Gesamtes Protokol
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sitzung ist eröffnet.
Die Gruppe der PDS hat beantragt, den Tagesordnungspunkt 8, Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. zur verfassungsgebotenen Einführung des Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach in Brandenburg, von der Tagesordnung abzusetzen.
Wird zu diesem Geschäftsordnungsantrag das Wort gewünscht? - Frau Enkelmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben diesen Antrag nicht aus Angst vor der Debatte gestellt. Wir meinen schon, daß es gute Gründe gibt, sachlich, realitätsbezogen und nüchtern über Themen wie Lebensgestaltung, Ethik und Religionskunde im Bundestag zu sprechen. In diesem Fall geht es aber um etwas ganz anderes; es geht um Wahlkampfgetöse zu Lasten der SPD.
Wir lehnen diese Debatte wegen des Verfahrens ab.
Was hier passiert, ist verfassungswidrig. Das föderalistische System wird von Ihnen sonst immer als unantastbares Heiligtum begriffen. Jetzt wird es mit Füßen vom Sockel gestoßen. Eine Mehrheit in diesem Bundestag maßt sich an, den Abgeordneten im Brandenburger Landtag Belehrungen zu erteilen und Vorschriften zu machen. Ich kann Ihnen aus eigener Kenntnis sagen: In Brandenburg ist sehr gründlich geprüft worden, ob das, was jetzt als Projekt vorgeschlagen wird, tatsächlich verfassungsgemäß ist oder nicht.
Sie greifen in laufende Gesetzgebungsverfahren ein. Das ist Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Landes.
Abgesehen von dem konkreten Problem wird ein gefährlicher Präzedenzfall des Überschreitens bundespolitischer Kompetenz geschaffen. Das erinnert verdammt an Weimarer Verhältnisse.
Überlassen Sie die Diskussion den Brandenburgerinnen und den Brandenburgern, insbesondere den Landtagsabgeordneten. Sollten Sie dann immer noch Bauchschmerzen haben, dann können Sie sich vom Bundesverfassungsgericht kurieren lassen.
Frau Probst.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch wir haben hinsichtlich des Föderalismus arge Bedenken, ob es angemessen ist, über diesen Antrag zu debattieren und unterstützen deshalb den Antrag der PDS. Wenn dieser allerdings wider Erwarten abgelehnt würde, dann freuen wir uns auf die Debatte und haben großes Interesse, ordentlich über das Thema zu debattieren.
Herr Hörster.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bedauere, daß durch den Antrag der PDS ein Ton in die Diskussion, die bevorsteht, hineingebracht werden soll, der der Sache weder dem Grunde noch dem Inhalt nach angemessen ist.
Ich habe Verständnis dafür, daß eine Partei, die auf dem dialektischen Materialismus fußt,
Joachim Hörster
mit Religionsunterricht gewisse Probleme hat. Es geht aber ganz einfach um folgendes: Im Grundgesetz steht in Art. 7, daß Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen als ordentliches Lehrfach zu erteilen ist.
Gemäß Art. 93 des Grundgesetzes hat ein Drittel der Mitglieder dieses Hauses das Recht, das Bundesverfassungsgericht anzurufen, wenn es der Auffassung ist, daß das Verhältnis zwischen Bund und Ländern oder das Bundesrecht bzw. das Verfassungsrecht durch eine Entscheidung eines Landes tangiert ist.
Wir haben jetzt die letzte Sitzungswoche, bevor im Landtag Brandenburg eine Entscheidung getroffen werden soll, von der wir der Auffassung sind, daß sie verfassungswidrig wäre. Deswegen möchten wir in aller Ruhe und in aller Sachlichkeit dieses Thema diskutieren. Das hat nichts mit Wahlkampf zu tun, denn in Brandenburg ist kein Wahlkampf. Uns geht es um das Sachproblem. Deswegen lehnen wir den Antrag der PDS ab.
Herr Struck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Antrag der Koalition und die beantragte Debatte bedeuten: Der Deutsche Bundestag soll sich mit einer Frage beschäftigen, die einzig und allein den Landtag in Potsdam angeht, niemand anderen.
Wir gehen mit diesem Antrag zum erstenmal einen Weg, der bedeutet, daß sich das Gesetzgebungsorgan Deutscher Bundestag unmittelbar in ein Gesetzgebungsvorhaben eines Landes einmischt. Ich warne ganz entschieden davor, einen solchen Weg einzuschlagen.
Wer wird, wenn das passiert, was Sie mit Ihrer Geschäftsordnungsmehrheit durchsetzen werden, den Deutschen Bundestag daran hindern, sich über Gesetzgebungsvorhaben im Bayerischen Landtag, im Sächsischen Landtag oder im Landtag NordrheinWestfalen zu unterhalten und ein Landesparlament aufzufordern, sich so oder so zu verhalten? Das ist ein gefährlicher Weg; damit wird ein Anschlag auf den Föderalismus geplant.
Trotzdem wird meine Fraktion dem Antrag der PDS, diesen Tagesordnungspunkt abzusetzen, nicht zustimmen. Vielmehr sind wir der Auffassung, daß wir jetzt die Gelegenheit nehmen sollten, diesen Antrag und die Situation in Brandenburg zu diskutieren. Die Inhalte Ihres Antrages werden insbesondere durch die Äußerung des Vertreters der brandenburgischen Landesregierung zurückgewiesen, widerlegt werden.
Ich möchte etwas zum Abstimmungsverhalten meiner Fraktion im Anschluß an diese Debatte sagen. Meine Fraktion wird, das ist die Empfehlung, in großen Teilen den Antrag der Koalition genauso wie den Antrag der Grünen ablehnen; und zwar nicht etwa deshalb, weil wir der Meinung wären, daß das, was im Landtag Brandenburg diskutiert und vielleicht verabschiedet wird, richtig oder falsch ist, sondern nur deshalb, weil wir der Meinung sind: Es ist nicht Sache des Deutschen Bundestages, über ein brandenburgisches Landesgesetz zu entscheiden.
Herr van Essen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die F.D.P.-Bundestagsfraktion wird den Antrag der PDS nicht unterstützen, weil wir der Auffassung sind, daß der Bundestag sehr wohl über die Frage diskutieren kann, inwieweit die Verfassung in diesem Lande geachtet wird oder nicht. Wir sind auch der Auffassung, daß das Thema Toleranz - wie mit Minderheiten umgegangen wird - das Gesamtparlament dieses Staates interessieren muß.
Das ist unsere Position.
Wir werden uns an der Debatte mit einem sachlichen Beitrag beteiligen.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Absetzungsantrag der PDS? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Absetzungsantrag mit den Stimmen der CDU/ CSU, der F.D.P. und Stimmen aus der SPD bei Zustimmung von PDS, Bündnis 90/Die Grünen und Stimmen aus der SPD abgelehnt.Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 und Zusatzpunkt 11 auf:8. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.Verfassungsgebotene Einführung des Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach in Brandenburg- Drucksache 13/4073 -
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8541
Präsidentin Dr. Rita SüssmuthZP11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Christa Nickels, Volker Beck , Gerald Häfner und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDas Reformprojekt „Lebensgestaltung-EthikReligionskunde" an Brandenburger Schulen als Beitrag zur Vermittlung von Wertorientierung- Drucksache 13/4090 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung RechtsausschußIch weise darauf hin, daß wir im Anschluß an die Aussprache über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. namentlich abstimmen werden.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Wir verfahren so.Die Debatte beginnt der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Herr Dr. Schäuble.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es mag ungewöhnlich erscheinen, daß der Deutsche Bundestag über die Schulgesetzgebung eines Bundeslandes debattiert.
Aber Gegenstand der heutigen Debatte ist nicht die Tatsache, daß eines der neuen Länder ein Schulgesetz erarbeitet und dabei eigene Vorstellungen entwickelt. Es geht auch nicht um Fragen von Ost und West. Es geht um das Schicksal
des Religionsunterrichts an unseren öffentlichen Schulen insgesamt.
Das Bestreben, das Fach zur Disposition zu stellen, findet sich auch in alten Bundesländern. Es geht nicht nur um verfassungsrechtlich verbürgte Ansprüche von Schülern und Eltern sowie der Kirchen. Es geht um Grundvoraussetzungen staatlich geregelten Zusammenlebens in unserer freiheitlich-pluralistischen Demokratie.
Es geht um die Menschen, um ihre Orientierungsfähigkeit gerade in Existenzfragen
und vor allem um die jungen Menschen.
Es geht auch nicht nur um Rechtsfragen. Die Rechtslage ist eindeutig. Art. 7 Abs. 3 des Grundgesetzes verpflichtet den Staat, Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach an öffentlichen Schulen einzurichten. Nach Art. 7 Abs. 2 des Grundgesetzes bestimmen die Schüler bzw. die Erziehungsberechtigten selbst über die Teilnahme am Religionsunterricht.
Das Grundgesetz gilt seit dem 3. Oktober 1990 auch in den neuen Ländern, also auch im Land Brandenburg. Art. 141 des Grundgesetzes, die sogenannte Bremer Klausel, auf die sich die brandenburgische Regierung und die Mehrheit im brandenburgischen Landtag bei ihrer Weigerung, Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach einzuführen, berufen, kann auf die nach der Wiedervereinigung neu gebildeten Bundesländer nicht angewandt werden.
Also ist Brandenburg verpflichtet, Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach an öffentlichen Schulen einzurichten, und zwar gleichrangig mit allen anderen Pflichtfächern, im Rahmen der üblichen Unterrichtszeiten und selbst dann, wenn das Fach nur von einer Minderheit in Anspruch genommen wird.
Alle anderen ostdeutschen Länder sind dieser Verpflichtung auch nachgekommen. Über die Einhaltung dieser Verpflichtung müßte das Bundesverfassungsgericht im Streitfalle entscheiden. Aber es wird immer gesagt, man solle nicht so viele Auseinandersetzungen nach Karlsruhe tragen.
Noch kann ein Verfassungsstreit vermieden werden.
Heute ist die letzte Bundestagssitzung vor der abschließenden Beratung im brandenburgischen Landtag.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Sie haben in der Geschäftsordnungsdebatte gesagt, Sie möchten die Probleme sachlich erörtern. Ich würde raten, daß Sie Ihre Zwischenrufe einmal an Ihrem eigenen Anspruch messen.
Heute ist also die letzte Bundestagssitzung vor der abschließenden Beratung im brandenburgischen Landtag. Deshalb unser Antrag, daß der Bundestag an den brandenburgischen Landesgesetzgeber appellieren möge, auf eine gegen Art. 7 des Grundgesetzes verstoßende Gesetzgebung zu verzichten.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, denken Sie bei Ihrem Verhalten in dieser Debatte im übrigen einen Moment über folgendes nach: Das Thema zwingt uns, uns über Grundwerte und über ihre Vermittlung im freiheitlichen Verfassungsstaat zu verge-
Dr. Wolfgang Schäuble
wissern. Über diese Frage kann, ja, muß auch der Deutsche Bundestag debattieren.
Ich denke, man kann gut nachvollziehen, was es heißt, Religionsunterricht in einem Bundesland wieder einzuführen, in dem zu DDR-Zeiten die Kirchen unterdrückt, die Gläubigen diskriminiert wurden und religiöse Unterweisung ein Nischendasein in den Gemeinden führte. Man kann sicher auch nachvollziehen, was es heißt, Religionsunterricht einer jungen Generation anzubieten, in der überhaupt nur jeder fünfte Mitglied in einer Kirche ist.
Aber die Antwort auf diese Schwierigkeiten sollte gerade nicht lauten, auf das Angebot der religiösen Unterweisung im Rahmen des regulären Unterrichts an öffentlichen Schulen zu verzichten. Wohlverstanden: Niemandem soll etwas aufgezwungen werden.
Im Beschluß der Würzburger Synode der deutschen Bistümer zum Thema Religionsunterricht in der Schule von 1974 heißt es:
Die christliche Botschaft ist Angebot und Einladung, von deren freier Annahme und Ablehnung gemäß dem Evangelium das Heil oder das Unheil des Menschen abhängt.
Zur freien Annahme gehört, daß der Mensch diese Einladung auch ablehnen kann.
Aber Religionsunterricht wird nach unserer Verfassung in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt. Die Kirchen verdienen diese herausgehobene Position; denn sie leisten, was niemand sonst zu leisten vermag. Die Kirche vermag - in den Worten des Bonner Staatsrechtslehrers Isensee -
den Staat zu ergänzen, der als Rechtsstaat nur Legalität fordern kann, obwohl er auch der Moralität bedarf, und der, beengt durch Toleranz- und Neutralitätspflichten, nur eine schmale Erziehungskompetenz wahrnehmen kann ... Erziehung ... geht ... immer auf den ganzen Menschen aus ... Die Kirche ... vermag ganzheitliche Erziehung zu leisten und, indem sie diese leistet, die ethischen Grundlagen des Gemeinwesens, den Grundkonsens der Gesellschaft, zu beleben. Die Kirche vermag Sinn anzubieten, wo der Rechtsstaat nur den Freiheitsrahmen bietet, innerhalb dessen der einzelne seinen Sinn selber suchen muß.
Viele in unserem Land, im Westen wie im Osten, spüren doch Anzeichen einer tiefempfundenen Wertekrise.
- Das Thema ist zu ernst, als daß man in der Art, wie Sie hier rumblödeln, darüber reden sollte.
Es herrscht Unsicherheit bei vielen Menschen über Ziele und Prioritäten, die wir verfolgen, über Maßstäbe und Kriterien, an denen wir unser Handeln ausrichten sollten. Viele sind besorgt, daß die Menschen im Westen wie im Osten, nicht nur die junge Generation, in einer tiefempfundenen Orientierungskrise stecken und oft eher ziellos umherirren, statt ihr Leben bewußt zu führen, sich innerlich leer fühlen, sich allzu bereitwillig oberflächlichen Ersatzangeboten hingeben.
Wenn ich richtig informiert bin, hat die SPD-Fraktion gestern den Antrag auf Einrichtung einer Enquete-Kommission zur Untersuchung der Sekten eingebracht. Das ist doch wohl dasselbe Thema. Also schreien Sie hier nicht dazwischen! Lassen Sie uns ernsthaft und sachlich über die Probleme reden.
Die freiheitlich-pluralistische Gesellschaft - das ist meine Überzeugung - bleibt auf die Bindekraft, auf den inneren Zusammenhalt, den der Wertekonsens und den eine stabile Wertgrundlage liefert, geradezu existentiell angewiesen. Ich frage, ob nicht die Religion, die gemeinsame religiöse Tradition und Überlieferung über die Jahrhunderte und über das Kommen und Gehen staatlicher Ordnungen und Regime hinweg die wichtigste Quelle von Wertorientierungen und Grundüberzeugungen gewesen ist und ob nicht die Gefahr besteht, daß gemeinsame Wertegrundlagen schwächer werden, ja, verdorren, wenn die religiösen Quellen zu versiegen drohen!
Im übrigen denke ich, daß vielleicht doch das Interesse und die Aufgeschlossenheit unterschätzt wird, die der Religion und dem Deutungsangebot der Kirchen noch immer und gerade von jungen Menschen entgegengebracht wird. Äußerliche Zeichen von Kirchenferne, von der rückläufigen Zahl der Gottesdienstbesucher bis zu den Kirchenaustritten, sollten nicht hinwegtäuschen über ein weitverbreitetes Bedürfnis nach Vergewisserung über die letzten Dinge, über Sinn und Zweck des Daseins, über all das, was menschlichem Einfluß letztlich entzogen ist.
Die Zunahme von Sekten und sektenartigen Bewegungen ist nur ein Ausdruck dessen.
Bei einer Umfrage im Westen hat fast jeder zweite Jugendliche auf die Frage nach seinen Vorbildern und Idolen unter anderem immer noch Jesus Christus genannt. Noch immer sagt mehr als die Hälfte der Jugendlichen, ja, sie glaubten an einen Gott. Deshalb ist es weniger die Frage, ob religiöses Bedürfnis vorhanden ist, sondern eher, ob alles Notwendige getan wird, damit dieses Bedürfnis richtig befriedigt wird, jedenfalls nicht sich selbst überlassen bleibt.
Wenn ich es richtig verstehe, sträubt man sich in Brandenburg gegen die Einführung des Religionsunterrichts als ordentlichen Lehrfaches insbesondere
Dr. Wolfgang Schäuble
mit dem Argument, konfessioneller Religionsunterricht in der Verantwortung der Kirchen indoktriniere die Schüler, gefährde den Zusammenhalt der Klassen und fördere religiöse Intoleranz. Dem liegt meines Erachtens ein hartnäckiges Mißverständnis vom Wesen des kirchlich verantworteten Religionsunterrichts zugrunde.
Religionsunterricht dient nicht der Zwangsmissionierung der Schüler. Die vor zwei Jahren verabschiedete Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland zu „Religionsunterricht in der Pluralität" spricht zu Recht davon, daß sich Religionsunterricht schulisch begreifen müsse und keine kirchliche Sozialisation im engeren Sinne leisten könne.
Schulischer Religionsunterricht ist der spezifische Beitrag der Kirchen zum Bildungsauftrag der Schulen. Es geht auch im Religionsunterricht primär um Bildung, nicht primär um Glauben. Es geht um Belehrung, nicht um Bekehrung. Wie sollte es anders sein! In dem Fach gibt es Noten wie in anderen Fächern auch. Benotet wird der Bildungserfolg und nicht der Glaubenserfolg; wie sollte der auch benotet werden!
Aber richtig ist auch: Religionsunterricht soll den Jugendlichen helfen, eine eigene religiöse oder auch weltanschauliche Identität und Persönlichkeit auszubilden. Das Verhältnis von eigener Identität zur Identität des anderen, die Frage der Verständigung mit Andersgläubigen ist immer notwendig prekär. Hier hilft nur die Bereitschaft zum offenen Dialog, gepaart mit der Bereitschaft zur Toleranz.
Zwischen eigener religiös-weltanschaulicher Identität und Überzeugung und Toleranz gegenüber den anderen besteht kein Widerspruch, ganz im Gegenteil. Der Münchener Philosoph Robert Spaemann hat einmal formuliert:
Eine Überzeugung als solche macht nicht intolerant. Im Gegenteil: Toleranz steht auf schwachen Füßen, wenn ihr nicht auch eine Überzeugung zugrunde liegt.
Ignatz Bubis, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, hat das gut verstanden, wenn er davon spricht, daß er nicht verstehen könne, wenn Bestrebungen wie in Brandenburg im Gange sind, den Religionsunterricht abzuschaffen und statt dessen einen allgemeinen Ethikunterricht einzuführen.
Ein Unterricht nach Art von „Lebensgestaltung - Ethik - Religionskunde" ist nicht geeignet, jungen Menschen moralische Urteilskraft, die Fähigkeit zu eigenständiger Orientierung in der Welt zu vermitteln. Dazu reicht eine unverbindliche Weltanschauungs- und Religionskunde nicht aus.
Sie vermittelt bestenfalls eine Art religiöse Allgemeinbildung - in der Formulierung des Gesetzentwurfs: „Wissen über die Grundsätze der philosophischen Ethik sowie über Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften". Aber das Ziel, jungen Menschen Hilfen zu bewußter Lebensgestaltung anzubieten, muß verfehlt werden, wenn in einem solchen Unterricht die Religionen und Weltanschauungen lediglich als buntes Kaleidoskop von Angeboten präsentiert werden.
Richard Schröder, SPD-Fraktionsvorsitzender der einzigen frei gewählten Volkskammer in der ehemaligen DDR, hat dazu in der Anhörung vor dem brandenburgischen Landtag ausgeführt:
Die Idee, den Kindern ein breites Menü verschiedener Religionen anzubieten, damit sie wählen können - soll das heißen: Moslems, Buddhisten oder Christen werden können? oder soll sich jeder seine eigene Religion basteln? -, das ist die Idee einer weltanschaulichen Konsumentenerziehung, nicht aber Werteerziehung.
Sie führt zur Beliebigkeit und Wertlosigkeit, Weltanschauung als Modeartikel. Das gibt es längst, wie die Esoterikläden beweisen. Es ist aber nicht wünschenswert.
So Richard Schröder.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ein solches Konsumangebot hilft jungen Menschen nicht zu Orientierungsfähigkeit und autonomer Lebensgestaltung. Im Gegenteil: Es verwirrt und entmutigt. Überzeugungen bilden sich nun einmal nicht „im Niemandsland der Gleich-Gültigkeit", wie der Tübinger Religionspädagoge Karl Ernst Nipkow treffend formuliert hat. Beliebigkeit, das ist das Gegenteil von bewußter Lebensgestaltung. Gegen Beliebigkeit hilft nur Verbindlichkeit.
Urteilsvermögen, eigene begründete Überzeugungen, Persönlichkeit, das entwickelt sich nur in der Begegnung und Auseinandersetzung mit einem klar erkennbaren Standpunkt. Der evangelische Bischof von Berlin-Brandenburg Wolfgang Huber hat darauf zu Recht hingewiesen. Man könnte auch grundsätzlicher sagen: Erziehung kann es überhaupt nur geben mittels Vorbilder, mittels Autorität, mittels überragenden Beispiels.
Den Vätern und Müttern des Grundgesetzes war dies noch bewußt, gerade auch in dem heute von uns zu diskutierenden Zusammenhang. Theodor Heuss machte anläßlich der Beratung von Art. 7 des Grundgesetzes - das ist das Thema des Religionsunterrichts in öffentlichen Schulen - im Hauptausschuß des Parlamentarischen Rates darauf aufmerksam, daß ein Lehrer, der ohne eigene Verbindung mit der Religion Religionsunterricht erteile, den Schülern das Beste schuldig bleiben müsse, was Religionsunterricht zu geben vermöge, eben das Beispiel der inneren Bindung an Glauben und Religion.
Ich fürchte, die Verantwortlichen in der Regierung und in der Landtagsmehrheit in Brandenburg haben dieses unaufhebbare Defizit einer weltanschaulich
Dr. Wolfgang Schäuble
neutralen allgemeinbildenden Ethik- und Religionskunde durchaus gesehen. Weder von der Zielsetzung noch von der Umsetzung in einem mittlerweile mehr als drei Jahre währenden Schulversuch her hat man es ja bei diesem Defizit bewenden lassen. LER soll offenbar doch mehr sein als bloße Wissensvermittlung. Dies wird deutlich, wenn man die Aufgabenbeschreibung des Faches näher betrachtet.
Während im Gesetzentwurf der Landesregierung vom Oktober 1995 zu lesen steht, LER diene „der Vermittlung von Grundlagen für eine wertorientierte Lebensgestaltung", heißt es in den Leitlinien zum Landesschulgesetz vom Januar desselben Jahres noch unverblümter, das Fach „schaffe" solche Grundlagen.
Das, verehrte Kolleginnen und Kollegen, beschreibt die Gefahr. Wenn es richtig ist, daß es Wertevermittlung ohne Wertungen und Bekenntnis zu Werten nicht geben kann, dann wird der Rubikon schnell überschritten und der vermeintlich weltanschaulich neutrale Charakter des Faches durchbrochen. Wenn es noch eines Beweises bedürfte, dann liefert ihn die Potsdamer Landesregierung selbst, indem sie die Möglichkeit der individuellen Befreiung vom Religionsunterricht in ihren Gesetzentwurf mit aufgenommen hat.
Wenn der LER-Unterricht tatsächlich weltanschaulich neutral vonstatten gehen soll wie der Geschichtsunterricht oder der Physikunterricht, wozu dann diese Möglichkeit der Befreiung?
Wenn Ministerpräsident Stolpe erklärt, niemand dürfe gegen sein Gewissen zur Teilnahme an LER gezwungen werden, dann bedeutet dies doch nichts anderes, als daß dieser Unterricht eben doch von einer Art ist, daß er das Gewissen des einzelnen sehr wohl verletzen kann.
Wenn es in der Begründung zu dem Gesetzentwurf der Landesregierung heißt, man wolle mit der Befreiungsmöglichkeit die Empfindung derer respektieren, „die eine religiös geprägte Wertorientierung wünschen", dann frage ich: Welche Wertorientierung vermittelt denn dann LER? Eine weltanschaulich neutrale? Nein, eine staatlich geprägte.
Wenn der Staat aber versucht, die Wertevermittlung in eigener Regie zu übernehmen, dann überschreitet er seine Kompetenz und sein Vermögen. Wertungen im Bereich von Religion und Weltanschauung stehen dem Staat nicht zu, und sie überfordern den Staat an entscheidender Stelle.
Ernst-Wolfgang Böckenförde hat davon gesprochen, der freiheitliche, säkularisierte Staat lebe von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren könne. Ich füge hinzu: Er sollte es auch nicht versuchen! Denn dieser Versuch müßte in einer gefährlichen Form von Hybris enden, für die mir der verbürgte Ausspruch eines brandenburgischen Abgeordneten „Was Werte sind in diesem Land, bestimmen wir" durchaus charakteristisch zu sein scheint.
Das ist kein vereinzelter Ausrutscher. Diese Art Hybris prägt zu erheblichen Teilen den gesamten Schulversuch mit LER. In dem offiziellen Begleitgutachten zu dem Schulversuch heißt es - ich zitiere -:
Es herrscht zumindest unterschwellig die Vorstellung vor, man könne und müsse letztlich immer doch vermitteln, was „richtig" ist, und dafür sorgen, daß sich entsprechende Orientierungen auch bei den Kindern und Jugendlichen praktisch durchsetzen.
Und es fällt das Wort „indoktrinierende Momente".
Das alles ist nicht Zufall und nicht bloßes Unvermögen, sondern das alles kommt davon, wenn sich der Staat an die Stelle der Kirchen setzen will. Dann liegt die Versuchung nicht mehr fern, Zuflucht zu einer Art staatlichem Religionsersatz zu nehmen, so wie das einst schon Rousseau mit seiner Idee einer „bürgerlichen Religion" vorgedacht hat und wie das im Gefolge der Französischen Revolution in quasi-religiöser Verehrung von Vernunft und Tugend einen makabren Höhepunkt erlebte.
Was besonders gefährlich ist: Diese Vorstellung eines staatlichen Religionsersatzes ist am Ende geradezu eine Einladung an totalitäre Versuchung und Verführung.
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, müßten wir nach den Erfahrungen dieses Jahrhunderts eigentlich wissen. Daher dürfen wir uns nicht auf diesen Weg begeben, auch nicht in Ansätzen. Deswegen gilt es, den Anfängen zu wehren.
Von daher unser Appell an den brandenburgischen Landesgesetzgeber: Überheben Sie sich nicht, überheben Sie nicht den staatlichen Anspruch! Lassen Sie den Kirchen, was Sache der Religionsgemeinschaften ist! Verzichten Sie auf staatliche Wertevermittlung an Stelle des von den Kirchen zu verantwortenden Religionsunterrichts!
Toleranz und Freiheit sichert die Ordnung unseres Grundgesetzes durch das Subsidiaritätsprinzip und die Autonomie der Religionsgemeinschaften und gerade nicht durch die Allzuständigkeit des Staates.
Diesen Appell, verehrte Kolleginnen und Kollegen, könnten wir im Deutschen Bundestag vielleicht doch gemeinsam oder mit einer großen Mehrheit an unsere Kollegen in Brandenburg richten: im Interesse des Schulfriedens und des Rechtsfriedens, im Interesse von Schülern und Eltern, im Interesse der Schu-
Dr. Wolfgang Schäuble
len wie der Religionsgemeinschaften und vor allem im Interesse der Freiheit und der Toleranz.
Jetzt spricht der Minister der Justiz und für Bundes- und Europaangelegenheiten des Landes Brandenburg, Herr Dr. Bräutigam.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten! Wir haben eben eine außerordentlich engagierte Rede gehört,
aber das kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir es mit einem ungewöhnlichen Vorgang im Deutschen Bundestag zu tun haben.
Der von der CDU/CSU-Fraktion vorgelegte Antrag enthält schwere - auch unsachliche - Angriffe gegen ein Land der Bundesrepublik Deutschland. Er enthält die Forderung, einen dort vorliegenden Gesetzentwurf, ein Stück ausschließlicher Landesgesetzgebung, nicht zu verabschieden. Weil es in einer verfassungsrechtlichen Frage Meinungsverschiedenheiten gibt, soll der Bundestag zu politischen Pressionen gegen das Land Brandenburg veranlaßt werden.
Ich weise diesen Versuch mit aller Entschiedenheit zurück.
Das Grundgesetz sieht für einen solchen Fall ein Verfahren zur Klärung der Verfassungsmäßigkeit vor, nämlich die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts in einem Normenkontrollverfahren nach Art. 93 des Grundgesetzes. Ich rate Ihnen, meine Damen und Herren, sich im Interesse der guten rechtsstaatlichen Sitten auch in diesem Fall daran zu halten. Gerade wenn es sich um eine ernste Angelegenheit handelt - das ist auch unsere Auffassung -, ist die strikte Einhaltung der vorgesehenen Verfahren in einem Rechtsstaat von besonderer Bedeutung.
Als ein sogenanntes neues Land ist Brandenburg in einer solchen Frage besonders empfindlich. Wir können uns des Eindrucks nicht erwehren, daß hier auf ein neues Land in einer Weise eingewirkt werden soll, wie es der Deutsche Bundestag gegenüber den alten Ländern nicht tun würde.
Auch das Land Berlin beruft sich seit langem auf die „Bremer Klausel". Auch dort gibt es keinen Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach, obwohl die Kirchen das seit langem fordern.
Das Berliner Modell scheint für den Deutschen Bundestag in Ordnung zu sein. Wenn aber das Land Brandenburg das gleiche Recht für sich in Anspruch nimmt, dann ist das für Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, bundesunfreundliches Verhalten.
Das finde ich dann nicht mehr so sachlich.
Nun mag die Rechtslage in Berlin und Brandenburg nicht ganz die gleiche sein. Aber in der Öffentlichkeit besteht jedenfalls der Eindruck, daß hier unterschiedliche Maßstäbe angelegt werden.
Wenn man an die Schwierigkeiten vieler Ostdeutscher mit dem Einigungsprozeß denkt - wir haben dazu jeden Tag Veranlassung -, ist ein solches Vorgehen, meine sehr geehrten Damen und Herren, sehr unsensibel, und es ist auch politisch sehr unklug.
Ich will einmal dahingestellt sein lassen, ob das, was hier versucht wird, nach der föderalistischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland überhaupt zulässig ist. Für Brandenburg ist ein solches Verfahren jedenfalls unakzeptabel.
Damit könnte ich meine Rede im Grunde beenden.
Da aber offenbar große Informationsdefizite und Unklarheiten in der Frage des Religionsunterrichts in Brandenburg bestehen - die Rede des Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU
hat mich noch einmal darin bestärkt, daß das so ist -, sehe ich mich doch veranlaßt, noch einige Ausführungen zur Rechtslage und zum Stand unserer Bemühungen zu machen.
Nach Art. 141 des Grundgesetzes besteht keine Pflicht zur Durchführung des Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach in einem Land, in dem am 1. Januar 1949 eine andere landesrechtliche Regelung bestand. Das war in Brandenburg der Fall. Die vom Landtag der Mark Brandenburg beschlossene
Minister Dr. Hans Otto Bräutigam
Verfassung vom 6. Februar 1947 bestimmte in Art. 6 - ich zitiere mit Genehmigung der Frau Präsidentin -:
Das Recht der Religionsgemeinschaften auf Erteilung von Religionsunterricht in den Räumen der Schule ist gewährleistet. Der Religionsunterricht wird von den durch die Kirchen ausgewählten Kräften erteilt. Niemand darf gezwungen oder gehindert werden, Religionsunterricht zu erteilen.
Abs. 2 lautet:
Über die Teilnahme am Religionsunterricht bestimmen die Erziehungsberechtigten.
Die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit von Art. 141 des Grundgesetzes in Brandenburg sind also nach dem Wortlaut dieser Bestimmung eindeutig gegeben.
Aus den Beratungen des Parlamentarischen Rates ergeben sich auch keine Anhaltspunkte dafür, daß die Bestimmung entgegen ihrem Wortlaut etwa nur für die alten Länder, insbesondere für Bremen und Berlin, gelten sollte. Im Gegenteil: Im Parlamentarischen Rat ist ausdrücklich darauf hingewiesen worden, daß diese Bestimmung eines Tages auch für die „Ostzone" - die es damals ja noch war - Bedeutung haben könnte.
Für die Anwendbarkeit von Art. 141 kann es auch nicht darauf ankommen, daß die Mark Brandenburg bereits 1952 in dem Einheitsstaat DDR aufgegangen ist. Denn die Bestimmung bezieht sich - das ist nahezu unbestritten - nicht auf ein Rechtssubjekt, sondern auf ein Gebiet. - Wenn sich zum Beispiel das Land Bremen in den 60er Jahren mit dem Land Niedersachsen zusammengeschlossen hätte, könnte sich Bremen gleichwohl auch heute noch für sein Gebiet auf die „Bremer Klausel" berufen. -
Entscheidend ist allein, daß in Brandenburg an dem fraglichen Stichtag, dem 1. Januar 1949, die Voraussetzungen des Art. 141 des Grundgesetzes gegeben waren.
Nicht einfach abzutun ist der Einwand, meine sehr geehrten Damen und Herren, daß die Verfassung der Mark Brandenburg aus dem Jahre 1947 den Menschen gegen ihren Willen durch das SED-Regime aufgezwungen worden sei. Das trifft bis zu einem großen Maße sicher zu. Was aber die Regelung des Religionsunterrichts angeht, kann das nicht ohne weiteres unterstellt werden. Gerade unter den damals herrschenden politischen Verhältnissen gab es in der Kirche wie auch in der Bevölkerung zahlreiche Befürworter - Herr Kollege Eppelmann, ich denke, Sie werden mich verstehen - einer strikten Trennung von Staat und Kirche. Das hat sich im Laufe des Bestehens der DDR dann noch verstärkt.
Im übrigen ist ja Religionsunterricht in der alleinigen Verantwortung der Kirchen - also kirchlicher Religionsunterricht, im Unterschied zu staatlichem Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 - nicht etwa undemokratisch oder unmoralisch. Es gibt solche Regelungen auch in den alten, westlichen Demokratien.
Sowohl bei der Ausarbeitung unserer Landesverfassung wie auch bei den Beratungen zum Schulgesetz haben wir die Frage der Anwendung von Art. 7 Abs. 3 des Grundgesetzes eingehend und gewissenhaft geprüft. Wir haben Gutachten namhafter Staatsrechtler eingeholt. Wir sind dann zu dem Ergebnis gekommen, daß sich Brandenburg ebenso wie Berlin und Bremen auf Art. 141 des Grundgesetzes berufen kann. Darin liegt unser verfassungsrechtlicher Streit.
Die Anwendbarkeit von Art. 141 hat zur Folge, daß damit die Einführung des Religionsunterrichtes als ordentliches Lehrfach für uns nicht verpflichtend ist. Das ist - nebenbei bemerkt - exakt die gleiche Rechtslage, wie sie heute nicht nur im westlichen Berlin, sondern auch in Ost-Berlin besteht, dem aber bisher meines Wissens die Anwendung von Art. 141 des Grundgesetzes nicht bestritten wird.
Daß die Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. des Deutschen Bundestages eine andere Rechtsauffassung vertreten, haben wir zu respektieren. Wenn Sie die Angelegenheit auf korrekte Weise einer Klärung zuführen wollen, müssen Sie sich an das Bundesverfassungsgericht wenden.
Wir bestreiten Ihnen dieses Recht nicht.
Im Gegenteil: Als Landesjustizminister erscheint es mir durchaus sinnvoll und letztlich auch im allgemeinen Interesse liegend - diese Debatte bestätigt das -, wenn wir auf diesem Weg zu einer Klärung kommen.
Vielleicht ist der eigentliche Grund der Auseinandersetzung - diesen Eindruck habe ich seit einiger Zeit - nicht so sehr der Status des Religionsunterrichts - das ist eine Rechtsfrage -,
sondern die Einführung des neuen Fachs „Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde", abgekürzt: LER. Dieses Fach - das ist mir wirklich ganz besonders wichtig - soll keineswegs den Religionsunterricht ersetzen oder verdrängen. Alle Behauptungen, die in diese Richtung gehen, sind schlicht falsch.
Religionsunterricht wird es in Brandenburg auch in Zukunft geben. Derzeit besuchen bei uns etwa 7 000 Kinder in 150 Schulen den evangelischen Religionsunterricht. In den kommenden Jahren werden es eher mehr als weniger sein. - Übrigens: Auch nichtchristliche Kinder besuchen den evangelischen Religionsunterricht. - Das Land Brandenburg leistet für
Minister Dr. Hans Otto Bräutigam
diesen Unterricht finanzielle Zuschüsse in erheblichem Umfang. Wie man uns angesichts dieser Tatsachen eine kirchenfeindliche Haltung unterstellen kann, ist mir wirklich unbegreiflich.
Das Fach LER, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist als ein wertorientierter Unterricht konzipiert, also als ein Unterricht, in dem die Jugendlichen unabhängig von ihrer jeweiligen Religionszugehörigkeit oder Weltanschauung zu Achtung und Toleranz gegenüber anderen Weltanschauungen und Glaubensbekenntnissen erzogen werden sollen. Das Konzept von LER entspricht dem Toleranzgebot, dem wir uns verpflichtet fühlen. -
Übrigens geht dieses Konzept auf Diskussionen am Runden Tisch zurück. Es trägt der weit fortgeschrittenen Säkularisierung in Brandenburg Rechnung, wo sich nur noch knapp 30 Prozent der Bevölkerung zum Christentum bekennen. - LER ist in einem längeren Schulversuch erprobt und von der großen Mehrheit der Eltern und Kinder angenommen worden. Gut 50 Prozent der Lehrkräfte sind kirchlich gebunden.
Vorbehaltlich einer Bestätigung durch den Landtag, von der ich ausgehe, können Kinder von der Teilnahme am Fach LER befreit werden, wenn sie oder ihre Eltern dies aus wichtigem Grund verlangen. Das, Herr Kollege Schäuble, ist ein verfassungsrechtliches Gebot - so sehen wir das -, und zwar deshalb, weil wir es zu respektieren haben, wenn Eltern nicht wünschen, daß ihre Kinder den LER-Unterricht besuchen. Das ist ein verfassungsrechtliches Gebot für Sie wie für uns. Darum halten wir das für notwendig.
Herr Schäuble, ich habe mich während Ihrer ganzen Rede gefragt: Was wollen Sie eigentlich den nicht mehr christlich gebundenen Kindern in den Ostländern anbieten? Dazu habe ich von Ihnen so gut wie gar nichts gehört.
Wollen Sie denn, daß diese Kinder schließlich doch in den Religionsunterricht gehen, weil es keine Alternative gibt? Zu einer Alternative haben Sie kein Wort gesagt. Sie haben die Alternative in Brandenburg kritisch diskutiert; das haben wir selbstverständlich zu akzeptieren. Auch andere sehen das kritisch. Sie müssen sich aber doch Gedanken darüber machen, was diesen nicht mehr christlich erzogenen Kindern anzubieten ist.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schäuble?
Ja, bitte.
Herr Minister Bräutigam, sollte Ihnen bei meiner Rede wirklich entgangen sein, daß es uns nicht in erster Linie um das Angebot eines Ethikunterrichtes außerhalb der Verantwortung der Religionsgemeinschaften geht, sondern darum, daß Sie den Religionsunterricht, der nach den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften zu erteilen ist, in Ihrem Schulangebot nicht vorsehen und daß damit das Angebot an Kinder, die nicht in den Religionsunterricht gehen wollen, eine völlig andere Qualität bekommt, als wenn entsprechend Art. 7 Abs. 3 GG Religionsunterricht an öffentlichen Schulen ein ordentliches Pflichtfach ist, das abgewählt werden kann?
Aber Herr Schäuble, das ist doch nicht richtig. Wir bieten doch Religionsunterricht an, und zwar in kirchlicher Verantwortung.
Der entscheidende Unterschied ist doch, daß wir Religionsunterricht anbieten, den kirchliche Lehrer erteilen,
während Sie dafür plädieren, so zu verfahren, wie es 40 Jahre lang geschehen ist, nämlich daß der Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG von staatlichen Lehrern durchgeführt wird.
Ich füge hinzu, auch wenn das ein emotionales Argument ist: Es gibt eine „Allergie" gegen staatlichen Religionsunterricht in den neuen Ländern.
Es ist ein Ergebnis einer leidvollen Geschichte von 40 Jahren, daß viele Menschen in Ostdeutschland sagen: Religionsunterricht soll von der Kirche in ihrer eigenen Verantwortung erteilt werden. -
Wir wünschen, daß das in den Schulen geschieht. Warum sagen wir das? Weil wir diesen Religionsunterricht wünschen. Wir finanzieren den Religionsunterricht. Sie können uns doch nicht unterstellen - das
Minister Dr. Hans Otto Bräutigam
ist doch schlicht nicht wahr -, wir wollten den Religionsunterricht aus den Schulen verdrängen.
Ich sage Ihnen noch etwas: In Brandenburg gibt es in den staatlichen Schulen nicht weniger Religionsunterricht als in den Ländern, die Art. 7 Abs. 3 GG akzeptiert haben. Warum gibt es dort nicht mehr Religionsunterricht als zum Beispiel in Brandenburg? Weil es nicht genügend Beteiligung gibt und weil es auch einen Mangel an staatlichen Religionslehrern gibt. Das ist aufzuarbeiten und wird sich hoffentlich ändern.
Ich sage hier noch einmal: Wir wünschen und wir erwarten, daß im Laufe der nächsten Jahre mehr Kinder den kirchlichen Religionsunterricht in unseren Schulen besuchen.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, diesmal des Abgeordneten Dr. Göhner?
Bitte schön.
Herr Bräutigam, ich möchte Sie nach dem, was Sie jetzt ausgeführt haben, gern fragen: Warum wehren Sie sich eigentlich gegen den Vorschlag der Kirchen in Brandenburg, einen Wahlpflichtbereich mit Religionsunterricht und LER einzuführen? Wenn es Ihnen mit dem, was Sie gesagt haben, ernst ist, nämlich daß mehr Kinder den Religionsunterricht - wir sagen in Übereinstimmung mit den Kirchen: als ordentliches Schulfach - besuchen sollen: Warum greifen Sie den Vorschlag der Kirchen, der in Brandenburg durch die CDU-Landtagsfraktion auch zur Abstimmung gestellt wird, nicht auf, warum bieten Sie einen Wahlpflichtbereich mit LER und Religionsunterricht, beides als ordentliche Lehrfächer, nicht an?
Warten Sie doch erst einmal ab, bis ich die Frage beantwortet habe, Herr Kollege Göhner, wir lehnen dieses Konzept deshalb ab, weil es bedeutet: Die einen Kinder gehen zum katholischen Religionsunterricht, die anderen zum evangelischen Religionsunterricht. In Zukunft wird es einige, vor allem in den großen Städten, geben, die in den moslemischen Religionsunterricht gehen.
Daneben gibt es einige, die das Fach Ethik oder - was eine Fortentwicklung ist - das Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde besuchen.
Wir legen Wert darauf, daß diese Trennung vermieden wird und daß der wesentliche Teil der Kinder in bezug auf die Wertevermittlung gemeinsam unterrichtet wird. Darauf legen wir sehr großen Wert.
Wir legen auch Wert darauf, daß dieser Unterricht in der Mitverantwortung der Kirchen gestaltet wird.
- Nein, das ist keine Staatsbürgerschaftskunde. Allerdings muß ich Ihnen auch sagen, worauf Ihr Konzept hinausläuft. Ihr Konzept läuft darauf hinaus, daß die nicht mehr christlich geprägten Kinder in den Schulen nichts mehr von christlicher Religion erfahren. Das ist für uns absolut unakzeptabel.
Wir fühlen uns verpflichtet, daß auch diejenigen Kinder, die überhaupt nicht mehr wissen, was Christentum ist, in der Schule erfahren, was es ist, und dafür brauchen wir auch die Mitwirkung der Kirchen. Das sage ich hier in aller Deutlichkeit.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, aus diesen Gründen hat die Landesregierung den dringenden Wunsch, mit den Kirchen langfristige Vereinbarungen über die Modalitäten des Religionsunterrichts abzuschließen und auch über die Gestaltung des Faches LER mit ihnen zu reden. Es wird im übrigen schon lange mit ihnen darüber geredet. Dies ist ein schwieriger, aber deswegen auch außerordentlich wichtiger Dialog.
Wir haben den Wunsch, mit den Kirchen Vereinbarungen abzuschließen. Es steht für uns außer Frage, daß der Religionsunterricht wie bisher in den Schulräumen erteilt werden kann, und zwar, soweit das möglich ist, in der normalen Unterrichtszeit. Wie bisher sollen die Kirchen dafür eine umfassende finanzielle Unterstützung erhalten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich hoffe, daß es uns in dieser Debatte gelingt, zu einer sachlichen und nachdenklichen Prüfung dieser Fragen beizutragen. Ich weiß mich mit Ihnen darin einig - und ich weiß mich vor allem auch mit Ihnen, Herr Dr. Schäuble, darin einig -, daß die Fragen der Wertevermittlung einer äußerst gewissenhaften und genauen Prüfung bedürfen.
Brandenburg bemüht sich mit großem Ernst darum, in einer Zeit fortschreitender Säkularisierung der Gesellschaft und zunehmender Orientierungslo-
Minister Dr. Hans Otto Bräutigam
sigkeit, die mich so beunruhigt, wie sie viele von Ihnen beunruhigt,
ein auf Wissen und Gewissen gegründetes Wertebewußtsein zu vermitteln. Das ist unsere Aufgabe in den Schulen, und das ist in Wahrheit eine Verantwortung der Gesellschaft insgesamt.
Dabei - ich sage es noch einmal - ist die Mitwirkung der Kirchen nicht nur selbstverständlich, sie ist für uns unverzichtbar. Wir bemühen uns, darüber mit den Kirchen zu einer Verständigung zu kommen.
Ich bitte Sie eindringlich, uns auf diesem schwierigen Weg nicht mit Anfeindungen und Unterstellungen unter Druck zu setzen. Sie werden damit ohnehin keinen Erfolg haben. Aber ich denke, wir haben einen Anspruch darauf, daß Sie uns - bei aller kritischen Begleitung - dabei unterstützen und helfen.
Herr Minister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Türk?
Herr Minister, was halten Sie von dem Vorschlag, in Brandenburg und vielleicht auch anderswo zwischen LER-Unterricht und Religionsunterricht wählen zu lassen, damit da kein Vakuum entsteht?
Ich habe Sie ja, wofür ich eben schon kritisiert worden bin, darauf hingewiesen, daß Kinder aus wichtigem Grund
von der Teilnahme am LER-Unterricht befreit werden können. Es ist dabei unsere Vorstellung gewesen, daß viele derjenigen, die davon Gebrauch machen wollen, am Religionsunterricht teilnehmen. Die Möglichkeit, die Sie gerade erwähnten, besteht also. Allerdings würden wir Wert darauf legen - das will ich noch einmal sagen -, daß möglichst viele Kinder, wenn nicht alle, an dem Fach LER teilnehmen, damit wir nicht den verschiedenen Teilen der Gesellschaft sozusagen eine verschiedene Art von Wertevermittlung anbieten. Letzteres kann, denke ich, nicht in unserem gemeinsamen Interesse sein.
Erlauben Sie mir ein letztes Wort, nachdem ich hier schon einige Akzente in dieser Debatte gehört habe, die in diese Richtung gehen: Reden Sie nicht einen Kulturkampf oder einen Kirchenkampf herbei!
Den wird es in Brandenburg nicht geben.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Dr. Antje Vollmer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich beziehe mich auf die Rede des Fraktionsvorsitzenden Schäuble, der ich sehr genau zugehört habe und in ihrem ersten Teil auch weitestgehend zustimme. Mit dem zweiten Teil habe ich ganz große Probleme; aber das lasse ich einmal außen vor.
Gerade weil ich die Sorge teile, wie eigentlich unsere Kinder noch vermittelt bekommen, daß dieses Land auch kulturelle Wurzeln hat, die außerhalb des Christentums nicht denkbar sind, und weil ich auch finde, daß man Toleranz nur üben kann, wenn man selbst eine Überzeugung, einen Standpunkt hat, frage ich Sie: Kennen Sie denn nicht auch die tiefe Krankheit des heute angebotenen Religionsunterrichtes? Wir sollten einmal von der Ideologie weggehen und uns wirklich einmal die Praxis angucken.
Ich habe ein Kind, das sehr lange am Religionsunterricht teilgenommen hat, teilweise ganz alleine. Nach sechs Jahren hat es jetzt gesagt, es reiche ihm nun: immer die Themen Sekten, Drogen, Beziehungsprobleme. Das Kind hat einen Hunger nach anderen Wahrheiten. Haben Sie den Eindruck, daß der staatliche Religionsunterricht diese wirklich noch vermittelt? Ich habe den Eindruck, daß da genau das passiert, was man in der Praxis den Brandenburgern vorwirft, nämlich LER: Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde.
Ihre Antwort, Herr Schäuble.
Frau Präsidentin! Frau Kollegin Vollmer, wir diskutieren heute nicht über die Qualität des Religionsunterrichts.
Sie mag wie auch beim Unterricht in anderen Fächern oder beim politischen Engagement unterschiedlich sein. Ich könnte Ihnen vom Religionsunterricht eines meiner Kinder erzählen, in dem der Religionslehrer gesagt hat, die Mitglieder der Regierung, der ich damals angehört habe, seien alle Ver-
Dr. Wolfgang Schäuble
brecher. Mein Kind hat dann auch nicht mehr am Religionsunterricht teilgenommen.
- Der Kollege der SPD klatscht dazu. Ich muß gestehen: Die Verkommenheit in den Reihen der sozialdemokratischen Fraktion findet immer neue Grenzen.
Ich glaube jedenfalls nicht, Frau Kollegin Vollmer, daß uns die Kritik am Religionsunterricht, so berechtigt sie im einzelnen sein mag, dazu veranlassen sollte, ihn abzuschaffen. Meine Meinung ist, daß wir ihn verbessern sollten.
Ich meine ferner - das ist der Gegenstand der Debatte, Frau Kollegin Vollmer -, daß an Stelle des Religionsunterrichts nach Art. 7 Abs. 3 GG ein staatlich verordnetes Fach LER, das nicht als Alternative zum Religionsunterricht, sondern, wie Herr Minister Bräutigam eben auf die Zwischenfrage geantwortet hat, mit dem Ziel angeboten wird, daß alle daran teilnehmen sollen, die Situation ganz sicher nicht verbessern, sondern eher noch verschlechtern wird.
Deswegen werbe ich dafür, Frau Kollegin Vollmer, Herr Minister Bräutigam, in allem Ernst und in aller Eindringlichkeit, die wir uns gegenseitig nicht absprechen wollen: Überlegen Sie noch einmal gut, ob es nicht besser wäre, Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG anzubieten und denjenigen, die daran nicht teilnehmen wollen, ein Fach Ethik, oder wie immer es heißt - das haben wir ja schon in vielen anderen Bundesländern -, anzubieten. Dann nehmen Sie nicht in Anspruch, daß der Staat leisten solle, was in Zusammenarbeit und nach den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften gelegentlich, wie Frau Vollmer gesagt hat, auch nur unvollkommen gelingt.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Fraktionsvorsitzende der SPD, Herr Scharping.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Schäuble, unabhängig von der Frage, in der wir offenkundig übereinstimmen, daß die Kirchen für den Wertekonsens, die Wertebildung und Wertebindung - übrigens auch für die Glaubwürdigkeit der Wertebindung und Wertebildung - von entscheidender Bedeutung sind, und unabhängig davon, daß man darüber streiten kann, in welcher Form im einzelnen dieser, wie ich finde, unverzichtbare Beitrag der Kirchen erbracht wird, stellt sich mir im Zusammenhang mit dieser Debatte eine zweite Frage - die haben Sie aufgeworfen -, nämlich, ob wir nicht von den Kirchen im Sinne von Wertebindung und Wertebildung zuviel verlangen angesichts von Haltungen, die Respekt und Toleranz, Gemeinsinn und Zusammenhalt, Solidarität und anderes erfordern, angesichts einer Politik und einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, die genau diesem Bemühen in vielen Fällen häufig ins Gesicht schlägt.
Ich frage mich, ob es angesichts der sozialen und der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die ja gerade von den Kirchen mit sehr deutlichen Worten kritisiert wird, am Ende ein doppelbödiges Spiel wird,
am Beispiel des Landes Brandenburg etwas zu fordern und einzuklagen, was man in seiner eigenen Politik - übrigens mit entsprechend deutlichen Worten der Kirchen kritisiert - nicht einzulösen vermag. Das ist das, was mich an dieser Debatte stört.
Frau Präsidentin! Herr Kollege Scharping, ich bin nicht ganz sicher, ob wir Sie so verstehen sollten, man möge nun wegen der Schwierigkeiten auf dem Gebiet der Wirtschaft und des Arbeitsmarkts den Religionsunterricht abschaffen. Den Zusammenhang der Debatte kann ich nicht ganz erkennen.
Sie haben in Ihrer Kurzintervention einen Kunstgriff gemacht.
Sie haben gefragt, ob wir von den Kirchen verlangen könnten, was wir angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Lage selbst so schwer erfüllen können. Wir verlangen in dieser Debatte von den Kirchen, auch in Brandenburg, gar nichts, sondern es ist in Wahrheit so: Die Kirchen - beide, die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg, die Katholische und die Evangelische Kirche in Deutschland, die Deutsche Bischofskonferenz, auch die Jüdische Gemeinde zu Berlin und in Brandenburg - verlangen vom Staat, daß er Religionsunterricht als ordentliches Fach an den Schulen gemäß Art. 7 Abs. 3 einrichtet. Wir verlangen also von den Kirchen nichts, sondern die Kirchen verlangen vom Staat, daß dies gemäß Art. 7 Abs. 3 eingerichtet werde.
Ich habe begründet, warum ich diese Forderung der Kirchen nicht nur für berechtigt halte, Herr Minister Bräutigam, sondern warum ich glaube, daß es in unser aller Interesse ist, wenn ihr in Brandenburg und überall in Deutschland entsprochen wird.
Ich habe noch zwei Wünsche auf eine Kurzintervention vorliegen. Ich sage noch einmal: Die Kurzintervention bezieht sich auf die Redebeiträge, das heißt auf die Redebeiträge von Herrn Dr. Schäuble oder Herrn Dr. Bräutigam. Es gibt keine Kurzintervention zur Kurzintervention.
Herr Tauss.
Frau Präsidentin! Aus meinen Äußerungen und aus meinem Beifall zu einer Rede, die hier gehalten worden ist, ist der Eindruck entstanden, als habe ich die Aussage, in der Regierung seien Verbrecher, geteilt. Ich will deutlich machen, daß ich bei aller Schärfe in der politischen Auseinandersetzung, für die ich bin, exakt diese Auffassung nicht teile und sie auch nicht äußern würde. Vielmehr war dies für mich ein Beweis dafür, daß es notwendig ist - wie Frau Vollmer hier dargestellt hat -, über Inhalte zu reden. Genau das, was Herr Schäuble gesagt hat, ist vorgekommen, und deswegen ist es notwendig, über Inhalte zu reden. Das Wort Verbrecher wende ich auf diese Regierung und auf Mitglieder Ihrer Partei ausdrücklich nicht an.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Dr. Gysi.
Frau Präsidentin! Der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU hat in seiner Rede zum Verhältnis von Staat und Kirchen und auch zur Behandlung von Kirchen und Religionsgemeinschaften zur Zeit der DDR Stellung genommen. Dem, was er gesagt hat, kann man im Prinzip zustimmen. Das will ich ausdrücklich betonen.
Ich will hinzufügen: Es war ein ganz großer Mangel, daß in den Schulen der DDR nicht einmal Religionsgeschichte unterrichtet wurde, was unter anderem, von Wertfragen abgesehen, zu einem Bildungsverlust geführt hat, so daß viele Jugendliche in der DDR zum Beispiel mit bestimmten alten Kunstwerken überhaupt nichts anfangen konnten, weil sie sie nicht verstanden haben, weil sie die Geschichte des Christentums, die Heilige Schrift, nicht kannten.
- Ich finde, gegen das, was ich im Augenblick sage, können Sie doch nicht im Ernst etwas einwenden. Das müßte doch eigentlich Ihre Zustimmung finden.
Weil das so ist, sind wir sehr dafür, daß im Unterricht genau dieses Wissen vermittelt wird; denn damit hängt immer auch eine gewisse Orientierung zusammen. Das ist ganz klar.
Aber Sie wollen in gewisser Hinsicht die Indoktrination, und davor kann ich nur warnen. Das hat, wenn auch mit anderen Inhalten, die DDR immer versucht. Daran ist sie, wenn Sie so wollen, in dieser Hinsicht glücklicherweise gescheitert. Das ist keine Lösung. Ich werde Ihnen das beweisen.
Herr Schäuble hat hier von der Freiwilligkeit gesprochen. Als das Bundesverfassungsgericht im Kruzifix-Urteil genau nichts anderes gefordert hat als die Freiwilligkeit, da waren es CDU und CSU, die darauf bestanden, daß religiöse Symbole staatlich angeordnet werden, und sich nicht damit abfinden konnten, daß sie freiwillig angebracht werden. Sie wollen gar nicht Überzeugung. Sie wollen die staatliche Anordnung. Genau dagegen wehren wir uns in den neuen
Bundesländern und auch in Brandenburg. Das ist die entscheidende Auseinandersetzung.
Mein letzter Satz in dem Zusammenhang. Ich stimme voll dem zu, was der Landesjustizminister gesagt hat. Ich behaupte, bei der gleichen Auseinandersetzung zur Schulgesetzgebung in Baden-Württemberg, in Rheinland-Pfalz oder in einem anderen alten Bundesland hätten Sie diese Debatte nie gewagt. Sie führen sie nur bei einem neuen Bundesland, weil Sie das Gefühl haben, dort noch belehren zu müssen und weil Sie dort eine ganz andere, pharisäerhafte Haltung an den Tag legen. Genau das lehnen wir ab.
Als nächste hat das Wort in der Debatte die Abgeordnete Christa Nikkels.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich stimme Ihnen zu, Herr Gysi. Ich bin der festen Überzeugung: Wenn wir heute nicht die letzte Plenarsitzung des Deutschen Bundestages vor drei Wahlen in den alten Bundesländern hätten, gäbe es diese Debatte nicht.
Ich muß sagen, daß ich es unangemessen und ein Stück weit auch niederträchtig finde, zum Nutzen und Frommen von Wahlkämpfern in den alten Bundesländern und auf Kosten der verfassungsmäßig garantierten Rechte des Landes Brandenburg sowie zu Lasten der Würde der Bürgerinnen und Bürger in einem der neuen Bundesländer eine solche Debatte zu veranstalten.
Worum geht es? Ich beziehe mich ausdrücklich auf den Antrag, den Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion, schriftlich vorgelegt haben. Herr Kollege Schäuble, verschanzen Sie sich nicht hinter dem Willen der Kirchen. Sie sind hier die Antragstellenden, und Sie behaupten in dem Antrag, daß das Vorhaben des Landes Brandenburg verfassungswidrig sei. Das muß nachdrücklich zurückgewiesen werden.
Es ist so, daß sich auf die Bremer Klausel selbstverständlich auch alte Bundesländer bezogen haben. In Berlin haben wir eine vergleichbare Regelung, die schlechter ist als die Regelung, die Brandenburg jetzt will. Ich will Ihnen einmal den entsprechenden Paragraphen des Schulgesetzes von Berlin, § 23, zitieren.
Christa Nickels
Danach erhalten in Berlin nur „diejenigen Schülerinnen und Schüler Religionsunterricht, deren Erziehungsberechtigte eine dahin gehende schriftliche Erklärung abgeben". Die Schule hat dafür Sorge zu tragen, daß für die Kinder, die angemeldet sind, wöchentlich zwei Schulstunden für Religionsunterricht im Stundenplan freigehalten werden. Wer sich nicht anmeldet, ist nicht verpflichtet, an einem Werteunterricht neutraler Art teilzunehmen.
Das heißt, wenn Kinder nicht angemeldet werden, gibt es erstens keinen Religionsunterricht. Zweitens gibt es keinen staatlich garantierten weltanschaulichen neutralen Unterricht, wo Kindern die Grundwerte und Auffassungen in der Gesellschaft vermittelt werden. Herr Schäuble, ich stimme Ihnen ja zu, daß eine große Unsicherheit vorhanden ist, wo Kinder gemeinsam diskutieren könnten.
Die Berliner Regelung ist also weit schlechter als das, was Brandenburg will. Ich wundere mich allerings nicht, daß Sie auf Brandenburg einknüppeln und über Berlin, wo es seit Jahrzehnten praktiziert wird, kein Wort verlieren.
Sie behaupten, Herr Kollege Schäuble, daß mit dem Brandenburger Vorschlag der Religionsunterricht abgeschafft werden soll. In den neuen Bundesländern gibt es nichts abzuschaffen. Da gab es keinen Religionsunterricht, wie wir ihn kennen. Da gab es in 40 Jahren SED-Diktatur nur von oben verordnete Indoktrination im Sinne der herrschenden Ideologie. Man muß erst einmal feststellen, daß sich die Menschen endlich davon befreit haben. Ich erinnere daran, daß sie sich selber auf Grund einer sanften Revolution davon befreit haben. Dies ist eine unglaubliche Errungenschaft, die hier mit Füßen getreten wird.
Es geht darum, diesen Freiraum zu nutzen, den Kindern, Schülerinnen und Schülern endlich einmal einen Ort im Unterricht anzubieten, wo sie sich alle zusammen auf der Grundlage ihrer verschiedenen Vorstellungen in einem weltanschaulich neutralen Fach, aber auch einem wertorientierten Fach, auseinandersetzen können.
Brandenburg hat zusätzlich alles, aber auch alles in den letzten fünf Jahren getan, den großen Kirchen goldene Brücken zu bauen; Vorschläge gemacht, sie einzubeziehen.
Zu diesem Zweck hat man auch faule Kompromisse geschlossen. Ich sage an die Adresse der Kollegen der SPD im Land Brandenburg: Sie haben gestern von seiten der SPD-Fraktion im Land Brandenburg die Abmeldemöglichkeit beschlossen, weil der Druck von den Kirchen so groß war. Sie können heute sehen, daß der Kollege Schäuble das sofort ausnützt, um das nicht als honorige Geste zu sehen, sondern um Ihnen zu unterstellen, der neue Unterricht sei tatsächlich weltanschaulich nicht neutral. So läuft das in der Bundesrepublik. Es ist unerträglich, wenn ein Entgegenkommen im Interesse eines Konsens gleich wieder dazu genutzt wird, das Projekt an sich auszuhebeln. Das ist doch Fakt.
Das Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde ist kein Ersatzfach für Religionsunterricht. Es ist ein eigenständiges Unterrichtsfach.
Herr Kollege Schäuble, ich verstehe überhaupt nicht, warum Sie als Fraktionschef der CDU/CSU, der größten Fraktion im Deutschen Bundestag, als jemand, der in einem Land lebt, wo wir einen Wertekonsens haben, der alle eint, ganz gleich ob konfessionell gebunden oder nicht, an den sich alle in Deutschland lebenden Menschen halten können und der in unserem Grundgesetz niedergelegt ist, behaupten, daß allein die Kirchen einen Werteboden schaffen können. Das ist unerträglich. Damit stellen Sie die Leute, die nicht religiös gebunden sind, in eine Ecke, als wären es Banausen, die keine Werte haben und die nichts dazu beitragen, Menschenrechte und Grundrechte hochzuhalten.
Zusätzlich zu den Bemühungen, ein Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde einzurichten, ist in Brandenburg alles getan worden, um die Möglichkeit zu schaffen, auf freiwilliger Basis Religionsunterricht zu erteilen. Herr Bräutigam hat das Wesentliche schon gesagt. Sie haben gesagt, daß Sie im großen Maßstab - es waren meines Wissens im letzten Jahr 65 Millionen DM - Mittel für den Religionsunterricht zur Verfügung gestellt haben. Räume werden zur Verfügung gestellt, jegliche Hilfestellung wird gegeben. In den Auswertungskommissionen zum Modellversuch hat man sogar der katholischen Kirche angeboten, mitzuarbeiten, obwohl diese von Anfang an eine strikte Gegnerin war und mit unqualifizierten Argumenten - das sage ich als katholisch-konfessionell gebundene Christin - Ihnen laufend Knüppel zwischen die Beine geworfen hat. Großzügiger geht es meines Erachtens nicht.
Ich möchte noch einmal auf das hinweisen, was in der Debatte zu kurz kommt. Für mich ist es nicht hinnehmbar, daß die Frage, was die Kinder und Jugendlichen in einer zunehmend säkularen und pluralistischen Gesellschaft wirklich brauchen, überhaupt keine Rolle spielt. In Brandenburg sind 80 Prozent der Erwachsenen nicht konfessionell gebunden. 93 Prozent der Kinder sind nicht getauft. Und dann hinzugehen und zu sagen: Jawohl, diese Konsequenz einer SED-Diktatur verewigen Sie, wenn sie den Menschen keinen Religionsunterricht aufs Haupt drücken, finde ich unerträglich.
Die Menschen in den neuen Bundesländern konnten
sich nur deshalb in einer friedlichen Revolution von
Christa Nickels
ihrem System befreien, weil sie Grundwerten verpflichtet waren. Sie müssen die Möglichkeit haben, freie Luft zu atmen und sich darüber zu verständigen, was wichtig ist in der Gesellschaft. Gerade dazu ist es nötig, daß man einen Ort anbietet, an dem Kinder mit ihrer ganzen Breite von verschiedensten Erfahrungen zusammentreffen, reden und lernen können.
Unsere Gesellschaft ist, auch im Westen - da hat Antje Vollmer völlig recht -, einer zunehmenden Werteerosion unterworfen. Die großen Konfessionen haben dies nicht verhindern können. Zu erwarten, Herr Schäuble, daß der Religionsunterricht als staatlich verordnetes Fach - in Brandenburg als aufoktroyiertes Fach - alles, was an Angsten, an Zukunftsnot und an Sinnfragen in der Gesellschaft aufbricht, aufheben kann, halte ich bestenfalls für naiv.
Die Kinder und Jugendlichen haben mit dem Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde die Möglichkeit, Fachwissen über Religion und Glauben zu erlangen. Damit lernen sie erstmals - was sie vorher nicht konnten - wirklich etwas auch über diese Wurzeln des europäischen Abendlandes. Daneben ist es ureigenste Aufgabe der Kirchen, durch einen lebendig gelebten Glauben und durch eine Ausstrahlung, die die Menschen wirklich von dem, was die Substanz des Glaubens ist, fasziniert, die Menschen für ein christlich gelebtes Leben zu interessieren. Das kann die Kirche, wenn sie in eigener Verantwortung an den Schulen einen Religionsunterricht auf freiwilliger Basis erteilt und wenn sie den Platz, der ihr jetzt in den neuen Ländern endlich gegeben wird, mit dieser Strahlkraft wirklich ausfüllt.
Für meine Begriffe wird in dieser Debatte genau das Gegenteil gemacht. Viele von den Christen, die in der früheren SED-Diktatur brutal unterdrückt worden sind und die mit dazu beigetragen haben, daß das System weggefegt worden ist, waren bei ihren Mitbürgern anerkannt. Viele nichtchristlich gebundene Menschen hatten unglaubliche Bewunderung für den Mut und die Ausstrahlung, die diese Christen hatten. Jetzt - kaum sechs Jahre nach der Vereinigung - wird dieser Gründungsimpuls beiseite gefegt, verleugnet und totgetreten. Statt dessen wird ein Fach staatlich verordnet, das die alleinseligmachende, wertestiftende Institution sein soll, die wir in der Bundesrepublik brauchen.
Meiner Meinung nach geht es nicht, daß hier auf Kosten der Rechte der neuen Länder, auf Kosten der Lebenswirklichkeit der Bürgerinnen und Bürger dort, auf Kosten der Bedürfnisse der Kinder, Wahlkampf getrieben wird und zusätzlich Probleme der alten Bundesländer gelöst werden sollen.
Ich bin der festen Überzeugung, daß diese Debatte auch im Hinblick auf die Fusion von Brandenburg und Berlin angezettelt wurde. Man möchte das Berliner Modell, das in Ihrem Sinne schlechter ist, als das, was Brandenburg jetzt einführen will, überrollen, indem man Brandenburg deckelt, ihm das alte System aufzwingt und so hofft, daß dieses in Berlin demnächst auch eingeführt wird. Flurbereinigung in Berlin über Brandenburg - das ist schon unverschämt. Wenn Sie das wollen, sollten Sie das auch offen aussprechen.
Zum Schluß. Herr Kollege Schäuble hat gesagt, daß es wichtig sei, Menschen zu haben, die den gelebten Glauben ausstrahlen würden und damit anziehend wirkten. In den alten Ländern haben wir eine tiefgreifende Krise der christlichen Kirchen. Nach Umfragen ist bei 70 Prozent der Gläubigen ein stillschweigendes Ruhen des Bekenntnisses festzustellen. Zwei Drittel sind in einer starken inneren Emigration zu ihrer Kirche befangen. Viele tragen sich mit Austrittsgedanken. Zunehmend melden sich Kinder aus dem Religionsunterricht ab. Die Kirchen sollten, anstatt eine falsche und unsachliche Verfassungsdebatte vom Zaun zu brechen, vor Ihrer eigenen Haustür kehren und dafür sorgen, daß Sie sich selber bekehren und den Glauben wieder leben.
Ich möchte noch einmal auf den Gründungsimpuls des Christentums eingehen. Damals gab es eine kleine Gruppe, die keine institutionellen Rechte hatte. Die hat ihre Strahlkraft nicht dadurch entwikkelt, weil irgendwann von oben her der Religionsunterricht verordnet worden ist, sondern weil die Mitglieder dieser Gruppe an der Seite der Bedrängten und der Beladenen standen und mit ihrem eigenen Leben für deren Rechte und für deren Würde einstanden. Es wäre beispielhaft, sich zu mühen, das hier einmal vorzuleben. Das wäre im Sinne der Wertedebatte wirklich wichtig.
Im Osten, in Brandenburg, wächst etwas Neues. Wenn wir da doch erst einmal zuhören würden, und das nicht gleich mit unseren - ich sage das einmal so - großen Wessi-Stiefeln platttrampelten, könnten wir in den alten Bundesländern selber ungeheuer davon profitieren. Ich kann Sie nur ermutigen, diesen Weg weiterzugehen.
Danke schön.
Als nächster spricht der Kollege Professor Dr. Ortleb.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin kein Rechtsexperte und will mich nicht unnütz durch Leugnen meines laienhaften Umgangs mit dem für mich ungeläufigen Werkzeug Verfassungsrecht unglaubwürdig machen und mir damit etwa Überzeugungskraft nehmen. So mag ich denn ganz und gar nicht die Sache zuvorderst von der rechtlichen Seite anfassen.
Dr. Rainer Ortleb
Lassen Sie mich daher in persönlichem Empfinden und von persönlicher Erfahrung her ableiten: Es gibt Bürger der Bundesrepublik, die seit knapp fünfzig Jahren nach wie vor in immer ungestörten Werteverhältnissen leben. Sie lebten und leben vorwiegend in den alten Bundesländern. Und es gibt Bürger der Bundesrepublik, die seit knapp fünfzig Jahren mit gestörten und sich so, dann so und wieder so verändernden Werten lebten. Sie leben und lebten vorwiegend in den neuen Bundesländern.
Ich bin jetzt der erste Redner in dieser Debatte, der aus diesen neuen Ländern kommt. Ich kann Ihnen sagen: Die empfindlichste Befindlichkeit des Ostdeutschen ist, über ihn befinden zu wollen.
Im Jahre 1950 kam ich im heutigen wie damaligen Thüringen - ich empfinde es als heutiges und damaliges Thüringen - in die Schule. Der Religionsunterricht wurde in den Räumen der Schule durchgeführt. Dazu kam dann jemand von der Evangelischen Kirche. Ich weiß nicht mehr, ob es Pflicht war, aber ich glaube, daß alle oder fast alle Schüler teilnahmen. Die Unsicherheit meiner Erinnerung, ob „fast alle" oder „alle" ist dadurch erklärt, daß wir auch Spezialisten für das Schwänzen anderer Fächer außer Religion hatten.
Etwa zwei Jahre später stand Religion immer noch auf dem offiziellen Stundenplan, aber am Zeitrand, weil wir nun dazu ins Gemeindehaus gehen mußten. Mit den Eltern nach Dresden umgezogen, war 1955 dort mein Religionsunterricht am schulfernen Spätnachmittag auch planfern geworden. Religion als Schulfach war also verdrängt oder abgewandert.
Die Konfirmation 1958 im wieder neuen, jetzt ländlichen Wohnort Moritzburg bei Dresden war noch konfrontationslos mit dem Staat und eigentlich selbstverständlich - noch.
Wie das damals andernorts war, kann ich nicht beurteilen. Ich bitte Sie um Verständnis, daß ich nur eigene Beobachtungen verwende, weil ich glaube, daß auch diese ausreichen, um zur Darstellung von verallgemeinerungsfähigen Schlußfolgerungen zum Gegenstand der heutigen Debatte zu kommen.
Ein Kind meiner Klasse erhielt 1958 die Jugendweihe und wurde zugleich konfirmiert. Es war also der Anfang der Zeit des Verdrängungswettbewerbes unter ungleichen Bedingungen, der mit der staatlich beförderten und gestützten Jugendweihe begonnen wurde. So wie das eine Kind aus meiner Zeit der Exot war, wurden schließlich, Jahre später, die Konfirmierten zu Exoten, die den bekannten, nicht rechtfertigbaren Nachteilen ausgesetzt waren.
Nicht recht verstanden habe ich damals - und verstehe es auch heute noch nicht -, warum die Kirche im staatlichen Ringen um Jugendweihe gegen Konfirmation - so konnte ich es jedenfalls beobachten - Jugendweihlingen eine zusätzliche Konfirmation verweigerte. Hätte man mit toleranterem, zugleich strategisch geschickterem Verhalten nicht die Entchristianisierung aufhalten können? Oder - so frage ich Sie - wie sollte man ohne Konfirmation Glied der Kirche sein? Insofern war das erwähnte Kind meines Jahrgangs wohl ein doppelter Exot.
Schließlich wurden den Jugendgeweihten und Nichtkonfirmierten der Jahre 1958 und später - etwa in den Jahren 1978 und später - Kinder geboren, die die inzwischen konfessionslosen Eltern natürlich nicht taufen ließen und die auch 1992 und später kaum Bindung zu Religion und Kirche haben konnten.
Ist es so nicht durchaus verständlich, Bildung in Lebensgestaltung, Ethik und Religionskunde einerseits erfahren und andererseits vermitteln zu wollen, auch wenn religiöse Bindungen als vertraute Umgebung von Lebensgestaltung und Ethik fehlen?
Es ist hier nicht mein Anliegen, die Ursachen des drastischen Rückgangs religiöser und kirchlicher Bindungen im Laufe der Existenz der DDR in rekonstruierten Zusammenhängen darzustellen. Das wird Aufgabe von Historikern sein. Es genügt die Feststellung, daß Empfindsamkeiten berührt werden, wenn jetzt dringend erwünscht ist, was früher unförderlich oder gar unerwünscht war. Zu oft hat die von einseitiger Gesellschaftswissenschaft gestützte Staatsdoktrin der DDR einerseits eiserne Linie vorgegeben wie auch andererseits Wechselbäder abrupter Richtungsschwankungen verordnet, ohne dabei den Trend zu ändern.
Vor Jahren hat mir ein Doktorand des Gebietes Marxistisch-Leninistische Philosophie gesteckt, daß er seine Dissertation zu ungünstigster Zeit begonnen habe, weil, noch ehe er fertig sein werde, ein regulärer Parteitag der SED stattfinde, und da könne man nie wissen, ob alles, was er jetzt aufgeschrieben habe, dann noch richtig sei. Da gab es wohl doch in der einzig wahren Grundlagenwissenschaft Marxismus-Leninismus Elemente von Beschwörung und Aberglaube.
Im Katalog dessen, was den ehemaligen DDR-Bürger an seinem Staat störte, ist sicher mangelnde Toleranz und die damit verbundene Unfreiheit des Andersdenkenden in der Skala von vielleicht noch verschmerzbarer Bedrängnis bis psychischer oder physischer Zersetzung des Unbequemen, bis zur Mißachtung und Bruch der Menschenrechte an vorderer Stelle. Die neue, gemeinsame Bundesrepublik wird daher mit hohen Erwartungen angenommen. Dazu gehört auch eine behutsame Rückführung in eine gemeinsame Wertevorstellung.
Eben habe ich die sozialistische Jugendweihe als ein Instrument der staatlichen Einflußnahme auf Werte charakterisiert. Auch heute gibt es eine Jugendweihe e. V. in den neuen Bundesländern, die für sich in Anspruch nimmt, einerseits weltanschaulich offene Jugendarbeit zu leisten, und andererseits, davon losgelöst, unabhängig und nicht zwingend in Einheit, so jedenfalls sagt es die Satzung, auch eine neue Jugendweihe anbietet. Ich gehe unvoreingenommen davon aus, daß das auch so ist.
Dr. Rainer Ortleb
Es sind eben immer noch Zigtausende von Jugendlichen und Eltern, die das Angebot annehmen. Ich greife das noch einmal auf, weil ich hier selbst Gelegenheit haben werde, Toleranz üben zu können. Ich scheue mich nicht, eine Rede zur Jugendweihe in meiner Heimatstadt Rostock zu halten, weil die durch kommunistische Benutzung in den zwanziger Jahren und durch staatsdoktrinären Mißbrauch in der DDR trotzdem noch unverfälschten Wurzeln der Jugendweihe im Liberalismus des vorigen Jahrhunderts zu finden sind. Es wäre ja wohl schlimm, wenn unsere freiheitliche Grundordnung eine Diskussion über und vor allem mit der neuen Jugendweihe nicht aushalten würde.
Ich bin übrigens auch deswegen noch einmal auf die Jugendweihe und insbesondere auf die - so sehe ich es jedenfalls - erneuerte zurückgekommen, weil mir Ähnlichkeiten zu Motivation und Anliegen des zur Sache der Debatte gehörigen Brandenburger Lehrfachs Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde zu bestehen scheinen. Ich glaube, daß man sich andererseits um das Leben christlicher Anschauung in Deutschland keine Sorgen zu machen braucht. Stadtmauern und Grenzmauern fielen, aber jahrhundertealte und neue Kirchen künden davon. Begriffe wie „Neujahrsmann", „Väterchen Frost". oder „Jahresendflügelpuppen" haben nur in den mehr als doppelbödig erzählten Witzen der DDR-Zeit das Christkind, die Engel und den Weihnachtsmann verdrängt.
Ganz will ich mich jedoch nicht vor dem Verfassungsaspekt drücken: Der vorliegende Antrag bringt Sorge um die Verfassungskonformität des von der Landesregierung von Brandenburg in den dortigen Landtag eingebrachten Gesetzentwurfs zum Ausdruck und rät zu anderer Berücksichtigung des Religionsunterrichts. Das Wort Sorge im Antrag darf man sicher immer dann formulieren, wenn man glaubhaft machen kann, daß man nicht mit dem erhobenen Zeigefinger zu hantieren beabsichtigt.
Bitte nehmen Sie mir zunächst ab, daß auch ich das weder tun will noch tun werde.
Nun sehen sich die Einbringer des heute debattierten Bundestagsantrags mit dem möglichen Vorwurf konfrontiert, Bildungs- und Kulturhoheit des Landes Brandenburg zu mißachten und unzulässig in laufende Gesetzgebung einzugreifen. Wenn man aber das im Antrag verwendet Wort „bundesunfreundlich" in „für die Bundesrepublik Deutschland unfreundlich" umdenkt, was sicher nicht unzulässig weit entfernt ist, dann kann der Sinn der Empfehlung an Brandenburg auch so verstanden werden, daß in Anbetracht bereits angekündigter Verfassungsklagen für das Erscheinungsbild der Bundesrepublik in der Welt eine solche Auseinandersetzung um Bandbreiten von Toleranz nicht um Vertrauen wirbt, zumal Deutschland in solchen Fragen in der Schreibung der Geschichte unseres Jahrhunderts nicht gerade die Rolle eines Musterknaben spielt.
Rufen wir das Verfassungsgericht an, dann würde wieder das Bundesverfassungsgericht der Politik die
Arbeit abnehmen müssen, damit man sich hinterher um so mehr in Lamenti vertiefen kann, was das Verfassungsgericht wohl angerichtet habe.
In der Sache wittert der Verfassungsjurist den Streit darüber, ob Art. 141 GG für das Land Brandenburg gilt oder nicht. Gewiß kann man hier trefflich streiten. Nur würde ich gern - ich gebe es zu - aus Emotionen heraus damit mit aller Vorsicht umgehen.
De jure mag das Land Brandenburg vom 1. Januar 1949 nicht das Brandenburg von heute sein. Aber kränkt man nicht de facto das Selbstbewußtsein der Brandenburger, die sich in langer Tradition sehen? Nicht jeder schläft mit dem Grundgesetz unter dem Kopfkissen, bewegt sich aber dennoch in natürlicher Weise auf dessen Gleisen, weil ihn konforme Werteempfindungen leiten.
Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben es für die Menschen geschaffen und in ihm die anerkannten und gültigen Wertevorstellungen widergespiegelt. Es wurde im Laufe der Jahre immer wieder auf Spiegeltreue geprüft, weil Wertvorstellungen wie der Mensch und seine Ideale leben. So ist das Grundgesetz für den Menschen da, nicht umgekehrt.
Der brandenburgische Entwurf bietet Religionsunterricht nicht als ordentliches Lehrfach an, sondern fakultativ. Eine Art konfessionsloses neues Ersatzfach ist Pflicht für alle. Wieder will ich das bewußt nicht verfassungsrechtlich betrachten, sondern darauf hinweisen, daß damit Konfessionslosigkeit als Regel behandelt wird. Gleich welcher Umschwung, es werden immer wieder verordnete Minderheiten definiert. Das stößt den Liberalen bös auf.
Ich klage hier nicht in erster Linie Art. 7 Abs. 3 GG ein, sondern Toleranz. Es würde ein Schuh daraus, wenn der Gesetzentwurf sowohl das neue Brandenburger Lehrfach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde als auch den Religionsunterricht als gleichberechtigtes, alternativ wählbares und ordentliches Lehrfach behandeln würde.
Wird so der Gedanke des hier zu behandelnden Antrags interpretiert, dann kann sich auch der Liberale dem vorgelegten Bundestagsantrag anschließen. In diesem Sinne kann ich mich öffnen, dem Antrag zuzustimmen. Ich bitte auch Sie, das zu tun.
Danke.
Das Wort zu einer Kurzintervention zur Rede von Professor Ortleb hat Volker Beck.
Frau Präsidentin! Werter Kollege Ortleb, Ihre Rede konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß die F.D.P.-Bundestagsfraktion, der Sie angehören und für die Sie sogar gesprochen haben, diesen Antrag nicht nur unterstützt, sondern auch mit geschrieben hat und mit als Antragsteller genannt wird.
Dieser Antrag ist wirklich ein Anschlag auf den Föderalismus und die kulturelle Eigenständigkeit der neuen Länder. Diese Debatte gehörte eigentlich nicht in den Bundestag. Mit dieser Auffassung befinde ich mich in sehr guter Gesellschaft. Ich hoffe zumindest, daß Ihr Kollege Caesar in RheinlandPfalz noch Ihre Wertschätzung genießt. Er hat heute morgen im Deutschlandfunk erklärt, die Länder müßten ihre Spielräume behalten. Die Kompetenzen Bonns seien nach dem Grundgesetz ohnehin schon sehr ausgeprägt. In Bereichen wie der Schulpolitik, die reine Ländersache seien, solle sich Bonn die notwendige Zurückhaltung auferlegen.
Er hat deshalb abgelehnt, daß wir heute in dieser Form darüber diskutieren.
Sie können sich auch nicht damit herausreden, daß Sie sich im Verfassungsrecht nicht so auskennten. In dem Antrag, den Sie gestellt haben, behaupten Sie wahrheitswidrig, Art. 141 des Grundgesetzes sei auf Brandenburg nicht anzuwenden. Dies ist falsch. Der Landesjustizminister von Brandenburg hat darauf hingewiesen, welches Gesetz in der Mark Brandenburg galt.
Wenn Sie einmal die Protokolle des Parlamentarischen Rates nachlesen, die ich Ihnen gerne zitieren will, dann müssen Sie feststellen, daß daraus eindeutig hervorgeht, daß Art. 141 dort gilt.
Damals hat Herr von Brentano für das Plenum des Parlamentarischen Rates dargestellt, daß Herr Kaiser sich nicht mit einer „Klarstellung dahin, daß der Artikel sich nur auf die verfassungsrechtliche Bestimmung von Bremen und auf kein anderes Land beziehe", durchsetzen konnte.
Damit aber nicht genug:
Bei Art. 141 GG wurde nicht nur an die Länder der Westzonen, sondern auch an Berlin und die Ostzone gedacht. Am Ende der Beschäftigung mit Art. 141 GG im Hauptausschuß des Parlamentarischen Rats fiel ein Hinweis von Kaiser auf "die Bedeutung der Angelegenheit für die Stadt Berlin und . die Besorgnis, die wir um die Ostzone haben". Kaiser wollte warnen, daß die Folgen des allgemeinen Verständnisses von Art. 141 GG nicht auf Bremen und vielleicht noch Hamburg und Hessen beschränkt blieben, sondern Berlin und die Länder der Ostzone beträfen.
Der Bericht von Brentanos weist auch darauf hin, daß es nicht durchgreift, daß wir heute ein anderes
Land Brandenburg haben als die frühere Mark Brandenburg, weil man damals bewußt nicht auf die Ländergrenzen, die man für provisorisch hielt, angeknüpft hat, sondern an das jeweilige Gebiet. Man hat damals sogar laut von Brentano vorgesehen, daß, wenn ein Land sich mit anderen Ländern zusammenschließt, die Bremer Klausel des Art. 141 für das neue Land insgesamt gilt.
Was Sie hier wollen, finde ich aus verfassungspolitischen Gründen sogar noch schlimmer als aus verfassungsrechtlichen. Wenn Bundesländer im Westen ihre kulturelle Eigenständigkeit -
Herr Beck, die Redezeit der Intervention ist beendet.
- diesen Satz würde ich gerne noch beenden - in der Bremer Klausel sichern konnten, -
Sie ist beendet.
- so sie in dieser Frage abgewichen sind, -
Schluß!
- dann muß doch angesichts von 40 Jahren getrennter Entwicklung und der demokratischen Revolution in der DDR -
Herr Beck, ich wiederhole: Es ist Schluß mit der Kurzintervention.
- dies für die neuen Länder erst recht gelten.
Herr Kollege Ortleb.
Herr Kollege, ich möchte Ihnen in zwei Teilen antworten.
In meiner Zeit als Bundesminister für Bildung und Wissenschaft habe ich viele Erfahrungen im behutsamen Umgang mit der Verteilung von Kompetenzen zwischen Bund und Ländern gewinnen können. Damals hat mich immer ein wenig gestört, daß man mir, obwohl ich sicherlich - das kann man nachweisen - niemals den Versuch unternommen habe, als Bun-
Dr. Rainer Ortleb
desbildungsminister in die Kompetenz der Länder einzugreifen,
- jetzt rede ich - häufig vorgeworfen hat, bereits in Kompetenzen eingegriffen zu haben, wenn ich nur laut über ein bildungspolitisches Problem nachgedacht hatte.
Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Ich habe mich öffentlich und mehrfach zur Frage von 12 oder 13 Jahren bis zum Abitur geäußert. Bereits da kamen die drohenden Zeigefinger derer, die das nicht hören wollten. Was hier heute stattfindet, ist nichts anderes, als daß der Deutsche Bundestag laut über die Stellung des Religionsunterrichts in den Schulen nachdenkt.
Wir haben hier nicht die - -
- Ich sagte Ihnen schon einmal, daß ich jetzt rede. Es ist auch eine Frage der Toleranz, ob man den anderen ausreden läßt. Ich habe Ihnen nicht dazwischengefunkt, obwohl mir danach war.
Schließlich sind wir ja nicht angetreten, um einen Gesetzentwurf des Landes Brandenburg zu verabschieden. Auch das muß einmal deutlich gesagt werden.
Ein zweiter Punkt. Sie werfen der F.D.P. vor, daß sie hier mitzeichnet. In der parlamentarischen Praxis dürfte Ihnen aber kaum ein von den Koalitionsfraktionen gemeinsam gestellter Antrag bekannt sein, in dem es heißt: Erstens. Der eine Partner erklärt das. Zweitens. Der andere Partner erklärt dieses. - Das ist wohl schlechterdings unmöglich.
Wenn Sie meiner Rede gut zugehört haben - hören Sie jetzt bitte auch zu! - , dann werden Sie bemerkt haben, daß sich die F.D.P. nicht nur in einem Punkt und schon gar nicht allein in den berühmten drei Pünktchen von der CDU unterscheidet.
Ich danke Ihnen.
Zu einer zweiten Kurzintervention erteile ich der Kollegin Antje Hermenau das Wort.
Herr Kollege Ortleb, Sie haben diese Debatte, dieses gemeinsame Nachdenken hier im Bundestag, durch eine persönliche Erfahrung bereichert, die Sie uns hier unterbreitet haben, indem Sie davon sprachen, daß der Religionsunterricht nach und nach aus den Schulen verdrängt worden sei.
Es gibt inzwischen, in den sechs Jahren nach der Wende, neue historische Erfahrungen, um die ich unter Bezugnahme auf Ihre Ausführungen die Debatte jetzt bereichern möchte, indem ich Ihnen schildere, daß inzwischen, das heißt, in der Zeit, als ich im Sächsischen Landtag unter anderem für Bildungspolitik zuständig war, erste Pfarrer an mich herangetreten sind und gesagt haben, daß ihnen ihre Arbeit mit den jungen Gemeinden zusammenbreche, weil es die Schüler, die in der Schule zwei bis drei Stunden pro Woche Religionsunterricht hätten, ablehnten, weiterhin an den Gemeindeversammlungen teilzunehmen, die für die jungen Gemeinden dort angeboten würden. Derartiges kann ich zum Beispiel aus Leipzig berichten.
Ich muß in diesem Zusammenhang erläutern, daß Sachsen wahlweise Religionsunterricht, wie Sie ihn im alten Bundesgebiet kennen, und Ethikunterricht anbietet, wobei das Problem darin besteht, daß es jetzt eine Verdrängung des wahrhaft tiefempfundenen Glaubens gibt, und zwar dadurch, daß dieser durch ein öffentliches Bekenntnis an Schulen ersetzt wird.
Diese Erfahrung wollte ich zu der Debatte hier beisteuern.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Maritta Böttcher.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte wiederholen: Das ist nicht nur ungewöhnlich und bedenklich, sondern das ist vor allem auch ein untauglicher Versuch, den Deutschen Bundestag zu einem Eingriff in die Bildungs- und Kulturhoheit eines Bundeslandes und in ein laufendes Gesetzgebungsverfahren zu bewegen.
Insoweit findet der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen unsere volle Unterstützung.
Die Aushöhlung des Grundgesetzes schreitet immer mehr und immer schneller voran; denn in dem Antrag der Koalitionsfraktionen wird nicht etwa die Regierung, sondern der Landtag aufgefordert, einem Gesetzentwurf seine Zustimmung zu verweigern, wenn der Gesetzentwurf nicht in einer bestimmten Weise verändert wird.
Mit dem neuen Fach „Lebensgestaltung - Ethik - Religion" versucht Brandenburg, eine umfassende Antwort zu geben auf die in allen Bundesländern und zum Teil auch im Ausland festgestellte Notwendigkeit einer verstärkten Wertevermittlung in den Schulen und auf die dringende Reformbedürftigkeit des Religions- und Ethikunterrichts.
Maritta Böttcher
Mit LER soll in Brandenburg ein Unterricht eingeführt werden, in dem sich Kinder und Jugendliche unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlicher religiöser und weltanschaulicher Erziehung mit Fragen ihres Lebens, Werten und Normen sowie unterschiedlichen Lebensanschauungen und Weltdeutungen gemeinsam beschäftigen und auseinandersetzen können. „Lebensgestaltung-Ethik-Religion" als innovatives und sehr nützliches Schulfach für Kinder und Jugendliche muß aus dem tagespolitischen Streit und erst recht aus dem Wahlkampf herausgehalten werden.
Dieses Hohe Haus sollte das Prinzip des Föderalismus nicht nur achten, sondern es sollte vor allem auch gültiges Recht bewahren. Die bereits seit 1991 deutlichen Meinungsunterschiede zwischen den verschiedensten Kräften haben aus der Sicht von Außenstehenden seit Anfang 1995, wie es jemand formulierte, kulturkampfähnliche Formen angenommen.
Die politische und verfassungsrechtliche Diskussion überlagerte in zunehmendem Maße - das ist auch in der Debatte heute hier deutlich geworden - die pädagogisch-didaktischen Sachfragen.
Die Vehemenz, mit der LER nicht nur durch die Kirchen in Brandenburg und Berlin, sondern auch überregional durch Vertreter der evangelischen Kirche Deutschlands und der Konferenz der katholischen Bistümer Deutschlands bekämpft wird, ist aus seiner bundespolitischen Bedeutung heraus zu erklären.
LER - zu dieser Erkenntnis kommt eine Gruppe namhafter Wissenschaftler - ist die am weitesten ausgearbeitete Alternative zum herkömmlichen nach Kirchenkonfessionen getrennt erteilten bekenntnisgebundenen Religionsunterricht.
Deshalb gilt dem Modellversuch und seinem Schicksal das Interesse der gesamtdeutschen Religionspädagogik und ebenso - das wurde heute noch gar nicht angesprochen - das einiger europäischer Nachbarn. Die Intentionen des Modellversuchs und die gewonnenen Erfahrungen sind - über die Situation in Brandenburg hinaus auch vor dem Hintergrund vielfältiger und jahrelanger Überlegungen und Bemühungen zur Reform von Religionsunterricht und Schule insgesamt zu sehen.
Der geplante Zusammenschluß von Brandenburg und Berlin verleiht dem Thema zusätzliche politische Brisanz. Ein bundesweites Signal wird es wohl werden, das heute ausgesandt wird, aber, so glaube ich, ein gefährliches.
Brandenburg ist nicht Bayern. Das bayerische Modell den Brandenburgern aufdrängen zu wollen, finde ich nicht nur arrogant, sondern halte ich auch für völlig falsch.
Wir müssen die gewachsenen Erfahrungen der gesellschaftlichen Situation in Brandenburg berücksichtigen und vor allem achten.
Für blanke Demagogie halte ich es übrigens, wenn gesagt wird: Wer für LER ist, ist gegen Gott. - Es ist eine alte Erfahrung, daß Religionsunterricht keine Christen schafft. Wer meint, daß Gott mit einem Unterrichtsfach steht oder fällt, hat einen schwachen Glauben.
Ich habe Verständnis dafür, daß die Kirchen die Vermittlung ihrer Botschaft in eigener Aufsicht, sowohl fachlich als auch personell, haben wollen.
Ich weiß auch, daß viele Religionslehrer meinen, daß ihr Religionsunterricht sehr dem ähnelt, was LER will, dies also vielerorts schon praktizieren. Nur - das möchte ich hier noch einmal deutlich machen -: Wo Religionsunterricht so verstanden wird, ist er nicht verfassungsgerecht; denn nach der Verfassung ist Gegenstand des Religionsunterrichts der Bekenntnisinhalt, nämlich die Glaubenssätze der jeweiligen Religionsgemeinschaft. Diese als bestehende Wahrheiten zu vermitteln ist seine Aufgabe. LER dagegen ist kein Weltanschauungsfach und ist offen für alle Kinder.
Zurück zur Verfassungsmäßigkeit. - Der Bundestag - das wurde hier heute schon mehrmals betont - ist nicht das Bundesverfassungsgericht. Er sollte bei seiner ursprünglichen Aufgabe bleiben und Bedingungen für eine allseitige Bildung schaffen, die an den Schulen und Hochschulen in Hoheit der Länder entsprechend ausgestaltet werden können.
Wenn die Regierungsparteien wirklich meinen, ihre Behauptungen reichten aus, um verfassungsrechtlich zu überzeugen, so sollen sie nach Karlsruhe gehen. Nach dem Lesen der Gutachten der Verfassungsrechtler Schink, Wieland und Franke, die sich im Auftrag des Brandenburger Landtags und des Innen- und Justizministeriums gutachterlich zur Geltung des Art. 141 Grundgesetz in Brandenburg geäußert haben und sämtlich zu dem Ergebnis gekommen sind, Art. 141 gelte in Brandenburg, mache ich Ihnen allerdings keine Hoffnung.
So oder so - zumindest sollte nicht erneut eine knappe Mehrheit im Bundestag entgegen unserer Verfassungsordnung versuchen, das Grundgesetz - diesmal hinsichtlich der föderalistischen Strukturen der Bundesrepublik - zu negieren und sich über das Bundesverfassungsgericht zu stellen.
Ich hoffe, daß ich heute nach Brandenburg fahren kann, ohne erklären zu müssen, daß sich der Bundestag in Länderkompetenzen eingemischt hat.
Als nächster spricht der Kollege Rainer Eppelmann.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Weil wir immer wieder aufgefordert worden sind, die Gegen-
Rainer Eppelmann
wart ganz ernst zu nehmen, möchte ich Sie zunächst in ein paar Brandenburger Wohnstuben zur Zeit der Deutschen Demokratischen Republik mitnehmen. In so mancher saßen zum Beispiel Vater und Mutter abends zusammen und überlegten, ob sie ihren Zwölfjährigen zum Konfirmandenunterricht schikken sollten. Die Frau sagte zu ihrem Mann: Du hast mir doch gerade gestern erzählt, dein Chef habe dich letzte Woche so komisch angeguckt und gefragt, warum du immer noch nicht parteipolitisch gebunden seist. Wenn wir unseren Jungen jetzt auch noch zum Konfirmandenunterricht schicken, wird es für dich in deinem Betrieb ein bißchen schlecht werden.
Nebenan im Haus saß eine katholische Familie, die sich mit der Frage beschäftigte, ob sie ihr Kind zur Firmung schicken. Die Mutter erinnerte den Vater daran, daß das Zeugnis der Tochter doch eine ganze Reihe von Dreien und Vieren enthalte und daß, wenn sie jetzt noch zur Firmung gehe, die Chancen, das Abitur machen zu können, gleich Null seien.
Der Sohn wurde nicht zur Konfirmation geschickt, die Tochter nicht zur Firmung. Wie mögen sich diese beiden christlichen Elternpaare wohl gefühlt haben, frühmorgens, wenn sie in den Spiegel schauten, in dem Bewußtsein, daß sie eigentlich dem lieben Gott etwas weggenommen haben? Wie mögen sich die Religionslehrer gefühlt haben, die in den ersten Jahren der DDR für immer der Schule verwiesen wurden? Was werden die 6- bis 14jährigen gedacht haben, die für einen Teil ihres bisherigen Unterrichts aus den Schulen geworfen wurden? Wie mögen sich die kirchlichen Jugendlichen gefühlt haben, deren Rüstzeiten und Freizeiten in den 50er Jahren mit Gewalt aufgelöst worden sind? Wie mag es auf Heranwachsende gewirkt haben, daß sie wußten: Wenn du dich konfirmieren oder firmen läßt, hast du schlechtere Chancen auf schulische, berufliche oder akademische Bildung? Wie mögen sich die jungen Männer gefühlt haben, die ein geltendes Recht in der DDR, nämlich das über die Aufstellung der Baueinheiten innerhalb der NVA, in Anspruch nahmen und gesagt bekamen, daß sie deshalb an keiner staatlichen Universität studieren könnten? Was mag den jungen Eltern, die mit jeder Mark rechnen mußten, so durch den Kopf gegangen sein, wenn sie angeboten bekamen, daß der Betrieb die sozialistische Namensgebung bezahlt, wenn keine kirchliche Taufe erfolgt?
Der Streit um das in Brandenburg konzipierte staatliche Pflichtfach Lebenskunde-Ethik-Religion ist nicht nur eine Angelegenheit der Brandenburger. Der evangelische Bischof von Berlin-Brandenburg mißt ihm „grundsätzliche Bedeutung" zu und erklärt:
Sie betrifft nicht nur das Land Brandenburg; und sie beschränkt sich nicht auf ein einzelnes schulisches Fach. Zur Debatte steht das Verhältnis der öffentlichen Schule, die Stellung der Kirchen im Staat und das Verständnis der Religionsfreiheit in gleicher Weise. Alle Beteiligten müssen wissen, daß es um Weichenstellung von erheblicher Tragweite geht.
Ich darf in diesem Zusammenhang einen Ausschnitt aus einer 1980 in Greifswald gehaltenen Rede zitieren. Da heißt es in einem Abschnitt über die Hauptaufgabe der Kirchen:
Der Glauben muß erlebt werden können. Seine Wirkung muß am Handeln der Kirche und der Christen deutlich werden, und wir müssen in der Lage sein, den Menschen von heute verständlich zu machen, was uns aufgetragen wurde, damit das Unverwechselbare des kirchlichen Handelns verstehbar und wirksam wird. Im Verkündigen und Lernen, aber auch im Helfen und Heilen, im Frieden stiften und Gerechtigkeit fordern.
In einem Bonner Vortrag führte der gleiche Redner aus:
Der Mensch in einer entkirchlichten Gesellschaft, die gezielt auf Rationalität und Berechenbarkeit setzt, braucht irrationale, übersinnliche Ansatzpunkte ... Gerade in der säkularisierten Gesellschaft mit einem hohen Anteil gebildeter, wissenschaftlich denkender Menschen stoßen viele, die ernsthaft über ein verantwortungsbewußtes Leben und die Notwendigkeit eines friedlichen und gerechten Zusammenlebens der Menschen nachdenken, auf das Angebot des christlichen Glaubens. Die Botschaft der Bibel vermittelt Aufschlüsse, Zugänge zu den Grundfragen und Grundbedürfnissen der Menschen, die alternative Möglichkeiten für die Verwirklichung des Menschseins darstellen.
Ich frage den brandenburgischen Ministerpräsidenten, den ich soeben zweimal zitierte, und die Kolleginnen und Kollegen der SPD-Landtagsfraktion: Aus welchem Grund wollen Sie heute im Widerspruch zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland den Kirchen und Jugendlichen in Ihrem Bundesland diese Aufschlüsse, Zugänge zu Grundfragen und Grundbedürfnissen des Menschen verweigern oder zumindest erheblich erschweren?
Was kann die von Ihnen projektierte Religionskunde, in der über Religion ganz allgemein und weltanschaulich neutral und nur theoretisch informiert werden soll, denn noch leisten?
Läuft das nicht darauf hinaus, daß aus dem religiösen Bereich lediglich noch unverbindlich die Ethikanteile abgeschöpft werden, die gerade als staatsbürgerlich wünschenswert betrachtet werden? Wird damit die Religion nicht zu einem Steinbruch ethischer Lehrsätze verengt, deren Begründungszusammenhang und innovative Kraft nicht mehr erkennbar gemacht werden können?
In der DDR haben die SED-Machthaber planmäßig auf die Entchristianisierung der Gesellschaft hingearbeitet. Die Kommunisten wußten, daß sie das nur erreichen können, wenn es ihnen gelingt, die Kirchen aus der Schule zu verjagen und von der Jugend fernzuhalten. Dieses Planziel wurde bereits am
Rainer Eppelmann
4. Juni 1945 in einer Besprechung zwischen Pieck, Ulbricht und Stalin schriftlich fixiert - ich zitiere -:
Kein Religionsunterricht in der Schule, Jugend nicht durch Popen verwässern lassen, Religionsunterricht nur außerhalb der Schule.
Die Trennung von Schule und Kirche, das Zurückdrängen der kirchlichen Jugendarbeit und die Einführung der Jugendweihe wurden zu markanten Stationen der Entchristianisierungspolitik der SED.
Die Meinungsforscher stellen heute fest, daß in den neuen Bundesländern nur noch 8 Prozent der Menschen unter 30 Jahren in einem bewußt religiösen Elternhaus aufwachsen. 69 Prozent hingegen beschreiben ihr Elternhaus als völlig religionsfern. So sehen die Ergebnisse der planmäßig angestrebten und sehr bewußten SED-Entchristianisierungspolitik aus. Es geht hier nicht um Entkirchlichung oder Säkularisierung, wie sie auch in den alten Bundesländern zu beobachten sind. Hier geht es um etwas völlig anderes. Es geht dabei um einen gewollten und brutal durchgesetzten radikalen Kulturbruch.
Es ging der SED um eine Gesellschaft, in der die christlichen Traditionen und das Wissen um die von der christlichen Verkündigung angebotenen alternativen Möglichkeiten für die Verwirklichung des Menschseins einfach nicht mehr vorkommen. Was man aber nicht mehr kennt, kann man auch nicht vermissen.
Unser Grundgesetz aber bekennt sich zur positiven Religionsfreiheit als der Möglichkeit, eine religiöse Identität zu entwickeln und sich zu einem - seinem - Glauben zu bekennen. Ebenso eindeutig bekennt sich unser Grundgesetz zu der negativen Religionsfreiheit, also der Freiheit von jedem Zwang, sich zu einer religiösen Auffassung zu bekennen. Unser Grundgesetz will das Gleichgewicht von positiver und negativer Religionsfreiheit.
Wer aber unter Religionsfreiheit nun auch die Freiheit von Religion überhaupt verstehen will, vergeht sich an Geist und Buchstaben des Grundgesetzes und will eine andere Bundesrepublik gestalten.
Wir fordern darum in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz, daß der Religionsunterricht ein ordentliches Wahlpflichtfach ist und als solches seinen Platz in der Schule erhält. Dieser Religionsunterricht ist offen für alle interessierten Schülerinnen und Schüler.
Ich habe gehört, daß im Freistaat Sachsen der Religionsunterricht fast zur Hälfte von nichtgetauften Schülerinnen und Schülern besucht wird. In Sachsen kann zusammenwachsen, was zusammenwachsen möchte und was zusammengehört.
Herr Kollege Eppelmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich möchte gerne zu Ende reden.
Ein Staatsverständnis mit einer radikalen Trennung von Staat und Kirche entspricht nicht dem Verständnis des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland.
Wir haben in der DDR lernen müssen, wie durch die Zerstörung von Institutionen ein radikaler Kulturbruch eintreten kann, der auch die Aussichten und die Möglichkeiten der persönlichen Glaubensweitergabe dramatisch verringert. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland will nicht die entchristianisierte Gesellschaft der Deutschen Demokratischen Republik. Es ist auf die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und auf die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses ausgerichtet.
Das LER-Konzept in Brandenburg entspricht diesen bewährten Verfassungsnormen meiner Meinung nach nicht. Ich appelliere deshalb an die Mitglieder des Brandenburger Landtages: Überlegen Sie, ob Sie wirklich einen Verfassungskonflikt auslösen wollen. Sprechen Sie mit den Kirchen, damit sie ja sagen können, Herr Minister Bräutigam.
Es wird eine weitere Zwischenfrage begehrt.
Ich möchte sie nicht zulassen.
Sehen Sie dabei nicht nur auf die Institutionen, sondern vor allem auf die Menschen, durch die die Kirche nur Gestalt gewinnen kann. Prüfen Sie genau, welche Möglichkeiten ein Religionsunterricht in ökumenischer und interreligiöser Zusammenarbeit und in gemeinsamen Projekten mit dem Ethikunterricht für die Entwicklung von Toleranz, die Einübung in eine plurale Kultur und die Hilfe bei der Werte- und Sinnorientierung eröffnet. Verweigern Sie den heranwachsenden und lernenden jungen Bürgern in Brandenburg diese Möglichkeiten nicht.
Herr Stolpe, werte Kolleginnen und Kollegen der SPD in Brandenburg, legalisieren Sie bitte nicht
Rainer Eppelmann
nachträglich mit Ihrer parlamentarischen Praxis die von der SED gewollte Entchristianisierung.
Leisten Sie bitte einen Beitrag zum Zusammenwachsen der Deutschen in Ost und West, und stabilisieren und verfestigen Sie nicht die durch die Spaltung bedingten Unterschiede.
Soll Brandenburg wirklich ein kulturelles und antireligiöses Restteilchen der DDR im vereinten Deutschland sein?
Wir meinen: Nein! Führen Sie darum den Religionsunterricht als ordentliches Wahlpflichtfach ein.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Häfner das Wort.
Lieber Herr Kollege Eppelmann, ich bin kein Pfarrer - ich glaube, das müssen wir auch nicht alle sein -, habe aber, auch wenn es darauf hier ebenfalls nicht ankommt, einige Semester katholische Theologie studiert. Vielleicht kann das eine Brücke für das Verständnis zwischen uns bauen.
Ihre Behauptung, daß es um einen Beitrag zur Entchristianisierung des Landes gehe, halte ich für ziemlich kühn und, offengestanden, für ziemlich daneben.
Das Christentum unterscheidet bewußt sehr deutlich zwischen dem, was des Kaisers ist, und dem, was des Christus ist, und damit folgerichtig auch zwischen dem, was des Staates ist, und dem, was der Kirche ist. Ich möchte nicht, daß wir diese Unterscheidung in einer solchen Weise verwischen, wie Sie das gerade getan haben.
Ich möchte eine Frage stellen, die sich mir nach Ihrem Beitrag wirklich aufdrängt. Sie haben davon gesprochen, was Ihres Erachtens vom Grundgesetz her verlangt werde und dem Verständnis des Grundgesetzes entspreche. Nach meinem Verständnis des Grundgesetzes aber ist alleine schon diese Debatte ein Skandal;
denn wenn den Ländern eine letzte Kompetenz verblieben ist, dann ist das die Kompetenz für die Politik im Bereich von Unterricht und Kultus. Ich halte es wirklich für unzulässig, diese Zuständigkeit in einer solchen Weise zu mißachten.
Herr Eppelmann, es geht hierbei auch um Würde, um einen aufrechten Gang für die neuen Bundesländer. Und es geht auch um die Souveränität dieser Länder,
um die Art und Weise, wie wir die deutsche Einheit verstehen. Die Bremer Klausel - Herr Kollege Beck hat das dargestellt - ist mitnichten nur für Bremen geschaffen worden, ebenso wie das Godesberger Programm nicht nur für Godesberg gilt.
Die Bremer Klausel besagt, daß alle die Länder, die 1949 eine von Art. 7 Abs. 3 des Grundgesetzes abweichende Regelung hatten, auch heute eine abweichende Regelung haben können.
Wenn wir Brandenburg dieses verfassungsmäßige Recht abstreiten und in einen Antrag des Deutschen Bundestages sogar „ein bundesunfreundliches Verhalten des Landes Brandenburg" hineingeschrieben wird, wie es die CDU/CSU-Fraktion tut, dann muß ich sagen: Das ist ein länderunfreundliches, ein föderalismusunfreundliches Verhalten des Bundestages. Hier soll ein Verstoß gegen das Grundgesetz erfolgen, das die Entscheidung über diese Frage ausdrücklich dem Land überläßt. Führen wir sie doch da.
Wir können in dieser Frage selbstverständlich verschiedener Auffassung sein. Aber den Ländern auch noch den letzten Spielraum zu beschneiden und etwas, was in vielen westlichen Ländern praktiziert wird, den östlichen Ländern einfach autoritär überzustülpen, das ist nicht im Sinne der neuen Länder und auch nicht im Sinne eines guten Religionsunterrichtes. Denn Sie, Herr Eppelmann, wissen, daß der heutige Religionsunterricht genausowenig zwingend religiöse Menschen hervorbringt, wie seinerzeit die Staatsbürgerkunde lauter Kommunisten hervorgebracht hätte
oder wie die Mitgliedschaft in der Christlich Demokratischen Union Deutschlands dazu führen würde, daß man eine christliche Politik macht. Wir haben erlebt, daß das nicht zwingend so ist.
Herr Kollege Eppelmann, wollen Sie replizieren?
Ich möchte es noch einmal versuchen, Herr Kollege Häfner. Ich habe mit Einblicken in Brandenburger Wohnstuben versucht, deutlich zu machen, daß es sich in der Deutschen Demokratischen Republik nicht um eine ganz normale Säkularisierung gehandelt hat, wie es
Rainer Eppelmann
sie auch in anderen Ländern Mitteleuropas gegeben hat. Vielmehr hat es ein massives staatliches Interesse daran gegeben, genau das zu erreichen, was in der DDR nachher passierte. Das geschah mit massivem Druck. Das müssen wir wenigstens zur Kenntnis nehmen.
Heute sagen in den neuen Bundesländern möglicherweise noch 30 von 100 Menschen, daß sie einmal in der Kirche gewesen sind, etwas von Jesus gehört oder die Zehn Gebote einmal gelesen haben. Wenn man diese weite Formulierung zugrunde legt, sind das in den alten Bundesländern wenigstens noch 70 Menschen. Von diesen 30 Personen in den neuen Bundesländern sind schätzungsweise 25 auch noch über 60 Jahre. Man kann also - damit sage ich etwas, was auch die Enquete-Kommission festgestellt hat - von einer bewußten Entchristianisierung der Deutschen Demokratischen Republik als politisches Ziel der SED sprechen.
Ich bin allerdings der Meinung, daß ich das nicht nur einfach zur Kenntnis zu nehmen habe, sondern daß ich den Menschen in Deutschland die Chance geben möchte, daß diese 30 : 70-Relation geändert wird. Zumindest kann ich kein Interesse daran haben, daß diese Relation noch verfestigt und zementiert wird.
Zu einer weiteren Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Conradi das Wort.
Herr Abgeordneter Eppelmann, in diesem Hause gab es bisher eine Übereinkunft, daß wir, die Vertreter demokratischer Parteien, uns gegenseitig nicht mit totalitären Parteien, mit Unrechtsregimen und Diktaturen vergleichen, daß wir demokratisch gewählte Parlamente und demokratisch gewählte Regierungen nicht mit Diktaturen gleichsetzen. Das hat früher das Präsidium eisern durchgesetzt.
Gegen diese Übereinkunft haben Sie in böser Weise verstoßen,
indem Sie die Politik des demokratisch gewählten Landtags und der demokratisch gewählten Regierung von Brandenburg mit der Politik der SED-Diktatur gleichgesetzt haben.
Ich finde diese Art der Diskussion verwerflich.
Im übrigen haben Sie, Herr Abgeordneter Eppelmann, mit dieser Gleichsetzung in krasser Weise gegen das Gebot verstoßen: Du sollst kein falsch Zeugnis ablegen über deinen Nächsten.
Herr Kollege Eppelmann, wollen Sie antworten?
- Entschuldigung; ich habe bis jetzt keine weitere Kurzintervention zugelassen. Wir sollten uns überlegen, ob wir jetzt die Debatte durch Kurzinterventionen ausdehnen wollen.
Herr Kollege Conradi, ich möchte diesen Stil auch weiterhin pflegen. Mit dem, was ich getan habe, ist, glaube ich, der Vorwurf, den Sie mir jetzt gemacht haben, nicht zu belegen.
Ich darf Sie vielleicht noch einmal an das erinnern, was ich tatsächlich gesagt habe - das ließe sich ja auch nachlesen -, nämlich daß die Politik der SED in der Zeit ihrer Diktatur in der DDR ein bestimmtes Ergebnis gezeitigt hat und daß ich den Ministerpräsidenten und die Landtagsfraktion der SPD in Brandenburg gebeten und aufgefordert habe, dieses Unheil nicht auch noch festzuschreiben.
Meine Damen und Herren, ich bitte um Verständnis. Wir haben eine Rednerliste. Ich habe auf die Rede des Kollegen Eppelmann zwei Kurzinterventionen aus den Reihen der Opposition zugelassen; ich lasse keine dritte zu. Wir müssen auch an die mehreren Stunden Debattenzeit und an die beiden namentlichen Abstimmungen denken, die wir noch vor uns haben.
Ich erteile dem Kollegen Markus Meckel das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon bemerkenswert, was hier heute geschieht. Ich kann verstehen, daß Sie auf
Markus Meckel
der rechten Seite dieses Hauses kurz vor den Landtagswahlen unruhig werden. Weniger akzeptieren kann ich, daß Sie das Verhältnis von Staat und Kirche zum Spielball Ihrer Wahlkampftaktik machen.
Lieber Rainer Ortleb, ein öffentliches Nachdenken des Bundestages mit namentlicher Abstimmung ist doch etwas absurd.
Es muß doch ein für allemal klar sein - ich denke, das läßt sich für die großen Fraktionen mit aller Deutlichkeit sagen; von der F.D.P. weiß ich es nicht so recht, weil sie manchmal an dieser Stelle dieses und an jener Stelle jenes sagt -, daß auch die SPD ohne jeden Zweifel zu dem im Grundgesetz festgelegten Verhältnis von Staat und Kirche steht, das sich in vielen Jahren in der alten Bundesrepublik bewährt hat, und zwar einschließlich der Regelung des Art. 7 des Grundgesetzes. Wenn sich jemand durch Debatten anderswo darin verunsichert sieht, so sei ihm dies von dieser Stelle im Namen meiner Fraktion in aller Klarheit gesagt.
Hier wird heute versucht, Kulturkampfstimmung zu mobilisieren, die SPD absurderweise in eine kirchenfeindliche Ecke zu stellen und sich selbst als Retter der christlichen Werte und der Kirchen darzustellen.
Lieber Rainer Eppelmann, Falsches wird auch nicht dadurch wahrer, daß man es wiederholt.
Die Kontinuität von SED-Staat und Brandenburg, die du hier hergestellt hast, ist eine böse und, wie ich finde, infame Unterstellung.
Kollege Meckel, ich darf Sie für einen Moment unterbrechen.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir führen eine sehr ernste Debatte über ein wichtiges Thema. Kollege Meckel ist der letzte Redner vor der namentlichen Abstimmung. Ich bitte Sie herzlich, wenn Sie noch Gespräche führen wollen, sie vor dem Saal zu führen und hier im Saal dem Redner Ihre Aufmerksamkeit zu schenken.
Meine Damen und Herren, ich hätte mir schon gewünscht, daß Sie das Wort der Kirchen auch dann ernst nähmen, wenn sie sich zu gesellschaftlichen Themen äußern, etwa in der
Denkschrift zur sozialen Lage - darauf ist heute schon hingewiesen worden -,
oder wenn es um den Umgang mit Ausländern und Asylbewerbern geht.
Hier scheint mir heute eine ganze Menge Heuchelei am Werke zu sein.
Es scheint Sie offensichtlich auch nicht zu stören, daß das, was wir hier veranstalten, nicht nur zutiefst ungewöhnlich ist, weil es der föderativen Ordnung unseres Landes widerspricht. Von dem liberalen Minister Caesar, der dies ebenso für falsch hält, ist hier schon gesprochen worden. Es ist doch ein Unding, daß wir als Bundestag in eine noch laufende Debatte in einem Landtag eingreifen und daß wir glauben, hier dazu Stellung beziehen zu müssen.
Weil dies in beiden Anträgen faktisch der Fall ist, können wir beiden Anträgen heute nicht zustimmen.
Dazu kommt die Anmaßung, der Bundestag könne einfach feststellen, daß die Bremer Klausel für Brandenburg nicht gelte. Daß es gute Argumente für die gegenteilige Auffassung gibt, haben Sie vorhin von Herrn Minister Bräutigam gehört. Gewiß kann es sein, daß Sie dadurch nicht überzeugt worden sind - es gibt offensichtlich verschiedene Auffassungen -, doch dann hilft auch eine Mehrheit dieses Hauses nicht, dann hilft nur, daß man klagt. Dann wird das Ganze vor Gericht entschieden. Es ist jedenfalls ein Unding, zu glauben, daß wir diese Frage hier entscheiden könnten. Eine Sache des Bundestages ist es nicht.
Ich will hier nicht auf die Details der Brandenburger Regelung und der Brandenburger Debatte eingehen. Die konkreten Fragen - das ist Landessache - müssen in Brandenburg geklärt werden. Herr Bräutigam hat Ihnen das Anliegen der dortigen Regelung deutlich dargestellt.
Wie auch immer die Auseinandersetzung in Brandenburg ausgeht, so muß aber auch hier klar gesagt werden, daß dies keine Grundsatzentscheidung der SPD ist. Ob Art. 7 oder Art. 141 des Grundgesetzes in Brandenburg gelten, ist keine Entscheidung einer Partei, weder der SPD noch der CDU/CSU. Doch daß die Regelungen des Art. 7 des Grundgesetzes in Deutschland bundesweit von niemandem in Frage gestellt werden - von der SPD schon gar nicht -, ist hier deutlich zu sagen. Übrigens habe ich auch in Brandenburg nirgendwo gehört, daß man den Art. 7 des Grundgesetzes abschaffen wollte.
Zugleich ist nun aber ebenfalls klar, daß angesichts neuer Herausforderungen auch neue Lösungen im Rahmen des Grundgesetzes gefunden werden müssen. 1990 wurde im Zusammenhang der deutschen Vereinigung manchmal behauptet, die
Markus Meckel
Bundesrepublik würde protestantischer. Ich habe schon damals widersprochen und gesagt: Nein, sie wird säkularer. - Wir hatten im Osten Deutschlands eben nicht nur zwölf Jahre NS-Zeit. Danach folgte noch eine zwei Generationen währende atheistische Propaganda der SED, die natürlich auch nicht ohne Wirkungen geblieben ist.
Gezielte Desinformation, Volksverdummung und Denunziation der christlichen Tradition haben dazu geführt, daß weite Teile der Bevölkerung, übrigens einschließlich vieler Lehrer, kaum Kenntnisse biblischer Inhalte und christlicher Tradition haben. Heute sind es oft nur noch 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung, die zu einer christlichen Kirche gehören. Dies hat doch zur Folge, daß man darüber nachdenken muß, wie man damit umgeht und wie Werteorientierung zu vermitteln ist.
In Brandenburg hat man gleich nach 1990 versucht, sich dieser Herausforderung zu stellen. Dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ist zuzustimmen, wenn dort herausgestellt wird, daß es gerade Christen waren, die hier die Initiative ergriffen. Das geschah durch Marianne Birthler und andere, die sich auch zu DDR-Zeiten nicht nur klar zu ihrem christlichen Glauben bekannten, sondern gegen alle Unterdrückungsmechanismen der SED auch die gesellschaftspolitische Dimension des Glaubens zur Sprache brachten.
Bei vielen von uns waren christlicher Glaube und der Widerstand gegen das SED-Regime eng verbunden. Nun ganz und gar nicht nur, aber eben auch dies, mit ansehen zu müssen, wie konsequent und mit welch infamen Mitteln von den Herrschenden versucht wurde, die Menschen von den christlichen Kirchen und dem Glauben zu entfremden, führte in Opposition gegen dieses Regime. Vielleicht waren es bezeichnenderweise zwei Pfarrer, die die Sozialdemokratische Partei in der DDR initiiert haben.
Die Absicht des neuen Faches ist doch, daß Jugendliche, deren Eltern oft von Bibel und christlicher Tradition nichts mehr wissen, in die Grundlagen unserer Kultur eingeführt werden, zu denen eben auch Religion gehört. Man kann hier in Europa ja nicht einmal in ein Museum gehen, ohne festzustellen, daß man dieses Wissen braucht; von den tiefergehenden Prägungen unserer Kultur will ich gar nicht einmal sprechen. Ich zitiere ein Papier des Bildungsministeriums:
Gegenstand des Lernbereichs LER ist die Lebensgestaltung von Menschen unter besonderer Berücksichtigung der ethischen Dimension und der Sicht unterschiedlicher Weltanschauungen und Religionen.
So sollen auch Kenntnisse von anderen Religionen
vermittelt werden, weil es Voraussetzung ist, im Umgang mit ihnen von ihnen etwas zu wissen. Denken wir nur an den Islam: Wir merken doch bis in unser Haus hinein, daß es hier einen Nachholbedarf gibt. Ich halte es jedenfalls für unerträglich, wenn beim Wort „Islam" sofort das Wort „fundamentalistisch" hinzugefügt wird. Wir Christen wollen doch auch nicht mit dem Bombenterror in Nordirland oder mit dem Massenmorden in Srebrenica identifiziert werden, auch wenn diese Verbrechen von Christen begangen werden.
Die Absicht von LER, für das Leben wichtige Kenntnisse auch über Religion zu vermitteln und dabei im Gespräch im Klassenverband zusammenzubleiben, selbst wenn nur wenige Christen sind, sollte als legitim und wichtig anerkannt werden. Hierbei von einem Angriff auf die Kirchen zu reden ist einfach unangemessen.
Gewiß kann man unterschiedlicher Meinung darüber sein, ob die gefundene Lösung so umsetzbar ist. Ich selbst bin da übrigens anderer Meinung. Sie wissen vielleicht, daß auch ich dazu aufgerufen habe, dieses Unterrichtsfach nicht einfach gegen den Willen der Kirchen einzuführen. Doch muß man sich der Herausforderung durch die neue Situation im Osten Deutschlands stellen. Wichtig ist mir dabei, daß man beieinander bleibt, das Gespräch weiterführt und nach einer Lösung sucht, die auch die christlichen Kirchen nicht draußen läßt.
Gegenüber der Situation im Westen Deutschlands hat es ja auch von seiten der Kirche Schritte gegeben, sich aufeinander zuzubewegen. Diese Fächergruppe mit Integrationsphasen ist schon angesprochen worden. Dies ist ein Schritt aufeinander zu, der auch gemeinsames Lehren möglich macht. Manchmal scheint mir ein kleiner gemeinsamer Schritt in die richtige Richtung besser zu sein als ein Sprung, bei dem man nicht weiß, wo man landet.
Wichtig ist, daß das Gespräch darüber nicht abreißt, wie jungen Menschen Orientierung gegeben werden kann, wie sie ihr Leben solidarisch erfüllen und gestalten können. Die Kirchen werden auch künftig für ein solches Gespräch wichtig sein. Der Staat bleibt auf die Kirchen angewiesen, wenn es um Wertorientierungen und die sittlichen Grundlagen des Lebens in der Gemeinschaft geht, und er muß ihnen den nötigen Raum dazu gewährleisten. Ebenso heißt es aber in einem frühen brandenburgischen Grundsatzpapier zur LER von 1991, daß darüber zu reden ist, wie die Kirche in einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft Mitverantwortung für die schulische Bildung übernehmen kann.
Ich hoffe sehr, daß manche Verhärtung aus den Auseinandersetzungen der letzten Zeit sich lösen läßt und daß vermieden werden kann, daß Sozialdemokraten und Kirchen vor dem Verfassungsgericht gegeneinander stehen. Die zentrale Aufgabe bleibt für uns, daß es uns auch im weitgehend entchristlichten Osten Deutschlands gelingt, über alle Grenzen von Weltanschauungen und Glaubensrichtungen
Markus Meckel
hinweg junge Menschen zu erziehen, die ihr Leben in Achtung voreinander, solidarisch und verantwortlich gestalten und die großen Herausforderungen, vor denen wir stehen, mit Zuversicht in Angriff nehmen. Diese Aufgabe wird uns nur dann gelingen, wenn wir in den wesentlichen Fragen und Grundlagen unserer Gesellschaft beieinander bleiben.
Ich danke Ihnen.
Auf die Rede des Kollegen Meckel hat sich Kollege Hirsch zu einer Kurzintervention gemeldet.
Herr Kollege Meckel, Sie haben in einer kleinen, aber für uns wichtigen Nebenbemerkung gesagt, daß Ihnen das Verhältnis der Liberalen zu Kirche und Staat nicht klar sei.
Ich möchte Sie darauf verweisen, daß in Art. 140 des Grundgesetzes auf eine Reihe von Bestimmungen der Weimarer Verfassung verwiesen wird, und wir haben uns in der Enquete-Kommission „Verfassungsreform" darum bemüht, diese heute geltenden wichtigen Artikel der Weimarer Verfassung als Klartext - nicht nur als Verweisung - in das Grundgesetz aufzunehmen. Ihre Frage beantwortet sich von daher. Ich habe es außerordentlich bedauert, daß weder die Vertreter Ihrer Fraktion noch die Vertreter unseres Koalitionspartners bereit waren, auf diese Weise die Verweisung ehrlich zu machen.
Nun haben wir in dieser Debatte vom Vertreter des Landes Brandenburg zwei wichtige Argumente gehört. Das erste war die Frage - ich will die Verfassungsseite einmal weglassen -: Was ist eigentlich mit den Kindern, deren Eltern keiner Religion nahestehen? Das zweite war die Frage: Warum soll eigentlich der Religionsunterricht, der durch staatliche Lehrer erteilt wird, einem Religionsunterricht überlegen sein, der durch die Vertreter der Kirchen selbst gegeben wird?
In der Tat bedaure ich, daß in diesem Zusammenhang die Frage meines Kollegen Ortleb von keinem der folgenden Redner - Herr Minister Bräutigam, auch von Ihnen nicht - überzeugend beantwortet worden ist, warum es nämlich dann nicht möglich sein soll, eine Alternative einzuführen und den Eltern und Kindern im Land Brandenburg zu sagen: Eines von beiden müßt ihr machen, eines von beiden.
Denn auch diese Frage muß sich doch stellen, wenn Sie den LER-Unterricht und gleichzeitig einen kirchenbezogenen Religionsunterricht machen: Auch darin können ja Differenzen auftreten, die für die Kinder schwer zu bewältigen sind.
Ich meine, daß dann, wenn das Land Brandenburg, dessen Souveränität in dieser Sache ich selbst überhaupt nicht in Frage stelle, sich zu einer solchen Alternative entscheiden könnte, vielen Bedenken, Sorgen und Emotionen, die hier zum Ausdruck gekommen sind, Rechnung getragen werden könnte.
Herr Kollege Meckel.
Verehrter Herr Kollege Hirsch, ich danke Ihnen für die deutliche Klarstellung der Haltung der F.D.P. in diesem Hause.
Zum zweiten Punkt möchte ich mich dahin gehend äußern, daß ich persönlich der Haltung, wie Sie sie vorgetragen haben, sehr nahestehe und daß auch die evangelischen Kirchen den Vorschlag eines Fächerverbundes gemacht haben, der außer dem und über das hinaus, was Sie gesagt haben, ermöglicht, daß der gesamte Klassenverband in bestimmten Phasen über Fragen von Ethik und Lebensgestaltung redet, was ich sehr begrüße.
Von daher gibt es durchaus Schritte aufeinander zu. Wir müssen im Osten Deutschlands und insbesondere in Brandenburg das Gespräch weiterführen, und ich hoffe sehr, daß dies möglich ist.
Ich danke Ihnen.
Herr Minister Bräutigam.
Herr Abgeordneter, Sie haben in der Tat eine sehr wichtige Frage gestellt. Sie können nicht wissen, daß die Landesregierung von Brandenburg einen solchen Vorschlag unterbreitet und im Landtag zur Diskussion gestellt hat.
Dieser Vorschlag ist inzwischen abgeändert worden. Es heißt jetzt, daß eine Befreiungsmöglichkeit aus wichtigem Grund gegeben wird. Der wichtigste Grund ist, wenn Schüler - beziehungsweise ihre Eltern - sagen, daß sie am Religionsunterricht und nur an diesem Religionsunterricht teilnehmen wollen. Das ist einer der wichtigen Gründe. Wenn er vorgebracht wird, wird das so geschehen.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. zur verfassungsgebotenen Einführung des Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach in Brandenburg auf Drucksache 13/4073. Die Fraktion der CDU/CSU verlangt namentliche Abstimmung.
Vizepräsident Hans Klein
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, heute haben wir die alphabetische Ordnung noch nicht, aber die Schlitze sind bereits verschmälert.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall.
Ich eröffne die Abstimmung. -
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Offenbar noch mehrere. -
Sind alle Stimmen abgegeben? - Das ist offenbar der Fall.
Ich schließe die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekanntgegeben.*) Wir setzen die Beratungen fort.
Die zweite namentliche Abstimmung wird nach dem gegenwärtigen Stand der Beratungen schätzungsweise um 14.30 Uhr stattfinden.
Ich habe noch bekanntzugeben, daß die Kollegen Büttner und Antretter schriftliche Erklärungen zur Abstimmung abgegeben haben. **)
Ich darf Sie bitten, Platz zu nehmen. -
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Reformprojekt ,,Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde" an Brandenburger Schulen als Beitrag zur Vermittlung von Wertorientierung auf Drucksache 13/4090. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b sowie die Zusatzpunkte 12 und 13 auf:
9. a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Forderungen an die Konferenz zur Überprüfung des Maastricht-Vertrages zur Schaffung eines europäischen Beschäftigungspaktes und einer europäischen Sozialunion
- Drucksache 13/4002 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung der Großen Anfrage des Abgeordneten Christian Sterzing und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vorbereitung der Regierungskonferenz 96
- Drucksache 13/1471, 13/3198 -
*) Seite 8569 C **) Anlage 2
ZP12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Manfred Müller , Hanns-Peter Hartmann, Dr. Willibald Jacob und der Gruppe der PDS
Eine gemeinsame Beschäftigungs- und
Sozialpolitik für die Europäische Union
- Drucksache 13/4072 - Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
ZP13 Beratung des Antrags des Abgeordneten Christian Sterzing und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN
Die Regierungskonferenz '96 als Wegbereiterin für eine soziale und ökologische Reform der Europäischen Union
- Drucksache 13/4074 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Heidemarie Wieczorek-Zeul das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wird wie immer sein, wenn sich die europäischen Staats- und Regierungschefs am 29. März 1996 in Turin zu Beginn ihrer Regierungskonferenz zur Überprüfung des MaastrichtVertrages versammeln werden: Sie werden den versammelten Fotografen gute Mienen, gekonntes Lächeln und demonstrativen Optimismus zeigen. Doch während dieser Inszenierung bricht in Europa der Arbeitsmarkt zusammen.
Die Zahlen sind alarmierend. In Deutschland, Frankreich, Italien, Schweden und Finnland hat die Arbeitslosigkeit überproportional zugenommen. In Deutschland haben wir die neue, traurige Rekordmarke von 4,3 Millionen Arbeitslosen erreicht; in Frankreich sind es nach der offiziellen Statistik 3,2 Millionen, in Spanien 3,5 Millionen und in Italien 2,8 Millionen. In der Europäischen Union sind fast 20 Millionen Menschen ohne Arbeit, im Durchschnitt rund 21 Prozent der jungen Menschen unter 25 Jahren.
Angesichts dieses Sachverhalts und angesichts der Tatsache, daß fast jede wichtige EU-Regierung im Vorfeld der Regierungskonferenz in einem eigenen Papier - Weißbuch - eine Orientierung ausgegeben hat, halte ich es für einen absoluten Skandal, daß
Heidemarie Wieczorek-Zeul
heute kein Regierungschef der Bundesrepublik auf der Regierungsbank sitzt, der klar sagt, welches in diesen Fragen die Orientierung seiner Regierung für die anstehende Regierungskonferenz ist.
Die Massenarbeitslosigkeit unterminiert die Grundfesten unserer Gesellschaft. Sie unterminiert die Grundfesten aller unserer Länder, auch unseres eigenen. Schließlich unterminiert sie die Grundfesten der Europäischen Union. Wenn in Turin - dort beginnt diese Konferenz am 29. März - ein neues europäisches Kapitel aufgeschlagen werden soll und wenn die Konferenz zur Überprüfung des Maastricht-Vertrages erfolgreich sein will, müssen die zentralen Fragen auf die Tagesordnung. Das ist die Frage der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit in allen Ländern der Europäischen Union.
Wir haben uns deshalb in unserem Antrag auf dieses Thema konzentriert, nachdem wir bereits im Dezember einen umfassenden Antrag zu generellen Forderungen eingebracht haben. Die Regierungen müssen von der Irrlehre wegkommen, daß Schnitte in den Sozialabgaben, niedrige Löhne und hohe Unternehmensgewinne die Arbeitslosenzahlen quasi von selbst reduzieren. Wie es nicht geht, hat uns die Kohl-Regierung in den letzten Jahren demonstriert:
Neoliberale, marktliberale Politik - die Arbeitslosigkeit hat ständig zugenommen. Die Belastung der Normalbürger und -bürgerinnen durch Steuern und Abgaben hat ständig zugenommen. Grundwerte und Frauenrechte geraten dabei unter die Mühlsteine einer angeblich unausweichlichen Globalisierung.
Schon früh hat der EU-Kommissionspräsident Jacques Delors die Regierungen aufgefordert, auf diese Art von neoliberaler Politik zu verzichten und endlich aktive Maßnahmen zur wirklichen Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit zu unternehmen.
Helmut Kohl sollte sich ein Beispiel an dem Neumitglied Schweden nehmen. Der schwedische Ministerpräsident Ingvar Carlsson hat in seinem Weißbuch die Massenarbeitslosigkeit als „Gefahr für die demokratische Regierungsform" bezeichnet. Er hat darin vorgeschlagen, bestimmte Kapitel und Bestimmungen in den Vertrag von Maastricht aufzunehmen, die ein hohes und stabiles Beschäftigungsniveau als Ziel der Europäischen Union vorsehen. Alle Mitgliedstaaten sollen verpflichtet werden, in diesem Bereich Programme zu entwickeln, die bei der Frage der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ähnliche Kontrollen vorsehen, wie sie zur Überprüfung der Stabilität bei der Währungsunion vorhanden sind.
Denn eines ist doch wahr: Bei jedem Gipfel haben die Regierungen zu der eben angesprochenen Frage große Erklärungen losgelassen. Es hat sich nichts geändert, im Gegenteil, die Probleme haben sich verschärft.
Wenn es Regelungen gibt zum Aufbau der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion - die stellen wir nicht in Frage -, warum gibt es dann keine parellelen Schritte zum Aufbau des europäischen Sozialstaates?
Sogar die eher vorsichtige EU-Kommission hat in ihren Vorschlägen für die Regierungskonferenz gefordert, Bestimmungen über die Beschäftigung in den Vertrag aufzunehmen, desgleichen das Europäische Parlament.
Was tut dagegen die Bundesregierung? - Sie hielt noch nicht einmal diese Debatte im Deutschen Bundestag für notwendig. Wir mußten sie mit unserem Antrag erzwingen. Sie legt kein Weißbuch, keine Orientierung darüber vor, wie sie sich verhalten will. Sie ist rat- und tatenlos. Da wird nicht regiert, da herrscht Schlafmützigkeit vor.
Zum gesamten Komplex einer aktiven Beschäftigungspolitik und einer europäischen Sozialunion gibt es keinen einzigen Vorschlag der Bundesregierung. Mein Verdacht ist, daß sich die F.D.P. mit ihrer neoliberalen Position - über das Auswärtige Amt und das Wirtschaftsministerium - durchgesetzt hat, sehr zu Lasten des Zusammenhaltes in Europa.
Jetzt spreche ich insbesondere die Kolleginnen und Kollegen an, die bei den Christdemokraten in diesen Fragen auch selbst engagiert sind: Die Schaffung des Sozialstaates war im letzten Jahrhundert und zu Beginn dieses Jahrhunderts die Antwort auf die Entfesselung wirtschaftlicher Kräfte.
Heute verlaufen diese wirtschaftlichen Entwicklungen global und sind nicht mehr auf den Rahmen des Nationalstaats beschränkt: Unternehmensstrategien sind global, Waren- und Informationsströme sind global, Kapitaltransfers und Steuerflucht erfolgen global.
Wer heute - das ist meine feste Überzeugung - ein Gegengewicht zu diesen wirtschaftlichen Entwicklungen im Sinne sozialer Marktwirtschaft erhalten will, der muß die soziale Marktwirtschaft europäisch aufbauen.
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Wir werden den Sozialstaat in unserem eigenen Land, in allen Mitgliedsländern der Europäischen Union nur erhalten und ihn vor Zerstörung sichern, wenn wir ihn europäisch aufbauen,
wenn wir Schritte in Richtung auf internationale Initiativen unternehmen. Deshalb verlangt die SPD- Bundestagsfraktion, in dem EU-Vertrag verbindliche Regelungen zur Beschäftigungs- und Sozialpolitik aufzunehmen.
Das Sozialprotokoll, das sich im Anhang des Maastricht-Vertrages befindet, weil ihm eine Regierung nicht zugestimmt hat, enthält wichtige Elemente des Sozialstaatsgedankens. Es muß endlich Teil des Vertrages werden. Wir hoffen darauf, daß die britische Regierung unter Tony Blair, also eine Labour-Regierung, endlich dafür sorgen wird, daß dieses Sozialabkommen in den Vertrag integriert wird.
Wir hoffen, daß sie Erfolg haben werden. Das nutzt auch uns.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir verlangen, daß die Überprüfungskonferenz einen Auftrag zur Erarbeitung einer europäischen Charta der Grundrechte enthält. In dieser Charta muß auch die Gleichberechtigung von Frauen und die aktive Förderung von Frauen entsprechend unserem Grundgesetzauftrag garantiert sein. Das ist der beste Schutz dafür, daß EU- und deutsche Gerichte zukünftig nicht mehr europäisches und deutsches Recht zu Lasten der Frauengleichstellung gegeneinander ausspielen können.
Ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern - viele von Ihnen werden das tun -: Eine der wenigen Mütter unseres Grundgesetzes, Elisabeth Selbert, hat sich im Parlamentarischen Rat 1949 für den Grundgesetzartikel 3 engagiert. Als sie sich bei den Männern nicht durchsetzen konnte, hat sie die Frauen in Deutschland mobilisiert. Waschkörbeweise erhielten die damaligen Väter des Grundgesetzes die Forderung, den Gleichberechtigungsartikel 3 ins Grundgesetz aufzunehmen. So wurde er schließlich verankert.
Ich plädiere für eine solche große Aktion auch heute. Alle Bürger und Bürgerinnen sollten dem Bundeskanzler schreiben: Im Maastricht-Vertrag müssen endlich aktive Beschäftigungspolitik und aktive Frauenförderung verankert werden.
Der Grundfehler des Vertrages, den Helmut Kohl selbst ausgehandelt hat, der nur die Wirtschafts- und Währungsunion vorsah, muß endlich ausgeräumt werden.
An die Adresse der Bundesregierung sage ich: Wer mit substanzlosen Ergebnissen nach einem oder eineinhalb Jahren Verhandlungen zurückkommt und falsche oder auch inhaltslose Vorschläge dem Deutschen Bundestag zur Ratifizierung vorlegt, der muß wissen: Noch einmal wird das Spiel wie beim Maastricht-Vertrag nicht funktionieren. Sie müssen mit substantiellen Vorschlägen zu Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik zurückkommen, sonst haben Sie mit den entsprechenden Vorschlägen bei der Ratifizierung in diesem Hause Schwierigkeiten.
Es ist ersichtlich, daß ein Gesetz, das wir im Deutschen Bundestag vor einigen Wochen behandelt haben, eine europäische Dimension braucht. Ich meine damit die Verankerung der Prinzipien zu sozialer Regulierung, das sogenannte Entsendegesetz, das heißt, das Prinzip gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort.
Ich möchte für meine Fraktion - ich bin sicher, für fast alle in diesem Hause - den Bauarbeitern, die augenblicklich in einer harten Auseinandersetzung um die Festlegung eines Mindestlohnes für diejenigen stehen, die als ausländische Arbeitskräfte nach Deutschland kommen, sagen: Wir stehen an Ihrer Seite, weil es bei der Durchsetzung dieser Regelung darum geht, zu verhindern, daß billige ausländische Kräfte die Arbeitskräfte hier, die Tarifbedingungen und Sozialbedingungen der hier beschäftigten heimischen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen kaputtkonkurrieren. Das dürfen wir nicht zulassen. Daran kann niemand interessiert sein.
Wir brauchen also in diesem Bereich eine EU-weite Regelung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist ein schreckliches Versagen unserer Gesellschaft und unseres Wirtschaftssystems, daß in dieser EU 20 Prozent aller jungen Menschen unter 25 Jahren von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Wie lange muß es noch dauern, bis sich die EU-Mitgliedsregierungen endlich entsprechend den Vorschlägen von Jacques Delors dafür engagieren, daß jeder Jugendliche eine berufliche Erstausbildung und eine Chance der Weiterbildung und Weiterausbildung erhält?
Wie lange dauert es noch, bis Investitionen in die Infrastruktur finanziert werden, bis Reformen und
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Verbindungen zwischen West- und Osteuropa finanziert werden? Wir brauchen öffentliche Verkehrssysteme, Bahnsysteme, die Ost und West verbinden, die ökologisch sinnvoll sind. Die Finanzminister der EU haben am Montag entsprechende Finanzierungspläne wieder abgeblockt. Wie lange wollen die europäischen Staats- und Regierungschefs noch warten, bis im Verkehrssystem, bei Umwelttechnologien, beim Energiesparen neue Impulse gegeben werden?
Wie lange dauert es noch, bis Staats- und Regierungschefs, bis auch Helmut Kohl verstanden hat, daß die Rücksicht auf die Natur zu einem positiven Wettbewerbsfaktor gemacht werden kann?
Wann wird es die gemeinsame europäische Regelung zu einer ökologischen Steuerreform mit einer Senkung von Lohnnebenkosten, wie sie Jaques Delors damals gefordert hat, geben?
Wie lange dauert es noch, bis die zuständigen EU- Minister ein System entwickeln, um zukünftig extreme Währungsschwankungen zu verhindern? In Deutschland sind durch derartige Schwankungen allein rund 250 000 Arbeitsplätze verlorengegangen.
Wie lange dauert es noch, bis die Staats- und Regierungschefs im Sinne abgestimmter Zinssenkungen tätig werden, um den konjunkturellen Abwärtsentwicklungen entgegenzusteuern?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Gruppenfoto der Staats- und Regierungschefs steht wie immer am Anfang. Es signalisiert den Beginn der Verhandlungen, die für die Zukunft Europas von großer Bedeutung sein werden und können. Hoffen wir alle, daß dem routinierten Lächeln für die Fotografen konkrete Taten für die Menschen in unserem Land und in Europa folgen werden.
Ich danke Ihnen.
Meine Kolleginnen und Kollegen, ich darf Ihnen zwischendurch das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zur verfassungsgebotenen Einführung des Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach in Brandenburg auf Drucksache 13/4073 bekanntgeben. Abgegebene Stimmen: 608; mit Ja haben 320, mit Nein 274 Abgeordnete gestimmt; enthalten haben sich 14 Kolleginnen und Kollegen. Der Antrag ist damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 608;
ja: 320
nein: 274
enthalten: 14
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Peter Altmaier
Anneliese Augustin Jürgen Augustinowitz Dietrich Austermann Heinz-Günter Bargfrede Franz Peter Basten
Dr. Wolf Bauer
Brigitte Baumeister
Dr. Sabine Bergmann-Pohl Hans-Dirk Bierling
Dr. Joseph-Theodor Blank Renate Blank
Dr. Heribert Blens Peter Bleser
Dr. Norbert Blüm Friedrich Bohl
Dr. Maria Böhmer Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch Klaus Brähmig
Rudolf Braun Paul Breuer
Monika Brudlewsky Georg Brunnhuber Klaus Bühler Dankward Buwitt
Manfred Carstens Peter Harry Carstensen
Wolfgang Dehnel Hubert Deittert Albert Deß
Renate Diemers Wilhelm Dietzel Werner Dörflinger Hansjürgen Doss Dr. Alfred Dregger Maria Eichhorn
Wolfgang Engelmann Rainer Eppelmann Heinz Dieter Eßmann Anke Eymer
Ilse Falk
Jochen Feilcke Dr. Karl H. Fell Ulf Fink
Dirk Fischer
Leni Fischer
Klaus Francke Herbert Frankenhauser
Dr. Gerhard Friedrich Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel Michaela Geiger Norbert Geis
Dr. Heiner Geißler Michael Glos
Wilma Glücklich
Dr. Reinhard Göhner
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer Joachim Gres
Kurt-Dieter Grill Wolfgang Gröbl Hermann Gröhe Claus-Peter Grotz Manfred Grund
Horst Günther Carl-Detlev Freiherr von
Hammerstein
Gottfried Haschke
Otto Hauser (Esslingen) Hansgeorg Hamer
Klaus-Jürgen Hedrich Helmut Heiderich Manfred Heise
Dr. Renate Hellwig Ernst Hinsken
Peter Hintze
Josef Hollerith
Dr. Karl-Heinz Hornhues Siegfried Hornung Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Peter Jacoby
Susanne Jaffke
Georg Janovsky Helmut Jawurek Dr. Dionys Jobst Dr.-Ing. Rainer Jork
Michael Jung Ulrich Junghanns
Dr. Egon Jüttner Dr. Harald Kahl Bartholomäus Kalb Steffen Kampeter
Dr.-Ing. Dietmar Kansy Manfred Kanther Irmgard Karwatzki Volker Kauder
Peter Keller
Eckart von Klaeden Dr. Bernd Klaußner Hans Klein Ulrich Klinkert Hans-Ulrich Köhler
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen Eva-Maria Kors
Hartmut Koschyk Manfred Koslowski Thomas Kossendey Rudolf Kraus
Wolfgang Krause Andreas Krautscheid Arnulf Kriedner Heinz-Jürgen Kronberg Dr.-Ing. Paul Krüger Reiner Krziskewitz
Dr. Hermann Kues Werner Kuhn
Dr. Karl A. Lamers
Dr. Norbert Lammert Helmut Lamp
Armin Laschet
Herbert Lattmann Dr. Paul Laufs
Karl-Josef Laumann Werner Lensing
Christian Lenzer Peter Letzgus
Vizepräsident Hans Klein
Editha Limbach
Walter Link Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
Dr. Manfred Lischewski Wolfgang Lohmann
Julius Louven
Sigrun Löwisch
Heinrich Lummer Dr. Michael Luther
Erich Maaß Dr. Dietrich Mahlo
Erwin Marschewski Günter Marten
Dr. Martin Mayer
Wolfgang Meckelburg Rudolf Meinl
Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Friedrich Merz
Rudolf Meyer Hans Michelbach Meinolf Michels
Dr. Gerd Müller
Elmar Müller Engelbert Nelle
Bernd Neumann Johannes Nitsch
Claudia Nolte
Dr. Rolf Olderog
Friedhelm Ost
Eduard Oswald
Norbert Otto Dr. Gerhard Päselt Dr. Peter Paziorek Hans-Wilhelm Pesch Ulrich Petzold
Anton Pfeifer
Angelika Pfeiffer Dr. Gero Pfennig
Dr. Friedbert Pflüger Beatrix Philipp
Dr. Winfried Pinger Ronald Pofalla
Dr. Hermann Pohler Ruprecht Polenz Marlies Pretzlaff Dr. Albert Probst Dr. Bernd Protzner Dieter Pützhofen Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer Rolf Rau
Helmut Rauber
Peter Harald Rauen Otto Regenspurger
Christa Reichard Klaus Dieter Reichardt
Dr. Bertold Reinartz Erika Reinhardt
Hans-Peter Repnik Roland Richter
Roland Richwien Dr. Norbert Rieder
Dr. Erich Riedl Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber Franz Romer
Hannelore Rönsch Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
Dr. Klaus Rose Kurt J. Rossmanith
Adolf Roth
Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Volker Rühe
Dr. Jürgen Rüttgers
Roland Sauer Ortrun Schätzle
Dr. Wolfgang Schäuble Hartmut Schauerte Heinz Schemken Karl-Heinz Scherhag
Gerhard Scheu Norbert Schindler Dietmar Schlee Ulrich Schmalz Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
Andreas Schmidt Hans-Otto Schmiedeberg Hans Peter Schmitz
Birgit Schnieber-Jastram
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Rupert Scholz Reinhard Freiherr von
Schorlemer
Dr. Erika Schuchardt Wolfgang Schulhoff
Dr. Dieter Schulte
Gerhard Schulz (Leipzig) Frederick Schulze Diethard Schütze (Berlin) Clemens Schwalbe
Wilhelm Josef Sebastian Horst Seehofer
Wilfried Seibel Heinz-Georg Seiffert
Rudolf Seiters Johannes Selle Bernd Siebert Jürgen Sikora
Johannes Singhammer Bärbel Sothmann Margarete Späte Carl-Dieter Spranger Wolfgang Steiger Erika Steinbach
Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten
Andreas Storm Max Straubinger Matthäus Strebl Michael Stübgen Egon Susset
Dr. Rita Süssmuth Michael Teiser
Dr. Susanne Tiemann
Dr. Klaus Töpfer Gottfried Tröger
Dr. Klaus-Dieter Uelhoff Gunnar Uldall
Dr. Horst Waffenschmidt
Dr. Theodor Waigel
Alois Graf von Waldburg-Zeil Dr. Jürgen Warnke
Kersten Wetzel
Hans-Otto Wilhelm Gert Willner
Bernd Wilz
Willy Wimmer Matthias Wissmann
Simon Wittmann Dagmar Wöhrl Michael Wonneberger
Elke Wülfing
Peter Kurt Würzbach Cornelia Yzer Wolfgang Zeitlmann
Benno Zierer Wolfgang Zöller
F.D.P.
Ina Albowitz
Dr. Gisela Babel Hildebrecht Braun
Günther Bredehorn
Jörg van Essen
Dr. Olaf Feldmann
Gisela Frick Paul K. Friedhoff Rainer Funke
Hans-Dietrich Genscher Joachim Günther
Dr. Karlheinz Guttmacher
Dr. Helmut Haussmann Ulrich Heinrich
Walter Hirche Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Ulrich Irmer
Dr. Klaus Kinkel
Detlef Kleinert Dr. Heinrich L. Kolb
Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann Uwe Lühr
Günther Friedrich Nolting
Dr. Rainer Ortleb
Lisa Peters
Dr. Günter Rexrodt
Dr. Klaus Röhl
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Dr. Irmgard Schwaetzer
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler Carl-Ludwig Thiele
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Dr. Wolfgang Weng
Dr. Guido Westerwelle
Nein
SPD
Gerd Andres Robert Antretter
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett Klaus Barthel
Ingrid Becker-Inglau Wolfgang Behrendt
Hans Berger Hans-Werner Bertl Friedhelm Julius Beucher Rudolf Bindig
Lilo Blunck
Arne Börnsen Anni Brandt-Elsweier
Tilo Braune
Hans Martin Bury
Hans Büttner Wolf-Michael Catenhusen Peter Conradi
Dr. Herta Däubler-Gmelin Christel Deichmann
Karl Diller
Dr. Marliese Dobberthien Peter Dreßen
Rudolf Dreßler
Freimut Duve
Ludwig Eich
Peter Enders
Gernot Erler
Petra Ernstberger Annette Faße
Elke Ferner
Lothar Fischer Gabriele Fograscher
Iris Follak
Norbert Formanski Dagmar Freitag Katrin Fuchs Arne Fuhrmann Monika Ganseforth Norbert Gansel Konrad Gilges
Iris Gleicke
Günter Gloser
Dr. Peter Glotz Uwe Göllner
Angelika Graf Dieter Grasedieck
Achim Großmann Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann Manfred Hampel Alfred Hartenbach Klaus Hasenfratz Dr. Ingomar Hauchler
Dieter Heistermann Reinhold Hemker Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks Monika Heubaum Reinhold Hiller Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann Frank Hofmann (Volkach) Ingrid Holzhüter
Erwin Horn
Eike Hovermann Lothar Ibrügger Barbara Imhof Gabriele Iwersen Renate Jäger
Dr. Uwe Jens
Volker Jung Sabine Kaspereit
Ernst Kastning Hans-Peter Kemper Klaus Kirschner Marianne Klappert Siegrun Klemmer
Dr. Hans-Hinrich Knaape Walter Kolbow
Nicolette Kressl Volker Kröning Thomas Krüger Horst Kubatschka Eckart Kuhlwein Konrad Kunick Christine Kurzhals Werner Labsch Detlev von Larcher
Vizepräsident Hans Klein Robert Leidinger
Klaus Lennartz
Dr. Elke Leonhard Klaus Lohmann Christa Lörcher
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga Dieter Maaß Dorle Marx
Ulrike Mascher
Christoph Matschie Ingrid Matthäus-Maier Heide Mattischeck Markus Meckel
Ulrike Mehl
Herbert Meißner
Angelika Mertens
Dr. Jürgen Meyer Ursula Mogg
Siegmar Mosdorf
Michael Müller Jutta Müller (Völklingen) Christian Müller (Zittau) Volker Neumann (Bramsche) Gerhard Neumann (Gotha) Dr. Edith Niehuis
Dr. Rolf Niese
Doris Odendahl
Günter Oesinghaus Leyla Onur
Manfred Opel
Adolf Ostertag
Kurt Palis
Albrecht Papenroth Dr. Willfried Penner Georg Pfannenstein Dr. Eckhart Pick
Joachim Poß
Rudolf Purps
Karin Rehbock-Zureich Margot von Renesse Renate Rennebach Otto Reschke
Bernd Reuter
Günter Rixe
Reinhold Robbe
Gerhard Rübenkönig Dr. Hansjörg Schäfer Gudrun Schaich-Walch Dieter Schanz
Rudolf Scharping
Bernd Scheelen
Siegfried Scheffler Horst Schild
Otto Schily
Dieter Schloten
Günter Schluckebier Horst Schmidbauer
Ulla Schmidt Dagmar Schmidt (Meschede) Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Ottmar Schreiner
Gisela Schröter
Dr. Mathias Schubert Richard Schuhmann
Reinhard Schultz
Volkmar Schultz Ilse Schumann
Dr. R. Werner Schuster
Dr. Angelica Schwall-Düren Ernst Schwanhold
Bodo Seidenthal Lisa Seuster
Horst Sielaff
Erika Simm
Johannes Singer
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Wieland Sorge
Wolfgang Spanier Dr. Dietrich Sperling Jörg-Otto Spiller Antje-Marie Steen
Dr. Peter Struck Joachim Tappe Jörg Tauss
Dr. Bodo Teichmann
Margitta Terborg Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes Uta Titze-Stecher Adelheid Tröscher
Hans-Eberhard Urbaniak Siegfried Vergin
Günter Verheugen
Ute Vogt
Josef Vosen
Hans Georg Wagner
Hans Wallow
Dr. Konstanze Wegner Wolfgang Weiermann Reinhard Weis Matthias Weisheit Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen Jochen Welt
Hildegard Wester Lydia Westrich
Dr. Norbert Wieczorek Helmut Wieczorek Heidemarie Wieczorek-Zeul Dieter Wiefelspütz
Berthold Wittich
Dr. Wolfgang Wodarg
Hanna Wolf
Heidi Wright Uta Zapf
Dr. Christoph Zöpel
Peter Zumkley
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
Gila Altmann Marieluise Beck (Bremen) Volker Beck (Köln)
Angelika Beer Matthias Berninger
Annelie Buntenbach
Amke Dietert-Scheuer Franziska Eichstädt-Bohlig Dr. Uschi Eid
Joseph Fischer Rita Grießhaber
Gerald Häfner Antje Hermenau Kristin Heyne Michaele Hustedt Dr. Manuel Kiper
Dr. Angelika Köster-Loßack Steffi Lemke
Dr. Helmut Lippelt Oswald Metzger Christa Nickels
Cern Özdemir
Gerd Poppe
Simone Probst
Dr. Jürgen Rochlitz Halo Saibold
Irmingard Schewe-Gerigk Albert Schmidt Wolfgang Schmitt
Ursula Schönberger Rainder Steenblock Christian Sterzing Manfred Such
Ludger Volmer
Helmut Wilhelm
PDS
Petra Bläss
Maritta Böttcher
Eva Bulling-Schröter Heinrich Graf von Einsiedel Dr. Dagmar Enkelmann
Dr. Ruth Fuchs
Dr. Gregor Gysi
Hanns-Peter Hartmann Dr. Uwe-Jens Heuer Dr. Barbara Höll
Dr. Willibald Jacob Ulla Jelpke
Gerhard Jüttemann
Dr. Heidi Knake-Werner Rolf Köhne
Heidemarie Lüth
Dr. Günther Maleuda Manfred Müller
Rosel Neuhäuser Christina Schenk Steffen Tippach Klaus-Jürgen Warnick
Dr. Winfried Wolf Gerhard Zwerenz
Enthalten
SPD
Dr. Liesel Hartenstein Jann-Peter Janssen Susanne Kastner
Verena Wohlleben
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
Elisabeth Altmann Ulrike Höfken
Christine Scheel Dr. Antje Vollmer
F.D.P.
Dr. Burkhard Hirsch
Jürgen Koppelin
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Jürgen W. Möllemann Helmut Schäfer Cornelia Schmalz-Jacobsen
Ich erteile jetzt als nächstem dem Kollegen HansPeter Repnik das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gemeinsam treibt uns die Sorge um, die Arbeitslosigkeit in Deutschland und in anderen europäischen Ländern - in denen die Arbeitslosigkeit noch dramatischere Zahlen aufweist als in Deutschland - zu bekämpfen. Gemeinsam treibt uns die Sorge um, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, insbesondere die Arbeitslosigkeit der Jugendlichen zu bekämpfen.
Wenn Sie die Jugendarbeitslosigkeit in Europa analysieren, werden Sie feststellen, daß die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich zu anderen Industrieländern durch ihre Politik mit Abstand die niedrigste Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen aufweist.
Wahr ist auch, daß die Hälfte der Mitgliedstaaten der EU sozialistisch regiert sind und daß dort die Jugendarbeitslosigkeit am größten ist. Ich glaube, auch das darf man nicht übersehen.
SPD und Bündnis 90/Die Grünen versuchen, darauf mit ihren Anträgen eine Antwort zu geben. Ich
Hans-Peter Repnik
glaube, gerade hier trifft der Satz zu: Das Gegenteil von gut ist gut gemeint. Das Problem der Arbeitslosigkeit ist europaweit - das wissen wir -, und auch Europa muß einen entsprechenden Beitrag leisten.
Eine europäische Sozialverordnung, wie sie gefordert ist, kann diese Probleme nicht lösen. Ein europäisches Dekret schafft keine Arbeitsplätze. Industriepolitik und Reglementierungen, wie sie die SPD will, sind zum Abbau von Arbeitslosigkeit ungeeignet.
Meine Damen und Herren, ich habe die Sorge, daß mit Ihrem Antrag und auch mit Ihrem Plädoyer, Frau Wieczorek-Zeul, Europa möglicherweise einmal mehr überfordert wird und daß falsche Erwartungen bei der Bevölkerung geweckt werden.
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen will eine grundlegende Revision der vertraglichen Vereinbarungen. Beide Anträge verlangen den zweiten Schritt vor dem ersten. Sie wollen das Kind mit dem Bade ausschütten.
Denn vorher gilt es, eine Reihe anderer Voraussetzungen zu erfüllen: Effizienz, Handlungsfähigkeit, Legitimität der Institutionen sind zu stärken; Priorität hat vor allen Dingen die Wirtschafts- und Währungsunion.
Es ist allenthalben bekannt, daß gerade mit der Wirtschafts- und Währungsunion der notwendige Push für die Wirtschaft stattfindet. Damit und nicht mit neuen Sozialverordnungen werden wir neue Arbeitsplätze schaffen.
Die Oppositionsanträge versuchen, den Anschein zu erwecken, als sei die deutsche Politik in Brüssel an der sozialen Dimension des Binnenmarktes vorbeigegangen. Das ist falsch. Darauf wird nachher die Regierung noch eingehen. Deutschland ist neben den Niederlanden und neuerdings den nordischen Ländern die Kraft, die soziale Standards auf europäischer Ebene voranbringt.
Es wird zu leicht übersehen, daß der Maastrichter Vertrag eine große Zahl an sozialen Vereinbarungen enthält: Abstimmung der Sozialordnungen, Zusammenarbeit in sozialen Fragen, Mindestvorschriften zur Verbesserung der Arbeitsumwelt und das Protokoll über die Sozialpolitik.
Natürlich wissen wir - darüber sind wir uns auch einig -, daß Europa nicht auf die wirtschaftliche Dimension reduziert werden darf. Wir wissen aber auch, daß wir die richtige Reihenfolge einhalten müssen, wenn wir das gemeinsame Ziel, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, erreichen wollen: die Maastrichter Vereinbarungen einhalten und zum Erfolg führen, gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik schaffen und die Reform der europäischen Institutionen als Fundament für eine stabile handlungsfähige, wirtschaftlich starke und zur sozialen Politik fähige Gemeinschaft durchsetzen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist vielleicht interessant - das muß in einer solchen Debatte einmal angesprochen werden -, gegenüberzustellen, was Frau Wieczorek-Zeul und der im Wahlkampf befindliche baden-württembergische Kandidat Spöri zu diesem Thema sagen, und damit herauszuarbeiten, wie es die SPD tatsächlich mit Europa hält.
Wie machen wir, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, der Bevölkerung klar, daß wir Europa voranbringen müssen, ohne falsche Hoffnungen zu wecken?
Wie schaffen wir die nötige Akzeptanz für die Wirtschafts- und Währungsunion? Das ist ein ganz ernster Vorgang.
Denn Sie können nicht hier für Europa werben, für die Abschaffung der Arbeitslosigkeit in Europa plädieren und gleichzeitig zulassen, daß der Spitzenkandidat der SPD in Baden-Württemberg die Maßnahme, die am ehesten geeignet ist, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, nämlich die Wirtschafts- und Währungsunion einzuführen, verschieben will.
Ich möchte zu einem Konsens auffordern. Nahezu alle Mitglieder des Deutschen Bundestages haben seinerzeit die Maastrichter Verträge ratifiziert. Sie haben darin die Zukunftshoffnung für unser Land und für die alte Welt insgesamt gesehen. Das war gut so.
Fast scheinheilig im vorliegenden Antrag das Hohelied der europäischen Chancen zu singen und woanders, wie Ihr Fraktionsvorsitzender Scharping, von irgendeiner Idee Europa zu sprechen
und in Baden-Württemberg in diesen Wochen zu plakatieren
Stabilität und Arbeitsplätze gehen jetzt vor. Deshalb die Währungsunion verschieben!
Baden-Württemberg SPD,
ist unlauter. Das führt in die Sackgasse. Es ist der sicherste Weg, Arbeitsplätze zu vernichten und die Chancen zur Schaffung neuer Arbeitsplätze, zum Abbau von Jugendarbeitslosigkeit zu verhindern.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Stabilität, die zur Schaffung neuer Arbeitsplätze notwendig ist, entsteht nur, wenn eine möglichst breite ökono-
Hans-Peter Repnik
mische Basis existiert. Arbeitsplätze geraten weiter in Gefahr, wenn sich die Europäische Union zu einer Freihandelszone zurückentwickelt. Ich frage mich: Wie kann man nur aus purem Populismus die Menschen in unserem Land so irreführen, wie es gerade in diesen Tagen geschieht? Wer jetzt platte Sprüche über das Verschieben der Wirtschafts- und Währungsunion macht, ist mit schuld an den bösen Folgen für Währung, Wirtschaft und nicht zuletzt die Arbeitsplätze.
Im Gegensatz zu Spöri in Baden-Württemberg hat der Deutsche Gewerkschaftsbund dies erkannt. Auch zur Sicherung der Arbeitsplätze tritt der DGB für den Einstieg in die Währungsunion ein. Wir freuen uns über diese Mitverantwortung, die die Arbeitnehmerseite hier ganz eindeutig trägt.
Warum schüren Sie eigentlich diese Skepsis gegenüber Europa? Was soll dieser Kleinmut? Europa ist eine Vision, die wir realisieren müssen. Haben all die wankelmütigen Skeptiker und Pessimisten schon vergessen, wo wir vor 40 Jahren standen? Wäre das Wirtschaftswunder, wäre die wiedererlangte Einheit ohne Europa möglich gewesen? Auf diese Frage gibt es eine klare Antwort. Sie heißt nein.
Ihr Ziel können wir, glaube ich, auf anderem Weg erreichen. Die Wirtschafts- und Währungsunion sichert Arbeitsplätze. Europa wird im internationalen Wettbewerb abgehängt werden, wenn es keine Wirtschafts- und Währungsunion gibt. Dann würden wir nicht mehr, sondern weniger Arbeitsplätze haben.
Lassen Sie mich einen letzten Gedanken in diesen Zusammenhang einbringen. Für uns ist die Subsidiarität in Europa wichtig. Ich glaube, wenn wir diesen Gedanken ernst nehmen, zeigt sich der Widerspruch in den Anträgen der Opposition. Man will die Verantwortung an die europäische Ebene abgeben, delegieren. Gerade dies ist in der Sozialpolitik falsch.
Die unterschiedliche wirtschaftliche Leistungskraft der Mitgliedstaaten spiegelt sich auch in einem unterschiedlichen Wohlfahrts- und Sozialleistungsniveau wider.
Der Zusammenhang zwischen eigener Wirtschaftskraft und daraus resultierender sozialer Leistungsfähigkeit jedes einzelnen Mitgliedstaates muß erhalten bleiben. Deshalb darf kein Mitgliedstaat zu Sozialstandards gezwungen werden, die ihn wirtschaftlich überfordern, dürfen die Sozialleistungen der Mitgliedstaaten nicht zu Umverteilungsinstrumenten innerhalb der Gemeinschaft werden und darf kein Mitgliedstaat veranlaßt werden, ein hohes soziales Schutzniveau, wenn er es jetzt schon hat und es seiner Wirtschaftskraft entspricht, abzusenken.
Auf europäischer Ebene können Sozialstandards nur Ergebnis praktischer Politik sein. Die Festschreibung sozialer Rechte in Verfassungen oder in völkerrechtlichen Verträgen würde generell unerfüllbare Erwartungen wecken, seien diese auch noch so wünschenswert.
Ein letzer Satz, ein letzter Appell, meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD: Werden Sie nicht nur hier am Redepult, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, sich Ihrer Verantwortung bewußt, sondern auch dort, wo wir zur Zeit tagtäglich mit dem Bürger im Gespräch stehen. Sagen Sie es Ihren Kolleginnen und Kollegen in Baden-Württemberg, in RheinlandPfalz und in Schleswig-Holstein, daß die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion der sicherste Weg ist für europäisches Wachstum, für die Schaffung von Arbeitsplätzen. Wir laden Sie dazu ein. Noch haben Sie die Gelegenheit dazu. Nehmen Sie die Verantwortung wahr!
Das Wort hat der Kollege Christian Sterzing.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man mag Herrn Kollegen Repnik nur nachrufen, daß dieser Appell doch auch nach Bayern gerichtet werden möge; denn von dort hört man ja ähnliche Töne.
- Nein? Gut, das ist eine Form von selektiver Wahrnehmung, der ich mich nicht anschließen kann.
Meine Damen und Herren, in wenigen Tagen beginnt in Turin die Regierungskonferenz. So wie es aussieht, wird das zentrale Problem, das die Menschen in Europa beschäftigt, nämlich die Massenarbeitslosigkeit, dort nicht Thema sein. 15 Regierungs- und Staatschefs machen sich auf den Weg und wollen eine grundlegende Reform der Europäischen Union in Angriff nehmen. Aber nach Ansicht der Bundesregierung gehört die Frage, ob die EU nicht ein verbessertes Instrumentarium für die Bewältigung der Arbeitslosigkeit erhalten muß, von der Tagesordnung ausgeschlossen. Da besteht erheblicher Erklärungsbedarf.
Warum darf die EU über den Fruchtgehalt in Tomatensaft Regulierungen treffen, warum darf sie zu der Größe des Überrollbügels bei schmalspurigen Schleppfahrzeugen Festlegungen treffen, während sie in Sachen Beschäftigungspolitik keinerlei neue Kompetenzen erhalten soll?
Arbeitslosigkeit ist ein europäisches Problem. Ich denke, dieses Problem bedarf auch europäischer Antworten.
20 Millionen Arbeitslose in der Europäischen Union, das birgt sozialen Sprengstoff in sich. Wachsende Armut und soziale Ausgrenzung drohen den Integrationsprozeß insgesamt zu gefährden. Wenn sich Europa der Herausforderung der Massenarbeitslosigkeit nicht erfolgreich stellt, dann werden die in-
Christian Sterzing
tegrationsfeindlichen und die nationalistischen Tendenzen zunehmen. Es gilt, dieser Gefahr rechtzeitig entgegenzutreten.
Das vielgepriesene europäische Gesellschaftsmodell befindet sich in einem tiefgreifenden strukturellen Wandel, ja in einer tiefgreifenden Krise. Alle Versprechungen von mehr Arbeitsplätzen bei der Einführung des europäischen Binnenmarkts haben sich in Luft aufgelöst. Der europäische Binnenmarkt hat zum Teil eine ganz andere als die erwartete Dynamik entwickelt. Er hat zu sozialer Desintegration, zu ökologischer Zerstörung geführt. Es ist auch deutlich geworden, daß dieses Binnenmarktmodell erhebliche Mängel aufweist.
Der Binnenmarkt bewahrt uns nicht vor Arbeitslosigkeit, der Binnenmarkt bewahrt uns nicht vor Umweltzerstörung und Ressourcenverschwendung. Wachstum allein reicht offensichtlich nicht aus, um Beschäftigung in Europa, um soziale Integration auf Dauer zu sichern und einen Klima- und Ressourcenschutz zu gewährleisten.
Wir zahlen für dieses Wirtschaftswachstum einen hohen, einen zu hohen beschäftigungspolitischen und auch ökologischen Preis. Wir müssen uns darum kümmern, daß die sozialen und die ökologischen Folgen dieser Entwicklung bewältigt werden. Wir müssen uns Gedanken darüber machen, welche neuen Ziele wir setzen müssen und welche neuen politischen Instrumente wir zur Bewältigung dieser Krise benötigen.
Wir brauchen eine Neudefinition des Ziels des Binnenmarkts. Wir brauchen eine Ausrichtung des Binnenmarkts auf ein umweltverträgliches Wachstum, auf ein nachhaltiges Wirtschaften; denn ohne sozialverträgliche beschäftigungspolitische Elemente in einer gemeinsamen und koordinierten europäischen Politik sowie ohne eine viel stärker koordinierte ökologische Politik werden wir diese Krise nicht überwinden können. Wir müssen die Wirtschafts- und Währungsunion - das zeigt sich doch in dieser Zeit sehr deutlich - endlich auch zu einer Sozial- und Umweltunion fortentwickeln.
Die Regierungskonferenz bietet die Chance, diesen sozialen und ökologischen Umbau in Europa in Angriff zu nehmen. Dort können nämlich die vertraglichen Grundlagen für eine solche Politik geschaffen werden. Dazu bedarf es, wie wir meinen, eines neuen, umfänglichen Beschäftigungskapitels im EU- Vertrag, und es bedarf einer konsequenten Ausrichtung aller Politikbereiche auf ökologische Zielsetzungen.
Wir brauchen neue vertragliche Grundlagen für soziale, für ökologische Mindeststandards auf möglichst hohem Niveau, damit Öko- und Sozialdumping in Europa und ein grenzenloser Deregulierungswettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten verhindert werden.
Ökonomie und Ökologie - das sind nicht zwei Paar Schuhe, sondern das ist ein Paar Schuhe, das gehört zusammen. Das sind nicht etwa irgendwelche exotischen grünen Vorstellungen. Wir befinden uns mit unseren Vorschlägen, die wir im Antrag niedergelegt haben, durchaus in guter Gesellschaft. Die Kommission, das Europäische Parlament, eine Reihe anderer Mitgliedstaaten haben sich in dieser Richtung geäußert, haben im Vorfeld der Regierungskonferenz umfangreiche Dokumente vorgelegt und sich für eine gemeinsame Beschäftigungspolitik und für eine ökologisch orientierte Wirtschaftspolitik in Europa ausgesprochen. Sie haben nämlich längst erkannt, daß es darum geht, eine schrittweise Entwicklung einzuleiten, um die Möglichkeiten einer koordinierten Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik in Europa zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Umweltzerstörung zu verbessern. Sie haben längst erkannt, daß gerade von der Ausrichtung der europäischen Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik auf ein nachhaltiges Wirtschaften entscheidende Impulse für die dauerhafte Verbesserung auf dem Beschäftigungsmarkt ausgehen werden.
Nur die Bundesregierung verschließt sich leider immer wieder dieser Erkenntnis. Immer noch wird der Umweltschutz als Jobkiller bezeichnet.
- Daß der Umweltschutz ein Jobkiller ist, ist ein Märchen, aber leider bringen Sie dieses Argument immer wieder vor.
Wenn von der Bundesregierung jetzt auch immer wieder behauptet wird, daß die Verlagerung von Kompetenzen auf die europäische Ebene deshalb nicht zu wünschen ist, weil auf der nationalen Ebene die Probleme der Arbeitslosigkeit viel besser und erfolgreicher in Angriff genommen werden können, dann muß dem entgegengehalten werden, daß sie den Beweis dafür nun wirklich schuldig bleibt; denn 13 Jahre Kohl-Politik, 13 Jahre nationale Politik beweisen doch nun wirklich das Gegenteil. Wir werden Sie - da können Sie sicherlich ganz beruhigt sein -, was die soziale und ökologische Politik angeht, gewiß nicht aus der Verantwortung entlassen. Aber das schließt doch nicht aus, daß man gemeinsame Versuche auf nationaler und europäischer Ebene unternimmt.
Die soziale und die ökologische Krise sind doch nur das sichtbarste Zeichen einer wirklichen Integrationskrise in der Europäischen Union. In Turin und in den Verhandlungen der Regierungskonferenz wird sich zeigen, ob der Integrationsprozeß weiter vorangetrieben werden kann oder ob wir in eine Phase der Renationalisierung zurückfallen.
Wir haben schon im letzten Jahr in einem umfangreichen Antrag unsere grundlegenden Ziele für die Regierungskonferenz dargestellt. Diese sind erstens die Demokratisierung der Institutionen und Verfahren, zweitens die Ökologisierung des Vertrages, drit-
Christian Sterzing
tens die Fortentwicklung einer zivilen Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, viertens die Erweiterungsfähigkeit der Europäischen Union in Richtung Osten und Süden und fünftens nicht zuletzt die Schaffung von Kompetenzen und Instrumenten für die Europäische Union zur Bewältigung der Beschäftigungskrise.
In Ihrer Reaktion auf die Große Anfrage ist die Bundesregierung in weiten Teilen die Antwort schuldig geblieben. Durch die Antwort zieht sich die Perspektive eines „Weiter so" ohne neue Visionen, ohne neue konkrete Alternativen. Die schon erwähnte Ablehnung eines neuen Beschäftigungskapitels im Vertrag ist eigentlich nur symptomatisch für den Unwillen oder die Unfähigkeit der Bundesregierung, den Herausforderungen konkret zu begegnen. In der Umweltpolitik soll sich nichts Konkretes ändern. Auch die Energiepolitik soll nicht zum Gegenstand des Vertrages gemacht werden. Ich glaube, in ihren Antworten zeigt die Bundesregierung, daß sich die Revisionskonferenz auf eine technokratische Reform reduzieren soll. In einzelnen Punkten festlegen will sie sich schon gar nicht: Auf fast jeder Seite finden wir die Beteuerung, man werde dieses oder jenes noch „prüfen".
Bezeichnend für diese Haltung der Bundesregierung ist eigentlich auch die Geschichte dieser Anfrage. Denn ein halbes Jahr wurde benötigt, um zu diesen ausweichenden und vielfach substanzlosen Antworten zu kommen.
Was wir brauchen, ist aber eine öffentliche Auseinandersetzung in der Bundesrepublik. Ich glaube, gerade der Bundesregierung obliegt hier die Verantwortung, durch deutliche Worte und durch Darlegung ihrer Positionen im Vorfeld der Regierungskonferenz eine breite Debatte zu initiieren. Da nützen auch die Hinweise der Regierung auf ihre Bereitschaft, in den Ausschüssen - hinter verschlossenen Türen - ihre Vorstellungen zu diskutieren, nichts, denn das dringt nicht an die Öffentlichkeit. Wir müssen uns fragen: Haben Sie denn wirklich nichts aus Maastricht gelernt? Maastricht ist doch gerade deshalb so kritisiert worden, weil es hinter verschlossenen Türen ausgehandelt wurde.
Wir müssen im Zusammenhang mit der Reform eine breite öffentliche Debatte in Gang setzen. Wir müssen die Probleme offen ansprechen, die die Menschen beschäftigen. Das sind ganz aktuell natürlich die Probleme der Massenarbeitslosigkeit in Europa. Erst wenn es gelingt, dies zum Thema zu machen, werden wir auch Fortschritte im Integrationsprozeß erzielen. Die europapolitische Geheimniskrämerei der Bundesregierung untergräbt, wie wir fürchten, die demokratische Legitimation des Einigungsprozesses.
Lassen Sie mich das zum Schluß sagen:
Herr Kollege, Sie sind schon ein großes Stück über Ihre Redezeit hinaus.
Es geht laut EU-Vertrag um eine immer enger werdende Union der Völker Europas und nicht um eine Union der Regierungen.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Helmut Haussmann.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jede Europadebatte im wiedervereinigten Deutschland wird in unseren europäischen Nachbarstaaten mit größtem Interesse verfolgt. Es war bisher so, daß vor wichtigen Regierungskonferenzen zu Europa zunächst einmal das im Vordergrund gestanden hat, was die klassischen Parteien in der Europapolitik für eine gemeinsame Linie halten, und nicht die Abweichung. Wir reden nicht über ein seelenloses Europa, das sich nicht um Arbeitsplätze kümmert. Vielmehr ist er das Ziel jeder Europapolitik letztlich, den Beschäftigungsstand in Europa zu erhöhen.
Trotz der europafeindlichen Haltung von Herrn Spöri, von Herrn Schröder, von Herrn Lafontaine und zum Teil leider auch von Herrn Stoiber gibt es nach wie vor Gemeinsamkeiten im Deutschen Bundestag. Erstens. Alle klassischen Parteien - bei den Grünen bin ich mir nicht so sicher - wollen weitere Fortschritte bei der Integration. Man ist dafür, daß diejenigen voranschreiten, die es können, und man möchte dabei andere nicht ausschließen. Sozialdemokraten, zumindest hier im Parlament, Christdemokraten und Liberale sind für eine Erweiterung um Osteuropa. Wieso spielt das keine Rolle? Das ist doch ganz entscheidend. Bei jeder Europadebatte wird doch in Prag, Warschau und Budapest verfolgt, ob Deutschland nach wie vor dazu steht, daß diese Reformstaaten die Chance haben, möglichst schnell in die Europäische Union zu kommen.
Europapolitik heißt natürlich auch Beschäftigungspolitik. Die Zuständigkeiten für die Beschäftigung sind klar. Das Allerwichtigste ist, die Wirtschafts- und Währungsunion gemäß dem Zeitplan und unter strikter Einhaltung der vertraglichen Konvergenzkriterien herzustellen. Es ist unverständlich, daß der Wirtschaftsminister des exportstärksten Bundeslandes, nämlich Baden-Württembergs, vertragswidrig für eine Verschiebung plädiert. Was soll denn ein mittelständischer Unternehmer in Baden-Württemberg, der überwiegend nach Frankreich und in die Beneluxstaaten exportiert, dazu sagen, daß der eigene Wirtschaftsminister für eine Verschiebung plädiert?
Es ist auch einmalig, daß von der SPD in einem Wahlkampf Plakate aufgehängt werden, die bisher nur extremistische Parteien benützt haben. „Nein zur
Dr. Helmut Haussmann
Währungsunion" hieß es auf dem ursprünglichen Plakat.
Nur auf Druck der Bundes-SPD wurde dieses Plakat aus dem Verkehr gezogen. Dieser Vorgang ist einmalig und sollte heute hier in Bonn bei unseren Überlegungen eine entscheidende Rolle spielen.
Es ist doch interessant, daß sich der Deutsche Gewerkschaftsbund von diesem Kurs des Herrn Spöri strikt distanziert. Alle Achtung vor dem DGB! Er sieht es richtig und langfristig.
Es sollte auch interessant sein, daß der Chef des größten Unternehmens in Baden-Württemberg, Herr Werner - immerhin der Vorstandsvorsitzende von Mercedes Benz, des Unternehmens mit den meisten Arbeitsplätzen -, ganz klar gesagt hat: Ohne pünktliche Realisierung der Wirtschaftsunion ist jedes nationale Bündnis für Arbeit wertlos. Alles, was wir hier tun können, wird uns im Abwertungswettlauf weggenommen.
Wenn die Bundesbank heute morgen klargemacht hat, daß die D-Mark im Vergleich zu den 18 wichtigsten Währungen in der Welt allein im letzten Jahr um 5,5 Prozent aufgewertet wurde, dann gibt es doch aus Beschäftigungsgründen nur die Antwort, pünktlich die Wirtschafts- und Währungsunion einzuführen, um dafür zu sorgen, daß die D-Mark zu einem realistischen Kurs in einer Währungsunion mit den wichtigsten Exportländern definitiv verankert wird. Das ist die erste beschäftigungspolitische Antwort.
Der zweite Punkt lautet: Wir sollten die vorhandenen Beschäftigungsinitiativen, die immerhin auf den großartigen ehemaligen Präsidenten Delors zurückgehen, auch umsetzen. Wir sollten nicht immer wieder neue Anträge im Bundestag stellen, sondern das realisieren, was Delors gesagt hat.
Erstens: Senkung der Lohnzusatzkosten. Stimmen Sie zu, daß die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall reformiert wird! Stimmen Sie zu, daß die Frühverrentung reformiert wird! Das sind doch die Antworten auf die Frage, wie man die Lohnzusatzkosten reduzieren kann.
Zweitens: Reform der Unternehmensbesteuerung. Warum ist denn die Gewerbesteuer in Deutschland noch nicht abgeschafft, die für kleine und mittlere Betriebe absolut beschäftigungsfeindlich ist? - Weil das vom Bundesrat, von Sozialdemokraten blockiert wird.
Schieben Sie die Verantwortung doch nicht auf die europäische Ebene! Machen Sie doch zunächst einmal Ihre Hausaufgaben hier in der Bundesrepublik. Was wir nicht zulassen, ist, daß Sie Ihre nationalen Pflichten zur Beschäftigungssicherung vernachlässigen und Europa auf die Anklagebank setzen, nach dem Motto: Nur noch dort wird über Beschäftigung entschieden.
Sie lenken von der wirklichen Beschäftigungsverantwortung ab.
Es ist doch interessant, daß Herr Schröder gesagt hat, er habe sich bisher mit dem Vertrag von Maastricht nicht genügend beschäftigt, sonst hätte er ihm nicht zugestimmt. Es ist ihm jetzt klargeworden, daß die Realisierung der Wirtschafts- und Währungsunion zu einschneidenden Sparbemühungen in den nationalen Haushalten führen muß. Das will die Sozialdemokratie in Wirklichkeit nicht.
- Nein, Herr Schreiner. Wenn wir über schuldenfinanzierte Beschäftigungsprogramme mehr Beschäftigung erreichen könnten, dann hätten Sie im Saarland längst Vollbeschäftigung.
Immer neue schuldenfinanzierte Beschäftigungsprogramme führen in die Irre.
Frau Wieczorek-Zeul und Herr Sterzing, Sie müssen einmal sagen, was Sie in Europa wollen. Wollen Sie die Einführung eines neuen Artikels? Wollen Sie eine Vertragsänderung? Wollen Sie neue Beschäftigungsprogramme, die auf der europäischen Ebene finanziert werden müssen? Was wollen Sie wirklich?
Frau Wieczorek-Zeul, was wollen Sie mit Ihrer Drohung sagen, Sie würden der Wirtschafts- und Währungsunion im Bundestag nicht zustimmen, wenn ganz bestimmte Voraussetzungen nicht erfüllt werden?
- Seien Sie ganz beruhigt. Herr Schäuble und die
Bundesregierung haben eine ganz klare Linie. Durch
Dr. Helmut Haussmann
eine Reform der Sozialsysteme und eine sparsame Haushaltspolitik
wird und muß die Bundesrepublik als Vorreiter pünktlich beginnen, die Kriterien für die Europäische Wirtschaftsunion zu erfüllen. Dazu bedarf es eines nationalen Beschäftigungs- und Stabilitätspakts;
denn die Arbeitslosigkeit kann nicht mit einem ominösen Artikel auf europäischer Ebene bekämpft werden. Sie muß vielmehr dort bekämpft werden, wo sie verursacht wird.
Das geschieht durch zuviel Staat, durch zu viele Schulden und durch inflexible Arbeitsmärkte. Meine Damen und Herren, das ist der entscheidende Punkt.
In Wirklichkeit ist es doch so, daß, sobald europäische Vereinbarungen für den Nationalstaat nicht mit Ihrem nationalen Parteidenken übereinstimmen, Sie für eine Verschiebung sind und versuchen, die Verantwortung für die Beschäftigungspolitik auf die Europäische Union abzuwälzen.
Wir können auf europäischer Ebene nicht neue ausgabenwirksame Beschäftigungsprogramme beschließen. Das würde faktisch eine Vergemeinschaftung der Arbeitsmarktpolitik bedeuten. Wir benötigten dann zusätzliche Finanzmittel in Europa. Das würde bedeuten, daß die Nationalstaaten verstärkt Mittel an Europa abführen müßten. Das würde wiederum bedeuten, daß wir überhaupt keine Chance mehr hätten, die Konvergenzkriterien zu erfüllen.
Meine Damen und Herren, kümmern Sie sich also bitte bei Ihren nationalen und bundesbezogenen Verpflichtungen, auch bei den Haushalten in Ihren Länderparlamenten darum, daß wir die Konvergenzkriterien erfüllen. Die Aufgabenverteilung kann nämlich nicht so sein: Der Bund spart, und die Länder fahren ihre Politik weiter und machen damit die Wirtschafts- und Währungsunion unmöglich.
Auch die Bundesländer - darauf werden wir verstärkt drängen - müssen ihre Haushaltspflichten im Blick auf die Wirtschafts- und Währungsunion erfüllen. Mehr Beschäftigung im globalen Wettbewerb gibt es nur dann, wenn sich die europäischen Nationalstaaten auf eine Wirtschafts- und Währungsunion zur Schaffung von wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen verständigen und nicht wieder neue schuldenfinanzierte Staatsprogramme auf europäischer Ebene beschließen.
Ich erteile jetzt das Wort zu einer Kurzintervention der Kollegin WieczorekZeul.
Herr Kollege Haussmann ist unter anderem einem gravierenden Mißverständnis aufgesessen. Deshalb wollte ich ihm noch einmal genau sagen, was ich zur Frage der Ratifizierung gesagt habe.
Zunächst einmal, Herr Haussmann, wissen Sie sehr gut, daß der Vertrag von Maastricht ohne unsere Initiativen zur Formulierung des Art. 23 des Grundgesetzes überhaupt keine Chance gehabt hätte, vor dem Bundesverfassungsgericht zu bestehen und ratifizierungsfähig zu werden.
In Erinnerung daran habe ich gesagt - ich zitiere das hier noch einmal; das sollten sich die Regierung und die sie tragenden Fraktionen sehr genau merken -:
Wer mit substanzlosen Ergebnissen nach einem oder eineinhalb Jahren Verhandlungen
- also nach dem 29. März in Turin -
zurückkommt und falsche oder auch inhaltslose Vorschläge dem Deutschen Bundestag zur Ratifizierung vorlegt, der muß wissen: Noch einmal wird das Spiel wie beim Maastricht-Vertrag nicht funktionieren.
Sie wissen ganz genau, daß jede Ratifizierung, die in irgendeiner Form Kompetenzen berührt, der Zweidrittelmehrheit im Deutschen Bundestag bedarf. Ohne daß im Bereich der Beschäftigung und der Sozialpolitik Fortschritte erreicht werden, haben Sie keine Chance, mit irgendeiner Ihrer Initiativen in diesem Hause durchzukommen.
Herr Kollege Haussmann, wollen Sie replizieren? - Nein.
Dann erteile ich dem Kollegen Manfred Müller das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sowohl Kollege Repnik als auch Kollege Haussmann haben sich voller Stolz auf den DGB und seine Haltung zur Währungsunion berufen. Sie beide haben dabei allerdings vergessen, daß der DGB von Anfang an seine Zustimmung zur Währungsunion eng daran geknüpft hat, daß diese Währungsunion mit einer Sozialunion verbunden ist.
Insofern bin ich sehr froh darüber, daß die Position der PDS sich von der des DGB kaum unterscheidet.
Ich möchte das hier einmal ganz offen sagen: Wir möchten mit unserem Nein zum Maastricht-Vertrag nicht recht haben. Wir möchten, daß unser Nein zum Maastricht-Vertrag durch aktives Tun der Bundesregierung zu einem Ja umgewandelt werden kann. Daran würde ich gern mitarbeiten. Ich würde Sie gern davon überzeugen, daß es die Möglichkeit gibt,
Manfred Müller
einen breiten Konsens in unserer Bevölkerung und Gesellschaft für ein Ja zu Europa zu erreichen.
Denn Anfang Februar wußten erst 14 Prozent der deutschen Bevölkerung, daß Ende März die Konferenz zur Revision des Maastricht-Vertrages beginnt. Daran, so vermute ich, wird sich bis heute kaum etwas geändert haben; denn die Menschen haben etwas anderes im Kopf als die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, als die Innen- und Rechtspolitik oder die Subsidiarität. Wenn sie von Massenarbeitslosigkeit betroffen sind, interessiert dies die Menschen hauptsächlich. Dieses Thema wird auf der Regierungskonferenz überhaupt nicht behandelt.
Deshalb hätte ich von der Bundesregierung eigentlich erwartet, daß sie durch den Schock der jüngsten Arbeitslosenzahl doch noch bewegt wird, das größte Problem Europas zum Gegenstand der Vertragsrevision zu machen, nämlich die Massenarbeitslosigkeit.
Ich habe mit Freude gehört, daß andere europäische Regierungen das Ihre tun werden, damit das doch Thema auf der Regierungskonferenz werden wird und unsere Regierung doch noch gezwungen werden wird, sich mit konkreten Schritten und nicht nur mit vagen Absichtserklärungen diesem die Menschen wirklich interessierenden Thema zuzuwenden.
Ein unvorstellbarer Skandal ist, daß über Europa so geredet wird, als ginge es um eine Wechselstube oder einen Börsensaal und nicht um einen sozialen Lebensraum. Die Leidenschaften kochen hoch, wenn die Deutschen ihre liebgewordene Mark demnächst „Euro" nennen müssen, und bei der Staatsverschuldung wird um zehntel Prozente gestritten, als ginge es um das höchste Glück der Europäischen Union. Ist es ein Wunder, daß diese Union die Menschen kaltläßt?
- Ich habe eben gesagt: Wir wünschen uns, daß unser Nein zu Maastricht durch das Handeln der Regierung, und zwar nicht nur durch verbale Absichtserklärungen, sondern durch konkrete Schritte, in ein Ja zu Maastricht II umgewandelt werden kann.
Wir wenden uns auch gar nicht gegen Kriterien. Volkswirtschaften, die sich sozial und ökonomisch zusammenschließen wollen, brauchen Kriterien und vergleichbare Bedingungen, unter denen sie zukünftig zusammenarbeiten wollen. Insofern sagen wir nicht nein zu Konvergenzkriterien. Wir fordern, daß soziale Kriterien genauso wie die Währungskriterien in den Katalog aufgenommen werden. Denn ausschließlich monetaristische Vorgaben reichen eben nicht, um die Bevölkerung von der Sinnfälligkeit einer europäischen Integration zu überzeugen.
Mir drängt sich bei der bisherigen Diskussion der Gedanke auf - und zwar frei nach Goethes Bild aus dem „Erlkönig" -: Er erreicht das Haus mit Müh und Not, das Kind in seinen Armen war tot.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß genau dies billigend in Kauf genommen wird - zumindestens von denen, die ein ganz anderes Europa im Kopf haben -; denn ein Europa, das alle sozialen Rücksichtnahmen fallen läßt, ist für einige wenige immer noch ein erfolgreiches Europa: ein erfolgreicher Finanzmarkt, ein Magnet für weltweit nach Anlagen suchendes Kapital und ein Produktionsstandort für den Kampf um Weltmarktanteile, an dem die Arbeitskosten dann endlich auch mit Südkorea oder Malaysia konkurrieren können.
- Also das ist ja nun schon langsam eine Gebetsmühle; sagen Sie uns doch, wo die angeblichen Millionen liegen.
Da ist ja schon Finderlohn ausgelobt worden. Wenn ich jetzt einen 100-DM-Schein hätte, dann würde ich dieses Thema endlich einmal erledigen.
Dieses Europa soll eine zweite Phase der Deregulierung, des Sozialabbaus und der Umverteilung von unten nach oben einleiten. Es wird die Fähigkeiten der Gewerkschaften zum nationalen Widerstand ebenso abbauen, wie der Kampf gegen den Sozialabbau seine nationale Basis einbüßt, die Politik ihre demokratische Bodenhaftung verliert und die blinde Hand des Marktes endlich zum geheiligten Sachzwang gesalbt wird.
Aber die Kehrseite besteht nicht nur darin, daß diese Politik mit massivem Sozialabbau und Verarmung einhergeht, nein, viel schlimmer wird sein, daß das Gespenst des Nationalismus nach Europa zurückkehrt. Ich will nicht so weit gehen wie der Herr Bundeskanzler, der im Falle eines Scheiterns der europäischen Integration schon die Kriegsgefahr an die Wand malt, aber eines ist sicher: Die sozialen Verwerfungen und die Einbrüche des Mittelstandes werden einerseits einen neuen Protektionismus heraufbeschwören und andererseits die nationalen Leidenschaften gegeneinander aufwiegeln.
Insofern ist der Aktionstag der Kolleginnen und Kollegen vom Bau, und zwar der deutschen wie der ausländischen Kolleginnen und Kollegen, der heute stattfindet, ein aktiver Beitrag zur Verhinderung des Nationalismus, der zu befürchten ist, wenn die einen Volkswirtschaften gegen die anderen ausgespielt werden sollen.
Die Grundlagen dafür sind bereits gelegt. 54 Prozent der deutschen Bevölkerung lehnen die Währungsunion ab. In anderen Ländern sind es nicht weniger, eher mehr. Das werden all die beobachten können, die sich innerhalb Europas in Diskussionen über dieses Thema befinden. Hinter dem allgemeinen Desinteresse an Europa baut sich ein Unbeha-
Manfred Müller
gen auf, das schnell in nationale Eigenbrötelei und Schlimmeres umschlagen kann.
Gerade wir in Deutschland sollten nicht vergessen haben, was in einem Land droht, das seinen sozialen Frieden verliert, was geschehen kann, wenn die Menschen das Gefühl bekommen, sie würden zum Spielball internationaler Marktkräfte.
Dieses Gefühl wird um so stärker werden, je mehr sich die Politiker hinter die scheinbaren Sachzwänge des Marktgeschehens zurückziehen und Massenarbeitslosigkeit wie ein Naturgesetz hinnehmen. Das ist auch ein Demokratieproblem; denn die parlamentarische Demokratie verliert ihre Legitimation vor den Menschen, wenn sie sich hinter den Zwängen des Marktes oder demnächst hinter den europäischen Institutionen versteckt. Wenn diese Regierung nicht in der Lage ist, die den Menschen unter den Nägeln brennenden Probleme auf die europäische Tagesordnung zu setzen, dann beschädigt sie nicht nur ihr eigenes Ansehen, sondern setzt auch die Integration und letztlich die europäische Demokratie aufs Spiel.
Die Wirtschafts- und Währungsunion muß der europäischen Bevölkerung einen Zugewinn an sozialer Sicherheit, an demokratischer Mitwirkung und Aussicht auf einen sicheren Arbeitsplatz bringen. Sonst wird sie keine Zukunft haben. Da können Sie noch so sehr Ihre Marktideologie bemühen und den Menschen versprechen, daß das von Ihnen entworfene Europa diese Hoffnungen erfüllen wird - es nimmt Ihnen inzwischen keiner mehr ab.
Wenn der gegenwärtige Integrationsprozeß nicht durch ein europäisches Sozialmodell ergänzt wird, dann wird er keine Mehrheit in der Bevölkerung finden.
Die Redezeit!
Und wenn der haushalts- und finanzpolitische Stabilitätspakt nicht durch soziale Mindeststandards erweitert wird, dann bleibt nichts mehr, was dieses Europa für die Mehrheit der Menschen erstrebenswert macht. Deshalb noch einmal: Die PDS sagt ja zu Europa, sie sagt auch ja zu Kriterien, aber zu den Kriterien gehören auch soziale Kriterien.
Danke schön.
Ich erteile das Wort dem Staatsminister im Auswärtigen Amt Dr. Werner Hoyer.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Worum geht es eigentlich bei dieser Regierungskonferenz, worum geht es bei der Währungsunion und bei den anderen großen Weichenstellungen, die am Ende dieses Jahrhunderts fällig sind? Doch sicherlich nicht um institutionelle Nichtigkeiten, um technokratische Details, es geht um nicht weniger und um nicht mehr als um die ökonomische, technologische, kulturelle und nicht zuletzt politische Selbstbehauptung der Europäer am Ende dieses Jahrhunderts. Wir müssen endlich die globale Dimension der Herausforderung begreifen, vor der unser kleiner Kontinent steht.
Es ist manchmal ganz hilfreich, aus der Perspektive der sich entwickelnden großen Wirtschaftszentren dieser Welt auf Europa zu blicken, und da lacht man sich, glaube ich, etwas in die Tasche, wenn man nicht merkt, wie kleinkariert manche Debatten bisweilen sind, die wir auch im Hinblick auf die Regierungskonferenz führen.
Denn die Europäer haben doch längst in vielerlei Hinsicht Vorsprünge verloren. Wir werden deshalb alles daran setzen müssen, Europa für die Zukunft fit zu machen, wenn wir Frieden, Stabilität und Wohlstand auf unserem Kontinent dauerhaft sichern wollen.
Deshalb, liebe Kollegen, müssen wir den Binnenmarkt bewahren, stärken und vollenden, nicht zuletzt dadurch, daß wir unter strikter Wahrung der Konvergenzkriterien und des Zeitplans die Währungsunion realisieren.
Übrigens, Herr Sterzing, hat der Binnenmarkt in erheblichem Maße in den letzten Jahrzehnten Arbeitsplätze geschaffen und gesichert und unseren Wohlstand ermöglicht. Sein Verlust wäre eine Katastrophe für Arbeitsplätze und Wohlstand, und zwar auf lange Sicht.
Deshalb müssen wir die Handlungsfähigkeit Europas stärken und die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik effizienter, effektiver und sichtbarer machen. Es darf nicht sein, daß bei Krisen und Konflikten auf unserem Kontinent immer wieder in Washington angerufen werden muß, nur weil Europa nicht in der Lage ist, mit einer Stimme zu sprechen, geschweige denn, gemeinsam zu handeln
Deshalb müssen wir auch die große Herausforderung bei der Bekämpfung der organisierten internationalen Kriminalität ebenso wie bei der Bewältigung der Migrationsprobleme in Europa endlich gemeinsam und solidarisch annehmen. Und deshalb müssen wir die Union, die ursprünglich für eine ziemlich gemütliche Gemeinschaft von sechs Mitgliedern konzipiert wurde, institutionell auf die Öffnung für die süd- und mittelosteuropäischen Beitrittskandidaten vorbereiten und die demokratische Legitimität europäischen Handelns stärken.
Vor allem aber - insofern stimme ich manchen Vorrednern zu - dürfen wir den Fehler des Prozesses im
Staatsminister Dr. Werner Hoyer
Vorfeld von Maastricht diesmal nicht wiederholen. Ich bedaure ja, daß dieser hervorragende Vertrag von Maastricht dadurch belastet wird, daß sich die Kritik zwar nicht an der Substanz, aber doch am Verfahren orientiert.
Wir müssen die Bürger von Anfang an in den Prozeß einbeziehen und uns den Problemen zuwenden, bei denen die Bürger europäisches Handeln verlangen, aber auch das zurückdrängen und von der europäischen Ebene zurückholen, was auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene geregelt werden kann.
Von europapolitischer Geheimniskrämerei kann hier nun überhaupt keine Rede sein. Wir stellen uns nicht nur jederzeit dieser Diskussion, wir stoßen sie auch an. Im Vergleich zum Maastrichter Prozeß haben wir hier bereits einen ganz gewaltigen Fortschritt gemacht. Das Interesse der Bürgerschaft, das Interesse der Verbände, der Unternehmen, der Arbeitnehmerorganisationen, der Kirchen ist ja da. Wir können es kaum noch zeitlich schaffen, den vielen Anfragen gerecht zu werden.
Die Bundesregierung hat sich fünf Hauptziele für die Regierungskonferenz gesetzt:
Erstens. Die Union muß bürgernäher und transparenter, die demokratischen Strukturen müssen verbessert werden. Wir streben unter anderem ein Zusatzprotokoll an, das auf der Basis der Beschlüsse des Europäischen Rates von Edinburgh eine konsequente Durchsetzung des Subsidiaritätsprinzips gewährleisten soll. Außerdem müssen wir eine deutliche Stärkung des Europäischen Parlaments vor allem durch Ausweitung des Bereichs der Mitentscheidung erreichen.
Ich kann im übrigen, Frau Kollegin, den Streit um die Abwägung zwischen den Interessen des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente nicht ganz nachvollziehen, weil es in der Logik der europäischen Strukturen steckt, daß in den verschiedenen Säulen des europäischen Einigungswerkes unterschiedliche parlamentarische Absicherungen erforderlich sind, wenn wir demokratische Legitimität stärken wollen.
Zweitens. Im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik müssen Effizienz, Kohärenz, Sichtbarkeit, Kontinuität und Solidarität deutlich erhöht werden. Hierzu gehört unter anderem der Übergang zu Mehrheitsentscheidungen. Wir müssen uns aus der Zwangsjacke des Einstimmigkeitserfordernisses befreien.
Das ändert nichts daran, daß für die Entsendung von
Truppen und ähnliche Fragen weiterhin die Zustimmung der entsendenden Staaten selbstverständlich
Voraussetzung bleiben wird. Aber auch im Bereich der Verteidigung brauchen wir Fortschritte hin zu unserem Ziel, die Integration der WEU in die EU zu erreichen.
- Sie haben mir konkrete Fragen gestellt, welche Schwerpunkte wir für die Regierungskonferenz setzen. Genau diese Frage beantworte ich Ihnen gerade. Deshalb sage ich Ihnen das, was wir wollen. Dann werde ich Ihnen allerdings auch das sagen, um Sie auch in dieser Angelegenheit zu befriedigen, was wir nicht wollen; denn das ist ein sehr wichtiges Thema.
Drittens. In der Justiz- und Innenpolitik müssen wir unsere Kräfte bündeln. Nur dann können wir der Kriminalitätsbekämpfung den notwendigen Nachdruck verschaffen und die Migrationsprobleme lösen. Dazu gehört dann allerdings auch neben der Vergemeinschaftung der Visapolitik und des Asylrechts sowie der Zollzusammenarbeit, daß wir die Kommission, das Europäische Parlament und vor allen Dingen den Europäischen Gerichtshof deutlich stärker beteiligen.
Viertens. Wir müssen die Institutionen so reformieren, daß wir die Integrationsaufgabe bewältigen.
Fünftens. In einer zunehmend heterogenen Union müssen wir Mitgliedstaaten, die dazu in der Lage sind und die dies wünschen, die Möglichkeit einer verstärkten Zusammenarbeit eröffnen. Dazu haben Bundeskanzler Kohl und Staatspräsident Chirac gemeinsam die Einführung einer allgemeinen Flexibilisierungsklausel in den Vertrag vorgeschlagen.
Dabei muß der einheitliche institutionelle Rahmen gewahrt bleiben; zunächst zögernde Mitglieder müssen sich anschließen können. Damit stellen wir die Fähigkeit der erweiterten Union, auch künftig auf dem Weg der Integration fortzuschreiten, sicher.
Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich möchte jetzt keine Zwischenfrage zulassen. Normalerweise immer, aber jetzt haben Sie mir Fragen gestellt, und die beantworte ich im Zusammenhang.
Die beste Medizin gegen das Übel der Arbeitslosigkeit, meine sehr verehrten Damen und Herren - um endlich zu dem Thema zu kommen, das Ihnen ebenso wie uns am Herzen liegt -, ist die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit durch Anpassung der
Staatsminister Dr. Werner Hoyer
Strukturen als Vorbedingung für ein nachhaltiges Wachstum.
Auf europäischer Ebene stellen hierfür die Vollendung des Binnenmarktes und der fristgerechte Eintritt in die dritte Stufe der WWU bei strikter Einhaltung der Konvergenzkriterien wichtige Rahmenbedingungen dar.
Ich bin nicht der Auffassung, daß wir ein eigenes Kapitel zur Beschäftigungspolitik in den Maastrichter Vertrag einarbeiten sollten, und das aus drei Gründen: Erstens ist es nicht wahr, daß die Europäische Union heute ohne ein solches Extrakapitel im EU- Vertrag im Bereich Beschäftigung nichts leistet. Das Gegenteil trifft zu.
Praktisch alle Mittel, Frau Kollegin, die in den großen Gemeinschaftsbudgets zur Struktur-, Regional- und Agrarpolitik eingesetzt werden, sind in höchstem Maße beschäftigungswirksam.
Zweitens. Die Einfügung eines Beschäftigungskapitels in den Maastrichter Vertrag würde die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit auf Brüssel abschieben. Wir würden riskieren, erst die Erwartung zu wecken, Brüssel werde es schon richten, dann mit Blick auf Brüssel in den jeweiligen nationalen Anstrengungen um eine Verbesserung der Beschäftigungslage nachzulassen und schließlich die Verantwortung für nicht erfüllte Erwartungen wieder auf Brüssel schieben zu können.
Der PDS-Kollege hat es klar gesagt. Das Stichwort lautet: Verstecken hinter europäischen Institutionen. Die einzelnen Mitgliedstaaten können ihre Beschäftigungsprobleme nicht dadurch lösen, daß sie sich Alibis verschaffen und sich selbst aus der Verantwortung stehlen.
Drittens. Die Koalitionsfraktionen sind sich einig mit der Bundesregierung, daß wir Beschäftigung nicht mit keynesianischen Methoden schaffen können. Wir dürfen jetzt nicht dazu übergehen, Herr Professor Meyer, gewissermaßen „Keynes durch die Hintertür" zu betreiben, indem wir in Brüssel milliardenschwere Beschäftigungsprogramme auflegen, die die der Arbeitslosigkeit zugrunde liegenden Strukturprobleme in den einzelnen Mitgliedsländern nicht lösen können, andererseits aber die strukturellen Schwächen unserer Volkswirtschaften und unsere Budgetprobleme verschärfen.
Meine Damen und Herren, wir müssen uns darauf konzentrieren, die Binnenmarktfähigkeit unserer nationalen Volkswirtschaften zu erhöhen, müssen für die Unternehmen bürokratische und finanzielle Hindernisse reduzieren und die Belastungen reduzieren, die in Deutschland wie in Europa viele Unternehmer eher zu Unterlassern machen. Hier könnten wichtige Beiträge zur Gewährleistung der globalen Wettbewerbsfähigkeit Europas - um die geht es - geleistet werden. So und nicht durch die Formulierung vollmundiger neuer Zielvorgaben, die auch unter dem Gesichtspunkt der Kompetenzverteilung in Europa nicht auf die Brüsseler Schiene gehören, können wir in Europa und in Deutschland die Beschäftigungssituation, die uns allen am Herzen liegt, verbessern.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat Kollege Ottmar Schreiner.
Herr Präsident! Nach dieser lustlos heruntergeleierten Rede des Staatsministers Hoyer wird es jetzt ein bißchen munterer.
Von seiten der Koalitionsfraktionen habe ich bislang zum eigentlichen Thema so gut wie nichts gehört,
auch nicht von Ihnen, Herr Haussmann. Sie haben sich darin erschöpft, die SPD zu beschimpfen, und der SPD Skepsis gegen Europa vorgehalten.
Es ist eine Unverschämtheit,
einer Partei, die schon 1924, als Sie noch in Abrahams Schoß lagen, die Vereinigten Staaten von Europa gefordert hat, Skepsis gegen Europa vorzuhalten.
Ottmar Schreiner
Es ist eine Unverschämtheit, wenn ausgerechnet Sie jetzt kommen und der SPD Skepsis gegen Europa vorhalten!
Daß es in der SPD kritische Diskussionen gibt, ist überhaupt nicht zu bestreiten, aber es gibt genauso kritische Diskussionen etwa innerhalb der CDU/ CSU, wie es sie innerhalb der SPD gibt, und bei schwierigen Problemen können kritische Diskussionen sogar förderlich sein.
Dritter Punkt. Es ist bemerkenswert, daß während der gesamten Debatte hier kein einziger Bundesminister anwesend ist,
außer daß Herr Blüm sporadisch hier herumschleicht. Aber während der gesamten Dauer anwesend ist hier kein Bundesminister gewesen.
Herr Kollege Schreiner, Sie haben den notwendigen Munterkeitsgrad hergestellt, aber ich darf Sie auf folgendes hinweisen: Der Kollege Blüm sitzt in der Tat auf der Regierungsbank.
Das kann erst in jüngster Zeit erfolgt sein, denn überwiegend ist er - -
- Regen Sie sich ab!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin sehr dankbar für die Debatte. Diese Debatte war längst überfällig. Es ist ein schweres parlamentarisches Versäumnis - ich meine das durchaus auch selbstkritisch -, daß das Weißbuch der EG-Kommission vom Dezember 1993 „Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung" in diesem Parlament so gut wie nicht diskutiert worden ist. Das Weißbuch der Europäischen Kommission enthält auf knapp 200 Seiten eine Fülle von Anregungen und Vorschlägen, wie innerhalb der Europäischen Union angesichts von jetzt knapp 20 Millionen arbeitslosen Menschen die Massenarbeitslosigkeit bis zum Jahr 2000 halbiert werden könnte. Das war die Zielvorgabe der Europäischen Union. Der eigentliche Skandal besteht darin, daß die Bundesregierung, wiewohl sie das Weißbuch mit unterschrieben hat, nicht einen einzigen Vorschlag aus diesem Weißbuch aufgegriffen und in eine nationale oder europäische Initiative umgesetzt hat. Nicht einen einzigen Vorschlag!
Ich sage noch einmal: auf knapp 200 Seiten eine Fülle von Anregungen und Vorschlägen zur Verbesserung der europäischen Infrastruktur, zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmungen, zur ökologischen Steuerreform bei gleichzeitiger Absenkung der Lohnnebenkosten - das ist ja das Lieblingsprojekt von Herrn Repnik, den ich im Moment nicht sehe.
Ich will ihn aber gern zitieren, weil gesagt worden ist, wir täten nichts gegen die Absenkung der Lohnnebenkosten.
Herr Haussmann, die SPD-Fraktion ist die einzige Fraktion in diesem Hause, die eine Reihe von Vorschlägen aus dem Weißbuch aufgegriffen und hier im Parlament zur Diskussion gestellt hat.
Ich will aus dem Konzept der Europäischen Kommission zur ökologischen Steuerreform zitieren, das Sie sogar unterschreiben könnten; aber es ist nicht mehrheitsfähig in der Koalition. Es gibt einzelne, die einzelne Punkte durchaus für gut halten, aber die Koalition insgesamt blockiert sich gegenseitig und ist nicht handlungsfähig.
In dem Weißbuch heißt es:
Wir haben heute in der Gemeinschaft ein Entwicklungsmodell, das Arbeit und Natur, zwei unserer Hauptressourcen, suboptimal kombiniert. Das Modell ist gekennzeichnet durch eine ungenügende Nutzung der Arbeitsressourcen und eine übermäßige Nutzung natürlicher Ressourcen und führt zu einer Verschlechterung der Lebensqualität.
Das genau ist der analytische Hintergrund für das Konzept einer ökologischen Steuerreform: den Faktor Arbeit von Kosten entlasten, die Lohnnebenkosten absenken und gleichzeitig den übermäßig genutzten Faktor Energie verteuern.
- Wo ist denn die Initiative der Bundesregierung, dies europaweit zu machen?
Es gibt inzwischen eine ganze Reihe von Mitgliedsländern, etwa Dänemark, die das Konzept einer ökologischen Steuerreform auf nationaler Ebene umgesetzt haben, ohne daß dort ein einziger Arbeitsplatz verlorengegangen ist. Die Ergebnisse sind umgekehrt. Nach allem, was uns bescheinigt wird, hat die Umsetzung des Konzepts zu Beschäftigungszuwächsen geführt. Niemand würde Sie daran hindern, auf der nationalen Ebene tätig zu werden und auf
Ottmar Schreiner
der europäischen Ebene Initiativen zu ergreifen. Nichts dergleichen ist bislang geschehen.
Meine Damen und Herren, wenn es angesichts von 20 Millionen Arbeitslosen nicht gelingt, neben der Währungsunion gleichberechtigt eine europäische Beschäftigungs- und Sozialunion zu initiieren, dann wird der europäische Integrationsgedanke an Strahlkraft verlieren, und nationalistische Bestrebungen und Neigungen werden Auftrieb erhalten. Das ist die eigentliche Gefahr, der eigentliche Sprengstoff, der sich hinter diesen Problemen verbirgt. Je mehr Sie die Beschäftigungspolitik an den Rand drängen, um so stärker befördern Sie Renationalisierungstendenzen in Europa.
Dritter Punkt. Wer das europäische Integrationsprojekt will - wir wollen es -, der muß dafür sorgen, daß die Vorteile der Integration allen Bürgerinnen und Bürgern stärker als bisher zugute kommen.
Herr Kollege Schreiner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schauerte?
Ja, wenn sie sinnvoll ist.
Ich will mir Mühe geben, Herr Kollege.
Gerhard Schröder als Ministerpräsident von Niedersachsen ist Ihr wirtschaftspolitischer Sprecher. Er erklärt genau das, was Sie hier vorschlagen, nämlich diese Art von ökologischer Steuerreform, sei zur Zeit nicht geboten; im Gegenteil, man müsse sie vertagen, weil sie arbeitsplatzvernichtende Wirkung habe.
Ist das nun der wirtschaftspolitische Sprecher der SPD, und wofür sprechen Sie?
Die Frage war nicht sonderlich sinnvoll. Ich will Ihnen die Antwort aber gern geben.
Ihr Fraktionsvorsitzender Schäuble ist nach dem, was ich weiß, gemeinsam mit dem stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Repnik für eine ökologische Steuerreform, Ihr Bundeskanzler Kohl ist dagegen. Ist Herr Kohl Ihr Bundeskanzler und Herr Schäuble Ihr Fraktionsvorsitzender? - Setzen!
Meine Damen und Herren, die Beschäftigungs- und Sozialpolitik war bislang ein Stiefkind der europäischen Integration. Schlimmer noch: Verantwortungslose konservative Politiker versuchen in
Deutschland, den erreichten europäischen Fortschritt, Binnenmarkt 1992 - damit verbunden sind Freizügigkeit für Kapital, für Dienstleistungen und für Arbeitnehmer -, für Ziele zu mißbrauchen, die auf der nationalen Ebene nicht durchsetzbar oder längst überwunden waren. Lohn- und Sozialdumping sollen nämlich den fairen Interessenausgleich zwischen Kapital und Arbeit aushebeln, die Tarifautonomie soll auf Perspektive abgeschafft werden und die Arbeitnehmer in die hilflosen Abhängigkeiten des vorigen Jahrhunderts zurückgeführt werden. Das läßt sich an Originalzitaten von Graf Lambsdorff und anderen führenden Koalitionspolitikern belegen.
Meine Damen und Herren, der klassische Beispielsfall für diese Entwicklung ist das Trauerspiel um eine Entsenderichtlinie, um Lohn- und Sozialdumpingprozesse in Deutschland zurückzuführen. Ich sage Ihnen: Eine Politik dieser Art fördert antieuropäische Ressentiments, legt die Axt an die Wurzeln des europäischen Integrationsgedankens und befördert letztlich nationalistische Nostalgien.
Kaum eine Regierung in Europa tut sich schwerer bei der Umsetzung der wenigen sozialpolitisch motivierten Richtlinien der EU-Kommission als die deutsche Regierung.
Es gibt im wesentlichen zwei Wege, den europäischen Integrationsgedanken fortzusetzen. Der eine Weg ist die von großen Teilen der Koalition favorisierte marktradikale Variante, ein hemmungsloser Konkurrenzkampf der europäischen Volkswirtschaften, der zu Lasten der erreichten sozialen und ökologischen Standards geht. Ich sage Ihnen: Wenn dies der Weg ist, werden alle verlieren, und die Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger für den europäischen Integrationsgedanken wird atemberaubend zurückgehen.
Den anderen Weg hat Jacques Delors beschrieben. Ich zitiere ihn:
Ein sozialer Fortschritt ohne wirtschaftlichen Erfolg ist nicht möglich. Aber es gibt auch keinen wirtschaftlichen Reichtum ohne sozialen Zusammenhalt.
Das heißt: ohne hinreichende soziale und ökologische Standards in Europa. Wir brauchen vernünftige Rahmenbedingungen im sozialen und im ökologischen Bereich. Die Bundesregierung hat bislang nicht eine einzig brauchbare Initiative auf europäischer Ebene ergriffen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß noch einige Bemerkungen zur Währungsunion machen.
Ottmar Schreiner
- In der Debatte geht es um die Beschäftigungspolitik. Die Währungsunion hat aber mit Beschäftigungspolitik zu tun. Ich weiß, daß ich hier auf gefährlichem Eis bin. Es sind in den letzten Monaten Besorgnisse laut geworden, daß die Konvergenzkriterien von Maastricht rezessive Tendenzen befördern und zu einem weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit führen. Wenn der Preis der Währungsunion oder der Konstruktion der Währungsunion ein weiterer Anstieg der Arbeitslosigkeit wäre, dann wären immer weniger Bürgerinnen und Bürger bereit, diesen Preis zu zahlen. Genau aus diesem Grunde ist eine europäische Beschäftigungspolitik, gerade wenn man die Währungsunion halten will, völlig unverzichtbar.
Wenn Sie diese Zusammenhänge nicht begreifen wollen, dann tun Sie mir leid, dann gehen Sie nach Baden-Württemberg, Herr Haussmann, und füllen dort die Säle mit drei Leuten und halten haltlose Kampfreden gegen die SPD.
Sie haben offenkundig von der Sache und den notwendigen Sachzusammenhängen nichts begriffen.
Die Frage ist, ob die Bundesregierung die Initiative der schwedischen Regierung unterstützt, ein eigenes Beschäftigungskapitel in den Maastrichter Vertrag aufzunehmen. Die Frage ist, ob die Koalitionsfraktionen den Vorschlag des Europäischen Parlamentes unterstützen,
der da lautet, ähnlich wie bei der Fiskal- und Geldpolitik, die in einem Währungsausschuß der EU koordiniert wird, soll es einen Beschäftigungsausschuß geben, der die nationalen Beschäftigungspolitiken koordiniert und miteinander abstimmt. Stimmt die Bundesregierung diesen pragmatischen Vorschlägen zu? Ja oder nein? Wie stehen die Koalitionsfraktionen dazu? Wir werden Sie in den kommenden Monaten mit diesen Fragen taktieren. Dann wird es nicht ausreichen, wenn ein Staatsminister oder ein Staatssekretär höchst langweilige Reden hält, um vom Thema abzulenken.
Meine Damen und Herren, angesichts der dramatischen Beschäftigungskrise brauchen wir eine Neuorientierung der europäischen Integrationspolitik. Die Neuorientierung - das haben die Reden der Koalition heute gezeigt - ist nur mit einer neuen Bundesregierung möglich.
Schönen Dank.
Frau Kollegin Dr. Susanne Tiemann, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Jeder, der mich kennt, weiß, daß ich ein großer Verfechter der sozialen Dimension des Binnenmarktes bin.
Ich befinde mich damit in sehr guter Gesellschaft, denn es war gerade der Herr Bundeskanzler, der immer diese Philosophie vertreten hat und während der deutschen Ratspräsidentschaft 1987 die Initiative für eine engagierte europäische Sozialpolitik ergriffen hat. Die Entschließung des Rates vom Dezember 1994 zu den Perspektiven der europäischen Sozialpolitik geht auf deutsche Initiative zurück. Insofern ist die soziale Dimension des Binnenmarktes Europa keineswegs von der SPD gepachtet, sondern geht maßgeblich auf die Initiative dieser Bundesregierung zurück.
Nun betrifft europäische Sozialpolitik äußerst sensible Bereiche. Wenn wir uns einmal die Beschäftigungspolitik ansehen, so stellen wir fest, daß das Bereiche sind, die in ganz besonderem Maße vom nationalen Umfeld und von der nationalen Gestaltung abhängen. Welche Maßnahmen jeweils tatsächlich wirksam zur Schaffung von Arbeitsplätzen führen, hängt eben von den nationalen Wirtschaftsstrukturen ab, aber auch von der traditionellen Ausrichtung der nationalen Arbeitsmarktpolitik und der jeweiligen Innovationskraft der Wirtschaftsstrukturen in den einzelnen Mitgliedstaaten.
Dabei wissen gerade wir, daß Sozialpolitik natürlich in ganz besonderer Weise mit europäischen, zum Teil auch weltweiten Zusammenhängen verflochten ist. Keiner kann heute isoliert Arbeitsmarktpolitik betreiben. Die Frage ist aber, wie wir das ins Werk setzen. Eine Kontrolle der europäischen Beschäftigungspolitik und des Verhaltens der Mitgliedstaaten durch die Europäische Kommission wäre keineswegs das richtige Koordinierungsinstrumentarium, wie die SPD das meint. Vielmehr sind eine Kohärenz der nationalen Beschäftigungspolitiken auf der einen Seite und eine Kohärenz der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitiken auf der anderen Seite notwendig.
Aus gutem Grund steht das Weißbuch auf europäischer Ebene nicht nur für das Thema Beschäftigungspolitik, sondern heißt „Weißbuch für Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung". In der Wirtschaftspolitik haben wir doch gezeigt, daß wir den richtigen Weg gehen können. Wir haben eine Abstimmung der nationalen Wirtschaftspolitiken zur Vorbedingung der Wirtschafts- und Währungsunion gemacht. Genauso müssen wir es in der Arbeitsmarkt- und der Beschäftigungspolitik tun. Das aktive Zusammenwirken der einzelnen Mitgliedstaaten ist maßgeblich.
Meine Damen und Herren, die europäischen Bürger haben mehr als genug an juristischen Texten. Weder Bestimmungen zur Beschäftigungspolitik im Vertrag über die Europäische Union noch neue Weißbücher, noch sogenannte soziale Grundrechte, noch weitere Chartas werden einen einzigen Arbeitsplatz schaffen. Wir brauchen keine Programmsätze, die Er-
Dr. Susanne Tiemann
wartungen erwecken, welche dann nicht erfüllt werden können, sondern das gemeinsame tatsächliche Bemühen der Mitgliedstaaten um Beschäftigung in Europa.
Der Rat von Essen hat doch gerade auf Grund maßgeblich deutscher Initiative entsprechende konkrete Aufträge erteilt. Es ist angesichts dieses konstruktiven Maßnahmenpakets zum Ausbau der Berufsbildung, zur Einführung flexibler Arbeitsformen, stabilitätsbezogener Lohnpolitik und Förderung lokaler Beschäftigungsinitiativen vollkommen uneinsichtig, wie die SPD zur Annahme des Fehlens gemeinsamer europäischer Anstrengungen in der Beschäftigungspolitik kommen kann.
Wir wollen keine weiteren Regelungen und Reglementierungen, die zur Lähmung nationaler Kompetenzen sowie nationaler Aktivitäten führen würden. Wir wollen mehr Initiative und mehr Solidarität der Mitgliedstaaten. Wir wollen, daß sich die Mitgliedstaaten auf Grund dieser Initiative einbringen - nicht, weil es der Vertrag so vorschreibt oder weil es eine neue Bestimmung so vorsieht, sondern weil sie selbst eingesehen haben, daß gewaltige eigene Anstrengungen erforderlich sind.
Eine solche konzertierte Aktion ist in Europa, auch wenn Sie das nicht wahrgenommen haben sollten, meine Damen und Herren, in vollem Gange. Wir alle sollten die Bundesregierung auf diesem richtigen Weg, den sie eingeschlagen hat, weiterhin tatkräftig unterstützen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Zu einer Kurzintervention jetzt die Kollegin Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Dr. Tiemann, am 11. März dieses Jahres hat die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Frau Nolte, vor dem Plenum der Nationalen Nachbereitungskonferenz der Vierten Weltfrauenkonferenz in Peking erklärt - ich zitiere wörtlich -:
Bei der anstehenden Überarbeitung des bisherigen Vertragswerks der Europäischen Union ist es für mich von daher wichtig, die Förderung der Chancengleichheit als ein Ziel für die Union im EG-Vertrag zu verankern.
Ich denke, das von Herrn Staatsminister Hoyer vorgetragene Fünf-Punkte-Schwerpunktprogramm für die kommenden Verhandlungen, aber auch die Debattenbeiträge der Vertreterinnen und Vertreter der Koalitionsfraktionen haben einmal mehr deutlich gemacht, daß die Bundesregierung nicht gewillt ist, solcherart Sonntagsreden Taten folgen zu lassen.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Leyla Onur.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sie werden sich wundern: Ich gebe dem Kollegen Haussmann - er ist leider nicht mehr da - zu Beginn meiner Rede in zwei Punkten recht.
Zum einen hat er gefordert, daß endlich die Empfehlungen des Delors-Weifibuches umgesetzt werden mögen. Recht hat Herr Haussmann. Er hat diese Forderung allerdings nicht an die Opposition gerichtet, sondern - hoffentlich richtigerweise - an Herrn Waigel, an die Regierungsbank. Nur, zu diesem Zeitpunkt war dort niemand anwesend, der diese wichtige Forderung einmal hätte zur Kenntnis nehmen können.
Ich gebe ihm in noch einem Punkt recht: Europadebatten im Deutschen Bundestag werden von den Nachbarn aufmerksam verfolgt. - In der Tat, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Sie werden sehr aufmerksam verfolgt. Deshalb ist es ein falsches, gefährliches Signal, wenn in den Europadebatten, die im November und im Dezember stattgefunden haben und auch heute stattfinden, das Thema Beschäftigungs- und Sozialpolitik konsequent von der Regierungsmehrheit ausgegrenzt wird.
- Ich kann Ihnen das nachweisen. Sie brauchen nur die Protokolle der Bundestagsdebatten vom 8. November und vom 7. Dezember nachzulesen. In diesen Debatten hat sich der deutsche Bundeskanzler zu den europäischen Themen geäußert. Er hat die vier Punkte genannt, die Herr Hoyer eben noch einmal wiederholt, weil er meinte, die Wiederholung mache es eindringlicher. Bei der ersten Rede des Bundeskanzlers im November war ich noch in dem Glauben, er habe die Beschäftigungs- und die Sozialpolitik vergessen. So etwas kann auch einem Bundeskanzler passieren.
Am 7. Dezember ist dann wohl jedem Mitglied in diesem Haus klargeworden, daß der Bundeskanzler - er trägt ja die Verantwortung in dieser Revisionskonferenz - einen Fortschritt in der Beschäftigungs- und Sozialpolitik gar nicht will. Sonst hätte er es einmal ausdrücklich gesagt. Die heutige Debatte bestä-
Leyla Onur
tigt nur noch einmal das, was ich nach der Debatte vom 7. Dezember vermutet habe.
Meine Damen und Herren, in der Tat, unsere Nachbarn beobachten sehr wohl, wie wir hier debattieren und was wir fordern. Wenn dann Herr Hoyer hier sagt, wir müssen die Bürger - er meint hoffentlich auch die Bürgerinnen - einbeziehen, wir müssen genau zuhören, was sie wollen, dann frage ich mich: Mit welchen Bürgern und Bürgerinnen haben Sie eigentlich Kontakt? Mit wem haben Sie in den letzten Jahren und Monaten eigentlich gesprochen? Sie nehmen doch wohl nicht an, daß das, was Sie für die Revisionskonferenz noch einmal vorgeschlagen haben, die Bürgerinnen und Bürger zufriedenstellt. In den Diskussionen, die ich mit Gewerkschaftsvertretern, mit Betriebsräten, mit Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen führe, fordern die Bürger und Bürgerinnen in unserem Lande etwas ganz anderes, weit über das hinausgehend, was Sie bisher vorgeschlagen haben.
Sie können Ihren Vorschlagskatalog jederzeit noch erweitern. Gehen Sie dann auf unsere Vorschläge ein, denn das sind genau die Forderungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und Bürgerinnen und Bürger. Wir haben ihnen doch schon einmal erzählt: Erst vollenden wir den Binnenmarkt, und dann kommt die soziale Flankierung von selbst. Die Bürger und Bürgerinnen fühlen sich betrogen, weil dieses Versprechen bis heute nicht eingelöst worden ist.
Ich bestreite nicht, daß der Binnenmarkt zusätzliche Arbeitsplätze gebracht hat. Das kann man in den Statistiken nachlesen. Aber, Herr Hoyer, Sie sollten sich auch einmal die Mühe machen, genau hinzuschauen, was für Arbeitsplätze zusätzlich geschaffen worden sind. In Europa nennen wir diese „atypische Arbeitsplätze", nämlich unterbezahlte Arbeitsplätze ohne Sozialversicherungsschutz. Das ist nicht unser Ziel in der Beschäftigungspolitik.
Wir haben heute gehört, daß zuerst die Wirtschafts- und Währungsunion vollendet werden müsse. Ich erinnere mich noch genau daran, wie Sie gesagt haben: Zuerst der Binnenmarkt und dann die soziale Flankierung. Jetzt soll die Wirtschafts- und Währungsunion ohne die sozialpolitische Flankierung vollendet werden.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, es wurde heute insbesondere von der lieben Kollegin Dr. Tiemann
der Kanzler gelobt. Das ist auch ihre Aufgabe, selbstverständlich. In der Tat: Es gab einmal eine Zeit, da hat dieser Bundeskanzler, der bedauerlicherweise immer noch der Bundeskanzler ist,
uns allen die soziale Dimension als höchste Priorität bei der europäischen Integration verkauft. Viel daraus geworden ist bis heute nicht; auch das müssen wir leider feststellen. Er hätte nun wieder Gelegenheit, das fortzusetzen, was er vor Jahren angekündigt hat. Er hat sich damals als Lokomotive verstanden. Wahrscheinlich meinte er, er sei der Lokomotivführer gewesen. Inzwischen ist er zum Bremser geworden,
was die soziale Dimension betrifft. Darüber reden wir heute. Wir reden nicht über die anderen Forderungen zur Revisionskonferenz.
Wir reden heute ausdrücklich darüber, wie es in der Europäischen Union mit einer gemeinsamen Beschäftigungspolitik, mit einer gemeinsamen Sozialpolitik weitergehen soll. Die anderen Themen haben wir besprochen und werden sie auch weiter diskutieren. Die Zeit ist schon fast überschritten, um auch ein deutliches Signal zu geben, wie es die Bundesrepublik Deutschland, wie es diese verantwortliche Bundesregierung mit der sozialpolitischen Integration hält. Schweigen im Walde.
Im Gegenteil - der Kollege Schreiner hat es eben nicht ohne Grund angesprochen -: Bei dem wenigen, was in Europa erreicht worden ist, handelt es sich immer um soziale Mindeststandards, und die richten sich an dem schwächsten Partner in der Gemeinschaft aus und müssen dies auch.
Frau Kollegin, darf ich auf Ihre Zeit hinweisen.
Vielen Dank; ich höre gleich auf. - Sie werden mißbraucht, um soziale Standards in der Bundesrepublik Deutschland herunterzudrükken. Da machen wir nicht mit, meine Damen und Herren. Sie können für die Menschen in diesem Lande noch ein gutes Werk tun. Sie können unserem Antrag zustimmen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den An-
Dr. Andreas Schockenhoff
trägen der SPD und der Grünen wird das alte Spiel gespielt: Da fordern die gleichen Sozialdemokraten, die vorgestern die angeblich so unsolide Haushaltspolitik von Finanzminister Waigel kritisiert haben, von demselben Finanzminister zusätzliche Ausgaben. Er soll ein europäisches Beschäftigungsprogramm sponsern,
konsequent sozialdemokratisch im Rahmen der Aktion: Wir schreiben an den Weihnachtsmann.
Da steht bei den Grünen, der europäische Binnenmarkt entfalte ohne sozial- und beschäftigungspolitische Initiativen eine destablisierende Wirkung. Herr Sterzing, Sie sagen sogar, wir zahlen einen zu hohen beschäftigungspolitischen Preis für Europa.
Wer Augen hat zu sehen, der weiß: Erst durch den europäischen Binnenmarkt ist eine Menge zusätzlicher Arbeitsplätze entstanden. Gegen Destabilisierung durch zusätzliche Arbeitsplätze habe ich wirklich nichts.
Die Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion wird für die Beschäftigung weitere Impulse bringen. Die SPD geht in ihrem Antrag wie selbstverständlich davon aus, daß die Wirtschafts- und Währungsunion kommen wird. Ich finde das erfreulich, nachdem wir in Baden-Württemberg einen SPD-Spitzenkandidaten haben,
der genau das permanent bestreitet, weil er hofft, so billig ein paar Wählerstimmen fangen zu können.
Kollege Repnik hat auf die sozialdemokratische Arbeitsteilung hingewiesen: plumper D-Mark-Nationalismus im Ländle, internationalistische Traditionen in Bonn.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Wieczorek-Zeul?
Ja.
Herr Kollege Schockenhoff, in den unterschiedlichen Agenturmeldungen, die seit heute morgen auf dem Tisch liegen, war immer die gleiche Tendenz zu finden: „Schäuble: EWU-Verschiebung nicht unwahrscheinlich", „Schäuble zweifelt am pünktlichen Start der Währungsunion".
Ich frage Sie, ob Sie das mit den gleichen Verbalinjurien, die Sie hier gegenüber der Sozialdemokratie angeführt haben, bewerten oder ob Sie nicht dem zustimmen, was Ottmar Schreiner vorhin gesagt hat, daß es in beiden Parteien eine solche Diskussion gibt und daß es im Interesse der Sache sinnvoll ist, eine solche Diskussion zu führen.
Ich möchte gern wissen, welche Position Sie dazu einnehmen. Was vertritt die CDU/CSU-Fraktion, und was sollen die Partner in Europa von den Standpunkten, die sehr unterschiedlich sind, halten?
Frau Kollegin, unser Fraktionsvorsitzender Wolfgang Schäuble hat gesagt, daß wir Anfang 1998 auf der Basis der gesicherten Zahlen für das Jahr 1997 feststellen, wer die Kriterien und die Eintrittsvoraussetzungen für die Wirtschafts- und Währungsunion erfüllt. Er hat gesagt, daß die Einhaltung der Zeitpläne und die Einhaltung der Kriterien Voraussetzungen sind, um wirtschaftliche Gesundung und Beschäftigung in Europa zu sichern.
Außerdem habe ich keine Verbalinjurien verwandt,
sondern die Plakate zitiert, die Sie in Baden-Württemberg kleben. Wenn das Injurien sind, dann schämen Sie sich für Ihre Genossen!
Was ist eigentlich der Grundgedanke, der hinter der Wirtschafts- und Währungsunion steht? Ziel ist, für Europa langfristig Wachstum, hohe Beschäftigung und eine entscheidende Rolle in der Weltwirtschaft zu sichern. Für die Währungsunion gibt es nur einen Schuß; später wird die Sache nie wieder erfolgreich in Gang gesetzt werden können. - Sie lachen, Frau Kollegin. Eigentlich sollten Sie klatschen; denn dieser Satz stammt von Helmut Schmidt, dem letzten Sozialdemokraten, dem auch in der Öffentlichkeit abgenommen wurde, daß er etwas von der Wirtschaft versteht.
Ich habe Ihren Antrag gelesen. Wenn es darum geht, das Sozialprotokoll zum Bestandteil des Unionsvertrags zu machen, dann stimme ich Ihnen zu, und dann stimmt Ihnen auch die Bundesregierung zu, nur die Briten nicht. Die Briten kann nicht einmal die deutsche Sozialdemokratie zur Zustimmung zwingen.
Was dann weiter in Ihrem Papier steht, ist bemerkenswert. Sie erwarten Impulse für die Beschäftigung, indem Sie ein Kapitel Beschäftigungspolitik in den Unionsvertrag aufnehmen. Ihren Glauben möchte ich haben.
Ich lese von Richtlinien und Leitlinien, und, Frau Wieczorek-Zeul, Sie haben wieder einmal ein europäisches Programm gefordert, um mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Anscheinend haben Sie es immer noch nicht verstanden: Arbeitsplätze entstehen nicht, weil Politiker sie beschließen. Arbeitsplätze entste-
Dr. Andreas Schockenhoff
hen, weil irgend jemand glaubt, er kann mit Aussicht auf Gewinn Leistungen und Produkte anbieten.
Ich habe beim Lesen dieses Antrages den Eindruck, die Sozialdemokraten nehmen Europa nur noch als Mäntelchen, um innenpolitische Themen wiederzukäuen. Da kommt die Forderung nach Verkürzung der Arbeitszeit, von den deutschen Gewerkschaften längst ad acta gelegt.
Da kommt die Sozialversicherungspflicht bei geringfügigen Arbeitsverhältnissen. Dann kommt, lieber Kollege Schreiner, natürlich auch wieder die ökologische Steuerreform, von der die führenden Spitzengenossen schon lange nichts mehr wissen wollen.
Lassen Sie es sich gesagt sein: Ladenhüter bleiben Ladenhüter, auch wenn man das Europafähnchen dranhängt.
Wenn Sie wirklich etwas für Beschäftigung tun wollen, dann bremsen Sie die nationalistischen Schwätzer, die inzwischen in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands versuchen, die Währungsunion kaputtzureden!
Fragen Sie doch einmal die Milchbauern in Süddeutschland! Sie haben durch die Abwertung der Lira in den letzten beiden Jahren 8 Pfennig pro Liter Milch verloren. Das gefährdet Existenzen.
Fragen Sie einmal die Arbeitnehmer in der Automobilindustrie, in der Zulieferindustrie, in der Maschinenbauindustrie, was aus ihren Arbeitsplätzen wird, wenn in ganz Europa ein Abwertungswettlauf einsetzt!
Die Europäische Währungsunion ist ein langfristiges Projekt zur Verbesserung der Wachstumsgrundlagen und damit zur Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen.
Herr Kollege - -
Wir in Deutschland sind besonders darauf angewiesen, weil 60 Prozent unserer Exporte in die Länder der Europäischen Union gehen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte.
Bitte, Herr Wieczorek.
Herr Kollege Schokkenhoff, mir ist aufgefallen, daß Sie sich für beides ausgesprochen haben, für den Zeitraum und die Kriterien. Da möchte ich gerne einmal nachfragen. Der Kollege Schäuble hat, wenn ich ihn richtig verstanden habe, sehr klar erkannt, daß möglicherweise nur eines von beiden möglich ist, nicht zuletzt wegen der Haushaltssituation, die uns Herr Waigel beschert hat.
Die zweite Frage: Wenn es Ihnen um den Maschinenbau in Baden-Württemberg geht, warum nehmen Sie dann nicht zur Kenntnis, daß wir in unserem Antrag ausdrücklich gefordert haben, daß so schnell wie nur irgend möglich ein neues Stabilisierungssystem für die europäischen Währungen geschaffen wird? Genau wegen der Unsicherheit um die Währungsunion muß das so schnell wie möglich auf den Tisch. Wenn es Ihre Meinung ist, daß das notwendig ist, warum stimmen Sie dann an dieser Stelle dem Antrag nicht zu?
Im Gegensatz zu Ihnen spricht der Kollege Schäuble nicht von „möglicherweise", „vielleicht" und „man muß". Er sagt vielmehr: Es ist die Unzeit, darüber zu spekulieren, ob die Kriterien oder der Zeitplan eingehalten werden können.
Wir tun das auf der Basis verläßlicher Zahlen des Jahres 1997. Woher wollen Sie überhaupt wissen, wer Ende 1997 die Kriterien erfüllt und wer nicht? Woher wollen Sie überhaupt wissen, ob wir dann den Zeitplan einhalten können oder nicht? Lassen Sie uns das in dem vorgesehenen Zeitrahmen tun, nicht auf der Basis irgendwelcher Spekulationen, sondern harter Fakten.
Zu Ihrem zweiten Punkt, zur Stabilisierung der Beschäftigung in den angesprochenen Branchen, kann ich Ihnen nur sagen: Wer die Europäische Währungsunion stoppen will, der gefährdet die europäische Integration, der braucht kein neues Stabilisierungsmodell für die verschiedenen Währungen mehr, der riskiert die wichtigste Quelle unseres Wohlstandes.
Wenn Sie also wirklich etwas Wirkungsvolles für Arbeitsplätze tun wollen, dann hören Sie auf, hier Scheingefechte auszutragen!
Herr Kollege - -
Sorgen Sie lieber dafür, daß das unverantwortliche Geschwätz von Spöri und Konsorten aufhört!
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Rudolf Kraus.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Kollege Schreiner hat vorhin darauf hingewiesen, daß die Sozialdemokratische Partei bereits im Jahre 1924 die Vereinigten Staaten von Europa gefordert habe. Ich finde diesen Hinweis sehr interessant, beweist er doch, daß man so lange Zeit zurückgreifen muß, um seine europäische Gesinnung hervorzukehren.
Besser wäre es natürlich, wenn man sich heute, in der konkreten Situation, entsprechend verhielte.
Von derselben Seite des Hauses wurde vorhin mit einer gewissen Geringschätzigkeit zur Kenntnis genommen, daß es in der Bundesrepublik immerhin die geringste Rate der Jugendarbeitslosigkeit gibt.
- Herr Schreiner, Sie sollten sich vielleicht einmal ganz kurz in eine Situation hineinträumen, in der die SPD Regierungspartei ist. Dann stellen Sie sich vor, in dieser Zeit gäbe es innerhalb Europas in der Bundesrepublik die niedrigste Arbeitslosenquote bei Jugendlichen: Sie würden sich dann hier hinstellen und in einer forschen Weise und mit viel Emotion vortragen, wie großartig die Bundesregierung sei.
Ganz selbstverständlich würden Sie das tun.
Frau Wieczorek-Zeul, woran sollen wir denn die Erfolge einer Regierung messen? Das können wir doch nur an dem messen, was früher war, und an dem, was in vergleichbaren Staaten ist. Dabei kommen wir nun einmal sehr gut weg. Wenn Sie das nicht gern sehen, dann können wir da nicht helfen. Aber wir dürfen das sagen, und wir werden das natürlich auch in Zukunft sagen.
- Herr Schreiner, forsches Auftreten, Aufstacheln usw. sind ja recht unterhaltsam - man kann das auch
unter sportlichen Gesichtspunkten würdigen -, aber forsches Auftreten ersetzt nicht konkrete Antworten.
Die Frage des Kollegen von der CDU, wer eigentlich verantwortlich für Sie spreche, ist überhaupt nicht beantwortet worden. Sie haben auf diese Frage mit einer Gegenfrage geantwortet. Wissen Sie keine Antwort auf die Frage, oder wollen Sie uns die Antwort verheimlichen? Können wir damit rechnen, das noch in absehbarer Zeit zu erfahren?
- Ich habe Sie nicht verstanden.
- Häufig aber auch nicht; denn bei uns bleibt diese Unklarheit, die wir gern beseitigt wüßten.
- Sie tragen zu dieser Verwirrung bei, indem Sie die Frage nicht beantworten, wer in der SPD Verantwortung trägt. Das kann auf Dauer nicht so bleiben.
Ich kann Ihnen wirklich nur empfehlen, mit dieser Methode aufzuhören. Sie täten damit nicht nur uns, sondern auch Ihrer eigenen Partei einen großen Gefallen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, natürlich sind wir alle der Meinung, daß Arbeitslosigkeit der Punkt ist, in dem die Politik am meisten gefragt ist. Es ist überhaupt keine Frage, daß alle Kräfte in diesem Hause dafür eintreten, gegen dieses Übel möglichst effizient anzukämpfen.
Wir sind auch der Meinung, daß natürlich auf europäischer Ebene alles getan werden muß, um sich hierbei gegenseitig zu helfen bzw. dieses Problem zu beseitigen bzw. dieses Problem zu vermindern. Deswegen sind wir auch froh darüber,
daß alle Mitgliedstaaten ihre mittelfristige Beschäftigungspolitik auf die einzelnen beschlossenen beschäftigungspolitischen Schwerpunkte ausgerichtet haben.
Wir haben einen in diesem Umfang nie dagewesenen europäischen Meinungs- und Erfahrungsaustausch - das kann man doch nicht leugnen -, und es wird immer selbstverständlicher, wie ich schon sagte,
daß man über die Grenzen hinwegblickt, um zu sehen, was man beim Nachbarn im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit macht,
Parl. Staatssekretär Rudolf Kraus
wie man mögliche Wege zu mehr Wachstum und Beschäftigung findet und was man über den Stellenwert sozialer Sicherheit denkt.
Im übrigen darf ich darauf hinweisen, daß auch die europäischen Strukturfonds in immer stärkerem Umfang beschäftigungswirksam eingesetzt werden. Dazu eine interessante Zahl: Standen für den Zeitraum 1989 bis 1993 zirka 130 Milliarden DM zur Verfügung, so sind es für den folgenden Fünfjahreszeitraum immerhin 310 Milliarden DM. Das ist mehr als doppelt so viel. In diesem Zusammenhang möchte ich allerdings feststellen, daß wir nicht eine Vergemeinschaftung der Beschäftigungspolitik wollen. Deswegen soll hier auch nicht weiter aufgestockt werden.
Ein letztes Wort noch zum Entsendegesetz. Sie sagen, das sei ein Trauerspiel. Herr Schreiner, wir sehen das nicht so. Wir sind der Meinung, daß wir von seiten der Bundesregierung zu einem sehr frühen Zeitpunkt versucht haben, mit diesem zweifelsohne sehr gravierenden Problem, nämlich dem Problem der Dumpinglöhne auf den Baustellen, fertig zu werden.
Wir haben uns bemüht, dafür ein Gesetz zustande zu bringen. Dieses Gesetz ist jetzt verabschiedet, dies übrigens letztendlich mit Ihrer Zustimmung.
- Letztendlich auch mit Ihrer Zustimmung!
- Das ist richtig. Aber Sie sind doch auch ein Anhänger der Tarifhoheit. Hier gibt es also Elemente, die sich unserer Regelung entziehen.
Da dürfen wir also gar nicht eingreifen.
Sie müssen sich also entscheiden, was Sie wollen, und zwar nicht nur im personellen Bereich, nämlich in der Frage, wer für die SPD spricht, sondern auch in der Frage, wer hier für die Tarifvertragspartner die Verträge abschließen kann.
Wir warten darauf. Wir sind der Meinung, daß die Tarifvertragsparteien jetzt handeln müssen.
Als Trauerspiel lassen wir das jedenfalls nicht bezeichnen.
Wir haben unsere Aufgabe erfüllt. Nun muß man auch ein bißchen Vertrauen in die Tarifvertragsparteien haben. Das haben Sie offenbar nicht. Wir haben dieses Vertrauen.
Wir denken jedenfalls, daß dieses Problem hier lösbar ist.
Ich bedanke mich.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Aber gern.
Herr Staatssekretär, gestehen Sie zu, daß der SPD-Entwurf zu dem Entsendegesetz genau dieses Hickhack, das wir jetzt haben, überhaupt nicht mit sich gebracht hätte, weil wir nämlich genau diese Allgemeinverbindlichkeitserklärung, die Sie hineingedrückt haben und die genau zu diesem Streit in der Bauindustrie führt, den wir jetzt haben, nicht haben, daß das bei uns eben nur auf einen Teil begrenzt war und daß unser Entwurf auch vorgesehen hat, daß das für alle gilt, also auch für die Gastronomie und was es sonst noch alles gibt, daß also eigentlich erst Ihr Entwurf zu dem geführt hat, was wir jetzt haben, nämlich zu diesem Streit in der Industrie, und daß es ja darum geht, daß die Arbeitgeber nicht haben wollen, daß das Entsendegesetz für alle Aufträge, die jetzt schon vergeben sind, gilt und daß damit eben praktisch nicht 100 000 zusätzliche deutsche Bauarbeiter die Chance haben, wieder zurückzukehren?
Selbst wenn das so wäre, wäre das Aufgabe der Arbeitgeber, wenn sie die Übergangszeit wollen, was in der Tat auch unserer Ansicht nach zu größten Schwierigkeiten führte. Das wäre nicht im Verantwortungsbereich der Bundesregierung, sondern wäre eine Sache, die von den Tarifvertragsparteien zu verantworten ist. Ich glaube übrigens nicht, daß das der Hauptgrund ist. Wir werden erleben, daß sich dieses Problem lösen läßt. - Punkt eins.
Punkt zwei: Wir sind der Meinung gewesen, daß es jetzt insbesondere darauf ankommt, im Bereich des Bauens und des weiteren Umfelds eine Regelung entsprechend unseren Vorschlägen zu schaffen. Ich sehe also nicht, daß hier irgend etwas falsch ist und daß eine andere Regelung etwa zweckmäßiger gewesen wäre und schneller zum Erfolg geführt hätte. Jede Regelung, die die Tarifvertragsparteien berührt, hätte selbstverständlich die entsprechenden Konsequenzen gehabt, also auch die Zustimmung der Tarifvertragsparteien erforderlich gemacht.
Danke schön.
Der Herr Kollege Schreiner hatte mich eben aufgefordert - im
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Scherz natürlich -, für eine Übersetzung zu sorgen. Dazu möchte ich noch kurz ein Wort sagen.
Ich persönlich finde, es gehört zu den Vorteilen des Parlaments, daß sich hier die unterschiedlichsten Leute treffen, die sich im normalen Leben so einfach nicht begegnen würden. Wenn sie sich dann auch noch durch unterschiedliche Dialekte auszeichnen, ist das, finde ich, ein Vorteil für das Parlament.
Ihre Reaktion hat ja auch gezeigt: Man hört sich mit der Zeit schon ein.
Als nächster hat der Abgeordnete Norbert Schindler das Wort.
Frau Präsidentin! Also, Herr Kollesche Schreiner, isch hoff', daß Se Pälzisch versteh'n.
- Gestatten Sie mir das so? - Aber ein Spruch ist nicht umzudrehen: „Alle Pfälzer in die Pfalz" kann man nicht umdrehen; denn sonst hieße das: Alle Saarländer in die Saar!
Meine Damen und Herren, zu dem Konzept, das hier vorgelegt wurde: Die SPD fordert eine europäische Sozialunion. - Die Währungsunion ist der erste Schritt, den wir gehen. Sie wollen den dritten vor dem ersten machen. Man hat den Eindruck: Man hält sich in der Sachfrage, wenn es darauf ankommt, mit Volldampf zurück.
Was für Bedenkenträger haben Sie denn in der Opposition, wenn es um die Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft geht? Wie brennend hier die Sorgen sind, wissen wir doch. Es ist darauf hingewiesen worden, was wir im Agrarbereich im letzten Jahr erlebt haben, was aber auch Dasa und andere Firmen, die europäisch und international im Konkurrenzverhältnis stehen, bei den Währungsschwankungen erlebt haben.
Herr Kollege Sterzing, von den Grünen wird darauf hingewiesen, was nach dem Subsidiaritätsprinzip eigentlich in der Verantwortung der Tarifpartner in diesem Staat zu regeln ist. Nun will man die Verantwortung nach Europa geben.
Was haben wir denn erlebt, als es um EG-Verordnungen in der letzten Zeit gegangen ist? - Auch Frau Martini schimpft bei der Fleischverordnung munter gegen Brüssel, um von der eigenen Verantwortung abzulenken oder das publizistische Darstellen perfekt zu üben. Dafür brauchen wir Europa: um uns abzureiben oder Verantwortung abzugeben.
Nehmen wir als Bundesrepublik Deutschland doch unsere Verantwortung wahr, nehmen wir die Senkung der Kapitalertragsteuer, der Gewerbekapitalsteuer selbst in die Hand!
Nebenbei etwas zum Thema der sozialen Absicherung: Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, denken wir einmal an das Entsendegesetz, die Arbeitslosigkeit, die Zuzugsregelung. Was die Zuzugsregelung angeht, so denken Sie doch einmal an das, was Ihr Parteivorsitzender und was Sie vor zwei, drei Jahren, 1992, alles losließen, als wir in der Union dafür kämpften, das Kontingent von 200 000 Zuzügen - Asylkompromiß läßt grüßen! - auf die Reihe zu bringen. Jetzt nimmt man dieses Thema vor den Landtagswahlen auf, transportiert es an die Stammtische. Verantwortungsloser - das muß man doch einmal festhalten - kann man Neidpolitik in diesem Staat nicht mehr betreiben.
Weil wir gerade von sozialer Gerechtigkeit reden und weil - jetzt in allem Ernst - dieser Witz, Herr Kollege Schreiner, gebracht wurde: Ich würde Ihrem Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine von Herzen wünschen - vielleicht bringen Sie das, Frau Kollegin, mit ihm auf die Reihe -, daß er bei der Scheidung von seiner ersten, zweiten oder dritten Frau keine 700 DM in den Vergleich setzt.
- So Frau Schneuer im „Stern".
- Bringen Sie das einmal in Ihrer eigenen Partei auf die Reihe! Dann reden wir für die Allgemeinheit wieder richtig weiter.
- Es wurde bis jetzt nicht dementiert.
Wir reden über die europäische Sozialunion. Da haben wir offenbar noch Aufgaben innerhalb der Bundesländer auf die Reihe zu bringen.
- Könnt ihr auch ruhig sein? - Frau Präsidentin!
- Weil Ihr Parteivorsitzender dieses Thema mit der Zuzugsregelung so hochgespielt hat, muß man ihm manchmal auch deutlich Bescheid sagen. Das ist das Niveau, das Sie vorgegeben haben.
- Uns schmerzt überhaupt nichts. Wir haben die richtigen Beschlüsse gefaßt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schreiner?
Nein, der schreit so. Tut mir leid.
Letzter Punkt. Bundeskanzler Dr. Kohl hat gerade gestern in München die Feststellung getroffen, daß wir den Standort Deutschland nicht weiterhin so herunterreden sollten. Deutschland hat 1995 760 Milliarden DM im eigenen Land und 37 Milliarden DM im Ausland investiert. Wenn wir so weitermachen, dann gnade uns Gott. Was Dr. Kohl gestern wieder bekräftigt hat, sollten wir in Gesetzesform umsetzen.
Bei der Verantwortung für diese Fragen haben Sie schon immer deutlich versagt. Bei der deutschen Einheit seid ihr fünf Jahre hinterher gekommen. Wie war das 1956? Soll man dies alles aufzählen? Meine Redezeit ist um.
Ich hätte gern einmal eine Dreiviertelstunde lang mit Ihnen abgerechnet.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Gerd Müller.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich begrüße diese Debatte, ist es doch die letzte Möglichkeit des Parlaments, der Bundesregierung vor Beginn der Regierungskonferenz vielleicht auch einige Positionen mitzugeben, die aus der Sicht des Parlaments Konsens finden.
Herr Hoyer, Sie haben eine interessante Rede gehalten. Der Zentralpunkt der Regierungskonferenz ist doch: Wie können wir das Europa der 15 für ein Europa der 20, 25 oder 30 Mitgliedstaaten richtig fit machen? Das Fundament der heutigen Gemeinschaft ist das Fundament der Sechsergemeinschaft und kann nicht das Fundament einer Gemeinschaft mit 20 oder mehr Staaten sein. Wir brauchen deshalb qualitativ neue Ansätze bei der europäischen Rechtsetzung, bei den Schwerpunktsetzungen und bei der Kompetenzabgrenzung.
Die Europäische Union befindet sich derzeit in einer Akzeptanzkrise. Was sind die Gründe? Uns allen sind sie bekannt: die hohe Regelungsdichte - einer der Hauptkritikpunkte - und die große Harmonisierungswut. Ein weiterer Punkt: Über die Entscheidungsverfahren bei der Gesetzgebung in der Europäischen Union weiß die Öffentlichkeit so gut wie nicht Bescheid. Umfassende Kontrolle und demokratische Legitimation des Gesetzgebers sind derzeit auf europäischer Ebene nicht ausreichend verwirklicht. Sie haben darauf hingewiesen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Crux ist im Augenblick doch, daß die Europäische Union viel zu große Kompetenzen dort hat, wo es heute vielleicht nicht mehr sinnvoll ist, und dort, wo der Bürger es erwartet - ich nenne die Bereiche Verbrechensbekämpfung, gemeinsames Asylrecht, wirksame Außen- und Sicherheitspolitik -, noch nicht die Kompetenzen hat, die notwendig sind.
Die Erwartungen an die Regierungskonferenz sind groß. Sie haben einige Leitlinien aufgezeigt. Ich möchte Ihnen einige Kernaussagen nach Turin mitgeben.
Die Europäische Union ist kein Überstaat, sondern ein Staatenverbund. Wir brauchen in der Europäischen Union eine klarere Kompetenzabgrenzung zwischen der europäischen Ebene, den Mitgliedstaaten sowie den Regionen und Ländern. Die Europäische Union muß sich dabei viel stärker als bisher auf ihre Kernzuständigkeiten beschränken. Das Subsidiaritätsprinzip muß klarer als bisher im Vertrag formuliert werden und einklagbar sein. Ein Tätigwerden der Europäischen Union darf nur auf der Grundlage von eindeutigen Kompetenzen, nicht, wie jetzt, auf der Grundlage von Zielsetzungen erfolgen. Das würde eigentlich eine europäische Funktionalreform notwendig machen. - Ich habe nicht die Zeit, darzustellen, wie diese aussehen könnte. Wir sollten dieses Thema aufgreifen.
Ein weiterer Punkt: die Frage der Legitimation der europäischen Rechtsetzung. Herr Staatsminister, die Legitimation der europäischen Gesetzgebung ergibt sich zuerst aus der nationalen Ebene, über die nationalen Parlamente in den Ministerrat hinein, und, wie das Bundesverfassungsgericht sagt, auf europäischer Ebene - begleitend - über das Europäische Parlament. So sollte es sein. Wie sieht die Wirklichkeit aus?
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, der Deutsche Bundestag hat zur Verwirklichung des Binnenmarktes 280 europäische Gesetzgebungsrichtlinien, die in jeden Haushalt unserer Bürger hineinwirken, zur Kenntnis genommen, vielfach zwei bis drei Jahre nach deren Einführung. Wir haben keine effektiven Kontroll- und Mitwirkungsrechte.
Ich nenne einen weiteren Punkt: die Kontrolle des europäischen Haushalts. Die Kontrolle des europäischen Haushalts - Deutschland überweist jährlich 40 Milliarden DM - ist bis heute sowohl dem Europäischen Parlament als auch dem Deutschen Bundestag weitestgehend vorenthalten. Wer hat sich denn mit dem Bericht des Europäischen Rechnungshofes ernsthaft auseinandergesetzt? - Keine zuverlässigen Klärungen durch den Europäischen Rechnungshof hinsichtlich der Rechnungsführung der
Dr. Gerd Müller
Europäischen Union. Wir streiten hier im Haushaltsausschuß zu Recht über Millionenbeträge auf der europäischen Ebene - -
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Onur?
Gerne.
Vielen Dank. - Herr Kollege Müller, ist es richtig, daß sich der Deutsche Bundestag in der letzten Legislaturperiode das sicherlich noch nicht ausreichende, aber immerhin doch bemerkenswerte Recht erkämpft hat, vor Entscheidungen in den Ministerräten entsprechende Weisungen für die Fachminister bzw. die Bundesregierung zu erarbeiten? Ist es nicht richtig, diese Möglichkeit zu nutzen? Sind Sie mit mir einer Meinung, daß es unverantwortlich ist, wenn man dieses Recht mit dem Hinweis auf Beratungsbedarf nicht nutzt, obwohl man weiß, daß die Entsenderichtlinie am 29. März auf der Tagesordnung des Ministerrates steht?
Dr. Gerd Müller CDU/CSU): Frau Kollegin, über die Notwendigkeit der Kontrolle und Mitwirkung an der europäischen Gesetzgebung, die den Kern der Staatlichkeit in Zukunft noch stärker betreffen wird, als es bisher schon der Fall war, sollte unter allen Abgeordneten des Deutschen Bundestages Konsens bestehen sowie darüber, daß wir hier stärker mitreden und mitentscheiden wollen. Ich gehe mit Ihnen konform, darauf zu drängen, daß die Europapolitik nicht mehr Teil der Außenpolitik ist und diplomatisch nicht mehr so behandelt werden kann, wie dies bisher geschehen ist.
Der Deutsche Bundestag hat sich im Zuge der Verfassungsänderung Rechte erstritten. Ich begrüße, daß die Bundesregierung diesem Beratungs- und Mitwirkungsrecht im Europaausschuß in den letzten Monaten zunehmend entgegengekommen ist. Ich gebe Ihnen aber recht: Da kann sich und muß sich noch Vieles verbessern.
Ich möchte auf einen weiteren Punkt hinweisen, der in der Debatte noch nicht angesprochen wurde. Unsere Personalpolitik bezüglich der Europäischen Union muß verbessert werden. Dies ist ein wichtiger, zentraler Punkt. Ein Viertel der Einwohner der EU kommen aus Deutschland, ein Drittel des Haushalts kommt aus deutschen Kassen; wir stellen aber nur 14 Prozent der europäischen Beamten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, dies ist ein wichtiges, zentrales Thema, um Einfluß und Mitwirkung auch auf europäischer Ebene sicherzustellen.
Ich möchte zum Schluß sagen: Wir brauchen die Konzentration auf die wesentlichen Aufgabenfelder.
Ich erspare mir, jetzt noch etwas zu den Beiträgen der Opposition zu sagen. Sie sind im wesentlichen an dem vorbeigegangen, was Gegenstand der Beratungen der Regierungskonferenz ist. Das war eigentlich etwas schade.
Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/4002, 13/4072 und 13/ 4074 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10a und 10 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze
- Drucksache 13/3696 -
b) Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Pflege-Versicherungsgesetzes
- Drucksache 13/99 -
zu a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
zu b) Zweite Beschlußempfehlung und zweiter Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
- Drucksachen 13/1845, 13/4091 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Karl-Josef Laumann
Ich weise darauf hin, daß wir im Anschluß an die Aussprache über den Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen namentlich abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste hat die Abgeordnete Schnieber-Jastram das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben viel und heftig in den Fraktionen gestritten, in unserer eigenen, aber auch über die Fraktionsgrenzen hinweg. Wir haben aber auch konstruktiv über dieses Änderungsgesetz beraten. Ich hoffe, daß wir heute versuchen, in einer so wichtigen Frage eine sachliche Diskussion hinzubekommen.
Birgit Schnieber-Jastram
Es ist uns nicht leichtgefallen, das Gesetz so zu verabschieden. Bei dieser Gelegenheit möchte ich auch einmal sagen: Der Staatssekretär im Ministerium hat uns das auch nicht leicht gemacht. Lieber Herr Jung, ich weiß nicht, ob Sie wissen, daß Ihr Spitzname allgemein „Jungbulle Karl" lautet. Ich habe gelernt, was das heißt. Ich habe mich nicht nur über Sie geärgert, sondern mich sehr häufig auch gefreut. Ich denke, daß Ihre Standfestigkeit und Ihre Diskussionsfreude uns allen sehr gutgetan haben.
Wir haben Pläne und Berechnungen aufgestellt und auch wieder verworfen.
Die entscheidenden Knackpunkte, die uns alle beschäftigt haben, waren: Wie regeln wir die Kosten der Behandlungspflege und die Grundpflege für die schwerbehinderten Mitbürger in den stationären Einrichtungen?
Vor diesem Hintergrund spielen natürlich Art. 3 des Grundgesetzes und auch die rechtliche Stellungnahme des Bundesministeriums der Justiz in dieser Diskussion eine große Rolle. Relevant sind sicher auch finanzielle Probleme. In einer Zeit, in der Leistungsgesetze nicht sonderlich populär sind, in der die Diskussion um Leistungskürzungen uns Sozialpolitiker besonders drückt - da sind auch Sie gefordert, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD -, sind finanzielle Argumente natürlich besonders wichtig.
Vor diesem Hintergrund - das sage ich hier ganz deutlich - sind wir froh, daß dieses Gesetz jetzt auf den Weg gebracht ist.
Es garantiert den Behinderten in vollem Umfang die bisherigen Leistungen und Ansprüche. Ich möchte Ihnen nur einmal zur Erinnerung sagen: Die Behindertenverbände selbst haben in der Anhörung Ende Februar bestätigt, daß einen behinderten Menschen, der in einem Behindertenwohnheim wohnt, der Rentenzuzahler ist oder dessen Wohnplatz voll über die Sozialhilfe finanziert wird, durch den Änderungsvorschlag keinerlei Nachteile entstehen.
Die Eingliederungshilfe wird für diesen Personenkreis, dem die allermeisten Menschen in stationären Einrichtungen angehören, weiterhin die anfallenden Kosten übernehmen. Dazu verpflichtet nicht nur dieses Gesetz, Herr Andres. Von einer Einbeziehung in die Pflegeversicherung - das wissen auch Sie - würden nur die Selbstzahler, 1 Prozent der Behinderten in stationären Einrichtungen, etwas haben.
Eines ist klar: Auch wenn die Kassenlage der Pflegeversicherung momentan erfreulich gut ist, so gibt es unverändert überhaupt keinen Spielraum für eine
Erhöhung des Beitragssatzes von 1,7 Prozentpunkten.
Der Beitragssatz ist festgeschrieben und muß auf lange Zeit festgeschrieben bleiben. Die Pflegeversicherung muß solide finanziert sein, und die Leistungen - das ist der Punkt - müssen kalkulierbar bleiben. Eine Erhöhung der Beiträge kommt schon allein wegen der von allen Fraktionen geforderten Senkung der Lohnnebenkosten überhaupt nicht in Frage. Selbst bei dem von den Verbänden vorgeschlagenen Modell einer 20 : 80-Aufteilung zwischen Pflegeversicherung und Eingliederungshilfe sind die Kosten natürlich beträchtlich. Gerade über diesen Vorschlag haben auch wir in der Fraktion mit erheblichen Pros und Kontras ungeheuer gestritten.
Ihr Vorschlag, meine Damen und Herren von der SPD, den Sie leider übrigens sehr kurzfristig eingebracht haben und der vorsieht, die Herausnahme der Hotelkosten und der Investitionskosten zu veranlassen und dadurch die Beteiligung geringer zu halten, nützt dem einzelnen überhaupt nichts.
Er sieht noch nicht einmal, Herr Andres, daß Sie Geld aus der Pflegeversicherung kriegen. Das ist ein Verschiebebahnhof zwischen Sozialhilfe und Pflegeversicherung.
Es ist oft gesagt worden, daß es sehr schwierig ist, hier eine Abgrenzung vorzunehmen: Wo hört Pflege auf, und wo fängt Eingliederung an? Wer sagt uns heute, daß die Sozialhilfeträger, nachdem sie sich anfangs beteiligt haben, nicht morgen hier stehen und sagen: Moment mal, der Anteil ist doch viel größer. Wir brauchen 30 oder 40 Prozent? - Wir haben dieses Problem nicht schlüssig klären können. Wir haben lange nach einer Regelung für diesen Bereich gesucht; wir haben bis heute keine schlüssige Regelung gefunden. Auch Ihre ist es nicht.
Es wäre eine eklatante Ungerechtigkeit, wenn Behinderte in Einrichtungen Pflegeversicherungsbeiträge zu zahlen hätten und von Leistungen ausgeschlossen blieben. Wir haben im Gesetz geregelt: Wenn einer in einer Einrichtung ist und keine Leistungen bekommt, muß er auch nicht zahlen. Das ist die richtige Konsequenz. Ich bin sehr sicher, daß sich für die behinderten Mitmenschen in den Einrichtungen keine Änderungen ergeben werden.
- Ich bestreite nicht eine Sekunde, daß ich und viele in unserer Fraktion große Probleme mit dieser Regelung gehabt haben. Ich habe das zu Beginn meiner Ausführungen gesagt. Man muß sich allerdings hinterher den schlüssigen Argumenten der Justiz und anderer Einrichtungen öffnen und fragen: Wollen wir
Birgit Schnieber-Jastram
eine Versicherung, die übermorgen gescheitert ist, oder wollen wir eine Versicherungsform, die langfristig tragfähig ist?
Ich will diese Pflegeversicherung. Ich bin froh, daß wir diesen Gesetzentwurf heute so einbringen konnten. Ich hoffe, daß er über lange Zeit tragfähig ist und daß wir damit in der 2. Stufe der Pflegeversicherung einen guten Schritt weiter sind.
Das Wort hat jetzt der Kollege Gerd Andres.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die SPD-Bundestagsfraktion wird in zweiter und dritter Lesung das Gesetz zur Änderung der Pflegeversicherung ablehnen.
Frau Schnieber-Jastram, ich finde es schon beeindruckend, wenn Sie darstellen, wie Sie mit sich gerungen haben, wie Ihre Fraktion gerungen hat, welche Bedenken und Schwierigkeiten Sie gehabt haben. Es gibt ein kleines Problem: Sie handeln, Sie haben hier eine Mehrheit. Aber Sie legen hier einen Vorschlag vor, der auf den einhelligen Widerstand aller Behindertenverbände und aller Wohlfahrtsverbände gestoßen ist.
Nach dem Willen der Koalition sollen mit diesem Gesetz erreicht werden: erstens die Sicherstellung einer reibungslosen Umsetzung der zweiten Pflegestufe, zweitens Verbesserungen von Leistungen und Korrekturen von Regelungen im Gesetz im Lichte der Erfahrungen mit der ersten Pflegestufe, und drittens soll durch Klarstellung einzelner Vorschriften erreicht werden, die Pflegeversicherung vor finanziellen Mehrbelastungen zu schützen, die mit dem vorgegebenen Finanzrahmen unvereinbar sind.
Um es gleich vorweg zu sagen: Ihre selbst formulierte Zielsetzung wird nur in wenigen Punkten erreicht. In Wahrheit beschränken Sie die Rechte von Versicherten und Leistungsberechtigten; in Wahrheit bürden Sie der Pflegeversicherung zusätzliche Kosten auf, die mittelbar auf die Sozialhilfe durchschlagen werden; in Wahrheit produzieren Sie neue Kosten für die Pflegeversicherung durch unsachgemäße Abgrenzung zur Sozialhilfe und durch Ausgrenzung stationär versorgter Behinderter.
Sicherlich werden die Redner der Koalition - wir haben das ja gerade schon erlebt - die Leistungsgrenzen der Pflegeversicherung beschwören und auf die unbestreitbar notwendige Beitragssatzstabilität verweisen. Deshalb erkläre ich für die SPD-Bundestagsfraktion: Keine ernstzunehmende politische Kraft in diesem Hause hat die Absicht, die vorgegebene Beitragshöhe von 1,7 Prozentpunkten bei Umsetzung der 2. Stufe der Pflegeversicherung zu verändern. Auch die SPD hat das Interesse, im Umfang des vorgegebenen Beitragsvolumens von 31,4 Milliarden DM für 1997 die Leistungen der Pflegeversicherung so zu strukturieren und auszugestalten, daß die soziale Pflegeversicherung nicht gefährdet wird und der Beitragssatz stabil bleibt.
Nicht umsonst haben Sie dieses Gesetz binnen drei Sitzungswochen durch den Bundestag gejagt, wissen Sie doch nur zu genau, daß es wegen der Ablehnung der Länder im Vermittlungsausschuß landen wird. Deshalb ist die Beschlußfassung heute durch den Deutschen Bundestag auch nur die erste Etappe - nicht nur für dieses Gesetz, sondern auch für die Umsetzung der zweiten Pflegestufe insgesamt.
Für uns ist dieses Gesetz aus mehreren Gründen nicht zustimmungsfähig.
Erstens. Systemwidrig wird die sogenannte Behandlungspflege nach wochenlangem Gezerre zwischen Arbeitsminister Blüm und Gesundheitsminister Seehofer nun der Pflegeversicherung untergeschoben. Ein Leistungsumfang von 800 Millionen bis 1 Milliarde DM wird damit den gedeckelten Pflegeleistungen im stationären Bereich zugerechnet und schlägt mittelbar auf die Sozialhilfe durch.
Zweitens. Mit dem neuen § 71 Abs. 4 grenzen Sie rund 140 000 Behinderte, die in stationären Einrichtungen untergebracht sind, aus den Leistungen der Pflegeversicherung völlig aus. Dabei nehmen Sie billigend in Kauf, daß über Jahre entwickelte Strukturen der Behindertenbetreuung und -versorgung nach einer solchen gesetzlichen Regelung faktisch zerschlagen werden. Wir wollen das nicht. Deswegen lehnen wir diese Ausgrenzung entschieden ab.
Schon unsere Erfahrung mit der Umsetzung des Art. 51 hat uns gelehrt, daß die schwierigen Abgrenzungsprobleme zwischen der Pflegeversicherung, dem Bundessozialhilfegesetz und der Krankenversicherung nicht auf dem Rücken der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen ausgetragen werden dürfen. Auch für die SPD ist klar: Leistungen der Eingliederungshilfe dürfen nicht an die Pflegeversicherung abgeschoben werden. Aber genauso klar ist, daß Leistungen, die bisher im Bundessozialhilfegesetz unter dem Kapitel „Hilfe zur Pflege" gewährt wurden und nun im Pflegeversicherungsgesetz geregelt werden, eben auch über das Pflegeversicherungsgesetz abgewickelt werden müssen. Deshalb dürfen Behinderte von diesen Leistungen nicht ausgeschlossen werden.
Drittens. Die Ausgrenzung stationärer Behinderteneinrichtungen ist auch der wahre Grund für Ihre Weigerung, den Begriff der Pflegefachkraft vernünftig zu definieren. Ihn nur zu begrenzen auf die Alten-, Kranken- und Kinderkrankenpflege - dies sind die Berufsgruppen, die Sie als Pflegefachkräfte zulassen wollen - grenzt große Berufsgruppen, die seit Jahrzehnten die gesellschaftlich wichtige Pflegearbeit leisten, aus. Sie nehmen damit billigend in Kauf, daß Träger durch den Druck der Verhältnisse gezwungen werden, ihr Personal umzustrukturieren, um damit den Bedingungen des Gesetzes gerecht zu
Gerd Andres
werden. Mit dieser Konstruktion lösen Sie kein Problem, sondern Sie schaffen für die Einrichtungen und für die Pflegebedürftigen viele neue Probleme.
Viertens. Seit Monaten verhindern Sie eine Regelung, mit der die selbstorganisierte Pflege Behinderter als Assistenzpflege oder nach dem Arbeitgebermodell abgesichert werden könnte. Schon nach dem geltenden Gesetz wäre dies mit gutem Willen ohne jede Gesetzesänderung möglich. Nach eigener Angabe geht der Bundesarbeitsminister - ich zitiere aus einer schriftlichen Vorlage - „von bundesweit 500 angenommenen Arbeitgebermodellen und maximal jährlichen Kosten in Höhe von 7,8 Millionen DM aus". Selbst bei Gewährung von Pflegesachleistungen entstünden nur geringe Mehrkosten.
Ich weiß sehr wohl, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß sich mit diesem Modell prinzipielle Fragen der Abgrenzung für die Pflegeversicherung ergeben können. Allerdings wäre bei gutem Willen und bei unverändertem Gesetzestext jetzt schon eine Lösung möglich. Sie wollten aber mit aller Gewalt die Arbeitgebermodelle unterbinden. Darauf weist auch die parallele Änderung in § 3 a des Bundessozialhilfegesetzes hin.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, jeder einzelne dieser Punkte reicht aus, Ihren Gesetzentwurf abzulehnen. Wir haben im Beratungsverfahren zu diesen Punkten Änderungsanträge eingebracht, die abgelehnt wurden.
Wir wollen durch eine sachgerechte Änderung des § 37 des Krankenversicherungsgesetzes die Behandlungspflege systemgerecht der Krankenversicherung zuordnen. Da gehört sie hin. Schon seit 1988 werden die Kosten für die Behandlungspflege systemwidrig stillschweigend in die Pflegesätze eingerechnet und damit zum Teil auch an die Sozialhilfe weitergereicht oder, bei Selbstzahlern, als zusätzliche Belastung neben dem Krankenversicherungsbeitrag abgefordert.
Wir wollen den Begriff der Pflegefachkraft nicht nur auf Kranken-, Kinderkranken- und Altenpfleger begrenzen, sondern Heilerzieher und Heilerziehungspfleger ausdrücklich einbeziehen.
Wir lehnen die Ausgrenzung Behinderter, die in stationären Einrichtungen leben, aus der Pflegeversicherung entschieden ab. Unser Änderungsvorschlag im Gesetzgebungsverfahren ist praktikabel und weit von den geschätzten Horrorkosten des Bundesarbeitsministers entfernt. Uns geht es darum, den Menschen in diesen Einrichtungen systemkonform die Pflegeleistungen zu ermöglichen, die nicht in der Sozialhilfe verbleiben dürfen, die im Gegenteil zum Leistungspaket der Pflegeversicherung gehören.
Der Bundesarbeitsminister hat die Kosten überschlägig mit 1,5 Milliarden DM beziffert. Nimmt man die sogenannten Hotelkosten und die Investitionskosten heraus und beziffert man den Kostenanteil für Pflegeleistungen pauschal mit 20 Prozent, sind es in Wahrheit rund 600 Millionen DM.
Würde man einen individualisierten Anspruch mit der folgenden Einstufung der Betroffenen durch die medizinischen Dienste in Pflegestufen zugrunde legen, wären die realen Kosten wahrscheinlich noch geringer.
Wir wollen das Arbeitgebermodell vernünftig und kalkulierbar absichern. Deshalb haben wir den Änderungsvorschlag zu § 77 der Spitzenvertretungen der Behinderten- und Wohlfahrtsorganisationen übernommen.
Ich will nicht verschweigen, daß es auch gute Regelungen im vorliegenden Gesetzentwurf gibt. Es wäre ja gelogen, wenn man nicht auch das sagte. Dazu gehört, daß der Auslandsaufenthalt von Pflegebedürftigen bis zu sechs Wochen Dauer vernünftig geregelt ist. Dazu gehört, daß die Pflegegeldleistungen bei kurzzeitigem Krankenhausaufenthalt oder kurzzeitiger Rehabilitation nicht unterbrochen werden. Dazu gehören nach meiner Auffassung beispielsweise die Übergangsbestimmungen für die Heimentgelte, die für die nächsten eineinhalb Jahre gelten sollen und die für die Pflegestufe I mit 2 000 DM, für die Pflegestufe II mit 2 500 DM und für die Pflegestufe III mit 2 800 DM festgelegt sind. Eine Reihe anderer Einzelregelungen findet ebenfalls unsere Zustimmung.
Nach einer Meldung des Landkreistages vom 11. März 1996 geht die Zahl der Einweisungen in Pflegeheime seit Inkrafttreten der ersten Stufe der Pflegeversicherung zurück.
Ich sage: Das ist gut so. Nach der selben Meldung steigt der Bedarf an Einrichtungen für Kurzzeit- und Tagespflege. Das ist ein Hinweis darauf, wo wir noch etwas zu leisten haben. Von besonderem Interesse ist die Feststellung des Landkreistages, daß sich nach dem derzeitigen Stand der Begutachtungen durch den medizinischen Dienst der Pflegekassen herausstellt, daß möglicherweise 20 bis 30 Prozent der rund 450 000 Heimbewohner nicht pflegebedürftig im Sinne der Pflegeversicherung seien.
Bei der Verabschiedung des Pflege-Versicherungsgesetzes im Frühjahr 1995 war der Bundesarbeitsminister davon ausgegangen, daß man bei rund 410 000 Pflegebedürftigen - also 90 Prozent der insgesamt 450 000 Pflegebedürftigen - und den durchschnittlich zugrunde gelegten Jahresleistungen in Höhe von 30 000 DM mit einem Finanzvolumen von 13 Milliarden DM rechnen müsse. So ist kalkuliert worden. Wenn man nun aber sieht, daß die Durchschnittszahlen wahrscheinlich darunter liegen werden, und wenn man feststellen kann, daß auf die sogenannte Pflegestufe 0 nach den Begutachtungen ein wesentlich höherer Prozentsatz entfallen wird, kann man davon ausgehen, daß für die zweite Stufe, die Umsetzung der stationären Versorgung, 13 Milliarden DM kaum verbraucht werden.
Deswegen sage ich Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren: Wer es bei einem Betrag von rund 700 Millionen DM hinnimmt, daß faktisch 140 000 Behinderte in diesem Land aus der Pflegeversicherung ausgegrenzt werden, der darf sich nicht
Gerd Andres
wundern, wenn ihm der versammelte Protest sämtlicher einschlägiger Organisationen um die Ohren fliegt.
Zentrale Regelungen dieses Gesetzentwurfes werden von den Ländern nicht mitgetragen. Der Gesetzentwurf wird jetzt sozusagen in der ersten Etappe beraten. Herr Bundesarbeitsminister, ich sage Ihnen jetzt schon: Wir sprechen uns in dieser Angelegenheit wieder.
Die SPD lehnt diesen Gesetzentwurf ganz entschieden ab.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Marieluise Beck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat 1982 ihr Amt übernommen und eine sozialpolitische Maxime ausgegeben, daß nämlich die sozialen Leistungen auf die wirklich Hilfsbedürftigen konzentriert werden müßten und daß das Gießkannenprinzip nicht weiter die Ultima ratio der Sozialpolitik sein könne. Seitdem haben wir viele Gesetzesänderungen erlebt, deren Adressaten sozial Bedürftige in dieser Gesellschaft waren, Arbeitslose, Asylbewerber, Sozialhilfeempfänger. Sie haben immer auf der Seite der Verlierer gestanden.
Das Prinzip, Sozialpolitik auf die wirklich Hilfsbedürftigen auszurichten, konnte diese Regierung nicht durchhalten. Das hat sicher viel mit der F.D.P. zu tun - das wissen Sozialpolitiker untereinander;
manchmal kann man fast etwas Erbarmen mit den Sozialpolitikern in der CDU haben -, weil immer auch die Maxime der Subventionierung der Besserverdienenden mit auf der Tagesordnung gestanden hat.
Es geht um die Frage, ob man der Situation der wirklich Hilfsbedürftigen, der Pflegebedürftigen mit einem Gesetz Rechnung tragen kann. Wir Grünen haben über Jahre hinweg ein steuerfinanziertes Pflegegesetz gefordert, und wir fühlen uns jetzt bestätigt. Steuerfinanzierung bedeutet nämlich nicht nur eine gerechtere Beitragserhebung, sondern auch die Möglichkeit, wirklich bedarfsorientiert Geld- und Sachleistungen zu verteilen.
Sie haben sich nun für den Weg der Versicherungslösung entschieden und können damit nicht nach dem Bedarfsprinzip handeln, sondern müssen alle Leistungen unabhängig von der Einkommenssituation der Betroffenen ausschütten. Das führt dazu, daß das jetzt vorliegende Modell - ob Sie es wollen oder nicht - zu einem Programm zur Rettung von Erbschaften und Vermögen wird und daß bei der Leistungszumessung das finanzielle Hemd immer zu kurz ist.
Sie haben bei allen Einzelfragen der Ausgestaltung des Gesetzes an diesem Systemfehler zu knakken gehabt. Das Gebäude ist ins Wanken gekommen; denn beides - die Realisierung der Versicherungsansprüche aller und die ausreichende Hilfe für die wirklich Hilfsbedürftigen - gleichzeitig ist mit einem stabilen Beitragssatz - und das ist der dritte Eckstein - nicht vereinbar.
Insofern hat sich die Bundesregierung jetzt so entschieden, wie wir es in den vergangenen 13 Jahren oft erlebt haben: Sie hat sich auch auf die Seite derjenigen geschlagen, die materiell abgesichert sind, und hat dafür die anderen im Regen stehenlassen müssen. Für eine Konzentration der Leistungen auf die wirklich Hilfsbedürftigen gab es deswegen keine Möglichkeit mehr.
Das findet sich in dem vorliegenden Gesetzentwurf immer und immer wieder; es zieht sich wie ein roter Faden durch. Der Leistungskatalog der Pflegeversicherung wird um die Kosten der sozialen Betreuung und der Behandlungspflege ausgeweitet. Das ist ausgesprochen systemwidrig; denn bei der Behandlungspflege handelt es sich eindeutig um Kosten für die Krankenversicherung. Das weiß Minister Blüm ja auch, aber er hat im Kampf zwischen Seehofer und ihm leider nicht gesiegt.
Nun ist das Leistungsvolumen auf 2 500 DM monatlich festgelegt. Damit muß der Anteil der pflegebedürftigen Heimbewohner, die trotz der Pflegeversicherung weiterhin in der Sozialhilfe bleiben, nach wie vor groß sein. Es ist zu erwarten, daß dieser Anteil sogar größer wird.
Die dunkelste Seite dieses Gesetzentwurfes ist aber die Art und Weise, wie mit behinderten Menschen umgesprungen wird; darauf ist Kollege Andres eben schon eingegangen. Pflegebedürftige, die in Behinderteneinrichtungen leben, werden von den Leistungen der Pflegeversicherung vollständig abgeschnitten, selbst dann, wenn sie vorher im Berufsleben gestanden und Beiträge gezahlt haben. Meine Damen und Herren, man muß sich diese unterschiedliche Behandlung von unterschiedlichen Gruppen von Menschen in dieser Gesellschaft wirklich einmal klarmachen. Das bedeutet nämlich in der Konsequenz, daß Behinderte anders als andere Mitglieder der Pflegeversicherung behandelt werden.
Es hat sehr differenzierte und realitätsbezogene Vorschläge von den Wohlfahrtsverbänden und den Behindertenorganisationen gegeben; sie haben einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt. Sie haben diese Vorschläge aber als lästige Störung abgetan,
Marieluise Beck
weil das fragile Gebäude zwischen der F.D.P. und der CDU/CSU durch nichts gestört werden durfte. Frau Birgit Schnieber-Jastram, Sie wissen - Sie haben es auch zugegeben -, daß dort die Achillesferse des Gesetzes ist. Aber das Gebäude war so fragil, daß kein Buchstabe an diesem Gesetz geändert werden durfte, weil Sie sonst Angst haben mußten, es nicht mehr über die Runden zu kriegen.
Diese Entscheidung dokumentiert eine wegwerfende Stimmung gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht behinderter Menschen.
Das zeigt sich in dem zweiten wichtigen Punkt: Sie waren nicht bereit, dem Arbeitgebermodell zuzustimmen. Es gibt eine zwar kleine, aber immerhin eine Gruppe von Behinderten, die sich nicht länger den Dienstplänen professioneller Dienste und Heime unterordnen wollte und ihre Pflege selbst organisiert hat. Mit ein bißchen gutem Willen wäre es möglich gewesen, dieses Modell in das vorliegende Pflegegesetz einzufügen. Die Vorschläge lagen vor. Auch dem haben Sie sich verwehrt.
Drittens haben Sie angefangen, Pflegestandards auf breiter Front abzusenken, und zwar nicht nur im Pflegegesetz, sondern durch die vermeintlich nur rechtssystematische Angleichung im BSHG. Sie haben den weiten Pflegebegriff im BSHG verengt und parallelisiert zum Pflegegesetz und damit kommunikative und psychosoziale Hilfen, die im BSHG als Teil von Pflege genannt wurden, gestrichen. Damit ist der enge Pflegebegriff, der nur die Grundpflege und die hauswirtschaftliche Betreuung umfaßt, jetzt auch ins BSHG eingeführt und damit die Tendenz nach unten vorprogrammiert.
Dies alles haben Sie gemacht und machen müssen, weil Sie diesem Gesetz vom Systemansatz her nicht die Idee „Hilfe für die wirklich Hilfsbedürftigen" zugrunde gelegt haben, sondern von der Kostenseite her Politik machen und dem alle Notwendigkeiten unterordnen mußten.
Das Schlimme dabei ist, daß Sie sich tatsächlich dazu durchgerungen haben, Behinderte nicht gleichberechtigt mit anderen Pflegebedürftigen zu behandeln. Diese Entscheidung ist ein Baustein in der vielfältigen Diskriminierung, mit der Behinderte in unserer Gesellschaft überall zu kämpfen haben. Das darf eine solidarische Gesellschaft, das darf auch ein solidarisch denkendes Parlament nicht zulassen. Ich hoffe, daß besonders dieser Passus im Vermittlungsausschuß nicht standhält.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gisela Babel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag berät heute in zweiter und in dritter Lesung das Erste SGB- Änderungsgesetz, leicht zu verwechseln mit dem Gesetz zur zweiten Stufe der Pflegeversicherung; darum geht es nicht. Es geht um die ersten Reparaturen an dem Gesetz, das wir gemeinsam beschlossen haben.
Wenn hier moniert wird, daß es ein Gesetz ist, das von der Kostenseite her bestimmt ist, dann muß ich Ihnen sagen: Das ist in der Tat die Aufgabe, unter der wir heute Politik machen müssen. Das ist keine bequeme Politik. Es ist vielleicht auch eine Politik, der sich die Grünen als letzte stellen können. Aber wer die Dinge ernsthaft bedenkt, weiß, daß es uns darum gehen muß, die Pflegeversicherung in der Dimension zu halten, in der wir sie einvernehmlich geplant haben, nämlich mit einem Geldvolumen von 1,7 Prozent Beitrag. Darüber waren wir uns einig. Ich bin froh, daß auch die SPD sagt, daß das der Rahmen bleiben soll, in dem sich alle unsere Änderungsbemühungen abspielen müssen.
Im Hinblick auf die 1,7 Prozent Beitrag stehen wir vor Konflikten bei der Abgrenzung. Wir müssen entscheiden, was mit den Kosten geschehen soll, die für die medizinische Darreichung entstehen. Wir müssen entscheiden, wie die Behandlungspflege finanziert werden soll. Wie ist die Behandlungspflege vorher finanziert worden? Sie ist vorher nicht als Leistung der Krankenversicherung finanziert worden. Weder von den Grünen noch von der SPD ist jemals beantragt worden, die medizinischen Kosten in den Pflegeheimen der Krankenversicherung aufzuerlegen. Noch niemals haben Sie einen solchen Antrag gestellt.
Bei der Pflegeversicherung kommen Sie jetzt auf einmal auf die Idee, zu sagen: Das geht doch nur, wenn es die Krankenversicherung übernimmt. Die Krankenversicherung müßte Mehrkosten von 1 Milliarde DM zahlen. Herr Andres, es gab in Ihrer Fraktion über diese Frage unterschiedliche Meinungen. Die Fraktion hat sich mehrheitlich zugunsten Ihrer Meinung entschieden. Aber die Tatsache, daß man einer anderen Sozialversicherung plötzlich neue Kosten in der Größenordnung von 1 Milliarde DM aufbürdet, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wie es dort mit den Beitragssätzen aussieht, halte ich für leichtfertig.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Andres?
Nein, ich möchte das gern zu Ende führen.
Es ist die Frage, ob es sinnvoll ist, das in die Pflegeversicherung hineinzunehmen und nicht von vornherein zu sagen, dieser Bereich bleibt so geregelt wie vorher: Der einzelne zahlt selber, oder es wird Sozialhilfe gezahlt, wenn Sozialhilfebedürftigkeit vorliegt. Aber daß wir sagen, wir machen das in der Krankenversicherung, ohne sich darüber Gedanken zu machen, wie es dort zu finanzieren ist, halte ich für eine Politik der Verschiebung. Die können wir nicht mehr machen. Das ist der eine Punkt.
Der zweite Punkt ist die Abgrenzung in Richtung Sozialhilfe für die Behinderten. Dies ist ein heikler Punkt. Ich weiß, daß es sich Behindertenverbände zur Aufgabe machen, sich in allen Fragen, die die Behinderten betreffen, auch zum Anwalt zu machen, um deren Situation, soweit es geht, zu verbessern. Ich will diese Aufgabe auch nicht in Abrede stellen. Aber zu sagen, Frau Beck, daß das, was wir hier machen, eine bewußte Diskriminierung von Behinderten darstellt, finde ich unerhört. Ich finde das wirklich infam.
Vom Behinderten aus gesehen ist es richtig - das haben wir mit Blick auf das Sozialsystem meiner Ansicht nach zu Recht gesagt -, daß der erste Ansatz Eingliederungshilfen für Behinderte sein müssen. Behinderte sollen Fähigkeiten erwerben oder wieder erwerben, die ihnen die Teilnahme am Leben ermöglichten. Wir sollten nicht in erster Linie sagen: Sie sollen gepflegt werden. Natürlich müssen sie gepflegt werden. Natürlich werden sie in Deutschland auch gepflegt. Es gibt keinen Fall, wo ein Behinderter keine Pflege erhält. Es ist aber für uns moderne Sozialpolitik, daß Behinderte in erster Linie Leistungen der Eingliederungshilfe bekommen.
Jetzt kommt das schwierige Thema, ob es die Möglichkeit einer Abgrenzung gibt, eine einheitliche Behandlung sozusagen zu zerreißen und zu sagen, dies ist eine Maßnahme, die wir der Eingliederungshilfe zuordnen, und dies ist eine Maßnahme, die wir der Pflege zuordnen. Natürlich brächte das sehr unmenschliche Erwägungen und schwierige Auseinandersetzungen mit sich. Die Frage ist also, wie das in einer Einrichtung mit zwei Finanzträgern abgerechnet wird.
Wenn Sie heute einmal die Leiter solcher Einrichtungen fragen, dann werden sie Ihnen bestätigen, daß es goldrichtig war, was wir hier gemacht haben, daß wir eine klare Regelung getroffen haben, die es ermöglicht zu sagen: Es bleibt bei der Eingliederungshilfe, und es bleibt bei der Finanzierung der Eingliederungshilfe. Insofern - ich sage es noch einmal - kann es nicht angehen, daß man behauptet, Behinderte würden in ihrer Pflege, in ihrer Behandlung in irgendeiner Weise herabgestuft. Das ist nicht der Fall.
Meine Damen und Herren, jetzt geht es um das Thema, ob die Pflegeversicherung hier leisten soll. Man kann eine Pflegeversicherung natürlich so ausgestalten, daß sie das leistet. Das wollen wir nicht leugnen. Die Frage ist, ob die Eingliederungshilfe in diesen finanziellen Rahmen hineinpaßt. Es ergibt sich, daß wir den Spielraum für das dort erforderliche Geld nicht haben.
Ich finde es sehr interessant, wenn auf den Vermittlungsausschuß hingewiesen und gesagt wird, dann werden wir das dort durchsetzen. Der Vermittlungsausschuß kann vieles. Er macht auch viel Unsinniges. Eines kann er aber nicht: Er kann kein Geld drucken. Er hat keine Möglichkeiten, Finanzmittel herbeizuschaffen, sondern er muß sich einfügen in den einvernehmlichen Rahmen von Pflegegeld in der Größenordnung von 1,7 Prozent Beitrag. Deswegen warne ich an dieser Stelle davor; im Vermittlungsausschuß werden wir den Rahmen schon ausdehnen.
Sie kennen auch die Präzedenzwirkung, die die Einbeziehung von Behinderten in stationären Einrichtungen, in Werkstätten und anderen Bereichen für die Pflegekasse mit sich bringt. Insofern finde ich die Einigung auf die Regelung, die nicht leicht zu vertreten ist, gut.
Frau Schnieber-Jastram, es spricht für Sie, daß Sie sich sehr tapfer zu dieser Mehrheitsmeinung bekannt und zugegeben haben, daß es Ihnen Schwierigkeiten bereitet hat. Es ist aber eben schwierig, und wir werden immer Schwierigkeiten bekommen, die Abgrenzungen so vorzunehmen, daß wir uns in dem finanziellen Rahmen bewegen können. Wir müssen uns auf Fachleute verlassen können, die uns sagen, daß das nicht mehr getragen werden kann. Es ist doch klar: Wenn wir es könnten, würden wir auch andere Entscheidungen treffen.
Ein weiterer Punkt. Wir haben bei der Pflegeversicherung die Kosten auf die Grundpflege und konsequent auch auf die Pflegefachkraft zu beschränken, auf diejenigen, die sich nur mit Pflege befassen und nicht mit Heilpädagogik, nicht mit Heilerziehung. Wir haben diese Abgrenzung sehr klar gezogen. Wir wollen auch keinen Verschiebebahnhof mit Blick auf die Zielbestimmungen einer Einrichtung, der sich danach bestimmt, wo sie Geld bekommt. Das kann nicht der Sinn unserer Pflegeversicherung sein.
Im Zusammenhang mit Bürokratieabbau ist ein weiterer Punkt - das hat sogar Kollege Andres gelobt -, daß wir für die Übergangszeit sehr klare Pauschalsätze festgelegt haben. Ich möchte davor warnen, daß man nun glaubt, mit diesen Pauschalsätzen auch die Zukunft zu bestehen. Wir wollen damit in der Übergangszeit Erfahrungen sammeln, wie die Pflegeverträge aussehen. Das kann in einem Fall etwas mehr, im anderen Fall etwas weniger sein. Aber wir wollen die Flexibilität erhalten und nicht von vornherein für alle Zukunft für alle Pflegeversiche-
Dr. Gisela Babel
rungen in ganz Deutschland dieselben Sätze vorschreiben. Ich halte das für eine vernünftige Lösung.
Ich komme zum Schluß. Wir haben mit diesem Änderungsgesetz im wesentlichen Vorsorge dafür getroffen, daß die Pflegekasse mit 1,7 Prozent als Beitrag ihre Leistungen im ambulanten und stationären Bereich bezahlen kann. Wer mehr will, muß sagen, wie es zu bezahlen ist. Die Sozialdemokraten möchten zum Beispiel die Behandlungspflege den Krankenkassen aufbürden, deren Beitragssätze dann steigen werden. Wichtig ist, daß die Politik in der jetzigen Lage die richtigen Signale aussendet.
Es ist ein schwieriges Geschäft. Es wird allein der Koalition und der Bundesregierung überlassen. Die Opposition entzieht sich der Verantwortung -
Frau Kollegin, Sie müssen jetzt wirklich zum Schluß kommen.
- und gaukelt der Öffentlichkeit bei allen Gelegenheiten vor, Geld sei genügend vorhanden.
Mit dieser Politik werden Sie nie Regierungsverantwortung übernehmen.
Jetzt hat die Kollegin Petra Bläss das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die parlamentarische Debatte um die heute zu beschließende Novellierung des Pflege-Versicherungsgesetzes war an Hektik, Zeitknappheit und Konfusion wohl kaum noch zu überbieten. Es war der besonnenen Art der Leitung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung durch die Kollegin Ulrike Mascher zu verdanken, daß die Abgeordneten der Koalition zeitweise überhaupt noch wußten, welche Änderungsanträge gerade gültig und zur Beratung aufgerufen waren.
Zur Beschlußfassung steht heute die Änderung der Änderungsanträge zum Ersten Änderungsgesetz zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch. Ich denke, das wirft ein bezeichnendes Licht auf dieses Gesetzgebungsverfahren. Auch die von Wut und Aufregung gekennzeichneten Reaktionen einiger Koalitionsabgeordneter zu den Voten der mitberatenden Ausschüsse sprechen nicht gerade für gesetzgeberische Seriosität und schon gar nicht für ein überzeugendes Demokratieverständnis. Nichts wurde ausgelassen, um eine fundierte Berücksichtigung der Hinweise des Rechtsausschusses zu verhindern.
Einmal mehr wurden die Stellungnahmen der Behindertenverbände ignoriert und damit ihre Mitwirkung am Gesetzgebungsprozeß verhindert. Schon fast symbolisch wurde eine der wenigen gangbaren
Regelungen des Koalitionsentwurfes wieder rückgängig gemacht. Statt die klare und eindeutige Regelung in § 13 zur Aufhebung des Nachrangs der Eingliederungshilfe und anderer Regelungen zur Pflegeversicherung konsequent auszubauen, korrigierte die Koalition ihre Meinung. Der bisher unbefriedigende Zustand wurde bewußt wiederhergestellt. Eine Klage- und Eingabenflut ist damit bereits vorprogrammiert.
Daneben - scheinbar unbeabsichtigt - wird mit diesem Gesetz ein verstärkter Impuls zur Umstrukturierung und Umbenennung der Einrichtungen der Behindertenhilfe gegeben. Veränderungen und Verschlechterungen gab es bereits reichlich. Die Vertreterinnen und Vertreter der Verbände bezogen sich in der Anhörung am 28. Februar 1996 auf diese Tendenzen und machten auf die massiv drohenden Gefahren aufmerksam. Der Bundesverband für Körper- und Mehrfachbehinderte warnt, daß
wegen des uneingeschränkt geltenden Nachrangs der Zweck der sozialen Rehabilitation nicht
einmal im Vordergrund der Einrichtung zu stehen
braucht,
um dem Sozialhilfeträger einen Druck auf die Einrichtung zu ermöglichen, sich
teilweise
in eine Pflegeeinrichtung umzustrukturieren.
Das Ganze geschieht dann natürlich mit einem sich schleichend verändernden Konzept: weg von der pädagogisch geprägten Hilfe hin zur medizinisch dominierten Pflege. Da die Koalitionsparteien alle Hinweise und Informationen zu den in Gang gesetzten Umstrukturierungen wegreden, bleibt nur eine Schlußfolgerung: Diese Umstrukturierung ist beabsichtigt.
Schon vor einem Jahr hat die PDS in diesem Hause darauf hingewiesen, daß die Koalition die Pflegeversicherung nutzt, um historisch gewachsene und bewährte Strukturen und Hilfeformen in der Alten- und Behindertenhilfe zu zerschlagen. Leider bestätigen sich unsere Befürchtungen. Die von Minister Blüm beschworene neue Kultur des Helfens und der Pflege erweist sich in der Realität als eine „Satt-sauberstill" -Pflege. Sowohl die Pflegeversicherung als auch dieses Änderungsgesetz schreiben die Verabschiedung vom Bedarfsdeckungsprinzip fest.
Die von den Oppositionsfraktionen vorgelegten Änderungsanträge sind fast wörtlich dem Alternativentwurf der Behindertenverbände entnommen. Bei der Anhörung am 28. Februar 1996 haben die Verbände angemahnt, einfach einmal zur Kenntnis zu nehmen, daß sein Zustandekommen
eine einmalige Solidaritätskampagne aller hier am Tisch Sitzenden war, der Versuch, einen vernünftigen Kompromiß, aus dem Dilemma zu finden. Wir erwarten eigentlich von der Politik, daß sie die nötige Sensibilität besitzt, um hier dieses einhellige Votum der Betroffenen- und Behindertenverbände umzusetzen.
Petra Bläss
Wenn die Koalitionsparteien die Änderungsanträge von SPD und Bündnis 90/Die Grünen ablehnen, entscheiden sie sich also zugleich auch gegen den Kompromißvorschlag der Verbände, der sich noch dazu im vorgegebenen Finanzvolumen bewegt.
Was hindert Sie eigentlich, Impulse von Betroffenen, die nachweislich über die größte Sachkunde verfügen, aufzunehmen?
Bezeichnend ist, daß die Bundesregierung immer mehr zu dirigistischen Instrumenten und Methoden greift, um ihre Politik zu Lasten behinderter, alter und sozial schwacher Menschen durchzuziehen. Die PDS lehnt deshalb die Ermächtigung des BMA zur uneingeschränkten Weisungsbefugnis in bezug auf die Richtlinien für die Pflegeversicherung ab.
Wir wenden uns auch gegen die vorgesehenen Veränderungen in § 68 BSHG. In Verbindung mit der bereits vom Bundestag beschlossenen Novellierung des Sozialhilferechts werden die für die Alten- und Behindertenhilfe ohnehin verheerenden Entwicklungen noch verschärft. Statt die ohnehin nicht einmal die Grundversorgung sichernde Pflegeversicherung weiter nach unten hin zu novellieren, sollte sie ausgebaut werden in Richtung einer wirklichen Bedarfsgerechtheit für die Betroffenen.
Die PDS lehnt daher das zur Abstimmung stehende Änderungsgesetz ab.
Es spricht jetzt der Abgeordnete Karl-Josef Laumann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Bläss, zu jemandem, der bei den Ausschußberatungen über dieses Pflege-Versicherungsänderungsgesetz nicht mehr durchgeblickt hat, kann ich nur sagen: Wenn man sich die Behinderteneinrichtungen in den neuen Bundesländern anschaut, weiß man, wieviel Sympathien Ihre politische Mutter, die SED, für behinderte Menschen hatte. Das müssen Sie sich bei dieser Frage schon anhören.
Mit dem Gesetz, das wir heute debattieren, schafft der Deutsche Bundestag die Voraussetzungen dafür - davon bin ich fest überzeugt -, daß die zweite Stufe der Pflegeversicherung ohne große Probleme einen reibungslosen Übergang für die Betroffenen ermöglicht, sowohl für die Menschen, die in den stationären Einrichtungen gepflegt werden müssen, wie für diejenigen, die dort arbeiten.
Dafür sorgen alleine die zeitlich befristeten Übergangsvorschriften, die ja auch in den Ausschußberatungen unumstritten waren: Wir wollen für eine bestimmte Zeit in den drei Pflegestufen pauschale Sätze an die stationären Einrichtungen zahlen. Das muß allerdings auch bedeuten, daß sich die Beteiligten, insbesondere die Pflegekassen, um die Kostenstrukturen in den Pflegeheimen kümmern. Ich habe den Eindruck, daß in vielen Pflegeheimen die anfallenden Kosten bislang einfach aufsummiert wurden und man daraus die Pflegesätze errechnete. Ich möchte schon, daß in diesem Bereich ein starker Druck in Richtung eines wirtschaftlichen, verantwortbaren Handelns entsteht.
Wir konnten aus diesem Pflege-Versicherungsänderungsgesetz natürlich - ich sage es einmal ganz deutlich - keine Wundertüte machen, weil für uns klar war, daß wir mit einem Beitrag von 1,7 Prozent auskommen müssen. Ich glaube, man muß sich, wenn das funktionieren soll, über notwendige Abgrenzungen zwischen Pflegeversicherung und BSHG unterhalten.
Wahr ist auch, daß das BSHG drei Säulen hat. Die eine Säule sind die Leistungen zum laufenden Lebensunterhalt, eine weitere Säule ist die Eingliederungshilfe, und die dritte Säule ist die Pflege. Das haben wir bislang alles über die Sozialhilfe finanziert. Für die dritte Säule haben wir mit der Pflegeversicherung eine Versicherungslösung geschaffen. Da übernehmen wir auch überall die Kosten.
Aber genauso wichtig ist es dann doch, daß wir in dem Bereich der Eingliederungshilfe, dort, wo vor allen Dingen Eingliederungshilfe geleistet wird, klar trennen. Nur aus diesem Grund halte ich, was die Behindertenwohnheime angeht, die zweifelsohne zu 80/90 Prozent ihrer Arbeit Eingliederungshilfe machen, es auch für verantwortbar, sie aus der Pflegeversicherung herauszunehmen, um ein Kompetenzwirrwarr zweier verschiedener Sicherungssysteme zu verhindern.
Wenn man es so sieht, ist auch ein wenig mehr Akzeptanz für unsere Überlegungen zu erreichen, denn der einzelne Behinderte wird durch diese Lösung nicht schlechtergestellt, als wenn wir ihn mit in diese Leistungen genommen hätten.
Ich sehe nicht ein, einfach ohne Bedenken hier wieder 600, 700, 800 Millionen DM an die Sozialhilfe beitragsfinanziert hinüberzuschaufeln.
Ein weiterer Punkt ist - das wird jetzt im Vermittlungsausschuß mit diesem Gesetz sicherlich eine Rolle spielen -, daß man sich auch über etwas unterhalten muß, was in diesem Gesetz gar nicht steht und dort gar nicht stehen konnte. Das sind die Investitionskosten. An der Front sollte auch die Opposition nicht anfangen - ich sage es einmal ganz deutlich -„herumzueiern".
Karl-Josef Laumann
Hier ist nämlich der entscheidende Punkt, ob es uns gelingt, den Eckrentner aus der Sozialhilfe herauszuholen oder nicht. Wenn wir in der schwierigsten Pflegestufe 2 800 DM zahlen und etwa 2 000 DM Rente zur Verfügung stehen, hat der Betreffende 4 800 DM in der Hand. Wer 4 800 DM in der Hand hat, für den ist es entscheidend, ob der Investitionskostensatz, der im Pflegesatz enthalten ist, bei 900 DM oder bei 200 DM liegt. Es ist die ganz entscheidende Frage, ob es uns gelingt, die Leute, die als Handwerker, als tüchtige Arbeitnehmer 40, 45 Jahre in diesem Land gearbeitet haben - das ist nämlich in Wahrheit der Eckrentner -, im Alter aus der Sozialhilfe herauszuholen oder nicht. Das ist für mich die entscheidendste Frage von alledem, was ansteht.
Hier kann ich nur - ich sage das zum Abschluß sehr deutlich - den Bundesrat bitten, daß er sich bewegt. Denn eines sage ich Ihnen: Für eine Pflegeversicherung, die nicht den Eckrentner aus der Sozialhilfe holt, wird es am Ende - ich kann das zunächst nur für mich sagen - meine Zustimmung in diesem Bundestag nicht geben. Ein Plündern der Arbeitnehmerrenten, um im Alter eine Erbschaftssicherungsversicherung für den Mittelstand zu haben, war nicht das Ziel, das wir gemeinsam hatten, als wir die Pflegeversicherung geschaffen haben. Deswegen müssen die Länder in den Fragen der Investitionskosten springen.
Ich bedauere es sehr, daß Sie, Herr Kollege Andres, der ich Sie sonst aus der Arbeiterbewegung sehr schätze, nicht mehr den Mut haben, in dieser Frage in Ihrer Fraktion und hier im Parlament Tacheles zu reden, damit wir den Eckrentner aus der Sozialhilfe holen.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt die Vorsitzende des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, die Kollegin Ulrike Mascher.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Die heutige Tagesordnung zeigt für mich erneut, wie stark die taktischen Überlegungen der Regierungskoalition unsere parlamentarische Arbeit bestimmen. Um 9 Uhr diskutieren wir über drei Stunden den Religionsunterricht in Brandenburg, und jetzt, am frühen Nachmittag, vor einem immerhin mittelmäßig besetzten Haus
und als Abgesang nach drei harten Arbeitswochen im Parlament wird die Pflegeversicherung beraten. Da geht es ja nur um die Lebenssituation von 410 000 behinderten Menschen in stationären Einrichtungen.
Da geht es um die selbstbestimmte Lebensform von schwerstbehinderten Menschen.
Ich kritisiere nicht, daß die heutige Beratung der Pflegeversicherung nicht unter die Dampfwalze der wahltaktisch geprägten Debatten der letzten Wochen geraten ist, aber ich bin besorgt, daß Themen, die unmittelbar die Lebenssituation von Menschen in einer schwierigen Lebenslage betreffen, so am Rand unser parlamentarischen Arbeit plaziert werden.
Hier geht es nicht nur um ein hochspezialisiertes Thema einiger Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker, nein, es geht um die immer neu zu beantwortende Frage: Wie geht die Politik, wie geht das Parlament mit kleinen Gruppen in unserer Gesellschaft um, die den besonderen Schutz, die besondere Beachtung in ihrer schwierigen Lebenssituation brauchen und für die wir alle die große Anstrengung der Neugestaltung einer sozialen Absicherung ihres Pflegebedarfs gemacht haben.
Jeder und jede Abgeordnete weiß aus Gesprächen oder aus Briefen von Pflebedürftigen und ihren Familienangehörigen, wie notwendig die Korrektur und die Ergänzung der Pflegeversicherung ist. Alle Diskussionen mit Wohlfahrtsverbänden und Betroffenenorganisationen zeigen, es gibt Nachbesserungsbedarf, zum Beispiel bei der Arbeit der medizinischen Dienste, bei der Verzahnung und Abgrenzung der Pflegeversicherung und Eingliederungshilfe von Behinderten, die im Bundessozialhilfegesetz angesiedelt ist.
Wir müssen erreichen, daß bei der Einführung der zweiten Stufe der Pflegeversicherung das Versprechen, niemand soll durch die Pflegeversicherung schlechtergestellt werden als bisher, realisiert werden kann. Noch etwas sollten wir aus der Einführung der ersten Stufe gelernt haben: Die Pflegeversicherung darf nicht zum Arbeitsbeschaffungsprogramm an der falschen Stelle, nämlich bei den Sozialgerichten, werden.
Ich bedaure es deshalb als Ausschußvorsitzende, daß das Votum des Rechtsausschusses von der CDU/ CSU-F.D.P.-Mehrheit nicht weiter beraten wurde.
Ich halte es nicht für klug, den Hinweis des Rechtsausschusses auf mögliche Prozeßrisiken nach der Maxime Mehrheit ist Mehrheit vom Tisch zu wischen und das Angebot des Staatssekretärs, eine präzisere Formulierung zu versuchen, einfach zu überhören. Wieder einmal führt erheblicher Zeitdruck dazu, daß ein Gesetz mit heißer Nadel genäht wird.
Auch der sachliche Gehalt des ersten Änderungsgesetzes ist von befürchteten Finanzengpässen und Kostendeckeln bestimmt ebenso wie von der Angst vor Mißbrauch und einer unterschwelligen Frontstellung zu den Betroffenenverbänden und einem Ver-
Ulrike Mascher
schiebebahnhof der Kosten zwischen Kranken- und Pflegeversicherung.
Die Betroffenen und ihre Familien mit ihren Ängsten und Sorgen, die Träger von Einrichtungen und die dort Beschäftigten mit ihren Erfahrungen und Vorschlägen verschwinden aus der Debatte. Die großen Wohlfahrtsverbände und die Betroffenenverbände haben sich alle gegen die Ausgrenzung von behinderten Menschen aus den Leistungen der Pflegeversicherung im stationären Bereich ausgesprochen. Das ist nicht nur eine materielle Frage, sondern es hat einen hohen symbolischen Wert.
Die SPD hat deshalb, wie mein Kollege Andres dargestellt hat, einen Änderungsantrag, der sich an dem Alternativentwurf der Wohlfahrtsverbände orientiert, eingebracht. Auch wenn keine verfassungsrechtlichen Bedenken von seiten des Justizministeriums, wenn keine Bedenken der Einzelsachverständigen und auch keine Bedenken im Rechtsausschuß formuliert wurden, halte ich es für falsch, hier Ausgrenzung statt Integration zu praktizieren.
Bei der jetzigen Regelung entscheidet sich für Behinderte die Frage, ob die Pflegeversicherung für pflegerische Leistungen aufkommt, nicht nach der Pflegebedürftigkeit, sondern danach, in welcher Einrichtung er sich befindet. Das ist weder sachgerecht noch sozial gerechtfertigt.
Das Ergebnis des Verschiebebahnhofs zwischen Kranken- und Pflegeversicherung ist ein weiteres Beispiel für Flickschusterei. Ich kann nur ganz deutlich sagen: Eine ganz große Mehrheit in der SPD- Fraktion hat sich für den Änderungsantrag, die medizinische Behandlungspflege der Krankenversicherung zuzuordnen, ausgesprochen.
Im ambulanten Bereich werden Kosten der medizinischen Behandlungspflege von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen. Im stationären Bereich sollen diese Leistungen für krankenversicherte Pflegebedürftige von der Pflegeversicherung übernommen werden. Das bedeutet angesichts der auf maximal 2 800 DM begrenzten Pflegeleistungen häufig eine Verlagerung der Kosten auf den Pflegebedürftigen oder den Sozialhilfeträger, oder es schränkt - das finde ich besonders bedenklich - die Leistungen der sozialen Betreuung ein.
Für Pflegebedürftige in teilstationären Einrichtungen, zum Beispiel in Tagesheimen, wird es ganz abenteuerlich. Der Pflegebedürftige braucht morgens, noch zu Hause, eine Spritze; er erhält sie als Leistung der Krankenversicherung. Mittags, in der Tagesheimeinrichtung, gibt es, weil sie stationär ist, die medizinisch notwendige Spritze zu Lasten der Pflegeversicherung.
Abends, wieder zu Hause, also wieder im ambulanten Bereich, wird die letzte Spritze als medizinische Behandlungspflege eine Leistung der Krankenversicherung. Vielleicht können Sie von der Regierung das den Betroffenen erklären.
Vielen Abgeordneten sind die großen Einrichtungen für Behinderte, zum Beispiel Bethel, Neudettelsau in Bayern oder die Alsterdorfer Anstalten in Hamburg, ein Begriff. Viele von Ihnen kennen die Einrichtungen der Lebenshilfe oder sind Mitglied dieses Verbandes. Dort sind über Jahre hinweg ganzheitliche Angebote besonders für geistig und psychisch behinderte Menschen entwickelt worden. Dort haben sich qualifizierte Berufe wie Heilerzieherin oder Heilerziehungspfleger herausgebildet. Diese qualifizierten Berufe sind durch die Festlegung der Pflegeversicherung gefährdet. Die SPD will die Ausgrenzung von Berufsgruppen und damit die Gefährdung von Qualitätsstandards, die über Jahre hinweg im Interesse der Betroffenen entwickelt wurden, verhindern.
Für uns darf ganzheitliche Pflege nicht allein an medizinisch-krankenpflegerischen Verrichtungen und Standards orientiert werden. Wir lehnen deshalb auch nach den Ergebnissen der beiden Anhörungen die enge Definition der Pflegefachkraft im Gesetzentwurf der Koalition ab.
Frau Kollegin, einen kleinen Moment. - Ich bitte um ein bißchen mehr Ruhe für die Rednerin.
Mein Kollege Andres hat bereits deutlich gemacht, daß die SPD durch die Ergänzung des vorliegenden Gesetzentwurfes das Arbeitgeber- oder Assistenzmodell für eine selbstorganisierte Pflege besser absichern will. Das ist auch wegen der bereits erfolgten sehr restriktiven Regelung im Bundessozialhilfegesetz notwendig.
Alle Erklärungen und alle Bemühungen der Regierungsfraktionen können die Tatsache nicht vom Tisch wischen, daß die Realisierung dieser selbstbestimmten Lebensform schwerstbehinderter Menschen durch die Pflegeversicherung nicht erleichtert, sondern erschwert und möglicherweise gefährdet wird. Das belegen die Ergebnisse der letzten Anhörung. Warum sich die Abgeordneten aus den Koalitionsfraktionen mit Begriffen wie Rechtssicherheit oder Klarstellung gegen eine Regelung wenden, die für die kleine Zahl der Betroffenen existenzwichtig ist, kann ich nicht nachvollziehen.
Ulrike Mascher
Ich hätte mir gewünscht, daß die Abgeordneten der Regierungsfraktionen, die sicher nicht von dem Engagement dieser schwerstbehinderten Menschen bei der Verteidigung ihrer Lebensform unberührt geblieben sind, auch bei genauer Abwägung der Kosten - nach Aussage des Bundesarbeitsministers 7,8 Millionen DM - die Regelung entsprechend dem Alternativentwurf der Wohlfahrtsverbände wenigstens in diesem Punkt unterstützt hätten.
Vielleicht wäre Ihnen das leichter gefallen, wenn Sie die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom Mittwoch gekannt hätten. In einer Zeitung heißt es:
Behinderte dürfen ihre Pflege selbst organisieren
Sozialgericht hebt Beschränkung auf ambulante Dienste auf/Auch Privatverträge mit Kassen
Genau diese Punkte haben wir diskutiert; genau diese Punkte wollen wir in unserem Änderungsvorschlag regeln; genau diese Punkte haben Sie leider abgelehnt. Das Bundessozialgericht hat Sie schon eines Besseren belehrt.
Zum Schluß: Die SPD gefährdet mit ihren Änderungsanträgen nicht den Finanzrahmen der Pflegeversicherung. Wir wollen den Beitragssatz von 1,7 Prozent stabil halten. Aber wir sehen angesichts der Inanspruchnahme der Pflegeversicherung innerhalb des Kostenrahmens Raum für unsere Änderungsanträge, die sich auf die Erfahrungen der Betroffenen und der Wohlfahrtsverbände stützen.
Auch wenn Sie heute leider unsere Änderungsanträge ablehnen: Wir sind noch nicht am Ende der Beratungen angelangt. Denn die Länder haben jetzt die Möglichkeit, die notwendigen Korrekturen vorzunehmen. Ich kann Ihnen versichern, daß die Mitglieder der Bundestagsfraktion auch darauf achten werden, daß die Investitionskosten in angemessener Weise von den Ländern übernommen werden.
Danke.
Das Wort hat jetzt für die Bundesregierung der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Norbert Blüm.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die zweite Stufe der Pflegeversicherung kommt, so wie die erste gekommen ist. Auch die Einführung der zweiten Stufe der Pflegeversicherung wird mit Schwierigkeiten verbunden sein. Das ist nichts Neues in der Sozialgesetzgebung. Für das Neue fehlen die Erfahrungen. Deshalb muß man gerade bei der Einführung nachhelfen. Das ist bei jedem Einzug in ein neues Haus so. Warum soll das in der Sozialversicherung anders sein? Mit dem vorliegenden Gesetz versuchen wir, die Schwierigkeiten bei der Einführung zu mindern.
Ich sage Ihnen: Die zweite Stufe der Pflegeversicherung wird so erfolgreich sein wie die erste.
Meine Damen und Herren, Sie erinnern sich sicherlich noch an die Begleitmusik bei der Einführung der ersten Stufe der Pflegeversicherung: Die Anträge würden nicht abgearbeitet. - Die Anträge sind abgearbeitet. In diesem Zusammenhang möchte ich auch dem medizinischen Dienst meinen Dank sagen.
Pro Monat gibt es bei der Rentenversicherung 180 000 Antragseingänge. Um diese Anträge zu bearbeiten, braucht die Rentenversicherung 18 Wochen. Die Pflegeversicherung hat für 150 000 Anträge sechs Wochen gebraucht - dreimal kürzer als bei der bewährten Rentenversicherung. Meine Anerkennung!
- Ja, was anerkannt werden muß, das sollten auch Sie mit anerkennen.
1,2 Millionen Mitbürger erhalten jetzt zum erstenmal Hilfe oder erhalten jetzt mehr Hilfe als vorher.
Das ganze Protestieren und Debattieren wird ja überwunden durch diejenigen, die wissen, daß die Pflegeversicherung den Pflegebedürftigen und deren Angehörigen geholfen hat. Das wollen wir doch gemeinsam feststellen.
Die Finanzen der Pflegeversicherung sind gesichert. Wir haben eine Rücklage, nämlich solide 5,6 Milliarden DM, und dies trotz aller Ankündigungen, in denen von einem Defizit die Rede gewesen ist.
Die Zahl der Anträge auf stationäre Unterbringung geht zurück. Dies halte ich nicht nur für einen finanziellen Erfolg,
sondern vor allem auch für einen humanitären Erfolg,
weil die Menschen so lange, wie es möglich ist, in ihren vertrauten vier Wänden bleiben können, solange sie wollen.
Die Pflegeversicherung ist ein Beschäftigungsprogramm. 3 000 neue Pflegedienste haben mit der ersten Stufe der Pflegeversicherung ihre Arbeit aufgenommen.
Meine Damen und Herren, auch die zweite Stufe der Pflegeversicherung wird den Menschen helfen.
Frau Beck, hier wurde gesagt, das sei eine Erbschaftsentlastung. Dazu möchte ich Ihnen mit Hinweis auf die bisherigen Erfahrungen folgendes sa-
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
gen: In den Pflegeheimen scheinen die Millionäre nicht zu liegen; denn anderenfalls hätte die Sozialhilfe das Geld bei den Angehörigen zurückholen können.
Die Millionäre, von denen Sie hier sprechen, sehe ich da also nicht. Gleichwohl gibt es Gott sei dank auch in der älteren Generation Eigentum. Die Hälfte der Seniorenhaushalte hat kein Grundvermögen; die Hälfte der Seniorenhaushalte hat durchschnittlich lediglich 10 000 DM Geldvermögen; die Hälfte der alleinlebenden Senioren hat nur 10 000 DM Gesamtvermögen.
Es war also wichtig, eine soziale Frage mit einer Sozialversicherung zu beantworten. Ich bin allerdings dagegen, daß im Zusammenhang mit allen sozialen Angelegenheiten die Frage der Bedürftigkeit gestellt wird. Wir bekommen den Schnüffelstaat, wenn wir überall fragen: Bedürftig oder nicht? - Wir fragen: Hast du Beiträge gezahlt? Dann hast du auch einen Anspruch.
Das ist unser Verständnis von einer selbständigen Sozialpolitik.
- Auch denen helfen wir mit einer Pflegeversicherung; wir helfen allen.
Damit komme ich zu der Frage, was das Gesetz regeln soll. Dabei geht es um folgendes: Kein Heimbewohner muß fürchten, daß er mit Einführung der zweiten Stufe der Pflegeversicherung seinen Platz verliert, weil er den Anforderungen der Pflegestufen nicht entspricht.
Ein weiterer Punkt. Die Behinderten stehen ja heutzutage ganz besonders im Vordergrund. Da stelle ich einmal die Frage: Wie wird den Behinderten in den Behinderteneinrichtungen geholfen, wenn Ihr Antrag beschlossen wird? - Gar nicht wird ihnen geholfen.
Sie reichen lediglich 600 Millionen DM von der Pflegeversicherung an die Behinderteneinrichtungen weiter, und Sie entlasten die Sozialhilfe, aber keinem Behinderten wird geholfen. Die 600 Millionen DM fehlen uns aber in der Pflegeversicherung.
Dieses Geld brauchen wir erstens für die Sicherstellung der Finanzen. Zweitens ist es ja so, daß das Geld, welches wir in der Kasse haben, nicht verschwindet. Dieses Geld gibt uns den Spielraum, der es uns ermöglicht, Leistungsanpassungen vorzunehmen.
Ich kündige solche Leistungsanpassungen nicht an. Dazu muß zunächst die nötige Sicherheit gewährleistet sein, muß zunächst das sichere Fundament, und zwar nicht auf Grund einer Prognose, sondern auf Grund der tatsächlichen Kassenlage, vorhanden sein.
Keine Mark, die wir hier sparen, geht den Pflegebedürftigen verloren. Ihr Antrag sorgt nur dafür, daß 600 Millionen DM den Behinderteneinrichtungen zugute kommen. Ich wünsche diesen Einrichtungen alles Geld. Nur muß man die Pflegeversicherung von der Arbeit der Behinderteneinrichtungen unterscheiden.
In diesem Zusammenhang noch etwas, damit kein falscher Ton in die Anerkennung der verdienstvollen Arbeit für die Behinderten hineinkommt. Im Vordergrund dieser Arbeit steht die Integration. Das ist eine andere Aufgabe als die Pflege. Die Pflege ist eine Unterstützung bei den Verrichtungen des Alltags, eine Unterstützung. Im Vordergrund der Behindertenarbeit steht Integration, pädagogisch, sozial und medizinisch.
Meine Damen und Herren, wenn Sie das Arbeitgebermodell Ihrem Antrag entsprechend zulassen, dann gibt es in der Pflegeversicherung keine Geldleistungen mehr; dann stellt jeder mit seinem Pfleger ein Arbeitsverhältnis her und hat damit Anspruch auf Sachleistungen.
Meine Damen und Herren, ein alter Grundsatz besagt: Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.
Mit dem Spruch will ich Sie aber gar nicht konfrontieren, sondern mit dem Spruch: Nicht jeder gute Vorsatz hilft demjenigen, dem er helfen soll.
Es genügt nicht, ein gutes Herz zu haben. Es ist auch wichtig, daß wir eine solide Finanzpolitik, eine solide Sozialpolitik machen.
Deshalb können wir keine Mark mehr ausgeben, als in der Kasse ist. 1,7 Prozent Beitrag ist für uns die absolute Grenze. Insofern müssen wir eine Pflegeversicherung schaffen, die nicht in die Verlegenheit kommt, schon ein Jahr nach Einführung der zweiten Stufe Geld nachfordern zu müssen. Das darf uns nicht passieren.
Ich habe etwas sehr vermißt. Bei Ihnen, Frau Mascher, hätte das noch ein bißchen kräftiger ausfallen können; bei Herrn Andres kam es nicht vor. Suchmeldung: Wo war Ihr Appell an die Länder, das, was sie zugesagt haben, auch einzuhalten?
Die Länder drücken sich vor den Investitionskosten, und sie drücken sich auf dem Rücken der Pflegebedürftigen. Meine Damen und Herren, das muß doch hier im Bundestag einmütige Meinung sein. Wir sind
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
um so glaubwürdiger, wenn hier keine taktischen Spiele gemacht werden,
wenn das, was durch die Länder für den Fall zugesagt war, daß wir auf duale Finanzierung umsteigen, auch eingehalten wird und die Länder ihren Anteil übernehmen.
Wir haben die Pflegeversicherung nicht eingerichtet, um die Länderkassen zu entlasten. Das war nicht der Sinn der Pflegeversicherung.
Das ist im übrigen nicht langweilig. Ich wünsche mir von Ihnen ein klares Bekenntnis dazu, daß die Länder ihre Verpflichtungen einhalten,
auch aus dem Grund, weil wir in diesem Fall mehr Pflegebedürftige aus der Sozialhilfe herausholen, als wenn die Länder Fahnenflucht begehen.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, dem Gesetzentwurf zuzustimmen.
Ich bedanke mich beim Ausschuß, auch bei Ihnen, Frau Vorsitzende, für die Beratung dieses nicht einfachen Gesetzentwurfs. Das Gesetz dient der Einführung der zweiten Stufe. Die zweite Stufe muß kommen, damit wir auch nicht den Streit darüber bekommen: Wer ist für die ambulante Pflege zuständig, und wer ist für die stationäre Pflege zuständig? - In jenem Zwischenbereich zwischen ambulanter und stationärer Pflege gibt es vieles. Wenn dann nicht geklärt ist, daß das aus einer Hand zu bezahlen ist, wird an diesen Übergängen ein ständiger Zuständigkeitskrieg stattfinden. Das dürfen wir den Pflegebedürftigen nicht zumuten. Ich glaube, daß gerade die Infrastruktur nachbarschaftlicher Hilfen - Kurzzeitpflege-, Tagespflegeplätze - die große Aufgabe der Zukunft ist. Deshalb: Pflegeversicherung aus einer Hand.
Deshalb mein Dank für die Unterstützung. Die zweite Stufe muß kommen.
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. eingebrachten Entwurf
- Moment! - zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze; Drucksachen 13/ 3696 und 13/4091 Nr. 1.
- Moment! Wir müssen erst per Handzeichen abstimmen. Damit ich eine Übersicht habe, müssen Sie wieder auf die Plätze gehen. - Ich habe versucht, darauf hinzuweisen.
Ich bitte also diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen! - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen worden.
Dritte Beratung und Schlußabstimmung.
Die Fraktion der CDU/CSU verlangt namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.
Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung. *)
Ich möchte die Geschäftsführer darauf hinweisen, daß wir noch zwei Abstimmungen haben.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist der Fall. -
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall.
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekanntgegeben. Über den noch anstehenden Antrag der Grünen können wir erst abstimmen, wenn wir das Ergebnis der namentlichen Abstimmung haben. Das ist das Problem. Wir setzen darum die Beratungen fort.
Ich rufe, ohne Tagesordnungspunkt 10 abzuschließen, Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Andrea Lederer, Heinrich Graf von Einsiedel, Dr. Willibald Jacob und der weiteren Abgeordneten der PDS
Kriege und bewaffnete Konflikte in Europa und in der Welt
- Drucksachen 13/636, 13/2982 -
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat war für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Gruppe der PDS fünf Minuten erhalten sollte. Inzwischen ist interfraktionell vereinbart worden, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. **) Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Wir können Tagesordnungspunkt 11 damit abschließen.
Wir kehren zu Tagesordnungspunkt 10 zurück. Da wir jetzt auf das Ergebnis der namentlichen Abstimmung warten müssen, unterbreche ich die Sitzung.
*) Ergebnis Seite 8607 A **) Anlage 3
Die Sitzung ist wieder eröffnet.
Wir kommen zurück zu Tagesordnungspunkt 10. Ich gebe das von den Schriftführern und Schriftführerinnen ermittelte Ergebnis der namentlichen Schlußabstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze - Pflegefachkräfte - auf den Drucksachen 13/3696 und 13/4091 Nr. 1 bekannt. Abgegebene Stimmen: 518. Mit Ja haben gestimmt: 300. Mit Nein haben gestimmt: 216. Enthaltungen: 2.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 518;
ja: 300
nein: 216
enthalten: 2
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Peter Altmaier
Anneliese Augustin Jürgen Augustinowitz Dietrich Austermann Heinz-Günter Bargfrede Franz Peter Basten
Dr. Wolf Bauer
Brigitte Baumeister
Dr. Sabine Bergmann-Pohl Hans-Dirk Bierling
Renate Blank
Dr. Heribert Blens Peter Bleser
Dr. Norbert Blüm Friedrich Bohl
Dr. Maria Böhmer Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch Klaus Brähmig
Rudolf Braun Paul Breuer
Georg Brunnhuber Klaus Bühler
Manfred Carstens Wolfgang Dehnel
Hubert Deittert
Albert Deß
Renate Diemers Wilhelm Dietzel Werner Dörflinger Hansjürgen Doss Dr. Alfred Dregger Maria Eichhorn
Wolfgang Engelmann Rainer Eppelmann Heinz Dieter Eßmann Anke Eymer
Ilse Falk
Jochen Feilcke
Dr. Karl H. Fell
Ulf Fink
Dirk Fischer
Leni Fischer
Klaus Francke Herbert Frankenhauser Dr. Gerhard Friedrich Erich G. Fritz Hans-Joachim Fuchtel Michaela Geiger
Norbert Geis
Dr. Heiner Geißler Michael Glos Wilma Glücklich
Dr. Reinhard Göhner Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer Joachim Gres Kurt-Dieter Grill Wolfgang Gröbl Hermann Gröhe Claus-Peter Grotz Manfred Grund
Horst Günther Carl-Detlev Freiherr von
Hammerstein
Gottfried Haschke
Otto Hauser Hansgeorg Hauser
Klaus-Jürgen Hedrich Helmut Heiderich Manfred Heise
Dr. Renate Hellwig Ernst Hinsken Peter Hintze
Josef Hollerith
Dr. Karl-Heinz Hornhues Siegfried Hornung Joachim Hörster
Hubert Hüppe Peter Jacoby
Susanne Jaffke Georg Janovsky Helmut Jawurek Dr.-Ing. Rainer Jork
Michael Jung Ulrich Junghanns
Dr. Harald Kahl Bartholomäus Kalb Steffen Kampeter Dr.-Ing. Dietmar Kansy Irmgard Karwatzki Volker Kauder
Peter Keller
Eckart von Klaeden
Dr. Bernd Klaußner
Hans Klein Ulrich Klinkert Hans-Ulrich Köhler
Norbert Königshofen Eva-Maria Kors
Hartmut Koschyk Manfred Koslowski Thomas Kossendey Rudolf Kraus
Wolfgang Krause Andreas Krautscheid
Arnulf Kriedner Heinz-Jürgen Kronberg Dr.-Ing. Paul Krüger
Reiner Krziskewitz Dr. Hermann Kues Werner Kuhn
Dr. Karl A. Lamers
Dr. Norbert Lammert Helmut Lamp
Armin Laschet Dr. Paul Laufs
Karl-Josef Laumann Werner Lensing Christian Lenzer Peter Letzgus Editha Limbach
Walter Link Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
Dr. Manfred Lischewski Wolfgang Lohmann
Julius Louven Sigrun Löwisch Heinrich Lummer Dr. Michael Luther
Erich Maaß Dr. Dietrich Mahlo
Erwin Marschewski Günter Marten
Dr. Martin Mayer
Wolfgang Meckelburg Rudolf Meinl
Friedrich Merz
Rudolf Meyer Hans Michelbach Meinolf Michels
Dr. Gerd Müller
Elmar Müller Engelbert Nelle
Bernd Neumann Johannes Nitsch
Claudia Nolte Dr. Rolf Olderog Friedhelm Ost Eduard Oswald
Norbert Otto
Dr. Gerhard Päselt Dr. Peter Paziorek Hans-Wilhelm Pesch
Ulrich Petzold Anton Pfeifer Angelika Pfeiffer Dr. Gero Pfennig
Dr. Friedbert Pflüger
Beatrix Philipp Ronald Pofalla
Dr. Hermann Pohler Ruprecht Polenz Marlies Pretzlaff
Dr. Albert Probst Dr. Bernd Protzner Dieter Pützhofen Thomas Rachel Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer Rolf Rau
Helmut Rauber Peter Harald Rauen Otto Regenspurger
Christa Reichard Klaus Dieter Reichardt
Dr. Bertold Reinartz Erika Reinhardt Hans-Peter Repnik Roland Richter Roland Richwien Dr. Norbert Rieder Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer Hannelore Rönsch
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith Adolf Roth
Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Volker Rühe
Dr. Jürgen Rüttgers
Roland Sauer Ortrun Schätzle
Dr. Wolfgang Schäuble Hartmut Schauerte Heinz Schemken Karl-Heinz Scherhag Gerhard Scheu Norbert Schindler Dietmar Schlee
Ulrich Schmalz Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt Dr.-Ing. Joachim Schmidt
Andreas Schmidt Hans-Otto Schmiedeberg Hans Peter Schmitz
Birgit Schnieber-Jastram
Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Rupert Scholz Reinhard Freiherr von
Schorlemer
Dr. Erika Schuchardt Wolfgang Schulhoff
Dr. Dieter Schulte
Gerhard Schulz (Leipzig) Frederick Schulze Diethard Schütze (Berlin) Clemens Schwalbe Wilhelm-Josef Sebastian Horst Seehofer Heinz-Georg Seiffert
Rudolf Seiters Johannes Selle Bernd Siebert Jürgen Sikora
Johannes Singhammer Bärbel Sothmann Margarete Späte Carl-Dieter Spranger Wolfgang Steiger Erika Steinbach Andreas Storm
Max Straubinger Matthäus Strebl Michael Stübgen Egon Susset
Dr. Rita Süssmuth Michael Teiser
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Dr. Susanne Tiemann
Dr. Klaus Töpfer Gottfried Tröger
Dr. Klaus-Dieter Uelhoff Gunnar Uldall
Dr. Horst Waffenschmidt
Dr. Theodor Waigel
Alois Graf von Waldburg-Zeil Kersten Wetzel
Hans-Otto Wilhelm Gert Willner
Bernd Wilz
Willy Wimmer Matthias Wissmann Dagmar Wöhrl Michael Wonneberger
Elke Wülfing
Peter Kurt Würzbach Cornelia Yzer Wolfgang Zeitlmann Wolfgang Zöller
F.D.P.
Ina Albowitz
Dr. Gisela Babel Hildebrecht Braun
Jörg van Essen Dr. Olaf Feldmann
Gisela Frick Rainer Funke
Hans-Dietrich Genscher
Dr. Karlheinz Guttmacher Ulrich Heinrich
Walter Hirche
Dr. Burkhard Hirsch
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Ulrich Irmer
Dr. Klaus Kinkel
Detlef Kleinert Dr. Heinrich L. Kolb
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Uwe Lühr
Günther Friedrich Nolting Dr. Rainer Ortleb
Lisa Peters
Dr. Günter Rexrodt
Dr. Klaus Röhl
Helmut Schäfer Cornelia Schmalz-Jacobsen Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler Carl-Ludwig Thiele
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Dr. Wolfgang Weng
Dr. Guido Westerwelle
Nein
CDU/CSU
Dr. Winfried Pinger SPD
Gerd Andres Robert Antretter
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett Klaus Barthel Ingrid Becker-Inglau
Wolfgang Behrendt Hans-Werner Bertl Friedhelm Julius Beucher Rudolf Bindig
Arne Börnsen Anni Brandt-Elsweier
Hans Martin Bury Wolf-Michael Catenhusen Peter Conradi
Christel Deichmann Karl Diller
Peter Dreßen
Rudolf Dreßler Ludwig Eich
Petra Ernstberger Elke Ferner
Lothar Fischer Gabriele Fograscher
Iris Follak
Norbert Formanski Dagmar Freitag Katrin Fuchs Arne Fuhrmann Monika Ganseforth Norbert Gansel Konrad Gilges
Dr. Peter Glotz Uwe Göllner
Angelika Graf Dieter Grasedieck Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann Manfred Hampel Dr. Liesel Hartenstein
Klaus Hasenfratz Reinhold Hemker Rolf Hempelmann Monika Heubaum
Reinhold Hiller Gerd Höfer
Jelena Hoffmann Ingrid Holzhüter
Erwin Horn
Eike Hovermann Gabriele Iwersen Renate Jäger Jann-Peter Janssen
Volker Jung Ernst Kastning Marianne Klappert Siegrun Klemmer
Dr. Hans-Hinrich Knaape Nicolette Kressl
Volker Kröning Thomas Krüger Horst Kubatschka Konrad Kunick Christine Kurzhals Werner Labsch Detlev von Larcher Klaus Lennartz
Dr. Elke Leonhard Christa Lörcher Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dieter Maaß
Dorle Marx
Ulrike Mascher Christoph Matschie Ingrid Matthäus-Maier Heide Mattischeck Markus Meckel Angelika Mertens
Dr. Jürgen Meyer Ursula Mogg
Jutta Müller
Christian Müller Volker Neumann (Bramsche) Gerhard Neumann (Gotha) Dr. Rolf Niese
Günter Oesinghaus Leyla Onur
Manfred Opel
Kurt Palis
Albrecht Papenroth Dr. Wilfried Penner Georg Pfannenstein Dr. Eckhart Pick
Rudolf Purps
Karin Rehbock-Zureich Margot von Renesse Renate Rennebach Otto Reschke
Bernd Reuter
Reinhold Robbe
Gerhard Rübenkönig Dr. Hansjörg Schäfer Dieter Schanz
Bernd Scheelen
Siegfried Scheffler Horst Schild
Otto Schily
Dieter Schloten
Günter Schluckebier Horst Schmidbauer
Ulla Schmidt Dagmar Schmidt (Meschede) Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Ottmar Schreiner
Dr. Mathias Schubert Richard Schuhmann
Reinhard Schultz
Volkmar Schultz Ilse Schumann
Dr. R. Werner Schuster
Dr. Angelica Schwall-Düren Bodo Seidenthal
Lisa Seuster
Erika Simm
Johannes Singer
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Wieland Sorge
Wolfgang Spanier Dr. Dietrich Sperling Jörg-Otto Spiller Antje-Marie Steen Dr. Peter Struck
Joachim Tappe
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim Franz Thönnes
Adelheid Tröscher Hans-Eberhard Urbaniak Siegfried Vergin
Ute Vogt Hans Georg Wagner Hans Wallow
Dr. Konstanze Wegner Wolfgang Weiermann Reinhard Weis Matthias Weisheit Gunter Weißgerber Jochen Welt
Lydia Westrich
Dr. Norbert Wieczorek Helmut Wieczorek Heidemarie Wieczorek-Zeul Dieter Wiefelspütz
Berthold Wittich
Dr. Wolfgang Wodarg Verena Wohlleben Heidi Wright
Uta Zapf
Dr. Christoph Zöpel Peter Zumkley
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
Gila Altmann Marieluise Beck (Bremen) Volker Beck (Köln)
Angelika Beer Matthias Berninger
Annelie Buntenbach
Amke Dietert-Scheuer Franziska Eichstädt-Bohlig Dr. Uschi Eid
Joseph Fischer Gerald Häfner
Antje Hermenau Kristin Heyne Ulrike Höfken Michaele Hustedt Dr. Manuel Kiper
Dr. Angelika Köster-Loßack Winfried Nachtwei
Christa Nickels Cern Özdemir Gerd Poppe
Simone Probst Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk Albert Schmidt Wolfgang Schmitt
Christian Sterzing Dr. Antje Vollmer Ludger Volmer
Helmut Wilhelm
PDS
Petra Bläss
Eva Bulling-Schröter Heinrich Graf von Einsiedel Dr. Ruth Fuchs
Dr. Gregor Gysi Hanns-Peter Hartmann
Dr. Uwe-Jens Heuer Dr. Barbara Höll
Dr. Willibald Jacob Gerhard Jüttemann
Dr. Heidi Knake-Werner Heidemarie Lüth Manfred Müller Rosel Neuhäuser Christina Schenk Steffen Tippach Klaus-Jürgen Warnick
Dr. Winfried Wolf
Enthalten
CDU/CSU
Dr. Egon Jüttner
F.D.P.
Dr. Irmgard Schwaetzer
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Der Gesetzentwurf ist damit angenommen worden.
Damit kommen wir zur Abstimmung über die zweite Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Entwurf der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen zur Ergänzung des Pflege-Versicherungsgesetzes auf Drucksache 13/ 4091 Nr. 2. Der Ausschuß empfiehlt, den Gesetzentwurf auf Drucksache 13/99 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenommen worden.
Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, 17. April 1996, 13.00 Uhr ein, aber nicht, ohne den Kollegen frohe Ostern gewünscht zu haben.
Die Sitzung ist geschlossen.