behandeln,
wenn wir über den Solidarpakt 2 reden, zu dem ich nach-
her kurz noch ein paar Bemerkungen machen werde.

Zur Beschreibung des ostdeutschen Transforma-
tionsprozesses gehört es auch, über die Befindlichkeiten,
über die Erfahrungen und das Selbstverständnis der Ost-
deutschen einige Gedanken zu äußern. Der wirklich ent-
scheidende, der substanzielle Wandel musste sich bei den
Menschen vollziehen.

Günter de Bruyn formulierte seine Momentaufnahme,
die vermutlich uns allen oder zumindest vielen bekannt
ist, damals so:

Also hat die Nation schlechte Laune. Sie ist wieder
vereint, aber nicht glücklich.

Richard Schröder, unser erster SPD-Fraktionsvor-
sitzender in der Volkskammer und früherer Kollege im
Bundestag, hat für dieses Gefühl der Zerknirschtheit eine
scheinbar plausible Erklärung:

Der Maßstab, an dem wir die innere Einheit messen,
ist der Jubel der Nacht der Maueröffnung.

Doch nicht einmal temperamentvollere Menschen als die
Deutschen – Brasilianer oder Spanier vielleicht – können
sich Tag für Tag in den Armen liegen und „Wahnsinn“
schreien.

Ich glaube, die Bilanz der Einheit kann sich zumindest
in einem weiteren, nicht ganz unwichtigen Punkt, auf den
auch hingewiesen werden muss, sehen lassen. Während
zum Beispiel Korsen für ihre Unabhängigkeit kämpfen,
während eine Lega Nord in Italien marschiert, um den ar-
men Süden abzuschütteln – wir könnten noch viele andere
Beispiele aufführen –, käme niemand bei uns, weder in
West- noch in Ostdeutschland, darauf, für die Unabhän-
gigkeit zu kämpfen. Ich hoffe, dass es auch die reichen
Südstaatler in Deutschland nicht so weit treiben werden.

Im Vergleich zu anderen Völkern sind wir Deutschen
uns doch recht einig. Der Vorrat an Gemeinsamkeiten in
Ost und West ist groß genug, um die Unterschiede auszu-
halten, zu benennen und wenn nötig, natürlich auch im
Streit miteinander auszutragen.


(Beifall bei der SPD)





Dr. Mathias Schubert
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Wir sollten ganz im Sinne der fünf bzw. sechs Länder
und im Sinne von deren wachsendem Selbstbewusstsein
versuchen, von der verbliebenen Vielfalt zu profitieren,
und nicht Walter Ulbrichts Ideale von der Menschenge-
meinschaft – er meinte natürlich eine sozialistische – un-
ter dem Etikett der inneren Einheit neu aufleben lassen.

Wir sollten von der Politik nicht fordern, sie solle ein
Gemeinschaftsgefühl herstellen. Politik, die Gefühle pro-
duzieren oder provozieren will, ist mir immer noch un-
heimlich. Die Politik kann dafür allenfalls Voraussetzun-
gen schaffen.

Ministerpräsident Biedenkopf hat einmal in realisti-
scher Weise formuliert, der Vollzug der deutschen Einheit
stelle ein gesamtdeutsches Reformwerk dar. Dabei ha-
ben die Reformerfahrungen, die die Ostdeutschen für den
umfassenden Reformbedarf in Westdeutschland und in
Europa mitbringen, einen Prozess in Richtung auf ein
neues Selbstbewusstsein angestoßen.

Die politischen und ökonomischen Prozesse im Ver-
lauf der Transformation hatten zunächst – wir wissen das
alle – häufig zu biografischen Entwertungserfahrungen
geführt. Alltägliche Verhaltensmuster, berufliche Kennt-
nisse, soziale Erfahrungen und politische Überzeugungen
hatten ihren Bezug auf ein völlig anderes System mit völ-
lig anderen Werten und Zusammenhängen. Ich bin mir si-
cher, dass sich diese notwendigen und oft schmerzvollen
Transformationserfahrungen in der Zukunft als ein wich-
tiger Vorteil erweisen werden.

Die schwierigen neuen Bedingungen haben ein solches
Maß an Flexibilität, Mobilität und Anpassungsbereit-
schaft abverlangt, wie es kaum eine Generation zuvor er-
lebt hat. Genau daraus entwickelt sich ein Selbstbewusst-
sein, das sich aus dem Gefühl eigener Leistung und eines
selbst erarbeiteten Erfahrungsvorsprungs ableitet: Wir
sind gut, wir sind zum Teil besser als manche Westdeut-
sche, mobiler, flexibler und kreativer.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Auch soziologische Studien belegen diesen Trend. Ge-

genwärtig finden deshalb – das ist kein Zufall, sondern
hängt mit dieser Entwicklung zusammen – in vielen Be-
reichen, etwa der ostdeutschen Wirtschaft, Selbstorgani-
sationsprozesse zur Bündelung der Kräfte, der Innovati-
onsfähigkeit und zur Organisation eines offensiven, glo-
balen Marktzugangs statt. Dabei setzen wir vor allem auf
die zukunftsfähigen Wirtschaftsbranchen, wie etwa die
Werkstoffentwicklung, die Biotechnologie oder die Infor-
mationstechnologie. Dieser innovative und konsequente
organisierte Selbstorganisationsprozess findet unter ande-
rem unter dem Stichwort der Regionalisierung statt. Man
könnte daher sagen, dass unter denjenigen, die sich daran
beteiligen ein regelrechter Aufbruch auch des eigenen
Selbstbewusstseins stattfindet. – Das ist der eine Aspekt.

Es gibt aber auch noch einen anderen Aspekt, nämlich
den der neuen Qualität des Transformationsprozesses.
Einer der Kernpunkte dabei wird sein – hierin hat Kollege
Schwanitz Recht –, das Ziel dieses Prozesses neu zu be-
stimmen. Darüber müssen wir einmal an einer ganz ande-
ren Stelle reden. Bisher hieß eines der Ziele „Anpassung
der Lebensverhältnisse Ost an West“. Anpassung oder

Angleichung sind im Übrigen teilweise irreführende
Begriffe. Angleichung ist nur insofern richtig, als dieser
Begriff in der Verfassung steht und einen Anspruch der
Ostdeutschen legitimiert. Er verlangt zum Beispiel, dass
sich der Staat um annähernd gleiche Lebensverhältnisse
zu bemühen hat. Er legitimiert unter anderem, dass So-
zialhilfeansprüche im Osten in gleicher Weise wie im
Westen gelten.

Doch bedeutet Angleichung wirklich den gleichen Pro-
Kopf-Verbrauch an Spreewaldgurken in Ost und West?
Heißt Angleichung wirklich, dass neben Hansa Rostock
und Energie Cottbus auch der VfB Leipzig in der Bun-
desliga spielt? Sind wir dann gleich, wenn die Westdeut-
schen genauso viel Rotkäppchen-Sekt trinken wie die
Ostdeutschen? Oder ist das etwa dann der Fall, wenn in
Sachsen genau so viele die PDS wählen wie in Baden-
Württemberg?


(Dr. Gregor Gysi [PDS]: Umgekehrt!)

– Nein, Herr Gysi, Sie werden mir zugestehen müssen,
dass ich den Vergleich selbstverständlich so herum ge-
bracht habe.

Ich meine schon, dass der Begriff Angleichung völlig
falsch gewählt wurde, wenn man darunter die Anwendung
gleicher Instrumente der Politik für ungleiche Verhält-
nisse versteht. Eine andere Lage verlangt andere Instru-
mente.

Ich befürchte, dass wir das mit den Mitteln und Me-
thoden, die wir bislang zur Verfügung hatten, nie schaffen
werden. Denn das künftige Ziel der Transformation wird
nicht mehr die Angleichung, sondern die Entwicklung
neuer Formen der Bündelung wirtschaftlicher Kräfte,
neuer Inhalte der aktiven Arbeitsmarktpolitik, insbeson-
dere auf den Feldern der Aus- und Weiterbildung, zu-
kunftsfähiger Formen der sozialen Sicherungssysteme,
nicht nur für den Osten, sondern eben auch für West-
deutschland, sein. Diese gesellschaftlichen und politi-
schen Innovationspotenziale wachsen – das behaupte
ich hier einmal sehr ungeschützt von dieser Stelle aus –
zurzeit, wenn ich das richtig sehe, im Osten stärker als im
Westen.

Das ist unsere gemeinsame Chance. Deshalb bin ich
mir sicher, dass wir aus ostdeutscher Erfahrung Anstöße
für gesamtdeutsche Reformen geben müssen. Ich habe
mit Freude festgestellt, dass sowohl Kollege Metzger als
auch Kollege Rexrodt gerade im Blick auf die Entwick-
lung der Wirtschaft sehr klar und sehr konkret darauf hin-
gewiesen haben, dass hier neue Möglichkeiten und Me-
thoden – hoffentlich im Konsens hier im Hause – ent-
wickelt werden müssen.

Insofern wird der Solidarpakt 2 eben auch eine ge-
samtgesellschaftliche Aufgabe für West wie für Ost sein,
eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ohne Ideologien,
ohne Illusionen und natürlich auch ohne Machttaktik. Sie
ist zum einen eine Herausforderung an den Westen, näm-
lich noch einmal die Bereitschaft zu einem großen solida-
rischen Werk zu zeigen, und sie ist zum anderen eine
Herausforderung an den Osten, nämlich mit Realitätssinn
und mit flexiblen Reaktionen auf die Situation bei uns bei
den Forderungen und neuen Überlegungen zu diesem




Dr. Mathias Schubert

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Förderprogramm, insbesondere im Bereich Wissenschaft
und Forschung, Kooperationen, Innovationen usw., zu
reagieren.


(Beifall bei der SPD)

Der Solidarpakt 2 – das ist vielleicht auch eine Mög-

lichkeit, eine solche Rede abzuschließen – ist die Fort-
führung und vielleicht sogar – das werden wir allerdings
erst in zehn oder noch mehr Jahren wissen – die Voll-
endung dessen, was mit der Wirtschafts-, Währungs- und
Sozialunion begonnen hat.


(Beifall bei der SPD)

Auch aus diesem politischen Grund scheint er mir so nötig
zu sein, wie die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion
zum 1. Juli 1990 nötig gewesen ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411202100
Ich schließe die Aus-
sprache und rufe den Zusatztagesordnungspunkt 14 auf:

Aktuelle Stunde
Auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.
Besserer Schutz der Bevölkerung – insbeson-
dere von Kindern – vor Angriffen von Kampf-
hunden

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die F.D.P.-
Fraktion hat der Kollege Dr. Guido Westerwelle.


Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1411202200
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren Kolleginnen und
Kollegen! Am vergangenen Montag ist in Hamburg ein
kleiner Junge auf eine bestialische Weise ums Leben ge-
kommen. Dieser Vorfall war der bislang schlimmste in ei-
ner lange Reihe von Zwischenfällen mit den so genannten
Kampfhunden.

Die Problematik, die mit dem Halten und mit der
Existenz dieser Tiere verbunden ist, ist seit langem be-
kannt. Es gab regelmäßig auch Ansätze, sich dieser Pro-
blematik anzunehmen. Mittlerweile wissen wir nach die-
sem tragischen Vorfall, dass diese Ansätze bislang nicht
ausgereicht haben.

Deswegen möchten wir als Freie Demokraten mit die-
ser Aktuellen Stunde auch einen Beitrag dazu leisten, dass
in diesem Hause ein überparteilicher Konsens gegen das
Halten von Kampfhunden gefunden werden kann.

Wir begrüßen ausdrücklich, dass der Bundesinnenmi-
nister in dieser Frage tätig geworden ist.


(Beifall bei der F.D.P. und der SPD)

Wir begrüßen ausdrücklich, dass die Landesinnenminister
mittlerweile tätig geworden sind. Das rechtliche Instru-
mentarium des Bundesgesetzgebers ist vergleichsweise
geringer, wenn man es mit dem vergleicht, was auf Lan-
desebene möglich ist.

Weil schon seit vielen Jahren über diese Problematik
diskutiert wird, möchte ich mir erlauben, hier zu sagen: Es

ist bedauerlich, dass die Landesinnenminister erst jetzt
gehandelt haben. Es ist bedauerlich, dass der Bundesge-
setzgeber überhaupt tätig werden muss. Aber es ist gut,
dass er es jetzt tatsächlich tut.


(Beifall bei der F.D.P.)

Wir alle haben in diesen Tagen zahlreiche Zuschriften

und zahlreiche Anrufe von Mitbürgerinnen und Mitbür-
gern bekommen, die große Angst haben. Aber es gab auch
Interventionen von denjenigen, die Kampfhunde halten.
Ich möchte Folgendes in großer Klarheit sagen: Es gibt in
jedem freiheitlichen Gemeinwesen Abwägungen, die man
vornehmen muss. Es gibt die Freiheitsrechte der einen.
Aber es gibt auch den Opferschutz und den Schutz vor
Gefährdungen der anderen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Für uns hat die Gefährdung durch Kampfhunde eine sol-
che Dimension erreicht, dass der Schutz vor Gefährdun-
gen Vorrang haben muss.


(Beifall bei der F.D.P.)

Das überwiegt alle anderen Gesichtspunkte, auch wenn
sie noch so sehr auf Selbstverwirklichung ausgerichtet
sind. Für die deutsche Politik – ich denke, ich darf das für
alle sagen; ich glaube, alle werden das hier sagen – ist der
Schutz der Bevölkerung wichtiger als die Freiheit einiger
Kampfhundebesitzer, sich weiterhin so verirrt wie bisher
verhalten zu dürfen.


(Beifall bei der F.D.P., der SPD, der CDU/CSU und der PDS)


Es hat überhaupt nichts mit den Freiheitsrechten zu tun,
wenn man sagt, man wolle auch künftig in einem freien
Land eine Art Raubtier durch die Straßen führen dürfen.

Der Begriff Kampfhund hat schon fast eine verharmlo-
sende Bedeutung bekommen. Es handelt sich um Kampf-
maschinen, um Tiere, die genetisch auf ein beson-
ders aggressives Verhalten hin gezüchtet werden, die
schmerzunempfindlich gezüchtet werden und die keiner-
lei Hemmschwellen haben. Menschen, die solche Kampf-
hunde einsetzen wollen, haben augenscheinlich selber
Persönlichkeitsprobleme.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der PDS – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Die gehören selber zum Psychiater!)


Wir lassen nicht zu, dass ein solcher Wunsch auf Kosten
der Kinder, der Schwächeren und der gesamten Bevölke-
rung geht. Das kann nicht akzeptiert werden. In Deutsch-
land hat auch niemand das Recht, ein Raubtier wie zum
Beispiel einen Löwen oder einen Tiger an der Leine über
die Straße zu führen. Ein Kampfhund ist mit Sicherheit
ähnlich gefährlich wie solche Raubtiere für ein sechs-
jähriges oder siebenjähriges Kind. Um den Schutz der
Kinder geht es.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)





Dr. Mathias Schubert
10618


(C)



(D)



(A)



(B)


Wenn man heute gelesen und in den Nachrichten ver-
folgt hat, dass zahlreiche Kampfhunde ausgesetzt werden,
dann kann man nur feststellen: Das ist eine Verirrung, die
kaum noch nachvollzogen werden kann. Wir sind der Auf-
fassung, dass die Behörden mit entsprechenden personel-
len und sachlichen Mitteln ausgestattet werden müssen,
damit das Verbot der Innenminister auch tatsächlich
durchgesetzt werden kann.


(Beifall bei der F.D.P.)

Es ist gut, dass sie ein solches Verbot durchsetzen wol-

len, und zwar bundeseinheitlich. Das werden wir parla-
mentarisch unterstützen. Es ist notwendig, dass die Län-
der, also diejenigen, die das Verbot durchsetzen müssen,
die entsprechenden Behörden auch so ausstatten, dass sie
die Einhaltung des Verbots überwachen können.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich möchte nur noch einen Schlussappell an Sie, Herr
Bundesinnenminister, richten, nachdem es im Laufe die-
ser Woche eine erhebliche politische Entwicklung gege-
ben hat: Wir werden das Problem nicht loswerden, weil
nach einem entsprechenden Verbot Kampfhunde insbe-
sondere aus osteuropäischen Ländern illegal importiert
werden. Das ist eine traurige Erscheinung. Wir wissen,
dass in anderen europäischen Ländern auch anders mit
Kampfhunden umgegangen wird, als wir es künftig in
Deutschland tun werden. Deswegen wäre es sinnvoll,
wenn sich der Bundesinnenminister mit seinen europä-
ischen Kollegen abstimmen würde, damit wir der Gefahr,
die von Kampfhunden ausgeht, im gesamten Europa be-
gegnen können. Europa kümmert sich um vieles. Hier hat
es wirklich Grund, sich gegen Kampfhunde und für den
Schutz der Bevölkerung einzusetzen.

Ich hoffe sehr, dass wir mit der von uns beantragten
Aktuellen Stunde zu einem Konsens in dieser Frage bei-
tragen. Das ist der Sinn dieser Aktuellen Stunde. Wenn
wir einen Konsens erzielen könnten, wären wir in der
Lage, kurzfristig entsprechende gesetzliche Regelungen –
sofern sie notwendig sein sollten – durchzusetzen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411202300
Es spricht jetzt der
Innensenator der Freien und Hansestadt Hamburg,
Hartmuth Wrocklage.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411202400
Frau
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Hamburg hatte die Arbeit an einer neuen Hundeverord-
nung in Umsetzung des Beschlusses der Innenminister-
konferenz von Anfang Mai, Herr Westerwelle, eine Be-
schlussfassung zum Schutz der Bevölkerung vor gefähr-
lichen Hunden, sehr weit vorangetrieben, als am Montag
dieser Woche der sechsjährige Volkan beim Spielen auf
dem Schulhof vor den Augen seiner Klassenkameraden
von zwei Kampfhunden angegriffen und getötet wurde.
Hamburg trauert um diesen kleinen Jungen.

Aber es gibt auch Zorn, Empörung und Betroffenheit.
Ich habe das am Montag in Wilhelmsburg selber erlebt. Es
ist tragisch, dass die neue Hamburger Hundeverordnung,
vom Senat am vorigen Mittwoch beschlossen, für den
kleinen Volkan zu spät kommt. Es macht ihn auch nicht
lebendig, dass der Hundehalter, der die noch im Mai er-
teilten Auflagen – Maulkorberlass, Leinenzwang – in ver-
antwortungsloser Weise ignoriert hat und jetzt unter dem
Verdacht fahrlässiger Tötung in Haft sitzt.

Die neue Hamburger Regelung, jetzt wohl die schärfs-
te in Deutschland, enthält folgende Eckpunkte: Als So-
fortmaßnahmen gelten für alle in der Verordnung aufge-
führten Hunderassen und -kreuzungen ein Maulkorb- und
Leinenzwang. Drei Hunderassen und ihre Kreuzungen
gelten ab sofort und unwiderleglich als gefährliche
Hunde, deren Haltung verboten ist. Die Möglichkeit zum
Nachweis eines so genannten berechtigten Interesses an
der Haltung eines Hundes dieser drei Rassen ist wegen
des Eingriffs in das Eigentum vorgesehen. Ein solches In-
teresse wird in der Praxis aber kaum festgestellt werden
können.

Bei zehn weiteren Rassen wird die Gefährlichkeit ver-
mutet. Halter dieser Rassen müssen innerhalb von fünf
Monaten bei den Ordnungsbehörden folgende Nachweise
erbringen: ein berechtigtes Interesse an der Haltung von
Kampfhunden, die eigene Sachkunde und die Zuverläs-
sigkeit des Hundehalters, die konkrete Ungefährlichkeit
des Hundes, die erfolgte Sterilisation bzw. Kastration des
Hundes und eine Haftpflichtversicherung für den Hund.
Erst wenn diese Nachweise erbracht sind, wird eine Er-
laubnis zur Haltung des Hundes erteilt.

Der Hund wird durch einen implantierten fälschungs-
sicheren Chip gekennzeichnet. Ordnungsbehörden und
Polizei erhalten entsprechende Lesegeräte für den Chip.
Zucht, Ausbildung und Handel mit allen in der Verord-
nung genannten Rassen sind verboten. Bei Verstoß gegen
diese Regelungen drohen die sofortige Einziehung des
Hundes und gegebenenfalls seine Tötung. Außerdem dro-
hen empfindliche Ordnungsstrafen für den Halter, die wir
künftig bis auf 100 000 DM hinaufsetzen wollen. Wir
werden unsere Steuergesetze erheblich verschärfen. Die
Steuer für den Kampfhund wird spürbar heraufgesetzt und
beträgt künftig 1 200 DM im Jahr.

Trotz dieser landesrechtlichen sehr strengen Regelun-
gen sind wir jetzt auf eine bundesrechtliche Flankierung
angewiesen. Hierbei geht es vor allem um ein strafbe-
wehrtes Zucht- und Importverbot und um Regelungen auf
der europäischen Ebene. Darin stimme ich Ihnen zu, Herr
Dr. Westerwelle. Ich möchte mich ausdrücklich bei mei-
nem Kollegen, dem Bundesinnenminister Schily, bedan-
ken, der diese Initiative mit uns zusammen vorangetrie-
ben und in das Bundeskabinett eingebracht hat.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


– Ich weiß nicht, ob Sie auch gleich noch klatschen.
An dieser Stelle möchte ich aber auch ein Wort an jene

im Bund richten – ich spreche Herrn Dr. Westerwelle di-
rekt an –, die in den letzten Tagen anklagend auf die Lan-
desgesetzgeber verwiesen haben. Wäre der Schuljunge




Dr. Guido Westerwelle

10619


(C)



(D)



(A)



(B)


am Montag in Hamburg nicht von einem Kampfhund,
sondern durch ein Butterflymesser getötet worden, dann
könnte die Freie und Hansestadt auf ihren entsprechenden
Gesetzentwurf zum Verbot gefährlicher Messer verwei-
sen, der seit langem auf Bundesebene anhängig ist und
dessen Beratung immer wieder verschoben wird.


(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das ist aber eine eigenartige Begründung! – Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Das ist zynisch!)


Hier gibt es einen Beruf des Bundesgesetzgebers zur Ge-
setzgebung. Eine Vorschaltregelung ist aus meiner Sicht
dringend erforderlich.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Erfolg
der neuen Hundeverordnung wird in allen Ländern an
ihrem Vollzug gemessen werden. Deshalb müssen die
zuständigen Behörden, Ordnungsämter und Polizei, die
neuen Verordnungen jetzt überall konsequent umsetzen
und dabei eng zusammenarbeiten. Eine entsprechende
Verstärkung der Kapazitäten ist erforderlich.

Wir brauchen jetzt auch eine stärkere Kooperation mit
den Tierschutzorganisationen, wir brauchen die Einsicht
und die Mithilfe der Bevölkerung und wir brauchen die
Unterstützung der Medien beim Kampf gegen Kampf-
hunde.

In diesen Tagen ist die Stimmung in weiten Teilen der
Öffentlichkeit sehr eindeutig: weg mit den Kampfhunden!
Aber wir müssen uns klar machen, dass nicht wenige
Hundehalter den Rechtsweg beschreiten werden. Das be-
deutet, dass es in manchen Fällen schnelle Lösungen nicht
geben wird. Eine große Zahl von Hunden wird eingezo-
gen und eingeschläfert werden müssen. Das wird nicht
einfach sein, auch nicht in der öffentlichen Vermittlung.
Wir alle kennen aus der Vergangenheit entsprechende Trä-
nendrüsenkampagnen der einschlägigen Medien.

In dieser Woche ist die Stimmung in Gesellschaft und
Politik eindeutig, aber in den kommenden Wochen kann
diese Stimmung durchaus umschlagen. Wir dürfen uns
aber auch dann, meine Damen und Herren, nicht beirren
lassen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411202500
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Wolfgang Bosbach.


Wolfgang Bosbach (CDU):
Rede ID: ID1411202600
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Kampfhunde müs-
sen weg, runter von unseren Straßen, Schulhöfen und
Spielplätzen, raus aus den Parks und anderen öffentlichen
Anlagen, raus aus den öffentlichen Verkehrsmitteln. Es
geht nicht darum, ob jeder einzelne Hund einer jeden
Rasse, über die wir heute sprechen, ein besonders gefähr-
liches Tier ist oder nicht, sondern es geht schlicht und er-
greifend darum, dass es nun einmal ganz bestimmte Hun-
derassen gibt, die noch gefährlicher sind als andere. Die
gefährlichsten müssen im wahrsten Sinne des Wortes aus

dem Verkehr gezogen werden, und zwar sofort, flächen-
deckend und auf Dauer.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS)


Wir brauchen unter anderem ein Verbot der Züchtung,
der Kreuzung, ein Importverbot, ein Verbot des gewerbli-
chen Handels mit diesen Tieren sowie spürbare Strafen
für Verstöße gegen diese Verbote. Daneben brauchen wir
strengere Kontrollen, ob die Vorschriften, die Auflagen
tatsächlich eingehalten werden. Denn was nützt ein Gebot
oder Verbot, wenn wirksame Kontrollen und Sanktionen
fehlen?! Alle anderen begleitenden Überlegungen wie
Anlein- und Maulkorbzwang, höhere Hundesteuern für
bestimmte Rassen mögen sinnvoll sein, sind jedoch für
sich allein genommen unter keinem Gesichtspunkt eine
wirksame Maßnahme.

Es muss unser gemeinsames Anliegen sein, dass be-
stimmte Rassen zumindest mittelfristig von der Bild-
fläche verschwinden, wie es in Frankreich und Dänemark
geschehen ist. Diese Kampfhunde sind ungesicherte Waf-
fen auf vier Pfoten, unberechenbar und in vielen Fällen
von ihrem Halter auch nicht zu beherrschen. Sie sind eine
tödliche Gefahr.

Bitte jetzt kein Mitleid an der falschen Stelle, getreu
dem Motto: Nicht das Tier, sondern der Mensch ist das
Problem! Unser Mitgefühl muss dem toten Jungen und
seinen Eltern gehören und nicht dem Besitzer des Hundes.
Es mag ja durchaus sein, dass sich in vielen Fällen das ei-
gentliche Problem am anderen Ende der Leine auf zwei
Beinen befindet, aber dieser Gedanke hilft uns nicht wei-
ter und löst kein Problem.

Eine derartige Argumentation erinnert an die amerika-
nische Waffenlobby, die ja auch regelmäßig verkündet,
dass Schusswaffen nicht als solche gefährlich seien, son-
dern erst dann, wenn sie in die falschen Hände gerieten.


(Beifall des Abg. Rolf Stöckel [SPD])

Aus guten Gründen haben wir uns dieser Argumentation
nie angeschlossen. Bei uns ist das Tragen von Schusswaf-
fen grundsätzlich verboten,


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


weil viel zu gefährlich, und nicht etwa deshalb erlaubt,
weil man nicht nur mit diesen Waffen, sondern beispiels-
weise auch mit einem Messer töten könnte.

Kurzum: Es geht in der heutigen Debatte und im Grund-
sätzlichen nicht um Tierschutz, sondern um Menschen-
schutz.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es ist nicht länger hinnehmbar, dass Menschen – und hier
vor allem Kinder – in Angst und Schrecken versetzt, ver-
letzt oder gar getötet werden, nur weil einige – ich betone:
einige – Hundehalter nicht mehr alle Latten am Zaun ha-
ben. Was muss eigentlich noch passieren, damit sich end-
lich überall die Erkenntnis durchsetzt, dass es so nicht
weitergehen kann? Spätestens nach dem tragischen Vor-




Senator Hartmuth Wrocklage (Hamburg)

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(C)



(D)



(A)



(B)


fall in Hamburg muss jeder wissen, dass Umdenken drin-
gend nötig ist. Das Gegenteil ist der Fall. Ich zitiere aus
der „Berliner Zeitung“ von gestern:

Einen Maulkorbzwang für Kampfhunde lehnt
Heike I. ab. „Ein Maulkorb erzeugt bei den Tieren
Frustration und Aggression. Das macht sie gefähr-
lich.“ Ihren eigenen beiden Kampfhunden, einem
Stafford-Mischling und einem American Stafford,
will die Tierheimmitarbeiterin jedenfalls keinen
Maulkorb anlegen. „Wenn ich kontrolliert werde, be-
haupte ich einfach, dass es sich bei ihnen um einen
Jagdhund und um einen Boxermischling handelt.
Wer will das überprüfen?“

Das, meine Damen und Herren, ist genau die Denke,
die sofortiges und konsequentes Handeln notwendig
macht. Es geht nicht um eine Diskriminierung von Hun-
derassen – was immer das sein mag – oder um eine Kri-
minalisierung von Hundehaltern – ein völlig abwegiger
Gedanke –, sondern ausschließlich um einen wirksamen
und dauerhaften Schutz unserer Mitbürger vor Gefahren,
um den Schutz von Rechtsgütern, die wichtiger sind als
der merkwürdige Wunsch eines Hundehalters, sein Leben
mit einem Pitbull, einem Tosa-Inu oder einem Mastiff zu
teilen. Für die Jungs aus dem Rotlichtmilieu mag es ein
Albtraum sein, statt mit einem Bullterrier mit einem Pu-
del über die Reeperbahn zu laufen. Für mich ist das kein
Albtraum und für die Bevölkerung wäre es ein Segen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Wir brauchen jetzt keine langen Debatten und keine
zähen Verhandlungen über die Frage, ob man nicht die
eine oder andere Rasse als „besonders gefährlich“ oder
lieber nur als „normal gefährlich“ einstufen sollte oder
nicht. Wir brauchen jetzt rasche und klare Entscheidun-
gen. Die vielfach geäußerte Kritik, dass die Politik und die
zuständigen Behörden mit den längst überfälligen Ent-
scheidungen zu lange gewartet hätten, dürfen wir nicht
einfach mit einem Schulterzucken, mit dem Hinweis auf
komplizierte Zuständigkeitsregelungen, die es ja in der
Tat gibt, oder mit dem Hinweis auf die einschlägige
Rechtsprechung abtun. Die Kritik ist berechtigt. Die
„Süddeutsche Zeitung“ hat mit der in einem Kommentar
gestellten Frage „Warum erst jetzt?“ völlig Recht.

Treffen wir wenigstens jetzt so schnell wie möglich die
notwendigen Entscheidungen! Die Union wird die Regie-
rung in diesem Vorhaben gerne und aus Überzeugung un-
terstützen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411202700
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege Cem
Özdemir.


Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411202800
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist bedauer-
lich, dass es so lange gebraucht hat, bis Maßnahmen er-
griffen werden können, die überfällig waren. Hätten die

Länder, die Parteien und die Politiker früher reagiert,
wären dem einen oder anderen Verletzungen erspart ge-
blieben, die ihn ein Leben lang entstellen werden, würde
der kleine Volkan vielleicht heute noch leben und anderen
wären Angst und Schrecken, die sie in den letzten Jahren
begleiteten, erspart geblieben. Insofern ist es gut, dass wir
uns heute mit der Problematik Kampfhunde beschäftigen.
Ich glaube aber, dass wir damit früher hätten anfangen
müssen. Diese Selbstkritik steht uns allen gut zu Gesicht.

Ich möchte hier auch noch einmal die Länder anspre-
chen. Ich finde es gut, dass die Bayern vorangegangen
sind und die Hamburger jetzt mit einem Maßnahmenpa-
ket, bei dem man nichts mehr ergänzen kann, auf dieses
Problem aufmerksam machen. Die anderen Länder soll-
ten aber wenigstens in der Lage sein, bei diesen beiden
Ländern abzuschreiben. Das kann man – bei allem Res-
pekt vor dem Föderalismus – durchaus einfordern. Ab-
schreiben muss möglich sein. Bitte setzen Sie die Rege-
lungen, die die Bayern und Hamburger gefunden haben,
um! Dabei handelt es sich um Regelungen, denen man im
Grunde genommen nichts mehr hinzufügen muss. Inso-
fern sage ich: Guten Morgen, liebe Länder! Jetzt ist es
Zeit, dieses umzusetzen.

Meine Fraktion hat bereits vor zehn Jahren einen An-
trag eingebracht, in dem sie ein Kampfhundeverbot ge-
fordert hat. Hätte man diesen Antrag damals angenom-
men, dann hätten viele Kinder keine psychischen Schä-
den, die dadurch entstanden sind, dass sie Angst vor
diesen Hunden hatten, wenn sie sie in der Fußgängerzone
sahen, davongetragen und hätten Jogger keine Angst ha-
ben müssen, im Tiergarten zu joggen. Das alles wäre uns
erspart geblieben. Ich finde es absurd, dass wir mittler-
weile eine Situation haben, in der sich Eltern darüber Ge-
danken machen müssen, wie sie ihre Kinder auf Kampf-
hunde vorbereiten. Umgekehrt würde viel eher ein Schuh
daraus: Wir wollen keine Kinder dressieren, sondern wir
wollen, dass diese Hunde aus dem Stadtbild und aus un-
serem Land verschwinden. Ich sehe keinen Grund – und
mir wurde bisher auch noch kein Grund genannt –, wofür
man Kampfhunde benötigt. Ich bin mir sicher, dass wir
uns alle darüber einig sind, dass diese Tiere der Vergan-
genheit angehören müssen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Ich will aber auch nicht so tun, als ob wir die Einzigen
sind, die sich mit diesem Thema beschäftigt haben. Nein,
meine Damen und Herren, auch die viertgrößte Fraktion
des Hauses, die F.D.P., hat sich nicht erst im Rahmen die-
ser Aktuellen Stunde mit diesem Thema beschäftigt, Herr
Kollege Westerwelle, sondern auch früher schon einmal.
Ich möchte aus einer sehr bemerkenswerten Erklärung
vom 4. Mai 2000 zitieren. Dort wird beispielsweise ge-
sagt: „Verbot von Kampfhunden wirkungslos – Leinen-
zwang in der Fußgängerzone“. Angesichts der Forderung
der Umweltministerin von Nordrhein-Westfalen, Frau
Bärbel Höhn, nach einem Verbot von Kampfhunderas-
sen – man sieht, dieses Verbot war auch vorher schon im
Gespräch – erklärte dieselbe Abgeordnete von der F.D.P.:
„keine Ausrottung von Hunderassen“.




Wolfgang Bosbach

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(C)



(D)



(A)



(B)


Es wäre schon ganz gut gewesen, Herr Westerwelle,
wenn Sie sich auch dazu geäußert hätten. Es wäre gut ge-
wesen, Sie hätten das eine oder andere Wort dazu gefun-
den, dass es Ihre Fraktion war, die sich vor nicht allzu
langer Zeit genau gegen das ausgesprochen hat, was heute
der Innenminister vorschlägt, was einige der Länder
schon gemacht haben und was überfällig ist. Die Kampf-
hunde müssen weg. Wir brauchen kein falsches Verständ-
nis für Kampfhunde oder für ihre Halter. Die Kinder und
ihre Eltern müssen sich auf den Spielplätzen sicher
fühlen. Sicherheit ist jetzt angesagt.

Ich möchte noch auf einen anderen Punkt eingehen.
Die Forderung nach hohen Steuern ist nicht sinnvoll, da
sich Zuhälter mit dickem Geldbeutel diese staatlich aner-
kannten Luxusköter leisten können. Der Charakter eines
Halters hängt nicht von seinem Geldbeutel ab. Das Dre-
hen an der Steuerschraube ist nicht die Lösung des Pro-
blems. Wir müssen andere Lösungen finden. Über einen
Maßnahmen-Mix wurde ja schon gesprochen.

Auch die Reaktion der Versicherungswirtschaft hat
mich sehr geärgert. Der Verband hat sich gegen eine Haft-
pflichtversicherung ausgesprochen. Es handelt sich mei-
ner Meinung nach um ein unterentwickeltes Verantwor-
tungsbewusstsein, das hier deutlich wird. Wenn schon die
schlimmsten Verletzungen, die Menschen davon getragen
haben, nicht rückgängig zu machen sind, dann müssen
wenigstens die Angehörigen einen Anspruch darauf ha-
ben, schnell, unkompliziert und unbürokratisch Schmer-
zensgeld zu erhalten. Daher mein Appell an die Versiche-
rungswirtschaft, ihre Haltung zu überdenken.

Der Streit – Herr Kollege Bosbach hat schon zu Recht
darauf hingewiesen – angesichts der Frage „Was ist ge-
fährlicher: die Hunde oder die Hundebesitzer?“ ist ein
Streit, den wir uns nicht mehr leisten können. Wir müssen
auf beiden Seiten gleichzeitig ansetzen. Neben bestimm-
ten Hunderassen, die wir nicht mehr dulden wollen, müs-
sen wir uns auch die Hundebesitzer anschauen. In diesem
Zusammenhang ist es sinnvoll, eine Art Hundeführer-
schein einzuführen. Bestimmte Menschen sind nämlich
schlicht und ergreifend charakterlich überfordert, be-
stimmte Hunde zu halten. Wir müssen durchsetzen, dass
solche Menschen, die offensichtlich eine charakterliche
Symbiose mit ihrem Hund eingehen, solche Hunde zu-
künftig nicht mehr ihr Eigen nennen dürfen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Zum Schluss: Das Waffenrecht regelt bereits heute die
Berechtigung für den Besitz beispielsweise eines Luftge-
wehrs oder eines Maschinengewehrs. Der Gradmesser ist
eine mögliche Gefährdung, ein möglicher Schaden oder
gar eine Kriegstauglichkeit. Ein „randalierender“ Dackel
kann – auch wenn er will – gar nicht so große Schäden an-
richten wie beispielsweise ein Pitbull im Blutrausch. Wir
müssen daher jetzt bei den besonders gefährlichen Tieren
ansetzen. Die Maßnahmen liegen auf dem Tisch. Es wird
Zeit, dass wir handeln.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Wolfgang Bosbach [CDU/CSU])



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411202900
Das Wort für die PDS-
Fraktion hat der Kollege Dr. Gregor Gysi.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411203000
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Es gilt zu unterbinden – und zwar
strikt –, dass Kampfhunde verletzen und töten. Natürlich
gibt es Millionen Hundehalter, die sich sehr verant-
wortungsbewusst verhalten und die das Verhältnis von
Mensch und Hund auf eine, wie ich finde, über Jahrhun-
derte – und auch in den letzten Jahrzehnten – sehr ver-
nünftige Weise gestaltet haben. Wenn sie wollen, dass die-
ser Ruf erhalten bleibt, dann sollten sie uns eindeutig un-
terstützen und sich nicht gegen uns stellen, wenn es darum
geht, das Wirken von Kampfhunden zu unterbinden. Sie
sollten dies tun, gerade um nicht mit denen auf eine Stufe
gestellt zu werden, die sich nicht verantwortungsbewusst
verhalten.

Ich erinnere an einen Vorfall in Berlin, bei dem wir zu
wenig aufgeschrien haben. Als der Berliner Senat und das
Abgeordnetenhaus vorhatten, Maßnahmen gegen Kampf-
hunde einzuleiten, planten Hundehalter eine Demonstra-
tion mit Hunden und einem Judenstern daran. Das war
empörend und skandalös. Dazu hätten wir damals ganz
deutlich Stellung nehmen müssen.


(Beifall bei der PDS, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Ich sage aber auch: Rasseverbot ist zu wenig. Ich
werde dazu noch etwas sagen. Zunächst einmal zu dem
Ruf nach Strafgesetzen.

Im Grunde genommen geht es gar nicht um Strafge-
setze. Wir haben schon den Mordparagraphen, den Tot-
schlagparagraphen, die Paragraphen gegen schwere, ein-
fache und fahrlässige Körperverletzung sowie gegen fahr-
lässige Tötung. All diese Paragraphen können je nach
Einzelfall Anwendung finden.

Worum es allerdings geht, sind das Verbot einer Zucht
von Kampfhunden, einer Abrichtung von Hunden zu
Kampfhunden und einer entsprechenden Haltung sowie
entsprechende Importverbote und Handelsverbote. Wenn
man solche Verbote erlässt, muss die Verletzung eines
solchen Verbotes natürlich auch unter Strafe gestellt wer-
den, damit es überhaupt eine entsprechende Bedeutung
erlangt.

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass
Kampfhunde zunächst einmal keine „Erfindung“ von Pri-
vatbesitzern sind, sondern in der Geschichte durchaus
auch vom Staat, von der Polizei häufig auf solche „Mit-
tel“ zurückgegriffen worden ist, sich das Ganze dann ir-
gendwann privatisiert hat


(Zuruf von der CDU/CSU: Vor dem Mauerfall zwischen Mauer und Stacheldraht!)


– völlig richtig, das habe ich doch gar nicht bestritten –
und daraus jetzt ein völlig unkontrollierter Vorgang ge-
worden ist, den es zu unterbinden gilt. Nur, im Kern müs-
sen wir sehen, dass es schon früher Initiativen gab, auf die
völlig unzureichend zurückgegriffen wurde. Die Tier-
schutzverbände fordern schon seit zehn Jahren ein Heim-
tierzuchtgesetz. Aber es ist nichts passiert. Mit dem




Cem Özdemir
10622


(C)



(D)



(A)



(B)


Gesetz sollten die Lücken hinsichtlich Zucht, Haltung,
Import und Handel mit Hunden geschlossen werden. Es
sollte auch ein Kastrationsgebot für Hunde geben, deren
Halter über keine Zuchtgenehmigung verfügen. Eine sol-
che Zucht muss ohnehin verboten werden.

Notwendig sind auch eine Registrierungs- und Chip-
pflicht sowie eine Haftpflichtversicherung. Darauf wurde
schon mehrfach hingewiesen.

Über die Gefahr aggressiv gezüchteter Hunde wird
nicht erst seit gestern diskutiert. Immer wieder wurden
Menschen angegriffen. Es geht darum, zu verhindern,
dass jetzt, in dieser aufgeputschten Situation, die Hunde-
halter ihre Kampfhunde einfach auf der Strasse absetzen,
bei Tierheimen abgeben, die völlig überfordert sind, das
Problem also einfach von sich weg in eine unbekannte Zu-
kunft delegieren. Auch das ist nicht hinnehmbar. Das will
ich ganz deutlich sagen.

Die PDS hat im Berliner Abgeordnetenhaus einen An-
trag eingebracht, bei dem es um eine Bundesratsinitiative
ging, schnellstmöglich einen Hundeführerschein für das
Halten und Führen von Hunden bestimmter Kategorien
einzuführen. Wir glauben, dass das wirklich zwingend er-
forderlich ist. Auch andere Dinge sind mit hoher Verant-
wortung verbunden. Ich nenne einmal das Auto – wir las-
sen ja auch nicht jeden einfach so fahren –, das man sehr
verantwortungsbewusst benutzen oder aber auch zu einer
Kampfmaschine machen kann. Das hängt in der Regel
vom Fahrer ab. Das eigentliche Problem ist also nicht der
Hund, sondern der Halter. Welches Statussymbol will er
haben? Wogegen will er sich angeblich verteidigen oder
womit will er versuchen, eigene Schwäche zu korrigieren
und Aggressivität nach außen und eine Stärke auszustrah-
len, die er selbst nicht besitzt? Hier geht es um menschli-
che Verhaltensweisen in negativer Hinsicht, die deutlich
zugenommen haben.

Deshalb genügt es nicht, allein über Hunde zu disku-
tieren, sondern wir müssen uns auch über die Halter Ge-
danken machen, über eine bestimmte Gruppe von Hal-
tern, über eine bestimmte Aggressivität, die in unserer
Gesellschaft generell zugenommen hat, die sich jetzt auch
am Umgang mit Hunden zeigt. Wenn wir nicht versu-
chen, die gesellschaftspolitischen Probleme, die dahinter
stecken, aufzuklären und wirksam zu bekämpfen, werden
wir in dieser Frage nicht weiter kommen. Heute ist es der
Hund, morgen kann es ein anderes Tier oder ein anderes
Instrument sein. Also müssen wir etwas tiefer gehen, als
das in den vergangenen Tagen der Fall war.


(Beifall bei der PDS)

Wir sind übrigens auch für einen Sachkundenachweis.

Das scheint uns dringend erforderlich zu sein, denn häu-
fig werden solche Hunde auch unter Verletzung des Tier-
schutzrechtes gezüchtet und gehalten. Sie werden ja erst
scharf gemacht, indem sie partiell gequält werden. Auch
das muss man sehen. Auch dagegen muss verstärkt etwas
unternommen werden.

Lassen Sie uns also zügig handeln, konsequent han-
deln, aber auch mit Besonnenheit handeln. Lassen Sie uns
nicht von vornherein bestimmte Rassen von einer Rege-
lung ausnehmen. Ich sage hier ganz deutlich: Auch der

Deutsche Schäferhund kann ein Kampfhund sein. Wir
sollten nicht aus irgendwelchen nationalen oder histori-
schen oder kulturellen Gefühlen diese Rasse ausnehmen,
sondern sagen: Bei allen Hunderassen, die sich dazu eig-
nen – einschließlich Mischlingen –, muss das Gesetz grei-
fen. Hier muss es Verbote geben, hier muss es bestimmte
Zwänge bei der Haltung und bei der Zucht geben. Es muss
auch Kontrollen geben. Die Stellen, die die Kontrollen
durchführen sollen, wie übrigens auch in Hamburg hin-
sichtlich des Maulkorbzwanges etc., sind so armselig be-
setzt, dass sich auch hier etwas ändern muss. Es nützt uns
nämlich nichts, Verbote auszusprechen, wenn wir nachher
überhaupt nicht in der Lage sind, deren Einhaltung auch
nur annähernd zu kontrollieren. Auch das muss neu und
klar geregelt werden.


(Beifall bei der PDS – Zustimmung bei der F.D.P.)


Wenn wir in dieser Hinsicht besonnen, aber auch sehr
zügig und sehr konsequent vorgehen, dann könnten wir
dieses Problem lösen. Wir sollten dabei aber nie verges-
sen: Es geht letztlich um die Aggressivität von Menschen
und deshalb um die Frage, wie wir die Aggressivität in un-
serer Gesellschaft abbauen können.

Danke schön.

(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411203100
Nächster Redner ist
der Kollege Rolf Stöckel von der SPD-Fraktion.


Rolf Stöckel (SPD):
Rede ID: ID1411203200
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Wir haben alle das Bild vom toten Volkan vor
Augen. Dieses Bild hat die gesamte Republik erschüttert,
weil die Medien es vervielfältigt haben. Es hat die Kinder
in dieser Republik traumatisiert. Wie viele Eltern – da
schließe ich mich ausdrücklich ein – haben sich gefragt:
Was wäre, wenn meinen Kindern so etwas Schreckliches
passiert wäre?

Viel schlimmer: Wir wissen alle – es ist auch schon ge-
sagt worden –, dass es in den letzten zehn Jahren zu Tau-
senden solcher grausamer Unglücksfälle gekommen ist,
mit schwersten Verletzungen, Verstümmelungen und im-
mer wieder mit Todesfolge. Allein in Berlin wurden jähr-
lich circa 1 800 Hundebisse von der Statistik erfasst. Wir
wissen, dass Kinder davon überproportional betroffen
sind; das gilt auch für alte Menschen.

Mit Recht fragen wir uns also alle, warum das nicht
verhindert werden kann, warum die Politik und die Behör-
den nach zehn Jahren zunehmender Zwischenfälle und
Diskussionen und nach mehrmaligen Verschärfungen der
Bestimmungen es nicht vermocht haben, diese unheil-
volle Entwicklung zu unterbinden. Ich meine, die Men-
schen erwarten seit langer Zeit zu Recht, dass die Politik
auf diesem Feld ihre Handlungsfähigkeit und auch ihre
kurzfristige Durchschlagskraft unter Beweis stellt.
Warum ist es in unserem Land nicht möglich, ein Kampf-
hundeverbot, wie es etwa in Frankreich seit zehn Jahren
existiert, durchzusetzen?




Dr. Gregor Gysi

10623


(C)



(D)



(A)



(B)


Natürlich müssen sich alle fragen und fragen lassen, ob
sie ihrer Verantwortung in diesem Punkt gerechtgeworden
sind oder ob die Verantwortung nur nach ganz unten ver-
schoben wurde. Wie lange werden Betroffenheit und Em-
pörung diesmal andauern? Wie lange werden der hekti-
sche Aktivismus und der Verdacht rein populistischer Re-
aktion diesmal anhalten? Oder wird sich wirklich spürbar
etwas ändern?

Was lässt denn das Problem mit aggressiven, bissigen
Hunden spezieller Züchtungen immer unerträglicher wer-
den? Sind es die unterbesetzten, inkonsequenten Ord-
nungsbehörden vor Ort, die mehr oder weniger ausrei-
chende Länderverordnungen zum Leinen- und Maulkorb-
zwang nicht durchsetzen und deren Nichteinhaltung nicht
sanktionieren können? Sind es die Interessen der hiesigen
Züchterlobby, ein unkontrollierbarer Schwarzmarkt? Ich
nenne hier besonders die ehemaligen Ostblockländer. Ist
es ein Bedarf, der vom kriminellen Milieu ausgeht, oder
sind es minderwertigkeitskomplexbeladene, aggressive
oder auch sicherheitsfanatische Zeitgenossen in sozialen
Brennpunkten, die über angedrohte Ordnungsstrafen nur
müde lächeln? Das alles ist angesprochen worden.

Aber vielleicht ist es auch die – nicht nur den Deut-
schen anhängende, das muss man hier sagen – Tierliebe,
die den liebevollen Gefährten Hund, das kinderliebe Fa-
milienmitglied nicht von pervers gezüchteten und gehal-
tenen Bestien unterscheiden kann. – Erinnern wir uns: In
Deutschland gab es immer eine Vorschrift für die Min-
destgröße von Schäferhundezwingern, aber leider keine
für die Mindestgröße von Kinderzimmern. – Es ist wohl
eine Mischung aus allem.

Wie krank ist eine Gesellschaft eigentlich, die die Frei-
heit der Killerhundehaltung, egal, ob durch angeblich zu
autorisierende Villenbesitzer oder labile Machos, über
den Schutz und die körperliche Unversehrtheit von Men-
schen, insbesondere von Kindern, im öffentlichen Raum
stellt, darüber, sich frei von Angst vor aggressiven Hun-
den in seiner Stadt bewegen zu können? Es ist richtig: Der
Staat soll und kann nicht jedes Lebensrisiko, auch nicht
für Kinder, im Keim ersticken. Das wäre kein men-
schenwürdiges Leben, in dem Kinder Erfahrungen ma-
chen und sich zu selbstverantwortlichen Persönlichkeiten
entwickeln sollten.

Aber da sagt in diesen Tagen ein Landespolitiker, Kin-
der sollten sich – und Eltern sollten sie dazu anhalten – bei
Gefahr entsprechend ruhig verhalten, nicht schreien und
weglaufen, wenn ein aggressiver Hund auf sie zukommt;
es sei ja nicht artgerecht, wenn Hunde grundsätzlich an
der Leine oder mit Maulkorb laufen müssten. Ich frage
uns alle: Wo leben wir eigentlich?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Gregor Gysi [PDS]: Das frage ich mich auch!)


Ist nicht wenigstens der vertretbare und realisierbare Kin-
derschutz in einer zivilisierten Gesellschaft durch den
Staat zu organisieren? Oder sehe ich das falsch – und die
Haltung von Killerhunden ist unverzichtbarer Teil der
natürlichen Vielfalt, der Lebensqualität, der Freiheit des
Einzelnen, die im Bedarfsfall sogar mit „Hundefutter auf
Sozialhilfe“ gefördert wird? Sind Kinder selbst schuld,

wenn sie lebhaft sind, fangen spielen, laufen, springen
und schreien und deshalb wie ein weglaufendes Kanin-
chen den Jagdinstinkt und die Blutrünstigkeit der Killer-
hunde auslösen?

Ich meine, wir müssen den immer wieder beschwore-
nen Auftrag ernst nehmen, Deutschland kinder- und fami-
lienfreundlicher zu machen. Als Kinderbeauftragter der
SPD-Fraktion – ich glaube, dass ich hier weitgehend auch
für die Kollegen der Kinderkommission spreche – frage
ich Sie ernsthaft, warum es diese von Menschen gezüch-
teten und immer wieder unverantwortlich gehaltenen
Bestien überhaupt unter uns geben muss. Wir wissen, dass
alle bisherigen Maßnahmen und Sanktionen, wahrschein-
lich auch die jetzt diskutierten, weder konsequent noch
bundesweit durchführbar sind und deshalb auch zukünf-
tig die schlimmsten Angriffe, gerade auf Kinder, nicht
verhindert werden können.

Daher kann es nach meiner Abwägung nur eine Kon-
sequenz geben – ich begrüße, dass Herr Westerwelle und
andere Kollegen um einen Konsens gebeten haben –: das
strafbewehrte bundesgesetzliche Verbot der Einfuhr,
Züchtung und Haltung der als potenziell gefährlich ein-
gestuften Hunderassen und aggressiv gezüchteten Hunde
als zivilisationsfeindliche Produkte menschlicher Verir-
rung. Wenn wir uns in diesem Hause dazu durchringen
könnten, dann wäre der grausame Tod des kleinen Volkan
Kaya am Montag dieser Woche nicht ganz sinnlos ge-
wesen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411203300
Nächster Redner für
die Fraktion der CDU/CSU ist der Kollege Dr. Hans-Peter
Uhl.


Dr. Hans-Peter Uhl (CSU):
Rede ID: ID1411203400
Frau Präsidentin!
Meine verehrten Damen und Herren! Jetzt, nachdem et-
was passiert ist, haben es alle gewusst und sind sich alle
darin einig, dass etwas geschehen muss. Doch, Herr
Innensenator Wrocklage, noch vor einer Woche wäre es
für einen Menschen problemlos möglich gewesen, mit ei-
nem römischen Kampfhund, mit einem Mastino Napole-
tano, durch die Hamburger Innenstadt zu gehen. Die Po-
lizei wäre nicht eingeschritten. Wäre derselbe Mensch mit
einem Löwen durch die Hamburger Innenstadt gegangen,
wäre die Polizei – mit Recht – natürlich sofort einge-
schritten. Das kann nicht richtig sein; auch Kollege
Westerwelle hat das schon festgestellt. Jetzt wollen alle
ganz schnell handeln.

Im Innenausschuss haben der Kollege Wiefelspütz und
Staatssekretär Körper richtiger- und dankenswerterweise
gesagt, man müsse in diesem Zusammenhang von Bayern
lernen. Es hat sich in der Tat leider wieder einmal be-
wahrheitet, dass in Bayern beim Thema Sicherheit und
Ordnung, also auch in diesem Lebensbereich, die Uhren
anders gehen.




Rolf Stöckel
10624


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich muss einen weiteren Punkt hinzufügen: Eigentlich
müsste es heißen: von München lernen. Denn es war Ihr
Parteifreund, Herr Westerwelle, und mein damaliger
Stadtratskollege Hildebrecht Braun, der Ende der 80er-
Jahre gesagt hat, man müsse etwas gegen Kampfhunde in
der Großstadt München tun. Daraufhin waren sich im
Kreisverwaltungsausschuss alle einig, dass etwas ge-
schehen müsse. Das erfolgte dann auch 1990 und 1991.
Daraus entstand die jetzt von allen gelobte bayerische
Kampfhundeverordnung.

Was lernen die Kommunalpolitiker aus allen Parteien
daraus? In den großen Kommunen tauchen die Probleme
als Erstes auf. Hier werden die erforderlichen Regelungen
geboren. In Bayern gibt es seither das Verbot der Zucht
und Kreuzung solcher Hunderassen und, was noch wich-
tiger ist, das Scharfmachen und die Aggressionsdressur
bedürfen einer besonderen Erlaubnis. Diese Erlaubnis
wird in aller Regel nicht erteilt. Denn es muss ein berech-
tigtes Interesse vorliegen, einen solchen Hund zu besit-
zen. Dazu ist eine Bedürfnisprüfung erforderlich. Das
heißt, wir gehen mit diesem Problem so um, als sei der
Kampfhund eine Waffe. Das ist der einzig richtige Um-
gang mit diesem Thema.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Nun liegt ja ein entsprechender Beschluss der Innen-

ministerkonferenz vor und jetzt will man auch in Ham-
burg, Herr Wrocklage, ganz schnell handeln. Ich finde es
schon empörend, dass Sie hier nichts, aber auch gar nichts
über das sagen, was Sie im Jahre 1993, nachdem Sie vor
dem Verwaltungsgericht Hamburg mit Ihrer ursprüngli-
chen Vorlage gescheitert sind,


(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Jawohl!)


und was Sie in den Jahren 1994, 1995, 1996, 1997, 1998
und 1999 nicht getan haben, aber hätten tun sollen. Was
haben Sie in den letzten sieben Jahren getan? Dass Sie
jetzt, vor allem nach dem Tod des Kindes, ganz schnell et-
was tun, das ist selbstverständlich. Sie wären ja töricht,
wenn Sie jetzt nichts täten. Bisher aber hat es am politi-
schen Durchsetzungswillen gefehlt. Man wollte die Ham-
burger Bevölkerung nicht so schützen, wie es sich gehört
und wie wir das in Bayern tun.

Warum, Herr Özdemir, verschweigen Sie, dass die
Hamburger Grünen es noch im Mai dieses Jahres, also vor
dem Unglück, abgelehnt haben, die bestehende Hambur-
ger Verordnung zu verschärfen?


(Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.: Oh! Das ist ja interessant!)


Das hätten Sie ehrlichkeitshalber hinzufügen sollen, statt
die F.D.P. anzugreifen. Nein, wir fordern ein bundes- und
europaweites Handels- und Zuchtverbot sowie ein Im-
portverbot von Kampfhunden; das wurde schon ange-
sprochen.

Was mir als Praktiker, nachdem ich elf Jahre für den
Vollzug zuständig war, wichtig ist, ist Folgendes:

Was nützen die besten Gesetze, wenn sie nicht konsequent
vollzogen werden?


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P.)


Wenn es stimmt, was in der Presse steht, dann ging es
bei dem Fall in Hamburg um einen 23-jährigen Hunde-
halter, der wegen mindestens 18 einschlägiger Delikte po-
lizeibekannt war: Raub, Erpressung und Körperverlet-
zung sind Delikte, die man typischerweise mit Waffen be-
geht, sei es mit einer Schusswaffe, sei es mit einem
Kampfhund. Dieser Hundehalter hat einen Brief von der
Ordnungsbehörde bekommen – welch mächtiges Ein-
schreiten! –, in dem ein Leinen- und Maulkorbzwang ver-
fügt wurde. Man wusste aber, dass er auch dagegen ver-
stieß.

Angesichts dessen, meine Damen und Herren, braucht
man gar keine Kampfhundeverordnung – auch in Ham-
burg nicht. Das ist eine Frage des unmittelbaren Vollzugs.
Weil da Gefahr im Verzug ist, fährt die Polizei hin und
nimmt dem Kerl die Hunde heute noch weg. So geht man
damit um; dazu braucht man keine zusätzliche Verord-
nung. Das ist allgemeine Gefahrenabwehr, die auch für
Hamburg gilt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Mit einem betrunkenen Autofahrer führen Sie auch kei-
nen Rechtsstreit, sondern nehmen ihm den Führerschein
und den Zündschlüssel weg. Wenn Sie erfahren, dass ein
Waffenbesitzer geisteskrank geworden ist, dann fahren
Sie sofort hin und nehmen ihm die Schusswaffe weg. Da
wird doch nicht lange korrespondiert. Dies weiß jeder
Vollzugsbeamter, dem dieses Thema ernst ist.

In Hamburg hat man die Dinge schleifen lassen. Den
letzten Beweis dafür lieferte die Sozialsenatorin Roth, als
sie noch vor zwei Monaten sagte:

Wir können nicht hinter jeden Hund einen Polizisten
stellen. Aber wir werden mit den Bezirken reden,
dass sie künftig den Bußgeldrahmen besser aus-
schöpfen.

Mehr fällt der Dame nicht ein! Herr Wrocklage, warum ist
eine Sozialsenatorin bei Ihnen überhaupt für Kampfhunde
zuständig? Daran sieht man doch auch schon, dass man
das Problem in Hamburg in den letzten Jahren nicht rich-
tig behandelt hat.

Ich komme zum Schluss. Wir brauchen zwei Dinge:
erstens schärfere Gesetze. Hier hat Herr Özdemir Recht.
Schreiben Sie das bayerische Gesetz ab! Das wird ja noch
möglich sein. Es wird wohl auch gerichtsfest sein. Noch
wichtiger ist zweitens ein konsequenter Vollzug, damit so
etwas wie das entsetzliche Unglück von Hamburg kein
zweites Mal passiert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411203500
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen.




Dr. Hans-Peter Uhl

10625


(C)



(D)



(A)



(B)



Ulrike Höfken-Deipenbrock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411203600
Sehr
geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Her-
ren! In den Reden wurde eben der kleine Volkan erwähnt.
Ich möchte an dieser Stelle seinen Eltern unser Beileid
und unser tiefes Mitgefühl aussprechen. Ich habe eben-
falls drei Kinder und fühle mich sehr betroffen.

Die Bundesregierung tritt für den Schutz von Kindern
vor Unfällen, vor Missbrauch und auch vor gefährlichen
Hunden ein. Wir begrüßen es ganz außerordentlich, dass
sich jetzt bundeseinheitliche Maßnahmen und Vorgehens-
weisen durchsetzen, wie es die Grünen auch gefordert ha-
ben.

Lassen Sie mich auf den neuen Maßnahmenkatalog
weiter eingehen, zunächst auf das Zuchtverbot für
Kampfhunde, das von einigen Rednern bereits erwähnt
wurde. Diese Regelung bedarf einer Konkretisierung, ei-
ner Ausweitung auf den Begriff „gefährliche Hunde“,
weil beispielsweise bei Pitbulls oder Mixhunden natürlich
die Gefahr des Unterlaufens besteht. Es wurde ja aus der
„Bild“-Zeitung, glaube ich, vorgelesen, dass ein Hund
schlichtweg als Boxermischling ausgegeben wird; gene-
tisch kann man das nicht nachvollziehen. Man braucht
hier also Kriterien. Den Weg, den Bärbel Höhn in Nord-
rhein-Westfalen gewählt hat, als sie Kriterien für ein
Zuchtverbot von gefährlichen Hunden aufstellte, kann
man durchaus gehen.

Ich weise im Übrigen nur darauf hin, dass es im Bun-
destierschutzgesetz ein Verbot für Qual- und Aggressi-
onszucht gibt. Auch hier spielt die Frage des Vollzuges
eine wesentliche Rolle.

Zweitens geht es um ein Verbot des Imports von ent-
sprechenden Hunderassen und gefährlichen Hunden. Da-
mals haben wir gemeinsam mit der SPD im Vermittlungs-
ausschuss gefordert, ein solches Verbot im neuen Tier-
schutzgesetz zu verankern. Allerdings stellt sich natürlich
auch hier die Frage der Kontrolle und des Vollzuges. Man
benötigt dann an den Grenzen qualifizierte Kontrollbe-
amte. Des Weiteren ist eine Absicherung durch die EU-
Gesetzgebung notwendig, weil hier wettbewerbsrechtli-
che Anforderungen entgegenstehen. Auch hier besteht
also die Notwendigkeit der weiteren Ausgestaltung.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Drittens. Das Halten dieser Tiere soll nur mit Erlaub-
nisvorbehalt gestattet werden. Auch das ist eine vernünf-
tige Forderung. Allerdings muss ich auf das Problem der
nicht registrierten Tiere verweisen. Dieses Problem gibt
es in allen deutschen Städten. Ich denke, dass in diesem
Zusammenhang auch einmal über den Vorschlag der Grü-
nen in Berlin oder anderen Bundesländern in Richtung
einer Kennzeichnung nachgedacht werden muss. Wir
kennzeichnen inzwischen bei der landwirtschaftlichen
Nutztierhaltung fast jedes Tier. Das dürfte auch bei Hun-
derassen problemlos möglich sein. So könnte nachgewie-
sen werden – auch bei ausgesetzten Tieren –, wo diese
Hunde herkommen.

Vierter Punkt: Sachkundenachweis bzw. Hundeführer-
schein. Als ich diese Forderung vor vier Jahren erhoben

habe, bin ich in der „Bild“-Zeitung noch auf Seite 1 ge-
landet, so nach dem Motto: Jetzt sind sie völlig überge-
schnappt. Ich denke aber, dass sich dieser Weg in der
sachbezogenen Diskussion durchgesetzt hat. Dies dient
nicht nur dem Schutz der Halter, sondern auch dem der
Hunde, insbesondere aber dem Schutz der Menschen, die
mit diesen Tieren konfrontiert werden; denn Menschen,
die mit ihren Tieren nicht umzugehen wissen, können ih-
rer Verantwortung nicht gerecht werden. Das gilt natür-
lich nicht nur für die Pittbulls und Staffordshires, sondern
für alle Hunde ab einer gewissen „Kampfkapazität“.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dass jetzt in Berlin für das Halten entsprechender
Hunde Unbedenklichkeitsnachweise eingefordert wer-
den, halte ich für sinnvoll. In diesem Zusammenhang
möchte ich auf das von Herrn Gysi erwähnte Heimtier-
zuchtgesetz zu sprechen kommen. Es ist wichtig, dass die-
ses Gesetz endlich kommt; daran soll jetzt gearbeitet wer-
den. Die Wesensprüfung, anhand derer man eine Ein-
schätzung über den Hund gewinnen kann, wird
wesentlicher Bestandteil für die Freigabe zur Zucht sein.
Das ist eine Forderung, die von den Hundezüchterver-
bänden schon lange erhoben wird.

Ich habe es schon angesprochen: Die Kontrollen müs-
sen weiter verstärkt werden. Städte wie zum Beispiel
Leipzig können noch so tolle Verordnungen erlassen – sie
müssen dann aber auch das entsprechende Personal zur
Verfügung stellen.

Zu dem letzten Punkt, der Haftpflicht. Es gibt eine
Haftpflichtversicherung für Hunde. Diese sollte jetzt auch
in Anspruch genommen werden, ungeachtet dessen, was
die Versicherer gesagt haben. Eine obligatorische Haft-
pflichtversicherung ist eine sinnvolle Angelegenheit. Alle
Maßnahmen müssen so ausgerichtet werden, dass sie mit
Augenmaß angewandt werden.

Lassen Sie mich noch ein Letztes sagen: Die Tier-
schutzvereine und Tierschutzverbände haben zurzeit in
Bezug auf die Halter größerer Hunde eine unglaublich
schwierige Aufgabe. Gleichzeitig werden sie bei der Fi-
nanzierung und der personellen Unterstützung alleine ge-
lassen. Ich möchte daher an die Länder plädieren, in de-
ren Aufgabenbereich dies fällt: Unterstützen Sie die Tier-
schutzverbände und die Tierheime, damit sie ihren
Aufgaben gerecht werden können und einen Beitrag dann
leisten können, einer Situation zu begegnen, die verständ-
licherweise ein Stück weit emotionalisiert ist! Sie können
dafür Sorge tragen, dass auch der Tierschutzaspekt zum
Tragen kommt.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der F.D.P. und der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411203700
Es spricht jetzt der
Kollege Klaus Haupt, F.D.P.-Fraktion.






(C)



(D)



(A)



(B)



Klaus Haupt (FDP):
Rede ID: ID1411203800
Frau Präsidentin! Meine Da-
men und Herren! Herr Özdemir, ich bedauere zutiefst,
dass Sie angesichts der Problematik auf das Ritual der
Parteipolemik nicht verzichten konnten.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich halte Ihre Zitate für aus dem Zusammenhang gerissen
und damit schlicht und einfach für unverschämt.


(Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie mal etwas dazu!)


Ich zitiere nur einen Satz: Hier muss der illegalen Ag-
gressionszucht ein Riegel vorgeschoben werden, wofür
die Innenminister das notwendige Personal zur Verfügung
zu stellen haben.


(Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollten es nicht! Hier steht: „Keine Ausrottung von Hunderassen“!)


Meine Damen und Herren, die F.D.P. muss sich nicht vor-
werfen lassen, dass sie dieses Thema erst jetzt auf die Ta-
gesordnung gesetzt hat; denn wir befassen uns seit zehn
Jahren damit. So haben wir zum Beispiel 1991 gefordert,
die Haltung von Kampfhunden waffenrechtlich zu regeln.

Der sinnlose Tod des Schülers in Hamburg hat, wie
schon viele betont haben, zu einem Aufschrei in diesem
Lande geführt. Was mich persönlich entsetzt hat, war,
dass es vor den Augen der Mitschüler, vieler Kinder, zu
dieser entsetzlichen Tragödie gekommen ist, auf dem
Schulgelände, wo Eltern ihre Kinder eigentlich in Sicher-
heit wähnen.

Wer sich die Ängste der Eltern, vor allem aber die der
Kinder, und die seelischen Konsequenzen für sie vorstellt,
kann keine Endlosdebatten, keine Verniedlichungen und
Verharmlosungen und keine theoretischen Seminare über
Hunde mehr ertragen.


(Beifall bei der F.D.P. – Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Allerdings!)


Schon mehr als zehn Jahre ist das Problem virulent. Die
Politik hat – das müssen wir ehrlich eingestehen – die Lö-
sung des Problems schlicht verschlafen und ist fahrlässig
unentschlossen geblieben. Dass daraus beim Bürger
Zweifel an der Politik erwachsen, braucht uns eigentlich
nicht zu wundern.

Es darf jetzt keine Debatte darüber geben, ob Kampf-
hunde bei richtiger Handhabung in unserer verstädterten
Industriegesellschaft Platz haben oder nicht. Kampfhunde
sind gezielt auf höchste Aggressivität gezüchtet. Ja, alle
Hunde können beißen. Aber Kampfhunde sollen sich nach
dem Willen ihrer Züchter in ihre Opfer regelrecht ver-
beißen. Kampfhunde sind lebende Waffen und damit eine
potenzielle Gefahr.


(Beifall bei der F.D.P.)

Es darf auch nicht mehr darüber diskutiert werden, an

welchem Ende der Leine das Problem zu suchen ist. Wenn
wir das Problem an dem einen Ende der Leine, beim Men-
schen, kurzfristig nicht lösen können, müssen wir es eben

am anderen Ende der Leine, beim Hund, anpacken. Bür-
ger, insbesondere die besorgten Eltern, erwarten von uns
jetzt schnelles Handeln. Sie erwarten zu Recht null Tole-
ranz gegenüber dem Kampfhundewahn. Es ist schon be-
tont worden: Hier geht es um Opferschutz, um Freiheits-
rechte der Bürger, der Kinder, und – wie der grausame
Vorfall in Hamburg leider zeigt – auch um Menschenle-
ben. Als Kinderschutzbeauftragter meiner Fraktion sage
ich im Interesse der Kinder und der besorgten Eltern: Wir
kommen um radikale Maßnahmen nicht herum.


(Beifall bei der F.D.P.)

Es ist doch schizophren, dass man in Deutschland als Vor-
bestrafter zwar nicht in einen Schützenverein darf, wohl
aber ohne weiteres blutrünstige Kampfhunde durch die
Straßen führen darf.


(Dr. Gregor Gysi [PDS]: Das ist wahr!)

Es ist völlig klar – ohne Wenn und Aber –: Kampf-

hunde sind in Deutschland überflüssig. Sie müssen alle
ohne Ausnahme verschwinden. Alle anderen Regelungen
sind nicht zu kontrollieren, nicht zu überwachen und auch
nicht durchzusetzen, wie es zum Beispiel die Praxis des
allgemeinen Hundeleinenzwangs in Berlin sehr deutlich
zeigt. Eine halbherzige und verwirrende Kampfhunde-
verordnung wird genauso wenig durchzusetzen sein.
Die Ergebnisse der Telefonkonferenz der Innenminister
sind daher – das ist schon mehrfach betont wor-
den – ein richtiger Schritt in die richtige Richtung – der
Kinderschutzbund hat diese Maßnahmen übrigens schon
seit Jahren gefordert –, aber sie sind eben nur ein Schritt.

Wir können uns jetzt auch keine Kompetenzstreitig-
keiten leisten. Den besorgten Eltern ist es gleichgültig,
welche Ebene wofür zuständig ist. Klar ist, dass keine
Ebene allein alle Probleme lösen kann. Zusammenarbeit
ist das Gebot der Stunde.


(Beifall bei der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Sabine Kaspereit [SPD])


Dabei darf der Bund die Verantwortung nicht einfach nach
unten abschieben. Auch der Bund hat Handlungsspiel-
raum und muss diesen konsequent und energisch nutzen.

Die F.D.P. fordert zu Recht, dass Hundehalter
grundsätzlich für alle Schäden voll verantwortlich sind,
die ihre Tiere anrichten. Das betrifft – das ist schon mehr-
fach betont worden – die strafrechtliche Verantwortung.
Aber auch bei Ordnungswidrigkeiten im Zusammenhang
mit der Hundehaltung besteht dringender Handlungsbe-
darf. Die Bußgelder für diesbezügliche Verstöße sind viel
zu niedrig. Hier müsste noch rasch etwas geschehen. Die
im Tierschutzgesetz vorhandene Ermächtigungsgrund-
lage für Zuchtverordnungen muss sofort konsequent ge-
nutzt werden. Die F.D.P. begrüßt, dass Sie, Herr Bun-
desinnenminister Schily, hier ein Handeln der Bundesre-
gierung in Aussicht gestellt haben. Ich sage aber noch
einmal: Jetzt müssen die Taten rasch und entschlossen fol-
gen.

An Sie gewandt, Herr Özdemir, betone ich: Schon
1991 haben wir die Anwendung des Waffengesetzes auch






(C)



(D)



(A)



(B)


auf Hundehaltung, verknüpft mit einer Zuverlässigkeits-
prüfung für Hundehalter, als eine Möglichkeit angesehen.
Darüber wäre neu nachzudenken, wenn die Länder ihrer
Schutzverantwortung gegenüber den Bürgern nicht so ge-
recht werden, wie wir das erwarten.

Meine Damen und Herren, wir dürfen nicht zulassen,
dass Mütter um ihre Kinder zittern müssen, wenn sie im
Park spazieren gehen oder ihre Kinder auf Spielplätzen
umhertollen. Man kann übrigens Kindern nicht beibrin-
gen, wie sie sich richtig verhalten sollen, wenn sich
Kampfhunde nähern: –


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411203900
Herr Kollege Haupt,
Sie müssen bitte zum Schluss kommen.


Klaus Haupt (FDP):
Rede ID: ID1411204000
– ganz ruhig bleiben, keine hek-
tischen Bewegungen. Kinder sind überfordert.

Ich unterstütze die Forderung des Kinderschutzbundes
ausdrücklich: Es kann nicht sein, dass wir Kinder dressie-
ren, damit Hunde zu ihrem Recht kommen. Nein, wir
müssen uns entscheiden; denn gerade die Schwächsten
unserer Gesellschaft, unsere Kinder, brauchen Schutz,
brauchen das Handeln des Staates, und zwar jetzt und
nicht halbherzig, sondern konsequent.

Danke.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411204100
Als Nächster spricht
der Kollege Günter Graf, SPD-Fraktion.


Günter Graf (SPD):
Rede ID: ID1411204200
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin jetzt der zehnte
Redner zu diesem Tagesordnungspunkt. Ich habe von all
meinen Vorrednern und Vorrednerinnen – zumindest im
Grundsatz – vernommen, dass jetzt Handlungsbedarf be-
steht und dass keine Zeit mehr bleibt, miteinander über
Zuständigkeitsfragen und dergleichen mehr zu diskutie-
ren. Ich unterstreiche dies mit Nachdruck. Herr Uhl, ich
habe keine anderen Ausführungen von Ihnen erwartet,
möchte aber nicht darauf eingehen. Dies hilft uns im Mo-
ment auch nicht weiter. Ich denke, hier ist Gemeinsamkeit
angesagt. Diese sollten wir pflegen.

Vor diesem Hintergrund möchte ich dem Bundesin-
nenminister in aller Deutlichkeit ganz herzlich dafür dan-
ken, dass er bereits am 5. Mai 2000 bei der IMK in Düs-
seldorf gemeinsam mit den Länderkollegen einen Be-
schluss gefasst hat, der sich mit den zentralen Fragen
beschäftigt: Zuchtverbot, Verbot der Erziehung zur Ag-
gressivität, Importverbote usw. All dies ist angesprochen
worden. Auch Sie, liebe Vorrednerinnen und Vorredner,
haben dies erwähnt. Jetzt geht es darum, dies umzusetzen.
Hier sind in erster Linie die Länder gefordert, die auch da-
bei sind.

Ich möchte dem Bundesinnenminister noch für etwas
anderes danken, nämlich für die Telefonkonferenz von
vorgestern. Dort hat er zugesagt, die rechtlichen Voraus-

setzungen für ein Importverbot und dafür zu schaffen,
dass Verstöße mit strafrechtlichen Sanktionen belegt wer-
den. Aufgrund der Kompetenzverteilung ist eine Bundes-
regelung notwendig.

Ich möchte aber auch das Hohe Haus in Gänze auffor-
dern. Es ist gut, dass jetzt gehandelt wird, wenn auch zu
spät. Diese Diskussion hatten wir auch schon vor zehn
Jahren. Ich will aber nicht darüber reden, wer damals was
hätte tun können. Die farblichen Konstellationen der Re-
gierungen in den Bundesländern und der Bundesregie-
rung waren sehr unterschiedlich; insofern hilft eine Dis-
kussion darüber nicht weiter.

Wir müssen gemeinsam mit den Ländern erreichen,
dass die Regelungen, die jetzt in Ruhe und Sachlichkeit
getroffen werden, zu einer Vereinheitlichung führen. Ich
sage das vor folgendem Hintergrund: Wenn ein deutscher
Urlauber mit seinem Hund von der Nordsee, von der ich
komme, nach Bayern fährt und sich an jeder Grenze zu ei-
nem anderen Bundesland schlau machen muss, was er mit
diesem seinem Hund einer besonderen Rasse in diesem
Bundesland tun darf und muss, kann das nicht richtig sein.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Deshalb muss es unser Bestreben sein, im Nachhinein die
bereits getroffenen Ländervereinbarungen ein Stück weit
einander anzugleichen, damit auch für die Bevölkerung
Rechtsklarheit herrscht.

Ich glaube, Sie, Herr Westerwelle, haben eingangs ge-
sagt: Dies gilt nicht nur für die Länder der Bundesrepu-
blik, sondern auch für das zusammenwachsende Europa.
Wir haben die Grenzen abgeschafft. Es ist heute möglich,
die Grenzen der Mitgliedstaaten innerhalb der Europä-
ischen Union unkontrolliert zu passieren, wann man will.

Nun sind die Regelungen in den Mitgliedstaaten der
EU zur Kampfhundehaltung sehr unterschiedlich. Es gibt
sehr restriktive Regelungen, aber auch solche, die im
Grunde keine sind. In das eine Land darf ich hinein. Aber
Norwegen zum Beispiel lässt mich mit meinem Kampf-
hund nicht hinein. Andere Länder lassen die Einreise zu,
wenn ich dem Hund einen Maulkorb anlege.


(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ CSU]: Günter, hast du einen Kampfhund?)


Diese Beispiele zeigen, dass es uns jetzt darum gehen
muss, auch auf europäischer Ebene entsprechende Rege-
lungen zu treffen, damit die Bevölkerung weiß, worum es
geht.

Dass wir Regelungen brauchen, damit sich solche Vor-
fälle, wie es sie übrigens immer schon gab, nicht wieder-
holen, ist klar. Vor einem – weil es immer schnell falsch
aufgefasst werden kann – will ich allerdings warnen: Bei
allen Regelungen, die wir treffen, bei allen Möglichkei-
ten, die wir den Behörden, die damit umzugehen haben,
einräumen, wird es immer einmal wieder zu solchen Vor-
fällen kommen. Denn nicht jeder Vorfall kann von Geset-
zen gedeckt werden. Das ist wie bei der Kriminalität. Wir
können alles Mögliche überwachen. Wir können den Ab-
stand der Polizei zum Straftäter verringern. Aber die Nase




Klaus Haupt
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(D)



(A)



(B)


vorn hat immer der Straftäter. Auch der Kampfhund bzw.
der Hund, welcher Rasse auch immer, hat stets die Nase
vorn. Wir müssen alles in unseren Kräften Stehende tun,
damit Vorfälle wie der in Hamburg mehr oder weniger
ausgeschlossen werden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411204300
Das Wort hat die Kol-
legin Beatrix Philipp, CDU/CSU-Fraktion.


Beatrix Philipp (CDU):
Rede ID: ID1411204400
Frau Vizepräsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Graf, ich
habe natürlich nichts gegen einen Dank an den Bundes-
innenminister.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – HansPeter Kemper [SPD]: Er ist ja auch gerechtfertigt!)


Aber es wäre alles schneller gegangen, wenn man einfach
von den Bayern abgeschrieben hätte.


(Zuruf von der SPD: Hätten Sie es doch getan!)


Ich beziehe mich dabei auf Herrn Wiefelspütz, der vor-
gestern im Innenausschuss gesagt hat: Wir müssen von
den Bayern lernen.


(Hans-Peter Kemper [SPD]: Aber nur in diesem Punkt!)


Dass die Bayern sich das öfter wünschen als Sie und als
ich, das wissen wir ja. Aber an dieser Stelle haben sie nun
einfach einmal Recht gehabt und es hätte den Vorgang si-
cherlich sehr beschleunigt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das gilt natürlich auch, Herr Graf, für die europäische

Ebene. Darüber, denke ich, werden wir noch an anderer
Stelle reden müssen. Ich kann nur Dinge empfehlen, die
sich besonders gut bewährt haben.

Es ist deutlich darauf hinzuweisen: Wir sprechen heute
über Kampfhunde, Herr Gysi, nicht über Hunde, die an-
deren Menschen dienen,


(Dr. Gregor Gysi [PDS]: Das habe ich nicht gesagt!)


wie Wachhunde, Blindenhunde oder Rettungshunde. Sie
haben eben den Deutschen Schäferhund gerade noch „am
Schwanz erwischt“. Wir müssen schon über das reden,
was auf der Tagesordnung steht, und das sind Kampf-
hunde.

Kampfhunde sind, wie in der bayerischen Verordnung
zu lesen ist, durch zwei Kriterien deutlich definiert. Ag-
gressivität ist deren einziges Zuchtkriterium. Das trifft auf
Schäferhunde nicht zu. Anlagebedingte Aggressivität
wird bei Kampfhunden durch Abrichten noch verstärkt.
Die Methoden, die dabei angewandt werden – ich sage das

einmal für alle, die sich für Tierschützer halten –, sind
ganz eindeutig Tierquälerei. Als etwas anders kann man
das nicht bezeichnen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und des Abg. Dr. Gregor Gysi [PDS])


Es zeichnet diese Tiere aus, dass sie am Ende dieser
Prozedur gegenüber allen aggressiv sind, außer gegen-
über ihrem Halter. Es liegt in der Natur des Hundes – das
weiß jeder –, dass er sich an seinem Halter orientiert. Für
andere Menschen werden diese Hunde aber zur Bedro-
hung. Die Kampfhunde haben sich – das ist auch schon
mehrfach gesagt worden – zu einer ungesicherten Waffe
entwickelt. Daher ist es nur konsequent, von dem Hunde-
halter den Nachweis der Eignung und Zuverlässigkeit zu
verlangen. Wie gesagt, die bayerischen Verordnungen
halten uns das deutlich vor Augen.

Da diese Hunde häufig als Statussymbol und zur Kom-
pensation von Minderwertigkeitskomplexen missbraucht
werden, wird dort verlangt, dass der Besitzer ein berech-
tigtes Interesse am Besitz eines solchen Hundes nach-
weist.

Wie groß die Tierliebe im Übrigen gerade bei diesen
Besitzern ist, sieht man an den neuesten Tickermeldungen
von heute, die ja darauf hinweisen, dass diese Tiere in
großer Zahl ausgesetzt werden. Es scheint also mit der
Tierliebe bei diesen Besitzern nicht besonders weit her zu
sein.

Alle Appelle in der Vergangenheit, alle fürchterlichen
Vorkommnisse, alle Versuche, das Problem mit einfachen
Mitteln – etwa Maulkorb und Leine – in den Griff zu be-
kommen, haben nicht den gewünschten Effekt gebracht.
Schließlich war auch der Hamburger Hundehalter ver-
pflichtet, seinen Hund mit Maulkorb an der Leine zu
führen. Darauf ist von Herrn Dr. Uhl eben schon hin-
gewiesen worden.

Mit solch faulen Kompromissen kommen wir nicht
weiter. Es geht um den Schutz von Menschen, die sich be-
droht fühlen oder es tatsächlich sind. Das ist eigentlich
egal. Wenn sich jemand subjektiv bedroht fühlt, muss man
etwas dagegen tun, auch wenn er objektiv nicht bedroht
sein mag. Das trifft für andere Bereiche, die wir ja öfter
im Innenausschuss besprechen, ebenfalls zu.

Herr Graf hat darauf aufmerksam gemacht: Ein Blick
nach Europa hilft auch hier. In diesem Punkt sind andere
europäische Länder schon sehr viel weiter als wir. Auch
Herr Bosbach hat bereits darauf hingewiesen. Ich will
nicht so weit wie manche Bürgerinnen und Bürger gehen,
die nun fordern, alle Kampfhunde einzuschläfern. Aber je
nachdem, welche Erfahrungen der eine oder andere ge-
macht hat, kann ich den Wunsch eigentlich verstehen.

Meine Damen und Herren, als im Zusammenhang mit
BSE 2 Millionen Rinder geschlachtet wurden, also Nutz-
tiere, hat es hier keinen Aufschrei gegeben – 2 Millionen
Tiere, bei denen auch nur zum Teil der Verdacht auf BSE
bestand. Da gab es keinen Aufschrei. Ich habe kein Ver-
ständnis dafür, dass bei BSE allein der Verdacht aus-
reichte, bei Kampfhunden aber nicht einmal der Nachweis




Günter Graf (Friesoythe)


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(D)



(A)



(B)


der Gefährlichkeit der Tiere für eine solche Maßnahme
ausreichen soll.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Ich kann das überhaupt nicht verstehen. Das ist eine falsch
verstandene Tierliebe. Schließlich wird ja auch ein harm-
loser Schoßhund, der Tollwut hat, eingeschläfert. Auch
hierüber gibt es überhaupt keine Debatte.

Wie gesagt: Wir müssen uns auf die Menschen kon-
zentrieren, und zwar auf der einen Seite auf diejenigen,
für deren Schutz wir verantwortlich sind – das sind insbe-
sondere Kinder und alte Menschen – auf der anderen Seite
aber auch auf diejenigen, die diese Hunde als Waffe miss-
brauchen, die so genannten Halter. Des Weiteren müssen
wir uns auf diejenigen konzentrieren, die mit diesen Hun-
den ihre Geschäfte machen, indem sie mit diesen handeln,
sie importieren oder züchten. Wir brauchen dringend den
Nachweis der eigenen Zuverlässigkeit bei den Haltern so-
wie ein Import- und Zuchtverbot. Oberstes Ziel dabei
muss sein, dem Schutzbedürfnis unserer Bürger in hohem
Maße Rechnung zu tragen.

Es wird Zeit und sehr viel Geduld brauchen, bis sich
die Menschen wieder geschützt fühlen, bis sich diejenigen
wieder sicher fühlen, die heute noch die Straßenseite
wechseln, und bis sich die Menschen wieder trauen, Kin-
der auf Spielplätze zu lassen, das heißt, bis sich die Men-
schen nicht mehr in ihrer Freizügigkeit eingeschränkt
fühlen, weil sie manche Plätze aus Angst vor diesen Hun-
den meiden. Wir müssen dafür sorgen, dass eine konse-
quente Umsetzung und Kontrolle der Vorhaben erfolgt. Es
muss klar sein, dass der Schutz der Bevölkerung vor der
vermeintlichen Freiheit des Einzelnen, der glaubt, zur
Entfaltung seiner Persönlichkeit einen Kampfhund besit-
zen zu müssen, Vorrang hat.

Lassen Sie mich noch ein Letztes sagen: Wir werden
mehr Personal brauchen und müssen in den Ordnungsäm-
tern dafür sorgen, dass dort Prioritäten gesetzt werden, so
wie das in meiner Heimatstadt Düsseldorf unter dem
neuen Oberbürgermeister Joachim Erwin gestern gesche-
hen ist. Ich sage Ihnen: Lieber eine Fahrzeugkontrolle we-
niger und dafür eine Kampfhundehalterkontrolle mehr.
Damit würden wir den Wünschen der Bevölkerung sehr
entgegenkommen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411204500
Es spricht jetzt der
Bundesminister des Innern, Otto Schily.


Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1411204600
Frau Präsi-
dentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Ich möchte
vorweg sagen: Ich bedanke mich sehr herzlich für die Ein-
mütigkeit in der Grundsatzfrage, die hier sichtbar gewor-
den ist. Hinsichtlich der Vergangenheit kann man sicher
das eine oder andere kritische Wort anführen. Da mag je-
der vor seiner Türe kehren.

Herr Kollege Uhl, Sie haben den Finger auf Hamburg
gerichtet. Lesen Sie einmal die Liste der Aktivitäten in
den Ländern. Dann werden Sie auch einige CDU-regierte
Länder entdecken, die noch Nachholbedarf haben.


(Erwin Marchlewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Welche?)


Ich will darüber jetzt aber nicht reden, weil die gefun-
dene Einmütigkeit nicht infrage gestellt werden soll.

Ich zögere auch nicht, dem Freistaat Bayern sowie
Herrn Uhl selbst und der Stadtverwaltung von München
besondere Anerkennung und besonderes Lob zu zollen.
Wir sollten dieses Lob aber auch dem Land Brandenburg
zuteil werden lassen, das – zwar nicht ganz so früh, aber
immerhin im Jahre 1998 – entsprechende Maßnahmen er-
griffen hat. Ich denke, das ist eine richtige und faire Hal-
tung in dieser Frage.

Am 28. Juni dieses Jahres – also vor wenigen Tagen –
ist in der „Süddeutschen Zeitung“ ein sehr lesenswerter
Artikel zum Thema Kam pfhunde erschienen. Dieser Ar-
tikel trug die Überschrift „Probleme an beiden Enden der
Leine“. Genau das ist richtig. Das ist die richtige Beurtei-
lung des Sachverhalts. Aufgrund dieser richtigen Beurtei-
lung des Sachverhalts haben die Länderinnenminister und
der Bundesinnenminister in großem Einvernehmen An-
fang Mai ein Maßnahmenpaket beschlossen, das dieser
Beurteilung entspricht.

Ich will nicht alle Maßnahmen hier aufzählen. Ich will
nur einige beispielhaft aufführen: Definition der Gefähr-
lichkeit von Hunden, und zwar individuell sowie anhand
bestimmter sozial inadäquater Verhaltensweisen oder abs-
trakt durch Rassezugehörigkeit, Zuchtverbot für indivi-
duell gefährliche Hunde oder als gefährlich eingestufte
Zuchtlinien, Kastrations- und Sterilisationsgebote unter
Beachtung tierschutzgesetzlicher Grundsätze, Haltung
gefährlicher Hunde nur mit Erlaubnisvorbehalt.


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Anke Fuchs)

In der Schaltkonferenz am 28. Juni – also vor wenigen

Tagen – haben wir diese Maßnahmen noch einmal be-
kräftigt und zu unserer Zufriedenheit feststellen können,
dass alle Länder – ausnahmslos – Initiativen in Gang ge-
setzt haben. Dafür will ich meinen Länderinnenminister-
kollegen ausdrücklich danken.

Ich will bekräftigen – das ist hier von vielen Kollegin-
nen und Kollegen gesagt worden –: Ich halte die denkbar
schärfsten Maßnahmen für geboten. Das Bundeskabinett
hat zusätzliche Maßnahmen beschlossen: ein Importver-
bot, ein Zuchtverbot im Tierschutzgesetz. Ich darf das
aber mit dem Hinweis verbinden: Es gibt bereits das Ver-
bot der Aggressionszucht im Tierschutzgesetz und bei der
Ausbildung. Sie müssen immer daran denken: Es geht
hier nicht um Tierschutz, sondern in erster Linie um
Menschenschutz. Das sollten wir schon bedenken, damit
die Dinge nicht durcheinander geraten.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)





Beatrix Philipp
10630


(C)



(D)



(A)



(B)


Für den Menschenschutz, für Sicherheit und Ordnung,
sind die Länder im Rahmen der Polizeigesetze zuständig.
Deshalb muss von diesen Zuständigkeiten Gebrauch ge-
macht werden, zumal auch die entsprechenden Maßnah-
men im Wege von Verordnungen dann schneller ihren
Weg nehmen können.

Ich denke, es war auch richtig, dass wir auf meine An-
regung hin jetzt beschlossen haben, dass wir, wenn auf
Länderebene Gebote oder Verbote in Kraft gesetzt wer-
den, sie mit einem so genannten Blankettgesetz auch
strafrechtlich bewehren und damit die Sanktionsdrohun-
gen von der Ordnungswidrigkeit auf Vergehenstatbe-
stände aufstocken. Auch das ist notwendig; denn das sind
nicht irgendwelche Lappalien, sondern hier geht es um
eine wirklich schwere Gefährdung von Menschen. Des-
halb muss auch eine solche Sanktionsdrohung vorhanden
sein.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Wir werden das sehr schnell voranbringen. Das Import-
verbot, für das wir auf Bundesebene zuständig sind, sollte
ergänzt werden durch ein Handelsverbot, für das wie-
derum die Länder zuständig sind.

Ich teile die Auffassung aller, die hier gesagt haben,
dass natürlich alle diese Gebote und Verbote davon ab-
hängig sind, dass in der Praxis der Vollzug gesichert wird.
Anders kann es nicht funktionieren. Ich nehme aber gerne
die Anregung des Kollegen Westerwelle und des Kollegen
Graf auf, dass wir auch auf europäischer Ebene initiativ
werden müssen.

Eines, meine Damen und Herren, muss kristallklar sein
und ich bin überzeugt, dass wir darüber wirklich eine
großartige Einmütigkeit erzielt haben: Wir lassen nicht zu,
dass das Leben und die Gesundheit von Menschen, insbe-
sondere von Kindern und älteren Menschen, durch das Im-
poniergehabe, die Aggressionslust, den Kompensationsbe-
darf bei Ich-Schwäche und die Verantwortungslosigkeit
bestimmter Hundehalter – ich schränke das ein, damit Sie
nicht meinen, das sei ein Pauschalurteil – in Gefahr ge-
bracht werden. Das ist unsere gemeinsame Verantwortung.


(Beifall im ganzen Hause)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411204700
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Erwin Marschewski, CDU/CSU-Fraktion.


Erwin Marschewski (CDU):
Rede ID: ID1411204800

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Herr Bundesinnenminister, ich bin Ihnen für die heu-
tigen Ausführungen sehr dankbar. Sie finden die volle
Unterstützung meiner Fraktion, der CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Lassen Sie mich als letzten Redner meiner Fraktion ge-
genüber den Angehörigen des Kindes, das in Hamburg auf
so tragische Weise ums Leben gekommen ist, unser Mit-
gefühl ausdrücken. Es schmerzt, feststellen zu müssen,
dass für dieses Kind jede Hilfe zu spät kam.

Darüber hinaus aber macht mich betroffen: Selbst nach
diesem Ereignis wurden in den letzten Tagen erneut meh-

rere Menschen von Kampfhunden angefallen. Gerade
deswegen bin ich doch entsetzt über das Hickhack, wer
denn letzten Endes zuständig war, wer zuständig ist. Ich
bin auch entsetzt, Herr Innensenator, über so manches
Bundesland. Es wurde vieles geplant, es wurde wenig ver-
wirklicht und es wurde ganz wenig durchgesetzt.

Wir haben gebeten, diesen Punkt im Innenausschuss
des Deutschen Bundestages zu behandeln. Sie, Herr Kol-
lege Wiefelspütz, haben dem zögernd zugestimmt. Aber
unser Ergebnis war: Es hat keinen Sinn, nur auf die
Zuständigkeit der Länder zu verweisen. Wenn die Länder
nicht handeln, muss der Bund, soweit er zuständig ist,
selbst die Initiative ergreifen. Wir dürfen nicht warten, bis
die Länder entsprechende Verordnungen oder Gesetze er-
lassen haben.


(Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat er doch gemacht!)


Wir teilen voll Ihre Meinung, Herr Innenminister: Es sind
die schärfsten Maßnahmen geboten. Dies gilt für die
Hunde wie auch für die Hundehalter.

Man fragt sich, warum das Interesse erst dann so groß
wird, wenn etwas Scheußliches passiert ist, obwohl jeder
weiß, dass Kampfhunde wandelnde Waffen sind, dass sie
nicht aus Tierliebe und zum eigenen Schutz gehalten wer-
den, dass sie – das ist schon vorher gesagt worden – Sta-
tussymbol sind und dass es darum geht, ein Bedrohungs-
potenzial mit diesen Hunden aufzubauen, wie es Zuhälter
tun. Das darf nicht akzeptiert werden. Deswegen fordern
die Bürger zu Recht – ich möchte die „Berliner Morgen-
post“ zitieren –: Kampfhunde kastrieren, kontrollieren
oder gleich generell verbieten. Recht haben sie, die
Berlinerinnen und Berliner, nach den schrecklichen Ge-
schehnissen von Hamburg!

Das Beispiel Bayern ist genannt worden. Es ist gut,
dass die Innenminister im Rahmen einer Telefonkonfe-
renz nun zu Ergebnissen gekommen sind. Aber Minister-
beschlüsse allein – das lehrt die unmittelbare Vergangen-
heit – beseitigen keine Gefahren. Es ist schon schlimm, so
schreibt eine Zeitung, „dass ein Pitbull nötig ist“, so das
Zitat, „um Politiker wach zu beißen“. Ein bisschen haben
die Journalisten schon Recht. Deswegen fordere ich: ers-
tens Zuchtverbote und Haltungsverbote für einschlägig
Vorbestrafte; zweitens Verbot der Einfuhr von gefährli-
chen Hunden; drittens Anlein- und Maulkorbpflicht; vier-
tens eine Wesensprüfung für alle Kampfhunde, die einzu-
schläfern sind, wenn sie diese Prüfung nicht bestehen;
fünftens eine harte Bestrafung der Halter, die keine or-
dentlichen Zuchtpapiere vorweisen können. Das sind si-
cherlich 99 Prozent. Sie sind die eigentlich Schuldigen.

Zum Schluss: Ich gehe davon aus, dass die Länder jetzt
handeln und dass sie den Vollzug des Verbots auch si-
chern. Aber wenn dies in Zusammenarbeit mit den Län-
dern nicht geschieht, dann müssen wir, Herr Bundes-
innenminister, die Aufgabe übernehmen. Wenn wir das
nicht tun, haben wir uns alle in beträchtlichem Maße mit-
schuldig gemacht.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der F.D.P.)





Bundesminister Otto Schily

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Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411204900
Das Wort hat nun der
Kollege Harald Friese, SPD-Fraktion.


Harald Friese (SPD):
Rede ID: ID1411205000
Frau Präsidentin! Meine sehr
geehrten Kolleginnen und Kollegen! Es hätte eine viel
schönere Debatte werden können; denn im Grunde ge-
nommen gibt es ja einen Konsens, nämlich ein Einver-
nehmen des Hauses, dass etwas gegen Kampfhunde getan
werden muss, und zwar schnell. Trotzdem gab es ein paar
Zwischentöne, die ich kurz ansprechen möchte.


(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ CSU]: Ihr hättet den Rücktritt des Innensenators gefordert! Wir waren noch sehr zurückhaltend! Seid mal ruhig!)


Natürlich ist Bayern ein Vorbild. Aber das hätte für alle
Bundesländer gegolten, egal, ob A-Länder oder B-Länder.
Wenn jetzt die Frage gestellt wird: „Was hat der Bund ge-
macht?“, dann kann ich mir die Feststellung – nachdem
das Thema schon vor zehn Jahren hier im Bundestag dis-
kutiert wurde – nicht verkneifen anzumerken, dass in der
Zwischenzeit offensichtlich auch nicht viel geschehen ist.

Ich wollte aber eigentlich gar keine parteipolitische
Differenzierung in diese Debatte hineinbringen;


(Zuruf von der CDU/CSU: Haben Sie aber gemacht!)


vielmehr wollte ich darauf hinweisen, dass die Politik
vielleicht zu Unrecht am Pranger steht. Es gab ja Verord-
nungen der Länder, zum Beispiel in Baden-Württemberg
und Hamburg, die aber von den Gerichten kassiert wur-
den. Daran lässt sich die babylonische Gefangenschaft
aufzeigen, in der sich im Augenblick die Politik befindet,
nämlich zwischen einer sehr detaillierten Rechtsprechung
und rechtsstaatlichen Grundsätzen. Wenn man konkret
handeln will, dann sagen die Gerichte plötzlich Nein. Die
Politik hat Angst, zu handeln und zu entscheiden, weil sie
befürchten muss, dass ihre Entscheidungen gerichtlich
kassiert werden.

Wir dürfen bei der ganzen Diskussion nicht vergessen,
dass rechtsstaatliche Grundsätze nicht über die Wupper
gehen dürfen. Aber wir müssen auch sehen: Wenn es ei-
nen rechtsstaatlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
gibt, dann nützt es überhaupt nichts, einen Anlein- und
Maulkorbzwang zu beschließen, der nachher nicht kon-
trolliert werden kann. Genau das wird die Praxis sein.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Weder Länder noch Gemeinden sind in der Lage – wenn
Hundehaltung nur mit Führerschein und Prüfung des
Hundes und des Halters erlaubt wird –, die Einhaltung ei-
ner solchen Vorschrift konkret zu kontrollieren.

Die Freiheit des Einzelnen – das ist der zweite rechts-
staatliche Grundsatz neben dem der Verhältnismäßigkeit –
hat natürlich zwangsläufig dort ihre Grenzen, wo die Frei-
heit des anderen anfängt und wo der Staat die Aufgabe
hat – das ist eine seiner vornehmsten Aufgaben, die aller-
dings immer mehr aus dem Blickfeld gerät –, für die Si-
cherheit seiner Bürger zu sorgen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das heißt, wir müssen, ohne rechtsstaatliche Grundsätze
zu verletzen, ganz klare Regelungen treffen, die geeignet
sind, die Kampfhunde tatsächlich von der Straße zu ent-
fernen.


(Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: So ist es!)

Wenn ich die Beschlüsse der Innenministerkonferenz
lese, dann zweifele ich ein bisschen an den unendlichen
Ermessensüberlegungen, mit denen Haltung von Kampf-
hunden eingeschränkt werden soll. Aber lassen wir dies
dahingestellt.

Ich möchte namens der SPD-Fraktion sagen, dass wir
dem Bundesinnenminister ausdrücklich danken und dass
wir diese Politik – Importverbot, Zuchtverbot – mit Über-
zeugung fortführen wollen. Ich möchte hinzufügen: Wir
müssen einen Schritt weiter gehen und Überlegungen an-
stellen, ob es nicht so ist, dass letzten Endes nur ein Hal-
tungsverbot zum Ergebnis führen kann. Mit den differen-
zierten Regelungen und den differenzierten Prüfungen, ob
ein Hund tatsächlich gefährlich ist und ob ein Halter
tatsächlich geeignet ist, einen solchen Hund zu halten,
kommen wir nicht weiter. Ich bitte einfach darum, zu prü-
fen, ob man nicht für ein generelles Haltungsverbot sor-
gen kann.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich möchte einen dringenden Appell an die Länder rich-

ten: Die Funktionsfähigkeit des Föderalismus erweist sich
nicht daran, dass wir 16 verschiedene Regelungen bekom-
men. Die Funktionsfähigkeit des Föderalismus erweist
sich vielmehr daran, dass sich die Länder, wenn die
Notwendigkeit besteht, etwas bundeseinheitlich zu regeln –
der Kollege Graf hat darauf ausdrücklich hingewiesen –,
im Sinne eines kooperativen Föderalismus zusammenrau-
fen und eine gemeinsame Lösung finden, die dann von
den jeweiligen Landesparlamenten umgesetzt wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Was auf der Ebene des Polizeigesetzes möglich sein
soll – dort gibt es ja einen gemeinsamen Entwurf –, muss
erst recht in der Frage der Haltung von Kampfhunden
möglich sein. Ein Flickenteppich von landesrechtlichen
Regelungen in Deutschland kann mit Blick auf die euro-
päische Dimension nicht angemessen sein.

Pflegen wir das Pflänzchen der Gemeinsamkeit, das in
dieser Debatte sichtbar wurde! Überlegen wir, ob es recht-
lich möglich wäre, einen noch weiter gehenden Schritt zu
tun! Nur durch diesen Schritt werden wir das erreichen,
was wir wollen: Sicherheit auf unseren Straßen, Sicher-
heit für unsere Bürger. Mit dem unsinnigen Gefährdungs-
potenzial, das in der Haltung von Kampfhunden steckt,
muss Schluss sein; denn dafür gibt es keine Rechtferti-
gung.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜND NIS 90/DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411205100
Ich weise jetzt darauf
hin, dass Herr Innensenator Wrocklage aus Hamburg
noch etwas klarstellen möchte. Er hat noch Redezeit. Das






(C)



(D)



(A)



(B)


heißt, dass wir danach in die Fortsetzung der Aktuellen
Stunde eintreten könnten. Aber ich glaube, an diesem
Freitag belassen wir es bei den nächsten beiden Re-
debeiträgen. Es ist so, dass nachher je ein Sprecher der
Fraktionen das Wort ergreifen könnte. Ich bitte Sie aber
um Nachsicht, dass wir mit der Rede des Herrn Innen-
ministers diese Debatte abschließen.

Ich erteile dem Innensenator der Freien und Hansestadt
Hamburg, Herrn Wrocklage, das Wort.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411205200
Frau
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Ich mache es ganz kurz. Ich nehme aus dieser Debatte den
Konsens darüber mit, dass wir Menschenschutz vor Tier-
schutz stellen und dass wir einhellig der Auffassung sind:
weg mit den Kampfhunden!


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P.)


Ich nehme mit, dass es die Bereitschaft gibt, auch schwie-
rige Entscheidungen – ich habe sie in meiner Rede vorhin
angedeutet – mitzutragen.

Ich möchte nicht auf die Polemik des Kollegen Uhl ein-
gehen.


(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ CSU]: Das ist doch Käse, Mensch! Machen Sie doch so etwas nicht! So etwas macht man doch nicht als Letzter!)


Ich möchte nur darauf hinweisen, dass es in den Ländern
unterschiedliche Rechtslagen gegeben hat. In Baden-
Württemberg herrscht aufgrund der dortigen Rechtspre-
chung eine ähnliche Situation vor wie bei uns. Das Land
Hamburg hat deswegen zusammen mit den Innenminis-
terkollegen die Innenministerbeschlusslage vom Mai her-
gestellt,


(Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Nach sieben Jahren Untätigkeit!)


um damit die vorhandenen Möglichkeiten zu nutzen und
die Hundeverordnung zu erlassen, die ich hier vorhin vor-
gestellt habe. Das möchte ich klarstellen, damit jeder von
den richtigen Voraussetzungen ausgeht, Herr Uhl.

Vielen Dank.

(Beifall des Abg. Rolf Stöckel [SPD])



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411205300
Zur Sachlage möchte
ich Folgendes erläutern: Wenn der Herr Bundesinnenmi-
nister gesprochen hat, dann ist die Aktuelle Stunde ei-
gentlich beendet. Auf Verlangen einer Fraktion kann al-
lerdings erneut je ein Sprecher der Fraktionen das Wort
erhalten. Ich denke, das wollen wir alle nicht. Wenn Sie
einverstanden sind, dann lasse ich jetzt den Herrn Bun-
desinnenminister und anschließend für zwei Minuten
noch einen Vertreter der CDU/CSU sprechen.

Herr Minister, Sie haben das Wort.


Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1411205400
Frau Präsi-
dentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Ich will auch
keine Rede halten, sondern möchte Ihnen nur eine sach-
liche Information geben; es geht nur um eine sachliche In-
formation.

Ich bin mit den Damen und Herren Kollegen ja völlig
einig darin, dass wir eine möglichst bundeseinheitliche
Regelung brauchen. Aber es geht eben um Gefahren für
die innere Sicherheit und Ordnung. Das ist Polizeirecht,
wofür die Länder zuständig sind.


(Dieter Wiefelspütz [SPD]: Richtig!)

Deshalb muss man darauf achten, die Zuständigkeiten

so rasch wie möglich in Anspruch zu nehmen, die beste-
hen.


(Beifall bei der SPD und der F.D.P.)

Alles andere würde eine Verfassungsänderung vorausset-
zen. Das ist das Erste, was ich sagen wollte.

Das Zweite geht an den Kollegen aus meiner Fraktion,
der zuletzt geredet hat. Die Länderinnenminister haben
sich darauf geeinigt, dass nur noch eine Haltemöglichkeit
mit Erlaubnisvorbehalt besteht. In Bayern – dieses Bei-
spiel führe ich an, weil wir des Öfteren über Bayern gere-
det haben – ist danach de facto nicht eine einzige Erlaub-
nis mehr erteilt worden. Insofern ist das Halteverbot
durchgesetzt worden.

Ich meine, es ist sinnvoll, dass das zur sachlichen In-
formation am Schluss der Debatte hier noch gesagt wor-
den ist. Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411205500
Der Kollege Uhl hatte
noch um zwei Minuten Redezeit gebeten. Diese Redezeit
bekommt er jetzt auch und dann ist die Aktuelle Stunde
beendet.

Herr Kollege Uhl, bitte.


Dr. Hans-Peter Uhl (CSU):
Rede ID: ID1411205600
Frau Präsidentin!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In ganz großer Ruhe
und Sachlichkeit, Herr Innensenator Wrocklage, Folgen-
des: Ich habe Sie nicht bezüglich Ihrer Tätigkeit im Jahre
2000 gescholten, sondern ich habe Sie nur daran erinnert,
dass das Verwaltungsgericht Hamburg im Jahre 1992 Ihre
Hundeverordnung aufgehoben hat, und habe Sie gefragt,
was Sie danach, also zwischen 1993 und 1999, sieben
Jahre lang, in Hamburg gemacht haben. Da fehlte der
wirkliche politische Gestaltungswille.

Ergänzend habe ich erwähnt, dass wir – das heißt, ich
in meiner Zuständigkeit als Kreisverwaltungsreferent in
München – in diesen sieben Jahren keine einzige Kampf-
hundehaltung erlaubt haben. In ganz München gibt es nur
noch drei Kampfhunde. Das sind Altbestände. Wir woll-
ten diese Tiere nicht töten lassen, sondern haben sie mit
Maulkorb- und Leinenzwang unter Kontrolle. – Das ist
unsere Tätigkeit seit 1992.




Vizepräsidentin Anke Fuchs

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(B)


Ich werfe Hamburg also vor – das gilt auch für andere
Bundesländer, die ähnlich untätig waren –, dass in den sie-
ben Jahren bis zum Jahre 2000 dort nichts Konkretes pas-
siert ist. Wenn man vor dem Verwaltungsgericht nicht
durchkommt, dann unternimmt man eben einen zweiten
Anlauf, das heißt, man geht entweder zum Oberverwal-
tungsgericht oder man kommt mit einer neuen Rechtsvor-
lage. Beides ist nicht geschehen. Das ist mein ganzer Vor-
wurf.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411205700
Es geht jetzt nicht
nach dem Motto „Wat dem einen sin Uhl, is dem annern
sin Nachtigall“,


(Heiterkeit)

sondern wir beenden hiermit die Aktuelle Stunde.

Ich rufe Punkt 20 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrages der Abgeordneten Dr.-Ing.
Rainer Jork, Katherina Reiche, Günter Nooke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Lehrstellenmangel Ost mit wirksamen Rege-
lungen angehen
– Drucksache 14/3185 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Dr. Rainer Jork für die CDU/CSU-Fraktion.


Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU):
Rede ID: ID1411205800
Frau Präsidentin!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wer die innere Ein-
heit Deutschlandswill, wer dazu beitragen will, dass aus
„hüben und drüben“ ein „wir“ wird, der muss dafür Sorge
tragen, dass die Chancen der Menschen, vor allem der
Jugendlichen, in Nord und Süd, in Ost und West ver-
gleichbar sind. Dieser Zustand ist noch nicht erreicht. Im
Osten Deutschlands ist die Arbeitslosenquote bei Ju-
gendlichen unter 25 Jahren ziemlich genau doppelt so
groß wie die in den westlichen Bundesländern. Im Wort-
schatz der jetzt regierenden früheren Opposition wäre
dies als „Notstand“, als „Katastrophe“ durch den Blätter-
wald gejagt worden. Jetzt wird das von den gleichen Per-
sonen mit Durchschnittsangaben für die gesamte Bundes-
republik und mit Steigerungsraten verkleistert.

Ich sage es noch einmal ganz deutlich: Während das
Verhältnis der Zahl der Stellen zu der Zahl der Bewerber
in den alten Bundesländern bei 0,86 liegt, lautet die ent-
sprechende Zahl in den neuen Bundesländern 0,59. Es ist

klar, dass es da im Laufe der Zeit bestimmte Korrekturen
geben wird.

Die Bundesregierung half mit dem Sofortprogramm.
Man muss sehen, was konkret vor Ort passiert ist. Dazu
haben die CDU/CSU-Bundestagsabgeordneten aus den
östlichen Bundesländern am 14. dieses Monats in Dres-
den mit Kammern, Verbänden, Gewerkschaften, Berufs-
schulen, Arbeitsämtern und anderen staatlichen Stellen
eine Anhörung durchgeführt. Nahezu einstimmig wurde
formuliert, dass die Einmündung von Teilnehmern am
JUMP-Programm in Lehrstellen und Arbeitsplätze nicht
zufrieden stellend ist, dass keine zusätzlichen betriebli-
chen Ausbildungsplätze entstanden, dass kaum Dauer-
effekte festzustellen sind und dass der Start innerhalb des
Ausbildungsjahres zu einer erheblichen Störung des lau-
fenden Betriebs führte. Nicht übersehen möchte ich je-
doch den positiven Effekt. Jugendliche erhielten eine
erste Startchance für ihr berufliches Leben. Hiervon pro-
fitierten diejenigen, die sich in der von uns in den letzten
Jahren besonders beklagten Bugwelle befanden.

In den neuen Bundesländern liegen besondere Bedin-
gungen vor. Besondere Bedingungen erfordern besondere
Methoden. Alle wissen, dass es dabei vor allem um die
Fähigkeit und die Möglichkeit der Wirtschaft geht. Spe-
zielle, auch befristete Methoden für die Jugendlichen in
den neuen Bundesländern sind unverzichtbar.

Ein Hauptpunkt in der Anhörung war natürlich die
Frage: Was hemmt die Bereitstellung von Lehrstellen in
den neuen Bundesländern? Ich konzentriere mich jetzt auf
die betriebliche Ebene. Als Antworten kamen: schlechte
Auftragslage und fehlende Planungssicherheit, ein zum
Teil schlechtes Abgangsniveau der Schüler von allgemein
bildenden Schulen, die Defizite im sprachlichen, prakti-
schen und naturwissenschaftlichen Bereich aufwiesen,
fehlende materielle und personelle Voraussetzungen in
den Unternehmen, das Fehlen einer grundlegenden Steu-
erreform bzw. die starke Belastung der kleineren und mitt-
leren Unternehmen durch die so genannte Ökosteuer.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Es wurden auch die Kosten für die Ausbildung und die an
die Auszubildenden zu zahlende Vergütung genannt; das
steht für mich im Zusammenhang mit meinem ersten
Punkt. Es ist nämlich absurd, wenn die Hälfte der staat-
lichen Gelder – es sind meist circa 3 000 DM, die die Be-
triebe als Lehrstellenförderung bekommen – wieder als
Steuern zurückgezahlt werden müssen. Das ist übrigens
ein Problem, um dessen Lösung wir uns schon während
der Amtszeit der alten Bundesregierung bemüht haben.
Das ist uns damals nicht gelungen. Ich sage das ganz of-
fen. Hier bestünde jetzt für Sie die Chance, einmal besser
zu sein.

Das Bündnis für Arbeit wurde in der Anhörung als
eindeutig auf die westlichen Länder gestrickt beschrie-
ben. Es funktioniert in den neuen Bundesländern nicht
oder kaum, weil dort ein Mangel besteht.

Sehr hilfreich sind bzw. waren Lehrstellenentwickler
und Ausbildungsverbünde. Insofern bedaure ich es außer-
ordentlich, dass im Haushalt 2001 im Einzelplan 30 Strei-
chungen vorgenommen werden.




Dr. Hans-Peter Uhl
10634


(C)



(D)



(A)



(B)


In unserem Antrag, der Ihnen vorliegt, fordern wir im
Interesse der neuen Bundesländer, das Sofortprogramm
den im Osten herrschenden spezifischen Verhältnissen an-
zupassen, falsche finanzielle Anreize zu beseitigen, vor
allem finanzschwache kleinere und mittlere Unternehmen
zu fördern, an geeigneter Stelle Lohnkostenzuschüsse zu
geben, die Mobilität lehrstellensuchender Jugendlicher zu
fördern, die Lehrlingswohnheime zu unterstützen und
eine mittelstandsfreundliche Finanz-, Wirtschafts- und
Steuerpolitik zu starten. Wohlbemerkt müssen hierbei re-
gionale und lokale Spezifika beachtet werden. Das liegt in
der Natur der Sache dieses Problems und kann im Antrag
nachgelesen werden.

Lassen Sie mich noch einige weitere Ergebnisse der
Anhörung anführen: Im Vordergrund stand und steht noch
heute die Frage, welche Maßnahmen die Ausbildungs-
fähigkeit und -bereitschaft der kleineren und mittleren
Betriebe erhöhen können. Unmittelbar würden steuerli-
che Vergünstigungen und Anreize wirken, sodann müss-
ten Verbundausbildung und überbetriebliche Lehr-
unterweisung gefördert werden; aber auch die schnelle
Verabschiedung neuer Berufsfelder und die direkte För-
derung von kleineren und mittleren Betrieben durch eine
Anschubfinanzierung wäre sinnvoll. Wir wurden darauf
hingewiesen, dass es in Österreich ein Modell gibt, das
eine direkte Steuerentlastung der ausbildenden Betriebe
vorsieht.

Wiederholt wurde die Forderung formuliert, die Ver-
antwortung der Berufsschulen zu verdeutlichen und zu
erhöhen. Dazu gehört auch, dass die theoretischen Leis-
tungen in der Schule beim Facharbeiterabschluss ausrei-
chend berücksichtigt werden. Ich entsinne mich: Auf mei-
nem Facharbeiterbrief waren die theoretische und die
praktische Ausbildung gleichwertig enthalten. Ich halte
diese Regelung für richtig und angemessen. Ich empfehle
sehr, grundsätzliche Änderungen herbeizuführen, die die
Akzeptanz und die Wertigkeit der Berufsschulen erhöhen.

Nicht fortführen sollte man Maßnahmen wie die Qua-
lifizierungs-ABM, die auf einen künstlichen zweiten Ar-
beitsmarkt orientieren. Es wurde immer wieder deutlich
das Ideal beschrieben, dass als Erstes Plätze in der dualen
Ausbildung – also mit einem betrieblichen Teil – ermög-
licht werden. Sodann sollte als Zweites, sozusagen als
Kompromiss, eine betriebsnahe Ausbildung organisiert
werden. Drittens sollten notfalls staatliche Maßnahmen
erfolgen. Ich glaube, auch in diesem Punkt sind wir uns
einig. Wir haben über diese Frage im Ausschuss wieder-
holt diskutiert.

Nachdrücklich wurde gefordert, die Lehrerfortbil-
dung zu fördern und zu fordern. Ich sage bewusst: for-
dern. Wir haben uns die Frage gestellt, ob man notfalls ei-
nen gewissen Zwang ausüben sollte, damit Lehrer aktuell
ausgebildet und entsprechend befähigt sind. Diese Über-
legung ist in dem Kreis bestätigt worden. Es geht darum,
dass die Lehrer – gleichermaßen wie die Jugendlichen –
auf die Realität vorbereitet werden. Ein weiterer wichti-
ger Forderungspunkt war, die Ausbildungsdauer zu flexi-
bilisieren.

Mit Bezug auf unseren Antrag und die Anhörung
möchte ich eine kurze Zusammenfassung – was ist dabei
herausgekommen? – in acht Punkten formulieren:

Erstens. Das Problem des Lehrstellenmangels Ost ist
nur lösbar, wenn die spezifischen Bedingungen beachtet
werden. Mit Gleichverteilung kann man nichts ausrich-
ten.

Zweitens. Eine Lösung ist dann möglich, wenn Zu-
ständigkeits- und Ressortbarrieren überwunden werden.
Ich erinnere mich an unsere Diskussionen im Ausschuss –
und freue mich daher, Herr Minister Schwanitz, dass Sie
bei dieser Debatte anwesend sind –, die deutlich gemacht
haben, dass dieser ressortübergreifende Ansatz realisiert
werden sollte.

Drittens. Das duale System muss modernisiert werden.
Es geht um neue Berufe und Ausbildungszeiten, um Mo-
dularisierung und Finanzierungsfragen.

Viertens. Ein wichtiger Grund für das Fehlen von be-
trieblichen Ausbildungsplätzen war für alle Angesproche-
nen die aktuelle wirtschaftliche Lage in den neuen Bun-
desländern. Staatliche Hilfen sollten daher direkt in die
Förderung kleiner und mittlerer Betriebe fließen. Büro-
kratische Hürden sollten abgebaut werden.

Fünftens. Das Sofortprogramm JUMP war zu wenig
effektiv. Dass es auch gute Seiten hatte, haben wir wie-
derholt gesagt. In Zukunft muss für eine bessere Koordi-
nierung von Bundes- und Länderprogrammen und für
mehr Kontinuität gesorgt werden.

Sechstens. Durchgehende Einigkeit herrschte in der
Ablehnung der Lehrstellenumlage und von Einstellungs-
verpflichtungen nach Abschluss der Lehre.

Siebtens. Deutlich war die Zustimmung zu einer Be-
rufsausbildung mit Abitur.

Achtens. Es wurde eine stärkere Ausrichtung der all-
gemein bildenden Schulen auf soziale, praktische und na-
turwissenschaftliche Bildung gefordert, um so die Ju-
gendlichen besser auf die Anforderungen einer Berufs-
ausbildung vorzubereiten.

Zum Weltingenieurtag am 19. Juni – zeitgleich mit der
EXPO – hörte ich folgenden Satz: Verantwortung zu über-
nehmen gehört zur Würde des Menschen. – Das gilt be-
sonders für junge Leute, die ihre Chancen sehen und
wahrnehmen wollen und die für sich selbst Verantwortung
übernehmen wollen und müssen. Geben wir den Jugend-
lichen in den neuen Bundesländern eine seriöse Chance
für ein würdevolles Dasein! Dies ist für mich ein wesent-
liches Kriterium für die Beantwortung der Frage, ob die
innere Einheit Deutschlands erreicht oder erreichbar ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Gehen Sie den Lehrstellenmangel in den neuen Bundes-
ländern mit wirksamen, ressortübergreifenden Maßnah-
men an!

Zum Schluss möchte ich noch bemerken, dass ich
Herrn Schwanitz und der Frau Ministerin das Versprechen
gegeben habe, ihnen die Auswertung der Anhörung zu
überreichen. Ich gehe davon aus, dass wir mit einem ge-
meinsamen Vorgehen die Situation auf diesem Gebiet ver-
bessern können. Ich erlaube mir, Ihnen jetzt diese Aus-
wertung zu geben.

Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)





Dr.-Ing. Rainer Jork

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(C)



(D)



(A)



(B)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411205900
Wir haben gespannt
beobachtet, wie der Bericht übergeben wurde.


(Heiterkeit)

Nun erteile ich das Wort der Kollegin Ingrid Holzhüter,

SPD-Fraktion.


Ingrid Holzhüter (SPD):
Rede ID: ID1411206000
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Die rot-grüne Koalition fand be-
kanntlich zu Beginn ihrer Arbeit eine dramatische Situa-
tion auf dem Stellenmarkt vor. Diejenigen, die das mit zu
verantworten haben, mäkeln jetzt an JUMP herum. Ha-
ben Sie denn eigentlich jemals in einer Bildungseinrich-
tung mit den betroffenen Jugendlichen gesprochen? Ha-
ben Sie ihre persönlichen Hintergründe, die Mut- und
Hoffnungslosigkeit gespürt, ihr Bedürfnis nach Anerken-
nung und ihren berechtigten Wunsch, ernst genommen zu
werden?

Es ist wirklich eine Schande, wenn der kleine Rest
Hoffnung, den diese Menschen noch haben, durch partei-
politische Spielchen beschädigt wird und ihre Unsicher-
heit wächst.


(Zuruf von der SPD: Recht hat sie! – Cornelia Pieper [F.D.P.]: Das hat keiner gemacht!)


Diese jungen Menschen haben unsere Fürsorge und Sym-
pathie verdient. Jeder Wunsch für sie lohnt.

Wer von Ihnen hat denn Kinder? Wer kennt ihre Zu-
versicht und ihr Suchen auf dem Weg? Sie allesamt sind
zu schade, um abgeschrieben und vergessen zu sein.

Wer kämpfen will, meine Damen und Herren, kann
verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren. Wir wer-
den kämpfen! Schade, dass wir es nicht gemeinsam tun.


(Cornelia Pieper [F.D.P.]: Das hat er angeboten!)


Sie hatten Ihre Zeit und haben sie nicht gut genug ge-
nutzt. Wir werden es besser machen, auch wenn Sie in der
ersten Reihe schreien.


(Beifall der SPD – Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Frau Holzhüter, das glauben Sie doch selbst nicht!)


Wie das Statistische Bundesamt am 3. April mitteilte,
haben im Jahre 1999 636 600 Jugendliche einen Ausbil-
dungsvertrag abgeschlossen.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411206100
Frau Kollegin, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Jork?


Ingrid Holzhüter (SPD):
Rede ID: ID1411206200
Sowie ich Luft habe. Im Mo-
ment aber nicht.


(Heiterkeit – Zuruf der Abg. Cornelia Pieper [F.D.P.])


– Frau Kollegin, Ihre spitze Zunge nehmen Sie doch bitte,
um Brot zu schneiden. Lassen Sie mich hier in Ruhe mei-
nen Vortrag zu Ende halten. Wenn Sie reden, halte ich

schließlich auch den Mund, obgleich mir das manchmal
schwer fällt.

Das waren gut 24 800 mehr als im Vorjahr. Die Statis-
tiker betonen, das Ende 1998 verabschiedete Sofortpro-
gramm der Bundesregierung JUMP hätte zu dieser Stei-
gerung beigetragen. In den neuen Ländern kletterte die
Zahl der Ausbildungsverträge um 5 900 und im früheren
Bundesgebiet, also in den alten Ländern einschließlich
Berlin, um 18 800. Das sind in der Regel 4 Prozent mehr.

Seit dem Start von JUMP vor eineinhalb Jahren konnte
über 200 000 jungen Menschen eine berufliche und damit
auch eine Lebensperspektive gegeben werden, hier insbe-
sondere auch durch berufsvorbereitende Maßnahmen. Im
Mai 2000 hat die Bundesanstalt für Arbeit zusätzlich
116 Millionen DM für JUMP bereitgestellt, die im We-
sentlichen den neuen Ländern zugute kommen. Wir alle
wissen, dass noch ein Unterschied bei den Ausbildungs-
plätzen besteht. Es ist gut, dass JUMP im Jahre 2001 fort-
gesetzt wird und dass die Bundesregierung das Sofort-
programm Lehrstellen Ost aufgelegt hat, um in den
neuen Ländern rund 17 000 zusätzliche Lehrstellen mit-
zufinanzieren.

Die kräftige konjunkturelle Entwicklung und steigende
Beitragseinnahmen bei zurückgehender gesamtdeutscher
Arbeitslosigkeit versetzen die Bundesanstalt für Arbeit in
die Lage, erstmals seit der deutschen Einheit eine aktive
Arbeitsmarktpolitik in dem bisherigen Umfang von
42,4 Milliarden DM, davon 2 Milliarden DM allein für
JUMP, aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Für das So-
fortprogramm Lehrstellen Ost werden 224 Millionen DM
aus dem Bundeshaushalt noch dazugetan.

Angesichts der unübersehbar klaren Erfolge dieser Po-
litik ist die Kritik am Sofortprogramm, wie sie hier zum
Ausdruck gebracht wurde, unverständlich. Wo ist sie
denn, die christdemokratische und christlich-soziale Al-
ternative dazu? Wo war sie denn in der vergangenen Ära
Blüm/Kohl? Wie viel Bimbes hatten Sie denn seinerzeit
für Ihre sieben „wirksamen Regeln“ übrig, darunter die
großzügige Förderung von mannigfaltigen Pendlerbei-
hilfen und Lehrlingswohnheimen, die nun von uns ge-
fordert wird? Auch der Vorwurf, das JUMP-Programm sei
eine kontraproduktive Konkurrenz zu Programmen der
Länder und würde die Klassen der Oberstufenzentren
halbieren, ist nicht nachvollziehbar und nicht realistisch.

Im Übrigen gibt es für JUMP eine wissenschaftliche
Begleitforschung durch das BIBB. Die Ergebnisse sind
bei der Wiedereinführung von JUMP berücksichtigt wor-
den und werden auch ständig auf ihre Wirksamkeit über-
prüft.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411206300
Frau Kollegin, gestat-
ten Sie nun eine Frage des Kollegen Dr. Jork?


Ingrid Holzhüter (SPD):
Rede ID: ID1411206400
Ja, jetzt soll er!


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411206500
Herr Dr. Jork, bitte.






(C)



(D)



(A)



(B)



Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU):
Rede ID: ID1411206600
Liebe Kollegin
Holzhüter, Sie haben gesagt, wir hätten die Chance nicht
genutzt. Ist Ihnen bekannt, dass wir vor vier Jahren eine
ähnliche Anhörung hatten und dass wir die damalige
Bundesregierung in vielen Punkten, übrigens auch den
vorhin genannten, angegangen sind und manches erreicht
haben und dass für uns damit in der Anhörung eine Kon-
tinuität besteht?

Eine zweite Frage, da Sie gesagt haben, ein Miteinan-
der sei nicht vorstellbar: Könnten Sie sich nicht vielleicht
doch vorstellen, dass wir miteinander vorangehen und
dass möglicherweise die Geste am Schluss, das Ergebnis
der Anhörung Ihren Ministern zu übergeben, genau da-
durch geprägt ist, dass wir uns dieses Miteinander im
Sinne der jungen Leute wünschen?


Ingrid Holzhüter (SPD):
Rede ID: ID1411206700
Dann haben Sie aber eine
komische Art, das auszudrücken. Bei mir ist das jedenfalls
nicht so angekommen. Bei mir ist die Konfrontation und
leider nicht die Gemeinsamkeit angekommen. Ich will
gerne annehmen, dass Sie nicht unisono vorhaben, gegen
uns zu sein. Aber das Miteinander müsste sich schon deut-
licher ausdrücken.

Ich will an dieser Stelle sagen: Natürlich tun auch wir
alles, um unsere Arbeit zu verbessern. So sind zum Bei-
spiel bei der Zinseinsparung im Zusammenhang mit Mo-
bilfunklizenzen die Schwerpunkte bei der Verwendung
der Gelder auf Bildung, Ausbildung und Forschung gelegt
worden. Es wäre ganz schön, wenn Sie auch das bemer-
ken würden und ich Sie nicht in ähnlicher Weise in einer
Zwischenfrage darauf hinweisen müsste.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt wird mit

Lohnkostenzuschüssen oder Prämien gefördert. Etliche
Kritiker stellen die Behauptung auf, dass zu viele Jugend-
liche gefördert würden, die überhaupt keine Förderung
bräuchten. Richtig ist: 77 Prozent der Teilnehmerinnen
und Teilnehmer waren vor Eintritt in das Sofortprogramm
arbeitslos, davon über 30 Prozent mehr als einmal. Schul-
abgänger, die keinen Ausbildungsplatz finden, sind
bei den Arbeitsämtern in der Regel als ausbildungsplatz-
suchend und nicht als arbeitslos registriert. Mit dem Pro-
gramm werden demzufolge vor allem die Jugendlichen
erreicht, deren Integration in den Arbeitsmarkt erschwert
ist und die besonderer Hilfe bedürfen. Seit Programm-
beginn wurden ungefähr 13 000 zusätzliche betriebliche
Ausbildungsplätze geschaffen. Auch das ist also ein Aus-
fluss aus diesem arbeitsmarktpolitischen Miteinander.

Statt, wie ursprünglich vorgesehen, für 2002, werden
die vereinbarten 40 000 neuen Ausbildungsplätze bereits
in diesem Jahr geschaffen. Darüber hinaus verpflichtet
sich die Wirtschaft im Rahmen der angestrebten Markt-
öffnung für ausländische IT-Spitzenkräfte, bis zum Jahr
2003 mindestens 20 000 weitere Ausbildungsplätze im
IT-Bereich bereitzustellen. Die Wirtschaftsinstitute be-
stätigen die Richtigkeit und Effizienz der Arbeitsmarkt-
politik des Bundes.

Dass der positive Trend auf dem Arbeitsmarkt in den
neuen Ländern erst mit Verspätung einsetzt, liegt auch an

den strukturellen Defiziten; das hatten Sie gesagt. Auch
daran ist die Vorgängerregierung nicht ganz unschuldig.
Wir wollen, dass die neuen Länder endlich am insgesamt
zu verzeichnenden Aufwärtstrend teilhaben und die ost-
deutschen Jugendlichen endlich Hoffnung schöpfen kön-
nen. Das wollen Sie ebenfalls, wie Sie hier gesagt haben.

Zum Schluss möchte ich ein Lied von Bettina Wegner
zitieren:

Grade, starke Menschen wär‘n ein schönes Ziel,
Leute ohne Rückgrat hab‘n wir schon zu viel.

Ich will nicht, dass dieses Rückgrat verbogen wird, in-
dem den jungen Menschen ständig eingeredet wird, dass
sie uns egal, ja überflüssig sind. Wir haben in dieser Rich-
tung einiges unternommen. Ich werde verdammt sauer,
wenn dies alles hier zerredet wird, weil die Opposition
sich profilieren will. Wir sind auf einem guten Weg und
diesen werden wir weitergehen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411206800
Nun hat das Wort die
Kollegin Cornelia Pieper, F.D.P.-Fraktion.


Cornelia Pieper (FDP):
Rede ID: ID1411206900
Verehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute Vor-
mittag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion
aus Anlass ihres zehnten Jubiläums debattiert. Dem kann
sich die Debatte über die Situation auf dem ostdeutschen
Arbeits- und Lehrstellenmarkt nach zehn Jahren deut-
scher Einheit nahtlos anschließen.

Insgesamt ist festzustellen, Frau Kollegin Holzhüter:
Die beste Sozialpolitik für einen jungen Menschen ist,
ihm einen Ausbildungsplatz bereitzustellen. Das ist über-
haupt nicht strittig.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie der Abg. Sabine Kaspereit [SPD] – Ilse Janz [SPD]: Warum haben Sie in Ihrer Regierungszeit nicht danach gehandelt?)


Das gilt ganz besonders für den sozial instabilen Osten.
Ich verstehe nicht, warum Sie, wenn Ihnen der Kollege
Jork namens der Unionsfraktion in dieser Frage die Zu-
sammenarbeit anbietet – auch ich würde das gerne na-
mens der Fraktion der F.D.P. tun; denn uns ist die Zukunft
junger Menschen besonders wichtig –, das nicht einfach
annehmen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Ingrid Holzhüter [SPD]: Vielleicht ist es Erfahrung!)


Trotz allem möchte ich noch einmal auf die Fakten
zurückkommen. Zu den Tatsachen nach zehn Jahren Wirt-
schaftsbilanz gehört auch, dass das Wachstum des Ostens
hartnäckig hinter dem der alten Länder hinterherhinkt.
Frühestens 2002, so optimistische Prognosen, wird die
Konjunktur Ostdeutschlands zum Westen aufschließen.






(C)



(D)



(A)



(B)


Ökonomisch kann der Osten bereits seit drei Jahren nicht
mehr mit den alten Ländern Schritt halten. Das gilt insbe-
sondere für die Ausbildungsplatzsituation.

In diesem Zusammenhang möchte ich Sie an die Fak-
ten aus dem zuletzt vorgelegten Berufsbildungsbericht
erinnern. Denn der Zuwachs von 18 500 Ausbildungsver-
trägen, der in diesem Bericht ausgewiesen wurde, kann
nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Zahl der von den
Betrieben abgeschlossenen Ausbildungsverträge in den
alten Ländern um 0,5 Prozent und in den neuen Ländern
um 5 bis 10 Prozent zurückgegangen ist. Ich möchte zu-
dem in Erinnerung rufen, dass 70 Prozent der betrieblich
abgeschlossenen Ausbildungsverträge im Osten öffent-
lich subventioniert sind. Das sind alarmierende Zahlen,
die wir nicht einfach nur so zur Kenntnis nehmen können.
Ich glaube, da muss man handeln.


(Jörg Tauss [SPD]: Deswegen tun wir es ja!)

Fakt ist auch, dass nach Informationen der Bundesan-

stalt für Arbeit vom Mai dieses Jahres insgesamt 29 700
junge Menschen im Rahmen des JUMP-Programms
eine Ausbildungsplatzmaßnahme erhalten haben. Das ist
angesichts von Investitionen in Höhe von 2 Milliarden
DM einfach zu wenig.


(Zuruf von der CDU/CSU: Entschieden zu wenig!)


Angesichts dessen muss man nach der dauerhaften Effizi-
enz dieses Programms fragen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Lesen Sie doch einmal das Programm, damit Sie wissen, wovon Sie reden! Nicht zu fassen!)


Deshalb können wir die einseitige Betrachtung der rot-
grünen Bundesregierung in Bezug auf die Ausbildungs-
platzsituation nicht akzeptieren. Lieber Kollege Tauss,
diese einseitige Betrachtung führt nämlich bei Ihnen an-
gesichts der Schieflage bei der betrieblichen Ausbildung
zu Schönfärberei.


(Jörg Tauss [SPD]: Das treibt meinen Adrenalinspiegel hoch! Das ist alles, was dahinter steckt!)


Deshalb bleiben wir dabei: Die beste Ausbildungs-
platzpolitik ist eine offensive Mittelstandspolitik. Der
Mittelstand schafft zwei Drittel aller Ausbildungsplätze in
Deutschland. Welche Bedingungen finden die Kleinst-
und Kleinunternehmen in Ostdeutschland, die zumeist
nur fünf bis zehn Beschäftigte und eine schwindende Ei-
genkapitaldecke haben, denn vor? Seit Rot-Grün regiert,
explodieren die Kosten.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Die Auftragslage für mittelständische Unternehmen, ist
aufgrund der zu geringen Investitionsquote in öffentli-
chen Haushalten rückläufig.


(Ingrid Holzhüter [SPD]: Bei Ihnen ist von Jahr zu Jahr die Zahl der Insolvenzen gestiegen!)


Deswegen ist die Verbesserung der Ausbildungsplatzsi-
tuation nicht alleinige Aufgabe der Bundesbildungsminis-

terin, sondern auch eine gesamtgesellschaftliche. Es ist
also ebenso Aufgabe des Wirtschaftsministers, sich mit
diesem Thema auseinander zu setzen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ihre Ökosteuer – das kann ich nicht oft genug wieder-

holen – treibt die Handwerksmeister in den Ruin.

(Lachen bei der SPD – Stephan Hilsberg [SPD]: Ihnen wächst ein Bart! – Jörg Tauss [SPD]: Tibet!)


Ich finde es absurd, dass ausgerechnet die kleinen und
mittelständischen Unternehmen nicht in die derzeit de-
battierte Unternehmensteuerreform mit einbezogen wer-
den, dass Sie die großen Konzerne bzw. die Kapitalge-
sellschaften bevorteilen wollen und die kleinen Unter-
nehmen im Hinblick auf eine Steuerentlastung außen vor
lassen. Das ist meiner Meinung nach ein Skandal.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Ingrid Holzhüter [SPD]: Dann wird immer beklagt, dass die Großen zu wenig ausbilden!)


Als Letztes möchte ich Ihnen noch sagen, dass die
F.D.P.-Fraktion aufgrund der steigenden Zahlen der Aus-
bildungsabbrecher und des bevorstehenden Fachkräfte-
mangels auf eine Reform der beruflichen Bildung
drängt. Die Frage ist doch: Stolpert der Osten zukünftig in
eine demographische Falle? Ich möchte an dieser Stelle
mit Genehmigung der Präsidentin den Jenaer Soziologen
Behr zitieren, der sagte, die Konsequenzen aus dem de-
mographischen Wandel könne sich in Westdeutschland
wahrscheinlich kaum jemand vorstellen. Der Fachkräfte-
mangel werde in wenigen Jahren aufgrund der Radikalität
des Umbruchs eine besonders dramatische und sehr spe-
zifische ostdeutsche Ausprägung gewinnen.

Das Institut für Wirtschaftsforschung in Halle hat bei
einer Befragung in ostdeutschen Unternehmen festge-
stellt, dass schon jetzt 30 Prozent dieser Unternehmen in
spezialisierten Bereichen unbesetzte Arbeitsplätze haben.
Ich glaube, hier müssen wir handeln. Wir wollen, dass
eher praktisch orientierte junge Menschen bereits nach
zwei Jahren einen Berufsabschluss haben können, der von
der Wirtschaft akzeptiert wird, und dass auf diesem Ba-
sisberuf zukünftig mit Qualifizierungsbausteinen aufge-
baut werden kann. Gerade bei innovativen Berufsbildern,
etwa den IT-Berufen, kommt es auf eine flexible Ausbil-
dung an, die die Menschen auf lebenslanges Lernen ori-
entiert.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411207000
Frau Kollegin, Sie
müssen bitte zum Schluss kommen.


Cornelia Pieper (FDP):
Rede ID: ID1411207100
Ich komme zum Schluss,
Frau Präsidentin.

Es kommt darauf an, dass moderne Berufsbilder wei-
terentwickelt werden. Auch hier sehen wir in dem Antrag
der Union einen konstruktiven Ansatz. Wir unterstützen
diesen Antrag.

Namens meiner Fraktion sage ich abschließend, dass
wir im Osten eine gemeinsame Initiative für mehr be-




Cornelia Pieper
10638


(C)



(D)



(A)



(B)


triebliche Ausbildungsplätze brauchen. Das erfordert eine
Mittelstandsoffensive. Hier hat die Bundesregierung bis-
her allerdings mit ihrer mittelstandsfeindlichen und damit
ausbildungsplatzfeindlichen Politik auf ganzer Linie ver-
sagt.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Oje, oje!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411207200
Das Wort hat jetzt die
Kollegin Antje Hermenau.


(Ingrid Holzhüter [SPD]: Wo kamen denn die Insolvenzen in den letzten Jahren her, wenn eure Mittelstandspolitik so gut war? Da lachen ja die Hühner! – Heinz Wiese [Ehingen] [CDU/CSU]: Das begann erst unter eurer Regierung!)



Antje Hermenau (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411207300

Vielleicht könnten Sie Ihre Gespräche nachher draußen
fortsetzen. – Danke schön.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eigent-
lich ist der Antrag, der heute von der CDU/CSU-Fraktion
vorgelegt wurde, in fast allen Punkten erledigt. Darauf
komme ich gleich noch zurück. Lassen Sie mich zunächst
aber auf den Punkt eingehen, der hier bisher eine so große
Rolle gespielt hat: Offensichtlich ist der Kern der Debatte,
die wir hier führen, die Frage, wer wie lange in welchem
Graben sitzt. Wir können uns gern gegenseitig vorhalten,
was uns allen in den letzten sechs Jahren nicht eingefallen
ist. Aber eines ist sicher: Die Anzahl der Betriebe in Ost-
deutschland entscheidet darüber, wie viele Leute einen
Arbeitsplatz bzw. eine Lehrstelle finden. Ende der Durch-
sage!


(Jörg Tauss [SPD]: So einfach ist das!)

– Ja, so einfach ist das.

Wenn man das weiß, dann muss man – dazu fehlt Ih-
nen aber die passende Ideologie – verlangen, dass der
Staat einspringt und das ergänzt, was die Wirtschaft allein
noch nicht schafft. Wir können uns diese Forderung leis-
ten, weil wir ideologisch in der linken Ecke verortet sind.
Wir dürfen dann auch einmal ein staatliches Programm
machen; das geht dann in Ordnung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Deshalb hatten wir auch immer einen Vorschlag anzubie-
ten, was Ihnen verwehrt war,


(Widerspruch des Abg. Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/CSU])


und deshalb kommen Sie jetzt wieder mit der Leier der
letzten sechs Jahre an und meinen, Sie hätten einen neuen
Antrag vorgelegt. Das ist eigentlich schade.

Beispielsweise haben Sie, Herr Jork, immer gegen die
Umlagefinanzierung gekämpft. Aber wenn Sie eine di-
rekte Steuerentlastung für ausbildende mittelständische

Betriebe fordern, dann bedeutet das eine indirekte Um-
lage. Das kann man natürlich auch so herum machen; aber
es bleibt dasselbe.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Lassen Sie mich nun auf das zu sprechen kommen, was

wir machen. Wir haben einen Konsens darüber – an die-
ser Stelle komme ich auf Ihr Kooperationsangebot
zurück –, dass die regionalen Aktivitäten eindeutig ver-
stärkt werden müssen. Auch sind wir alle – vielleicht mit
Ausnahme der PDS; das werden wir gleich noch hören –
der Auffassung, dass es notwendig ist, aus diesen staat-
lichen Zwischenprogrammen auszusteigen und wieder
mehr und mehr in die Ausbildung durch Wirtschaftsbe-
triebe einzusteigen.


(Beifall bei der SPD)

Ich will hier nicht noch einmal alle Zahlen vortragen.

Interessant ist aber, dass in Ländern wie Bremen und dem
Saarland die Ausbildungsquote ebenso wie in Thüringen
und Sachsen explosionsartig hoch gegangen ist – die Stei-
gerung betrug zwischen 6 und 7 Prozent –, während an-
dere Länder wie Bayern oder Brandenburg rückläufige
Zahlen aufweisen. Bayern war heute ja schon als Vorbild
in Sachen Kampfhunde erwähnt worden; bei den Lehr-
stellen hat es diesmal nicht geklappt.

Wir sind also alle der Meinung, dass es notwendig ist,
aus diesen Programmen langsam auszusteigen. Auf der
anderen Seite ist jedoch die spezifische Situation des
Ostens zu berücksichtigen. Wenn über beides hier im
Raum Konsens besteht, dann ist es logisch, dass unser
Vorgehen genau richtig ist.


(Beifall bei der SPD)

Wir haben einen Politikmix erarbeitet, in dem ver-

schiedene Maßnahmen zielgerichtet dafür sorgen sollen,
der spezifischen Situation im Osten, soweit es geht, Herr
zu werden. Sie wissen, wir werden noch ungefähr fünf
Jahre lang diese Verzerrung haben. Wir haben im Bünd-
nis für Arbeit nicht nur den Ausbildungskonsens, son-
dern auch die Ausbildungskonferenzen beschlossen, die
zum Teil schon sehr aktiv sind. Wir haben Nachvermitt-
lungsaktionen durchgeführt, die von September bis April
eine große Entschärfung auf dem Ausbildungsstellen-
markt gebracht haben. Das wissen alle, die sich damit be-
schäftigt haben. Es gibt auch wieder ein Sonderprogramm
für Lehrstellen im Osten und eine Reihe von regionalen
Initiativen.

Auf eine Initiative möchte ich noch zu sprechen kom-
men. Bitte lachen Sie nicht, diese Initiative von den Be-
rufsbildungsfunktionären des DGB im Osten heißt
„Trabi plus“. Nun kann man ja sagen, Gewerkschaften
seien unbeweglich. Ich muss auch sagen: Ich habe viele
so kennen gelernt. Aber dieser Vorschlag ist wirklich fle-
xibel.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Überlegung ist, bis zum Wendeknick im Jahr 2005
ungefähr 15 000 Arbeitsplätze im Osten zu stabilisieren.
Zudem soll eine Chance geboten werden, von der
Pro-Kopf-Förderung wegzukommen; denn wenn die




Cornelia Pieper

10639


(C)



(D)



(A)



(B)


mittelständischen Betriebe, die gefördert werden sollen,
immer in den Startlöchern sitzen und darauf warten, dass
sie vom Staat wieder 3 000 bis 8 000 DM pro Jahr be-
kommen, wenn sie einen Lehrling aufnehmen, entspricht
dies noch lange keiner vernünftigen Ausbildungsförde-
rung. Um es einmal klar zu sagen: Hier geht es nur um
Mitnahmeeffekte.

Den Vorschlag „Trabi plus“ finde ich deshalb so inte-
ressant, weil er zum einen kostengünstiger ist: Statt
26 000 DM für eine außerbetriebliche Maßnahme auszu-
geben, verbrauchen wir nur noch 9 000 bis 12 000 DM pro
Lehrstelle und darin sind bereits Sachmittelkostenzu-
schüsse enthalten. Außerdem werden nur zusätzliche Aus-
bildungsstellen finanziert. Die Feststellung, ob es sich um
eine zusätzliche Ausbildungsstelle handelt oder nicht, er-
folgt anhand eines Querschnitts der letzten drei Jahre. Das
finde ich auch sehr wichtig; denn so kann sich keiner
durchmogeln. Zudem stellt dies auch für kleinere Unter-
nehmen, die in der Ausbildung vielleicht noch nicht so er-
fahren sind oder noch nicht die Ausbildungsfähigkeit er-
langt haben, eine große Hilfestellung dar. Ich glaube also,
dass dies eine gezielte Mittelstandsförderung im Bereich
der beruflichen Ausbildung ist.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411207400
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Gerhard Jüttemann.


Gerhard Jüttemann (PDS):
Rede ID: ID1411207500
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Die Bundesregierung hat im jüngsten
Berufsbildungsbericht eingestanden, dass die Zahl der
angebotenen Lehrstellen im Osten erneut drastisch zu-
rückgegangen ist, und zwar um 5 bis 10 Prozent.


(Stephan Hilsberg [SPD]: Das stimmt überhaupt nicht!)


Die Katastrophe des sich seit Jahren verschärfenden
Lehrstellenmangels im Osten hat vor allem zwei Ursa-
chen. Die erste Ursache sind die Liquidierung fast der
gesamten wirtschaftlichen und wissenschaftlich-techni-
schen Potenziale in den ersten Jahren nach der Verei-
nigung sowie die Beseitigung eines Großteils der Arbeits-
plätze. Zudem gibt es auch im zehnten Jahr der Einheit
kein tragfähiges Konzept eines nachhaltigen wirtschaftli-
chen Aufschwungs der neuen Bundesländer, der dazu
führen würde, dass der Osten vom Tropf des Westens ge-
nommen werden könnte.

Die zweite Ursache ist der in der gesamten Bundesre-
publik zu beobachtende Trend, dass sich die Betriebe aus
Wettbewerbs- und daher aus Kostengründen von der Be-
rufsausbildung verabschieden. Der Staat fördert diesen
Trend, indem er bei Fachleuteengpässen Green Cards aus-
stellt und die überfällige Umlagefinanzierung der Ausbil-
dung verhindert.

Es ist doch schon ein unglaublicher Skandal, dass in
der gesamten Bundesrepublik circa 50 Prozent der aus-
bildungsgeeigneten Betriebe – darunter sind vor allem die
großen – keine Lehrlinge mehr ausbilden. 50 Prozent,
Tendenz fallend – wann wollen Sie denn endlich etwas
dagegen tun?

In Ostdeutschland wurden 1999 5 000 betriebliche
Lehrstellen weniger bereitgestellt als im Jahr davor. Da-
mit schrumpfte das Angebot unter das von 1991; es
reichte kaum noch für die Hälfte der Bewerber. Aber al-
les, was der Bundesregierung dazu einfällt, ist das Sofort-
programm einer Schmalspurausbildung, mit dem die Sta-
tistiken vorübergehend geschönt werden. Von 133 000 zu
Beginn dieses Jahres in das Programm integrierten Ju-
gendlichen hatten nicht einmal 25 000 die Chance auf ein
reguläres Beschäftigungsverhältnis. Das heißt, nicht ein-
mal jedem Fünften der Geförderten ist wirklich nachhal-
tig geholfen worden. Mehr als vier von fünf waren nach
der Förderung wieder arbeitslos.

Aber der Propagandaeffekt ist der Regierung schon
einmal 2 Milliarden DM pro Jahr wert.


(Jörg Tauss [SPD]: Unverschämtheit, Herr Kollege!)


Warum wohl? Weil sie damit von ihren eigentlichen
Wahlversprechen in Sachen Ausbildung ablenken kann.
Im SPD-Wahlprogramm heißt es nämlich:

Wirtschaft und öffentlicher Dienst müssen in eigener
Verantwortung für ein ausreichendes Lehrstellenan-
gebot sorgen. Anderenfalls wird auf gesetzlicher
Grundlage ein fairer, bundesweiter Leistungsaus-
gleich zwischen ausbildenden und nicht ausbilden-
den Betrieben notwendig.

Wir befinden uns in der Mitte der Legislaturperiode
und dass das zitierte „anderenfalls“ eingetreten ist, steht
schwarz auf weiß im Berufsbildungsbericht:

Ein von der Wirtschaft getragenes ausreichendes
Ausbildungsplatzangebot konnte noch nicht erreicht
werden. Dies gilt insbesondere für die neuen Länder.

Es besteht also dringender Handlungsbedarf; denn dem
Vorwurf, Ihre Wahlversprechen nicht einzuhalten, werden
Sie sich doch nicht auch noch auf diesem Gebiet ausset-
zen wollen.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und hoffe nur, dass
Sie die duale Ausbildung nicht ganz aus den Augen ver-
lieren.


(Beifall bei der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411207600
Das Wort hat nun die
Bundesministerin Edelgard Bulmahn.

Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Herren und Damen! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe vorhin gedacht: Das ist ja mal eine Debatte, bei
der wir in vielen Punkten übereinstimmen. Nach Ihrem




Antje Hermenau
10640


(C)



(D)



(A)



(B)


Beitrag, Herr Jüttemann, stelle ich fest, dass es doch eine
Reihe von Punkten gibt, bei denen wir in diesem Parla-
ment im Dissens sind.

Wenn wir über die Situation der Ausbildung in den
neuen Bundesländern debattieren, reden wir über die Le-
bens- und Berufschancen von 140 000 jungen Menschen.
Deshalb muss man zur Kenntnis nehmen – das erwarte ich
von einem Parlamentarier auch, Herr Jüttemann –, was
gemacht worden ist, welche Initiativen gestartet worden
sind. Wenn man eine solche solide Sachevaluierung nicht
durchführt, wird man weder den Anforderungen an eine
politische Arbeit noch den Erwartungen der Jugendlichen
gerecht. Ich werde in meinem Redebeitrag noch auf die
einzelnen Punkte eingehen.

Es geht, liebe Kolleginnen und Kollegen, um die Zu-
kunft der jungen Generation. Auf der politischen Tages-
ordnung gehört diese ganz nach oben. Das ist bei dieser
Bundesregierung der Fall.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das sehen Sie, wenn Sie einen Blick in den Haushalt die-
ses Jahres werfen. Die Bundesregierung hat sehr bewusst –
weil sie will, dass die Zukunftschancen für unsere Ju-
gendlichen besser werden – die Ausgaben für Bildung
und Forschung um 5,3 Prozent gegenüber dem letzten
Haushaltsjahr erhöht. Obwohl andere Ressorts Kürzun-
gen hinnehmen mussten, haben wir einen klaren Schwer-
punkt auf die Ausgaben für Bildung und Forschung ge-
setzt.

Wir haben darüber hinaus durch unsere Steuerpolitik
dem Rechnung getragen, was Sie einfordern, Frau Pieper.


(Cornelia Pieper [F.D.P.]: Leider nicht!)

Wir haben mit der Steuerreform, die wir jetzt vorlegen –
ich hoffe, dass Sie diese Steuerreform im Bundesrat un-
terstützen, damit sie umgesetzt werden kann –,


(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Eine ungerechte Steuerreform!)


erhebliche Verbesserungen für kleine und mittelständi-
sche Unternehmen vorgesehen,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Nein, das ist eine ungerechte Steuerreform!)


die ihnen Erleichterungen bringen werden.
Auch bei der Ökosteuer haben wir Erleichterungen für

die kleinen und mittleren Unternehmen berücksichtigt.
Denn im Gegensatz zu Ihnen, die Sie immer nur über die
Belastung der kleinen und mittleren Unternehmen durch
die Sozialversicherungsbeiträge geredet haben, haben wir
den ersten Schritt zur Begrenzung der Sozialversiche-
rungsbeiträge gemacht.


(Beifall bei der SPD – Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Wann waren Sie das letzte Mal an der Tankstelle?)


Sie wissen, dass gerade kleine und mittelständische Un-
ternehmen zu einem großen Teil personalintensive Unter-

nehmen sind. Das ist ein wesentlicher Unterschied zu den
großen Unternehmen. Wir nutzen die Mittel aus der Öko-
steuer,


(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Zur Sanierung des Haushaltes!)


um durch eine Reduzierung der Sozialversicherungs-
beiträge den personalintensiven Unternehmen zur Seite
zu stehen.


(Beifall bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411207700
Frau Ministerin, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegen Pieper?

Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Nach diesem Gedanken.

Last, not least leisten wir – auch das fordern Sie ein –
ressortübergreifende Zusammenarbeit, die richtig und
notwendig ist. Dies gilt sowohl für Programme der For-
schungspolitik, die in meinem Haus entwickelt worden
sind – zum Beispiel das Programm Inno-Regio –, als auch
für Programme des Bundeswirtschaftsministeriums. Wir
wollen in den neuen Bundesländern industrielle Kerne
ausbauen. Sie alle wissen – das bestreitet von Ihnen auch
niemand –, dass das Programm Inno-Regio hervorragend
läuft und genau diese Funktion erfüllt.

Wir machen also keine einseitige Politik, sondern ha-
ben die gesamte Bandbreite dessen, was notwendig ist, im
Blick. Denn eines kann ich nur nachhaltig unterstreichen:
In den neuen Bundesländern sind mehr moderne Betriebe
notwendig, insbesondere aus dem Bereich der Hochtech-
nologie. Ich würde mich freuen, wenn man in dieser Hin-
sicht gemeinsam an einem Strang zieht.


(Beifall bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411207800
Jetzt kommt die Zwi-
schenfrage. – Bitte sehr, Frau Kollegin Pieper.


Cornelia Pieper (FDP):
Rede ID: ID1411207900
Frau Ministerin, nach Ihren
Ausführungen zur Unternehmensteuerreform und zur
Ökosteuer möchte ich Sie fragen: Mit welchen Punkten
Ihrer Reformkonzepte haben Sie denn die kleinen und
mittelständischen Unternehmen in den neuen Bundeslän-
dern entlastet? Denn gerade bei der Ökosteuer wurden ja
Entlastungen für die energieintensiven Großunternehmen
geschaffen, während die Kleinen davon ausgeschlossen
wurden.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. – Sabine Kaspereit [SPD]: Das ist doch nicht wahr!)


Ist Ihnen bewusst, dass die Mehrheit der Kleinstunterneh-
men im Osten Betriebe mit fünf bis zehn Beschäftigten
sind, also keinesfalls mit dem Mittelstand in den alten
Bundesländern verglichen werden können?


(Sabine Kaspereit [SPD]: Per Saldo!)





Bundesministerin Edelgard Bulmahn

10641


(C)



(D)



(A)



(B)


Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Ich denke, ich habe das vorhin schon aus-
führlich dargestellt.


(Jörg Tauss [SPD]: Dann bitte noch einmal langsam für Frau Pieper!)


Wir leiten die Einkünfte aus der Ökosteuer nicht in den
allgemeinen Steuertopf,


(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Das stimmt doch nicht! Das ist nicht korrekt!)


– auch das unterscheidet uns im Übrigen von anderen Re-
gierungen –, sondern wir setzen die Mittel aus der Öko-
steuer ganz gezielt ein, um die Sozialversicherungs-
beiträge zu senken. Das haben wir auch bereits gemacht.
Dies ist eine erhebliche Erleichterung gerade für die per-
sonalintensiven Betriebe.


(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Das ist nicht das Geld aus dem Aufkommen der Ökosteuer! So viel setzen Sie nicht ein!)


Ich kann nur wiederholen: Sie wissen, dass kleine und
mittelständische Unternehmen personalintensiv sind. Das
unterscheidet sie von den großen Betrieben, die in einem
wesentlich stärkeren Maße kapital- und geräteintensiv
sind.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe vorhin ge-
sagt, es kommt darauf an, dass wir Vorsorge treffen, damit
die Jugendlichen eine gute Ausbildung erhalten. Wir ha-
ben dies getan, weil wir gerade in den neuen Bundeslän-
dern leider eine Situation vorgefunden haben, die dadurch
gekennzeichnet war, dass es über Jahre hinweg keinen
Zuwachs bei der Zahl der betrieblichen Ausbildungsstät-
ten gab. Über Jahre hinweg haben unter Ihrer Regierung,
meine Damen und Herren von der Opposition, viele Ju-
gendliche keinen Ausbildungsplatz gefunden. Deshalb
haben wir gesagt: Wir brauchen ein Bündel an Maßnah-
men, einen Mix – wie das auch meine Kolleginnen darge-
stellt haben – aus staatlicher Vorsorge und gleichzeitig zu
treffenden Vereinbarungen, um die Zahl der betrieblichen
Ausbildungsplätze zu erhöhen. Beides muss geschehen.
Ich halte es für völlig falsch und deplatziert, das eine ge-
gen das andere zu stellen. Im Augenblick brauchen wir
beides.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deshalb sollte man vorwärts schauen: Erstens. Das So-
fortprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslo-
sigkeit hat eine wichtige Funktion erfüllt und wird sie
auch weiterhin erfüllen. Wir haben im Rahmen dieses
Programms vielen Jugendlichen gerade in den neuen
Bundesländern ein Ausbildungsplatzangebot machen
können. Herr Jüttemann, ich verstehe Ihren Kommentar
überhaupt nicht. Denn die Jugendlichen, die ihre Ausbil-
dung im Rahmen dieses Sofortprogramms begonnen ha-
ben, befinden sich noch in der Ausbildung. Diese haben
ihre Ausbildung noch gar nicht abgeschlossen. Das ist
auch logisch, denn diese dauert drei bis dreieinhalb Jahre.
Dazu kann ich nur sagen: Adam Riese. Wenn man rech-
net, weiß man, dass diese Jugendlichen ihre Ausbildung

noch nicht beendet haben. Aussagen über den Erfolg kön-
nen wir erst nach Beendigung der Ausbildung treffen.

Zweitens. Ich habe gemeinsam mit der Bundesanstalt
für Arbeit, mit den Ländern und den Sozialpartnern Ver-
besserungsvorschläge für die zweite Phase des Sofortpro-
gramms, die in diesem Jahr läuft, gemacht. Wir haben eine
sehr sorgfältige regionale Analyse durchgeführt. Die Mit-
tel des Sofortprogramms – das zeigt diese regionale Ana-
lyse – werden dort eingesetzt, wo betriebliche Ausbil-
dungsplätze nicht in ausreichender Zahl vorhanden sind,
weil wir keine Konkurrenzsituation wollen.

Drittens. Ich habe mit den neuen Bundesländern das
Ausbildungsprogramm Ost 2000 beschlossen. Wir ha-
ben die Zahl der Ausbildungsplätze noch einmal aufge-
stockt, weil dies notwendig war und ich die Jugendlichen
nicht im Regen stehen lassen will, sondern sie ein Ausbil-
dungsangebot haben sollen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben es mit diesen und den betrieblichen Maß-
nahmen, auf die ich gleich noch eingehen werde, erreicht,
dass von den knapp 10 000 Jugendlichen, die am 30. Sep-
tember des letzten Jahres noch ohne Ausbildungsplatz
waren, nur noch 2 000 übrig sind. Auch diese 2 000 Ju-
gendlichen haben mehrere Ausbildungsplatzangebote er-
halten. Ich kann aber keinen Jugendlichen zwingen, einen
Ausbildungsplatz anzunehmen. Allein schon diese erheb-
liche Verringerung, die uns gelungen ist, macht deutlich,
dass diese unterschiedlichen Angebote, diese Initiativen,
die wir auf den Weg gebracht haben, Wirkung zeigen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, entscheidend ist das
Engagement der Wirtschaft – das sage ich immer wie-
der, an jeder Stelle und auch hier in diesem Hause –, eine
ausreichende Zahl von Ausbildungsplätzen anzubieten,
um damit den Jugendlichen Lernmöglichkeiten im Be-
trieb zu bieten. Dies wollen wir, dies ist unsere Zielset-
zung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Gerade in den neuen Bundesländern müssen dafür
noch mehr Betriebe gewonnen werden. Ich sage den Be-
trieben auch immer sehr klar, dass die Ausbildung in
ihrem eigenen Interesse liegt, weil sie dann auch über
Fachkräfte verfügen, die die entsprechende qualitativ gute
Ausbildung erhalten haben. Denn wir wissen, dass ab dem
Jahre 2005 die Zahl der Jugendlichen erheblich zurück-
gehen wird, sodass praktisch schon jetzt eine Fachkräf-
telücke, ein Fachkräftemangel erkennbar ist. Deswegen
ist das, was die Betriebe leisten müssen, auch Zukunfts-
vorsorge.

Ich habe den Eindruck, dass die Betriebe dies auch
langsam begreifen. Denn in diesem Jahr – ich finde, auch
das muss man zur Kenntnis nehmen – gibt es eine äußerst
erfreuliche Entwicklung. Wir haben bei einem überpro-
portionalen Anstieg der Ausbildungsplätze in den neuen
Bundesländern eine Zunahme der betrieblichen Ausbil-
dungsplätze um rund 9 Prozent. Das ist zum ersten Mal
ein wirklich spürbarer Zuwachs. Es ist ein Ergebnis der






(C)



(D)



(A)



(B)


Vereinbarung des Bündnisses für Arbeit, die wir im Som-
mer des letzten Jahres beschlossen haben. Sie konnte
natürlich nicht schon im letzten Jahr zu einer deutlichen
Verbesserung der Ausbildungsplatzsituation beitragen,
wird jetzt aber spürbar. Deshalb bitte ich darum, das
Ganze nicht herunterzureden. Damit demotivieren wir die
Leute nämlich wieder. Vielmehr müssen wir den Anstieg
der Zahl der Ausbildungsplätze entsprechend honorieren
und gleichzeitig sagen: Das ist noch nicht genug, wir müs-
sen noch mehr tun.


(Beifall bei der SPD)

Wir brauchen noch mehr Betriebe, damit wir allen Ju-
gendlichen einen betrieblichen Ausbildungsplatz anbieten
können.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, was vonseiten der
CDU/CSU-Fraktion vorgelegt worden ist, entspricht in
vielen Punkten dem, was wir bereits in Angriff genommen
haben. Wir haben das Programm „Ausbildungsplatz-
entwickler“. Wir unterstützen damit die Menschen vor
Ort, in die Betriebe zu gehen und sie während der gesam-
ten Ausbildung zu informieren, zu beraten, zu begleiten
und zu unterstützen. Wir haben dieses Programm vonsei-
ten der Bundesregierung noch aufgestockt; denn die
Stärke dieses unmittelbaren Kontaktes hat ein ganz großes
Gewicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben den Ausbau der Verbundausbildung fort-
gesetzt, um auch die kleinen und mittleren Betriebe, die
sagen, ich kann mir Ausbildung in meinem Betrieb alleine
nicht leisten, zur Ausbildung zu motivieren. Wir haben
praktisch die Hilfe leistungsstarker Unternehmen als re-
gionale „lead companies“ gewonnen, um damit kleine
und mittlere Unternehmen noch stärker für die Ausbil-
dung zugewinnen.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411208000
Frau Ministerin, ich
muss Sie an Ihre Redezeit erinnern.

Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Herr Jork, Sie haben eine falsche Aussage
gemacht. Die Mittel für diese Programme werden im
Haushalt für das Jahr 2001 nicht gekürzt, sondern sie blei-
ben auf dem gleichen Niveau. Schauen Sie bitte noch ein-
mal in den Haushaltsentwurf! Dann werden Sie es fest-
stellen.


(Jörg Tauss [SPD]: Die Wahrheit interessiert da drüben nicht!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir legen ein großes
Gewicht auf die gezielte Regionalberatung, weil es sich
zur Sicherung und Weiterentwicklung des Ausbildungs-
platzangebotes als das A und O erwiesen hat. Wir arbeiten
mit Hochdruck an der Modernisierung von Berufen.
13 neue sind bereits gesetzlich fixiert, vier neue Berufe
haben wir in diesem Jahr beschlossen, 30 Berufe sind noch
in der Flotte, wie wir in Nord-deutschland sagen. Das
heißt, wir arbeiten mit Hochdruck daran.

Wir haben die modernen Technologien und die neuen
Medien nicht nur als Mittel genutzt. Vielmehr haben wir
der Ausbildung gerade in diesem Bereich eine zentrale
Bedeutung beigemessen. Deshalb auch die Verabredung
mit den Unternehmen – die ja die Ausbildung leisten müs-
sen – die Zahl der ausbildenden Betriebe noch einmal von
40 000 auf 60 000 zu erhöhen. Die Ergebnisse, die uns
jetzt vorliegen, zeigen deutlich, dass das kein überhöhtes
Ziel ist. Wir werden dieses Ziel erreichen.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411208100
Frau Ministerin, ich
muss Sie leider an Ihre Redezeit erinnern, weil wir sonst
eine neue Runde eröffnen.

Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Deshalb, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, sage ich kurz: Wir arbeiten dafür und werden weiter
dafür arbeiten, diese positive Trendwende fortzusetzen.
Das sollten alle anderen in diesem Parlament auch tun.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411208200
Ich schließe die Aus-
sprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 14/3185 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein-
verstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 22 sowie Zu-
satzpunkte 12 und 13 auf:
22. Beratung des Antrags der Fraktion der PDS

Erleichterte und erweiterte Rehabilitierung
und Entschädigung für Opfer der politischen
Verfolgung in der DDR
– Drucksache 14/2928 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss

ZP 12 Erste Beratung des von den Abgeordneten Günter

(Schönebeck)

der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Drit-
ten Gesetzes zur Bereinigung von SED-Unrecht

(Drittes SED-Unrechtsbereinigungsgesetz – 3. SED-UnBerG)

– Drucksache 14/3665 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

ZP 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter

(Schönebeck)

CDU/CSU




Bundesministerin Edelgard Bulmahn

10643


(C)



(D)



(A)



(B)


Den jenseits von Oder und Neiße Verschleppten
wirksam und dauerhaft helfen
– Drucksache 14/3670 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die PDS
fünf Minuten erhalten soll. – Dazu höre ich keinen Wi-
derspruch. Dann ist es so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Petra Pau, PDS-Fraktion.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411208300
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Dass wir uns binnen eines halben Jah-
res erneut mit der Rehabilitierung und Entschädigung po-
litisch Verfolgter der DDR befassen müssen, war vorher-
sehbar. Der Grund liegt darin, dass die Verbesserungen,
die im Dezember 1999 beschlossen wurden, zum Teil
halbherzig und vor allem bürokratisch waren. Ich wieder-
hole das auch deshalb, weil wir seinerzeit schon weiter ge-
hende Anträge gestellt haben.

Vielleicht erinnert sich auch Herr Staatsminister
Schwanitz noch daran. Ich hoffe, dass ich künftig in Ver-
anstaltungen mit Betroffenen nicht mehr damit konfron-
tiert werde, dass mit Bezug auf ihn behauptet wird, die
PDS blockiere die erweiterten Entschädigungszahlungen
sowie die unbürokratische Lösung dieses Problems. Es ist
zum einen zu viel der Ehre, dass Sie meinen, wir könnten
das blockieren; zum anderen entspricht es aber auch nicht
den Tatsachen. Sie erinnern sich: Wir haben im Dezember
weiter gehende Vorschläge gemacht.

Die PDS-Fraktion hat drei Anträge gestellt. Wir wol-
len, dass erstens die entschädigungsberechtigten Opfer
ihre Nachzahlungen von Amts wegen erhalten – die Pra-
xis seit In-Kraft-Treten des Gesetzes am 1. Januar 2000
zeigt, dass viele Betroffene trotz aller Öffentlichkeitsar-
beit nicht erreicht wurden und somit nicht in der Lage wa-
ren, ihre Anträge zu stellen –, zweitens verfolgte Schüle-
rinnen und Schüler, denen Berufs- und Studienmöglich-
keiten verwehrt wurden, in den rentenrechtlichen
Nachteilsausgleich einbezogen werden, drittens Haftfol-
gegesundheitsschäden dort anerkannt werden, wo sie zu
vermuten sind.

Sie wissen alle – wir haben noch die Schilderungen der
Betroffenen im Ohr –, wie schwierig es heute ist, Nach-
weise für diese Schäden zu erbringen. Dazu gehört, Herr
Schwanitz, auch die Einlösung Ihres Versprechens, dass
abgelehnte Anträge auf Anerkennung haftbedingter Ge-
sundheitsschäden nochmals von qualifizierten Gutachtern
überprüft werden sollen. Kurzum: Wir wollen gleiches
Recht für bislang benachteiligte Opfergruppen und wir
wollen im Interesse der Betroffenen bürokratische Hür-
den abbauen.


(Beifall bei der PDS)


Alle drei Vorschläge haben bereits im Dezember eine
Rolle gespielt und wurden auch in der Anhörung des Aus-
schusses für Angelegenheiten der neuen Länder am
19. November 1999 von Betroffenen und den Sprechern
ihrer Verbände formuliert und begründet. Wir beantragen,
dass diese notwendigen Nachbesserungen so in Gesetzes-
form gegossen werden, dass diese per 3. Okto-
ber 2000 – also zum zehnten Jahrestag der staatlichen Ein-
heit – in Kraft treten können.

Es liegt uns ein weiterer Antrag der CDU/CSU-Frak-
tion vor, nämlich der Entwurf eines Dritten Gesetzes zur
Bereinigung von SED-Unrecht. Mit diesem werden eben-
falls Forderungen aus den Opferverbänden aufgegriffen,
vor allem die nach einer Ehrenpension für die Opfer poli-
tischer Verfolgung im Beitrittsgebiet. Beide Anträge – der
der PDS und der der CDU/CSU – korrespondieren mitei-
nander, gehen aber auch jeweils weiter als der andere.
So hat die CDU/CSU mit ihrem Entwurf die Betroffenen
im Blick, die bereits Entschädigungen erhalten, das heißt,
diese Anerkennung besitzen, während die PDS wei-
tere Betroffene einbeziehen will. Umgekehrt will die
CDU/CSU die Höhe der Entschädigung anheben, und
zwar auf eine nicht anrechnungsfähige Pension von
1 000 DM monatlich.

Ich denke, wir sollten diese beiden Anträge in den Aus-
schüssen gemeinsam prüfen und die zum Teil vorhande-
nen Fragezeichen in der konkreten Umsetzung gemein-
sam auflösen. Auch das vorgeschlagene Finanzierungs-
modell, mit dem der Bund zu 60 Prozent und die Län-
der – also wohl vorwiegend die neuen Bundesländer – zu
40 Prozent zuständig würden, gehört aus meiner Sicht auf
den Prüfstand.

Danke schön.

(Beifall bei der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411208400
Jetzt hat der Kollege
Günter Nooke von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


Günter Nooke (CDU):
Rede ID: ID1411208500
Frau Präsidentin! Sehr
geehrte Damen und Herren! Ich möchte die Zeit nutzen,
um unseren Gesetzentwurf noch einmal zu begründen, da
es – Frau Pau, Sie müssen das einfach akzeptieren – für
viele Opfer schwierig ist, wenn Sie sich als ehemalige
Pionierleiterin und Privilegierte des Systems dieses The-
mas allzu stark annehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der PDS)


Ich will aber deutlich sagen: Wenn wir in der Sache ge-
meinsam vorankommen, ist das mit Ihnen auch zu ma-
chen. Die Hauptsache ist, dass wir am Ende materiell zu-
gunsten der Opfer etwas erreichen.

Vor knapp zwei Wochen, am 17. Juni, nahm ich an ei-
ner Gedenkfeier ehemaliger Häftlinge in Berlin-Charlot-
tenburg teil. An diesem Jahrestag des Volksaufstandes ge-
gen die SED-Diktatur in der DDR, der lange Zeit auch
bundesdeutscher Feiertag war, nahmen nur wenige Men-
schen teil. In absehbarer Zeit wird es kaum noch Zeugen
des Aufstandes von 1953 geben.




Vizepräsidentin Anke Fuchs
10644


(C)



(D)



(A)



(B)


Vor fast genau einem Jahr, am 17. Juni 1999, habe ich
in diesem Hohen Hause ebenfalls zu diesem Thema ge-
sprochen. Die damalige Rede stand noch ganz unter dem
Eindruck des Urteils des Bundesverfassungsgerichts be-
züglich der Sonderrenten für diejenigen, deren Versor-
gung der SED besonders am Herzen lag. Seither leben
ehemals Privilegierte des SED-Regimes im Rechtsfrie-
den. Angeblich hat dieses Urteil, wie eine Pressemittei-
lung des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialord-
nung damals mit Bezug auf das Urteil des Bundesver-
fassungsgerichts lautete, die notwendige Klärung her-
beigeführt und eben zu jenem Rechtsfrieden geführt.

Nun kann man sich gewiss gut vorstellen, dass allein
aufgrund der Nachzahlungen, die der betroffene Perso-
nenkreis erhält, ein friedliches Leben im Rechtsstaat mehr
als nur gesichert ist. Aber dieser Rechtsfrieden hat eine to-
tale Schieflage. Ich will an diesem Ort und zu diesem
Zeitpunkt nicht wiederholen, was ich damals zu diesem
Urteil gesagt habe, und mein Unbehagen nicht noch ein-
mal zum Ausdruck bringen. Mir geht es vor allem um die-
jenigen, die ich eingangs genannt hatte. Es geht um eine
schnelle und unbürokratische Lösung für die in der DDR
politisch Verfolgten. Sie ist dringlicher denn je.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, wir müssen genau hinhören

und hinschauen, wie unser Umgang mit 40 Jahren SED-
Diktatur im Deutschen Bundestag bei den Opfern wahr-
genommen wird. Sie können nicht so laut schreien, wie es
mit vielfältiger Unterstützung den Privilegierten des
SED-Regimes möglich war.

Wir haben heute Vormittag über die Währungs-, Wirt-
schafts- und Sozialunion gesprochen. Wir haben damit
über die Erfolgsgeschichte dieses Landes debattiert; da-
rüber kann überhaupt kein Zweifel bestehen. Für die
meisten Menschen in unserem Land war das ein politi-
scher Erfolg, und für die Menschen in der damaligen DDR
war es ein politischer und wirtschaftlicher Erfolg.

Die Hoffnungen derjenigen, die bis 1989 dem politi-
schen System der DDR Opposition und Widerstand ent-
gegengesetzt hatten, haben sich allerdings nur zum Teil
erfüllt. Ich sage hier ganz bewusst als Mitglied der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion: In diesem Hohen Hause
ist in den vergangenen Jahren, nicht nur im letzten Jahr,
zu wenig für die Opfer der SED-Diktatur getan worden.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kann die CDU/CSU mal klatschen!)


– Ja, da können wir klatschen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Gerade an der Debatte über die Währungs-, Wirt-
schafts- und Sozialunion ist doch heute Vormittag eines
klar geworden: dass dringende politische Entscheidungen
notwendig sind und nicht nur von der Kassenlage abhän-
gig gemacht werden dürfen. Ich halte die Frage nach ei-
ner angemessenen und gerechten Entschädigung für die
Opfer der SED-Diktatur in erster Linie für eine Frage des
politischen Willens. Wir hier im Deutschen Bundestag
sollten diesen politischen Willen demonstrieren und eine

solche angemessene Entschädigung durchsetzen, und
zwar jetzt.

Ich hatte vor einem Jahr bei der Begründung des da-
mals von der CDU/CSU-Fraktion eingebrachten Gesetz-
entwurfes zum Zweiten SED-Unrechtsbereinigungsge-
setz ausdrücklich darauf hingewiesen, dass dieses nur ei-
nen ersten, viel zu bescheidenen Beitrag zur Verbesserung
der Lage der Opfer des SED-Regimes zu leisten vermag.
Ich hatte weiterhin zu Protokoll gegeben, dass sich künf-
tige Regelungen in dieser Frage in stärkerem Maße an den
von den Opferverbänden geforderten 1 400 DM monatli-
che Rente orientieren müssten.

Eine Orientierung an den Renten für Opfer des Natio-
nalsozialismus – das ist ja die Grundlage für die Forde-
rung der Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft –
ist aus unserer Sicht durchaus verständlich. Es kann kein
Zweifel daran bestehen, dass es beim Rückblick auf die
beiden deutschen Diktaturen im vergangenen Jahrhundert
keine Opfer zweiter Klasse geben darf.

Eine Behandlung des Themas ausschließlich nach Kas-
senlage halte ich in diesem Falle auch deshalb für schäd-
lich und unaufrichtig, weil eben diese Nachzahlungen aus
den Zusatz- und Sonderversorgungssystemen, die vielen
ehemaligen SED-Kadern – Professoren für Marxismus-
Leninismus und sozialistisches Recht – zuteil werden,
letztlich mehr Geld erfordern als die berechtigten Vorstel-
lungen der SED-Opfer.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Herr Staatsminister Schwanitz, Sie sagten in der De-

batte über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion
heute Morgen, man müsse sich gegen den Angriff auf die
offene Gesellschaft wehren und sich diesem entschlossen
entgegenstellen. Was meinen Sie denn damit? Sollen etwa
unter Einschluss der alten SED-Kader Bündnisse gegen
Rechtsextremismus geschmiedet werden? Sollen ehema-
lige Staatsbürgerkundelehrer der DDR den Schülern mit
antikapitalistischem, ideologischem Unterton die not-
wendige Toleranz gegenüber Ausländern beibringen?


(Zurufe von der PDS)

Auf der anderen Seite werden diejenigen, die sich zu Zei-
ten der SED-Diktatur gegen diese SED-Kader, ML-
Professoren und Staatsbürgerkundelehrer oft mit nicht
mehr als einem mutigen Wort wehren konnten, weiter mit
Füßen getreten. Schafft das wirklich Bewusstsein? Trägt
das zur politischen Bildung bei?

Ich glaube, die Bundesregierung will mit dem, was sie
an Billigregelungen beim Thema Opfer der SED-Diktatur
anbietet, dies sogar abschließend regeln. Ich sage deutlich
für meine Fraktion: Wir werden dies nicht zulassen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die CDU/CSU-Fraktion möchte mit dem vorliegenden

Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Bereinigung von
SED-Unrecht einen wirklichen Rechtsfrieden im Lande
herstellen. Wir halten die derzeitigen Rentenregelungen
für politische Opfer des SED-Regimes für nicht ausrei-
chend und demzufolge für ungerecht. Von einem Rechts-
frieden kann keine Rede sein. Mit dem vorgelegten




Günter Nooke

10645


(C)



(D)



(A)



(B)


Gesetzentwurf würde man aus unserer Sicht nicht nur der
Situation der Opfer politischer Verfolgung in der DDR ge-
recht werden und diese weiter verbessern; vielmehr wäre
die von meiner Fraktion vorgeschlagene Ehrenpension
von 1 000 DM monatlich auch ein deutliches politisches
Signal.

Wir haben außerdem klargestellt, dass die Kapital-
entschädigung – 1 000 DM pro Haftmonat – auch ein
Signal für die Andersartigkeit der Haft in Bautzen im Ver-
gleich zur Haft im heutigen Moabit wäre. Ich glaube, auch
die Verschleppten jenseits von Oder und Neiße brauchen
eine unbürokratische Regelung.

Aber ich sage ganz deutlich: Der besondere Stellen-
wert und die Bedeutung von Opposition und Widerstand
werden mit diesem Gesetz hervorgehoben. Die Men-
schen, denen mit diesem Gesetz geholfen werden soll, ha-
ben zu Zeiten der Diktatur für eine offene Gesellschaft
gekämpft. Auf diese Menschen, Herr Schwanitz, müssten
Sie zugehen, wenn Sie ein Zeichen setzen wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Opposition und Widerstand gegen die SED-Diktatur,
die diese schließlich beseitigt haben, gehören zu den his-
torischen Leistungen, auf die alle Deutschen mit Recht
stolz sein können. Fast 150 Jahre deutscher Geschichte
ohne erfolgreichen Kampf für Freiheit wurden mit dem
Zusammenbruch der DDR beendet. Aber dies war mit vie-
len persönlichen Opfern verbunden. Solange sich die Op-
fer des SED-Regimes wie politische Opfer zweiter Klasse
fühlen müssen, solange ist nach meiner Auffassung der
Rechtstaat in der Pflicht. Der materielle Wert der Ehren-
pension wird die verlorenen Jahre der Haft und die Zeit
der intensiven Verfolgung durch die Staatssicherheit der
DDR auch diesmal nicht wiederbringen können. Aber
eine Ehrenpension kann in sozialer und ökonomischer
Hinsicht die fortwirkenden Probleme, unter denen gerade
die Opfer der SED-Diktatur zu leiden haben, lindern hel-
fen.

Unser Ziel ist es, mit unserem Gesetzentwurf, den Sie
gut und gern auch als einen Neuanfang bei uns verstehen
können, jetzt eine endgültige Regelung für die Opfer
durchzusetzen. Auch dies ist eine grundsätzliche Voraus-
setzung zur Erlangung wirklichen Rechtsfriedens. Wir
sollten nicht wie in anderen Fällen 50 oder 60 Jahre war-
ten.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Vokabeln „sozialer Frieden“ und „soziale Gerech-

tigkeit“ benutzen gerade die Sozialdemokraten sehr häu-
fig. Ich möchte Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen
von der SPD-Fraktion, ganz besonders darum bitten, den
vorliegenden Gesetzentwurf auf Brauchbarkeit zu prüfen
und gemeinsam mit uns schnell und erfolgreich über ihn
zu verhandeln. Herr Staatsminister Schwanitz, das ist
auch ein Angebot an die Bundesregierung, ihre bisherige
Politik zu diesem Thema zu überdenken.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411208600
Das Wort hat nun die
Kollegin Barbara Wittig, SPD-Fraktion.


Barbara Wittig (SPD):
Rede ID: ID1411208700
Frau Präsidentin! Meine Da-
men und Herren! Zunächst ein Wort zu Herrn Nooke. Herr
Nooke, ich weiß, dass Sie gerne polarisieren; insofern
habe ich mich über manche Passagen Ihrer Rede nicht
gewundert. Das möchte ich als Vorbemerkung sagen.


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Sie dürfen nicht immer ablesen! Sie müssen auch einmal zuhören, was ich gesagt habe! – Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Wo denn?)


– Darauf komme ich nachher gerne zurück.
Als wir am 26. November des vergangenen Jahres den

Gesetzentwurf zur Verbesserung rehabilitierungsrechtli-
cher Vorschriften für die Opfer der politischen Verfolgung
in der ehemaligen DDR verabschiedet haben, waren wir
uns einig, dass wesentliche Verbesserungen für die Be-
troffenen erreicht werden konnten. Die Rehabilitierung
und die Entschädigung der Menschen, die in der DDR und
zuvor in der Sowjetischen Besatzungszone Opfer der po-
litischen Verfolgung geworden sind, sind eine Anerken-
nung des Leids der Verfolgten und ihrer Widerstandsleis-
tung. Die Leistungen nach den Rehabilitierungsgesetzen
können jedoch nur Nachteile ausgleichen. Mit Geld auf-
zuwiegen ist das erlittene Schicksal, das den Menschen
zugefügte Leid jedoch nicht.

Diese Sicht entspricht auch dem Geist der Ehrener-
klärung des Deutschen Bundestages vom 17. Juni 1992,
in der all jenen tiefer Respekt und Dank bezeugt wird, die
durch ihr persönliches Opfer dazu beigetragen haben,
nach über 40 Jahren das geteilte Deutschland in Freiheit
wieder zu einen.

Die gesetzlichen Regelungen zur Rehabilitierung und
Entschädigung haben die Situation der Opfer der politi-
schen Verfolgung nachhaltig erleichtert und verbessert.
Zu nennen sind zum Beispiel die nun einheitliche
Haftentschädigung von 600 DM pro Haftmonat, die bes-
sere Unterstützung der Hinterbliebenen von Todesopfern,
die Verlängerung der Antragsfristen aller drei Rehabilitie-
rungsgesetze um zwei Jahre. Dies sind wirklich wesentli-
che Verbesserungen.


(Beifall bei der SPD)

Auch die PDS kommt mit ihrem Antrag auf Drucksa-

che 14/2928 nicht umhin, dies anzuerkennen. In Nr. 1 ih-
res Antrags fordern Sie, dass die bereits anerkannten Op-
fer entsprechende Nachzahlungen von Amts wegen er-
halten. Bisher ist ein formloser Antrag erforderlich. Das
von der PDS geforderte Verfahren führt zu einem unver-
tretbaren hohen Verwaltungsaufwand und mindert ihn
nicht etwa, wie die PDS behauptet.

Erinnern Sie sich doch bitte an die Berichterstatterge-
spräche im vergangenen Herbst! Wir haben über diese
Probleme diskutiert und erkannt, dass beispielsweise die
für die Auszahlung der Kapitalentschädigungen zuständi-
gen Landesbehörden feststellen müssten, ob die Berech-
tigten noch am Leben sind, ob sie am gleichen Ort woh-
nen, ob sie im Falle des Wegzugs eine Feststellung des




Günter Nooke
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(C)



(D)



(A)



(B)


neuen Wohnortes betreiben müssten, ob sie die Abgabe an
die neue zuständige Behörde veranlassen müssten und an-
deres mehr. Im Erbfall müssten sie die Erben ermitteln,
was teilweise sehr schwierig ist.

Dagegen ist die gegenwärtige Praxis über einen form-
losen Antrag zumutbar und durch die Opfer und ihre An-
gehörigen leicht zu erledigen. Die Bearbeitung kann ohne
Verzug beginnen und zügig zu Ende geführt werden. Von
den Verfolgtenverbänden wird dieses Verfahren übrigens
mitgetragen.

Zur Einbeziehung verfolgter Schüler, wie in Nr. 2 des
Antrags gefordert, ist Folgendes zu sagen: Der Nach-
teilsausgleich in der Rentenversicherung ist strikt be-
rufsbezogen und deswegen muss der Verfolgte bestimm-
ten Berufsgruppen und bestimmten Qualifizierungsberei-
chen zugeordnet werden.


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Das ist auch ganz einfach zu klären!)


Dies setzt voraus, dass das Berufsbild bereits zum Zeit-
punkt des Eingriffes, also zum Zeitpunkt der Verfol-
gungsmaßnahme, hinreichend konkretisiert ist. Genau
diese notwendige Konkretisierung des Berufsbildes fehlt
bei dem Eingriff in die vorberufliche Ausbildung. Es
müssten hypothetische Lebensläufe über lange Zeiträume
nachvollzogen werden.


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Deshalb haben wir ja eine Änderung vorgeschlagen!)


Dies dürfte fast unmöglich sein. Darüber haben wir in den
Ausschüssen bereits in der Vergangenheit diskutiert.


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Das haben Ihnen die Ministerialen aufgeschrieben! Das klappt nicht!)


– Herr Nooke, ich zum Beispiel durfte aufgrund meiner
sozialen Herkunft nicht zur Oberschule gehen und es war
nicht damit zu rechnen, dass ich einmal im Bundestag
lande.

Demgegenüber haben die am schwersten Betroffenen,
die sofort in Haft genommenen Schüler, ihren Nachteils-
ausgleich in der Rentenversicherung geltend machen kön-
nen; denn Haftzeiten sind nach allgemeinrechtlichen
Regelungen als Ersatzzeiten in der Rentenversicherung
anzurechnen.

Zur Anerkennung haftbedingter Gesundheitsschä-
den ist zu sagen: Richtig ist, dass es in der Vergangenheit
bei der Anerkennung haft- bzw. verfolgungsbedingter Ge-
sundheitsschäden Probleme gegeben hat, und zwar auch
nach dem Häftlingshilfegesetz. Dies wurde von den Op-
ferverbänden zu Recht beklagt. Zur Beseitigung dieses
Missstandes schlägt die PDS nun die vorhin schon ange-
führte Vermutungsregelung vor. Nach meiner Auffassung
würde die Einführung eines solchen Vermutungstatbe-
standes immer auch dessen Widerlegbarkeit implizieren
und die Verwaltungsbehörden gegebenenfalls sogar dar-
auf orientieren, die in dem Antrag aufgestellten Behaup-
tungen zu überprüfen und zu widerlegen, statt die positi-
ven Tatsachen zu ermitteln und sämtliche Beweiserleich-
terungen anzuwenden. Im Übrigen dürfte bekannt sein,

dass ein Vermutungstatbestand dem System des sozialen
Entschädigungsrechts völlig fremd ist und unter dem
Aspekt der Gleichbehandlung aller dann generell ein-
führbar wäre. So erfolgt die Anerkennung von verfol-
gungsbedingten Gesundheitsschäden gegenwärtig nach
den Kausalitätsgrundsätzen des sozialen Entschädi-
gungsrechts mit wesentlichen Beweiserleichterungen wie
Glaubhaftmachen, Annahme der Wahrscheinlichkeit des
ursächlichen Zusammenhangs und anderes mehr.

Die korrekte und konsequente Anwendung des gelten-
den Rechts sichert den Betroffenen ihre Rechte. Eine Ta-
gung vom 30. November bis zum 2. Dezember 1999 mit
den Versorgungsverwaltungen der Länder in Magdeburg
unter Federführung des Bundesministeriums für Arbeit
und Sozialordnung hat unterstrichen, dass die bestehen-
den Regelungen des sozialen Entschädigungsrechts mit
der dort geltenden Kausalitätsnorm der wesentlichen Be-
dingungen in jedem Fall eine sachgerechte Entscheidung
garantieren, wenn alle gesetzlich vorgesehenen Beweiser-
leichterungen genutzt werden.

Um mögliche Härtefälle auszugleichen, ist auch eine
Überprüfung der seit 1991 durch Ablehnung abgeschlos-
senen Fälle vorgesehen. Neue medizinisch-wissenschaft-
liche Erkenntnisse, vor allem solche zu psychischen Fol-
gen politischer Haft, lassen sicherlich auch neue Ent-
scheidungen in abgelehnten Fällen zu. Diese werden dann
von Amts wegen bei einer zentrale Stelle durch besonders
geschulte und erfahrene Sachbearbeiter und Gutachter
überprüft und gegebenenfalls neu entschieden.

Durch diese Maßnahmen wird aufgrund bestehender
Gesetzeslage durch entsprechende Verwaltungsanwen-
dung auch garantiert, dass die legitimen Rechte der
Opfer in Übereinstimmung mit ihren Verbänden gewahrt
werden.

Im Übrigen möchte ich daran erinnern, dass im Ver-
laufe der Ausschussberatungen die Bundesregierung ge-
beten wurde, einen Bericht vorzulegen. Sie hat dies für
Herbst dieses Jahres zugesagt.

Die CDU/CSU-Fraktion bringt nun einen Entwurf für
ein Drittes Gesetz zur Bereinigung von SED-Unrecht ein.
Schon im Herbst des vergangenen Jahres, als wir über die
Verbesserung der rehabilitierungsrechtlichen Vorschriften
diskutiert haben, spielte die Einführung einer Ehrenpen-
sion eine Rolle. Die konkreten Fakten hat Herr Nooke ge-
nannt. Ich muss Sie an dieser Stelle fragen, meine Damen
und Herren von der CDU/CSU: Warum wecken Sie jetzt
mit Ihren Vorstellungen bei den Betroffenen unerfüllbare
Hoffnungen? Schließlich hatten Sie acht Jahre Zeit, um
Ihre Vorstellungen umzusetzen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Um auf einen Teil Ihrer Rede einzugehen, Herr Nooke –
Sie haben eben selbst zu Recht gesagt, es sei immer eine
Frage des politischen Willens –, sage ich Ihnen, dass es Ih-
nen hier am politischen Willen gefehlt hat.

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang an Folgen-
des erinnern: Im Jahre 1992 legte die CDU/CSU-F.D.P.-
Regierung einen Entwurf eines strafrechtlichen Reha-
bilitierungsgesetzes vor. Dieser sah eine Kapitalentschä-
digung in Höhe von „300 DM“ vor. Am 17. Juni 1992




Barbara Wittig

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(C)



(D)



(A)



(B)


haben 42 Abgeordnete Ihrer Fraktion in einer Erklärung
betont, dass es

Aufgabe der Bundesregierung gewesen wäre, einer
Ehrenschuld des Staates von solchem Rang durch
entsprechende finanzielle Umschichtungen im Haus-
halt zur gerechten Erfüllung zu verhelfen. Dieser
Aufgabe ist sie nicht gerecht geworden. Ein finanz-
wirksames Gesetz kann jedoch nicht gegen den Bun-
desfinanzminister finanziell aufgestockt werden.

So weit das Zitat aus der 12. Wahlperiode.
Interessant ist übrigens – das werden Sie feststellen,

wenn Sie das einmal nachlesen –, dass zu den Unter-
zeichnern auch Abgeordnete gehören, die nun in der Op-
position ganz andere Forderungen aufmachen, wie zum
Beispiel Frau Merkel. Sie verlangen wider besseres Wis-
sen von uns, was sie selber nicht gemacht haben. Erst im
Vermittlungsausschuss wurde auf Druck der SPD-Seite
der Betrag für diejenigen, die nach der Haft in der ehe-
maligen DDR verbleiben mussten, auf 550 DM angeho-
ben. Die neue Regierung hat diese Ungerechtigkeit besei-
tigt und die Kapitalentschädigung einheitlich auf 600 DM
angehoben. Haben Sie das alles vergessen?

Vergessen zu haben scheinen Sie auch, dass die Ver-
besserungen der rehabilitierungsrechtlichen Leistun-
gen Ende des vergangenen Jahres im federführenden Aus-
schuss für Angelegenheiten der neuen Länder einstimmig
angenommen wurden. Herr Nooke sprach vorhin wider
besseres Wissen von „Billiglösungen“. Übrigens waren
Ihnen die Urteile des Bundesverfassungsgerichts vom
28. April 1999 zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt. Des-
halb muss ich noch einmal auf einen Teil der Begründung
Ihres Gesetzentwurfs eingehen. Dort heißt es:

Die bisherigen fiskalpolitisch motivierten Überle-
gungen, die einer solchen angemessenen Würdigung
bislang entgegengestanden haben, lassen sich ange-
sichts der vom Bundesverfassungsgericht getroffe-
nen Entscheidungen vom 28. April 1999 zu Fragen
der Überleitung von Ansprüchen und Anwartschaf-
ten aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen der
DDR in die gesetzliche Rentenversicherung des wie-
dervereinigten Deutschlands und der Umsetzung
dieser Entscheidungen durch die Bundesregierung
nicht länger aufrechterhalten.


(Günter Nooke [CDU/CSU]: So ist es!)

Anzumerken ist hierzu, dass das Bundesverfassungs-

gericht in seinen Urteilen deutlich gemacht hat, dass die
teilweise drastischen Entgeltbegrenzungen im Rahmen
der Rentenüberleitung kein rentenrechtlich taugliches
Element zur Vergangenheitsbewältigung sind. Klarzustel-
len ist außerdem, dass Sie es waren, die die Entgeltbe-
grenzungen der ersten frei gewählten Volkskammer nicht
akzeptiert haben. Sie sind mit den von Ihnen vorgenom-
menen weiteren Verschärfungen bewusst ein hohes ver-
fassungsrechtliches Risiko eingegangen. Das Gericht hat
in diesem besonders kontrovers diskutierten Bereich des
deutschen Einigungsprozesses nun eine notwendige
Klärung herbeigeführt – insofern haben Sie mit dem, was
Sie in Ihrer Begründung gesagt haben, vollkommen Recht –
und logischerweise die Bundesregierung zur Umsetzung

dieser Gerichtsurteile aufgefordert. So weit zu diesem
Thema.

Ausführlich werden wir in den Ausschüssen auch Ihre
Drucksache 14/3670 diskutieren. Ich bitte Sie, meine Da-
men und Herren von beiden Seiten der Opposition, sich
wirklich noch einmal über die von mir genannten Fakten
Gedanken zu machen. Die weitere Diskussion sollte dann
natürlich intensiv in den Ausschüssen erfolgen.

Ich danke Ihnen fürs Zuhören.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411208800
Jetzt hat das Wort der
Kollege Jürgen Türk, F.D.P.-Fraktion.


Jürgen Türk (FDP):
Rede ID: ID1411208900
Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schon Ende letzten
Jahres, als wir das zweite Rehabilitierungsgesetz disku-
tierten, habe ich deutlich gemacht, dass wir, weil es einen
Fortschritt in der Sache darstellt, ihm zustimmen, habe
aber auch deutlich gemacht, dass es keineswegs ausreicht,


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Da waren wir uns einig!)


denn eine entsprechende Wiedergutmachung darf tatsäch-
lich nicht an der Finanzlage scheitern. Die F.D.P.-Fraktion
hat deshalb damals bei der Beratung des Gesetzentwurfes
einen Entschließungsantrag eingebracht. Er sah vor, den
Opfern eine Opferpension zu gewähren und Beweiser-
leichterungen für die Anerkennung von Gesundheitsschä-
den von Verfolgten einzuführen.

Die eine Forderung findet sich im Gesetzentwurf der
CDU/CSU wieder, die andere ist im PDS-Antrag enthal-
ten. Die Zuerkennung einer Opferrente für politisch
Verfolgte ist eine der Hauptforderungen auch der Opfer-
verbände und wohl auch eine berechtigte. Die Betroffe-
nen klagen seit Jahren darüber, dass eine solche Rente den
Verfolgten des Nazi-Regimes in der ehemaligen DDR von
Anfang an – richtigerweise – anstandslos gewährt wurde,
sie selber aber aus Finanzierungsgründen, wie immer wie-
der betont wurde, leer ausgingen. Dabei hätte man bei-
spielsweise die aus natürlichen Gründen frei werdenden
Mittel des Nazi-Opfer-Fonds umwidmen können – das
haben wir damals vorgeschlagen; ich glaube, das geht
auch heute noch – für die Opfer der SED-Diktatur, ganz
davon abgesehen, dass Finanzminister Eichel jetzt unver-
mutet viele zusätzliche Milliarden DM zusätzlich in die
Kasse bekommt. Die Situation ist also eine andere.

Die Betroffenen erfüllt mit zusätzlicher Verbitterung,
dass aufgrund der Entscheidung des Bundesverfassungs-
gerichts vom Dezember 1999 zu Fragen der Überleitung
von Zusatz- und Sonderversorgungssystemen der DDR
ihre einstigen Peiniger und Verfolger materiell jetzt oft
deutlich besser gestellt sind als sie selbst. Das ist in der Tat
fatal. Über diesen Punkt müssen wir gemeinsam nach-
denken.

Wenig befriedigend ist auch, dass Opfer, die aufgrund
der Verfolgung dauerhafte Gesundheitsschäden erlitten
haben – auch das ist in Ihrem Antrag erwähnt –, kaum eine
Chance haben, dass diese anerkannt werden. 95 Prozent




Barbara Wittig
10648


(C)



(D)



(A)



(B)


dieser Anträge werden abgeschmettert, weil der Nachweis
haftbedingter Krankheit natürlich äußerst schwierig ist.
Welcher DDR-Haftarzt hat schon als Grund für eine
Krankheit „Misshandlung“ angegeben? Deshalb sind wir,
so meine ich, den Opfern Beweiserleichterungen schul-
dig.

Ich plädiere dafür, den Gesetzentwurf der CDU/CSU
um diesen Punkt zu ergänzen. Er würde dann unsere un-
eingeschränkte Zustimmung finden. Zustimmen könnten
wir auch dem PDS-Vorschlag, dass die Gewährung der
Entschädigung von Amts wegen vorzunehmen ist.

Aber vielleicht schaffen wir es – das würde eine große
Ausnahme darstellen –, im Ausschuss einen gemeinsa-
men Antrag zu formulieren. Darüber würden wir uns sehr
freuen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411209000
Jetzt hat der Kollege
Hans-Christian Ströbele vom Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

legen! Kollege Nooke, Sie wollen den Opfern der DDR-
Diktatur eine monatliche Rente von 1 000 DM geben,
längstens zehn Jahre. Sie wollen außerdem Nachzahlun-
gen für Kapitalentschädigungen in Höhe von insgesamt
800 Millionen DM zahlen. Sie haben in Ihrem Gesetzent-
wurf ehrlicherweise die Zahlen genannt: 1,5 Milliarden
DM würden die Renten kosten. Auf zehn Jahre gesehen
sind das Kosten in Höhe von 15 Milliarden DM. Vielleicht
liegt der Betrag ein wenig niedriger, weil der eine oder die
andere Betroffene inzwischen gestorben ist.

Entsprechende Überlegungen sind schon häufiger im
Bundestag und in den Ausschüssen angestellt worden.
Diese sind vom Grundansatz her auch richtig. Das ge-
schehene Unrecht kann man zwar nicht wieder gutma-
chen, aber man kann den Opfern für die erlittenen Leiden
Geld zahlen. Das ist grundsätzlich richtig. Als die Damen
und Herren von der CDU/CSU diese Überlegungen un-
terschrieben haben: Was haben Ihre Kollegen Ihnen ge-
sagt, warum in den acht Jahren, in denen das Geld
vorhanden war und in denen sie die Macht im Parlament
hatten, entsprechende Regelungen zu verabschieden,
diese Überlegungen nicht umgesetzt wurden? Die Idee
war ja nicht neu; sie gab es schon damals.

Warum sind entsprechende Maßnahmen damals nicht
eingeleitet worden? Es gibt auf diese Frage nur eine ein-
zige Antwort: Sie wollten das damals nicht, weil die Pri-
oritätensetzung, die Sie jetzt anmahnen – jetzt sagen Sie,
man müsse andere Vorhaben im Augenblick sein lassen,
damit man diese 15 Milliarden DM plus 800 Millio-
nen DM zur Verfügung stellen kann –, damals eine andere
war. Warum wollen Sie sie jetzt? – Weil Sie genau wissen,
dass Sie dafür keine Verantwortung tragen. Sie können
entsprechende Vorschläge machen, aber nicht be-
schließen. Damit können Sie in der Öffentlichkeit für sich
Reklame machen.

Was aber nicht in Ordnung ist: Damit wecken Sie Hoff-
nungen bei Menschen, die möglicherweise Anspruch auf
eine solche Ehrenrente hätten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Auf diese Weise kann man mit dem Thema nicht umge-
hen. Sie wissen ja auch aus Ihrer eigenen Regierungszeit,
dass das entsprechende Geld nicht vorhanden ist. Es geht
nicht nur um die 1 000 DM, sondern es geht in der Summe –
ich habe es zusammengerechnet – um Milliardenbeträge,
die angesichts der ungeheuren anderen Lasten und Zah-
lungen, die schon geleistet werden, nicht zur Verfügung
stehen.

Wir waren bestrebt – wir haben das schon damals an-
gemahnt; seinerzeit gehörten Sie noch den Bündnisgrü-
nen an –,


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Ich war nie bei den Grünen!)


dass wenigstens Gerechtigkeit geschaffen wird, dass Ge-
rechtigkeit für die Opfer in West und Ost geschaffen
wird. Das haben wir gemacht. Das haben wir Ende des
letzten Jahres auf den Weg gebracht. Wir haben verab-
schiedet, dass der Tag Untersuchungshaft oder Strafhaft
im Westen genauso viel gilt und mindestens genauso viel
an Entschädigung bringt wie im Osten. Nicht einmal das
haben Sie damals hinbekommen. Deshalb können Sie
jetzt unmöglich einen solchen Vorschlag unterbreiten.

Es gibt auch noch einen inhaltlichen Grund. Sie kön-
nen doch nicht jemanden, der berufliche Nachteile hatte,
mit jemandem gleichsetzen, der vielleicht fünf Jahre im
Gefängnis gewesen ist. Das tun Sie aber in Ihrem Gesetz-
entwurf. Sie können doch nicht demjenigen, der fünf
Jahre im Gefängnis gewesen ist, 1 000 DM pro Monat ge-
währen und demjenigen, der zwei Wochen im Gefängnis
gewesen ist oder berufliche Nachteile hatte, ebenfalls.
Das wäre doch für diejenigen, denen gegenüber Sie das
rechtfertigen müssten, eine ungeheuer ungerechte Lö-
sung. Deshalb ist auch immanent gedacht die Vorstellung,
die Sie hier entwickelt haben, nicht richtig. Wir wehren
uns dagegen, weil damit nicht erfüllbare Ansprüche ge-
weckt werden. Diese Attitüde sollten Sie als ehemaliger
Bündnisgrüner – wir mussten das auch tun – endlich ein-
mal ablegen.


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Ich war nie Grüner!)


Ich komme nun zu den Vorstellungen der PDS. Ich
verstehe – ich finde es auch grundsätzlich richtig –, dass
man zum Jahrestag am 3. Oktober, – so haben Sie das
auch gemeint – ein auch materielles Zeichen setzen will.
Die Zeichen, die Sie setzen wollen, sind dafür aber unge-
eignet. Wir können uns gern überlegen, ob uns noch etwas
anderes einfällt. Das ist ja noch ein paar Monate hin. Aber
sozusagen aufgedrängte Nachzahlungen zu fordern, zu
fordern, die Leute erst noch zu suchen, um ihnen Nach-
zahlungen zu gewähren, obwohl sie gar keinen Antrag
stellen, halte ich für den falschen Weg. Es ist schon darauf
hingewiesen worden, dass das einen ganz erheblichen
bürokratischen Aufwand verursacht, der viel Geld kostet.
Dieses Geld sollte man lieber den Opfern direkt zukom-
men lassen. Das heißt, man könnte sich überlegen, eine
Kampagne zu machen, öffentliche Hinweise zu geben,




Jürgen Türk

10649


(C)



(D)



(A)



(B)


damit diejenigen, die anspruchsberechtigt sind, Anträge
stellen. Man könnte vielleicht auch die Vertreterverbände
finanziell in die Lage versetzen, wirksamer zu verbreiten,
dass Anträge gestellt werden können. Das fände ich rich-
tig und vernünftig.

Hinsichtlich der Leute, die aufgrund einer abgebroche-
nen schulischen Ausbildung Nachteile haben, halte ich
das für problematisch, weil ein hypothetischer Lebenslauf
berechnet werden müsste. Das ist mit zu vielen Unwäg-
barkeiten verbunden.

Für die Opfer, die für gesundheitliche Haftschäden
eine Entschädigung haben wollen, müssen nachweisen,
dass aufgrund der Haft eine Gesundheitsschädigung ent-
standen ist. Das ist ungeheuer schwierig, darin gebe ich
Ihnen Recht. Dieses Problem sind wir aber angegangen.
Es ist zugesagt, dass – das halte ich für wesentlich wirk-
samer – alle alten Entscheidungen noch einmal nach den
neuen Vorschriften überprüft werden. Das wird auch ge-
tan. Der Deutsche Bundestag sollte aufpassen, dass das
auch tatsächlich umgesetzt wird. Er sollte seine Kontroll-
funktion ausüben. Dann ist diesen Opfern mehr geholfen.

Für das Setzen von Signalen bin ich immer gern zu
haben. Das wären aber nicht die richtigen, praktikablen
Zeichen, die man zum 3. Oktober zu setzen hat.

Seien wir realistisch! Versuchen wir nicht, ungerecht-
fertigte Forderungen zu erheben! In den Beratungen soll-
ten Sie von diesen Vorschlägen Abstand nehmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411209100
Ich schließe die Aus-
sprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 14/2928, 14/3665 und 14/3670 an die in der

Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –
Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Rainer Funke, Jörg
van Essen, weiteren Abgeordneten und der Frak-
tion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Reform der Juristenausbildung

(JurAusbReformG)

– Drucksache 14/2666 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Die Aussprache gestaltet sich dadurch, dass die Reden
zu Protokoll gegeben worden sind – ein Jammer; es steht
so viel Schönes drin.1) Aber ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/2666 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie ein-
verstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Mittwoch, den 5. Juli 2000, 13 Uhr, ein.

Ich wünsche Ihnen allen ein schönes Wochenende.
Die Sitzung ist geschlossen.