Gesamtes Protokol
Meine Damen, ich eröffne die Sitzung.
Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Themen der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: 1. ERP-Wirtschaftsplangesetz 1994, 2. Erfahrungsbericht des Bundesministeriums der Finanzen über die beschleunigte Grundstücksverwertung.
Bevor ich das Wort erteile, möchte ich fragen, vor wem die Bundesregierung denn sprechen soll. —
Ich denke, daß wir für kurze Zeit unterbrechen müssen. —
Wir unterbrechen für fünf Minuten, gegebenenfalls lassen wir diesen Tagesordnungspunkt ausfallen. Ich bitte die Bundesregierung um Verständnis, daß wir noch fünf Minuten warten, bevor ich entscheide, ob wir diesen Punkt ausfallen lassen.
Wir setzen die unterbrochene Sitzung fort.
: Frau Präsidentin, ich
beantrage namens meiner Frakton, für den
heutigen Tag die Regierungsbefragung abzusetzen!)
— Stimmen die beiden anderen Fraktionen zu? — Das ist der Fall. Ich bitte um Nachsicht. Ich sehe als einzige Konsequenz, die Regierungsbefragung abzusetzen und die Sitzung bis 13.35 Uhr zu unterbrechen.
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen! Ich eröffne die unterbrochene Sitzung wieder.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 2: Fragestunde
— Drucksache 12/5268
Der erste Geschäftsbereich ist der des Bundesministeriums für Verkehr.
Die Frage 1 des Kollegen Jürgen Augustinowitz wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Zur Beantwortung steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Wolfgang Gröbl zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 2 des Kollegen Georg Gallus auf:
Hält die Bundesregierung die seuchenrechtlichen Maßnahmen in bezug auf Maul- und Klauenseuche von seiten der EG-Kommission den Ostblockstaaten gegenüber für gerechtfertigt, nachdem z. B. in Polen seit 1972 keine Klauenseuche mehr aufgetreten ist und auch nicht dagegen geimpft wird?
Herr Kollege Gallus, die Bundesregierung hält die von der EG-Kommission erlassenen derzeitigen zusätzlichen tierseuchenrechtlichen Maßnahmen in bezug auf Maul- und Klauenseuche hinsichtlich ihres Umfanges nicht für gerechtfertigt. Sie hat deshalb im Ständigen Veterinärausschuß den Entscheidungsvorschlägen der Kommission nicht zugestimmt, da sie generell als zu restriktiv und unausgewogen eingeschätzt werden.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Gallus.
Herr Kollege, unterstützt die Bundesregierung in dem Zusammenhang das Bestreben, die Forderung der EG, Kälber mit 14 Tagen in Quarantäne zu nehmen, die vorher an der Kuh gesaugt haben, abzulehnen und diese Restriktion auf dem schnellsten Wege aufzuheben? Es besteht die Gefahr, daß dabei ein Drittel der Kälber verendet. Dasselbe gilt auch für Lämmer.Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung hält diese Forderung nach Quarantänehal-
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Parl. Staatssekretär Wolfgang Gröbltung der Kälber für deutlich überzogen und teilt deshalb diese Auffassung.
Da es keine weiteren Zusatzfragen gibt, kommen wir zu Frage 3 des Kollegen Georg Gallus:
Was wird die Bundesregierung unternehmen, um diesen überzogenen Zustand zum Schaden der Ostblockstaaten abzumildern bzw. zu beseitigen?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Bei den Beratungen in Brüssel hat sich die Bundesregierung entschieden gegen Übermaßregelungen eingesetzt. Nicht zuletzt ihren Bemühungen ist es zu danken, daß die weitgehende Einfuhrverbote und -beschränkungen enthaltende Entscheidung 93/210/EWG aufgehoben worden ist. Die nunmehr geltende Entscheidung 93/242/EWG erstreckt sich nur noch auf Einfuhrregelungen für lebende Klauentiere sowie für zum Verzehr bestimmtes frisches Fleisch von Klauentieren und daraus hergestellte Fleischerzeugnisse. Es ist ein Anliegen der Bundesregierung, weitere Lockerungen der Einfuhrrestriktionen, allerdings verbunden mit ausreichenden Sicherheiten für die Gemeinschaft, zu erreichen.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Gallus.
Herr Kollege, ist die Bundesregierung bereit, der EG-Kommission deutlich zu machen, daß die Beteuerung auf dem EG-Gipfel, den Ostblockstaaten einen vereinfachten, verbesserten Marktzugang zu gewähren, in krassem Gegensatz auch zu dieser verbesserten Verordnung steht? Sie reicht keineswegs aus, um die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den Ostblockstaaten auf diesem Sektor in der Zukunft zu gewährleisten.
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung hat dies bei den vergangenen Verhandlungen schon getan. Sie ist auch im Ständigen Veterinärausschuß vorstellig geworden und verfolgt, wie von mir schon ausgeführt, eine deutliche Lockerung dieser Restriktionen.
Eine zweite Zusatzfrage des Kollegen Gallus.
Herr Kollege, ist die Bundesregierung weiter bereit, der EG-Kommission deutlich zu machen, daß ihr Verhalten in bezug auf die anstehenden Wahlen in Polen verheerende Auswirkungen auf die demokratische Weiterentwicklung dieses Landes haben kann, wenn sie sich nicht schnellstens bemüht, eine andere Regelung auf den Weg zu bringen, die auch praktikabel ist?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Unabhängig von der Wahl in Polen sind wir der Auffassung, daß diese restriktiven Maßnahmen der EG der Entwicklung dieser Länder, ganz gleich, ob es sich um Polen oder die Nachbarländer handelt, zum wirtschaftlichen Schaden gereichen und deshalb auch nicht mit der Zielsetzung der Bundesregierung, diesen Ländern beim wirtschaftlichen und demokratischen Aufbau zu helfen, vereinbar sind.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor. Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs. Danke schön, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung. Zur Beantwortung steht die Frau Parlamentarische Staatssekretärin Michaela Geiger zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 4 des Kollegen Hans Wallow auf:
Wie viele Soldaten mit welchen Kosten müssen nach der gegenwärtig geplanten Verkleinerung der Bundeswehr frühpensioniert werden?
Herr Kollege Wallow, die Bundesrepublik Deutschland hat sich völkerrechtlich mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag verpflichtet, bis zum 31. Dezember 1994 den Personalbestand ihrer Streitkräfte von mehr als 500 000 im Jahr 1990 auf 370 000 Soldaten zurückzuführen. Unter Berücksichtigung regulärer Zurruhesetzungen und Dienstbeendigungen würde die Bundeswehr Ende 1994 einen strukturellen Überhang von 8 400 Offizieren des Truppendienstes und 3 100 Unteroffizieren aufweisen. Um dennoch die Zielzahlen für Offiziere und Unteroffiziere im Rahmen des ab 1. Januar 1995 reduzierten Gesamtumfangs der Streitkräfte zu erreichen, sind im Zeitraum von 1992 bis 1994 für insgesamt ca. 3 000 Unteroffiziere und 3 710 Offiziere vorzeitige Zurruhesetzungen — die bekannten Frühpensionierungen — zu verfügen.
Dadurch entstehen Kosten in Höhe der für diese Soldaten zu zahlenden Versorgungsbezüge. Diese betragen für das Jahr 1992 76,6 Millionen DM und erreichen ihren Höchststand im Jahre 1994 mit 313,6 Millionen DM. Danach verringern sich die Kosten fortlaufend bis zum Jahre 2001 auf 5 Millionen DM. Die unterschiedliche Höhe der Kosten ist die Folge der Tatsache, daß die betroffenen Soldaten noch unterschiedlich lange Dienst zu leisten gehabt hätten. Die genannten Versorgungsbezüge müssen in einer Gesamtbetrachtung den sonst entstehenden aktiven Dienstbezügen gegenübergestellt werden.
Zusatzfrage, Herr Kollege Wallow.
Frau Staatssekretärin, hat die Bundesregierung geprüft, ob die vielen gut ausgebildeten, in Saft und Kraft stehenden Spezialisten eventuell in der Verwaltung oder beim Aufbau der Infrastruktur in den fünf neuen Bundesländern eingesetzt werden können?
Ja, Herr Abgeordneter Wallow, das hat die Bundesregierung geprüft. Wenn die Präsidentin es erlaubt, könnte ich Ihnen etwas längere Ausführungen dazu machen.
Nicht so ganz arg lange, wenn es geht.
Ich werde mich bemühen. — Nach § 2 des Personalstärkegesetzes ist eine vorzeitige Zurruhesetzung eines Berufssoldaten nur zulässig, wenn eine andere angemessene
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Parl. Staatssekretärin Michaela GeigerVerwendung nicht möglich ist. Zur Verwirklichung dieses Vorranges einer anderweitigen Verwendung wurde vom Deutschen Bundestag das Verwendungsförderungsgesetz vom 21. Dezember 1992 verabschiedet. Durch dieses Gesetz wird den Berufssoldaten ein erleichterter Zugang zu Beamtenlaufbahnen ermöglicht.Von den insgesamt 19 566 Offizieren und Unteroffizieren, die einen Antrag auf vorzeitige Zurruhesetzung oder Dienstzeitverkürzung nach den Bestimmungen des Personalstärkegesetzes gestellt haben, haben lediglich 518 — Stand Juni 1993 — ihr Interesse an einer Anschlußverwendung im öffentlichen Dienst bekundet. Übernommen wurde von der GauckBehörde ein Soldat von insgesamt 106 Bewerbern. In den Asylentscheidungszentren für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge sind derzeit 22 Soldaten, die nach § 2 Personalstärkegesetz vorzeitig in den Ruhestand versetzt wurden, beschäftigt. Darüber hinaus haben vier weitere ehemalige Soldaten den Dienst beim Bundesamt für Ausländerfragen in Nürnberg angetreten. Schließlich haben die Landesämter zur Regelung offener Vermögensfragen in den neuen Ländern bisher elf frühere Soldaten übernommen.Das Interesse seitens der Soldaten ist trotz vielfältiger und gezielter Maßnahmen des Bundesministeriums der Verteidigung gering. Grund dafür ist wohl, daß das Verwendungsförderungsgesetz nur wenige Anreize bietet. So gesteht es beispielsweise dem an einer Beamtenlaufbahn interessierten Soldaten lediglich eine eingeschränkte Laufbahnbefähigung zu.Auf der anderen Seite besteht im öffentlichen Dienst nur eine geringe Aufnahmebereitschaft. Die Ursache dafür dürfte vor allem in Personalstruktur- und Stellenplanproblemen zu suchen sein. Leider ist eine Änderung dieser Situation zur Zeit nicht zu erwarten.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Kollege Wallow.
Frau Staatssekretärin, wird, gemessen an der zu verringernden Gesamtstärke, auch bei höheren Beamten und bei Generälen proportional gekürzt? Kurz gesagt: Bleibt der Wasserkopf des Verteidigungsministeriums so erhalten, oder werden auch dort Stellen wegfallen?
Es ist sogar so, daß bei den Offiziersdienstgraden ab Oberstleutnant mehr Anträgen auf vorzeitige Zurruhesetzung stattgegeben wird; denn die Stattgabe ist erforderlich, um den quantitativen Abbau nach Möglichkeit zu erreichen. Anderenfalls wäre der Überhang an Offizieren ab 1. Januar 1995 noch größer gewesen — natürlich mit der Folge, daß dies dann haushaltsrelevant würde.
Eine weitere Zusatzfrage, Kollege Kubatschka.
Frau Staatssekretärin, die Frühpensionäre stehen ja gleich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Sehen Sie da nicht gewisse soziale Verwerfungen: auf der einen Seite Frühpension, auf
der anderen Seite das Wegnehmen von Arbeitsplätzen?
Herr Abgeordneter, Sie müßten uns dann sagen, wie wir es machen sollen, die Armee auf 370 000 Mann abzubauen. Wenn wir das machen müssen — und das müssen wir nach dem Zwei-plus-Vier-Vertrag —, dann sind wir gezwungen, die Leute frühzupensionieren. Das ist nicht anders möglich, weil wir die Zahl nicht überschreiten dürfen.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor. Wir sind damit am Ende dieses Geschäftsbereichs. Herzlichen Dank, Frau Staatssekretärin.
Ich möchte noch darauf hinweisen, daß von den verbleibenden Fragen nur noch sieben Fragen mündlich beantwortet werden, so daß wir also erheblich früher zum Ende der Fragestunde kommen werden als vorgesehen. Ich möchte dann gern ohne weitere Unterbrechung mit dem nächsten Tagesordnungspunkt beginnen.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Post und Telekommunikation.
Die Frage 5 der Kollegin Marion Caspers-Merk wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Dann kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Rainer Funke zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 7 des Kollegen Hubert Hüppe auf:
Vor dem Hintergrund, daß in der am 17. Dezember 1989 ausgestrahlten Sendung des Bayerischen Rundfunks „Bilder aus der Wissenschaft" von der an der Ulmer Universitätsklinik üblichen Praxis berichtet wird, Embryonen und Feten nach Abtreibungen ohne Feststellung ihres sicheren Todes erst bei vier Grad Celsius zu kühlen und schließlich schockzugefrieren, um sie später für Experimente nutzbar zu machen, frage ich die Bundesregierung, warum sich das Embryonenschutzgesetz vom 13. Dezember 1990 nicht mit dem Schutz von Embryonen und Feten aus Abtreibungen befaßt, sondern sich auf sogenannte Ethikkommissionen verschiedenster Zusammensetzung verlassen wird?
Herr Kollege, Anlaß für die Schaffung des Embryonenschutzgesetzes waren die neue Technik der extrakorporalen Befruchtung beim Menschen und die sich damit stellenden vielfältigen ethischen und rechtlichen Fragen. Das Gesetz will mit seinen Regelungen möglichem Mißbrauch dieser neuen Fortpflanzungstechniken begegnen und für die Betroffenen sowie für Ärzte und Forscher die Grenzen ihrer Anwendung beim Menschen festlegen. Das Embryonenschutzgesetz beschränkt sich mithin ganz bewußt auf rechtliche Regelungen im Umfeld der künstlichen Befruchtung und trifft keine Regelungen zum Schutz von Embryonen und Feten nach dem in § 219d StGB bezeichneten Zeitpunkt der Einnistung des befruchteten Eies in die Gebärmutter.
Zusatzfrage des Kollegen Hüppe.
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Nach welchen Auswahlkriterien werden die Ethikkommissionen in den genannten Versuchen mit abgetriebenen Embryonen an deutschen Universitäten zusammengesetz?
Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Für diese Frage ist das Bundesjustizministerium nicht zuständig, sondern das Bundesgesundheitsministerium bzw. die Länder mit ihren Gesundheitsministerien.
Eine zweite Zusatzfrage des Kollegen Hüppe.
Entzieht sich die Bundesregierung — auch Ihr Ministerium — nicht ihrer gesetzgeberischen Verantwortung, wenn sie die Entscheidung über ethische Fragen dieser Tragweite, bei denen es immerhin um Leben und Tod geht, Ethikkommissionen überläßt?
Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Nein. Ich hatte soeben gesagt, daß das in der Tat vielfältige ethische und moralische Fragen sind, und solche Fragen sind nicht ausschließlich mit Verwaltungsakten zu regeln, sondern solche Fragen müssen breit diskutiert werden, und dazu ist die Ethikkommission sicherlich geeignet.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor:
Dann rufe ich die Frage 8 des Abgeordneten Hubert Hüppe auf:
Mit welchen Maßnahmen gedenkt die Bundesregierung künftig zu verhindern, daß mit Embryonen und Feten aus Abtreibungen experimentiert wird, um ihnen ein menschenwürdiges Sterben zu garantieren?
Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung beabsichtigt, Strafbarkeitslücken hinsichtlich des Schutzes von Embryonen und Feten nach dem Zeitpunkt der Nidation durch ein Strafrechtsänderungsgesetz zu schließen. Sie hat hierzu erste Vorarbeiten aufgenommen. So soll ein Straftatbestand zum Schutz der Leibesfrucht vor solchen pränatalen Schädigungen geschaffen werden, die sich postnatal nachteilig für das Kind auswirken können.
Ferner werden schwierige Fragen sonstiger Eingriffe an Embryonen und Feten, insbesondere auch im Zusammenhang mit einem Schwangerschaftsabbruch, zu klären sein. Hierzu gehören Schutzvorschriften gegen den Mißbrauch abgetriebener oder abgegangener — toter oder noch lebender, aber nicht lebensfähiger — Embryonen und Feten. In diesem Zusammenhang kommt nicht zuletzt der vielschichtigen und neuartigen Problematik der Entnahme fetaler Zellen zur Behandlung von Parkinson- und Alzheimer-Patienten, wie dies in verschiedenen ausländischen Staaten bereits praktiziert wird, besondere Bedeutung zu.
Erste Gespräche mit Experten haben gezeigt, daß in tatsächlicher Hinsicht noch erheblicher Klärungsbedarf besteht, insbesondere was die Frage der künftigen Entwicklung der hier zu beurteilenden Technik betrifft. Die Bundesregierung ist trotz dieser Schwierigkeiten bemüht, die erforderlichen Vorarbeiten zügig fortzusetzen.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Hüppe.
Heißt das, daß es vom Gesetzgeber her noch keine objektiven Kriterien gibt, nach denen der Arzt den Tod eines abgetriebenen und zu dieser Zeit noch lebenden Embryos oder Fötus feststellen muß?
Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Dazu hat der Bundesgerichtshof in einer früheren Entscheidung bereits Ausführungen gemacht, zu finden im 10. Band der Amtlichen Entscheidungssammlung des BGH in Strafsachen, Seite 291/292f. Ich bin gerne bereit, Ihnen diese Entscheidung zur Verfügung zu stellen. Ich kann Ihnen, wenn Sie es wollen und die Präsidentin es erlaubt, die Kernaussagen hier auch vorlesen. Aber ich glaube, Sie haben mehr davon, wenn ich Ihnen dies schriftlich nachreiche.
Ich bitte darum, Herr Staatssekretär.
Eine zweite Zusatzfrage.
Verletzt Ihrer Meinung nach der Arzt nicht seine Garantenpflicht, wenn er, wie es nach Abtreibungen im Spätstadium der Schwangerschaft durchaus vorkommt, die nach Luft schnappenden Kinder einfach ihrem Schicksal überläßt?
Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Gerade das sind Fragen, die, wie ich es soeben angeschnitten habe, von den Experten und natürlich in unserem Hause geprüft werden müssen, um dann die gesetzlichen Tatbestände zu schaffen.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor. Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs. Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär.
Die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung werden schriftlich beantwortet. Es handelt sich um die Fragen 11 und 12 der Kollegin Dr. Else Ackermann und die Fragen 13 und 14 der Kollegin Maria Eichhorn. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit. Hier steht Herr Staatssekretär Baldur Wagner zur Bewantwortung zur Verfügung.
Frage 15 der Kollegin Antje-Marie Steen wird schriftlich beantwortet; ebenso die Fragen 16 und 17 des Kollegen Karl Hermann Haack . Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe Frage 18 des Kollegen Claus Jäger auf:
Trifft es zu, daß die EG mit der Tschechischen Republik, mit Bulgarien und mit Rumänien Abkommen über die Niederlassung von Ärzten aus diesen Ländern geschlossen hat, die dazu führen, daß diese Ärzte auch in Deutschland Niederlassungsfreiheit genießen, und wie sind solche Abkommen bejahendenfalls mit den Zielen der durch das Gesundheits-Strukturgesetz geänderten Zulassungsverordnung für Vertragsärzte in Einklang zu bringen, die einem Überangebot an niedergelassenen Ärzten entgegenwirken soll?
Herr Abgeordneter, auf Grund
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Staatssekretär Baldur Wagnerdes Assoziierungsabkommens der EG mit Bulgarien und Rumänien — über Bleichlautende Abkommen mit der Tschechischen Republik und der Slowakischen Republik wird derzeit verhandelt, wie Sie wissen — genießen die Staatsangehörigen dieser Staaten in der Bundesrepublik Deutschland Inländerbehandlung. Sie werden deshalb hinsichtlich des vertragsärztlichen Bedarfsplanungsrechts genauso behandelt wie deutsche Staatsangehörige. Das bedeutet nach dem Gesundheits-Strukturgesetz und seiner Ergänzung, die der Bundestag im Ratifizierungsgesetz zu dem Europaabkommen vom 16. Dezember 1991 mit der Republik Polen am 18. Juni 1993 beschlossen hat, daß in unterversorgten Gebieten für alle Ärzte — und damit auch für die Staatsangehörigen der betreffenden Abkommen-Staaten — uneingeschränkte Zulassungsmöglichkeiten bestehen. In Gebieten allerdings, für die weder Unter- noch Überversorgung festgestellt ist — dort ist keine uneingeschränkte Zulassungsmöglichkeit gegeben —, können sich nur die Arzte niederlassen, die auf Grund des bis zum 18. Juni 1993 geltenden Rechts darauf vertrauen konnten, eine Zulassung in einem der offenen Planungsbereiche der Bundesrepublik Deutschland zu erhalten. Personen, die erst nach dem 18. Juni 1993 unter den Anwendungsbereich des GesundheitsStrukturgesetzes fallen, genießen diesen Vertrauensschutz nicht.Diese Regelung stellt sicher, daß die in den Assoziierungsabkommen vereinbarte Inländerbehandlung der ausländischen Staatsangehörigen dem Zweck des Gesundheits-Strukturgesetzes, ärztliche Überversorgung zu verhindern, nicht zuwiderläuft.
Herr Jäger, eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sieht denn die Bundesregierung keine Gefahr, daß, auch wenn wir einmal von den Gebieten absehen, in denen ein durchschnittlicher Bedarf an Ärzten besteht, das Ziel des Gesundheits-Strukturgesetzes, nämlich das Überangebot an Ärzten einzudämmen, durch eine Regelung konterkariert wird, die praktisch dazu führt, daß, zumal bei einem Vergleich zwischen der Einkommenssituation in ihrem Heimatland und der Einkommenssituation in der Bundesrepublik, noch weitere Ärzte in großer Zahl hierherströmen werden, um sich hier sozusagen in die Konkurrentenliste eintragen zu lassen?
Baldur Wagner, Staatssekretär: Herr Abgeordneter, ich glaube, man muß zwei Zeitetappen unterscheiden. Das Gesundheits-Strukturgesetz sieht für die Zeit ab 1999 sehr restriktive Maßnahmen hinsichtlich der Zulassung von Ärzten vor. Für die Zeit bis 1999 haben wir aus verfassungsrechtlichen Überlegungen keine absolute Einschränkung der Ärztezahlen vornehmen wollen. Wir haben nur sichergestellt, daß zusätzliche Ärzte sich nicht in überversorgten Gebieten niederlassen können. Dieser Grundsatz gilt sowohl für die Inländer als auch für die Ausländer, die unter die Abkommen fallen. Insofern würde ich sagen, das, was unter dem Gesundheits-Strukturgesetz für Inländer gilt, gilt in diesem eingeschränkten Rahmen auch für die Ausländer unter diesem Abkommen.
Eine zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sieht die Bundesregierung die Möglichkeit, bei den noch nicht in Kraft getretenen Verträgen mit der Tschechei und Rumänien einen entsprechenden Vorbehalt anzubringen, mit dem dafür gesorgt wird, daß das Gesundheits-Strukturgesetz nicht zusätzlich belastet wird?
Baldur Wagner, Staatssekretär: Wir werden bei den noch zu verhandelnden Verträgen und bei denen, die in der Zukunft noch anstehen, diese Situation in besonderem Maße berücksichtigen müssen.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
Die Fragen 19 und 20 des Kollegen Werner Ringkamp und die Fragen 21 und 22 der Kollegin Uta Würfel werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs. Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen — in Abweichung von der Reihenfolge — als nächstes zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Heinrich Kolb zur Verfügung.
Frage 40 des Kollegen Benno Zierer wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Der Fragesteller der Fragen 41 und 42, Kollege Erich G. Fritz, ist nicht im Saal. Es wird entsprechend unserer Geschäftsordnung verfahren.
Ich rufe Frage 43 der Kollegin Jutta Müller auf:
Treffen Pressemeldungen zu, nach denen die Bundesregierung die Ergebnisse der Kohlerunde 1991 in Frage stellt und neue Verhandlungen mit den Ländern beginnen will?
Frau Kollegin Müller, ich beantworte Ihre Frage wie folgt:Es trifft zu, daß die Bundesregierung mit den Bergbauländern Nordrhein-Westfalen und Saarland über deren Anteil an der Finanzierung der Kokskohlenbeihilfe und der Erblasten verhandeln will. Ziel ist es, die bisherige Ein-Drittel-Beteiligung dieser Lander auf eine 50 %-Beteiligung anzuheben, um die Lasten des Bundes angesichts seiner angespannten Haushaltslage zu verringern. Dazu gehört auch, daß der Bund den Anteil des Saarlands — anders als bisher — nicht mehr übernehmen will. Die Verhandlungen mit den Bergbauländern werden alsbald aufgenommen.Zweitens. Es gibt keinen Beschluß der Bundesregierung, der die Ergebnisse der Kohlerunde 1991 in Frage oder zur Disposition stellt. Die zwischen BMWi und BMF vereinbarten Ansätze der mittelfristigen Finanzplanung für die Kokskohlenbeihilfe beruhen auf dem für 1995 bis 1997 erwarteten Kokskohlenbedarf der Stahlindustrie. Sie tragen damit dem in der Kohlerunde 1991 vereinbarten Bedarfsdeckungsprinzip Rechnung.
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14362 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1993
Parl. Staatssekretär Dr. Heinrich L. KolbDie bisherigen Überlegungen zur Finanzierung der Anschlußregelung für die Steinkohleverstromung ab 1996 gehen von der in der Kohlerunde vereinbarten Verstromungsmenge von 35 Millionen t pro anno aus.
Eine Zusatzfrage, Frau Kollegin Müller.
Herr Staatssekretär, es ist ja wenigstens in diesem Teil sehr beruhigend, daß zumindest die Verstromungsmenge nicht mehr in Frage gestellt wird. Aber ich glaube, daß die Spekulationen in der Presse auch darauf zurückzuführen sind, daß bis heute keine Konzeption da ist, wie die 1991 getroffenen Vereinbarungen eigentlich finanziert werden sollen. Nun hat ja Ihr Minister Rexrodt einen Vorschlag gemacht, nämlich den Vorschlag einer Kohlefinanzierungssteuer. Ist dieser Vorschlag Konsens innerhalb der Bundesregierung?
Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Müller, die Frage nach dem Finanzierungsweg, also wie im Anschluß an die derzeit bestehenden Regelungen zukünftig die Verstromung der heimischen Steinkohle sichergestellt werden soll — im Wege einer Fondslösung Kohlepfennig oder im Wege einer Haushaltslösung mit einer Steuer —, ist zur Zeit noch offen. Sie haben mit Recht den Vorschlag einer Kohlefinanzierungssteuer von Bundeswirtschaftsminister Rexrodt angesprochen, die den Vorteil hätte, daß sie auf alle Energieträger erhoben werden könnte, und damit den Beitrag zur Sicherung des Einsatzes heimischer Steinkohle auf breitere Schultern verlagern würde. Ich kann aber nicht feststellen, daß es dazu innerhalb der Bundesregierung schon eine abgestimmte Meinung gäbe.
Eine zweite Zusatzfrage, Frau Kollegin Müller.
Das ganze Verhandlungskonzept aus dem Jahre 1991 steht und fällt ja mit der Finanzierung. Das bringt ja auch die Unternehmen zur Zeit in arge Schwierigkeiten, weil sie ihre Planungen nach diesen Vereinbarungen machen, auch Geld dafür einsetzen und noch gar nicht wissen, ob es letztendlich so kommen wird. Würden Sie meinen Eindruck teilen, daß sich die Bundesregierung darauf verläßt, daß ihre Wirtschaftsminister nie lange genug im Amt sind, um getroffene Vereinbarungen auch einhalten zu müssen?
Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär: Das muß ich zurückweisen, Frau Kollegin Müller. Wenn Sie den Übergang von Minister Möllemann auf Minister Rexrodt beobachten, werden Sie feststellen, daß hier sehr konsequent an den Beschlüssen festgehalten wurde. Minister Rexrodt hat zuletzt in Bochum auf einer Großveranstaltung hierzu auch eindeutig Position bezogen.
Im übrigen haben die Fragen der Finanzierung, die ja wirklich sehr wichtig sind, heute morgen auf der Tagesordnung des Wirtschaftsausschusses auch eine Rolle gespielt. Es wurde darauf hingewiesen, daß die Steinkohlewirtschaft hier auch einen entsprechenden Vorlauf braucht.
Sie dürfen versichert sein, daß wir nach Kräften daran arbeiten, die Frage der Anschlußfinanzierung möglichst schnell zu lösen.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Horst Kubatschka.
Herr Staatssekretär, gefährdet dieses Herumeiern bei der Finanzierung — anders kann man das ja nicht nennen — nicht in großem Maße Arbeitsplätze?
Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kubatschka, man kann sicher nicht von einem Herumeiern bei der Finanzierung sprechen. Nach derzeitigem Stand ist die Finanzierung der Beschlüsse der Kohlerunde 1991 gesichert. Wir gehen auch für die Zeit nach 1995 davon aus, daß 35 Millionen t pro anno — ich sagte das bereits — entsprechend zu finanzieren sind. Bei der Kokskohle haben wir den Fall, daß derzeit entsprechend dem Bedarfsdeckungsprinzip nur 15 Millionen t pro anno zu veranschlagen sind, insbesondere auch wegen der konjunkturellen Situation in diesem Bereich. Ich glaube, daß wir sehr wohl die notwendigen Schritte getan haben und die Finanzierung sehr wohl geregelt ist.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Urbaniak.
Herr Staatssekretär, wenn es in der Bundesregierung noch keinen Konsens gibt, was die Frage der Finanzierung der Verstromung angeht: Kann man denn damit rechnen — weil das Problem ja wirklich drängend ist und wir sehr bald Klarheit haben müssen —, daß es in dieser Frage in der Bundesregierung zu einer Einigung so kommt, wie es Wirtschaftsminiter Rexrodt vorgeschlagen hat?
Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär: Ich vermag nicht abzusehen, wie die Gespräche hier verlaufen werden. Ich kann nur noch einmal betonen, daß Minister Rexrodt diesen Vorschlag gemacht hat und wir diesen in die Verhandlungen einbringen werden. Wenn es bessere Vorschläge gibt, Herr Kollege Urbaniak, wären wir auch für diese offen. Aber im Moment gehe ich davon aus, daß der Vorschlag von Minister Rexrodt ein guter Vorschlag ist.
Zu dieser Frage liegen keine weiteren Zusatzfragen vor.Nachdem der Kollege Fritz zwischenzeitlich hier ist und nicht damit gerechnet werden konnte, daß die Fragestunde so schnell zum Ende kommen würde, würde ich jetzt, wenn Sie erlauben, Herr Staatssekretär, noch die Fragen 41 und 42 aufrufen.Ich rufe zunächst die Frage 41 des Abgeordneten Erich G. Fritz auf:Welche Auswirkungen haben die am 22. Juni 1993 von den USA beschlossenen Strafzölle auf Stahleinfuhren für die deutsche Stahlwirtschaft?Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Fritz, durch die vom US-Handelsministerium am 21. Juni 1993 verhängten Antidumping- und Ausgleichszölle von — zusammen im Einzelfall — bis
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1993 14363
Parl. Staatssekretär Dr. Heinrich L. Kolbzu 50 % werden nach Einschätzung der Wirtschaftsvereinigung Stahl Exporte von deutschen Flachstahlerzeugnissen in die USA in Höhe von ca. 600 000 t im Wert von rund 400 Millionen DM betroffen. Sofern die US International Trade Commission eine Schädigung bejaht — das ist Voraussetzung für das endgültige Inkrafttreten der Zollbeschlüsse — dürfte dies dazu führen, daß der Export von Flachstahl in die USA erheblich zurückgeht.Nachdem sich die US-Verfahren praktisch gegen alle wichtigen Stahlerzeugerländer richten, ist davon auszugehen, daß die vom US-Markt verdrängten Stahlmengen darüber hinaus zunehmend auf den EG-Markt strömen. Dies wird die Lösung der derzeitigen konjunkturellen und strukturellen Probleme der EG- bzw. deutschen Stahlindustrie erschweren.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Fritz.
Herr Staatssekretär, bei einer ähnlichen Entwicklung der Einfuhren aus Osteuropa hat ja die Europäische Gemeinschaft selber Beschränkungen erlassen. Sie sagen jetzt, daß die amerikanische Regelung zu zusätzlichen Angeboten auf dem europäischen Markt führt. Heißt das, daß sich der Protektionskreislauf schließen wird und daß Europa ebenfalls zu solchen Instrumenten greifen muß?
Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Fritz, ich habe darauf hingewiesen, daß das zu einem zusätzlichen Angebot führen kann, nicht zwingend führen muß. Aber das ist natürlich nach aller Erfahrung zu erwarten. Wir beobachten in der Tat mit Sorge, daß weltweit ein zunehmender Protektionismus — übrigens nicht nur im Bereich der Stahllieferungen — um sich greift. Die Bundesregierung hat immer wieder deutlich gemacht, daß sie die Bedeutung des Prinzips des freien Welthandels sehr hoch einschätzt. Die Bundesrepublik Deutschland als exportorientiertes Land kann kein anderes Interesse haben. Wir sehen diese Entwicklung mit Sorge.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Kollege Fritz.
Herr Staatssekretär, sehen Sie einen Zusammenhang zwischen diesem Verhalten der USA und dem europäischen Verhalten bei den GATT-Verhandlungen?
Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Fritz, ich bin außerstande, die Intentionen der amerikanischen Regierung hier einzuschätzen. Ich bitte um Ihr Verständnis.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Urbaniak.
Herr Staatssekretär, kann die Bundesregierung respektive das Wirtschaftsministerium abschätzen, wie viele Arbeitsplätze in der Stahlindustrie — in der europäischen, aber speziell in der deutschen Stahlindustrie — gefährdet sind, wenn die restriktiven Maßnahmen für den USA-Markt endgültig gelten?
Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär: Ich kann das nur versuchen, Herr Urbaniak. Ich kann daraufhin hinweisen, daß die Erzeugung von Walzstahlerzeugnissen im Jahre 1992 in Deutschland 31 Millionen t betrug, der Export davon 15 Millionen t, also knapp die Hälfte. Mir ist nicht bekannt, wie hoch der Anteil der Lieferungen in die Vereinigten Staaten ist. Aber ich gehe davon aus, daß dies durchaus Konsequenzen hätte.
Wir kommen jetzt zur Frage 42 des Kollegen Erich G. Fritz:
Was gedenkt die Bundesregierung — ggf. gemeinsam mit der EG — gegen den weiteren Aufbau protektionistischer Maßnahmen der USA zu tun?
Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär: Nach den GATT-Regeln können GATT-Vertragsparteien gegen Dumping und Subventionen, die bei einem heimischen Wirtschaftszweig einen Schaden verursachen, in einem Verfahren vorgehen. Sofern die Voraussetzungen erfüllt sind, können zum Ausgleich der entstandenen Schädigung Zölle erhoben werden. Die Verfahren müssen den GATT-Regeln entsprechen, insbesondere transparent sein, und können gegebenenfalls einer Überprüfung im GATT unterzogen werden.
Die Bundesregierung hat — ebenso wie übrigens die EG-Kommission — der US-Regierung mehrfach die Sorge über die exzessive Anwendung der US-
Ausgleichszollverfahren gegenüber subventionierten Stahlprodukten zum Ausdruck gebracht. Die EG hat inzwischen, unterstützt durch die EG-Mitgliedsländer, gegen diese US-Verfahren im GATT ein Streitschlichtungsverfahren eingeleitet. Das Ergebnis dieses Verfahrens liegt noch nicht vor.
Darüber hinaus verfolgt die EG unverändert das Ziel, im GATT über ein multilaterales Stahlabkommen zu verhandeln, das insbesondere auch Regeln über den Einsatz von Subventionen im Stahlbereich enthalten soll.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Fritz.
Frau Präsidentin, ich möchte mich nur bei Ihnen für das Entgegenkommen bedanken. Herzlichen Dank.
Das ist aber reizend.
Nun noch der Kollege Urbaniak zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, man liest und hört Meldungen, daß die französische Regierung willens ist, bei den GATT-Verhandlungen überhaupt nicht nachzugeben. Was würde das für die Position des deutschen Exports überhaupt bedeuten, da wir ja in dieser Frage sehr abhängig sind? Wie schätzt das Wirtschaftsministerium ein, wie es denn jetzt eigentlich weitergeht, um zu einer Liberalisierung des Welthandels zu kommen?Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Urbaniak, das ist eine sehr allgemeine Frage,
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14364 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1993
Parl. Staatssekretär Dr. Heinrich L. Kolbdie Anlaß geben würde, hier ein umfassendes Referat über die GATT-Verhandlungen zu liefern.
Davon bitte ich Abstand zu nehmen.
Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär: Ich will versuchen, es kurz zu beantworten.
Die Position der französischen Regierung ist insbesondere in der Frage der Landwirtschaft sehr hart. Es soll versucht werden, bis zum Ende dieses Jahres zu einer Lösung zu kommen, indem man die Punkte, die klar sind, herausstellt. Im übrigen wird eine Reihe von Fragen offenbleiben. In einer Schlußrunde Ende des Jahres soll dann versucht werden, einen Ausgleich der Interessen im Kompromißwege zwischen allen Beteiligten zu finden.
Kürzer kann man das nicht beantworten. Ich hätte noch mehr dazu zu sagen.
Es liegen keine weiteren Zusatzfragen vor.Damit sind wir auch am Ende dieses Geschäftsbereichs angekommen. Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär.Ich rufe jetzt noch einmal den Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern auf, den ich vorhin übersprungen habe, weil es Verkehrsprobleme gegeben hat.Die Frage 37 des Kollegen Erich Riedl wird schriftlich beantwortet, ebenso die Frage 39 des Kollegen Jürgen Augustinowitz. Ich bitte darum, Herr Staatssekretär, daß auch die Frage 38 schriftlich beantwortet wird, weil der Kollege Wallow, der vorhin hier war — er hat Sie vielleicht nicht gesehen —, wieder gegangen ist. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Wir sind am Ende dieses Geschäftsbereichs angekommen und damit auch am Ende der Fragestunde.Ich rufe Punkt 3 a bis c der Tagesordnung auf:a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des FernstraBenausbaugesetzes
— Drucksachen 12/3480, 12/3481 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr
— Drucksache 12/5289 —Berichterstattung:Abgeordnete Renate Blank Volkmar KretkowskiHorst FriedrichBeratung der Beschlußempfehlung und der Berichts des Ausschusses für Verkehr
zu dem Antrag der Abgeordneten Norbert Otto , Dr. Jürgen Schmieder, Martin Göttsching und weiterer AbgeordneterBundesverkehrswegeplan 1992zu dem Antrag der Abgeordneten Günter Graf, Hermann Rappe , Dietmar Schütz und weiterer AbgeordneterAufnahme des Baus der Ortsumgehung B 213 Lastrup/Niedersachsen in den Bundesverkehrswegeplan 1992 als Vordringlicher Bedarfzu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann und der Gruppe der PDS/Linke ListeErsatzlose Streichung der Projekte A 100 ADTempelhof-Treptow und A 113 Treptow-Schönefeld aus dem Bundesverkehrswegeplan '92zu dem Antrag der Abgeordneten Michael von Schmude, Dietrich Austermann, Hans-Werner Müller und weiterer AbgeordneterAufnahme des Baus der Ortsumgehung B 208 Ratzeburg/Schleswig-Holstein in den vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplans 1992zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann und der Gruppe PDS/Linke ListeRücknahme des von der Bundesregierung vorgelegten Bundesverkehrswegeplans sowie des Vierten Gesetzes zur Änderung des Fernstraßenausbaugesetzeszu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige, Werner Schulz und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENRücknahme des ersten gesamtdeutschen Verkehrswegeplans 1992 — Wende in der Verkehrspolitikzu dem Antrag der Abgeordneten Adolf Ostertag, Ursula Burchardt, Gerd Andres und weiterer AbgeordneterKein Weiterbau der A 44
— Drucksachen 12/2777, 12/3192, 12/3351, 12/3486, 12/3561, 12/3562, 12/3627, 12/5289 — Berichterstattung:Abgeordnete Renate BlankVolkmar KretkowskiHorst Friedrichb) Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Ausbau des Schienenwegenetzes des Bundes
— Drucksache 12/2560 —
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dirk Fischer , Dr. Dionys Jobst, Horst Gibtner, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie den Abgeordneten Ekkehard Gries, Roland Kohn, Horst Friedrich, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Ausbau der Schienenwege des Bundes
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1993 14365
Vizepräsidentin Renate Schmidt
— Drucksache 12/3500 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr
— Drucksache 12/5314 —Berichterstattung:Abgeordnete Renate Blank Volkmar KretkowskiHorst Friedrichc) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung der Planungsverfahren für Verkehrswege
— Drucksache 12/4328 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr
— Drucksache 12/5284 —Berichterstattung:Abgeordneter Georg BrunnhuberZum Femstraßenausbaugesetz und zum Bundes-schienenwegeausbaugesetz liegen Änderungsanträge der Fraktion der SPD vor. Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat zum Fernstraßenausbaugesetz einen Entschließungsantrag eingebracht.Ich weise darauf hin, daß die Gruppe BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN zur Schlußabstimmung über das Femstraßenausbaugesetz namentliche Abstimmung wünscht. Nach unserer Geschäftsordnung kann eine namentliche Abstimmung aber nur von einer Fraktion oder von anwesenden fünf vom Hundert der Mitglieder verlangt werden. Ob der Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die erforderliche Unterstützung hat, wird dann vor der Schlußabstimmung festgestellt werden.Interfraktionell ist vereinbart, daß das Wort für Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung erst nach allen Abstimmungen erteilt werden soll. Selbstverständlich können die Erklärungen auch zu Protokoll gegeben werden. Erhebt sich dagegen irgendwie gearteter Widerspruch? — Das ist nicht der Fall.Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. — Auch dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erste bekommt die Kollegin Renate Blank als Berichterstatterin das Wort, weil es noch Korrekturen gibt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als Berichterstatterin bitte ich — auch im Auftrag von F.D.P. und SPD — um zwei redaktionelle Korrekturen: In dem Bericht auf Drucksache 12/5289 hat sich ein Fehler eingeschlichen. In Teil VI Buchstabe B — das ist in dem Bericht auf Seite 47 — muß die viertletzte Ziffer statt „ 169" „ 159" lauten.
Ferner ist das auf der Seite 10 aufgeführte Projekt Nr. 51 auf der Seite 53 zu streichen und auf Seite 50 unter Buchstabe I des Ausschußberichtes einzufügen.
Ich stelle auch einen korrigierenden Antrag aller Berichterstatter zum Schienenwegeausbaugesez: § 8 des Gesetzentwurfes ist dahin gehend zu konkretisieren, daß das Gesetz am Tage nach der Verkündung in Kraft tritt.
Wir bitten, diese redaktionellen Korrekturen und den korrigierenden Antrag anzunehmen. Wir bitten um Entschuldigung, daß dies passiert ist.
Gleichzeitig gilt der Dank aller Berichterstatter den Mitarbeitern, die diese Vorlagen wirklich sehr schnell und mit viel Zeitaufwand schreiben mußten.
Nun bekommt die Kollegin Renate Blank das Wort zur Debatte.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hätte mir gewünscht, daß die Kollegen, die uns mit Schreiben, mit Anrufen — ich will nicht sagen: belästigt haben, sondern — gebeten haben, ihre Projekte dringend durchzuführen, heute anwesend wären.
— Die wichtigen Leute sind hier, und ich glaube, man hat das Vertrauen in die Ausschußmitglieder und in die Berichterstatter.Mit der heutigen zweiten und dritten Lesung des Fernstraßenausbaugesetzes und des Schienenwegeausbaugesetzes mit den jeweiligen Bedarfsplänen schaffen wir die Voraussetzungen für eine zukunftsorientierte Verkehrspolitik. Schlüsselbereich jeder hochindustrialisierten Wirtschaft ist der Verkehr. Produktion und Verteilung der Warenströme bedingen in einer arbeitsteiligen Wirtschaft ebenso eine moderne Verkehrsinfrastruktur wie das in der Natur des Menschen liegende Verlangen nach Mobilität.Die Einheit Deutschlands, der EG-Binnenmarkt und die Öffnung Osteuropas bringen ein enormes Verkehrswachstum in ganz Deutschland mit sich. Da aber Mobilität ein wichtiger Wert für den Menschen ist, muß die Verkehrspolitik die Möglichkeiten für die notwendige Mobilität schaffen. Mehr Wohlstand und mehr Freizeit bringen mehr Verkehr! Wir brauchen deshalb alle Verkehrsträger und benötigen für alle Verkehrsträger eine optimale Verkehrsinfrastruktur, eben auch zur Bewältigung der Freizeitkultur.
Die zentrale Herausforderung für die heutige Verkehrspolitik lautet deshalb: durch Sicherung der Mobilität die Attraktivität des Wirtschaftsstandortes Deutschland zu erhalten und zu stärken. Verkehrsleistungen und damit Mobilität sind daher grundsätzlich positiv!Erstmals wird neben dem Fernstraßenausbaugesetz auch der Schienenteil als Gesetz beschlossen; damit
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14366 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1993
Renate Blankist die Gleichrangigkeit von Schiene und Straße auch formal dokumentiert. Für den Neu-. und Ausbau sowie für Sanierungsmaßnahmen der Schienenwege sind mehr finanzielle Mittel vorgesehen als für die Straßen.
Das Schienenverkehrssystem ist künftig aber so zu gestalten, daß sowohl unternehmerisch-betriebswirtschaftliche Zielsetzungen mit positiven wirtschaftlichen Ergebnissen erreicht werden können als auch der Schienenverkehr als wettbewerbsfähige und attraktive Alternative im Verbund mit anderen Verkehrsträgern die an ihn gerichteten Anforderungen erfüllen kann.
Im Verkehrsausschuß konnte ein konsensfähiger Teil zum Schienenwegeausbaugesetz gefunden werden. Mich wundert, meine Kollegen von der SPD, daß Sie heute noch einmal Änderungsanträge einbringen. Allerdings werden wir Ihnen in Punkt 3 Ihres Änderungsantrages entgegenkommen; wir werden dem zustimmen.
Ich hoffe, daß Sie uns bei nächster Gelegenheit auch entgegenkommen werden.Das Fernstraßenausbaugesetz schreibt den Bedarfsplan bis zum Jahre 2012 gesetzlich fest. Der Bedarf an neuen Straßenprojekten wurde nach einheitlichen, auch von der SPD anerkannten Kriterien ermittelt und bewertet.Für die Koalitionsfraktionen war das NutzenKosten-Verhältnis für eine entsprechende Einstufung der Projekte wichtiger Bestandteil und Grundlage von Änderungsvorschlägen. Die SPD hat mit einigen „Schauanträgen" versucht — sie wird es heute sicherlich wieder tun —,
die vorgegebenen Maßstäbe zu verwässern. Der im Ausschuß beschlossene Bedarfsplan für die Bundesfernstraßen ist weder überzogen noch unseriös, sondern ein unverzichtbares Planungsinstrument für die nächsten 20 Jahre. Privatfinanzierung ist allerdings notwendig und einzubeziehen, um alle Projekte verwirklichen zu können.Damit die Infrastrukturdefizite in den neuen Bundesländern bald abgebaut werden können, sind dort die meisten Erweiterungen des Autobahnnetzes vorgesehen.
Der Schwerpunkt liegt jedoch in den alten und neuen Bundesländern beim Bau von ca. 4 700 km Ortsumgehungen. Ortsumgehungen dienen nicht der Erzeugung von mehr Verkehr, sondern dem Schutzund der Sicherheit der Bürger und sind somit aktiver Menschenschutz und Umweltschutz!
Die Doppelstrategie der SPD, daß ihre Abgeordneten im Wahlkreis Straßen fordern und in Bonn dann ablehnen, ist für mich kein Beitrag zu einer glaubwürdigen Verkehrspolitik.
Ihnen liegen doch genauso wie mir die Schreiben Ihrer Bürgermeister, Landräte und Mitglieder aus den Kommunen mit den Wünschen nach Ortsumgehungen und Autobahnen vor.
Straßenaus- und -neubau sind weiter erforderlich; denn Pkw und Lkw sind auch in Zukunft unentbehrlich. Auch Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, fahren Auto. Oder handeln Sie etwa nach dem Motto: Selbst im Luxus leben und den anderen die Sparsamkeit verordnen?
Die Zerrissenheit der SPD zeigt sich u. a. auch darin, daß Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ca. 1 500 Projekten des Bedarfsplans für die Bundesfernstraßen im Ausschuß zugestimmt haben, das Fernstraßenausbaugesetz jedoch ablehnen. Welch eine widersprüchliche Haltung.
Ferner mußten Sie Ihren ganzen Seelenschmerz als Opposition dadurch loswerden, daß Sie von einem „Durchpeitschen" der Projekte im Verkehrsausschuß sprachen. Diese Koalition hat nur ihre Mehrheit zu verantwortbaren Entschlüssen und zügiger Behandlung genutzt und damit bewiesen, daß sie handlungsfähig, geschlossen und entscheidungsfreudig ist.
Diese Geschlossenheit und Entscheidungsfreude hat Sie wohl sehr gestört und empfindlich getroffen? Wenn dem so ist, dann sollten Sie einmal darüber nachdenken, wie Ihre Kollegen in den Kommunen oder Ländern mit Mehrheiten umgehen!Die Berichterstatter von F.D.P. und CDU/CSU haben die Kollegen von der SPD jedenfalls fair behandelt. Bei 435 Anträgen, davon 231 beschlossenen und 204 abgelehnten, war eine zügige Behandlung erforderlich; sonst säßen wir ja heute noch im Ausschuß.
Die Mittel für den Ausbau der Bundeswasserstraßen dienen dazu, mehr Verkehr auf die umweltfreundliche Binnenschiffahrt zu verlagern. Die Binnenschifffahrt ist der mit Abstand umweltfreundlichste Verkehrsträger und kann zur Bewältigung des wachsenden Güterverkehrs gezielt beitragen. Wir sollten nicht vergessen, daß der Anteil der Binnenschiffahrt am
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1993 14367
Renate BlankGüterverkehr in den alten Bundesländern ca. 23 % beträgt, genauso viel wie der Anteil der Schiene.Das weitverzweigte Wasserstraßennetz verbindet die wesentlichen Ballungs- und Industriezentren des Bundesgebiets untereinander. Die meisten deutschen Großstädte haben Anschluß an Wasserstraßen. Allerdings entspricht das Wasserstraßennetz in den neuen Ländern in weiten Bereichen nicht dem westlichen Standard. Hier gilt es zu handeln, damit auch in den neuen Bundesländern der Anteil der Binnenschiffahrt beim Gütertransport von bisher ca. 3 % gesteigert werden kann.Durch die Öffnung des Main-Donau-Kanals hat die Schiffahrt eine neue Dimension erhalten. Denn mit einer Länge von 3 600 km zwischen Nordsee und Schwarzem Meer gibt es einen Schiffahrtsweg, der 15 europäische Staaten und deren Wirtschaftszentren miteinander verbindet. Allen Unkenrufen zum Trotz, liebe Kollegen von der SPD, wird der Kanal sehr, sehr gut angenommen, besser als bei der Kürze der Zeit erwartet werden konnte.
— Ich lade Sie einmal zum Eiskunstlaufen ein, Kollege Daubertshäuser.Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie sollten sich einem Ausbau von Donau, Elbe und der Kanäle nicht verschließen, damit mehr Verkehr auf die umweltfreundliche Binnenschiffahrt verlagert werden kann. Denn an der Binnenschiffahrt führt kein Weg vorbei — merken Sie sich das —, vor allen Dingen im Hinblick auf die Bündelung der Güterverkehrsströme, die durch eine räumliche Zusammenfassung von verkehrlichen und transportergänzenden Dienstleistungsbetrieben, durch Güterverkehrszentren, ermöglicht wird.Güterverkehrszentren sind logistische Knotenpunkte, Zentren der Kooperation, Systemwechselpunkte der Verkehrsträger und Verknüpfungspunkte von Fern- und Nahverkehr. Durch ihre multimodale Orientierung sind Güterverkehrszentren deshalb in der Lage, die vorhandenen Verkehrsressourcen zu optimieren. Sie sollten es vielleicht einmal Ihren Kollegen in den Ländern und Gemeinden sagen, die sich manchmal gegen Güterverkehrszentren wehren und sperren.Das weitere neue Element im Bundesverkehrswegeplan, nämlich die Koordinierung aller Verkehrszweige, ist ein entscheidender Beitrag zu einem leistungsfähigen Verbund aller Verkehrsträger. Dem Ausbau der Schnittstellen bei Flughäfen, See- und Binnenhäfen, Güterverkehrszentren und Umschlaganlagen des Kombiverkehrs kommt große Bedeutung zu. Da jeder Verkehrsträger seine arteigenen Vorzüge und Nachteile hat, müssen Verbundlösungen und die infrastrukturelle Ausgestaltung der Schnittstellen die jeweiligen Vorteile stärken und die Nachteile minimieren.
Die Informationstechnologie ist ebenfalls ein wichtiges Instrument bei der optimalen Vernetzung derVerkehrsträger und schafft die Voraussetzung für die bessere Nutzung der Infrastruktur. Die Wahl des bestmöglichen Verkehrsmittels und der reibungslose Übergang zwischen Verkehrsträgern sind nur möglich, wenn die erforderlichen Informationen rechtzeitig — ich betone: rechtzeitig — zur Verfügung stehen.Die Magnetschnellbahn Transrapid ist ein zukunftsweisendes Transportsystem, das einen wirksamen Beitrag zur umweltschonenden Bewältigung des wachsenden Verkehrsaufkommens leisten kann. Allerdings ist eine weitgehend privatwirtschaftliche Finanzierung des Projektes Hamburg-Berlin erforderlich. Mit der Ablehnung des von Ihnen, meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD, 1973 forcierten Transrapid verabschiedet sich die SPD jetzt ganz von neuer Technologie.
Ihre Ablehnung unseres Antrags im Verkehrsausschuß signalisiert, daß Sie sich von neuer Technologie verabschiedet haben.
— Nein, unser Beschluß ist zukunftsweisend, Kollege Daubertshäuser. Sie müssen ihn genau lesen.Die Mobilität aller Verkehrsteilnehmer, die volkswirtschaftlich verbesserte Nutzung der Verkehrsinfrastruktur und eine Partnerschaft im Verkehr werden nur funktionieren, wenn ein marktwirtschaftliches System allen Verkehrsträgern Chancengleichheit und allen Benutzern und Kunden die freie Wahl des Verkehrmittels garantiert.
An SPD, PDS und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gerichtet: Wünsche und Zielvorstellungen werden wohl auch in Zukunft unterschiedlich bleiben und kontrovers diskutiert werden. Doch Technikfeindlichkeit oder eine sture Verweigerungshaltung leisten keinen Beitrag zu einer sachlichen Verkehrspolitik.
Denn zu der Grunderkenntnis gibt es keine Alternative: Nur wer in einem Land mit funktionierender Wirtschaft lebt, wird sich einen dauerhaften Wohlstand sichern. Deshalb darf man nicht vergessen, daß Verkehrs-, Wirtschafts- und Sozialpolitik in engem Zusammenhang stehen, auch wenn manche dies nicht wahrhaben wollen und mit einer Verweigerungshaltung Arbeitsplätze und Wohlstand gefährden!
Meine Damen und Herren, stimmen Sie deshalb alle den vorgelegten Gesetzentwürfen zu. Die Anträge der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, Herr Kollege Daubertshäuser, werden wir bis auf die eine „Sternchenmaßnahme" der SPD ablehnen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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14368 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1993
Als nächster hat das Wort der Kollege Volkmar Kretkowski.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich darf mich ganz am Anfang bei all denjenigen herzlich bedanken, die in den Verkehrsministerien der Länder, in den Straßenbauämtern und natürlich auch im Bundesverkehrsministerium an der Erarbeitung dieses umfangreichen Werkes mitgearbeitet haben; auch bei den Herren des Ausschußsekretariats, die mit dazu beigetragen haben, daß wir heute, abgesehen von den kleinen Pannen, mit geordneten Papieren eine vernünftige Beratung im Plenum durchführen können.
Wenn ich kritische Ausführungen zum Bundesverkehrswegeplan mache, dann richtet sich meine Kritik nicht gegen die Beamten und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sondern gegen die politische Führung, die politische Linie und das politische Konzept, das hinter diesem Bundesverkehrswegeplan steht.Die Bundesregierung erklärt im Vorwort zum Bundesverkehrswegeplan, daß sie mit diesem Bedarfsplan den umweltfreundlicheren Verkehrsträgern Schiene und Wasserstraße den Vorrang einräumt, die Verkehrsträger miteinander vernetzt und dafür sorgt, die Infrastruktur in den neuen Ländern rasch auszubauen.
— Wenn Sie, Herr Kollege, den Bundesverkehrswegeplan richtig oder überhaupt gelesen hätten — ich bezweifle, daß Sie, einmal abgesehen von Ihrem persönlichen Projekt, hineingeschaut haben —, dann müßten Sie mir recht geben, daß der Bundesverkehrswegeplan eine typische Mogelpackung ist: außen hui und innen pfui.
Die Bundesregierung und die sie tragende Koalition schauen wie das Kaninchen auf die berühmte Schlange, wenn es um ihre eigenen Verkehrsprognosen geht, nämlich daß bis zum Jahr 2000 in der Europäischen Gemeinschaft das Verkehrsaufkommen um 40 %, der internationale Straßengüterverkehr um das 14fache und der Personenverkehr um das 18fache zunimmt.
Die Verantwortlichen aber wissen sich nicht besser zu helfen, als daß sie den Verkehrszuwächsen mit dem Bau von großen Autobahnprojekten zu begegnen versuchen. Die bisherige Betonpolitik wird fortgeschrieben, die Infrastruktur dem Verkehr blindlings angepaßt. — Das nenne ich im übrigen das beliebte Hase-und-Igel-Prinzip: Bei jeder neugebauten Straße ruft der Stau: Ich bin schon da!
Statt dessen, meine Damen und Herren, brauchen wir endlich eine Entkopplung des Verkehrswachstums vom Wirtschaftswachstum. Infrastrukturmaßnahmen müssen ordnungspolitisch begleitet werden, um den Verkehrsinfarkt zu verhindern. In IhremVerkehrswegeplan finden sich jedoch an keiner Stelle Strategien zur Verkehrsvermeidung, Verkehrsverlagerung und Verkehrsreduzierung. Gerade angesichts der genannten Verkehrszuwachszahlen sollte aber insbesondere die Vermeidung fragwürdiger Gütertransporte vorangetrieben werden. Als Transitland Nr. 1 schauen wir tatenlos zu, wenn die Kartoffeln nach Italien gekarrt, dort gewaschen und geschnitzelt und dann als Fritten wieder in die Bundesrepublik zurücktransportiert werden.
In diese Konzeptlosigkeit paßt auch, daß die Schiene weiterhin das Stiefkind der Verkehrsplanung bleibt.
Mit einem Investitionsbedarf von insgesamt 194,9 Milliarden DM für die Schiene und 191,4 Milliarden DM für die Bundesfernstraßen werden die Mittel gerade einmal hälftig verteilt.
Tatsache ist auch, daß Ihr Planvorschlag Neu- und Ausbaumaßnahmen von Autobahnen und Bundesfernstraßen auf einer Länge von insgesamt 11 600 km vorsieht, während für Schienenstrecken kümmerliche 5 000 km vorgesehen sind. Wo ist da eigentlich die Trendwende, meine Damen und Herren?
Der jahrzehntelang angewachsene Infrastrukturbedarf der Schiene kann so nicht gedeckt werden. Ganz im Gegenteil: Ein Blick in den Bundeshaushaltsplan 1993 zeigt ganz deutlich, wo die Prioritäten gesetzt werden. Für Infrastrukturmaßnahmen im Fernstraßenbau werden 8,9 Milliarden DM — gegenüber lächerlichen 4,5 Milliarden DM für die Schieneninfrastruktur — bereitgestellt.Meine Damen und Herren, wenigstens in einem Punkt hat die Koalition unsere Forderung, die wir seit fast einem Jahrzehnt stellen, nachgegeben,
nämlich die rechtliche Gleichstellung der Schiene mit der Straße zu verwirklichen. Bezeichnenderweise übrigens war der vorgelegte Regierungsentwurf eines Schienenwegeausbaugesetzes so unzureichend, daß wir uns im Verkehrsausschuß als Parlamentarier zumindest in dieser Frage einig waren und heute mit einem gemeinsamen Entwurf der Fraktionen von SPD, CDU/CSU und F.D.P. die rechtliche Gleichstellung der Schiene auf den Weg bringen können.Kritik kann Ihnen aber auch an diesem Punkt nicht erspart werden. Die von Ihnen vorgelegte Anlage zum Gesetzestext, die die Prioritätensetzung bei den einzelnen Schienenmaßnahmen enthält, weist erhebliche Mängel auf:
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1993 14369
Volkmar KretkowskiIm Vordringlichen Bedarf fehlen so wichtige Strekken wie die Schienenschnellverbindung von Dortmund nach Dresden, die für die Ballungsräume Rhein/ Ruhr und Thüringen sowie Sachsen von großer Bedeutung ist.Auch die Probleme des grenzüberschreitenden Schienenverkehrs zwischen den Niederlanden und Deutschland nehmen Sie nicht ernst; denn die dringend notwendige Strecke Kaldenkirchen-Mönchengladbach einschließlich der Viersener Kurve fehlt in Ihrer Planung ebenfalls. Statt dessen wollen Sie die Güterverkehrsströme aus Rotterdam und Amsterdam, deren Transitanteil sich bis zum Jahre 2010 verdreifachen wird, allein über die Ausbaustrecke Emmerich-Oberhausen schicken und erreichen nur eine extrem hohe Verkehrsmehrbelastung auf den ohnehin schon überlasteten Schienenstrecken entlang der Rheinachse. Mit anderen Worten: Auch hier von Umsteuern keine Rede! — Das wird im übrigen dazu führen, daß die Hollander an der deutschen Grenze wieder auf die Straße umsteigen werden.Unsere Vorschläge, meine Damen und Herren, z. B. mehr Schienenstrecken in diesen Bedarfsplan aufzunehmen und dafür Straßenbauprojekte zu streichen,
— ich komme darauf zurück — sowie die vorrangige Berücksichtigung der Regionalstrecken und die Festlegung der Stillegungsstrecken haben Sie abgelehnt. Wir haben diese Vorschläge deshalb heute noch einmal in Antragsform eingebracht. Geben Sie sich einen Ruck! Neben diesem großzügigen Akt, der Sternchen-Lösung zuzustimmen, sollten Sie unserem gesamten Antrag zustimmen.
Meine Damen und Herren, der Verkehrsminister spricht von der Vernetzung der Verkehrsträger. Aber an Stelle eines integrierten Gesamtverkehrskonzeptes werden weiter unkoordinierte Parallelplanungen für die einzelnen Verkehrsträger vorgenommen.
Weder die Frage der Verknüpfungen von Schiene und Flughäfen noch die der Schnittstellen zwischen Schiene und Straße ist befriedigend gelöst. Die Anbindung der Flughäfen Düsseldorf und Köln/Bonn an das Fernbahnnetz hätte sichergestellt werden müssen. Ebenso müßten konkrete Aussagen und Bewertungsergebnisse zu den Schnittstellen, Güterverkehrszentren und Terminals des kombinierten Ladungsverkehrs dargestellt werden, wenn man es mit der Verknüpfung der Verkehrsträger wirklich ernst meint.Im Gegensatz zu den alten Bundesländern, deren Straßennetz nach unserer Auffassung bestenfalls Ausbaumaßnahmen benötigt, sind die neuen Lander auf den raschen Bau einer funktionsfähigen Infrastruktur angewiesen. Angesichts der vielen als vordringlich eingestuften Großprojekte in den alten Ländern frage ich mich allerdings, wie Sie das bewerkstelligen wollen.Ich will Ihnen einige in den Vordringlichen Bedarf eingestufte Projekte in den alten Bundesländern nennen, Kollege Pfeffermann, die immense Summen kosten, zudem umweltpolitischer Unsinn sind und eigentlich nicht zu vertreten sind. Ich meine die A 20 Lübeck-Rostock, die insgesamt 1,3 Milliarden DM kosten soll
— hier hätte zumindest auf dem Gebiet Schleswig-Holsteins auf einen Ausbau verzichtet werden können —, die A 4, die sogenannte Rothaargebirgsautobahn, mit geschätzten Kosten von 2,3 Milliarden DM, die A 44, die DüBoDo, mitten durch dichtbesiedelten Raum mit ca. 1 Milliarden DM Kosten oder die A 94 von München nach Pöcking mitten durch das Isartal zum Preis von 1,2 Milliarden DM —
lauter unsinnige Parallelen zur Schiene, auf die wir verzichten sollten!Mit den Änderungsvorschlägen der SPD könnten Einsparungen von 11,5 Milliarden DM erzielt werden. Sie haben in den Ausschußberatungen von der Chance, diese Mittel anders zu verteilen, keinen Gebrauch gemacht.Mit den Großprojekten, meine Damen und Herren, werden unnötigerweise Mittel gebunden. Solche Prestigebauten gehen zu Lasten dringend notwendiger Ortsumgehungen, von denen Sie immer nur reden, oder zu Lasten von Projekten, die schneller und umweltverträglicher zu realisieren wären und somit auch für eine rasche Entlastung der Ortskerne sorgen würden.Die Kosten für die DüBoDo, die A 44, blockieren beispielsweise den sinnvollen Ausbau der A 40 im Dortmunder Bereich. Die nordrhein-westfälische Landesregierung hat deswegen auch andere Vorschläge gemacht, die von Ihnen aber auch nicht aufgegriffen worden sind.Meine Damen und Herren, nach der Straßenbaulüge und der Bahnlüge kommt nun die Umweltlüge.
Ihr Kabinett beschließt eine 20prozentige CO2-Reduzierung, und Sie produzieren mit dem Bundesverkehrswegeplan eine 40prozentige Schadstofferhöhung.
Solche Informationen erhalten Sie übrigens vom Umweltbundesamt oder bei der Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung, nicht von der SPD.Meine Damen und Herren, der eigentliche Überzeugungstäter, Herr Krause, ist Ihnen ja abhanden gekommen. Inzwischen sitzen Sie da, Herr Wissmann, und ich beneide Sie eigentlich nicht. Sie müssen jetzt die Suppe auslöffeln. Wenn man das ernst nimmt, was Sie heute im Ausschuß zu Ihren Leitlinien der Verkehrspolitik vorgetragen haben, dann gibt es eigent-
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14370 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1993
Volkmar Kretkowskilich nur eine Konsequenz: Der Bundesverkehrsminister hätte hier heute vor das Rednerpult treten und sagen müssen: Ich ziehe den Bundesverkehrswegeplan zurück.
Das, was Herr Krause vermasselt hat, hier zu vertreten wird um so schwieriger, da der ganze Finanz- und Planungsrahmen, der dem Verkehrswegeplan zugrunde liegt, eine einzige Luftnummer ist.
Auf Ihrer Pressekonferenz in der letzten Woche haben Sie, Herr Minister, von einer krassen Unterfinanzierung des Bundesverkehrswegeplans gesprochen
und damit u. a. die Einführung der Vignette für Lastkraftwagen begründet. Sie haben das heute im Ausschuß wiederholt, und Sie haben darauf hingewiesen, daß Sie nicht erwischt werden wollten. Ich sage Ihnen: Sie sind erwischt worden. — Um in der Sprache zu bleiben: Sie haben endlich gestanden; denn nach Betrachtung der Zahlen dürfte auch Ihnen klar sein, daß das nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist. Sie brauchen allein für die Erhaltung des Straßennetzes und für die Erneuerung des bestehenden Verkehrsnetzes mehr Geld, als Ihnen durch die Vignette zur Verfügung steht.
Abgesehen davon ist auch diese Vignette wieder ein Schritt in die falsche Richtung. Der deutsche Straßengüterverkehr wird billiger, der LKW-Verkehr wird weiter wachsen, die deutschen Transportunternehmer bleiben auf der Strecke, und die Bahn ist der Dumme bei diesem ganzen Geschäft; denn sie wird weitere Verluste hinnehmen müssen.Meine Damen und Herren, alle Ihre unseriösen Versuche, das Geld zu beschaffen, werden nicht ausreichen, um den hier festgeschriebenen Straßenbauwahnsinn zu finanzieren. Das gilt insbesondere für die Privatfinanzierungspläne. Sie selbst weisen darauf hin, daß die Refinanzierung aus Haushaltsmitteln erfolgen muß. Das bedeutet: Schon in dem Haushalt 1994 müßten Verpflichtungsermächtigungen zu Lasten des Straßenbauhaushalts aufgenommen werden, deren Einlösung die Umsetzung beschlossener Verkehrsprojekte unmöglich macht. Der Bundesverkehrswegeplan ist dann wirklich nur noch eine Farce.Bereits jetzt verhindert die Verlängerung des Planungszeitraums von bisher 5 Jahre auf mittlerweile 20 Jahre jegliche Form einer seriösen Finanzierung; denn im Klartext heißt das, daß die Projekte des Vordringlichen Bedarfs bis in das Jahr 2 012 festgeschrieben sind, und zwar per Gesetz, also eigentlich verbindlich. Die dafür nötigen Mittel werden in den jährlichen Haushaltsberatungen festgesetzt. Dank der verheerenden Finanzpolitik der Bundesregierung verschlechtert sich die Haushaltslage dramatisch, so daß eine großzügige Mittelzuweisung nicht zu erwarten ist. Das hat Ihnen Herr Waigel in diesen Tagen ja ins Stammbuch geschrieben.Hinzu kommt, daß die Länder ihre Planungsgelder nicht verschleudern wollen, daß sie sich auf den Bundesgesetzgeber müssen verlassen können. Bei einem Zeitraum von 20 Jahren ist eine regelmäßige Kontrolle und Einflußnahme durch unser Parlament praktisch nicht mehr möglich. Das Parlament muß aber die Einflußnahme auf die Prioritätensetzung des Vordringlichen Bedarfs behalten, wenn wir auch weiterhin auf Veränderungen der Verkehrssituation flexibel reagieren wollen.Unserer Forderung, zu einer vernünftigen Fünfjahresplanung zurückzukehren, die vom Parlament überprüft und gegebenfalls geändert werden kann, sind die Kollegen und Kolleginnen der Koalition im Verkehrsausschuß leider nicht nachgekommen, sondern haben lediglich einem vorläufigen Sieben-Jahres-Plan zugestimmt, der die Maßnahmen enthält, die das Verkehrsministerium aus heutiger Sicht finanziell und baurechtlich bis zum Jahre 2000 realisieren wird.Im übrigen hat Herr Krause den Offenbarungseid mit dieser Vorlage längst geleistet; denn auch da hat er zugegeben, daß die Finanzmittel nicht ausreichen. Das muß man Herrn Waigel jetzt erklären, wenn er in diesen Tagen weitere 1,3 Millionen DM für den Straßenbau einsparen will. Da brauchen Sie mit Transrapid gar nicht zu kommen. Es geht nicht um eine neue Technologie, sondern um die Finanzierung der neuen Technologie, und Sie wissen ja auch nicht, wie Sie das hinbekommen wollen.Gemessen an den zur Verfügung stehenden Haushaltsmitteln wird es mindestens 30 Jahre bis 40 Jahre dauern, bis die jetzt als vordringlich vorgeschlagenen Maßnahmen realisiert werden können. Die SPD-Bundestagsfraktion hat in den Ausschußberatungen zahlreiche Änderungsanträge mit dem Ziel eingebracht, auf Autobahngroßprojekte im Westen und im Osten zu verzichten. Die Koalition hat all diese Anträge kompromißlos niedergestimmt, um ihre Betonbaupolitik letzten Endes durchzusetzen.Deshalb steht heute ein Fernstraßenbedarfsplan zur Abstimmung, der in keiner Weise die Richtung einer zukunftsorientierten, ökologisch sinnvollen Verkehrspolitik einschlägt, sondern die Bundesrepublik in die verkehrspolitische Sackgasse und die Bürgerinnen und Bürger wissentlich hinters Licht führt. An diesem Betrug,
meine Damen und Herren, wollen und können wir uns nicht beteiligen, weil wir das nicht mitverantworten wollen. Die SPD-Fraktion wird deswegen dem Bundesfernstraßenausbaugesetz — dies übrigens zum ersten mal in der Geschichte dieses Gesetzes — nicht zustimmen.Ich bedanke mich.
Nun spricht der Kollege Horst Friedrich.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1993 14371
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Volkmar Kretkowski, wer andere Leute zur Lüge zeiht oder ihnen betrügerische Hinweise unterstellt, der sollte darauf achten, daß die eigenen Aussagen stimmig sind. Zur A 20, die Sie hier ablehnen, verweise ich insofern auf unsere Ausschußsitzung von heute vormittag, in der der hochgeschätzte Kollege Janzen dieselbe A 20 als notwendigen Anschluß an den Fährhafen Mukran gefordert hat.
Also: Wenn schon, dann bitte zumindest in sich schlüssig und stimmig!
Das gleiche gilt in meinen Augen hinsichtlich der Vergleiche zwischen dem Zeitplan für den Bundesverkehrswegeplan bis zum Jahre 2012 und dem Investitionsplan, der über 5 Jahre geht. Auch da sollte man im Ausschuß wenigstens schlüssig argumentieren.
Herr Kollege Friedrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Frau Präsidentin, ich wollte jetzt gerade erst mit der eigentlichen Rede anfangen. Wenn Sie gestatten, möchte ich das zunächst einmal entwickeln.
Mit der Verabschiedung des Vierten Fernstraßenänderungsgesetzes, des Schienenwegeausbaugesetzes und des Planungsvereinfachungsgesetzes treffen wir heute wesentliche Entscheidungen für und über die künftige Verkehrspolitik, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa,
und wir schließen eine Debatte über den sogenannten Verkehrswegeplan ab, die für die Berichterstatter der Fraktionen nicht nur eine Flut von Eingaben und Briefen mit sich brachte, die zum Teil — das sage ich aus meiner Sicht — fast den Charakter der Beleidigung erfüllt haben, sondern die in vielen Bereichen auch nach dem Motto ablief: Bleiben Sie mir doch mit Ihrer Logik vom Halse, und lassen Sie mir meine gesunden Vorurteile.
Die Verbindung dieser drei Gesetze ist nicht nur technischer Natur, sondern zeigt aus unserer Sicht auch das Spannungsfeld auf, in dem sich die Verkehrspolitik der Zukunft abwickelt. Das heißt für uns auch in einer Zeit knapper Finanzmittel: Wer die wirtschaftlichen Probleme dieses Landes, dieses vereinigten Deutschland, lösen will, der muß auch eine angemessene Infrastruktur bei allen Verkehrsträgern, also Straße, Schiene, Schiffahrt und selbstverständlich auch Luftfahrt, sicherstellen.Wenn von Umweltschutzverbänden in diesen Tagen immer wieder betont wird, wir hätten ein zu dichtes Straßennetz, und die Meinung vertreten wird, es seien für den Straßenbau eigentlich keine Mittel mehr nötig, dann sollte man sich verdeutlichen, wie das Straßennetz in Deutschland ausgebaut ist und wo der Schwerpunkt der Investitionsmaßnahmen liegt.
Sicherlich ist es richtig, daß wir eine gut ausgebaute Infrastruktur besitzen — das ist ja unstrittig —; aber diese haben wir eben nur in den alten Bundesländern, und da auch nur in Nord-Süd-Richtung. Das ist das Ergebnis einer Nachkriegsordnung, welche von der Lage der Bundesrepublik als Grenzstaat zu den ehemaligen Ostblockstaaten hinter dem Eisernen Vorhang ausgegangen ist. Genau diese Situation — das sage ich sehr bewußt als jemand, der an dieser ehemaligen Grenze gewohnt hat — hat sich mit der Einheit und mit der Öffnung in Europa geändert. Wir brauchen jetzt, jahrzehntelang herbeigewünscht von uns allen, die Verlagerung der Verkehrsströme von West nach Ost und nicht mehr nur die Verkehrswege in Nord-Süd-Richtung.Genau diese West-Ost-Magistralen sind nun die wichtigen, wesentlichen Pfeiler der Verkehrsinfrastruktur in Deutschland.
Das sage ich auch in Ansehung der Bedeutung Deutschlands als Transitland, und zwar nicht deshalb, weil wir das so wollen, sondern deshalb, weil wir das auf Grund der Lage in Europa einfach sind.
— Lieber Kollege Müller, wir haben eine Chance, daraus etwas zu machen.
Der Bundesverkehrswegeplan, der Ihnen vorliegt, leistet dazu ein gutes Stück, weil er aus unserer Sicht die Verknüpfung der Verkehrsträger miteinander in einer Richtung schafft, die Sie eigentlich nicht so sehen, nämlich in die Richtung, den Verkehrsträger in seiner jeweiligen Stärke genau darzustellen.
Für die F.D.P., lieber Kollege Müller, liegt der Schwerpunkt der Verkehrspolitik nicht auf der einseitigen Bevorzugung eines Verkehrsträgers, sondern in einem intelligenten Mix aller vorhandenen Verkehrsträger,
und zwar so, daß jeder seine ganz speziellen Stärken ausspielen kann. In diesem Konzept kommt sowohl der Binnenschiffahrt als auch der Eisenbahn, einer erneuerten Eisenbahn, eine wichtige Rolle zu.
Aber es muß sich wirklich um eine neue Eisenbahn und darf sich nicht etwa nur um den Austausch von
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Horst FriedrichTürschildern handeln; denn nur so kann die Bahn überhaupt Marktanteile zurückgewinnen.
Auch da sollte man sich in der Diskussion keinen Illusionen hingeben. Ich will nur daran erinnern, daß eine Verlagerung von 10 % der Güter von der Straße auf die Schiene dort eine Verdoppelung der Kapazitäten bedeutete.
Was das für die Schiene bedeutet, brauche ich hier wohl nicht zu sagen.Mein Kollege Roland Kohn wird dazu noch im einzelnen Ausführungen machen. Aber lassen Sie mich eines hier noch sagen: Wer glaubt, die Problemlösung beim Verkehrsträger Schiene mit den technischen Mitteln des 19. Jahrhunderts darstellen zu können, der wird Schiffbruch erleiden. Wir werden auch hier die Technik des 21. Jahrhunderts einsetzen müssen.
Das gilt insbesondere für grenzüberschreitende Logistiksysteme, für völlig neue System- und Signaltechnik und im übrigen auch für den Einsatz des Transrapid.
— Aber der Transrapid hat die Chance, bestimmte Personen aus dem Luftverkehr wegzuziehen und bestimmte Schienenstrecken dem Güterverkehr zur Verfügung zu stellen. Man muß da ja auch ein bißchen die Ergänzungseffekte sehen, liebe Kollegen von der SPD.
Die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur — das möchte ich als zweiten Punkt meiner Rede darstellen — bleibt natürlich nur ein frommer Wunsch, wenn es nicht gelingt, die Planungszeiträume den Bedingungen anzupassen. Es kann ja nicht sein, daß in Deutschland Planungs- und Verwirklichungszeiten 20, 25, 30 und mehr Jahre dauern. Das haben wir in der Vergangenheit immer wieder beklagt. Wir haben es nie geändert. Wir haben es jetzt begonnen, zunächst in den neuen Ländern mit der Einführung des heftig umstrittenen Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes. Wir haben es mm im Osten um ein Investitionsmaßnahmengesetz ergänzt, Südumfahrung Stendal, eine Maßnahme, die helfen kann, so etwas schneller zu machen.
Wir haben jetzt endlich auch die Umsetzung — das ist auch der einhellige Wunsch der Verkehrsminister der Länder — für die alten Bundesländer in Form des Ihnen vorliegenden Planungsvereinfachungsgesetzes.Gerade weil neue Ost-West-Verbindungen Europa insgesamt zugute kommen, müssen speziell wir in Deutschland die Verkehrswege schneller planen und bauen. Denn nur dann haben wir die Chance, in dem Konzert europaweit mitzuspielen. Das Planungsvereinfachungsgesetz sieht die Möglichkeit vor, die Linienführung von Verkehrswegen europäischer oder nationaler Bedeutung z. B. durch Bundesgesetz zu bestimmen. Es verzichtet aber darauf, Maßnahmen von nur örtlicher Bedeutung durch den Bundesverkehrsminister bestimmen zu lassen. Es werden endlich Fristen eingeführt. Es wird auch das Instrument der Plangenehmigung eingeführt, das an die Stelle eines Planfeststellungsbeschlusses treten kann, und zwar unter ganz bestimmten Voraussetzungen. Vor allen Dingen werden die Verkehrsgesetze untereinander abgestimmt. Nur wenn uns das gelingt, haben wir auch die Chance, Deutschland als Standort für die Wirtschaft im europäischen Kontext zu erhalten.Ich bin froh, daß die Nichterhöhung des Straßenbauhaushaltes dem Verkehrsminister die Möglichkeit gibt, nicht nur pauschal einfach Straßenbaumaßnahmen zu streichen, sondern auch im Hause zu überprüfen, ob nicht durch Wegfall überzogener Standards, wo auch immer, zukünftig Ressourcen geschaffen werden, die es trotz alledem ermöglichen, den aus unserer Sicht für notwendig gehaltenen Ausbau der Infrastruktur für alle Verkehrsträger möglich zu machen. Dabei möchte ich hinzufügen: Erste Priorität haben auch für die F.D.P. die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit.
Es ist deshalb sicherlich nicht überraschend, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn die F.D.P. den Gesetzentwürfen der Bundesregierung bzw. der Koalitionsfraktionen zustimmt.
Nun hat die Kollegin Dagmar Enkelmann das Wort.
Natürlich nicht, Herr Kollege.Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mir scheint, das Leitmotiv der Politik der Bundesregierung ist: Nach uns die Sintflut.
— Ich meine diese Bundesregierung; ich habe das sehr deutlich gesagt.Skandalöser Sozialabbau, eine in den Ruin führende Finanzpolitik, eine Wirtschaftspolitik, die diesen Namen nicht verdient, und eine Verkehrspolitik, die unseren Kindern und Enkelkindern ein mit Autobahnen zubetoniertes Land hinterläßt, auf denen sich eine unendliche Blechlawine entlangwälzt. Irgendwann in naher Zukunft werden Kinder auf der einen Straßenseite geboren und schaffen es zeitlebens nicht, auf die andere zu gelangen. Grauenvolle Horrorvision? Die Prognosen, meine Damen und Herren, sind eindeutig. Die Verkehrsleistungen im Personenfernverkehr auf der Straße sollen bis 2010 um etwa 30 %
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Dr. Dagmar Enkelmannansteigen. Die prognostizierten Wachstumsraten im Güterfernverkehr auf der Straße liegen zwischen 95 und 110 %. Für Berlin wird eine Verdoppelung des Pkw-Verkehrs vorausgesagt. Der innerdeutsche Luftverkehr soll um 150 % anwachsen.All das sind Zahlen, die die unterste Grenze dessen darstellen, was wirklich zu erwarten ist. Aber weder der von uns gegangene Verkehrsminister Krause
— ich meine, von der Regierungsbank von uns gegangen — noch sein Überraschungsnachfolger Wissmann — ich glaube, er war über sein neues Ressort am meisten überrascht — lassen sich von wissenschaftlichen Prognosen beeindrucken.
— Ja, aber dann muß man es auch können.Diese Politik wird eben aus dem gutgefüllten Bauch und ohne wissenschaftlichen Hintergrund gemacht. Nur so jedenfalls läßt sich der von der Bundesregierung vorgelegte Verkehrswegeplan erklären.Im Oktober vergangenen Jahres hat die PDS/Linke Liste einen Antrag eingebracht, in dem sie die Bundesregierung aufgefordert hat, ihren Entwurf des Bundesverkehrswegeplans 1992 zurückzuziehen. Die Begründung lautete und lautet immer noch: Der von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf entspricht in keiner Weise den Anforderungen an eine umweltgerechte integrierte Verkehrspolitik.
Heute, so scheint mir, muß man die Bundesregierung auffordern, nicht nur den Bundesverkehrswegeplan, sondern sich selbst zurückzuziehen. Diese Bundesregierung hat auf allen Ebenen versagt. Nur ein paar Stichpunkte:Bahnreform: Erst rechnet der Bund die geplante Bahnreform schön, indem er sich um die lächerliche Summe von schlappen 35 Milliarden DM vertut. Dann folgt auf die wiederholten Versicherungen von Bahnchef Dürr und dem etwas glücklosen ehemaligen Minister Krause, daß es keine Entlassungen geben werde, gestern die Meldung von Stellenstreichungen in einer Größenordnung von 70 000 bis 80 000 in den nächsten Jahren. Was soll man Ihnen jetzt noch glauben?Meine Damen und Herren auf der Regierungsbank, es dürfte jetzt schon klar sein, daß die Bahnreform, so angefangen, nur auf das Abstellgleis führen kann. Solange Sie kein Konzept haben, das lenkend in die Verkehrsentwicklung eingreift und damit auch die künftige Rolle des Schienenverkehrs festlegt, das der Bahn faire Wettbewerbsbedingungen sichert, werden Sie mit Vignetten, elektronischen Verkehrsleitsystemen, Maut usw. nur kosmetische Operationen vornehmen, von denen es hinterher heißen wird: Operation geglückt, Patient verstorben.Was Sie da vorgelegt haben, z. B. die Regionalisierung des Schienennahverkehrs betreffend, istschwammig und unausgereift. Was die Bahn braucht, ist eine Offensive mit einem verbesserten Angebot und verbesserten Serviceleistungen, nicht Streckenstillegungen und Personalabbau.Nächstes Stichwort: Planungsvereinfachungsgesetz. Der Vorläufer dieses undemokratischen Planungsrechts, das Beschleunigungsgesetz, wurde damals mit der Begründung durch den Bundestag gepeitscht, insbesondere die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit duldeten keinen Aufschub und müßten schnellstens verwirklicht werden.
Mit dem Aufschwung Ost begründeten sie einen Notstand, der zu außergewöhnlichen Maßnahmen zwinge. Den Notstand im Osten haben wir nun Dank Treuhand, schmieriger Spekulanten und westlicher Wirtschaftsscharlatane. Da werden uns auch neue Straßen nicht mehr helfen.
Das Beschleunigungsgesetz für den Osten wurde vor vielen Monaten vom Bundestag verabschiedet. In Anbetracht der katastrophalen Situation sei es lebensnotwendig, aufbaufördernd usw.Nun wird in der vergangenen Woche öffentlich, daß die Strecke Uelzen-Stendal, die zum Projekt 3 gehört, eventuell nur eingleisig ausgebaut wird. Jedenfalls hat die Zentrale der Deutschen Bahn still und heimlich die Planungsgesellschaft beauftragt, diese Variante zu prüfen. Keine Rede mehr von zügiger Planung! Die dringende Notwendigkeit scheint ganz plötzlich zu entfallen.Weil es aber so einfach war, das Gesetz durch das Parlament zu bringen wird nun noch schnell für die gesamte Bundesrepublik nachgeschoben. Wie aber begründen Sie jetzt den Notstand? Ich kann mir nur eines vorstellen: den Notstand der gesamten Regierungspolitik. Besser kann kaum ein anderes Beispiel die Verlogenheit der Bundesregierung demonstrieren.
— Ich weiß sehr wohl, wo ich bin!Es ist eine Verkehrspolitik, die zwar von einer allen zugute kommenden schnellen Verbesserung insbesondere der Schieneninfrastruktur redet, aber Demokratieabbau im Planungsrecht meint.Zweifelsohne kann und sollte Planung beschleunigt und entbürokratisiert werden. Man muß dazu aber an anderen Punkten ansetzen als an der Beschneidung von Mitsprache- und Einspruchsrechten von Bürgerinnen und Bürgern und von Verbänden. Ich verweise hier auf eine Studie des Umweltministeriums, in der u. a. Ursachen für überlange Planungszeiträume nachgewiesen werden. Es ist im Gegenteil sogar bewiesen, daß eine möglichst frühzeitige Einbeziehung der Betroffenen spätere Probleme schon im
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Dr. Dagmar EnkelmannAnsatz ausräumen kann. Die Bundesregierung versteht Demokratie aber anscheinend als lästiges Beiwerk.
Ein letztes Stichwort, zu dem wesentlich mehr, als es meine Redezeit zuläßt, zu sagen wäre: der Bundesverkehrswegeplan. Auch er ist Zeugnis einer verfehlten Verkehrspolitik und ein Schlag gegen alle klimapolitischen Ziele, die die Bundesregierung so vollmundig national und international formuliert hat.Die A 44 z. B., die „DüBoDo", steht schon seit Jahren als vordringlicher Bedarf in den Verkehrswegeplänen, was das Projekt allerdings nicht sinnvoller macht. Die Bundesregierung hält daran fest, und zwar ungeachtet der Tatsachen, daß sich in der betroffenen Region die wirtschaftlichen und verkehrlichen Bedingungen grundlegend verändert haben, die entsprechenden Kommunen sowie die Landesregierung sich mittlerweile gegen dieses Projekt ausgesprochen haben, die A 44 wegen des schon vorhandenen dichten Autobahnnetzes für den Ost-West-Verkehr nicht erforderlich ist und keine Entlastung der innerstädtischen Straßennetze bringen wird und die ökologischen Folgewirkungen nicht hinreichend untersucht wurden. Es handelt sich hier z. B. um ein Gebiet, in dem nach 1945 wilder Bergbau betrieben wurde; also jede Familie hatte dort ihren eigenen Steinkohlenbergbau. Es ist daher völlig offen, welche Folgen eine ungeprüfte Trassenführung dort haben wird.
— Ich habe leider nur wenige Minuten.
Eine weitere ökologische Todsünde, wie es der Deutsche Naturschutzring kürzlich bezeichnete, ist die umstrittene A 20, das Prestigeobjekt des ehemaligen Verkehrsministers. Dort wird eine einzigartige Landschaft, ja, es werden sogar Landschaftsschutzgebiete zerstört — im Namen des wirtschaftlichen Aufschwungs und mit dem Versprechen, daß Arbeitsplätze geschaffen werden.Dieser Effekt ist allerdings stark zu bezweifeln. Es steht im Gegenteil zu befürchten, daß es bei einer engeren Anbindung an die Großstädte Hamburg und Lübeck verstärkt zur Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte in den Westen kommt.Die Arbeitsplätze, die an der A 20 — vornehmlich eine Transitautobahn — entstehen, sind höchstens an Tankstellen oder Imbißbuden angebunden. Hier wird die Bevölkerung von Mecklenburg-Vorpommern bewußt irregeführt und belogen.Es müßte noch viel zu Einzelprojekten gesagt werden: zur A 13, der Autobahn Dresden-Prag, die die landschaftlich einzigartige Sächsische Schweiz durchschneiden wird, zur A 4, für die im Naturpark Rothaargebirge über eine Million Bäume gefällt werden müßten, zu den Projekten A 100 und A 113 in Berlin, die zu erheblichen Umweltbelastungen
und deutlichen Beschränkungen im innerstädtischen Wohnungsneubau führen werden, und so weiter und so fort.Sie, meine Damen und Herren der Koalitionsfraktionen, werden kraft Mehrheit sämtliche Projekte bestätigen, ohne sich tatsächlich konkret mit einzelnen auseinandergesetzt, ohne mögliche Alternativen überhaupt erwogen zu haben.Die einzige Alternative kann nur in einem ökologisch integrierten Gesamtverkehrskonzept liegen. Davon ist diese Bundesregierung meilenweit entfernt.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Helmuth Becker Ich erteile das Wort unserem Kollegen Dr. Klaus-Dieter Feige.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute wollen die Koalitionsfraktionen mit dem ersten gesamtdeutschen Verkehrswegeplan das größte Straßenbauprogramm der Nachkriegsgeschichte verabschieden. Mehr als 11 000 km Autobahnen und Bundesfernstraßen sollen bis zum Jahr 2010 gebaut oder ausgebaut werden. Statt der durchschnittlichen 5 Milliarden DM pro Jahr, die der Bund in den vergangenen zehn Jahren für den Fernstraßenausbau ausgegeben hat, sollen es fortan 10 Milliarden DM sein.
Dazu kommen weitere erhebliche Mittel, die in Landes-, Kreis- und Gemeindestraßen investiert werden und an denen der Bund mit mehreren Milliarden pro Jahr beteiligt ist. Das ist überproportional!
Die Behauptung der Bundesregierung, daß die Schienenstrecken mit den veranschlagten 195 Milliarden DM bis in das Jahr 2010 gleichrangig ausgebaut werden, ist vor diesem Hintergrund schlichtweg falsch. Mit Sparen hat das jedenfalls nichts mehr zu tun.In diesem Zusammenhang erinnere ich Sie daran, daß der deutliche Vorrang von Investitionen in das Schienennetz nicht nur umweltpolitisch sinnvoll, sondern im Sinne einer Kosten-Nutzen-Analyse die verkehrspolitisch effizientere Alternative ist.Wenn Sie sagen, daß lediglich 10 % des Verkehrs durch eine Verdoppelung des Schienennetzes auf die Schiene geholt werden können, dann entgegne ich: Das sind Ihre Versäumnisse, die diese Proportionen überhaupt erst möglich gemacht haben.
— Auch das, was ich angefügt habe, ist sachlich.
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Dr. Klaus-Dieter FeigeDie bundeseigene Forschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung hat für die Projekte Deutsche Einheit dazu zutreffend festgestellt — ich zitiere —:Im Gegensatz zu den Schienenprojekten haben die Straßenprojekte kaum noch bedeutende Reisezeitverbesserungen zur Folge. Auch eine Ausstrahlung der Projekte auf die alten Bundesländer ist kaum festzustellen. Dies ist auf das flächendeckend hohe Qualitätsniveau des westdeutschen Fernstraßennetzes und die auch in den neuen Bundesländern vorhandenen Autobahnen für die großräumigen Verbindungen zurückzuführen.Diese Forschungsanstalt ist doch wohl in diesem Sinne nicht etwa verdächtig, gerade grünen Positionen nachzulaufen.Dessen ungeachtet setzt die Bundesregierung mit dem Bundesverkehrswegeplan weiterhin auf einen massiven Ausbau des Autobahn- und Fernstraßennetzes. Der Bundesverkehrswegeplan ist von einem integrierten Gesamtverkehrskonzept, das auf eine nachhaltige Mobilität von Wirtschaft und Gesellschaft ausgerichtet ist, weit entfernt.Darüber hinaus — das ist das Wichtige — ist in den vorgelegten Gesetzentwürfen nicht der geringste Ansatz von Verkehrsvermeidungsstrategien sichtbar. Nach wie vor wird entsprechend der vorhergesagten Zuwächse jeder Verkehrsträger für sich ausgebaut. So bleibt z. B. unberücksichtigt, daß der Aus- oder Neubau einer Straße parallel zu einer vorhandenen Bahnlinie dieser die wirtschaftliche Grundlage entzieht. Sie finden genügend solcher Beispiele in diesem vorgelegten Gesetzentwurf. Der langfristige wirtschaftliche und finanzpolitische Erfolg der angestrebten Bahnreform wird durch diesen Bundesverkehrswegeplan in Frage gestellt.Mit ihrem ersten gesamtdeutschen Verkehrswegeplan beerdigt die Bundesregierung mit dem heutigen Tage auch ihre eigenen Klimaschutzziele.Die Verkehrsprognosen, die dem Verkehrswegeplan zugrunde liegen, implizieren einen erheblichen Zuwachs der verkehrsbedingten CO2-Emissionen bis 2005: in den westlichen Ländern um 43 % und in den östlichen um 150 % gegenüber 1987. Damit werden mögliche Reduktionen in anderen Sektoren mehr als kompensiert. Langfristig torpediert diese Verkehrsentwicklung die in der letzten Woche unterzeichnete Klimaschutzkonvention.Schon seit 1987, als die Bundesregierung ihr CO2-Reduktionsziel festgelegt hat, sind die Emissionen des Straßenverkehrs in den alten Ländern um 16 % gestiegen.Es ist ja nicht nur Kohlendioxid, was da so aus einem Auspuff herauskommt. Wenn Sie nichts, aber auch gar nichts gegen den zunehmenden Verkehrswahn tun, werden sich die Bürger schon bald nach den Bodenozonwerten des Jahres 1992 zurücksehnen, und die waren schon für viele gesundheitlich katastrophal.Vor dem Hintergrund einer anhaltenden Rezession und der zunehmenden Finanzkrise der öffentlichenHand gerät der Bundesverkehrswegeplan zu einem finanzpolitischen Luftschloß.Die Erfahrungen der letzten Bundesverkehrswegepläne zeigen, daß der bisherige Finanzrahmen von 414 Milliarden DM infolge der Verteuerung einzelner Projekte auf gut 600 Milliarden nach oben korrigiert werden muß. Das war bisher immer so, und es ist auch nicht zu erkennen, daß Sie von dieser Regel abweichen werden.Mir könnte es ja eigentlich recht sein, daß kein Geld da ist, wenn nicht alle bisherigen Erfahrungen mit der Bundesregierung sicher scheinen ließen, daß Sie genau die Projekte umsetzen, die ökologisch die bedenklichsten sind. Sie sind bereits genannt worden. Ich kann nur wiederholen: Die A 20, die sogenannte Küstenautobahn, ist nicht nur ökologisch, sondern auch ökonomisch einfach sinnlos. Das, was von Ihnen eingebracht wird, um z. B. die Autobahn A 13, Dresden-Prag, in den Rang vordringlichen Bedarfs zu holen, basiert auf falschen Zahlen, auf einfach heruntergedrückten Kosten, die nicht einmal die Hälfte dieser Strecke finanzierbar machen.Die geplante minimale Erhöhung der Mineralölsteuer um 16 Pf wird an der Größenordnung der finanzpolitischen Probleme der Verkehrswegeplanung nichts verändern.Der deutsche Güterstraßenverkehr wird durch die Kombination Lkw-Vignette mit der so unsinnigen Kfz-Steuersenkung sogar noch deutlich verbilligt. Die Reform der konkurrierenden Bahn wird damit zu einem finanzpolitischen Faß ohne Boden.Das anhaltende Wachstum des Straßenverkehrs, mit dem die Bundesregierung ihre großen Ausbaupläne rechtfertigt, wird auf diese Weise eher noch beschleunigt.Ein weiteres Ansteigen der Massenmotorisierung und der daran angepaßte Ausbau der Straßen zur zeitlichen Streckung des Verkehrsinfarkts übersteigen aber die Finanzkraft der Bundesrepublik Deutschland schon jetzt und auf Dauer.Eine ökologische Lenkungswirkung des Benzinpreises, die gleichzeitig Strukturbrüche vermeidet, läßt sich am effizientesten über eine schrittweise Erhöhung der Mineralölsteuer um deutlich spürbare Größenordnungen erreichen. So, wie Sie jetzt vorgehen, Herr Bundesminister, wird es niemandem auffallen, wenn man Sie eines Tages nicht mehr Wissmann, sondern Krausmann nennt, und keiner würde sich darüber aufregen. Sie sind dort in die Fußstapfen einer unsäglichen Verkehrspolitik eingestiegen.Gegen die finanzpolitische Bodenlosigkeit dieses Bundesverkehrswegeplans fordert BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erstens, den ersten gesamtdeutschen Verkehrswegeplan 1992 durch einen neuen Entwurf zu ersetzen, der einem integrierten Gesamtverkehrskonzept gerecht wird.Zweitens ist in einem abgestuften Verfahren gemeinsam mit den Bundesländern, den Kommunen sowie den Umwelt- und Naturschutzverbänden ein integriertes Verkehrskonzept zu erarbeiten und bis zum 1. Januar 1994 dem Deutschen Bundestag vorzulegen. Priorität hat dabei die Verkehrsvermeidung
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Dr. Klaus-Dieter Feigeund die Verkehrsverlagerung auf Bahn und ÖPNV sowie die Abstimmung der Verkehrsträger untereinander. Dem Ausbau und der Modernisierung der Schienenwege und des ÖPNV ist gegenüber dem Fernstraßenaus- und -neubau eindeutig Vorrang zu geben.Drittens. Die Investitionspolitik von Bund, Ländern und Gemeinden ist mit einer ökologischen Preispolitik zu verbinden. Dazu ist die Mineralölsteuer zu Beginn um 50 Pf und anschließend jährlich um diese Summe zu erhöhen.Der Bundesverkehrswegeplan der Bundesregierung ist eine Anleitung zum nationalen, wenn nicht gar zum globalen ökologischen Selbstmord.
Und Ihr Planungsvereinfachungsgesetz ist das rechtliche Instrument dazu.Wir haben namentliche Abstimmungen beantragt. Sie wissen, daß wir dazu nicht genug Abgeordnete sind — was Sie sicherlich noch erfreuen wird —; aber das wird sich ändern. Ich möchte noch einmal an die Kolleginnen und Kollegen von der SPD eindringlich appellieren: Es geht darum, zu zeigen, daß sich keiner der Verantwortung für dieses größenwahnsinnige Projekt entziehen kann und daß jeder in seinem Wahlkreis befragt werden kann, wie er zu diesem Projekt gestanden hat. Ich bitte Sie noch einmal um Unterstützung, hier eine namentliche Abstimmung durchzuführen.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile dem Herrn Bundesverkehrsminister Matthias Wissmann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bedanke mich im Namen der Bundesregierung bei allen, die — sei es als Berichterstatter, sei es als Ausschußmitglieder — aus allen Fraktionen an der Vorbereitung des Bundesverkehrswegeplans in so engagierter Weise teilgenommen haben. Ich bedanke mich auch bei den vielen tüchtigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Verkehrsministerium, die daran unermüdlich gearbeitet haben. Ich freue mich, daß Günther Krause in unserer Mitte ist, und bedanke mich nicht zuletzt bei ihm für seine engagierte Arbeit an diesem wichtigen gesamtdeutschen Verkehrskonzept.
Diskussionen tun gut, und sie sind das Salz in der Suppe des Parlamentarismus. Nur, bei dem einen oder anderen Beitrag in der heutigen Debatte — erlauben Sie mir diese Bemerkung -- frage ich mich, ob wir nicht auch in unserer Sprache etwas weniger gewalttätig sein könnten.
Worte wie „ökologischer Selbstmord", „Verlogenheit" und „Betrug" sollten wir langsam aus denparlamentarischen Debatten entfernen. Ohne solche Worte würde sich die Glaubwürdigkeit der Argumente wesentlich erhöhen.
Ich freue mich, daß wir in vielen Punkten breite Übereinstimmung zwischen den Fraktionen von CDU/CSU, F.D.P. und SPD erreicht haben. Das ist in dieser Debatte nicht immer sichtbar geworden. Die Kollegen der SPD haben im federführenden Ausschuß einem Großteil der Maßnahmen bei der Straße zugestimmt. Das Bundesschienenwegeausbaugesetz, das wir heute beraten und verabschieden, ist gar ein gemeinsamer Entwurf von CDU/CSU , F.D.P. und SPD.Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, daß es zur Glaubwürdigkeit der Politik, der Parteien und von uns allen eher beiträgt, wenn wir in den Parlamentsdebatten nicht nur Trennendes nennen, sondern ebenso das in konstruktiver Arbeit gemeinsam Erarbeitete mit erwähnen und es in den Parlamentsdebatten nicht sozusagen wegretuschieren, nur weil es wahltaktisch besser geeignet sein mag. Wir haben vieles gemeinsam erreicht. Dafür danke ich allen, die daran mitgearbeitet haben.
Natürlich gibt es in wichtigen Punkten auch Dissens. Dennoch ist das Ergebnis akzeptabel. Der Bundesverkehrswegeplan — er ist der erste gesamtdeutsche Verkehrswegeplan — setzt die richtigen Schwerpunkte zur richtigen Zeit:Erstens. Er stärkt die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands besonders in den neuen Bundesländern und sichert die Mobilität von Personen und Gütern.Zweitens. Er bezieht in hohem Maße den Umweltschutz als Leitgedanken der Verkehrspolitik mit ein. Ich will ganz deutlich sagen: Für mich ist Umweltschutz integraler Bestandteil jeder zukunftsorientierten Verkehrspolitik und jedes zukunftsorientierten Verkehrsprojekts. Darauf zielt der Bundesverkehrswegeplan zu Recht.
Drittens. Der Bundesverkehrswegeplan eröffnet die Perspektive auf privatwirtschaftlichen Infrastrukturausbau, eines der entscheidenden Zukunftsthemen.Viertens. Der Bundesverkehrswegeplan wird begleitet durch das Planungsvereinfachungsgesetz, das die um sich greifende Überbürokratisierung der alten Bundesrepublik zum Wohle der Menschen deutlich abbauen wird. Für die neuen Bundesländer haben wir bereits mit dem Beschleunigten Planungsrecht die entsprechenden gesetzlichen Möglichkeiten geschaffen.Bei allen parteilichen Unterschieden muß uns klar sein, daß wir im internationalen Wettbewerb der Standorte eine gut ausgebaute Verkehrsinfrastruktur brauchen. Sie ist Voraussetzung für eine konkurrenzfähige Wirtschaft. Darüber hinaus sind gute Struktur-
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Bundesminister Matthias Wissmannbedingungen durch Schiene, Straße und Wasserstraße für den wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Bundesländern und für das Zusammenwachsen Deutschlands von großer Bedeutung. Deswegen sage ich hier ganz klar und eindeutig: Ich werde an der Schwerpunktsetzung, die Günther Krause für den Ausbau der Infrastruktur in den neuen Bundesländern vorgenommen hat, in der Substanz nichts ändern, weil wir diesen Ausbau brauchen, um den neuen Bundesländern die wirtschaftlichen Perspektiven zu geben, die sie in dieser schwierigen Übergangszeit dringend benötigen.
Unser Ziel ist es, den Bedarf an Verkehrswegen im wiedervereinten Deutschland baldmöglichst zu dekken. Wir wollen deshalb bis zum Jahr 2000 erhebliche Teile des Vordringlichen Bedarfs in den neuen wie in den alten Bundesländern verwirklichen, vor allem die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit".Ich habe selber viele Jahre in Ausschüssen des Bundestags gesessen und kenne das politische Spiel. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, eines ist nicht besonders überzeugend: Für die eigene Heimat beim Straßenbau der Advokat zu sein nach dem Motto „Mehr für die eigene Heimat — weniger im Bundesgebiet" ist nicht in Ordnung. Seien Sie bitte konsequent und fordern für andere dasselbe, was Sie für sich fordern! Sie würden damit Ihren Argumenten mehr Schlagkraft geben.
— Ich sage in aller Kollegialität, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wer am lautesten schreit, merkt meistens, daß er getroffen ist.
Ich will deutlich festhalten: Ich habe heute in zwei Fällen erlebt, daß parteiübergreifende Bürgerinitiativen zum Bundesverkehrsminister gekommen sind und gesagt haben: Tu endlich etwas, damit die unerträgliche Lärmbelästigung und die unerträgliche Verkehrsbelästigung baldmöglichst beseitigt werden! Ich habe soeben 11 000 Unterschriften zur A 44 im Bereich Hessen überreicht bekommen und heute morgen Tausende von Unterschriften in Sachen einer Ortsumgehung bei Wermelskirchen, hier in der Nähe.Auch ich bin dafür, nur das zu bauen, was wirklich notwendig ist. Ich bin gegen ein Zubetonieren. Aber ich sage auch: Es gibt viele Fälle, in denen die Bürgerinnen und Bürger von uns erwarten, daß wir das Notwendige tun, und zwar unter Wahrung des bestmöglichen Schutzes von Umwelt und Landschaft. Wir dürfen uns nicht verstecken, sondern müssen das im Interesse der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes tun.
Herr Minister, Frau Kollegin Müller möchte Ihnen eine Frage stellen.
Bitte, gerne.
Vizepräsident Helmuth Becker Bitte sehr.
Herr Minister, da Sie sich sehr viel Gedanken darüber machen, wie man Bürger vor Lärm schützen kann, frage ich: Können wir davon ausgehen, daß es einen entsprechenden Titel für Lärmschutz an bestehenden Schienenwegen im nächsten Haushalt geben wird?
Frau Kollegin, wir nehmen den Lärmschutz bei der Schiene wie bei der Straße mehr als ernst.Ich sage aber ebenso deutlich: Ich habe in der vergangenen Woche in meinem Wahlkreis eine Lärmschutzwand sozusagen eingeweiht. Veranschlagt waren 4 Millionen DM. Nach der Fertigstellung betrugen die Kosten 6,5 Millionen DM. Ich finde zwar, daß der Bau dringend notwendig war, so wie er auch in anderen Fällen bei Schienen und Straßen notwendig ist. Aber ich frage mich auch: Sind wir inzwischen in Deutschland nicht dabei, aus mancher Lärmschutzwand ein Kunstwerk zu machen?
Machen wir damit nicht etwas, was wir uns letztlich gar nicht mehr leisten können?
Auch diese Fragen müssen erlaubt sein. Also meine klare Antwort: Lärmschutz an Schiene wie an Straße wird auch in Zukunft verstärkt notwendig sein; aber mit den nur im bescheidenem Maß vorhandenen Mitteln muß klug umgegangen werden. Das ist wichtig in einer Zeit knapper Finanzen.
Meine Damen und Herren, es ist in der Debatte zu Recht gesagt worden, daß die Schiene Vorrang verdient. Ich glaube, es fällt keinem, in keiner Partei ein Zacken aus der Krone, wenn er feststellt, daß in den letzten 40 Jahren Bahn und Schiene sträflich vernachlässigt worden sind. Wir müssen daraus konsequenzen ziehen. Günther Krause hat nicht zuletzt deswegen das Konzept der Bahnreform auf den Weg gebracht, das es nun politisch durchzusetzen gilt.Der Anteil der Schiene am Personenverkehr liegt bei nur 6 %. Der Anteil der Bahn am Güterverkehr ist seit 1960 drastisch gesunken. Ich werde alles tun, um durch Investitionen wie auch durch das Vorantreiben der Bahnreform die Schiene zu stärken. Dabei sind wir auf Kooperation angewiesen. Daß da Kooperationsgeist besteht, war heute im Verkehrsausschuß sichtbar. Ebenso klar ist, daß wir aus unseren Worten zur Bahnreform bald Taten werden lassen. Denn nur eine beweglichere, von der Behördenstruktur befreite, attraktivere Konzeption der Bahn wird auf Dauer genügend Verkehr von der Straße wegziehen.
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14378 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1993
Bundesminister Matthias WissmannIch habe in den letzten Tagen oft erklärt, warum wir die Mineralölsteuer erhöhen, um die Entschuldung von Bundes- und Reichsbahn möglich zu machen.
Ich habe z. B. gestern in Rostock vor dem KfzGewerbe gesagt: Wer jetzt den Straßenverkehr teurer macht, auch um Verkehrsinvestitionen in die Schiene zu begünstigen, der nützt nicht nur der Bahn, sondern der nützt langfristig auch dem Straßenverkehr. Denn nur wenn vom Verkehrszuwachs mehr auf die Schiene geht, gibt es auf Dauer überhaupt die Chance, einen durchgängigen Stau von Nord nach Süd und von West nach Ost zu vermeiden. Insofern gehört beides zusammen.
Deswegen ist es gut, daß das Schienenwegeausbaugesetz, das wir gemeinsam verabschieden wollen, endlich eine formelle Gleichstellung des Schienenwegeausbaus und -neubaus mit dem Aus- und Neubau der Straßen bringt.Wir werden ferner alles tun, um bei der Reduzierung von CO2-Emissionen voranzukommen. Unser Maßnahmenkatalog reicht von Vorgaben zur Schadstoffreduzierung des Straßengüterverkehrs über den Einsatz von Informationstechnologien und Verkehrsvernetzung bis hin zur eben erwähnten Bahnreform, die erhebliche neue Marktanteile für die Bahn ermöglicht und damit helfen soll, die hohe Frequentierung der Straße abzubauen.Klar aber ist auch: Die Schwerpunktsetzung zugunsten von Bahn und Schiene kann nicht den völligen Verzicht auf Straßenbau bedeuten. Der Straßenbau der Zukunft wird allerdings mehr auf qualitative denn auf quantitative Verbesserungen setzen. Es geht mir um den Ausbau vorhandener Verkehrswege und die Entlastung von Städten und Dörfern. Es geht um die Lebensqualität vieler Menschen. Wir leisten damit nicht zuletzt einen wichtigen Beitrag zur Erhöhung der Verkehrssicherheit in ganz Deutschland.Ich halte in der verkehrspolitischen Diskussion nichts von einem künstlichen Gegensatz zwischen Natur und Mensch. Ich glaube, daß wir durch vernetztes Denken und Handeln — durch ganzheitliche Sicht — viel stärker als bisher die Interessen lärmgeplagter und im Stau steckender Menschen mit einer Konzeption, die die Natur schont, verbinden müssen.Auch und gerade deshalb stärken wir im Bundesverkehrswegeplan die Schiene. Wir alle sehen aber inzwischen ein, daß die Bahn das Auto in weiten Bereichen nicht völlig ersetzen kann.
Der Vorteil der Bahn im Güterverkehr liegt im Transport größerer Mengen über größere Entfernungen. Er liegt im Schienenpersonenverkehr in der Bewältigung der großen Verkehrsprobleme der Ballungsräume.
Diesen Vorteil wollen wir auch in Zukunft für dieErhaltung und Verbesserung der Leistungsfähigkeitder deutschen Wirtschaft und der Mobilität unserer Mitbürger nutzen.Klar ist aber auch, und wir haben darüber im Verkehrsausschuß eingehender diskutiert: Wir brauchen eine stärkere Vernetzung und Verknüpfung der Verkehrssysteme, einen Ausbau der Schnittstellen, wie es der Kollege Daubertshäuser heute im Ausschuß — in diesem Punkt in Übereinstimmung mit Kolleginnen und Kollegen anderer Fraktionen — genannt hat. Die Nutzung der Informations- und Kommunikationstechnologie spielt für dieses verknüpfte Denken und Handeln eine große Rolle. Dies wird uns auch von Verkehrswissenschaftlern anempfohlen. Berücksichtigen wir allein, wie viele Leerfahrten wir beim Güterverkehr haben.Wenn wir moderne Kommunikationstechnologien stärker nutzen, dann werden wir zu einer wesentlichen Reduzierung der Leerfahrten und damit zu einer besseren Nutzung unseres Verkehrsnetzes kommen. Wir veranschlagen dafür in den nächsten Jahren 4 Milliarden DM.In diesem Zusammenhang — das sage ich ganz deutlich — kann Verkehrsvermeidung mit intelligenten Strategien für keinen denkenden Menschen ein Tabu sein.
Meine Damen und Herren. Den Bundesverkehrswegeplan und die Gesetze, die ihn ausgestalten, haben wir gemeinsam erfolgreich ausgearbeitet. Jetzt gilt es, ebenso einig die Finanzierung der geplanten Verkehrsprojekte zur Sicherung der Zukunft Deutschlands zu erreichen.Die Ziele des Bundesverkehrswegeplans sind angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen hoch gesteckt. Er weist immerhin ein Investitionsvolumen von über 450 Milliarden DM bis zum Jahr 2012 auf. Für den Neu- und Ausbau sind nur rund 240 Milliarden DM eingeplant; der überwiegende Teil ist für die Substanzerhaltung und die Erneuerung vorgesehen. Es kann also mitnichten von einem Zubetonieren der Republik gesprochen werden.
Meine Damen und Herren, um diese für den Wirtschaftsstandort Bundesrepublik Deutschland so wichtigen Investitionen in die Infrastruktur zeitgerecht vornehmen zu können, müßten eigentlich aus der zweiten Planungshälfte des Bundesverkehrswegeplans rund 50 Milliarden DM in die erste Hälfte vorgezogen werden. Wir haben also in den kommenden zehn Jahren einen erheblichen zusätzlichen Mittelbedarf. Ich brauche daher — ich bitte darum — Ihre Unterstützung, um die zweifelsohne vorhandene Unterfinanzierung — ich habe das von Anfang an deutlich angesprochen — auch durch eine Mobilisierung privaten Kapitals stärker als bisher ausgleichen zu können.
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Bundesminister Matthias WissmannNur wenn uns dies gelingt, werden wir die Konzeptionen des Bundesverkehrswegeplans zeitgerecht ausführen können.
Ich glaube, daß dabei der Phantasie keine Grenzen gesetzt sind. Frankreich hat in den vergangenen 30 Jahren rund 5 800 km Autobahn mit Hilfe von Konzessionsgesellschaften gebaut. Derzeit entlasten diese Gesellschaften den französischen Staatshaushalt jährlich um rund 5 Milliarden DM. Auch Teilabschnitte auf der Strecke Wien-Budapest werden gegenwärtig mit privaten Mitteln verwirklicht.Wir sollten internationale Erfahrungen mit in unsere Überlegungen einbeziehen. Daß das für Sie kein Dogma ist, wo es konkret wird,
das ersehe ich daraus, daß Sozialdemokraten überall dort, wo sie in Landesregierungen beteiligt sind, den sechs Konzessionsprojekten, also privat finanzierten Projekten, die wir jetzt auf den Weg bringen, zustimmen, weil sie den gesunden Menschenverstand walten lassen.Meine Damen und Herren, lassen wir die akademischen Diskussionen doch beiseite! Schauen wir uns statt dessen die konkrete Praxis an! Dann werden die Unterschiede relativ klein. Denn es geht uns doch wohl gemeinsam darum, sinnvolle Verkehrsprojekte durchzusetzen.
Für ein sinnvolles Konzept brauchen wir auch europäische Rahmenbedingungen. Ich bin froh, daß es gelungen ist, im Verkehrsministerrat in Luxemburg einige der Ziele, die wir seit langem angestrebt haben, zu verwirklichen. Das ist keine Ideallösung, aber ein großer Fortschritt.Endlich können wir mit der Lkw-Vignette — wenn auch noch mit einem zunächst bescheidenen Betrag, der aber später angehoben werden kann — dafür sorgen, daß dem ausländischen Lkw auf deutschem Boden Wegekosten angelastet werden, so wie umgekehrt deutsche Laster auf ausländischem Boden schon lange zur Zahlung entsprechender Gebühren veranlaßt werden.
Endlich kommen wir nun zu einer stufenweisen Fiskalharmonisierung und damit zu einer Angleichung der Wettbewerbsbedingungen für die Fuhrunternehmen, was übrigens nicht zu einer Verbesserung der Situation der Fuhrunternehmen gegenüber der Bahn, aber sehr wohl zu einer Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen deutscher Fuhrunternehmen im Vergeich mit ihren internationalen Konkurrenten führt. Mein Freund Manfred Rommel sagt immer: Sie können gegen alle argumentieren, nur nicht gegen Adam Riese.Meine Damen und Herren, wenn Sie es einmal durchrechnen, dann stellen Sie fest, daß mitnichten die Rede davon sein kann, daß das Ergebnis von Luxemburg die Position der Fuhrunternehmen gegen- über der Bahn verbessert. Das hat auch Heinz Dürr ausdrücklich und öffentlich gesagt. Aber es kann sehr wohl davon die Rede sein, daß endlich die groben Benachteiligungen der deutschen Fuhrunternehmen gegenüber ihren europäischen Nachbarn Schritt für Schritt abgebaut werden. Das muß unser gemeinsames Ziel sein.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen: Bitte stimmen Sie dem Gesetzentwurf zur Planungsvereinfachung zu. Wir können es uns nicht länger erlauben, daß wir für dieselben Projekte vom ersten Entwurf bis zur Durchführung 20 bis 25 Jahre brauchen, für die die Franzosen 7 oder 8 Jahre brauchen. Wir können es uns nicht erlauben, z. B. bei der A 7 zwischen Nesselwang und Füssen, daß Verwaltungsgerichtsverfahren den Bau der fehlenden 17 Kilometer blockieren und Menschen in Dörfern und Städten über Jahre belastet werden, weil aus dem Rechtsstaat inzwischen ein Rechtsmittelstaat geworden ist.
Wir müssen dieses ändern, ohne die Umwelt zu beeinträchtigen, ohne die Bürgerbeteiligung zu gefährden, schlicht im Interesse einer knapperen und unbürokratischeren Verfahrens- und Bauweise.Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bundesverkehrswegeplan ist die Grundlage für die verkehrspolitischen Entscheidungen der nächsten Jahre, aber er bedarf natürlich immer wieder der konkreten Anpassung und Ausfüllung. Ich wünsche mir, daß wir bei allen Unterschieden über viele Einzelheiten der Verkehrspolitik zumindest einige der großen Projekte gemeinsam voranbringen. Mein Eindruck aus dem Verkehrsausschuß heute morgen war, daß bei allem, was gelegentlich öffentlich gesagt wird, die Bereitschaft dazu groß ist. Ich baue auf Ihre Bereitschaft, große Projekte, wie etwa die Bahnreform, gemeinsam durchzusetzen.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserer Frau Kollegin Siegrun Klemmer.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bundesverkehrswegeplan ist heute in der letzten Stunde schon unter verkehrspolitischen und aus finanziellen Gesichtspunkten betrachtet worden.Der ökologische Ansatz, der meine Herangehensweise bestimmt, wird häufig leider nur — und ich möchte den Verkehrspolitikerinnen und Verkehrspolitikern damit nicht zu nahe treten — als schmückendes Beiwerk betrachtet. Aber auf lange Sicht wird er der wichtigere Ansatz bleiben.
Spitzt sich die Umweltkatastrophe nämlich erst zu, müssen alle anderen Erwägungen, ob finanzieller, verkehrstechnischer oder welcher Art auch immer, untergeordnet werden. Unseren Handlungsspiel-
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Siegrun Klemmerrauen, unsere Gestaltungs- und damit auch unsere Politikfähigkeit erhalten wir nur, wenn wir schon heute dem ökologischen Gesichtspunkt Vorrang einräumen, bevor uns die Entwicklung eines Tages dazu zwingt.
Aus ökologischer Sicht führt das, was die Bundesregierung heute vorlegt, in ein katastrophales Desaster.
Der kardinale Fehler liegt in dem Konzept, das auf Maßnahmen zur Reduktion von Straßen- und Luftverkehr verzichtet. Entsprechend ist das Szenario: statt der heute 36,5 Millionen PKW eine Erhöhung auf 45,5 Millionen bis zum Jahre 2010, gar ein 95%iger Zuwachs des Güterverkehrs. Wir sehen: Wer Straßen sät, erntet Verkehr.Das ist eine Bankrotterklärung für das Ziel der CO2-Minderung um 25 %. Der geschätzte Kollege Umweltminister Töpfer mußte diese Bankrotterklärung für sein Ministerium vor einigen Wochen eingestehen. Sollte die Prognose über die Zunahme des Fahrzeugbestandes eintreten, wird sich der CO2-Ausstoß bis zum Jahre 2005 um 40 bis 50 % erhöhen. Durch die Straßenbaumaßnahmen wird erfahrungsgemäß besonders der Privatverkehr stimuliert.Was den Gütertransport angeht, so werden schon heute, wie die Zeitschrift „Fairkehr" errechnete, im Verlauf der Produktion eines z. B. in Stuttgart abgepackten 150-Gramm-Erdbeerjoghurts 7 695 Kilometer Transportweg zurückgelegt, fast alle per Brummi, fast alle auf der Autobahn. Die Folgen daraus tauchen in jährlichen, schon ritualisiert anmutenden Katastrophenmeldungen auf. Da wird zur Urlaubszeit im Waldschadensbericht an das Waldsterben erinnert. Der Bericht würde noch schlimmer ausfallen, wenn in ihm all die bereits baumlosen Flächen auftauchen würden, die im Smog kahlgestorben sind. Oder denken Sie an die Berichte über das Bodenozon mit den Warnungen, zu bestimmten Zeiten möglichst nicht vor die Tür zu gehen, genauso wie den Warnungen, sich im Sonnenbad nicht zu lange der durch das Ozonloch dringenden UV-Strahlung auszusetzen.Ich finde, die größte Gefahr liegt darin, daß wir uns an diese Meldungen offensichtlich schon gewöhnt haben. Die Politik muß die Menschen wachrütteln und die fatale Entwicklung an ihren Ursachen bekämpfen. Das Auto ist eine dieser Ursachen; am Ausstoß des Waldkillers Nummer eins, der Stickoxide, ist es zu 55 % und der Klimagefahr CO2 ist es zu über 20 % beteiligt.Die Politik der Bundesregierung wird zu einer Erhöhung dieser Emissionen führen. Dies hat auch die Vertreter der Umweltgruppen „Robin Wood" und des „Bundes für Umwelt und Naturschutz" gerade in den letzten Tagen dazu veranlaßt, aus dem sogenannten „Grünen Runden Tisch" auszusteigen. Ich will dem Kollegen von Geldern, dem Vorsitzenden des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, der gleichzeitig der Präsident der „Schutzgemeinschaft Deutscher Wald" und Initiator des „Grünen Runden Tisches" ist, nicht unterstellen, daß er selbst hinter der konzeptionslosen Politik steht und die Umweltschützer als Alibi und zur Selbstdarstellung mißbrauchen will. Aber, meine Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen aus dem Umweltbereich, Sie müssen doch zugeben, daß sich auch Ihr bester Wille bisher nicht im geringsten gegen die verhängnisvolle Mut- und Einfallslosigkeit der Regierung und der Mehrheit Ihrer Fraktionen durchsetzen konnte.
Meine Damen und Herren, Umweltgüter wie Wald, Ozonschicht und die Luft zum Atmen sind überlebensnotwendig, und nichts rechtfertigt die Opferung dieser Güter auf dem Altar der Mobilität. Liebe Frau Kollegin Blank, der Mobilität, deren hohes Lied Sie vorhin gesungen haben, muß endlich der Heiligenschein genommen werden. Wir müssen ihn entzaubern, auch wenn ihn verschiedene Industriezweige beständig aufzupolieren versuchen. Mobilität ist kein Wert an sich. Gerade das Auto ist als Mobilitätsmittel immer weniger geeignet; es verdient seinen Namen kaum mehr. Statt Mobilität zu garantieren, wird aus dem Fahrzeug ein Steh- und Stauzeug. Ich glaube, Sie alle als Benutzer von Autos werden mir darin zustimmen können. Doch ohne entsprechende Politik werden die Menschen trotz Dauerstaus nicht vom Auto in die öffentlichen Verkehrsmittel umsteigen, denn das Problem des verkehrten Verkehrs ist nicht zuletzt eine Frage falschen Bewußtseins. In Deutschland wird die typische Fußgängerentfernung von bis zu zwei Kilometern in 40 % aller Fälle mit dem Auto zurückgelegt, bei der Fahrraddistanz von sechs Kilometern ist das Auto mit 60 % bereits das meistbenutzte Verkehrsmittel. Die Hälfte aller zurückgelegten Wegstrecken bei uns ist kürzer als diese sechs Kilometer.Aber auch verkehrspolitisches Bewußtsein will geschaffen und geweckt werden. Einzelaspekte einer verkehrspolitischen Wende sind bekannt. Sie müssen sich nur den von der SPD-Fraktion eingebrachten Antrag ansehen. Besonders der Vorrang der Schiene ist zu gewährleisten und nicht nur durch Zahlenspiele vorzutäuschen. Die Konzentration des Fernstraßenausbaugesetzes auf Großprojekte muß einer Bevorzugung von Ortsumgehungen weichen. Der auf 20 Jahre angelegte Planungszeitraum ist auf fünf Jahre zu kürzen. Vor allem müssen die externen Kosten der einzelnen Verkehrsmittel ihren Verursachern angelastet werden, also die Kosten, für die heute die Gesamtheit der Steuerzahler aufzukommen hat. Die externen sozialen Kosten allein des Autoverkehrs betragen nach einer äußerst vorsichtigen Schätzung mindestens 50 Milliarden jährlich; wahrscheinlich sind es weit mehr. Sie setzen sich aus den Kosten der Luftverschmutzung, der Wertminderung durch Lärm und vor allem den Unfallfolgekosten zusammen. Meine Kolleginnen und Kollegen, heute sind die Schäden gar nicht mehr bezifferbar, die durch die Verminderung von Tier- und Pflanzenarten sowie Biotopen, Wildverluste aller Art und Gewässerbeeinträchtigungen entstehen.Herr Minister, wenn Sie in Ihrem Beitrag auch das Wort Verkehrsvermeidung benutzt haben, so denke ich, wollen Sie etwas damit verschleiern, denn tatsächlich ist die Lösung der verursachten Probleme nur
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Siegrun Klemmerin der Verkehrsvermeidung und nicht in Verkehrslenkung, Abgasminderung, Elektroautos, sparsamerem Kraftstoffverbrauch oder was auch immer zu sehen.Am Anfang eines Plans, der diesen Namen tatsächlich verdient, muß die Forderung stehen, den Verkehr so zu strukturieren, daß das Ziel der CO2-Minderung tatsächlich erreicht wird. Die Politik der Bundesregierung führt in die entgegengesetzte Richtung: in den Dauerstau und in den ökologischen und das heißt dann auch — das interessiert Sie ja vielleicht — in den ökonomischen Abgrund. Herr Minister, ich als Ökologin muß leider sagen: In dieser Hinsicht betätigen Sie sich ähnlich wie Ihr Vorgänger: noch als Geisterfahrer.
Jetzt erhält unser Kollege Roland Kohn das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Freie Demokratische Partei will den Schienenverkehr in Deutschland leistungsfähiger und attraktiver machen. Gerade aus ökologischen Gründen muß der Marktanteil der Bahn wachsen und darf nicht schrumpfen.
Die Eisenbahner selbst und ihr Management sind hier gefordert. Ich danke dem Vorstand von Bundesbahn und Reichsbahn, den Mitarbeitern und ihren Gewerkschaften für ihr Engagement und ihre Leistungsbereitschaft in einem schwierigen Umfeld. Wie schwierig dieses Umfeld ist, haben Meldungen der letzten Tage ganz deutlich gemacht.
Genauso ist jedoch der Eigentümer — also wir, die Politik — gefordert. Deshalb sage ich: Mit dem Schienenwegeausbaugesetz geht eine von der F.D.P. seit langem erhobene Forderung endlich in Erfüllung. Wie beim Bundesfernstraßenbau wird es in Zukunft ein Programmgesetz geben, mit dem wir die Prioritäten für die Schienenwege in unserem Lande festlegen, und zwar auch als Teil der europäischen Verkehrswegeplanung.
Warum dieses Gesetz? Erstens. Das Schienenwegeausbaugesetz — abgekürzt: SchWAb, was mich als Baden-Württemberger besonders freut, nicht nur wegen der Schwäbischen Eisenbahn — verwirklicht endlich die Gleichbehandlung von Straße und Schiene und wird damit dem Stellenwert gerecht, den eine moderne Verkehrspolitik dem Verkehr auf der Schiene zuzumessen hat.
Zweitens. Dieses Gesetz ermöglicht eine bessere Verzahnung der einzelnen Verkehrsträger im Sinne einer integrierten Infrastrukturplanung einschließlich der notwendigen Schnittstellen. Ohne ein derartiges Zusammenwirken von Schiene, Straße, Wasserstraße und Luftverkehr auf der Grundlage systemspezifischer Stärken und fairer Wettbewerbsbedingungen ist eine vernünftige Verkehrspolitik unmöglich.
Drittens. Dieses Gesetz führt zu einer Stärkung des Parlaments gegenüber der Exekutive. Seit 1971 entscheidet der Bundestag über die Prioritäten beim Straßenbau. Der Ausbau der Schiene hingegen fiel in die ausschließliche Kompetenz der Bundesregierung. Jetzt kann das Parlament an allen Teilen des Bundesverkehrswegeplans mitwirken, wie z. B. meine Protokollerklärung zur Beschleunigung der Schienenstrecke Paris-Saarbrücken-Mannheim gezeigt hat.
Viertens. Dieses Gesetz ist ein wichtiger Baustein der großen Bahnstrukturreform, mit der wir den Schienenverkehr in Deutschland grundlegend neu ordnen. Das ist ein verkehrspolitisches Ziel, dem wir Liberalen in dieser Legislaturperiode des Deutschen Bundestages die höchste Priorität einräumen.
Auch deshalb habe ich mich bei den Beratungen im Verkehrsausschuß dafür eingesetzt, daß die Koalition eine Brücke zur SPD baut — genauer gesagt: eine Eisenbahnbrücke —, um zu einem gemeinsamen Gesetz zu kommen, was erfreulicherweise ja auch gelungen ist.
Ich möchte namens meiner Fraktion Ihnen, Herr Bundesverkehrsminister, bei der Verwirklichung dieser großen Bahnstrukturreform die nachhaltige Unterstützung der F.D.P. zusagen. Wir waren ja lange Jahre einsame Rufer in der Wüste. Wir freuen uns deshalb, daß die Notwendigkeit dieser Bahnreform inzwischen so etwas wie gesunkenes Kulturgut geworden ist.
Die Bundestagsfraktion der Freien Demokratischen Partei stimmt dem Bundesschienenwegeausbaugesetz aus Überzeugung zu.
Ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Ulrich Briefs das Wort. — Herr Dr. Briefs ist noch nicht da. Dann erhält unsere Frau Kollegin Dr. Margrit Wetzel das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vorab eine Korrektur zum Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/5316, Seite 8 Ziff. 3. Statt „Fußnote 2)" muß es dort „Fußnote 3)" heißen.Zugleich mit dem dramatisch unterfinanzierten Straßenbauwunschzettel mit Gesetzeskraft — genannt Bundesverkehrswegeplan, den man, um Herrn Gries zu zitieren, mit dem „Prinzip Hoffnung" charakterisieren kann —, der in den nächsten Jahrzehnten nahezu ohne politisch-parlamentarischen Einfluß den Ministerialbürokratien von Bund und Ländern ein Eldorado des Sankt Florian eröffnet, soll heute das Planungsvereinfachungsgesetz beschlossen werden. Ich sage vorab: Wir halten es für unerläßlich, Planungen von Verkehrswegen zu straffen, zu entrümpeln und möglichst für alle Verkehrsträger gleich zu gestalten. Dies gilt insbesondere im Zuständigkeitsbereich der Behörden.Wir haben deshalb schon in die Diskussion über das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz eine Fülle von Vereinfachungsvorschlägen eingebracht, die überwiegend Eingang in Ihren Gesetzentwurf gefunden haben. Wir haben die Beratungen auch
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Dr. Margrit Wetzeldieses Gesetzentwurfes konstruktiv mitgetragen, indem wir beispielsweise dafür gesorgt haben, daß auch das Linienbestimmungsverfahren, das dem BMV ohne eine Frist die Möglichkeit eröffnet hätte, Planungen zu verzögern, befristet wurde.
Frau Kollegin Wetzel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hasenfratz?
Ja, gern.
Bitte, Herr Kollege Hasenfratz.
Frau Kollegin, der Herr Minister hat vorhin gesagt, daß wir von einem Rechtsstaat in einen Rechtsmittelstaat abdriften. Können Sie mir sagen, welche Gesetze einem zügigen Ausbau des Schienennetzes von Köln zum Rhein-Main-Gebiet entgegenstanden?
Nein, nein. — Diese Frage ist ganz einfach zu beantworten. Es waren, soweit ich weiß, überhaupt keine Gesetze, die dem entgegenstanden. Es hat damals keinerlei regelnde Gesetze gegeben.
Wir alle wissen ganz genau, daß die Verzögerungen um Jahre, um nicht zu sagen: Jahrzehnte einzig und allein auf Uneinigkeiten im politischen Raum bzw. bei den Behörden zurückzuführen waren. Das ist genau das Problem der Verzögerung im Vorfeld von Regelungen, im vorgesetzlichen Bereich. Das ist das beste Beispiel dafür.
Trotz unserer konstruktiven Beteiligung an den Gesetzesberatungen werden wir dem Gesetz heute nicht zustimmen . . .
denn Regierung und Koalition sind weit über ihr eigentliches Ziel hinausgeschossen. Sie haben die Mitwirkungsrechte derer, die an den Verkehrswegen wohnen und sie nutzen, praktisch ausgeschlossen. Der mündige Bürger, die fachkompetente Bürgerin, selbst die Kommunen, die ihre Mitwirkungsrechte nutzen wollen, stören Planungen ebenso wie die Belange der Natur, des Klimas oder der nachfolgenden Generationen. Konflikte werden zukünftig nicht mehr frühzeitig erkannt und gelöst; sie werden verfahrensmäßig negiert, „ausgefristet" und verdrängt.Wir verabschieden ein Ermächtigungsgesetz für behördliche Planungsträger, das schlimmstenfalls sämtliche geregelten Verfahren für die Planung von Verkehrswegen abschafft und für die Bundesrepublik Deutschland die Wirkung der UVP-Richtlinie der EG aushebelt sowie fehlerhafte Planungen präjudiziert. Ob für Verkehrswege zukünftig ein Raumordnungsverfahren durchgeführt wird, liegt im Ermessen der Bundes- und Landesbehörden.
Nur wenn der BMV dies per Rechtsverordnung bestimmte, wäre es obligatorisch für die Länder und müßte dann innerhalb von sechs Monaten abgeschlossen sein.Ob eine Öffentlichkeitsbeteiligung erfolgt, liegt im Ermessen der Länder. Auf Grund der äußerst knappen Frist, die kaum reichen wird, auch nur die Träger öffentlicher Belange zu beteiligen, ist jetzt schon abzusehen, daß eine Öffentlichkeitsbeteiligung zukünftig wohl größten Seltenheitswert haben wird. Unser Antrag, Verfahren und Öffentlichkeitsbeteiligung und eine Fristverlängerung, die angemessen wäre, durchzusetzen, gesetzlich abzusichern, wurde abgelehnt. Gleiches widerfuhr auch unserem Versuch, eine tatsächliche Umweltverträglichkeitsprüfung eineindeutig im Planfeststellungsverfahren zu verankern. Unser entsprechender Antrag wurde abgelehnt.Die planaufstellende Behörde kann den Trägern öffentlicher Belange willkürliche Fristen — maximal drei Monate — für die Abgabe ihrer Stellungnahmen setzen. Man rechnet damit, auf diese Weise Zahl und Qualität der Einwendungen im Anhörungsverfahren drastisch zu reduzieren.Darüber hinaus kann bei der Änderung von Verkehrswegen von einem Erörterungstermin abgesehen werden. Diese letzte Möglichkeit, Einwendungen vorzubringen, steht damit im Ermessen der Anhörungsbehörde.Von größter Wirksamkeit — das ist auch schon erwähnt worden — wird zukünftig das Instrument der Plangenehmigung sein. Immer dann, wenn Rechte anderer nicht berührt werden oder Betroffene sich schriftlich einverstanden erklärt haben, kann eine Plangenehmigung an die Stelle eines Planfeststellungsverfahrens treten.
Das heißt im Klartext: Erstens. Wenn kein Raumordnungsverfahren oder eines unter Ausschuß der Öffentlichkeit stattgefunden hat, wird die Beeinträchtigung der Rechte anderer schlicht nicht festgestellt, denn niemand wird sie geltend machen.Zweitens. Von Verkehrswegeplanungen betroffene Eigentümer werden eingekauft, denn einen Preis unter Ausschluß der Öffentlichkeit für die Abtretung ihrer Rechte und die Einverständniserklärung wird es bedauerlicherweise immer geben.Mit den Trägern öffentlicher Belange wird das Benehmen hergestellt. Wer sich darunter etwa vorstellt, dies sei ein Verfahren zur Konfliktlösung und Konfliktminimierung, zur Erzielung breitesten Einvernehmens aller Betroffenen, ist schief gewickelt. Das Benehmen herzustellen heißt nichts weiter, als schriftlich über das geplante Vorhaben zu informieren. Einverständnis oder gar Einvernehmen zu erzielen ist nicht nur nicht beabsichtigt, sondern es wird schlicht überflüssig.
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Dr. Margrit WetzelDie Bevormundung von Kommunen und Bürgern, das Diktat von oben setzt sich — es war nicht anders zu erwarten — auf dem Gerichtsweg fort. Sollten Anfechtungsklagen gegen Planfeststellungsbeschluß oder Plangenehmigung erhoben werden, so greift eine Umkehrung des Regel-/Ausnahmeverhältnisses. Regierung und Koalition gehen davon aus, daß es keine aufschiebende Wirkung, sondern Sofortvollzug jeder Bauzulassung geben soll für alle Projekte, für die der Deutsche Bundestag heute den vordringlichen Bedarf absegnet. Das heißt wieder im Klartext für alle Wunschzettelmaßnahmen des Bundesverkehrswegeplans in den nächsten vier Jahrzehnten — denn er ist drastisch unterfinanziert — Sofortvollzug, möglicherweise trotz der in diesen Jahrzehnten gewachsenen Einsicht in ihre Unsinnigkeit.Lassen Sie mich noch eine abschließende Bemerkung zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes machen. Es wird zukünftig die zivile Mitnutzung und die zivile Umnutzung aller ehemals militärischen Flugplätze ohne Planfeststellungsverfahren oder Plangenehmigung erlauben. Selbstverständlich sind auch wir der Meinung, daß darin Konversionsmöglichkeiten liegen, die nicht behindert werden sollten. Wir haben deshalb vorgeschlagen, die Mitnutzung von Verfahren freizustellen, im Falle einer beabsichtigten Vollkonversion aber den Trägern öffentlicher Belange verfahrensrechtliche Mitwirkungsrechte einzuräumen.Wir haben uns nicht durchgesetzt. Die Koalition geht rücksichtslos aufs Ganze. Abgesehen davon, daß damit den betroffenen Anwohnern, die bei der Einrichtung militärischer Flugplätze nie beteiligt oder gar um ihr Einverständnis gebeten wurden, zugemutet wird, weiterhin dauerhaft Fluglärm und Zubringerverkehr zu ertragen, ohne daß sie auch nur Gelegenheit hätten, sich über Art und Umfang zu informieren oder Einwände bzw. auch nur Anregungen oder Wünsche zu artikulieren, ist dies auch ein verkehrspolitischer Offenbarungseid der Bundesregierung.
Jeder dieser Flugplätze kann zukünftig ohne jegliche Einbindung in ein Luftverkehrskonzept Flugverkehr generieren. Da der Zubringerverkehr im allgemeinen nicht über Wald- oder Wirtschaftswege abgewickelt wird, entsteht für die betroffenen Kommunen der allseits bekannte Sachzwang zum Straßenbau. Wohl bekomm's!Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden in naher Zukunft eine Fülle baufertiger — nicht etwa planungsreifer und baureifer — Planfeststellungsbeschlüsse oder Plangenehmigungsbescheide in den Schubladen haben und nicht wissen, wie diese Verkehrsprojekte bezahlt werden sollen. Damit werden Sie, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, und Sie, Herr Minister, beide politischen Lager verärgern, nämlich diejenigen, die Sie um ihre Mitwirkung betrogen haben, und diejenigen, die auf eine schnelle Realisierung warten; denn Sie haben vorhin gesagt, Herr Minister, Politik kann man gegen alle machen, nur nicht gegen Adam Riese. Die Rechnung mit der Privatfinanzierung ist aber eine Rechnung gegen Adam Riese, denn bezahlen werden die nachfolgenden Generationen, denen wir mit den heutigenBeschlüssen und der Idee der Privatfinanzierung, weil wir das, was auf den Wunschzetteln steht, anders gar nicht bezahlen könnten, den finanziellen Gestaltungsspielraum und auch Investitionsspielraum bei den Verkehrswegen ganz drastisch beschneiden.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Georg Brunnhuber, und zwar zunächst als Berichterstatter.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zu Protokoll geben, daß in der Drucksache 12/5284 bei Art. 2 — Änderung des Bundesfernstraßengesetzes — zu § 9a — Veränderungssperre; Vorkaufsrecht — die nachfolgenden Sätze schlichtweg vergessen wurden:
bb) Nach Absatz 5 wird folgender Absatz 6 eingefügt:
„ In den Fällen des Absatzes 1 Satz 1 steht dem Träger der Straßenbaulast an den betroffenen Flächen ein Vorkaufsrecht zu."
Gleichzeitig möchte ich mich als Berichterstatter bei meinen Mitberichterstattern für die konstruktive Zusammenarbeit herzlich bedanken. Insbesondere möchte ich mich bei den Mitarbeitern des Ausschusses bedanken, weil es eine unwahrscheinlich harte Arbeit war, in diesen wenigen Tagen die Formalien zu erledigen. Vielen herzlichen Dank.
Nun bekommt Herr Kollege Brunnhuber das Wort zu seiner Rede. Bitte.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als ich mir vorhin die Reden der Opposition anhörte, habe ich mich gefragt: Haben wir in Deutschland eigentlich eine solche Opposition verdient?
Wer den ersten gesamtdeutschen Bundesverkehrswegeplan ablehnt, wer den Schienenwegeausbauplan ablehnt, wer letztendlich auch das Planungsvereinfachungsgesetz ablehnt, will nicht, daß wir in Deutschland einen Aufschwung bekommen, will nicht, daß wir eine Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur bekommen, ist gegen die Schaffung von Arbeitsplätzen.
Liebe Frau Kollegin Wetzel, noch ein Hinweis: Sie beschweren sich hier über einen Antrag im Zusammenhang mit dem Luftverkehrsgesetz, erwähnen dabei aber nicht, daß ein entsprechender Antrag vom SPD-Vorsitzenden, dem SPD-Ministerpräsidenten Scharping, gestellt wurde und wir ihn angenommen haben.
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Georg BrunnhuberAuch Herr Scharping wird sich über seine SPD-Fraktion hier noch wundern, wie man nur sagen kann.
Meine Damen, meine Herren, dieses Planungsvereinfachungsgesetz ist von eminenter Bedeutung sowohl für die Verbesserung der gesamten Verkehrsinfrastruktur als auch für unsere derzeitige wirtschaftliche Situation. Nicht zuletzt durch eine schnellere Planungsphase wird es möglich, den Bau notwendiger Verkehrswege schneller zu beginnen und dadurch Investitionsmittel freizumachen, um damit auch die Wirtschaft zu stärken.
Während in den neuen Bundesländern seit Inkrafttreten des Bundesverkehrswegebeschleunigungsgesetzes vom 19. Dezember 1991 Planungsverfahren im Verkehrsbereich schneller abgewickelt werden können, dauern die entsprechenden Planungsverfahren in den alten Bundesländern viel zu lange. Dies ist im übrigen auch die Auffassung aller Verkehrsminister der Bundesländer.Leistungsfähige Verkehrswege sind aber sowohl für das Zusammenwachsen Deutschlands nach der Vereinigung als auch für Deutschlands Rolle als Transitland so wichtig wie kaum jemals zuvor. Die lange Planungsdauer ist auch Ursache dafür, daß selbst Maßnahmen des vordringlichen Bedarfs aus dem letzten Bundesverkehrswegeplan von 1985 noch nicht umgesetzt werden konnten. Fast jeder der hier anwesenden Kollegen kann aus seinem Wahlkreis mit Sicherheit ein Beispiel oder auch mehrere Beispiele nennen, daß zum Teil über 10, 15 oder 20 Jahre gestritten und geplant wird, aber nicht begonnen werden kann.Ein modernes Industrieland kann seine Verkehrsprobleme für die Zukunft so nicht mehr lösen. Aus diesem Grunde hat die Bundesregierung das Planungsvereinfachungsgesetz für alle Bundesverkehrswege, also Schiene, Straße, Wasser und Luft, sowie für den öffentlichen Personennahverkehr vorgelegt. Im einzelnen greift das Gesetz die Instrumente zur Planungsbeschleunigung auf, die bereits im Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz für die neuen Bundesländer ihren Niederschlag gefunden und sich dort bereits bewährt haben.
Nun sage ich Ihnen einmal im einzelnen, was in diesem Gesetz steht; denn es wurden hier ja schon einige Nebelkerzen gezündet.Erstens. Die Linienführung von Verkehrswegen von europäischer und besonders nationaler Bedeutung kann zukünftig durch Bundesgesetz bestimmt werden.Zweitens. Bei Verkehrsmaßnahmen von nur örtlicher Bedeutung verzichtet das Bundesministerium für Verkehr auf die Linienbestimmung.Drittens. Das Genehmigungsverfahren für den Bau neuer Eisenbahnstrecken wird befristet, damit verkürzt und beschleunigt.Viertens. Für Behörden und Kommunen werden im Raumordnungs- und Planfeststellungsverfahren teilweise völlig neue, kürzere Fristen gesetzt oder schon bestehende verkürzt.Fünftens. An Stelle eines Planfeststellungsbeschlusses kann unter bestimmten Voraussetzungen eine Plangenehmigung eingeführt werden.Sechstens. Durch Veränderungssperre, Vorkaufsrecht und Bestimmungen über die Vorarbeiten bzw. vorzeitige Besitzeinweisung werden planungssichernde Instrumente eingeführt.Siebtens, ganz wichtig: Alle Klagen gegen Verkehrswegevorhaben werden zukünftig erstinstanzlich in die Zuständigkeit der Oberverwaltungsgerichte gegeben.
Achtens. Alle Vorschriften der verschiedenen Bundesverkehrswegegesetze von Schiene, Straße, Wasser, Luft und öffentlichem Personennahverkehr werden in allen Artikeln angeglichen. Damit wird ein entscheidender Beitrag zur Rechts- und Verwaltungsvereinfachung des Bundes geleistet.
Meine Damen, meine Herren, schon bei der Beratung und heute auch hier wurde von der Opposition der Vorwurf erhoben, der Gesetzentwurf führe zu einer minderen Berücksichtigung von Umweltbelangen bei der Planung. Dies trifft nicht zu, denn die Umweltverträglichkeitsprüfung muß auch in Zukunft nach dem UVP-Gesetz sowie nach der EG-Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt werden.
Der Gesetzentwurf ändert das UVP-Gesetz nicht.
Dies bedeutet, daß die planende Verwaltung diese Rechtsvorschriften wie bisher zu beachten hat.Niemand in diesem Hause will Umweltschutzstandards abbauen. Natürlich weiß jeder in diesem Hause, daß beim Genehmigungsverfahren eine gewisse Zeit notwendig ist, um eine bestimmte Qualität der Entscheidung zu bekommen. Aber umgekehrt gilt nicht der Satz, daß lange Genehmigungsverfahren auch gleichzeitig immer gute umweltpolitische Entscheidungen bringen.
Auch der Vorwurf der SPD, die Öffentlichkeit werde nicht in ausreichendem Umfang beteiligt, insbesondere, wenn eine Plangenehmigung erfolge, trifft nicht zu. Eine Plangenehmigung kann nämlich nur dann erfolgen, wenn sich der Bürger mit der Inanspruchnahme seiner Rechte schriftlich einverstanden erklärt hat. Dies bedeutet, daß die planende Verwaltung mit jedem Bürger einzeln sprechen muß. Ich glaube hier
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Georg Brunnhubersagen zu dürfen, daß dies die intensivste Form der Öffentlichkeitsbeteiligung überhaupt ist, die man sich vorstellen kann.Darüber hinaus ist neben dieser Form eine verfahrensrechtlich vorgeschriebene Öffentlichkeitsbeteiligung, die informelle Beteiligung, zu sehen. Es gibt doch heute in Deutschland keinen Fall mehr, bei dem nicht die Verwaltung, bevor sie in ein formelles Verfahren eintritt, die Öffentlichkeit vorher informiert.In bezug auf den Antrag noch ein letzter Satz zur SPD: Statt das Benehmen herzustellen, das Einvernehmen festzuschreiben muß ebenfalls abgelehnt werden, weil dadurch das Abwägungsgebot, dem die Plangenehmigungsbehörde unterliegt, unterlaufen würde. Das Abwägungsgebot ist immerhin der Bestandteil des Planungsrechts und würde bei einem Einvernehmen verletzt. Dadurch würde von vornherein jeder Beschluß im Plangenehmigungsverfahren bereits als anfechtbar gelten.Meine sehr verehrten Damen und Herren, alles in allem zusammengefaßt, darf ich sagen: Es war höchste Zeit, in der Bundesrepublik Deutschland die verschiedenen Planungsgesetze auf einen gemeinsamen Stand zu bringen und damit die Verfahren zu vereinfachen.
Mit diesem Gesetz wird es auch in Deutschland möglich, in kurzen, überschaubaren Zeiträumen Verkehrsmaßnahmen in die Tat umzusetzen.
Dies ist zum Vorteil aller Verkehrsteilnehmer und stärkt den Wirtschaftsstandort Deutschland.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Ulrich Briefs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „German Watch" hat gestern hier in Bonn mit der Landesvertretung Bremen ein Jahr nach Rio langfristige Vorstellungen zur Umweltverbesserung vorgelegt.
Erster Punkt: Reduzierung der CO2-Belastung bis zum Jahre 2005 um 25 %, also praktisch das, was in Rio beschlossen wurde. Was aber tut diese Bundesregierung? Sie legt einen Bundesverkehrswegeplan für die Jahre 1993 bis 2012 vor, der, wie die bisherige Verkehrspolitik der Bundesregierung, geprägt ist, durch: erstens die Priorität des Autos und des Lkw zu Lasten des Schienenverkehrs, zweitens durch eine breit angelegte Verkehrsförderung statt Verkehrsvermeidung, drittens durch populistischen Mobilitätsfetischismus, viertens durch die Hoffnung auf Wirtschaftswachstum im Zuge der Bereitstellung von Autobahnen und sonstigen Fernschnellstraßen.Diese Politik führt jedoch nicht zu weniger, sondern zu erheblich mehr CO2-Emissionen und allgemein zu noch stärkerer Umweltbelastung. Intakte Naturräumewie das Rothaargebirge oder das Saaletal werden zerstört,
um der Wirtschaft geringfügige Transportkostenvorteile zu sichern. Die Autobahn durch das Rothaargebirge verkürzt den Weg gegenüber dem bereits bestehenden Autobahnnetz gerade um 30 km.
Hochwertige Wohngebiete, wie in Meerbusch bei Düsseldorf, werden mit einem Federstrich am grünen Tisch zerstört. Dem Fetisch Auto wird von dieser Bundesregierung weiterhin geopfert, und das nicht zu knapp. Allein in Nordrhein-Westfalen gibt es heute bereits mehr Autos als in ganz Afrika.
Ca. 66 %, zwei Drittel aller Fahrten mit dem Pkw liegen unter 10 km, ein Viertel unter 2 km. Sie könnten also bequem oder mit vertretbarem Aufwand mit dem Fahrrad oder zu Fuß oder — bei entsprechender Politik — mit öffentlichen oder privaten kollektiven Nahverkehrsmitteln erledigt werden.Die Politik dieser Bundesregierung, dem Autowahn in weiten Bereichen der Bevölkerung nachgebend, trägt dagegen dazu bei, daß sich die Gesamtfahrleistung von Pkw von derzeit 400 Milliarden km im Jahr bis zum Jahr 2010 womöglich noch einmal verdoppelt. 1970 betrug sie übrigens erst 200 Milliarden km im Jahr. Statt dessen vernachlässigt diese Bundesregierung den Schienenverkehr, obwohl der Energieverbrauch je Leistungseinheit im Autoverkehr drei- bis siebenmal so hoch ist wie bei der Eisenbahn, obwohl der Schadstoffausstoß sogar zwanzig- bis dreißigmal höher ist, obwohl die Verletzungsgefahr fünfzigmal höher ist und obwohl die Tötungsgefahr beim Auto zehn- bis fünfzehnmal höher ist als beim Zug.Auf keinem Gebiet Ihrer Politik verstößt diese Bundesregierung so umfassend gegen die Interessen der Bürger und Bürgerinnen an einer gesunden Umwelt wie in der Verkehrspolitik. Auf keinem Gebiet gibt sie Wirtschaftsinteressen so eindeutig und umfassend den Vorzug gegenüber den Lebens- und Gesundheitsinteressen der Bürger und Bürgerinnen wie in der Verkehrspolitik. 1 000 km neue Straßen pro Jahr im Westen, 1 400 km gar im Osten — Fern-, Regional- und Ortsstraßen zusammen — bedeuten in der Tat die Zubetonierung dieser Bundesrepublik. Zwar wird, wohl auch aus optischen Gründen, vom Gesamtinvestitionsvolumen etwas mehr in das Schienennetz gesteckt; mit dem Gemeindestraßenbau zusammen überwiegt dann aber doch wieder der Straßenbau bei weitem.Zudem werden auch beim Schienenverkehrswegeausbau die Fernverbindungen und die ökologisch besonders schädlichen High-Tech-Zugsysteme wie der ICE vorrangig gefördert, während der Rückzug von Reichs- und Bundesbahn aus der Fläche weitergeht. Geschwindigkeits- und Mobilitätsfetischismus gehen hierbei Hand in Hand. Heinsberg, die westlichste Kreisstadt in der Bundesrepublik, ist inzwischen eine Stadt ohne Bahnhof. Die Konzentration auf Groß-
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Dr. Ulrich Briefsprojekte wie den ICE und womöglich in der Zukunft den Transrapid ist falsch, ist abzulehnen.
Zu bedauern ist, daß es kein integriertes Verkehrskonzept gibt. Falsch ist, daß nicht über Verkehrsvermeidung, z. B. durch eine auch ökologisch günstigere Dekonzentration von Industrie- und Gewerbeschwerpunkten, diskutiert wird.
Herr Kollege Briefs, ich bitte zum Schluß zu kommen.
Richtig ist dagegen die Forderung des VCD, den Fernstraßenbau überhaupt zu stoppen und die Mittel auf den Schienenverkehrsausbau zu verlagern. Richtig sind die Forderungen — —
Herr Kollege Briefs, bitte keine Liste mehr, nur noch einen Schlußsatz!
Einverstanden, Herr Präsident. — Richtig sind die Forderungen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und von PDS/Linke Liste nach Rücknahme des Bundesverkehrswegeplans und nach Erstellung eines integrierten Verkehrskonzeptes mit Schwerpunkt auf der Verkehrsvermeidung.
Herr Kollege Briefs, kommen Sie bitte zum Schluß!
In dieser Form sollten wir den Geschwindigkeits- und Mobilitätsfetischismus in der Wirtschaft und in großen Teilen der Bevölkerung nicht fördern, sondern bekämpfen.
Herr Präsident, ich danke Ihnen.
Ich schließe die Aussprache. Meine Damen und Herren! Eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen haben Erklärungen gemäß § 31 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages abgegeben. )Bevor wir zu den Abstimmungen kommen: Heute feiert die Kollegin Doris Odendahl ihren 60. Geburtstag. Ich spreche ihr im Namen des Hauses herzliche Glückwünsche aus.
Außerdem darf ich die Damen und Herren im Hintergrund des Saales um etwas Aufmerksamkeit bitten. Ich habe nämlich noch darauf hinzuweisen, daß nach einer interfraktionellen Vereinbarung der Tagesordnungspunkt 9c — Gesetz zur Änderung pflanzenschutzrechtlicher und saatgutrechtlicher Vorschriften — abgesetzt werden soll.Des weiteren soll Tagesordnungspunkt 10 — Gesetz über die Errichtung eines Bundesamtes für Naturschutz — ohne Debatte beraten werden.*) Anlage 2Bei der verbundenen Tagesordnung soll nach einer interfraktionellen Vereinbarung von der Frist für den Beginn der Beratungen abgewichen werden, soweit dies bei einzelnen Punkten erforderlich ist. Sind Sie damit einverstanden? — Es erhebt sich kein Widerspruch. Darm ist das so beschlossen.Wir kommen nun zu den Abstimmungen über die Tagesordnungspunkte 3a bis 3 c.Tagesordnungspunkt 3 a: Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Fernstraßenausbaugesetzes, Drucksache 12/3480.Ich rufe zunächst den Gesetzentwurf mit seinen Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf, ohne die Anlage „Bedarfsplan für die Bundesfernstraßen". Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt auf Drucksache 12/5289 unter Nr. 1, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Über die Anlage stimmen wir nachher noch gesondert ab.Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Gesetzentwurf ist somit in zweiter Beratung angenommen.Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über die Anlage zu dem gerade angenommenen Gesetzentwurf. Es handelt sich um den Bedarfsplan für die Bundesfernstraßen auf Drucksachen 12/3481 und 12/5289 Nr. 2.Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/5315 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der SPD? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt,Wir stimmen jetzt über den Bedarfsplan in der Ausschußfassung ab. Es ist getrennte Abstimmung verlangt. Wir stimmen über die einzelnen Projekte in der vom Ausschuß vorgeschlagenen Form blockweise ab. Die Blöcke sind im Ausschußbericht ab Seite 46 durch Großbuchstaben gekennzeichnet. Ich werde bei den Abstimmungen jeweils auf den entsprechenden Großbuchstaben und die Seitenzahl im Bericht des Ausschusses in der maschinengeschriebenen Fassung der Drucksache 12/5289 hinweisen.Wir stimmen über die Projekte ab, die unter Buchstabe A auf Seite 46 des Ausschußberichtes zusammengefaßt sind. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Projekte unter Buchstabe A sind angenommen.Wir stimmen über die Projekte ab, die unter Buchstabe B auf den Seiten 46 und 47 des Ausschußberichtes zusammengefaßt sind, mit der vom Berichterstatter vorgetragenen Änderung: Nr. 169 ist durch Nr. 159 zu ersetzen. Wer stimmt dafür? — Dagegen? — Enthaltungen? — Die Projekte unter Buchstabe B sind angenommen.Wir stimmen über die Projekte unter Buchstabe C auf den Seiten 47 bis 49 ab. Ja-Stimmen? — NeinStimmen? — Enthaltungen? — Die Projekte unter Buchstabe C sind angenommen.Wir stimmen über das Projekt unter Buchstabe D auf Seite 49 ab. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dage-
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Vizepräsident Hans Kleingen? — Wer enthält sich der Stimme? — Das Projekt unter Buchstabe D ist angenommen.Projekt unter Buchstabe E auf Seite 49. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Das Projekt unter Buchstabe E ist angenommen.Projekt unter Buchstabe F auf Seite 49. Ja-Stimmen? — Nein-Stimmen? — Enthaltungen? — Das Projekt unter Buchstabe F ist angenommen.Projekte unter Buchstabe G, Seiten 49 und 50. Wer ist dafür? — Wer ist dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Buchstabe G ist angenommen.Projekte Buchstabe H, Seite 50. Ja-Stimmen? — Nein-Stimmen? — Enthaltungen? — Diese Projekte sind angenommen.Projekte Buchstabe I auf den Seiten 50 und 51 mit der vorgetragenen Berichtigung, also mit Nr. 51. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Diese Projekte sind angenommen.Die Projekte unter Buchstabe J, Seite 51. Wer ist dafür? — Wer ist dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Diese Projekte sind angenommen.Projekt unter Buchstabe K, Seite 51. Ja-Stimmen? — Nein-Stimmen? — Enthaltungen? — Dieses Projekt ist angenommen.Projekte unter Buchstabe L, Seiten 51 und 52. Ja-Stimmen? — Nein-Stimmen? — Enthaltungen? — Diese Projekte sind angenommen.Die Projekte unter Buchstabe M, Seite 52. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Die Projekte sind angenommen.Die Projekte unter Buchstabe N, Seiten 52 und 53 einschließlich der vorgetragenen Berichtigung, also ohne Nr. 51. Wer ist dafür? — Wer ist dagegen ? — Wer enthält sich? — Die Projekte sind angenommen.Die Projekte unter Buchstabe O, Seite 54. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Die Projekte unter Buchstabe O sind angenommen.Das Projekt unter Buchstabe P, Seite 54. Ja-Stimmen? — Nein-Stimmen? — Enthaltungen? Dieses Projekt ist angenommen.Das Projekt unter Buchstabe Q, Seite 54. JaStimmen? — Nein-Stimmen? — Enthaltungen? — Das Projekt unter Buchstabe Q ist angenommen.Das Projekt unter Buchstabe R, Seite 54. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? Das Projekt ist angenommen.Die Projekte unter Buchstabe S, Seite 54. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? Diese Projekte sind angenommen.Das Projekt unter Buchstabe T, auf den Seiten 54 und 55. Ja-Stimmen? — Nein-Stimmen? — Enthaltungen? Das Projekt ist angenommen.Das Projekt unter Buchstabe U, Seite 55. Wer ist dafür? —Wer ist dagegen? — Wert enthält sich? — Das Projekt unter Buchstabe U ist angenommen.Die Projekte unter Buchstabe V, Seite 55. Ja-Stimmen? — Nein-Stimmen? — Enthaltungen? — Diese Projekte sind angenommen.Die Projekte unter Buchstabe W, Seite 55. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Diese Projekte sind angenommen.Das Projekt unter Buchstabe X, Seite 55. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Das Projekt unter Buchstabe X ist angenommen.Wir stimmen jetzt noch ab über den Bedarfsplan, soweit der Ausschuß keine Änderungen empfohlen hat. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Bedarfsplan ist damit insoweit angenommen, als der Ausschuß keine Änderung empfohlen hat. Damit ist die Anlage, nämlich der Bedarfsplan für die Bundesfernstraßen, und damit der Gesetzentwurf insgesamt in zweiter Beratung angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlußabstimmung. Wie bereits zu Beginn der Debatte angekündigt, wünscht die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN namentliche Abstimmung. Nach unserer Geschäftsordnung kann eine namentliche Abstimmung aber nur von einer Fraktion oder von 5 % der Mitglieder — das sind 34 Abgeordnete — verlangt werden. Ich stelle die Frage: Wer unterstützt den Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf namentliche Abstimmung? — Das sind 10 Mitglieder. Die Schlußabstimmung wird damit nicht namentlich stattfinden.Ich bitte nun diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die dem Gesetzentwurf zur Änderung des Fernstraßenausbaugesetzes einschließlich der Anlage Bedarfsplan für die Bundesfernstraßen als Ganzem zuzustimmen wünschen, sich zu erheben. —
Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Gesetzentwurf einschließlich Anlage ist angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf der Drucksache 12/5318. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.Unter Nr. 3 seiner Beschlußempfehlung auf der Drucksache 12/5289 empfiehlt der Ausschuß für Verkehr, den Antrag der Abgeordneten Norbert Otto , Dr. Jürgen Schmieder, Martin Göttsching und weiterer Abgeordneter auf der Drucksache 12/2777 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! —Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.Unter Nr. 4 empfiehlt der Ausschuß, den Antrag der Abgeordneten Günter Graf, Hermann Rappe , Dietmar Schütz und weiterer Abgeordneter auf der Drucksache 12/3192 ebenfalls für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung?
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14388 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1993
Vizepräsident Hans Klein— Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.Unter Nr. 5 empfiehlt der Ausschuß für Verkehr, den Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf der Drucksache 12/3351 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.Unter Nr. 6 wird empfohlen, den Antrag der Abgeordneten Michael von Schmude, Dietrich Austermann, Hans-Werner Müller und weiterer Abgeordneter auf der Drucksache 12/3486 für erledigt zu erklären. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.Unter Nr. 7 wird empfohlen, den Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf der Drucksache 12/3561 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.Unter Nr. 8 empfiehlt der Ausschuß weiterhin, den Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf der Drucksache 12/3562 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen?— Enthaltungen? — Diese Beschlußempfehlung ist angenommen.Unter Nr. 9 empfiehlt der Ausschuß für Verkehr schließlich, den Antrag der Abgeordneten Adolf Ostertag, Ursula Burchardt, Gerd Andres und weiterer Abgeordneter auf der Drucksache 12/3627 ebenfalls abzulehnen. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Wer lehnt sie ab? — Wer enthält sich der Stimme? — Diese Beschlußempfehlung ist angenommen.Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über die von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. sowie von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwürfe eines Bundesschienenwegeausbaugesetzes. — Diese Meisterleistungen deutscher Bürokunst beeindrucken mich immer tief.Zu den Drucksachen 12/2560, 12/3500 und 12/5314 liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf der Drucksache 12/5316 vor, über den wir zunächst abstimmen. Wer stimmt für die Nr. 1 des Änderungsantrags? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Nr. 1 ist abgelehnt.Wer stimmt für die Nr. 2 des Änderungsantrags der Fraktion der SPD? — Die Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Die Nr. 2 ist abgelehnt.Wir stimmen jetzt ab über die Nr. 3 des Änderungsantrages mit der soeben vorgetragenen Berichtigung. Wer stimmt dafür? — Gegenprobe! — Enthaltungen?— Nr. 3 ist mit der Berichtigung angenommen.Ich rufe den Gesetzentwurf mit seinen §§ 1 bis 8, Einleitung und Überschrift einschließlich der Anlage— Bedarfsplan für die Bundesschienenwege — in der Ausschußfassung mit der soeben beschlossenen Änderung einschließlich der vorgetragenen Berichtigung auf: In § 8 ist als Tag des Inkrafttretens der Tag nach der Verkündung einzusetzen. — Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zuzustimmen wünschen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.Kann ich davon ausgehen, daß wir trotz Annahme der Änderung unmittelbar in die dritte Beratung eintreten können?
— Das ist der Fall. Dann rufe ich zurdritten Beratungauf, und wir kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer lehnt den Gesetzentwurf ab? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Gesetzentwurf ist angenommen.Unter Nr. 3 seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/5314 empfiehlt der Ausschuß für Verkehr die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Planungsvereinfachungsgesetzes, Drucksachen 12/4328 und 12/5284. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung mit der vom Berichterstatter vorgetragenen Berichtigung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Lesung angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlußabstimmung: Ich bitte alle, die dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünschen, sich zu erheben. — Wer lehnt den Entwurf ab? — Wer enthält sich der Stimme? —
Der Gesetzentwurf ist angenommen. Damit ist dieser Komplex abgeschlossen.
— Bevor ich zur Aktuellen Stunde aufrufe, will ich für den „Belegschaftswechsel" eine Minute einräumen. —Ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 1 auf:Aktuelle StundeKürzungspläne der Bundesregierung im Sozialbereich im Hinblick auf die Empfehlungen des Europäisches Rates zum sozialen Schutz der BürgerDiese Aktuelle Stunde ist von der SPD-Fraktion beantragt worden.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Ottmar Schreiner das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolle-
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Ottmar SchreinerBinnen und Kollegen! Noch vor gut einer Woche wurde im Kommuniqué des Europäischen Rates in Kopenhagen unter Ziffer 8 eine — wörtlich — aktivere Arbeitsmarktpolitik der Mitgliedstaaten gefordert. Da heißt es wörtlich:Vorrangige Aufgabe ist die Schaffung von Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten in der Gemeinschaft bzw. sinnvolle Ausbildungsmöglichkeiten für alle Erwerbstätigen.Im „Handelsblatt" vom 21. Juni dieses Jahres hieß es im Hinblick auf die Erörterungen des EG-Gipfels:In deutschen Delegationskreisen wurde ebenfalls einem radikalen Abbau von Sozialleistungen eine klare Absage erteilt.Jetzt, nur einige Tage später, betreibt die Bundesregierung das genaue Gegenteil dessen, was mit ihrer Zustimmung vor einigen Tagen auf dem EG-Gipfel in Kopenhagen vereinbart wurde, nämlich:Erstens. Die noch vorhandenen Restinstrumente der Arbeitsförderung werden weiter radikal zusammengestrichen, und die sozialen Leistungen werden ebenso radikal gekürzt. Doppelzüngigkeit und Wortbruch werden zum Markenzeichen dieser Regierung.
Die Bundesregierung treibt die Massenarbeitslosigkeit aktiv voran.
— Ich weiß, was ich sage: Die Bundesregierung treibt die Massenarbeitslosigkeit aktiv voran. Bundeswirtschaftsminister Rexrodt kündigte vor einigen Wochen eine Zunahme der Arbeitslosigkeit in den nächsten Monaten allein in Westdeutschland von etwa 700 000 an. Für Anfang 1994 erwartet er über 4 Millionen Arbeitslose in Gesamtdeutschland bei einem gleichzeitigen Fehlbestand von über 6 Millionen regulären Arbeitsplätzen in Deutschland.In der gleichen Zeit werden gegensteuernde Arbeitsmarktmaßnahmen außer Kraft gesetzt. Zum Jahresende wird allein in Westdeutschland die Zahl der Teilnehmer an Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen auf etwa 15 000 sinken. Das ist noch gerade ein Zehntel des ABM-Jahresbestandes von 1988 bei gleichzeitig dramatisch steigender Massenarbeitslosigkeit.Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, Sie spalten die Gesellschaft immer tiefer in Arbeitsplatzbesitzer und Arbeitslose.
Existentielle Angst vor der eigenen Zukunft wird zum lähmenden Lebensgefühl von immer mehr Menschen. Das Abschieben von Millionen von Menschen in die gesellschaftlichen Hinterhöfe, das zermürbende Gefühl der eigenen Nichtsnutzigkeit hat verheerende Folgen. Die wachsende Bereitschaft zu Gewalt, der besorgniserregende Anstieg der Kriminalität habenihre Ursache eben auch in der sozialen Deklassierung und gesellschaftlichen Ausgrenzung von Menschen.
Die Bundesregierung scheint diese Entwicklung angesichts ihrer beschäftigungs- und arbeitsmarktpolitischen Tatenlosigkeit billigend in Kauf zu nehmen.Zweitens. Vor drei Monaten noch hieß es nach Abschluß der Solidarpaktklausur:Soziale Regelleistungen werden nicht gekürzt.Selbst regierungsamtliche Untersuchungen über die soziale Not in unserem Land werden nicht mehr zur Kenntnis genommen. In einer 1990, vor wenigen Jahren, veröffentlichten Untersuchung des Bundesarbeitsministeriums hieß es z. B.:So wichtig die Lohnersatzleistungen bei Arbeitslosigkeit sind, so wenig reichen sie in der Regel zur Existenzsicherung aus. Gut ein Drittel der Arbeitslosen ist materiell in einer schwierigen Lage oder sogar Notlage. Hochgerechnet ist das heute eine Größenordnung von 700 000 Menschen.1988, Bundesarbeitsministerium!Heute sollen die Lohnersatzleistungen insgesamt weiter radikal zusammengestrichen werden. Im April dieses Jahres beispielsweise erhielten in Ostdeutschland 9,3 % der Empfänger von Arbeitslosengeld und 28 % der Arbeitslosenhilfeempfänger weniger als 600 DM Unterstützungsleistungen pro Monat. Wovon sollen diese Menschen eigentlich noch leben? Im günstigsten Fall treiben Sie mit dieser Politik die Menschen in die Schwarzarbeit. Anschließend beklagen Sie den Anstieg der Schwarzarbeit. Zudem wälzen Sie durch die beabsichtigten Kürzungen erhebliche zusätzliche Lasten auf die Sozialhilfekassen der Gemeinden ab. Auch dies ist ein glatter Bruch des Solidarpakts.
Schon jetzt müssen die Städte und Gemeinden ca. 4 Milliarden DM aufwenden, um die Sicherungslükken der Arbeitslosenversicherung notdürftig auszugleichen und durch Sozialhilfe aufzustocken. Neue Armut und alter Reichtum steigen in Deutschland gleichermaßen. Die von uns geforderte Arbeitsmarktabgabe sowie eine Ergänzungsabgabe für Besserverdienende wird bis zum Schluß von den Hardlinern in den Koalitionsfraktionen abgelehnt.
Die Tugenden des Teilens werden zum Vorrecht einer sozialen Gruppe, die nichts zum Teilen hat. Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Sie führen die Bundesrepublik Deutschland auf einen schlimmen Weg. Die Gewalt in den Straßen Amerikas ist häufig Ausdruck von Armut und Not. In dem Maße, in dem Sie, die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung, Armut und Not in Deutschland verstärken, sind Sie auch verantwortllich für eine aus allen Fugen geratende Gesellschaft.
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14390 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1993
Ottmar SchreinerSchönen Dank.
Das Wort hat der Kollege Hans-Joachim Fuchtel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Rede des Kollegen Schreiner paßt genau zu dem dpa-Interview, das gestern der Kollege Dreßler gegeben hat.
Er hat nämlich allen Ernstes behauptet, daß diese Regierung die jetzige Finanzmisere selbst verschuldet hat.
Meine Damen und Herren von der SPD, daß ich bei Ihnen jetzt keinen Beifall bekommen kann, weiß ich; sonst wären Sie eine noch schlechtere Opposition, als Sie es sowieso schon sind.
Meine Damen und Herren, wenn dies die Analyse für die ökonomische Situation in Deutschland ist, dann leben Sie auf einem anderen Stern. Das möchte ich Ihnen hier einmal deutlich sagen.
Tatsache ist, daß wir die Menschen in den neuen Bundesländern von der sozialistischen Erblast befreien müssen und daß dies eben viel mehr Geld kostet, als wir alle miteinander gedacht haben.
Tatsache ist auch, daß sich die weltweiten Wirtschaftsbedingungen verändert haben und daß wir Deutsche darauf reagieren müssen. Andere Länder haben dies viel früher begriffen,
weil die Opposition es dort auch viel früher begriffen hat. Wir als Deutsche hinken hinterher, weil es eben unsere Opposition nicht begriffen hat.
Sie haben beim Solidarpakt weitergehende und dringende Maßnahmen verhindert. Jetzt stehen wir eben vor der Situation, daß wir das nachholen müssen, was da versäumt wurde. Es spricht für diese Bundesregierung, daß sie 15 Monate vor der Bundestagswahl hergeht und ganz offen sagt, was notwendig ist. Das zeigt Regierungsfähigkeit.
Das ist Vertrauenswürdigkeit, was hier dargestellt wird.Meine Damen und Herren, es geht um die Stabilität unserer Währung. Es geht darum, daß wir den Wirtschaftsstandort sichern, und es geht darum, daß wir damit auch die Arbeitsplätze erhalten. Wir brauchen Wirtschaftswachstum, und zwar — das unterscheidet uns von Ihnen kolossal — nicht auf Pump, sondern durch das Besinnen auf das Sparen als oberste Tugend.
Sie werden von Ihren Diskussionen, die Sie jetzt gerade führen, noch eingeholt werden. Wenn ich sehe, daß Ihr Vorsitzender Klose wieder erklärt hat, die SPD könne bei Sparmaßnahmen nicht mitmachen, weil sie ihre Identität wahren will,
dann muß ich Ihnen sagen: Ihre Kommunalpolitiker sind auch hier schon wieder weiter. Wenn Sie heute die „Frankfurter Rundschau" lesen, dann sehen Sie: SPD-Kommunalpolitiker machen Sparvorschläge für schlechte Zeiten und rühren dabei an sozialdemokratischen Tabus.
Ich sage Ihnen voraus, Sie kommen auch hier wieder zu spät. Es geht Ihnen wie in der Asylfrage, und Sie tragen damit zu weiterer Politikverdrossenheit bei.
Ich scheue mich nicht, Unangenehmes zu sagen. Wer Unangenehmes sagt, der lügt die Bevölkerung schon mal nicht an.
Es ist ganz klar, daß die Soziallastenquote zu hoch ist und die öffentlichen Ausgaben für den Sozialbereich zu hoch sind. Sie überfordern den Staat, die Wirtschaft und den einzelnen.
Dies wollen Sie nicht wahrhaben, obwohl auch Sie es wissen.Sie kommen mir vor wie jener Mann, der im Bummelzug sitzt, von Station zu Station fährt und immer wieder stöhnt, aber nicht aussteigt. Als er dann gefragt wird: „Warum stöhnen Sie eigentlich bei jeder Station?", sagt er: „Weil ich eigentlich aussteigen müßte." Als der andere fragt: „Warum steigen Sie denn dann nicht aus?", sagt er: „Weil es hier so schön warm ist. "Genau das, meine Damen und Herren, ist Ihr Problem. Sie wollen in der warmen Atmosphäre der Gesellschaft sitzenbleiben und scheuen sich vor den Realitäten. Aber je weiter Sie mit dem Zug in die falsche Richtung fahren, desto schwieriger wird es, die
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Hans-Joachim FuchtelKurskorrektur zu vollziehen, aber sie ist dringend notwendig.
Frau Kollegin Dr. Gisela Babel, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kürzungen im sozialen Bereich sind Anlaß für die Aktuelle Stunde seitens der SPD. Es kommt so, wie man es erwarten mußte und vom Kollegen Schreiner auch gar nicht anders erwarten kann. Es kommt die große Arie, wir seien am Sozialabbau beteiligt.
— Frau Matthäus-Maier, ich möchte einmal Sie als ausgewiesene Haushaltspolitikerin fragen: Wie lösen Sie, wenn Sie in einer Situation sind, in der der Staat weniger Einnahmen und höhere Ausgaben hat, dieses einfache Problem: indem Sie die Einnahmen steigern oder die Ausgaben kürzen oder indem Sie das tun, was Sie am liebsten tun, nämlich die Verschuldung hochbringen?
Die Verschuldung war ja das Thema. Die politische Arithmetik der Sozialdemokraten in allen Krisen kennt keinen anderen Weg, keinen einzigen realen Vorschlag, nichts außer herummeckern.
So kommen Sie aus einer solchen Krise nicht heraus. So können Sie keine Politik machen, von der Sie sagen, daß sie Maßstäbe entwickelt. Gucken Sie sich doch bitte das Maßnahmenpaket erst einmal an.
Beschäftigen Sie sich damit, bevor Sie anfangen, in einer Aktuellen Stunde Ihre völlig unausgegorenen kritischen Arien herunterzubeten.
Eine solch dünne Art der Argumentation angesichts der schwierigen Probleme, vor denen wir hier stehen, finde ich nicht angemessen.
Machen wir uns doch die Lage klar: Wir sind vor der größten Rezession seit Kriegsende. Wir haben eine Entwicklung zu bewältigen, in der die Produktionskosten so hoch wie nie sind. Es gibt diese Entwicklung aber nicht nur in Deutschland.
Besonders hübsch in dem Antrag zur Aktuellen Stunde finde ich den Hinweis, daß wir uns ja innerhalb einer europäischen Einheit befinden und über Sozialpolitik hier auch Rechenschaft ablegen müssen. Meine Damen und Herren, wie sieht es denn bei den
Nachbarn aus? Wir haben in anderen europäischen Staaten auch strukturelle Schwierigkeiten. Wir sehen, daß Schweden z. B. sein Heil in einer drastischen Rücknahme sozialer Leistungen sucht. Wir sehen, daß auch in Frankreich dieser Weg gegangen wird. Auch wir werden zur Behebung struktureller Schwierigkeiten um Einschnitte nicht herumkommen. Dies ist wirklich notwendig.
Jetzt komme ich noch zu etwas Speziellem. Im Zusammenhang mit den strukturellen Schwierigkeiten ist darauf hinzuweisen, daß wir unsere Krise durch die Wiedervereinigung natürlich ein bißchen verschoben haben. Aber wir haben sie trotzdem jetzt bekommen. Dies erfordert von uns eine Politik, in der wir die richtigen Entscheidungen treffen.
Jetzt möchte ich Ihnen noch sagen, was uns als Sozialpolitikern besondere Sorgen bereiten müßte: Wir haben soziale Sicherungssysteme alle auf Zuwachs gebaut. Nur mit mehr Einnahmen, mit Wachstum können wir diese Leistungen überhaupt tragen. Wenn wir diese Strukturschwäche unserer Sozialpolitik nicht ändern, erleben wir den Kollaps. Wir sehen es heute in der Arbeitslosenversicherung. Wenn wir nicht mehr und über andere Maßnahmen nachdenken, wie wir soziale Sicherungssysteme bezahlen können, dann, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, werden wir diese Aufgabe nicht bewältigen können.
Jetzt will ich aber auch noch etwas zu den Dimensionen sagen, in denen wir diese Eingriffe planen. Sie tun wirklich so, als ob die absolute Not vor der Tür stünde. Ich weiß von Ihnen allen, daß Sie mehr oder weniger doch die Angebote des Deutschen Bundestags wahrnehmen und Reisen in alle Welt machen. Wenn Sie von diesen Reisen als Erkenntnis nach Hause mitbringen, daß es in Deutschland so besonders schlecht sei und so finster aussehe und die Sozialpolitik so viele unerledigte Aufgaben habe
und daß in irgendeinem anderen Land für diese Fragen bessere Lösungen gefunden worden seien, dann hätte ich heute gerne einmal darüber Auskunft.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Dr. Babel, an eine solche Argumentation kann ich mich aus DDR-Zeiten noch bestens erinnern. Es tut mir leid, wenn ich Sie daran erinnern muß.
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14392 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1993
Petra Bläss
Es verschafft mir absolut keine Genugtuung, daß bestimmte, von mir an dieser Stelle schon mehrfach vorausgesagte Entwicklungen Wirklichkeit werden
— hören Sie vielleicht erst einmal zu; ich habe eh nur fünf Minuten Redezeit —; denn so, wie sie dann eintreten, übertreffen sie noch die schlimmsten Erwartungen.Nun haben wir also ein weiteres Sparpaket auf dem Tisch. 25 Milliarden DM Kürzungen werden für das kommende Haushaltsjahr angekündigt, und bis 1996 sollen noch einmal 40 Milliarden DM weniger ausgegeben werden.
Damit, so erwartet Finanzminister Waigel, könnten dann die desolaten Bundesfinanzen konsolidiert werden. Auch Wirtschaftsminister Rexrodt geht davon aus, daß die jetzt angepeilten Einsparungen ausreichen und — ich zitiere ihn wörtlich — „wir nicht nachbessern müssen, nachbessern im Sinne von zusätzlichen Kürzungen". Ein wirkliches Sprachgenie, dieser Minister! Es wäre schön, wenn er heute bei dieser Debatte dabeigewesen wäre. Hier wird mit Sprache versucht, die Menschen für dumm zu verkaufen. Das ist absolut unerträglich.Noch unerträglicher ist natürlich, was sich hinter den Milliardensparbeträgen verbirgt, eben die tiefen Einschnitte ins soziale Netz, die im FKP noch nicht durchgesetzt werden konnten.Jetzt wird nicht mehr gefackelt. Klar ist, daß zum wiederholten Male all jenen in die Tasche gegriffen wird, die staatliche Leistungen erhalten,
Arbeitslosen, Sozialhilfeempfängerinnen und-empfängern, Kurzarbeiterinnen und Kurzarbeitern. Der Kollege Dr. Solms findet das ganz normal, denn — so seine Feststellung —:Je größer ein Haushalt ist, desto größer sind natürlich auch die Einschnitte.Welch ein Erkenntnistiefgang! Aber es geht hier eben nicht um nüchterne Haushaltstitel, sondern um Millionen Menschen, die in ihrer großen Mehrheit von den neuen Kürzungsplänen der Koalition existentiell betroffen sein werden.3 % weniger bei Lohnersatzleistungen oder der Sozialhilfe bedeuten eben für diese Menschen wirkliche Entbehrung und den Verzicht auf Lebensnotwendiges. Berechnungen, wie sie von den großen Wohlfahrtsverbänden im Zusammenhang mit deren verdienstvoller Armutsberichterstattung angestellt wurden, können Ihnen doch nicht entgangen sein.Danach jedenfalls reicht die Sozialhilfe schon heute nicht bis zum Monatsende. Bekannt ist ja wohl auch, daß sich vor allem in den neuen Bundesländern eine Kürzung von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe ähnlich auswirken wird. Mit der morgen in Kraft tretenden Begrenzung der Sozialhilfesteigerung auf nur 2 bzw. 3 % ist klar, daß die Steigerung unter der jährlichen Teuerungsrate bleibt und schon damit objektiv eine Leistungskürzung eintritt.Nun kommen Sie immer mit dem Abstandsargument, demzufolge staatliche Zuwendungen deutlich unter dem Arbeitseinkommen liegen müssen. Aber die 4 Millionen Menschen, die kein reguläres Arbeitsverhältnis haben, sind doch nicht freiwillig in dieser Lage. Die meisten würden gern arbeiten, statt sich staatlicherseits alimentieren zu lassen und sich zudem noch dem Vorwurf des Mißbrauchs auszusetzen.Fällt Ihnen gar nicht mehr auf, daß Sie sich mit Ihren Sparkonzepten nur noch zwischen den Kategorien „arm, ärmer, am ärmsten" bewegen? Zu Recht verweist die SPD-Fraktion auf die Empfehlungen des Europäischen Rates zum sozialen Schutz der Bürgerinnen und Bürger. Der Bundesregierung kommt langsam das zweifelhafte Verdienst zu, Vorreiterin einer Nivellierung nach unten zu sein, indem sie nicht einmal mehr die dort geforderten Mindeststandards bei den Sozialleistungen sichert.
Die Argumente zu der vielbeschworenen sozialen Ausgewogenheit der Einsparungen sind durchweg verlogen. Es ist inzwischen auch bei der Regierung durchweg Mode geworden, diejenigen zu schelten, die durch Steuerhinterziehung und Geldtransfers ins Ausland den Staat jährlich um dreistellige Milliardenbeträge betrügen. Aber die Schelte bleibt konsequenzenlos. Es ist ein offenes Geheimnis, daß die wirkliche Mißbrauchskampagne genau da ansetzen muß. Doch das bleibt alles vage. Von erheblichen Subventionen, die man kürzen werde, und von zu beseitigenden, ungerechtfertigten Steuervorteilen ist sehr wohl die Rede; aber anders als bei dem sozialen Kahlschlag, dem weitere 14 Milliarden DM zum Opfer fallen, werden exakte Zahlen nicht genannt.Meine Damen und Herren, die Menschen hierzulande glauben längst nicht mehr an die soziale Ausgewogenheit von Kabinettsbeschlüssen. Zu nachdrücklich haben sie in den letzten Monaten erfahren müssen, daß die Staatspleite die Armen immer ärmer macht, während die Reichen ungeschoren bleiben.
Jedes Konzept wird versagen, wenn nicht endlich daran gedacht wird, den Reichtum in diesem Land anders zu verteilen.
Das Wort hat der Kollege Werner Schulz.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1993 14393
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Rotstiftequilibristen dieser Regierungskoalition — —
— Rotstiftequilibristen. Ich übersetze Ihnen sogar, was das heißt. Das heißt „Kunstturner". Kunstturner, die auf dem sozialen Nerv dieses Staates in der Nacht von Montag zu Dienstag — —
— Ich fülle auch gern Ihre Bildungslücken auf. Im Grunde genommen hat mir die Diskussion, die Herr Fuchtel hier angefangen hat, gezeigt, daß wir nicht nur den Tiefpunkt in der sozialen Kälte, sondern auch den intellektuellen Tiefpunkt langsam erreichen.
— Ich habe auch selten so einen Unsinn gehört wie von Ihrer Seite, Herr Dr. Weng.
Vielleicht lassen Sie mich einmal zu den Punkten kommen, über die wir heute sprechen wollen. Ich meine, daß diese Künstler im Kürzen gar nicht erst erschienen sind. Sie haben nur einen ihrer hochbezahlten Staatssekretäre geschickt, der uns darüber wahrscheinlich relativ wenig sagen wird. Diese Regierung wird sich nächste Woche in Tokio damit brüsten, daß sie eine Haushaltskonsolidierung herbeigeführt hat, die alles andere als das ist. Wir erleben hier nicht den Umbau des Sozialstaates, sondern dessen Abbau,
nicht den Einstieg in die ökologisch-soziale Marktwirtschaft, wie das Ihr neues Grundsatzprogramm oder, was da in etwa erkennbar ist, verlautbaren läßt, sondern den Ausstieg aus dem Sozialstaat. Das wird hier vorprogrammiert.
— Ich finde das schon; im Grunde genommen stören Sie den sozialen Frieden in diesem Land.
Da brauchen Sie gar nicht „oh Gott" sagen. Der wird Ihnen hier wahrscheinlich kaum helfen, auch wenn Sie ihn im Parteinamen für sich verbucht haben. Vielleicht ist das das einzige, was Ihnen noch helfen kann.
— Dieser Einwand ist doch lächerlich. Ich dachte, daß jetzt ein Sachargument käme. Darauf wäre ich nun wahrlich gern eingegangen. Aber wenn Ihnen wirklich nicht mehr einfällt, als zu fragen, wo unsere Kollegen sind, dann sage ich Ihnen: Prozentual — Ich helfe Ihnen gern bei der Prozentrechnung — sind
mehr Personen von unserer Fraktion im Saal als von Ihrer.
— Ach, das ist doch alles lächerlich.
Die Kürzungen waren allerdings zu erwarten; das muß ich dazusagen. Die Fraktion der SPD wäre besser beraten gewesen — das muß ich als Kritik wirklich schweren Herzens beifügen —, sich bei diesen Sozialpaktverhandlungen durchzusetzen. Glauben Sie es mir! Denn dort war die Möglichkeit gegeben, zumindest auf dem nachdrücklich zu bestehen, was im Grunde genommen jetzt doch gebraucht wird, das ist die Arbeitsmarktabgabe, das ist der Solidarzuschlag.
Es sind alle Trümpfe aus der Hand gegeben. Nachverhandlungen wird es nicht geben. Der Sozialpakt II, den wir jetzt erleben und der das wahrlich nicht ist, bringt eigentlich genau das in verschärfter Form, von dem Sie damals meinten, daß Sie es abwenden könnten.
— Herr Schreiner, Ihre Presseerklärung vom 1. April — das Datum ist sicherlich bezeichnend — wird Ihnen ja heute noch in den Ohren klingen, wenn Sie dort schreiben:
Die SPD-Bundestagsfraktion hatte von Anfang an klargestellt, daß die Verschlechterung von sozialrechtlichen Anspruchsvoraussetzungen ausgeschlossen ist.
Das ist eine frohe Hoffnung gewesen. Das ist mit dieser Regierung überhaupt nicht zu machen. Wenn Sie unserer Fraktion schon keinen Glauben schenken, dann sollten Sie vielleicht wenigstens auf Lutz Hoffmann hören, den Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, der sagt, daß man Wirtschaftswachstum nun wahrlich nicht mit Sozialkürzungen erreichen kann. Das wird den Konsum weiter drosseln; das wird die Konjunktur schwächen. Es geht darum, eine stärkere Erfassung der Schwarzarbeit und der Einkünfte aus Vermögen und Unternehmertätigkeit für diesen Staat zu organisieren. Das ist, glaube ich, der entscheidende Punkt, und daran mogeln Sie sich vorbei.
Ich wüßte ein Rezept: Verordnen Sie dieser Regierung doch bitte endlich mal Schlechtwettergeld; denn die steht seit der deutschen Einheit wahrlich im Regen!
Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, unserem Kollegen Horst Günther.
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14394 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1993
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrter Kollege Schulz, wegen des Nachhilfeunterrichts soeben: Ich habe da so dunkel in Erinnerung, daß „equilibre" von „Gleichgewicht", von „Austarieren" und „Ausgewogenheit" kommt — vielleicht können Sie das einmal prüfen! —, und dann bedanke ich mich für das Kompliment, das Sie uns damit gemacht haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nur mit einer konsequenten Doppelstrategie von Wachstums- und Konsolidierungspolitik kann die aktuelle Wirtschaftsschwäche überwunden und die Wiedervereinigung wirtschaftlich bewältigt werden.
Wer diese Politik in einen Gegensatz zu unseren gemeinsamen Bemühungen auf europäischer Ebene hineinzureden versucht, betreibt reine Demagogie. Auch in der EG, meine Damen und Herren, gilt Adam Riese, und auch die Europäische Gemeinschaft weiß: Wer weniger erwirtschaftet, kann auch nur weniger verteilen.Der Europäische Rat hat in der letzten Woche die Entschlossenheit der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten bekräftigt — ich zitiere —, „ein nachhaltiges Wachstum herbeizuführen, die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie zu stärken und die Arbeitslosigkeit zu verringern". Genau das, meine Damen und Herren, ist unser Ansatz!
Bei der Umsetzung ist als erstes zu fragen: Welche Daten bestimmen unser Handeln, nachdem nun auch Deutschland voll von der Weltrezession erfaßt ist?Mehr als die Hälfte der gesamten Wirtschaftsleistung verbraucht der Staat. Die Staatsquote liegt bei 51,5 %. Sie war 1989 noch bei 45,3 % angesiedelt. Das heißt, meine Damen und Herren: Die Staatsquote muß runter!
Die Abgabenquote beträgt schon 41,5 %. Sie war 1990 38,5 %.
Steigt sie weiter so rapide, würde das den Leistungswillen der Bürger gefährden. Nur wer spitze in seinen Leistungen ist, kann auch Spitzenansprüche stellen.
Das jährliche Haushaltsdefizit macht 6,5 % des Sozialprodukts aus.
Die vom Grundgesetz gezogene Verschuldungsgrenze kann aber nicht beliebig lange überschritten bleiben.
Aus alledem wird klar: Wir sind zum Sparen gezwungen, und wir müssen für die Wirtschafts- und Währungsunion in Europa auf Kurs bleiben.Meine Damen und Herren, Sie alle wissen, daß Deutschland heute die Eintrittskriterien für die Wirtschafts- und Währungsunion nicht erfüllt.
Wir wollen und müssen aber Teil der europäischen Stabilitätsgemeinschaft werden. Nur so können wir die globalen Herausforderungen aus Japan, aus Mittel- und Osteuropa, aus den USA und aus dem asiatisch-pazifischen Raum bewältigen und Wohlstand wie soziale Sicherheit in unserem Land bewahren. Ich habe den Eindruck, meine Damen und Herren, daß manche nicht sehen, wie groß, wirtschaftlich betrachtet, die Bedrohung aus diesen Bereichen bereits ist.
Wir erledigen aber nicht nur unsere „europäischen Hausaufgaben", wenn wir Haushaltsdisziplin üben und einfordern sowie für Preis- und Zinsstabilität sorgen; wir gestalten auch Sozialpolitik.
Oder glaubt jemand, meine Damen und Herren, es helfe den Arbeitslosen, wenn zu hohe Zinsen die Investitionen abwürgen, die allein nur neue Arbeitsplätze schaffen? Ist den Rentnern geholfen, wenn eine ausufernde Inflation ihnen den Alterslohn raubt? — Die Zeit für stabilitätspolitisches Handeln, meine Damen und Herren, ist jetzt gekommen.
Wer wollte behaupten, man käme durch entsprechende Abgabenerhöhungen an Einsparungen gerade dort vorbei, wo die Ausgabendynamik nach geltendem Recht am größten ist, nämlich bei den Sozialausgaben? — Auch hier berufe ich mich auf den letzten Europäischen Rat in Kopenhagen. Dort ist gesagt worden, geringere Lohnnebenkosten würden die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie fördern. — Meine Damen und Herren, das gilt allerdings auch für die Betriebspolitik. Ausgabenerhöhungen wären das Gegenteil von dem was im europäischen Raum für richtig gehalten wird.
Die Bundesregierung weigert sich, einen Teufelskreis von weiteren Abgabenerhöhungen und Verlusten beim Beschäftigungsvolumen in Gang zu setzen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1993 14395
Pari. Staatssekretär Horst GüntherDie bevorstehenden Sparmaßnahmen bei den Sozialausgaben werden im Einzelfall einschneidend und schmerzlich sein;
sie sind aber unvermeidbar, weil die Konsolidierungslast nicht nur den Beschäftigten über immer höhere Steuern und Abgaben aufgebürdet werden kann. Auch die Empfänger staatlicher Transferleistungen müssen ihren Beitrag nunmehr leisten.
Ich möchte in dieser Debatte unterstreichen, daß nicht nur Deutschland, sondern auch alle unsere Partner in der Europäischen Gemeinschaft einen klaren Konsolidierungskurs steuern. Überall müssen liebgewonnene Besitzstände hinterfragt werden, wenn wir nicht die Zukunft des Industriestandorts Europa verspielen wollen. Wenn sich deshalb alle Staaten der Europäischen Gemeinschaft zu Einsparungen, insbesondere im konsumtiven Bereich, genötigt sehen, so darf das doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß enorme zusätzliche Anstrengungen im investiven Bereich unternommen werden, um Arbeitsplätze zu schaffen oder zu erhalten.Derzeit laufen die Beratungen über die Strukturfondsverordnungen der Europäischen Gemeinschaft. Es ist bereits beschlossene Sache, daß für den Zeitraum 1994 bis 1999 ein Mittelvolumen von 320 Milliarden DM zur Verfügung gestellt werden wird.
Diese Mittel gehen in große Infrastrukturprojekte und in Qualifikationsmaßnahmen für Arbeitslose oder für von Arbeitslosigkeit Bedrohte. Deutschland beteiligt sich daran mit etwa 100 Milliarden DM. Wir fördern so den Industriestandort Europa und leisten unseren Beitrag zur Solidarität innerhalb der Gemeinschaft. Insbesondere die neuen Bundesländer können in diesem Zusammenhang auf die Solidarität der Gemeinschaft rechnen. Aber auch hier gilt: Gleichklang und nicht Dissonanz zwischen der Politik der Gemeinschaft und dem Handeln der Bundesregierung.Meine Damen und Herren, EG-Präsident Delors fordert in einem Perspektivpapier, die Aufwendungen zur Unterstützung der Menschen ohne Arbeit von derzeit 0,1 % des Sozialprodukts der Gemeinschaft deutlich zu steigern. Seine Zielgröße liegt bei 0,5 %.
Ich möchte darauf hinweisen, daß Deutschland in diesem Jahr etwa 4 % seines Bruttosozialprodukts dafür aufgewendet hat.
Das sind 120 Milliarden DM. Wir haben bereits das Achtfache dessen, was die EG nach Delors erst erreichen möchte.
Tatenlosigkeit kann man angesichts dieser Tatsache, Kollege Schreiner, hier wohl kaum behaupten.
Dieses außergewöhnliche Ausgabenniveau können wir nur für eine begrenzte Zeit aufrechterhalten, wenn wir nicht das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht ernsthaft gefährden wollen.Meine Damen und Herren, auch dies ist wahr: Mancher Staat in der Europäischen Gemeinschaft wird uns auch nach den unvermeidlichen Konsolidierungsmaßnahmen um unser Instrumentarium der aktiven Arbeitsmarktpolitik und um das Leistungsniveau für die Arbeitslosen in Deutschland beneiden.Vielen Dank.
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Regina Kolbe das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Fast alles Altbekanntes in diesem Spar-Papier!Dieser Regierung fällt zur Lösung der gegenwärtigen Krise nichts Neues ein. Dabei wäre es doch endlich an der Zeit, alle relevanten Personengruppen gerecht an der Konsolidierung des Haushalts zu beteiligen. Das wäre Solidarität, das wäre soziale Gerechtigkeit. Aber dieses Verständnis, meine Damen und Herren von der CDU/CSU und F.D.P., ist Ihnen leider Gottes abhanden gekommen.
— Wenn Sie es schon mal hatten, ist das leider Gottes doppelt schlimm.Die Caritas schätzt, daß die Sozialhilfe 20 % zu niedrig ist. Sie kürzen sie dennoch um 3 %. Rechnet man die Inflationsrate von mindestens 4 % hinzu, sind es mittlerweile 7 % an realen Einkommensverlusten für die Betroffenen. Das ist für mich Sozialpolitik pervers. Sie führen als Argument das Abstandsgebot an. Dieses spricht aber nicht gegen die Höhe der Sozialhilfe, sondern wäre ein Argument dafür, die Löhne im unteren Bereich anzuheben. Das zeigt zum anderen auch ganz deutlich, daß der Familienlastenausgleich zu niedrig ist.Am meisten, nämlich zu 70 %, muß die Bundesanstalt für Arbeit einsparen. Die AFG-Novelle war nur ein Anfang. Im Bereich der Qualifizierung soll nicht nur bei der BA gespart werden; auch BAföG soll für zwei Jahre nicht erhöht werden. Dabei sind Bildung und Qualifizierung eine Investition in die Zukunft und ein wesentlicher Standortfaktor.
Sparen? — Ja, aber richtig. Der kluge Mann baut in der Regel vor. Der Hausbesitzer repariert einen Dachschaden gleich und wartet nicht erst bis zum großen Sturm, bis zum großen Regen, um anschließend das ganze Haus zu renovieren. Was will ich damit sagen? — Ein wirksamer Weg zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist die Verzahnung der aktiven Arbeitsmarktpolitik mit Strukturpolitik, wie es im Antrag der
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14396 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1993
Regina KolbeSPD zum Arbeits- und Strukturförderungsgesetz vorgesehen ist. Sie wollen noch einmal 1,3 Milliarden DM Einsparung bei ABM durchsetzen. Damit wird wieder einmal die hohe Selbstfinanzierungsquote dieses Instruments in der aktiven Arbeitsmarktpolitik ignoriert. Lernfähigkeit kann man dieser Bundesregierung auf keinen Fall bescheinigen.
Die Kürzungen der Sozialleistungen auf allen Ebenen sind kontraproduktiv und konjunkturschädigend, da gerade in diesem Bereich der größte Teil des Geldes für den Konsum ausgegeben wird. Hinzu kommt, daß die Betroffenen nun verstärkt in die Sozialhilfe getrieben werden. Der Bund nimmt dadurch ganz bewußt in Kauf, daß die Verschuldung der Kommunen und Länder drastisch steigen wird.Dramatisch stellt sich die Situation in Ostdeutschland dar. In Sachsen hat 1993 die durchschnittliche Pro-Kopf-Verschuldung inzwischen Westniveau erreicht, ohne daß die Aufbauleistungen erbracht wurden. 20 % des Haushaltes werden dieses Jahr über die Nettokreditaufnahme finanziert.
Um zu verdeutlichen, von welchen Kürzungen wir hier im Einzelfall sprechen, möchte ich Ihnen folgendes sagen: Das durchschnittliche Arbeitslosengeld im Osten beträgt zur Zeit in der Woche 228,90 DM, im Westen 320,04 DM. Bezieher im Osten erhalten also durchschnittlich 91,14 DM weniger. Ihnen geht es sicherlich wie mir: Diese Summen reichen uns in der Regel nicht einmal für die monatlichen Portokosten. Aber im Osten wie im Westen müssen Menschen davon leben,
und das sind nicht wenige. Im Osten sind es zur Zeit 654 700 Menschen, im Westen 1 050 000 Menschen. Fakt ist: Es werden im Osten „sozialistische" Löhne bzw. Unterhaltsleistungen gezahlt, während die Lebenshaltung durch westliche, marktwirtschaftliche Preise bestimmt wird. Und Sie wollen diese Leistungen wirklich noch kürzen? Wo bleibt Ihr Gewissen?Jeder vierte Haushalt im Osten ist von Wohngeld abhängig. Die Zahl der Wohngeldempfänger liegt derzeit bei 1,78 Millionen. Das durchschnittliche Einkommen dieses Personenkreises beträgt 1 186 DM, aber Sie wollen kürzen.
Die Haushaltslage der Bundesrepublik ist unbestritten katastrophal. Wir haben ein Programm vorgelegt, das Sparleistungen von 33 Milliarden DM vorsieht. Es ist einfach, immer bei den sozial Schwachen zu sparen. Aber ich frage: Wann kommt ein Beitrag aus diesem Hause? Wann werden wir Abgeordnete endlich eine Arbeitsmarktabgabe zahlen? Das fände ich sozial, und das wäre eine richtige Finanzierung der Probleme.
— Nicht alle, aber wesentliche. Und wir bräuchten nicht von den .firmsten der Armen zu nehmen.-
Die Arbeitsaufnahme wollen Sie um jeden Preis. Das glauben Sie durch die degressive Gestaltung des Arbeitslosengeldes zu erreichen. Dies ist ein Hohn sondergleichen angesichts 7 Millionen fehlender Arbeitsplätze und 33 Millionen arbeitsloser Menschen in westlichen Industriestaaten.
Frau Abgeordnete, ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß ich in der Aktuellen Stunde sehr auf die Zeit achten muß. Sie haben Ihre Redezeit schon deutlich überschritten.
Ja. — Ich möchte noch auf eines hinweisen: Sie wollen 1,4 Milliarden DM Steuermehreinnahmen durch Bekämpfung von Mißbrauch eintreiben. Das ist lächerlich, wenn man weiß, daß 12 % des Bruttosozialproduktes, also rund 400 Milliarden DM, am Finanzamt vorbeigemogelt werden und dadurch Steuerausfälle von 130 bis 140 Milliarden DM entstehen. Steuerhinterziehung ist in unserem Land noch immer ein Kavaliersdelikt.
Frau Abgeordnete Kolbe, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir nicht nur zuhörten, sondern meine Wünsche auch erfüllten.
Ja. — Wir Sozialdemokraten werden dem, was Sie vorhaben, nicht zustimmen.
Danke.
Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Peter Ramsauer das Wort.
Erst einmal muß das Pult hochgefahren werden.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Eine Überschrift über die bisherigen Redebeiträge der Oppositionsredner könnte eigentlich nur
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1993 14397
Dr. Peter Ramsauerlauten: „Hemmungslose Übertreibung und keinerlei Alternativen".
Deswegen möchte ich, auch vor dem Hintergrund dieses Sparpakets, feststellen: Die sozialen Standards und der soziale Schutz der Barger in Deutschland waren, sind und werden auch in der Zukunft im europäischen Vergleich Spitze sein.
— Sie wären natürlich froh, wenn Sie Handwerksmeister in Ihren Reihen hätten, solche wie mich! Aber die gehen natürlich zur CSU, weil sie dort besser aufgehoben sind.
Ich frage mich, liebe Kolleginnen und Kollegen, warum wir denn einen so starken Zustrom von Arbeitnehmern aus anderen EG-Ländern nach Deutschland, haben wenn es so schlimm ist, wie sie es an die Wand malen wollen. Warum, so frage ich mich, müssen wir denn eine Entsenderichtlinie erarbeiten, die Auslandsarbeitnehmern aus der EG die gleichen Schutzrechte in Deutschland sichert wie deutschen Arbeitnehmer? Warum scheuen andere EG-Länder denn davor zurück, allzu feste Zusagen einzugehen,
die sie dazu verpflichten würden, ihre sozialen Standards auf deutsches Niveau anzuheben?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte auch ganz bescheiden darauf hinweisen, daß das, was EG-Kommissionspräsident Delors nach dem Kopenhagener Gipfel unter der Überschrift „Aktivere Arbeitsmarktpolitik" gefordert hat, in Deutschland in hervorragender Weise erfüllt und zum Teil übererfüllt ist, wie Staatssekretär Günther vorhin vorgerechnet hat.
Beispielsweise sind in Deutschland die von Präsident Delors geforderten sinnvollen Ausbildungsmöglichkeiten ein Vorbild für ganz Europa. Andere EG-Lander eifern diesem Beispiel nach. Eine Mahnung an uns sollte allerdings die Kopenhagener Forderung sein, daß der technische und wirtschaftliche Wandel nicht aufgehalten werden darf. Das sollten sich vor allen Dingen diejenigen hinter die Ohren schreiben, die sich beispielsweise vehement gegen längere Maschinenlaufzeiten wenden.
Meine Damen und Herren, da ich hier als Wirtschaftspolitiker spreche, muß ich abermals auf ein ehernes Gesetz der Wirtschafts- und Sozialpolitik hinweisen: Die Sozialpolitik kann nämlich nur verteilen, was vorher die Wirtschaft, also rechtschaffene Arbeitnehmer und Arbeitgeber, erwirtschaftet.
Eine Sozialpolitik, die mehr verteilt, torpediert und lähmt den Leistungswillen derjenigen, welche die Verteilmasse erst einmal erwirtschaften. Eine solche Sozialpolitik zerstört sich ihre eigenen Grundlagen.
Dies gilt in Deutschland genauso wie in anderen EG-Ländern. Überall, wo in Europa übersozialisiert worden ist, sind die Sozialsysteme und die öffentlichen Kassen nicht mehr finanzierbar gewesen,
und es haben Einschnitte erfolgen müssen. Dafür gibt es eine Reihe von Beispielen. Belgien etwa hat Leistungskürzungen in der Krankenversicherung und in der Arbeitslosenversicherung sowie Einschränkungen bei den Pensionen beschlossen. Andere Länder haben ähnliche Einschnitte vorgenommen. Verglichen damit ist das, was in dem jetzigen Sparpaket vorliegt, geradezu glimpflich.
— Ja, Sie haben natürlich Ihren Alibi-Spengler jetzt schnell ins Plenum gerufen. Auch Sie müssen mit den wenigen Pfunden protzen, die Sie haben.Meine Damen und Herren, bevor es zu spät ist, müssen auch wir den Umbau im Sozialsystem starten. Das ist kein sozialer Raub, sondern nichts anderes als ein Zurückführen der Leistungen der Solidargemeinschaft. Ich meine hier sowohl die Sozialversicherungsgemeinschaften wie die Gemeinschaft der Steuerbürger. Wir müssen die Belastungen zurückführen auf das, was sie zu leisten imstande und zu leisten auch willens sind.Das vorliegende Sparpaket ist Ausdruck dessen, daß die Trennlinie neu gezogen werden muß zwischen dem, was die Solidargemeinschaften zu leisten imstande sind, und dem, was der einzelne künftig aus eigener Kraft zu tragen imstande ist.
Ein überzogener Sozialstaat führt zur Ausbeutung der Solidargemeinschaften.
Diese Ausbeutung, meine Damen und Herren, beantworten immer mehr leistungswillige Bürger mit verschiedenen Formen, sich der Steuer- und Abgabenpflicht zu entziehen. Beim Ziehen dieser neuen Trennlinie, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind wir erst am Anfang. In den kommenden Jahren wird das Ziehen dieser Trennlinie eine wichtige Aufgabe innovativer, zukunftsträchtiger und verantwortbarer Sozialpolitik werden.
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14398 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1993
Dr. Peter RamsauerIch danke Ihnen.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Wolfgang Weng.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Daß die Opposition uns die Last der Verantwortung bei einem so schwierigen Geschäft wie nachhaltigen Einsparungen im Bundeshaushalt nicht abnimmt, ist naheliegend. Es ist auch nicht ihre Aufgabe. Verständlich ist auch, daß sie unsere Bemühungen kritisch begleitet.
Was aber von der Opposition verlangt werden müßte, ist Seriosität, und die findet nicht statt. Wer ständig öffentliche Sparsamkeit fordert, aber an jeder konkreten Stelle über Einsparungen lamentiert, ist nicht glaubwürdig.
Es ist schon zum Erbrechen, z. B. immer wieder die wohlfeile Forderung nach Subventionsabbau zu hören, in jedem konkreten Fall aber die Oppositionskollegen an der Seite der Subventionsnehmer kämpfen zu sehen.
Die Koalition hat entschieden, ein konsequentes Sparpaket in den Fraktionen zu beraten und mit Blick auf die nationalen haushaltsmäßigen Voraussetzungen vor der Kabinettsberatung zum Etat des kommenden Jahres auf den Weg zu bringen.
Im Zuge der deutschen Einigung ist die Steuer- und Abgabenlast der Bürger schon außerordentlich erdrückend. Gerade im Bereich niedriger Einkommen wird bei Berufstätigen oft eine Grenze überschritten, eigentlich unterschritten: Netto verbleibt häufig weniger als bei der Inanspruchnahme sogenannter Transferleistungen,
etwa der Arbeitslosenunterstützung oder der Sozialhilfe. Hierzu muß zusätzlich bemerkt werden, daß in nicht seltenen Fällen die Empfänger solcher Leistungen der Solidargemeinschaft noch nebenher hinzuverdienen, oft sogar mit Schwarzarbeit.
Der Teil der Steuer- und Abgabenbelastung der Bürger gehört ja mit in dieses Paket. Ich kann nicht einseitig nur die Sozialseite, die Transfers sehen, ich muß auch sehen: Wie sind die Bürger in Arbeit in diesem Land inzwischen belastet? Überall höre ich, daß diese Belastung an einer Obergrenze angekommen sei.
Das sagen Sie doch auch selber in Versammlungen. Aber dann findet hier eine Debatte über Ausgabenersparnis statt, und dann sind Sie auf der anderen Seite. Sie bringen die Dinge nicht zusammen. Es ist wirklich so, daß Sie der Öffentlichkeit Unwahrheiten erzählen.
Meine Damen und Herren, in der freien Wirtschaft bestimmt ja nicht der Staat, sondern bestimmen die Tarifparteien die Einkünfte der Bürger. Der Staat muß sich um gerechte und angemessene Besteuerung bemühen. Das tut er, z. B. mit einer progressiven Steuertabelle bei der Lohn- und Einkommensteuer. Diejenigen Bürger, die keine oder nicht genügend Einkünfte erzielen können, werden sozial aufgefangen. Sie sind sozial abgesichert. Sie werden vor dem Absturz in die Armut bewahrt.
Daß es auf Grund der geschilderten Struktur notwendig wird, mit Blick auf die Gesamtentwicklung auch in diesem Bereich Leistungen zu kürzen,
ist besonders bitter und schmerzhaft. Aber es muß auch hier der Hinweis erlaubt sein, daß im gleichen Zeitraum von etwa zehn Jahren die Mittel aus Transferleistungen um 70 % gestiegen sind, während sich die Einkommen aus Berufstätigkeit nur um rund 40 % erhöht haben.
Der Staat kann — und da sind wir immer schnell wieder einig — auf Dauer nicht mehr verteilen, als er einnimmt. Er hat keine Garantie für ständig steigende Einnahmen.
Auch in der Politik darf man nicht Dinge miteinander vergleichen, die nicht vergleichbar sind. Im Verhältnis zu allen anderen einigermaßen vergleichbaren Staaten, auch in Europa, steht die Bundesrepublik auch nach den geplanten und angesprochenen Einschränkungen immer noch mit an der Spitze der Leistungen. In einer ganzen Reihe anderer Länder sind unter dem Eindruck wirtschaftlicher Entwicklungen wesentlich massivere Einschränkungen und Einschnitte bei Transferleistungen vorgenommen worden, als es bei uns geplant ist. Vom „Modell Schweden " hört man die Sozialdemokraten inzwischen nicht mehr reden, weil man dort sehr viel massiver an solche Leistungen herangegangen ist.
Ich halte es deshalb nicht für redlich, wenn nun sogenannte Empfehlungen des Europäischen Rates zur Grundlage von Oppositionskritik gemacht werden, die auf die differenzierte Situation der Bürger in den verschiedenen europäischen Ländern überhaupt nicht eingehen und auch nicht eingehen können. Es ist der bekannte Versuch der SPD, mit einseitiger Darstellung die Bürger zu verdummen. Der mündige Bürger in diesem Land mit guter Übersicht über das Ganze und differenzierter Betrachtung durchschaut diesen Versuch.
Vielen Dank.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Konrad Gilges.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1993 14399
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will meinen Beitrag sehr leidenschaftslos vortragen, soweit mir dies in Anbetracht dessen, was zur Zeit in dieser Republik geschieht, möglich ist.Ich will mit dem beginnen, was der Herr Ramsauer — wie ich glaube, sehr falsch — dargestellt hat. Er hat gesagt, wir würden übertreiben. Wenn sich der Herr Ramsauer mal die Mühe gemacht und heute morgen in die regierungsfreundliche „Kölnische Rundschau" geschaut und dort den Kommentar gelesen hätte, dann hätte er dort lesen können: Zynismus — Unausgewogenheit — Von 20 Milliarden holt Waigel fast dreiviertel aus dem Bereich des Arbeitsmarktes — Gerechtigkeitsdebatte wird in der Koalition nicht geführt — Sozialabgabenquote — Herr Weng, vielleicht machen Sie sich mal die Mühe, die Zahlen objektiv zu betrachten — wird von 38,2 % auf 43 % steigen.Das heißt, selbst Ihre Freunde, die Ihnen wohlgesonnenen Zeitungen, beginnen, Sie zu beschimpfen. Denn anders kann ich das nicht bezeichnen.
Sie sagen, wir übertreiben. Doch in Wahrheit haben Sie selbst bei Ihrer eigenen Klientel die Glaubwürdigkeit verloren.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund, die Kollegin Ursula Engelen-Kefer hat eindeutig gesagt: Sie haben Maßnahmen ergriffen, um Einsparungen vorzunehmen, wie wir sie nur aus der Zeit der Weltwirtschaftskrise kennen. — Das war in den 30er Jahren eine schlimme und für uns verheerende Krise, mit allen politischen Konsequenzen, die sich daraus ergaben. Aber dieses Argument zeigt, daß wir mittlerweile in einer solchen Krise sind und daß Sie, die Bundesregierung und diese Mehrheitskoalition, uns in diese Krise hineingeführt haben.
Nicht irgendwelche bösen Mächte, sondern Sie treiben seit zehn Jahren eine falsche Wirtschaftspolitik. Deshalb haben allein Sie die Verantwortung für die große Wirtschaftskrise, in der wie heute stecken.Es ist auch sehr fragwürdig, inwieweit — das hat Frau Engelen-Kefer angedeutet — Ihre Kürzungen im Sozialbereich verfassungsrechtlich zulässig sind. Wir werden das ja sehen.
Herr Weng, was uns so bitter stimmt, ist doch folgende Tatsache: Das gesamte Sparpaket, das Sie vorlegen, geht gegen die kleinen Leute: gegen die wenig verdienenden Arbeitnehmer, gegen die Arbeitslosen, Sozialhilfeempfänger usw.; das sagt auch die CDA. Aber die Reichen dieses Landes, die Gutverdienenden dieses Landes werden verschont.Keine müde Mark nehmen Sie mir zum Beispiel ab. Das ist eine Tatsache.
— Auch Ihnen nimmt keiner etwas ab, Herr Kollege. — Das heißt, es geht gegen die, die auf der sozialen Leiter unserer Gesellschaft unten stehen. Da hauen Sie drauf, da holen Sie raus: ohne Rücksicht, ohne Moral, ohne Skrupel. Und das ist es, was uns bitter stimmt.
Ich will Ihnen das mal an dem Kölner Arbeitsmarkt deutlich machen, weil ich dafür bin, daß man das nicht immer in so globalen Zahlen sagt. Wir haben zur Zeit in Köln 48 000 Arbeitslose; das sind rund gerechnet 12 %. Ich habe das hier schon mal gesagt. Zum Ende des Jahres werden wir auf dem Kölner Arbeitsmarkt 60 000 Arbeitslose haben, annähernd 14 %, mit all dem, was das bedeutet.Jetzt wäre es ja logisch, eine antizyklische Arbeitsmarktpolitik zu fahren. Das heißt, daß man die Instrumente, die man nach dem AFG hat, nicht abbaut, sondern stärkt. Aber das Ergebnis ist: Die Zahl der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wird von 2 500 im vergangenen Jahr auf 900 in diesem Jahr reduziert. Das heißt, es bleibt ein Drittel der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Kölner Arbeitsmarkt übrig. Sie machen also genau das Gegenteil von antizyklischer Arbeitsmarktpolitik.Bei den F- und U-Maßnahmen gibt es dieselbe Entwicklung. Im vergangenen Jahr hatten wir über 6 000 Maßnahmen in Fortbildung und Umschulung. Zum Ende dieses Jahres werden wir unter 3 000 haben. Das heißt, genau das, was jetzt auf dem Arbeitsmarkt notwendig wäre, nämlich die Menschen zu qualifizieren, ihnen wieder die Chance zu geben, in den Arbeitsmarkt einzusteigen, verbauen Sie mit Ihren Maßnahmen.
— Herr Kauder, daran geht kein Weg vorbei.Das provoziert die Gewerkschaften; Sie wissen das. Dem Bruno Köbele, dem Vorsitzenden der Industriegewerkschaft Bau-Steine-Erden, haben Sie ja einen besonders bösen Streich gespielt, indem Sie das Schlechtwettergeld kürzen und dann abschaffen wollen. Den Nachfolgern des damaligen Vorsitzenden Georg Leber — ich bin gleich fertig —, der im Gegensatz zu anderen Gewerkschaften immer den Konsens mit Regierungen angestrebt hat
— ja, „vernünftiger Mann" sagen Sie richtigerweise —, wirft diese Bundesregierung den Fehdehandschuh hin. Es ist schon erstaunlich, daß Sie den Mut dazu haben.
Bruno Köbele hat einen heißen Herbst angekündigt, bis hin zum Streik. Was ein Streik, von dieser Regie-
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14400 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Juni 1993
Konrad Gilgesrung provoziert, für unser Land ökonomisch bedeutet mit allen Konsequenzen und Folgen, das würde ich mir,—
Herr Abgeordneter Gilges, ich habe Ihre Ankündigung ernst genommen. Ich wäre dankbar, wenn auch Sie das täten.
— wäre ich Sozialpolitiker bei der CDU/CSU, noch einmal reiflich überlegen.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Heinz Schemken.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In dieser Stunde zu lamentieren hilft uns keinen Milimeter weiter. Wir müssen handeln.
Es hilft auch nicht der Streik, sondern es hilft nur das Arbeiten.Daß uns der Wind ins Gesicht bläst, das bestreitet doch niemand. Aber das ist wie beim Fußballspiel: Beide Halbzeiten mit Rückenwind spielen geht auch nicht. Und das möchten Sie gerne. Sie möchten sich gerne der Notwendigkeiten entziehen, die sich daraus ergeben, daß wir uns in einer völlig anderen Situation befinden. Das ist in Europa erkannt worden.Es ist doch eindeutig klar, daß wir Investitionen brauchen, urn Arbeitsplätze zu schaffen. Der Weg, den man nun gehen muß, ist doch jahrelang so nicht gesehen worden.
Wir haben doch, was die Leistungen bei Fortbildung und Umschulung, was AB-Maßnahmen angeht, zehn Jahre Zuwachs gehabt. Die Sozialdemokraten würden sich die Finger danach lecken, eine solche Periode einmal zu erleben.
— Entschuldigen Sie einmal, Sie hätten doch helfen können. Sie sind doch im Bundesrat mit dabei. Sie haben doch das Anspruchsdenken über die Verteilung der öffentlichen Finanzen, auch über den Finanzausgleich betrieben.
Auch beim Solidarpakt, bei den letzten Verhandlungen über das Föderale Konsolidierungsprogramm istdas Ergebnis zuungunsten des Bundes ausgegangen.Die Länder und die Kommunen waren die Gewinner. Das stimmt; das können Sie nachrechnen.
Wir brauchen endlich die Investitionen, die erforderlich sind — ich bringe Ihnen gleich ein klassisches Beispiel, das Sie vielleicht auch mit Ihren Freunden einmal ausdiskutieren können —, wir brauchen die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit — ich sage Ihnen: auch durch geringeren Lohn und geringere Lohnnebenkosten — und eine aktive Arbeitsmarktpolitik zum Kampf gegen die Arbeitslosigkeit.Jetzt sage ich Ihnen folgendes: In meiner Heimatstadt geht ein Unternehmen mit 600 Beschäftigten durch ein Preisdiktat des Herrn Lopez, Vorstandsmitglied bei VW, in Konkurs. Dieser Mann wird im Aufsichtsrat vom Ministerpräsidenten des Landes Niedersachsen, Herrn Schröder, und von Herrn Steinkühler unterstützt.
Ich darf Ihnen sagen: Die gesamte Automobilzulieferindustrie leidet unter dieser Praxis. Macht der das eigentlich unter Zustimmung dieser beiden prominenten Herren, macht er das aus lauter Spaß?
Wir machen das doch auch nicht aus lauter Spaß.
Wenn das 30 % Preisdiktat an Zulieferer weitergegeben wird, dann ist für den Arbeitnehmer in der Zulieferindustrie, in der mittelständischen Wirtschaft der Arbeitsplatz in Gefahr. Das beginnt dort oben, wo Sie sogar Einfluß nehmen könnten.
Es hätte doch sein können, daß gerade der VW-Konzern, der ja nicht in die Gefahr kommt, nicht mitbestimmt zu werden — ich sage das ausdrücklich —, diesen Zusammenhang erkennt.Sie verlangen in dieser Zeit mehr Abgaben für Arbeitslose, mehr Steuern für Subventionen.
— Das verlangen Sie. Wie wollen Sie denn sonst Ihr Konzept verwirklichen? Sie wollen mehr Steuern.
— Entschuldigen Sie vielmals, Sie wollen doch Subventionen! Sie wollen subventionieren. Jede Schwarzarbeit ist eine Subvention. Wissen Sie, warum das eine Subvention ist?
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Heinz SchemkenWeil die Schwarzarbeit dadurch gekennzeichnet ist, daß derjenige, der in Schwarzarbeit geht, eben nicht seinen Pflichten nachkommt und keine Beiträge und Steuern zahlt. Das ist das Entscheidende.
Sie drehen den Fall um und sagen: Wer in der Sozialhilfe ist, muß noch Schwarzarbeit übernehmen.
Wäre die Schwarzarbeit die Arbeit, brauchte er sehr wahrscheinlich nicht in der Sozialhilfe zu sein. Das ist das Problem.
Also, einer nach dem anderen! Es hat keinen Zweck, Herr Abgeordneter Gilges, wenn Sie mehr reden als der Redner.
Selbstverständlich bedauern wir diese Situation.
Selbstverständlich fällt es uns nicht leicht, im Sozialbereich, wo, wenn überhaupt, Entlastungen möglich sind, einschneidende Maßnahmen durchzuführen.
Wir sind genauso der Meinung, daß es an der Zeit ist, auch den Steuerhinterziehern zu Leibe zu rükken.
Aber nur mit Luftnummern, wie in Ihrem Papier
— Herr Schreiner, einen Moment; vielleicht darf ich das noch sagen, Herr Präsident —, ist es nicht getan. Ich bitte Sie doch wirklich, daß wir aus dieser Stunde nach Hause gehen und unsere Länderfinanzminister
auf diesen Weg bringen, damit draußen derjenige, der jetzt eine einschneidende Maßnahme erfahren muß, auch weiß, daß der Gerechtigkeitsmaßstab im Lande gilt und daß wir im gleichen Maße auch gegen Steuerhinterzieher vorgehen, damit ein ausgewogenes Konzept zur Gesundung der Staatsfinanzen zustande kommt.
Schönen Dank.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Gerd Andres das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer der Debatte folgt, der muß den Eindruck haben, daß hier unterschiedliche politische Kräfte über ganz unterschiedliche Gesellschaften reden.Zwei große Boulevardzeitungen erschienen heute morgen mit folgenden Schlagzeilen. Die eine druckte auf der Titelseite: „So schröpft Bonn die kleinen Leute". Die andere schreibt: „Kohl eisern — Arm und Reich sind dran - Sparen bis aufs Blut".Dazu müssen aus meiner Sicht zwei Anmerkungen gemacht werden: Nicht Bonn schröpft die kleinen Leute, sondern diese Regierungskoalition.
Nicht Arm und Reich werden bis aufs Blut sparen müssen, sondern diese Zumutung wird ausschließlich denjenigen aufgebürdet, die sowieso schon zu den Ausgegrenzten und Benachteiligten dieser Gesellschaft gehören.
Erstens. Ihr bösartiges Konzept mit dem bombastischen Titel „ Wachstum steuern, Standort Deutschland sichern, Staatsfinanzen konsolidieren", ist in Wahrheit die sozialpolitische Bankrotterklärung der Bundesregierung und der sie tragenden Parteien.
Zweitens. Die Bundesregierung begeht offenen Wortbruch. Im Rahmen der Solidarpaktverhandlungen wurde unter Ziffer 7 verabredet — ich zitiere —: „Soziale Regelleistungen werden nicht gekürzt." Ich stelle fest: Sie kürzen mit dieser Konzeption soziale Regelleistungen in einem ungeahnten Ausmaß. Dies ist offener Wortbruch.
Drittens. Wir befinden uns in der Tat — das nicht zu sagen würde bedeuten, sich etwas vorzumachen — in einer schweren Wirtschafts- und Finanzkrise. Die Finanzkrise ist im wesentlichen durch die Art und Weise, wie diese Koalition und diese Bundesregierung die deutsche Einheit vollzogen haben, verursacht.
Die Wirtschaftskrise hat zwei Aspekte: Wir haben es mit einer Konjunkturkrise zu tun, und wir haben es mit einer Strukturkrise zu tun.
Es ist die Frage zu stellen, was diese Bundesregierung — Herr Weng, da sind Sie gefragt, und Herr Kolb, da sind Sie gefragt — in zehn Jahren Wirtschaftsaufschwung denn getan hat, um die Modernisierung und den Strukturwandel in der deutschen Wirtschaft zu fördern und zu begleiten.
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Die hier schon zitierte Ziffer 8 des Dokuments des Kopenhagener Gipfels sagt in dem zweiten Spiegelstrich:Der technische und wirtschaftliche Wandel darf nicht aufgehalten werden, sondern muß vielmehr rechtzeitig vorbereitet werden.Ich stelle hier fest: In dieser Frage hat diese Bundesregierung massiv versagt.
Von der Industriepolitik über Innovationen und über Bildungspolitik bis hin zur Forschungspolitik könnte ich Ihnen jetzt viele Bereiche aufzählen, wo diese Regierung mit ihrer Wirtschaftspolitik nachhaltig versagt hat.
— Ich komme gleich darauf.Viertens. Die Bundesregierung hat einen Hauptschuldigen ausgemacht — der zieht sich durch alle Debatten; morgen bei der Pflegedebatte werden wir ihn wieder haben —: Das sind die Lohnnebenkosten. Alle Ökonomen sagen Ihnen,
daß wir zwar Probleme mit den Lohnnebenkosten haben — ich wäre der Verkehrte, wenn ich nicht bereit wäre, darüber zu diskutieren; aber dann müssen wir handfest diskutieren —, aber zu glauben, daß man mit Operationen an den Lohnnebenkosten insbesondere die Strukturprobleme der deutschen Wirtschaft beheben könnte, ist ein riesengroßer Irrtum.
Ich will Sie daran erinnern: Wenn man die Lohnnebenkosten — ich nehme einmal den Beitrag zur Bundesanstalt für Arbeit und andere Dinge — betrachtet, dann ist festzustellen, daß zwischen 4 und 6 % der Lohnnebenkosten durch Sozialbeiträge verursacht sind, die ausschließlich einheitsbedingt sind und die Sie hochgesetzt haben, um über diesen Weg die deutsche Einheit und ihre sozialen Auswirkungen mitzufinanzieren.
Fünftens. Der Großteil aller Maßnahmen, die Sie beschließen, ist sozial zutiefst ungerecht. Frau Babel sagt: Wir tun so, als stünde die absolute Not vor der Tür. Frau Babel, ich empfehle Ihnen, einmal mit Sozialhilfeempfängern zu reden. Ich empfehle Ihnen, einmal mit Langzeitarbeitslosen zu reden. Ich empfehle Ihnen, einmal mit denen, die arbeitslos sind — und das seit vielen Jahren —, zu reden. Bei denen steht in der Tat die nackte Not vor der Tür. Das, was Sie machen, wird das Ganze noch dramatisch verschärfen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer sich bei dem Paket anschaut, was Sie im Bereich der Steuern tun, der wird feststellen, daß lediglich Minibeträge eingespart werden. Mehr als die Häfte Ihrer Einsparungen geschieht in den Bereichen Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Kindergeld, Kindererziehungsgeld, Schlechtwettergeld und in anderen Bereichen. Hier ist eine dramatische soziale Schieflage festzustellen.Der neue CDA-Vorsitzende — den möchte ich wörtlich zitieren —
sagt:Bei einem Gesamtbetrag von 21 Milliarden DM werden fast 16 Milliarden DM im Bereich des Arbeitsmarktes und der Sozialhilfe gespart. Das ist eine massive soziale Schieflage. Das Image der Union als Volkspartei wird beschädigt. Es darf nicht sein, daß das Sparen zur Spezialdisziplin für die kleinen Leute wird, während die einkommensstarken Bevölkerungsgruppen weitgehend außen vor bleiben.
Ich habe dem überhaupt nichts hinzuzufügen.Ich habe einen letzten Punkt: Wir sind entschieden für Subventionsabbau. Wir haben in den SolidarpaktVerhandlungen ein Paket mit insgesamt 21 Positionen vorgeschlagen. Damit könnten Sie rund 30 Milliarden DM einsparen.
Aber Sie sitzen in folgender Sackgasse —
Herr Abgeordneter, ich muß Sie darauf aufmerksam machen — —
— ich bin beim letzten Satz —: Sie haben alles getan, um Einnahmeverbesserungen in der jetzigen Situation zu verhindern. Sie tun alles, um Subventionsabbau, der sozial gerecht wäre, zu verhindern. Die einzige Philosophie, die Sie haben, ist eine Rasenmäherpolitik, die die soziale Schieflage in dieser Gesellschaft dramatisch fortsetzt. Dabei werden wir Sie nachhaltig bekämpfen.
Das Wort hat der Abgeordnete Karl-Josef Laumann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Andres, ich glaube, ein paar Dinge Ihrer Rede muß man doch etwas zurechtrücken. Wenn Sie die Frage stellen, was diese Regierung in den letzten zehn Jahren getan hat,
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Karl-Josef Laumanndann sollten Sie wissen: Als wir die Regierung übernommen haben, belief sich die Neuverschuldung des Bundes auf fast 60 Milliarden DM.
Der letzte Haushalt vor der Wiedervereinigung umfaßte eine Neuverschuldung von unter 20 Milliarden DM.
Hätten wir diese Sparpolitik nicht gemacht, hätten wir die Wiedervereinigung erst recht nicht bezahlen können. Das ist doch die Wahrheit.
Wenn Sie sagen, es seien Fehler in der Bildungspolitik und in der Strukturpolitik gemacht worden, Herr Andres, dann frage ich Sie einmal: Wer ist denn in diesem föderalen Staatsaufbau für die Bildungspolitik zuständig? Wir haben hier in Bonn ganz wenig Kompetenz; das ist Länderangelegenheit. Ob die qualifizierten Leute, die wir für unsere Wirtschaft brauchen, aus nordrhein-westfälischen Gesamtschulen kommen, ist doch sehr fraglich. Sie haben da teilweise eine Saat gelegt, wo wir uns noch fragen werden, was wir später mit diesen Leuten machen sollen.
Die Wahrheit ist — das müssen wir hier doch einmal klar sagen; auch die Bevölkerung in unserem Land weiß das —, daß unser Land vor einer großen Herausforderung steht. Es geht doch darum, ob wir die Wiedervereinigung, die soziale und wirtschaftliche Einheit Deutschlands, mit einer verantwortbaren Finanzpolitik erreichen können.Tatsache ist doch, daß wir die Haushaltsdefizite, die wir durch die Steuerausfälle haben, weil die Konjunktur nicht mehr läuft, nicht einfach auf Bundesebene mit einer Erhöhung der Neuverschuldung ausgleichen können. Wir haben schon fast 70 Milliarden DM Neuverschuldung. Wir können da doch nicht mehr draufsatteln.Die Grenze der Belastbarkeit der Bürger bei den Abgaben ist doch ebenfalls erreicht. Auch da ist nicht mehr viel Spielraum.
Von Ihnen höre ich immer Abgaben, Abgaben, Abgaben. Ein anderes Konzept haben Sie nicht. Und Abgaben sind Gift.
— Wir haben uns in unserem Staat doch nun einmal darauf geeinigt, daß wir über eine Progression bei der Steuer die Leistungsfähigen stärker heranziehen als diejenigen, die nicht so leistungsfähig sind. Ich kann doch nicht in jedem Fall die Einkommensdiskussion wieder anfangen.Eine Frage, die wir uns stellen müssen — sie ist ernst —: Es geht in diesem Land auch darum, daß wireinen politischen Beitrag dazu leisten, daß menschliche Arbeit bezahlbar bleibt.
Schauen Sie sich doch einmal eine Handwerkerrechnung an.
Der normale Facharbeiter geht doch heute zwischen vier und fünf Stunden arbeiten, um netto so viel zu verdienen, daß er einen Handwerker für eine Stunde Arbeit bezahlen kann. Das ist doch die Wahrheit.
Frau Abgeordnete Kolbe, der Abgeordnete Laumann ist nicht in der Lage, gleichzeitig zu reden und zuzuhören.
Das ist nicht so schwierig. Man muß auch nicht alles hören, was Frau Kolbe sagt.Es geht auch um die Frage, was wir als Politiker dazutun können, daß menschliche Arbeit bezahlbar bleibt. Das Problem ist doch nicht die Höhe der Nettolöhne, das Problem ist die Höhe der Bruttolöhne. Deswegen können wir nicht draufsatteln, und deswegen müssen wir sparen.Wenn Sie immer von Langzeitarbeitslosen reden, müssen wir uns dabei über einen Punkt unterhalten: In meinem Wahlkreis gibt es zwar auch Langzeitarbeitslose, aber auch ganze Branchen wie das Lebensmittelhandwerk und die Gastronomie, die überhaupt keine Leute bekommen. Das kann ich nicht verstehen.
Wir haben eine Verordnung dahin gehend geändert, daß, bevor Saisonarbeiter aus dem osteuropäischen Raum zu uns kommen können, die Arbeitsverwaltungen in erster Linie Deutsche vermitteln müssen. Wir hatten das im A-und-S-Bereich gerade gemacht — wir waren mit zuständig —, da bekam ich Briefe von Landwirten, die Spargel- oder Erdbeerfelder haben. Sie haben mir geschrieben: Wenn ihr die Verordnung nicht bald zurücknehmt, dann werden dieses Jahr meine Erdbeeren auf dem Acker verfaulen. — Auch über diese Frage müssen wir einmal reden.Ich meine, daß ein Abstand zwischen Sozialhilfe und dem, was in unteren Lohngruppen gezahlt wird, bleiben muß, sonst bekommen wir die Menschen nicht dort in Arbeit, wo wir sie brauchen.
Denn es gibt keine Arbeit, die schändlich ist. Man muß auch einmal bereit sein, etwas zu tun, was vielleicht etwas unterhalb der Qualifikation ist, die man hat. Wenn ich sehe, daß 9 % der Beschäftigten in ABM Leute mit Hochschulstudium sind, dann frage ich
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Karl-Josef Laumannmich, was sie studiert haben. Sie hätten sich vorher einmal überlegen sollen, ob sie mit ihrem Studium Geld verdienen können.
Als letzten Redner in der Aktuellen Stunde erteile ich dem Abgeordneten Erich Fritz das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, die Art und Weise, wie die SPD heute diese Aktuelle Stunde eröffnet hat, ist genau das, was niemandem mehr nützt, noch nicht einmal Ihnen als Partei, weil Ihnen das nämlich niemand im Land mehr glaubt und weil die Menschen viel mehr Gespür dafür haben, in welcher Situation wir wirklich sind.
— Herr Schreier, mein Gott!
— Mischen Sie sich nicht ein! Bei Ihnen gewinnt beim Wettbewerb zwischen Kopf und Kehlkopf immer der Kehlkopf. Wir werden sehen, daß die Menschen akzeptieren, was jetzt nötig ist.Wenn wir uns in den sozialdemokratisch regierten Kommunen und Bundesländern umschauen, die alle vor entsprechenden Haushaltsproblemen stehen und die alle das leisten müssen, was auch wir als Bund leisten müssen, dann stellen wir fest: Auch diese haben die Erkenntnis, daß man um Eingriffe im Leistungsbereich nicht herumkommt.
Es geht doch um nicht weniger als eine Begrenzung der Staatsausgaben.
Es geht urn die Wiedergewinnung der Handlungsfähigkeit in der Wirtschaftspolitik und in der Finanzpolitik. Es geht darum, die Konjunktur wieder zu beleben und damit Arbeitsplätze zu schaffen, und zwar Arbeitsplätze auf Dauer und nicht solche, bei denen man das Gefühl haben muß, sie würden von anderen mitfinanziert. Es geht um die Geldwertstabilität. Wir wissen alle miteinander, daß sie von wesentlich größerer sozialer Bedeutung ist als vieles, was Sie sozial nennen. Die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft und eine Perspektive, daß in absehbarer Zeit die Abgaben- und Steuerlast erneut gesenkt werden kann, sind wesentlich wichtiger als viele andere Dinge.Wenn Sie sich bei dieser Aktuellen Stunde auf den Europäischen Rat beziehen, dann betrachten Sie doch nicht nur die Presseerklärung, sondern lesen Sie das Ganze. Dann werden Sie feststellen: Auch darin steht ganz klar, daß die Wiedergewinnung der Wettbewerbsfähigkeit der Schlüssel zur Schaffung neuer Arbeitsplätze ist und daß man deshalb alles tun muß, um in diesem Bereich weiterzukommen.
Bei der Mißbrauchsbekämpfung haben Sie anfangs genauso geschrieen und haben gesagt, das sei der falsche Weg. Jetzt sehen wir, daß sie Erfolg bringt und daß sie endlich dazu beiträgt, daß die Menschen, die die Last solidarisch über ihre Beitragszahlungen tragen, bereit sind, das auch zu akzeptieren, weil sie sehen, daß wir uns darum kümmern, daß das, was sie da leisten, nicht mißbraucht wird.Sie werden dahinterkommen, daß Sie mit der Haltung, die Sie jetzt einnehmen und die darin besteht, Tabus weiter aufzubauen und zu sagen, über bestimmte Dinge könne in unserer Gesellschaft nicht geredet werden, nicht durchkommen.
Ich zitiere die „Sächsische Zeitung" von Anfang Juni: „Auch SPD-Genossen reden über Sozialkürzungen. Kein Tabu mehr. " In der „Hannoverschen Allgemeine" hieß es: „Struck empfiehlt Kurswechsel. Die SPD muß zu Kürzungen im Sozialetat bereit sein."
In der „Süddeutschen Zeitung" stand: „Struck: Zum Sparen gehören auch Kürzungen. Partei zum Umdenken gegenüber Sozialleistungen aufgefordert." —„Stolpe: Kein Tabu."
Im „Handelsblatt" war zu lesen: „Stolpe und Struck fordern Einschnitte. SPD-Politiker aber uneinig über Sozialkürzungen." In der „Rheinischen Post" stand: „Stolpe und Struck für Sozialkürzungen."
Meine Damen und Herren, dann ist es natürlich so abgelaufen, wie man es bei der SPD gewohnt ist. Der Bundesvorstand hat gesagt: Ihr macht uns unsere Linie kaputt, wenn ihr die Wahrheit sagt und wenn ihr diese Ansprüche wirklich ernst nehmt.
Redet nicht mehr darüber.Seitdem habt ihr eine Masche, die vielleicht in Zeiten, in denen immer mehr zu verteilen war, partei-
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Erich G. Fritzpolitisch sinnvoll sein konnte, die aber heute unverantwortlich ist. Wer heute den Eindruck erweckt, man könne so weitermachen und wir kämen aus dieser Situation heraus, ohne im Leistungsbereich zu kürzen, der erzählt den Leuten Schmus, den sie nicht mehr glauben.Deshalb bitte ich Sie darum, diese Tabus aufzugeben und in dem Verfahren, das jetzt ansteht — Sie können sich ja daran beteiligen —, Ihre Vorschläge auf den Tisch zu legen. Dann können wir darüber diskutieren. Sie werden feststellen, auch Sie werden noch zur Einsicht kommen.
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Peter Glotz, Dr. Uwe Jens, Lieselott Blunck , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Konzentrationserscheinungen bei elektronischen Medien
— Drucksachen 12/3306, 12/4622 —
Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von einer Stunde vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall.
Ich eröffne die Aussprache. Ich erteile zunächst dem Abgeordneten Dr. Peter Glotz das Wort. Bitte schön.
Wir wollen einen Moment warten, bis wir die nötige Ruhe hergestellt haben, Herr Dr. Glotz. Ich möchte diejenigen, die an der Debatte nicht teilzunehmen wünschen, bitten, den Raum schnell zu verlassen.
Herr Dr. Glotz, ich glaube, wir können anfangen. Bitte schön.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage macht sehr klar, daß die große Konzentration auf dem Medienmarkt besorgniserregend ist. Nach Aussage westlicher Experten gibt es derzeit kein westliches Land, in dem eine derartige Konzentration zugelassen worden ist.Die Regierungsparteien haben seinerzeit die Privatisierung der elektronischen Medien mit dem Argument betrieben, sie bringe mehr Vielfalt.
In Wirklichkeit aber stehen wir vor der Gefahr, zwei große Senderfamilien zu bekommen: eine um Kirch und Springer und eine um Bertelsmann und CLT. Gleichzeitig verlieren die öffentlich-rechtlichen Anstalten, teils aus eigener Schuld, teils auch auf Grund des Konkurrenzdrucks, an ökonomischer Kraft. Essollte für niemanden ein Zweifel bestehen: Es muß gehandelt werden, meine Damen und Herren.Ich will mich nicht in die Vergangenheit bewegen und darauf hinweisen, daß die Sozialdemokraten vor einem Jahrzehnt, als die entsprechenden Entscheidungen fielen, vor den beschriebenen Entwicklungen gewarnt haben. Ich habe mich selber an der Öffnung für Private beteiligt, weil wir sehen mußten, daß eine technisch-ökonomische Entwicklung nicht aus einem Land heraus gestoppt werden konnte.Ich kann mir aber die Bemerkung nicht verkneifen, daß mir der eine oder andere Medienpolitiker, insbesondere in der Union, gelegentlich als Zauberlehrling vorkommt. Wenn ich heute die lauten Klagen christlicher Politiker über Gewalt im Fernsehen höre, dann kann ich nur sagen: Sie hätten sich damals schon an der Kritik Ihrer christlichen Kollegen Werner Remmers und Hans Maier orientieren sollen, anstatt nur die Wirtschaftsliberalen handeln zu lassen. Das wäre besser gewesen.
Heute müssen wir feststellen, daß es ernste Gefahren gibt. Wir haben eine Reihe schwer durchsichtiger Konglomerate, die Medienmacht ausüben. Wir haben eine enge Verflechtung zwischen Rundfunk und Presse. Wir haben etwas, was in vielen anderen westlichen Ländern ganz unmöglich wäre: Man kann gleichzeitig eine beherrschende Stellung als Filmhändler haben, an einer Reihe von Fernsehanstalten beteiligt sein und noch starken Einfluß auf den größten deutschen Pressekonzern haben. Ich rede vom Fall Kirch, und ich sage Ihnen: Ich betrachte es als unhaltbar, daß einer auf Dauer auf allen wichtigen Bühnen die Hauptrolle spielt; das geht nicht.Nun gebe ich zu: Wir haben in unserem Land ein schwieriges Kompetenzgemisch. Die Bundesregierung stellt es absolut korrekt dar: Die Zuständigkeit für den Rundfunk liegt bei den Ländern. Dann fügt die Bundesregierung mit Recht hinzu:Der Bund kann dort tätig werden, wo auf der Grundlage seiner Gesetzgebungskompetenz für das Recht der Wirtschaft ... und für die Verhütung des Mißbrauchs wirtschaftlicher Machtstellung ... Maßnahmen gegen wirtschaftliche Konzentrationsproz esse erforderlich werden.Wir fordern die Bundesregierung auf, ihre Gesetzgebungskompetenzen vielleicht nicht sofort zu nutzen, aber jedenfalls auch nicht schamhaft hinter dem Rücken zu verstecken. Denn der Tenor der Antwort der Bundesregierung ist schüchtern. Sie sagt nämlich immer, wenn es ernst wird: Die Länder sind zuständig, die Länder sollen etwas tun.
— Als einer, der lange auf der Seite der Länder tätig war, kann ich nur sagen: Ich liebe den Föderalismus der Bundesregierung. Aber ich füge hinzu: Er darf nicht dazu führen, daß existierende Kompetenzen des Bundes nicht wahrgenommen werden.
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Dr. Peter GlotzLügen wir uns doch nicht in die Tasche, meine Damen und Herren. Die Länder betreiben natürlich Standortkonkurrenz. Deswegen wäre es nicht ganz ausgeschlossen, daß in einem ganz bestimmten Fall die bayerische Staatskanzlei Leo Kirch schützt und die nordrhein-westfälische das Haus Bertelsmann. Gerade deshalb ist es gut, daß im Grundgesetz auch noch Bundeskompetenzen festgeschrieben sind.Ich sage: Ich habe Verständnis dafür, daß die Bundesregierung diese Kompetenzen nur vorsichtig und nicht vorzeitig benutzt. Aber ich beschwöre uns alle gemeinsam, nicht allzu sichtbar zu machen, daß der Bund auf diesem Feld ein Papiertiger bleiben will. Dann passiert bei den Landesmedienanstalten nämlich gar nichts. Dort muß aber etwas passieren.
Für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion sage ich jedenfalls: Die Länder müssen ihren Landesmedienanstalten die Instrumente in die Hand geben, um die Konzentration wirklich wirksam bekämpfen zu können. Ich rate dringend, daß das nicht erst in ferner Zukunft passiert, sondern möglichst rasch. Die technische Entwicklung geht so schnell, daß wir in absehbarer Zeit unter Umständen zig neue Spartenkanäle bekommen. Durch die digitale Kompression ist es möglich, auf den Satelliten sehr viel billiger sehr viel mehr Kanäle zur Verfügung zu stellen. Es wäre nicht wünschenswert, daß Amerikaner oder sonstige Ausländer dies über London oder über Luxemburg machen, um die deutsche Gesetzgebung völlig zu umgehen. Wenn Sie aber die Ausrede haben, daß die Bundesländer gar nicht genau wissen, wie eigentlich Spartenkanäle anzulegen sind, welche Mehrheitsbeteiligungen notwendig sind, wenn da also Unklarheit herrscht, wird genau das passieren. Wir sollten gemeinsam versuchen, das zu verhindern, meine Damen und Herren.Ich möchte auf drei Tatbestände hinweisen:Erstens sollten wir eine Transparenz der Eigentumsverhältnisse schaffen. Ich glaube, wir sind uns darüber einig, daß Medien etwas anderes sind als Käsehandlungen oder Kosmetikfirmen, wobei ich nichts gegen diese ehrenwerten Unternehmen sage. Die Ausrede, daß man mit dem eigenen Sohn eigentlich gar nichts zu tun habe, darf nicht ziehen. Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, daß etwaige Treuhand- und vergleichbare Rechtsverhältnisse im Interesse Dritter offengelegt werden müssen. Das kann man über die Länderschiene machen. Wenn die Länder das tun, ist es gut. Das könnte man auch über die Bundesschiene machen.Zweitens sollten wir das Thema „Cross-ownership" aufgreifen. Ich will hier nicht irgendwelche Revolutionen an die Wand malen und die Entflechtung aller möglichen großen Medienunternehmen verlangen. Aber wir müssen Vorsorge treffen, daß es unmöglich wird, daß einer mit seinen eigenen Zeitungen einen Kanal gewaltig fördert und alle anderen totschreibt. InAmerika sind Regelungen da ganz selbstverständlich. Auch wir müssen zu Regelungen kommen,
auch wenn wir unseren Kopf anstrengen müssen, wie diese aussehen, da man natürlich nicht einfach ein großes Haus zerhauen kann, ohne erheblichen wirtschaftlichen Schaden zu stiften.Drittens fordern wir die Bundesregierung auf, zu prüfen, inwieweit die Fusionskontrolle durch das Bundeskartellamt flankierend auch auf die privatrechtlichen elektronischen Medien Anwendung finden kann. Ich räume ein, wirtschaftliche Konkurrenz verbürgt nicht publizistische Konkurrenz, aber sie fördert sie, und es gibt gar keinen Grund, daß der Bund um Kompetenzen, die er seit Jahrzehnten hat, ängstlich herumschleicht. Denken Sie an die Filmförderung, wo wir ja auch die Wirtschaftskompetenz medienpolitisch nutzen, und dies in einer vernünftigen Abgleichung mit den Rechten der Länder.Lassen Sie mich am Schluß sagen: Die erhöhte Konkurrenz der Medien führt seit einem Jahrzehnt zu immer stärkerem Mißbrauch. Das liegt in dieser Konkurrenz selbst begründet. Häufig genug wird Gewalt attraktiv gemacht, weil man Einschaltquoten will, weil das da nützt oder weil man glaubt, daß das nützt. Häufig genug dringen die Medien ohne Rücksicht auf irgend jemanden und irgend etwas in die Privatsphäre von Menschen ein. Ich meine, auch Politiker sind Menschen,
sogar Politiker sind Menschen. Das können wir in diesem kleinen Kreis, ohne Schaden zu nehmen, deutlich sagen. Aber ich meine nicht nur Politiker. Ich meine erst recht Leute, die keine Pressestellen haben und die auf der ersten Seite von Straßenverkaufszeitungen oder in Fernsehmagazinen, im Reality-TV oder wo immer vermarktet werden und unter Umständen in ihrer ganzen Lebensumgebung nicht mehr existieren können.Dies alles sind Folgen dieses neuen, immer schärferen Konkurrenzprozesses, ob er sich jetzt zwischen „Report" und „Spiegel-TV", ob er sich zwischen „Focus" und „Spiegel" oder ob er sich zwischen „SAT 1" und „RTL plus" auf der einen Seite und den Öffentlich-Rechtlichen auf der anderen Seite vollzieht.Ich glaube, es liegt im Interesse aller Fraktionen dieses Hauses — es ist nicht ein SPD- oder ein CDU/CSU- oder ein F.D.P.-Interesse —, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, wo immer wir das noch können. Es geht um ein gemeinsames Interesse, das wir an einer funktionierenden kritischen Öffentlichkeit haben. Lassen Sie uns versuchen, darüber in einen vernünftigen Dialog zu kommen!Herzlichen Dank.
Ich erteile
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Vizepräsident Dieter-Julius Cronenbergnunmehr dem Abgeordneten Dr. Joseph-Theodor Blank das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige Debatte bietet Gelegenheit, über das Problem der zunehmenden Konzentration der elektronischen Medien in unserem Land hier im Bundestag einmal aus länderübergreifender Sicht zu diskutieren.Um es vorweg zu sagen: Die jüngste Diskussion insbesondere um die Lizenzerteilung an das Deutsche Sportfernsehen zeigt überdeutlich: Eine expandierende, international tätige multimediale Meinungsmacht kann nicht effektiv von einer Rundfunkaufsicht kontrolliert werden, die dem Souveränitätsverständnis des Postkutschenzeitalters verhaftet ist.Dieses Kernproblem unserer Aufsichtsstrukturen wird auch in der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD-Fraktion deutlich, die den Anlaß für die heutige Debatte gibt: Die entscheidende Kompetenz für den Rundfunk und damit auch für die Gewährleistung publizistischen Wettbewerbs unter den Medienunternehmen liegt bei den Ländern — Herr Kollege Glotz, Sie haben es schon gesagt — und nicht beim Bund. Die Bundeskompetenz zur Verhinderung des Mißbrauchs von Wirtschaftsmacht in Art. 74 Nr. 16 unseres Grundgesetzes läßt ein Medienkartellsonderrecht des Bundes nicht zu. Diese verfassungsrechtliche Vorgabe haben wir zur Kenntnis zu nehmen.Das kann, darf und soll aber nicht heißen, daß die Politik zur Untätigkeit verurteilt ist — im Gegenteil: Die grundlegende Bedeutung der Rundfunkfreiheit für einen demokratischen Staat beinhaltet auch den Regelungsauftrag, zur Sicherung der Meinungsviel-fait eine positive Ordnung zu schaffen, die sicherstellt, daß der Rundfunk einzelnen gesellschaftlichen Gruppen nicht ausgeliefert wird. Nur — und unter diesem Vorbehalt steht die heutige Debatte — obliegt dieser Regelungsauftrag primär den Landesgesetzgebern, die gerade auch durch die Institutionsgarantie des Art. 5 GG verpflichtet sind, gemeinsam eine effiziente Rundfunkaufsicht zu etablieren.Doch zunächst zum Tatbestand: Wir haben heute in Deutschland einige wenige große Multis im Medienbereich. Zu den TV-Oligopolisten zählen vor allem die Konzerne von Bertelsmann, Kirch, Springer und Holtzbrinck. So bestimmt Bertelsmann nicht nur bei „RTL" und „VOX", sondern auch bei „RTL 2" und „Premiere".Ich nehme jetzt ganz bewußt als Beispiel für eine — wie ich finde — bedenkliche Medienkonzentration den Kirch-Konzern gerade deshalb, weil meiner Partei nicht selten — wie ich finde, völlig zu Unrecht — vorgeworfen wird, wir seien auf diesem Auge blind.Die Kirch-Gruppe hält Anteile an insgesamt fünf TV-Stationen. Zur Senderfamilie zählen nicht nur „SAT 1"-43%—, „DSF" — 24,5 % — und „Premiere Pay-TV" — 25,9 % —, sondern zudem, wenn auch formell — Herr Kollege Glotz, Sie haben es angesprochen — dem Junior Thomas zugeordnet, „Pro 7" mit 48 % und der „Kabelkanal" mit 45 %.Neben diese starke horizontale Konzentration tritt eine erhebliche vertikale Medienverflechtung. Die Kirch-Gruppe verfügt heute über alle Verwertungsstufen im Film- und Fernsehbereich: Herstellung, Vertrieb, Senderechte, Synchronisation, Verleih, Video, Merchandising und TV-Kanäle. Alles ist im Haus Kirch möglich — und nicht nur dort: Als Rechteinhaber von 5 000 Spielfilmen und 50 000 Stunden Fernsehprogramm beliefert Kirch mit Ausnahme des Spartenkanals „n-tv" sämtliche deutschen TV-Stationen mit Spielfilmen und Serien.Brisant wird diese Meinungsmacht durch die 35prozentige Beteiligung Kirchs am Springer-Verlag, der seinerseits weitere 20 % an „SAT 1" hält. Diese „Cross-ownership" von elektronischen und Printmedien in den Händen der Kirch-Gruppe ermöglichte etwa über die gemeinsame Rechte-Verwertungsgesellschaft ISPR München den Erwerb der FußballBundesliga-Verwertungsrechte für den Zeitraum 1992 bis 1997 für 700 Millionen Mark. Das heißt auf gut deutsch, damit bestimmt allein Kirch künftig, wer Bundesligafußball senden darf.Daß diese Medienmacht auch Meinungsmacht ist, dürfte auch dem weniger sensiblen Zeitgenossen klar sein.
Die Strukturen einiger Medienkonzerne zeigen deutlich, daß derzeit die Meinungsvielfalt im Bereich der elektronischen Medien zumindest gefährdet ist.Diese Feststellung bedeutet nun allerdings nicht, wie die SPD-Fraktion in ihrer Großen Anfrage zu suggerieren versucht, daß jegliche Marktmechanismen der Rundfunkfreiheit abträglich wären. Grundsätzlich läßt sich Meinungsfreiheit ohne Freiheit zum wirtschaftlichen Wettbewerb nicht erhalten, und das gilt auch umgekehrt. „Der freie Wettbewerb wirtschaftlich gesunder Medienunternehmen ist Voraussetzung für die dauerhafte Sicherung der Meinungspluralität" — diese Feststellung der Bundesregierung wird von der CDU/CSU-Fraktion uneingeschränkt geteilt.
Es erstaunt mich schon etwas, Herr Kollege Otto — Sie werden sicherlich gleich etwas dazu sagen —, wenn Sie als Liberaler mit viel Vehemenz das Modell „One man — one show" propagieren. Auf den ersten Blick scheint es so, als ließe sich mit dieser Formel das Problem der Medienkonzentration leicht lösen, mit einem Schlag etwa wie weiland der gordische Knoten. Ich befürchte vielmehr, Herr Kollege Otto, daß das Ergebnis eines solchen Prinzips wäre, daß der Wettbewerb durch eine nicht mehr verhältnismäßige staatliche Reglementierung ersetzt würde.Abgesehen davon, daß ich erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken habe, ob es gerechtfertigt wäre, derart weitgehend in die eben auch grundrechtlich geschützte unternehmerische Freiheit einzugreifen, halte ich das ja durchaus richtige Ziel, eine übermäßige Medienkonzentration zu verhindern, auch praktisch für mit dieser Formel nicht erreichbar. Wenn sich
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Dr. Joseph-Theodor BlankMedienunternehmen nämlich mit bis zu 100 % an einem TV-Programm engagieren, dafür aber keine Mehrfachbeteiligungen eingehen dürfen, sind damit Schachtelbeteiligungen und verdeckte Treuhandschaften doch keineswegs ausgeschlossen. Zudem muß man sich die Frage stellen, und man muß sie wohl auch beantworten: Ist es eigentlich wünschenswert, daß etwa ein Zeitungsverleger zu 100 % einen lokalen Hörfunksender beherrscht? Ich möchte das in meinem Wahlkreis jedenfalls nicht haben.
— Sie auch nicht, gut.Was wir brauchen, ist, denke ich, eine effiziente Ordnungspolitik, die Wettbewerb nicht verhindert, sondern — im Gegenteil — ermöglicht und gewährt. Dabei — dies wird in der aktuellen Diskussion meines Erachtens viel zu sehr vernachlässigt — müssen die technischen Dimensionen der neuen Medien berücksichtigt werden. Wenn mit digitalen Übertragungsverfahren über einen herkömmlichen Fernsehkanal künftig mindestens vier Fernsehprogramme transportiert werden können und sich damit die Kapazität verfügbarer Kanäle vervielfacht, sind jedenfalls die technischen Rahmenbedingungen für einen verbesserten Wettbewerb zwischen den Programmanbietern geschaffen. Das bedeutet allerdings nicht zwangsläufig, daß sich die Zahl privater Rundfunkveranstalter beliebig vermehren wird. So haben jedenfalls private TV-Vollprogrammanbieter mit steigenden Kosten zu rechnen, da sie weiter kräftig in ihre Programme investieren müssen, wenn sie sich am Markt behaupten wollen. Daher wird es die bis zum Jahre 2000 prognostizierte Werbenachfrage wahrscheinlich nur vier Programmen ermöglichen, langfristig die Rentabilitätsschwelle zu überwinden.
— Ich spreche jetzt von Vollprogrammen. Sie sehen das ja an der aktuellen Diskussion über „Vox". Demgegenüber wird — Herr Kollege Glotz, Sie haben schon darauf hingewiesen; auch darin stimme ich mit Ihnen überein — die Bedeutung der Spartenprogramme wachsen. Zielgruppenbezogene Spartenprogramme, die sich weniger durch Werbung als vielmehr durch Abonnements der Empfänger — sogenantes Pay-TV — finanzieren, werden, wie ich zu behaupten wage, die neue Generation der Fernseh- und Hörfunkprogramme prägen.Diese damit technisch mögliche Außenpluralität gilt es ordnungspolitisch abzusichern. Sinnvoll erscheint mit ein abgestuftes Instrumentarium, das auf jeder Konzentrationsebene den Rahmen absteckt und eine effiziente Kontrolle ermöglicht. Ich möchte in dieser Debatte fünf Vorschläge für eine solche denkbare Konzentrationskontrolle machen, um anschließend die Möglichkeit zu eröffnen, innerhalb der Fraktionen, aber auch zwischen den Fraktionen darüber zu diskutieren.Der erste Vorschlag bezieht sich auf die horizontale Konzentration. Der horizontalen Konzentration soll derzeit insbesondere § 21 des Rundfunkstaatsvertrages entgegenwirken, der die Beteiligung an bundesweiten Fernsehsendern begrenzt. Diese Vorschrift besteht derzeit ihre erste Nagelprobe. So ist insbesondere fraglich, ob die Lizenzerteilung an das „Deutsche Sportfernsehen" mit der Obergrenze von zwei TV-Programmen eines Veranstalters, von denen nur eines ein Vollprogramm sein darf, vereinbar ist. Auch spricht einiges dafür, daß der Einfluß der Kirch-Gruppe bei „SAT 1" die nach § 21 Abs. 2 Rundfunkstaatsvertrag zulässige 50 %-Beteiligungsgrenze überschreitet. Es bleibt zunächst einmal abzuwarten, inwieweit diese Bestimmungen im konkreten Fall greifen. Ich halte es daher aus heutiger Sicht verfrüht, schon an dieser Stelle einer Verschärfung des Rundfunkstaatsvertrages das Wort zu reden.Mein zweiter Vorschlag ist, über die vertikale und diagonale Konzentration nachzudenken. Im Bereich der vertikalen und diagonalen Konzentration haben wir, wie ich finde, derzeit ein Regelungsdefizit. Angesichts des großen Potentials multimedialen Machtmißbrauchs halte ich Regelungen, die die Beteiligung von TV-Veranstaltern an Produktionsfirmen, am Handel mit Film- und Sportrechten sowie an Presseverlagen begrenzen, für wünschenswert.
In den USA gibt es ja — es wurde schon darauf hingewiesen — bereits solche Vorschriften, und man wird den Vereinigten Staaten kaum vorwerfen können, sie wollten die Wettbewerbsregeln außer Kraft setzen.Der Vorschlag, eine „Cross-ownership" dadurch zu begrenzen, daß man die Erteilung von Rundfunklizenzen kartellrechtlich wie einen Unternehmenszusammenschluß behandelt, läßt sich allerdings schwer mit der Systematik unseres Kartellrechts vereinbaren. Folgte man diesem Vorschlag, entstünde möglicherweise ein Mediensonderrecht, das dann aber eben auch am Fehlen einer Gesetzgebungskompetenz des Bundes scheitern müßte.Ich will eine dritte Überlegung im Hinblick auf die Frequenzvergabe anstellen. Die Rundfunkübertragung via Satellit und Kanal wird künftig zunehmende Bedeutung gewinnen. Deswegen, Herr Kollege Glotz, habe ich vorhin in einem Zwischenruf deutlich gemacht: Die Entscheidung, die wir Anfang der 80er Jahre mit der Aufbrechung des öffentlich-rechtlichen Meinungsmonopols getroffen haben, halte ich auch heute noch für richtig und würde ich auch heute noch so treffen. Das ändert nichts daran, daß man möglichen Exzessen — sei es im Zuge von Reality-TV oder was Gewalt- und Sexdarstellungen im privaten Bereich angeht — entweder mit dem vorhandenen Instrumentarium begegnen muß oder daß man, wenn das vorhandene Instrumentarium nicht ausreicht — das wird ja bei uns im Hause auch diskutiert —, darüber nachdenken muß, ob der Gesetzgeber hier nicht gefordert ist.
Ich denke, daß die öffentliche Diskussion, die wir über diese Frage geführt haben, z. B. dazu geführt hat, daß von den drei RTL-Reality-TV-Sendungen zwei bereits aus dem Programm genommen worden sind
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Dr. Joseph-Theodor Blankund daß, wenn ich das richtig sehe, seit dem 1. Juli auch die üblichen Soft-Pornos, wenn man sie so bezeichnen soll, samstags abend bei „RTL" jedenfalls nicht mehr ausgestrahlt werden. In diesen Tagen war auch zu lesen — das war hilfreich und wichtig —, daß sich die Werbung treibende Wirtschaft sehr wohl Gedanken darüber gemacht hat, ob sie mit ihren Produkten im Umfeld solcher Sendungen werben sollte.
Das ist wahrscheinlich der stärkste Druck, der auf diese Sender ausgeübt werden kann und dem sie sich am ehesten beugen werden, weil es dabei um „Bares" geht.Zurück zur Frequenzvergabe: Obwohl künftig die Rundfunkübertragung via Satellit und Kanal, wie ich schon sagte, zunehmende Bedeutung gewinnen wird, bleiben insbesondere Vollprogramme auf die Nutzung terrestrischer Netze angewiesen, wenn sie die Rentabilitätsschwelle überschreiten wollen. Die gegenwärtig hohe Marktkonzentration bei den bundesweit verbreiteten TV-Vollprogrammen könnte durch eine länderübergreifende Koordination bei der Frequenzvergabe an weitere Programmanbieter gemindert werden.Mein vierter Vorschlag betrifft die Aufsichtsstrukturen. Ich finde, die Aufsichtsstrukturen müssen dringend verbessert werden.
Das jüngste Debakel um die Lizenzerteilung an das „Deutsche Sportfernsehen", bei der eine Landesmedienanstalt gegen die andere klagt und bei der, wie ich finde, aufsichtsfremde Kriterien wie etwa Standortpolitik eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen, darf sich nicht wiederholen. Die jetzige föderale Konstruktion der Privatfunkkontrolle ist nach meiner Ansicht kaum geeignet, Veranstalter bundesweit verbreiteter TV-Programme wirksam zu überwachen.
Angesichts der rundfunkrechtlichen Kompetenz der Länder sehe ich derzeit nur eine Möglichkeit, das Strukturdefizit der Medienaufsicht abzubauen: Die Länder müssen — gegebenenfalls durch eine länderstaatsvertragliche Regelung— eine bundesweit tätige Aufsichtsbehörde einrichten, die jedenfalls für bundesweit tätige Veranstalter zuständig wäre.
Ein erster Schritt könnte vielleicht bereits eine förmliche Institutionalisierung der Konferenz der Direktoren der Landesmedienanstalten sein.Ein letztes Stichwort, das ich in die Debatte und in unsere zukünftigen Überlegungen einbringen möchte, ist die Offenlegung von Beteiligungen. Für eine effektive Rundfunkkontrolle ist schließlich eine Pflicht der Rundfunkveranstalter zur Offenlegung ihrer Besitzverhältnisse unabdingbar. Die Länder sollten eine solche Regelung schnellstens schaffen. Ein derart peinliches Vorgehen wie die Fragebogenaktionder Landesmedienanstalten im vergangenen Jahr bliebe uns dann künftig erspart. Eine solche Offenlegungspflicht ist im Sinne einer weitgehenden Transparenz der Konzentrationsprozesse unerläßlich.Ich möchte all diejenigen, die in diesem Hause mit Medienpolitik zu tun haben, bitten, einmal gemeinsam über diese fünf Punkte nachzudenken. Ich finde, sie könnten den Weg hin zu einer Verbesserung des ordnungspolitischen Rahmens für den Wettbewerb auf dem Medienmarkt aufzeigen. Sie zeigen im übrigen auch, daß die Medienpolitik auch de lege ferenda noch über einige Möglichkeiten verfügt, publizistische Vielfalt zu sichern.Für völlig überzogen jedenfalls halte ich — lassen Sie mich damit schließen — die Befürchtungen des ARD-Vorsitzenden Plog, Deutschland entwickele sich zu einer Bananenrepublik, in der sich Medienkonzerne fern jeder demokratischen Kontrolle entfalten könnten. Meine Fraktion, die Bundesregierung, die Landesregierungen und die Landtage sind sich der hier heute erörterten Problematik bewußt und werden die notwendigen Schritte unternehmen, um Meinungsvielfalt in den elektronischen Medien mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu sichern.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Hans-Joachim Otto.
Herr Präsident! Leeres Haus!
— Hohes leeres Haus! Darin kann ich mich mit Ihnen noch einverstanden erklären.
Wir sind uns jedenfalls im Ausgangspunkt sehr einig: Der Rundfunkfreiheit in Art. 5 unseres Grundgesetzes kommt eine herausragende Bedeutung für das gesamte öffentliche, politische und verfassungsrechtliche Leben unseres Landes zu. Es ist nicht nur ein zwingendes Verfassungsgebot, sondern unser gemeinsamer politischer Wille, für eine Rundfunkordnung zu sorgen, in der Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt nicht durch Konzentration und Verflechtungen der Programmanbieter gefährdet werden.
Darüber, ob wir im deutschen Medienmarkt bereits jetzt eine Konzentration feststellen müssen, die die Meinungsvielfalt akut gefährdet, läßt sich trefflich streiten. In dieser Analyse ist sich offenkundig auch die SPD nicht einig. Herr Kollege Dr. Glotz, während etwa Sie und die Bundestagsfraktion immer wieder vor den großen Gefahren für unsere Demokratie durch die Medienkonzentration warnen, hat Ministerpräsident Rau, bekanntlich ebenfalls Ihrer Partei zugehörig, erst kürzlich „Verständnis für eine gewisse Kon-
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zentration von wirtschaftlicher Medienmacht" geäußert.
Ohne finanzstarke Medienkonzerne, so Rau, seien große Fernsehprojekte nicht mehr finanzierbar und die europäische Medienwirtschaft im internationalen Wettbewerb chancenlos.Meine Damen und Herren, nach meiner Einschätzung gibt weit stärker als der momentane Zustand die sich abzeichnende Entwicklung Anlaß zu Sorge und erhöhter Wachsamkeit; denn es sind stets die gleichen Namen, die uns auf der nationalen und auf der europäischen Ebene immer wieder begegnen.Manche dieser wenigen Spieler im deutschen und europäischen Medienmarkt sind zudem untereinander — dies gibt besonderen Anlaß zur Sorge — kapitalmäßig oder zumindest interessenmäßig verflochten. Diese Verflechtungstendenzen bestehen nicht nur auf horizontaler Ebene, also zwischen den Programmanbietern, sondern auch zunehmend diagonal, also zwischen Verlagen und Rundfunkveranstaltern, und nicht zuletzt vertikal, also zwischen Veranstaltern und Programmzulieferern. Gerade diese vertikalen Verflechtungen sind besonders problematisch, weil sie durch ausdrückliche oder faktische Bindungen beim Rechteerwerb zwangsläufig Einfluß auf das Programm ausüben.Meine Damen und Herren, brauchen wir neue Gesetze, um diesen beunruhigenden Tendenzen entgegenwirken zu können? Ich teile die Skepsis der Bundesregierung, ob die Wettbewerbspolitik hierfür einen erfolgversprechenden Ansatz bietet. Das allgemeine Wettbewerbsrecht — darin sind wir uns einig, Herr Kollege Dr. Glotz — wird den Besonderheiten des Medienmarktes kaum gerecht.
Andererseits aber unterliegt ein komplettes Sonderkartellrecht für den Medienbereich ernstzunehmenden verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Bedenken. Herr Kollege Dr. Glotz, wir müssen uns sorgfältig darüber unterhalten, ob das, was Sie eben angedacht haben, durchsetzbar ist.Keine Zweifel aber habe ich an einem aktuellen Handlungsbedarf auf der Länderebene. Hier bin ich mir auch mit meinen medienpolitischen Kollegen sämtlicher F.D.P.-Landtagsfraktionen einig. Ich möchte daher unsere Forderungen wie folgt kurz zusammenfassen.Erstens. Nicht erst die jüngsten Beispiele, „DSF" und „Vox", haben anschaulich bewiesen, daß sich einzelne Landesmedienanstalten von Standortinteressen beeinflussen lassen; darüber besteht hier im Hause Einigkeit. Es ist ein Unding, daß einzelne Landesmedienanstalten für die Lizenzierung und Überwachung auch solcher Programme zuständig sind, die bundesweit ausgestrahlt werden.Für solche bundesweit verbreiteten Programme fordern wir deshalb — Herr Kollege Dr. Blank, auch mit Ihnen besteht da Übereinstimmung — die Gründung einer einheitlichen Medienanstalt der deutschen Lander. Hiervon versprechen wir uns nicht nur mehr Objektivität, sondern vor allen Dingen auch bundeseinheitlich faire, gleiche Wettbewerbsbedingungen.
Zweitens. Wir brauchen den „gläsernen Fernsehveranstalter". Auch hier sehe ich in diesem Hause Einigkeit. Wir wollen also die volle, unter Umständen sanktionsbewehrte Offenlegung von Unternehmensbeteiligungen, Verflechtungen und anderen wesentlichen dauerhaften Bindungen; denn Rundfunkfreiheit, so stellt die Bundesregierung zutreffend fest, bedeutet nicht das Recht, unerkannt an der Bildung der öffentlichen Meinung mitzuwirken — eine gute Formulierung.
Vielmehr könnte eine höhere Transparenz der publizistischen Einflüsse und Interessen die öffentliche Meinungsbildung objektivieren. Zu diesem Zweck benötigt die künftig zu gründende Medienanstalt oder benötigen die jetzigen Landesmedienanstalten erweiterte Befugnisse, z. B. das volle Recht auf Einsicht in alle vertraglichen und geschäftlichen Unterlagen — natürlich mit dem Gebot der Verschwiegenheit — und das Recht, von den Verantwortlichen notfalls auch die Abgabe eidesstattlicher Erklärungen verlangen zu können.Drittens. Meine Damen und Herren, wir streben eine grundlegende Reform des vielzitierten § 21 des Rundfunkstaatsvertrages an. Die bisherige Beschränkung für jeden Veranstalter auf einen maximalen Anteil von 49,9 % pro Sender schafft geradezu einen Anreiz zur Verschachtelung der Beteiligungen und zur Verflechtung der Medienkonzerne und provoziert damit die Einschaltung von Strohmännern.Herr Kollege Blank, natürlich gibt es immer Mißbrauch. Diese gesetzliche Regelung aber provoziert ihn geradezu. Deswegen sind wir der Auffassung, daß das Prinzip „One man — one show" in der Tat eines ist, das weiterverfolgt werden muß. Dieses Prinzip besagt, daß sich jeder Veranstalter nur noch an einem Programm, dafür aber zu 100 % beteiligen kann.Herr Kollege Dr. Blank, dieses Prinzip entspricht dem bedeutenden Einfluß, den Fernsehvollprogramme nun einmal auf die Meinungsbildung ausüben. Deswegen habe ich gerade als Liberaler überhaupt kein Problem, einen solchen Grundsatz zu verfechten. Ich halte ihn für wesentlich liberaler als die bisherige 49,9 %-Regelung, die ich als einen faulen Kompromiß betrachte.
Darüber hinaus müssen endlich auch vertikale Wettbewerbsbeeinträchtigungen etwa in Form umfangreicher Programmzulieferungen ein wichtiges Kriterium bei der Lizenzvergabe und -überwachung werden. Fernsehsender dürfen nicht zu reinen Abspielstationen öffentlichkeitsscheuer Filmhändler werden.Viertens. Last but not least würde auch die Privatisierung des ZDF durch Ausgabe von Volksaktien zu
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einer spürbaren Belebung des privaten Fernsehmarktes führen. Ich bin ja ein netter Mensch: Das ZDF veranstaltet heute, ein paar hundert Meter weiter, sein Sommerfest, und ich möchte den Teilnehmern nicht die gute Laune verderben.
— Das ist sehr rücksichtsvoll; ich werde es deshalb hier nicht vertiefen.
— Gut.Abschließend noch ein Wort zu Europa. Da gerade die Medien typischerweise grenzüberschreitend sind, drohen rein nationale Regelungen leerzulaufen. Auch wer wie ich ein Gegner der EG-Regelungswut ist, sollte anerkennen, daß gerade im Medienbereich europaeinheitliche Wettbewerbsregelungen zum unverzichtbaren Harmonisierungskem gehören.Hier unterscheidet sich meine Auffassung übrigens von der unseres Bundeswirtschaftsministers Rexrodt, der kürzlich eine EG-Wettbewerbsharmonisierung als „eindeutig zuviel des Guten" abgelehnt hat. Gerade an diesem Beispiel, meine Damen und Herren, sehen Sie übrigens, daß bei der Frage der Medienkonzentration nicht nur Harmonisierungen über Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg, sondern gelegentlich durchaus auch innerhalb unserer Parteien erforderlich sind.
— Dies betrifft uns alle, Herr Kollege Dr. Glotz, auf Länder- und auf Bundesebene.Ich begrüße es deshalb, daß wir in der heutigen Debatte wenigstens eine erste kurze Gelegenheit hatten, unsere Bewertungen und Forderungen auszutauschen. Gerade weil Änderungen des Rundfunkstaatsvertrages alle Landtage durchlaufen müssen, ist die Bereitschaft zum Kompromiß und zum Konsens in diesem Bereich absolut erforderlich.Ich signalisiere Ihnen, meine Damen und Herren, auch im Namen meiner F.D.P.-Kollegen aus den Länderparlamenten, daß wir zu sinnvollen Änderungen gesprächsbereit und konzessionsbereit sind. Es ist Zeit zum Handeln. Wir sollten diese Aufgabe jetzt anpacken. Auch der Bundestag muß sich dieser Verantwortung bewußt sein.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Briefs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Medienpolitik, soweit sie bundesstaatlich geregelt und regelbar ist und wie sie in der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD in Erscheinung tritt, ist ein weiteresBeispiel für verhängnisvolle Weichenstellungen durch diese Bundesregierung, insbesondere auf diesem brisanten und sensiblen Gebiet der Gesellschaftspolitik.Konservative Geister in dieser Republik, die bereit waren, die Ausbreitung des „Dudelfunks" und auch des häufig flachsinnigen Unterhaltungsfernsehens bei den Privaten um des Dogmas der Marktwirtschaft willen hinzunehmen,
sind inzwischen durch die insbesondere über private Fernsehsender zuerst verbreiteten Sensations-, Brutalo- und Pornosendungen alarmiert worden. Daß diese Entwicklung etwas mit Einschaltquoten und der Rentabilität der Investitionen großer Medienkonzerne und Mediengruppen in diesem Bereich zu tun hat, liegt auf der Hand.Dennoch meint diese Bundesregierung, dem Dogma der freien Wirkung der Marktkräfte ohne entsprechende Beschränkung wirtschaftlicher Macht nachkommen zu müssen, und zwar zu Lasten der wenigen noch verbliebenen freien Radios — um diese geht es mir in dem Zusammenhang besonders —, zu Lasten der Bürgerbeteiligung und -kontrolle, zu Lasten auch der Versorgung der Bevölkerung mit etwas anspruchsvolleren Informationen, Dokumentationen und auch Unterhaltungssendungen, insbesondere durch die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten.Wieder werden die Interessen kleinerer Gruppen und zum Teil auch die Interessen der Bevölkerung insgesamt den Interessen der Wirtschaft, vor allem der Großwirtschaft, dem Interesse an rentablen Anlagesphären geopfert.
— So einfach ist es nach Ihrem Dogma; das ist das Problem.
Die Beschränkung wirtschaftlicher Macht bei bundesweiten Fernsehsendern durch Anteilsbeschränkung ist notwendig, aber nicht hinreichend. Notwendig ist zusätzlich insbesondere die Schaffung von wirksamen, viel weitergehenden Kontrollmöglichkeiten der Bürger und Bürgerinnen gegenüber Wirtschaftsinteressen sowohl bei bundesweiten Fernsehsendern als auch im Lokalfunkbereich.Die Bundesmedienanstalt — das füge ich ausdrücklich hinzu — kann ein erster Schritt in diese Richtung sein. Notwendig ist darüber hinaus aber die Gewährleistung der Existenzbedingungen freier Radios. Wer dagegen undifferenziert und uneingeschränkt sagt: Freie Bahn den wirtschaftlich Mächtigen auch bei den Medien!, der darf sich nicht wundern, wenn er schließlich Ergebnisse erhält, die er gerade als verantwortungsbewußter Konservativer sich und uns einfach
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Dr. Ulrich Briefsnicht wünschen kann — von den Liberal-Konservativen bei der F.D.P. will ich nicht reden.
Das scheint mir das große gesellschaftliche Problem beim derzeitigen Zustand des Medienbereichs in diesem Lande zu sein.Herr Präsident, ich danke Ihnen.
Das Wort hat nunmehr Herr Professor Dr. Jens.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich die Präsenz hier im Saal sehe, erinnere ich mich an das Buch von Neil Postmann „Wir amüsieren uns zu Tode".
— Bisher war es ja recht friedlich.Seit dem dritten Fernsehurteil des Bundesverfassungsgerichts vom Jahre 1981 können neben dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk private Hörfunk- und Fernsehsendungen gemacht werden. Versprochen haben wir uns davon — wenigstens ich mir —, wenn auch aus unterschiedlichen Interessen, lebendigen Wettbewerb im Rundfunk, also im Hörfunk und im Fernsehen, ein breites, farbiges Programm und eine Förderung der Meinungsvielfalt.Befürchtet hatten wir Sozialdemokraten schon damals eine gewisse Verflachung der Programme und täglich mehr Sex und Crime. Trotzdem ging es damals um mehr Wettbewerb im Rundfunk, nicht zuletzt, um der Konzentration entgegenzuwirken, die im Pressebereich schon damals ein bedenkliches Ausmaß erreicht hatte.Wie sieht es heute, nach gut zehn Jahren bundesdeutschen Privatfernsehens, aus? Was bei uns gesehen, gehört und gelesen wird, bestimmen im wesentlichen — ich sage: im wesentlichen; nicht ausschließlich — zwei Konzerne, die den bundesdeutschen Medienmarkt beherrschen, die Kirch-Gruppe und die Bertelsmann AG, wobei es mir schwerfällt, beide in einem Atemzug zu nennen. Beide beteiligen sich gegenseitig im Zeitschriften-, Zeitungs- und Buchmarkt. Was aus dem Hause Bertelsmann publiziert wird, erfüllt noch die Forderung nach Meinungsvielfalt, wenigstens eher als der Konkurrent. Bedenklich ist, daß der Bertelsmann-Konzern 37,5 % aller Anteile an deutschen Privatsendern hält. Da wird zweifellos viel Macht und Einfluß ausgeübt. Ich finde, darüber muß diskutiert werden.Leo Kirch hingegen, der sich selbst bescheiden Filmhändler nennt, hat seinen wirtschaftlichen und verlegerischen Einfluß in einer Weise ausgebreitet, daß die Zeit hier nicht ausreicht, um seine vielfältigen Aktivitäten vorzustellen: Zulieferer und Veranstalter von Radio- und Fernsehprogrammen, im Filmgeschäftals Produzent und Vermarkter tätig, Verflechtung mit ausländischen Fernsehveranstaltern und dergleichen mehr. Ich empfehle Ihnen, die Einzelheiten in der Antwort der Bundesregierung vom 24. März auf unsere Große Anfrage zu Konzentrationserscheinungen bei den elektronischen Medien nachzulesen.Trotz des beschriebenen Ausmaßes an wirtschaftlicher Machtkonzentration will die Bundesregierung nach diesen Aussagen nicht tätig werden. Sie fühlt sich nicht zuständig. Statt dessen will sie auch in Zukunft die Entwicklung im Rundfunk „mit großer Aufmerksamkeit beobachten"
und ihrer Verantwortung für Meinungsvielfalt und Meinungsfreiheit entsprechen. Ich glaube, das reicht nicht aus. Wir müssen mehr tun, wie auch Sie angedeutet haben.Das Bundeskartellamt hat in den vergangenen Jahren trotz wiederholter Mahnung seitens der Monopolkommission seine Aufgabe als Hüter des Wettbewerbs, wie ich finde, nicht ernstgenommen, wie so häufig. Auch das Bundeskartellamt hätte mehr tun können, wenngleich ich genau sehe, daß die gesetzlichen Bestimmungen natürlich limitiert sind.Wir meinen, es bleibt keine Zeit mehr, abzuwarten und zuzuschauen. Die Konzentration bei den elektronischen Medien in der Bundesrepublik Deutschland ist inzwischen so weit fortgeschritten, daß Wettbewerbsverzerrungen schwerlich rückgängig zu machen sind, Entflechtungen kaum noch möglich sind.Doch das ist nicht alles. Die Zukunft wird uns auf dem europäischen und dem internationalen Medienmarkt noch andere Probleme bescheren: Direktempfang über Satellit und international wirkende Medienkolosse halten sich nicht an deutsche Lizenzauflagen. Mit der wachsenden Kommerzialisierung von Hörfunk und Fernsehen geht der eigentliche Sinn, geht die Zielsetzung verloren, daß das Betreiben von Rundfunk in erster Linie eine öffentliche Aufgabe ist und damit auch der Allgemeinheit verpflichtet sein sollte.Die EG-Kommission war ja nicht ganz untätig. Sie hat Ende letzten Jahres ein Grünbuch über Pluralismus und Medienkonzentration im Binnenmarkt vorgelegt. Für das Frühjahr 1994 plant sie in diesem Zusammenhang eine Anhörung zu dem Problem. Wir sollten uns ernsthaft überlegen, ob eine gemeinschaftliche Aktion auf EG-Ebene nicht ein zusätzlicher Weg sein kann, das Problem in den Griff zu bekommen.
Auch Bundeskanzler Kohl scheint den Konflikt zwischen der verfassungsrechtlich gebotenen Gewährleistung von öffentlichem Rundfunk und dem sich zunehmend unkontrolliert entwickelnden privatwirtschaftlichen Rundfunkmarkt erkannt zu haben. Im Rundfunksender „Hundert 6" verkündete er um die Jahreswende, er wolle eine Grundsatzdebatte über die elektronischen Medien in Gang setzen; eine Diskussion über die Medienordnung sei überfällig.
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Dr. Uwe JensAber bisher ist dies die erste danach. Ich glaube, auch der Kanzler sollte sich ein bißchen mehr um dieses Problem kümmern. Es darf nicht verniedlicht und verschwiegen werden. Das tun wir heute auch nicht.
— Wir haben das alles in Gang gesetzt, falls Sie das vergessen haben sollten. Es ist unsere Große Anfrage, über die wir heute diskutieren.
Ich will auch nicht verschweigen, daß es vielleicht noch Schlimmeres zu verhüten gilt. Wer weiß, was noch alles auf uns zukommt? Bisher war es so, daß Daimler-Benz noch nicht Anspruch auf eine Tageszeitung oder auf einen Fernsehsender erhoben hat. Aber ganz unmöglich ist das natürlich nicht. In Italien beherrscht Fiat die einflußreichen Tageszeitungen, und zwar mit einer hundertprozentigen Beteiligung an „La Stampa" und mit indirekter Mehrheitsbeteiligung an „Corriere della Sera". Das ist eine Entwicklung, die mir Sorgen macht. Ich will nicht unbedingt auf Hugenberg verweisen; aber diese Verhältnisse können wir nicht wollen. Dagegen müssen wir antreten.Es muß auf alle Fälle verhindert werden, daß branchenfremdes Kapital in den Medienbereich fließt — aus der Industrie, von Sekten oder etwa gewaschenes Drogengeld.
Das fordert z. B. auch Axel Zerdick, Professor für Ökonomie und Massenkommunikation an der FU Berlin, ein Fachkenner der Materie, den wir uns vielleicht auch einmal anhören sollten.Es muß also — darüber sind wir uns wohl einig — eine größtmögliche Offenlegung der Beteiligungsverhältnisse verlangt werden. Nur so kann ausgeschlossen werden, daß über Investmentgesellschaften anonymes Kapital in die privaten Sender fließt.Sinn der Sache kann es aber auch nicht sein, daß die Landesmedienanstalten angeblich zunehmend dazu neigen, Investmentgesellschaften als Anteilseigner von Lizenzbewerbern zu akzeptieren. Dann schon lieber, wie ich meine, Verlegerkapital. Ich will den Landesmedienanstalten nichts Böses unterstellen. Sie haben zuwenig Kontrollbefugnisse, um Informationen in geschäftlichen Unterlagen zu überprüfen und komplizierte wirtschaftliche Verflechtungen und Entwicklungen im Vorfeld zu erkennen.
Die wirtschaftliche Machtzusammenballung von und zwischen Medien ist der Dreh- und Angelpunkt dafür, daß die publizistische Meinungsvielfalt in Gefahr geraten ist. Es erzähle mir niemand, durch Kapitalverflechtungen zwischen den Medien finde keine gegenseitige Einflußnahme statt. Das Gegenteil ist der Fall. Ich sehe die Gefahr, daß bei fortschreitender Konzentration Informationen und Meinungen unterdrückt und gleichgeschaltet werden. Dasschränkt die öffentliche Diskussion ein, und das verhindert auch, die Medien kritisch unter die Lupe zu nehmen.Nur ökonomischer Wettbewerb und weitgehende wirtschaftliche Selbständigkeit der einzelnen Medienbereiche können zur Vielfalt und Meinungsfreiheit beitragen, und das ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Demokratie.Darum halte ich es für notwendig, — erstens — im Falle der Beteiligung von Verlagsunternehmen am privaten Rundfunk die Grundsätze des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen anzuwenden. Marktbeherrschenden Verlagsunternehmen ist der Zugang zum Rundfunkmarkt dann zu untersagen, wenn das Verbreitungsgebiet der Zeitung und der Sendebereich der Rundfunkstation zusammenfallen oder sich überschneiden.Zweitens. Im Fall von intermedialen Zusammenschlüssen — das heißt, ein Verlag will selbständig ein Rundfunkprogramm ausstrahlen — soll der Erwerb einer Sendelizenz seitens des Verlages wie ein Zusammenschlußtatbestand im Rahmen der Fusionskontrolle durch das GWB zu behandeln sein. Dies muß also durch gesetzliche Fiktion bestimmt werden. Die Monopolkommission kommt zu dem Ergebnis, daß das verfassungsrechtlich nicht bedenklich ist.Drittens soll eine mögliche Lizenzvergabe durch die Landesmedienanstalten zunächst dem Bundeskartellamt angezeigt werden und erst nach einer dortigen Beurteilung erfolgen.Es ist höchste Zeit, daß der Bund seine Kompetenzen im Wirtschaftsrecht wahrnimmt, daß er unter Umständen auch neue schafft, und darüber wollen wir diskutieren. Wo das vorhandene Instrumentarium des GWB nicht ausreicht, müssen neue Regelungen geschaffen werden. Die Gesetzgebungskompetenz der Länder auf dem Gebiet des Rundfunkwesens steht dem nicht entgegen; denn hier geht es um die Verhütung des Mißbrauchs wirtschaftlicher Macht, die allerdings nicht unerheblich auf die Meinungsmacht im Rundfunkwesen bei Hörfunk und Fernsehen ausstrahlt.Ich verstehe die heutige Debatte als Beginn einer grundlegenden Auseinandersetzung, die schon lange fällig ist und der sich keine Partei verschließen darf.Schönen Dank.
Es spricht nun der Parlamentarische Staatssekretär Eduard Lintner.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich für die Bundesregierung noch einige kurze und mehr allgemeine Bemerkungen machen.Die Medien sind unstreitig ein unverzichtbarer Bestandteil unserer Demokratie, und sie beinhalten große Chancen in der Form der erweiterten Übertragungsmöglichkeiten und auch durch die Ausweitung der terrestrischen Frequenzen einerseits und in den
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Parl. Staatssekretär Eduard Lintnerneuen Techniken mittels Kabel und Satellit andererseits.Gemäß ihrer herausragenden Bedeutung tragen die Medien aber auch eine besondere Verantwortung. Um dieser Anforderung gerecht werden zu können, müssen zunächst der Wettbewerb zwischen den Medien und die publizistische Meinungsvielfalt gesichert werden.Die Bundesregierung hat in der heute hier zu debattierenden Großen Anfrage festgestellt, daß bei konsequenter Anwendung die vorhandenen gesetzlichen Instrumente ausreichend sind, um mögliche Fehlentwicklungen bei elektronischen Medien, insbesondere im Fernsehbereich, zu beherrschen und ihnen zu begegnen.Diese Feststellung hat auch die Konferenz der Direktoren der Landesmedienanstalten in ihrer Stellungnahme zur Großen Anfrage getroffen. Nicht zuletzt hat dies Ministerpräsident Rau anläßlich eines Medienforums in Köln selbst klargestellt.Die Bundesregierung ihrerseits wird weiterhin wachsam bleiben und die Entwicklung sorgfältig beobachten. Aber es ist natürlich zunächst Sache der für die Rundfunkgesetzgebung zuständigen Länder, der möglichen Bedrohung der Meinungsvielfalt im Rundfunk zu begegnen.Ich begrüße es deshalb, daß sich die Landesmedienanstalten stärker zusammengeschlossen haben, um ihre Ansprüche und Bedenken wirksam durchsetzen zu können. Das wird leider aber nicht konsequent durchgehalten; denn einseitige Standortinteressen von Ländern und die verschiedenen rechtlichen Auseinandersetzungen bei den Lizenzerteilungen für private Fernsehanbieter entfalten natürlich auch hier ihre Wirkung.Die Bundesregierung muß daher auch weiterhin die Entwicklung der elektronischen Medien mit sehr großer Aufmerksamkeit verfolgen. Wenn und soweit erforderlich, wird sie dem Verfassungsgebot von Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt im Rahmen ihrer medienpolitischen Gesamtverantwortung und ihrer Gesetzgebungskompetenz Geltung verschaffen.Im Hinblick auf das weiter wachsende nationale und internationale Programmangebot — es wird schon von bis zu 200 Programmen gesprochen — sollten wir realistischerweise auch den europäischen Raum immer stärker in die Überlegungen einbeziehen, um eventuell falschen Tendenzen im Rahmen der medienpolitischen Gesamtverantwortung begegnen zu können. Dies gilt zum Beispiel auch für die aktuelle Diskussion über das von der EG-Kommission im Dezember 1992 verabschiedete Grünbuch mit dem Titel „Pluralismus und Medienkonzentration im Binnenmarkt — Bewertung einer Gemeinschaftsaktion" .Mit ihrer Antwort auf die Große Anfrage gibt die Bundesregierung also die gewünschte detaillierte Auskunft und zeigt zugleich, welch geschärftes Bewußtsein sie gegenüber dem Mediengeschehen hat; ganz im Sinne, wie ich hoffe, der Fragesteller.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aussprache. Ich hoffe, daß ich die mir auf diesem Stuhl gebotene Neutralität nicht verletze, wenn ich die Feststellung treffe, daß ich es nicht bereue, dieser informativen und interessanten Debatte gefolgt zu sein, und feststelle, daß ich es bedaure, daß nicht mehr Kolleginnen und Kollegen diese Debatte miterlebt haben.
— Das ist ein Ratschlag, den zu geben, wie ich befürchte, vergeblich ist.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 1. Juli 1993, 9 Uhr ein.
Bevor ich die Sitzung schließe, wünsche ich Ihnen noch einen erholsamen Abend und, soweit Sie zum ZDF gehen, einen vergnüglichen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.