Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren! Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:1. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara Höll und der Gruppe der PDS/Linke Liste: Heranziehung der westdeutschen Unternehmen zur Finanzierung des Solidarpakts — Drucksache 12/4493 —2. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zur Verkürzung der Ausbildungszeiten in Schulen und HochschulenZugleich soll von der Frist für den Beginn der Beratung, soweit dies bei einzelnen Punkten der Tagesordnung erforderlich ist, abgewichen werden.Des weiteren mache ich auf nachträgliche Ausschußüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam.Die in der 143. Sitzung des Deutschen Bundestages am 4. 3. 1993 bereits überwiesenen nachfolgenden Gesetzentwürfe sollen nachträglich dem Haushaltsausschuß zur Mitberatung und gemäß § 96 GO überwiesen werden:1. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung asylverfahrens-, ausländer- und staatsangehörigkeitsrechtlicher Vorschriften— Drucksache 12/4450 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß
RechtsausschußHaushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO2. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der Leistungen an Asylbewerber— Drucksache 12/4451 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Familie und Senioren InnenausschußAusschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für GesundheitHaushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GOSind Sie mit den Ergänzungen der Tagesordnung und den nachträglichen Ausschußüberweisungen einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und b sowie den Zusatztagesordnungspunkt 1 auf:4. a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Maßnahmen zur Bewältigung der finanziellen Erblasten im Zusammenhang mit der Herstellung der Einheit Deutschlands, zur langfristigen Sicherung des Aufbaus in den neuen Ländern, zur Neuordnung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs und zur Entlastung der öffentlichen Haushalte
— Drucksache 12/4401 —Überweisungsvorschlag:Haushaltsauschuß
InnenausschußRechtsausschußFinanzausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Arbeit und Sozialordnung VerteidigungsausschußAusschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Frauen und Jugend Ausschuß für VerkehrAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Forschung, Technologie und TechnikfolgenabschätzungAusschuß für Bildung und Wissenschaft EG-AusschußAusschuß Treuhandanstaltb) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 1993
— Drucksache 12/4400 —Überweisung: Haushaltsausschuß
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12444 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. März 1993
Präsidentin Dr. Rita SüssmuthZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara Höll und der Gruppe der PDS/ Linke ListeHeranziehung der westdeutschen Unternehmen zur Finanzierung des Solidarpakts— Drucksache 12/4493 —Überweisungsvorschlag : Haushaltsauschuß
InnenausschußRechtsausschußFinanzausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Arbeit und Sozialordnung VerteidigungsausschußAusschuß für Familie und SeniorenAusschuß für Frauen und JugendAusschuß für VerkehrAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Forschung, Technologie und TechnikfolgenabschätzungAusschuß für Bildung und WissenschaftEG-AusschußAusschuß TreuhandanstaltNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache 3 1/2 Stunden vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? — Auch dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt der Bundesminister der Finanzen, Dr. Theo Waigel.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte über das Föderale Konsolidierungsprogramm der Bundesregierung steht unter der Überschrift: Anpassung statt Anforderung; Solidarität statt Selbstsucht und Vorfahrt für Wachstum statt Verteilungsstreit.Wir sind beim Solidarpakt, dem großen Gemeinschaftswerk zur Bewältigung der Wiedervereinigungsaufgaben, in den letzten Wochen ein großes Stück vorangekommen. Im Tarifbereich zeichnet sich eine deutliche Anpassung an die gesamtwirtschaftlichen Notwendigkeiten ab. Industrie, Banken und Versicherungen haben ihren Investitions- und Wachstumsbeitrag konkret zugesagt. Die Bundesbank hat den Zinssenkungsprozeß weiter vorangebracht. Jetzt sind die Verantwortlichen in Bund, Ländern und Gemeinden an der Reihe.Wir stehen vor einmaligen Aufgaben und Herausforderungen. Die Voraussetzungen und Bedingungen des wirtschaftlichen Aufholprozesses in den jungen Bundesländern müssen endgültig, wirksam und volkswirtschaftlich angemessen geregelt werden.Deutschland muß seinen Spitzenplatz in der Gruppe der Industrienationen nach zehn guten Jahren wieder erkämpfen und rechtfertigen. Wir müssen uns dabei bewußt sein: Bezogen auf die Wirtschaftskraft pro Kopf der Bevölkerung, stehen wir in Europa nicht mehr an zweiter, sondern nur noch an siebenter Stelle. Wir müssen die gegenwärtige beachtliche Konjunktur- und auch Strukturschwäche überwinden, der deutlich zunehmenden Arbeitslosigkeit entgegenwirken und Preis- und Zinsstabilität auf Dauer sichern. Wir müssen die öffentlichen Finanzen insgesamt ordnen und auch im Hinblick auf die Lasten künftiger Generationen dauerhaft sichern.Für den konkreten Bereich der Finanzpolitik geht es um ein Umschichtungsvolumen von rund 110 Milliarden DM. Es geht um rund ein Zehntel der Gesamtausgaben der öffentlichen Haushalte, das trotz der bestehenden Bindungen und Verpflichtungen neu zugeordnet und finanziert werden muß. Das Föderale Konsolidierungsprogramm enthält die Lösung dieser Aufgabe.Unser finanzpolitisches Konzept ist vor allem ein Entwurf für mehr Wachstum und Beschäftigung in Ost und West. Mit einem Finanzausgleichsvolumen von 60 Milliarden DM für die jungen Bundesländer schaffen wir eine sichere Finanzierungs- und Planungsgrundlage für die Bewältigung staatlicher Aufgaben und für den infrastrukturellen Aufholprozeß.Unter Berücksichtigung der noch geringeren Zins-und Versorgungslasten der ostdeutschen Länder stehen dort ab 1995 gut 40 Milliarden DM jährlich für Investitionsausgaben zur Verfügung. Bezogen auf die Einwohnerzahl ist das fast das Doppelte, nämlich 180 % des Investitionsvolumens der westdeutschen Bundesländer!
Selbst wenn der Wert der vorhandenen Infrastruktur mit nur 30 % des Westniveaus angenommen wird, ist bei dieser Finanzausstattung eine Angleichung an das westliche Niveau in einem Zeitraum von weniger als zehn Jahren möglich.Die Förderung der privaten Investitionen haben wir für die Jahre 1993 und 1994 noch einmal entscheidend verbessert. Durch den Bundeshaushalt 1993 und den heute ebenfalls zur Beratung anstehenden Nachtragshaushalt werden u. a. die folgenden Maßnahmen verwirklicht: erhöhte Investitionszulage für den industriellen Mittelstand; Aufstockung der Wohnungsmodernisierungsprogramme auf 30 Milliarden DM; Aufstockung der Gemeinschaftsaufgabe „Regionale Wirtschaftsförderung"; Verbesserung der kommunalen Infrastruktur; zusätzliche Verpflichtungsermächtigungen für Zinszuschüsse an das ERP-Sondervermögen; Verbesserung der Konditionen des Eigenkapitalhilfeprogramms.Seit der Vorlage des Regierungsentwurfs zum Bundeshaushalt 1993 wurden zusätzliche Ausgaben und Verpflichtungsermächtigungen von annähernd 10 Milliarden DM für die östlichen Bundesländer zur Verfügung gestellt. Die Beschlüsse von Erfurt und Leipzig sind inzwischen weitgehend — in 18 Punkten — verwirklicht worden. Noch mehr zu fordern wäre gesamtwirtschaftlich, finanzpolitisch und auch psychologisch falsch.
Das Föderale Konsolidierungsprogramm ist eingebettet in eine umfassende Wachstumsstrategie, die wir auch in Abstimmung mit unseren internationalen Partnern für die Beschäftigten und Arbeitslosen mit allem Nachdruck verwirklichen werden. Begrenzung der Staatsausgaben, schrittweise Rückführung der öffentlichen Defizite und wachstumsfördernde Anpassung der Steuerstrukturen sind das A und O jeder
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. März 1993 12445
Bundesminister Dr. Theodor Waigelmittelfristigen Finanzkonzeption und Wachstumskonzeption.
Wir können beim Staatsanteil sowie bei der Steuer- und Abgabenquote nicht rücksichtslos draufsatteln. Wir dürfen private Einkommen, betriebliche Erträge und Ersparnisse nicht immer weiter einschränken, wenn wir auch 1994, 1995 und darüber hinaus zur Spitzengruppe der Industrieländer gehören wollen.Das im Föderalen Konsolidierungsprogramm vorgesehene Sparvolumen erreicht — einschließlich der Haushaltsentlastungen durch weiterhin moderate Tarifabschlüsse im öffentlichen Dienst — bis 1995 einen Jahresbetrag von rund 30 Milliarden DM. Nur vor dem Hintergrund dieser großen Sparanstrengungen sind begrenzte Steuererhöhungen — 1994 zur Finanzierung grundlegender Verkehrsreformen, 1995 als Beitrag zur Erblastenbewältigung und das, was wir im Jahr 1993 bereits beschlossen haben — gerechtfertigt.Unsere Steuervorschläge nehmen — was Zeitpunkt und Umfang angeht — Rücksicht auf die labile Konjunkturlage im Jahr 1993. Davon kann bei den von der SPD vorgelegten Alternativen keine Rede sein. Schon 1993 soll danach die Steuerlast zusätzlich um 6 Milliarden DM, 1994 sogar um über 20 Milliarden DM ansteigen.
— Herr Kollege Klose, ich habe eben gesagt, was wir tun müssen.
— Wir haben 1991 die Verbrauchsteuern erhöht. Wir haben einen Solidaritätszuschlag eingeführt. Das ist wahr. Das war auch nicht unproblematisch; kein Zweifel. Aber es war unumgänglich.Aber wenn aus Ihren Reihen jetzt der Vorwurf kommt, wir hätten die Steuern 1991 und 1992 erhöht, und von Ihnen gleichzeitig eine noch weitaus höhere Steuererhöhung gefordert wird — an der Grenze dessen, was diese Konjunktur überhaupt verträgt —:
Herr Kollege Klose, da verstehe ich den Sinn Ihres Zwischenrufes schlichtweg nicht.
— Natürlich haben wir die Mehrwertsteuer erhöht. Es gab auch ein SPD-regiertes Land, das dem zugestimmt hat. Bisher haben alle SPD-Länder die Mehrwertsteuererhöhung, die ihnen zugute gekommen ist— wir haben sie ja an die jungen Bundesländer weitergeleitet —, auch angenommen.
Es war doch, wie ich meine, die richtige Entscheidung.
Ich wundere mich nur über eines: daß Herr Lafontaine vor einem Jahr, als wir über das Finanzpaket gesprochen haben, erhebliche konjunkturelle Bedenken angemeldet hat — sowohl was die Mehrwertsteuer anbelangt, als auch was eine eventuelle Ergänzungsabgabe anbelangt — und daß derselbe Mann mit seinen Freunden jetzt, wo die Konjunktur viel problematischer ist, keine Bedenken mehr hat. So oft kann man die Meinung gar nicht ändern, wie sich der konjunkturpolitische In- und Output bei Herrn Lafontaine ändert.
Gleichzeitig geht das SPD-Konzept bei der öffentlichen Kreditaufnahme um bis zu 10 Milliarden DM über die Projektion der Bundesregierung hinaus. Ihr früherer Bundeskanzler Helmut Schmidt hat Ihnen noch in der letzten Woche in der „Zeit" zugerufen: „Hände weg von der Steuerschraube!"
— Ich höre immer auf ihn; ich besuche ihn sogar bisweilen, Herr Klose. Warum auch nicht? Besuche bilden.
— Bei Ihnen nützt nichts mehr.Herr Kollege Klose, Sie kommen ja aus Hamburg, und ich nehme an, Sie fahren dann und wann dorthin. Besuchen Sie ihn jetzt. Ich glaube, er kann Ihnen für die Steuerpolitik einen Ratschlag geben. Rufen Sie ihn noch vor der Klausurtagung an. Es kann nur helfen.
Weder finanzpolitisch noch gesamtwirtschaftlich lassen sich drastische Ausgabeneinsparungen durch Steuererhöhungen ersetzen. Ich bin in diesem Zusammenhang insbesondere Manfred Rommel und auch dem Deutschen Städte- und Gemeindebund für ihre bekundete Bereitschaft zur Mitwirkung an der notwendigen Konsolidierungsaufgabe dankbar. Allerdings müssen auch hier den Worten noch Taten folgen.„Die Zeiten der erfüllbaren Wünsche und verteilbaren Wohltaten sind endgültig von Zeiten des Teilens und des Verzichts abgelöst worden." Diese wohlgesetzten Worte der Kollegin Simonis kann ich nur dreimal unterstreichen. Aber wer wie Frau Simonis und Ministerpräsident Engholm zwar Verzicht predigt, gleichzeitig aber unvermeidbare Kürzungen als Schweinereien und Ferkeleien brandmarkt, ist unglaubwürdig.
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12446 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. März 1993
Bundesminister Dr. Theodor WaigelMeine Damen und Herren, was ist das eigentlich für eine Sprache, wenn man die unabdingbare Anpassung an die neuen Gegebenheiten, wenn man das, was in allen Ländern um uns herum stattfindet, in Deutschland als politische Schweinerei bezeichnet? Man mag eine andere Meinung haben, nur, auch Sie kommen doch nicht umhin, solche Kürzungen durchzuführen. Wir können doch gar nicht durch Steuer- und Abgabenerhöhungen alles lösen. Vielmehr ist es die unabdingbare Voraussetzung, um die Haushalte an die gesamtwirtschaftlichen Erfordernisse anzupassen. Das sind keine Schweinereien.
Unser Föderales Konsolidierungsprogramm setzt auf klare Rückführung der Defizite in allen Bereichen der öffentlichen Haushalte. 1993 wird die öffentliche Verschuldung in unmittelbarer Reaktion auf die konjunkturbedingten Einnahmeausfälle noch einmal um die notwendigen zusätzlichen Mittel für den Arbeitsmarkt zunehmen. Das ist konjunkturpolitisch richtig und angemessen. Aber schon 1995 kann die Neuverschuldung aller öffentlichen Haushalte einschließlich Bahn, Kreditabwicklungsfonds, Fonds Deutsche Einheit und Treuhandanstalt auf eine Größenordnung von gut 100 Milliarden DM reduziert werden.Im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt bedeutet das eine Rückführung der Kreditfinanzierungsquote von jetzt rund 4,5 % auf rund 3 %. Rechnet man die Kreditaufnahme von Bahn und Treuhandanstalt mit ein, ergibt sich bis 1995 nahezu eine Halbierung der Kapitalmarktbeanspruchung. Damit schaffen wir genau den Finanzierungsspielraum, den der Aufschwung ab 1994 braucht. Damit schaffen wir die Voraussetzungen, die im internationalen Bereich, in Europa und im Bereich der G 7, so wichtig sind und die natürlich auch für die Bundesbank und ihre Entscheidungen eine wichtige Voraussetzung sind.Eine Voraussetzung für den wirtschafts- und finanzpolitischen Erfolg unseres Anpassungskonzepts ist die gleichmäßige Verteilung der Lasten. Nach unserem Konzept teilt sich die Belastung in etwa wie folgt: rund 40 Milliarden DM Einsparungen und begrenzte Steuererhöhungen, auch in Form eines Solidaritätszuschlages; rund 40 Milliarden DM Nettobelastung des Bundes; rund 30 Milliarden DM Nettobelastung der Länder und Gemeinden im Westen; im Bereich der westlichen Länder sollen die Finanzierungsbeiträge gerecht verteilt werden.Die Umstellung auf den neuen Finanzausgleich wird durch Bundeshilfen erleichtert. So wird für eine Übergangszeit von fünf Jahren eine besondere Übergangs-Bundesergänzungszuweisung für finanzschwache Westländer wirksam.Das Föderale Konsolidierungsprogramm ist ein faires Angebot, das jeden erheblich fordert, aber niemanden überfordert. Der Bund trägt dabei eine fast doppelt so hohe Kreditfinanzierungslast wie die westlichen Länder und Gemeinden.Nun klagen die Länder, sie würden durch das Föderale Konsolidierungsprogramm stranguliert. Durch das Föderale Konsolidierungsprogramm, die weitergehenden Einsparvorschläge und die vernünftigen Tarifabschlüsse im öffentlichen Dienst ist derAusgleich für die zusätzlichen Finanzausgleichsleistungen erreichbar.Die unvermeidlichen Ausgabekürzungen und die begrenzten Steuererhöhungen sind leistungsgerecht und sozial ausgewogen auf die verschiedenen Einkommensschichten und sozialen Gruppen verteilt. So entfällt auf die Steuerpflichtigen mit einem Gesamtbetrag der Einkünfte von über 100 000 DM ein Lastenanteil von fast 40 %. Die Progressivität der Einkommensteuer sorgt für ein weiteres Anwachsen dieses Anteils, wie das Ifo-Institut erst kürzlich wieder deutlich gemacht hat.Entgegen einer immer wieder vorgetragenen Kritik trägt die Gesamtheit der Steuerzahler und tragen die Betriebe in erheblichem Umfang zur Deckung der hohen Sozialtransfers in die jungen Bundesländer bei. Der vor allem durch Steuern finanzierte Bundeshaushalt enthält 1993 rund 27 Milliarden DM an Sozialausgaben für das Beitrittsgebiet. Über ihren Anteil an den Abgaben sind auch die Selbständigen und Betriebe an der Finanzierung des Sozialtransfers beteiligt. Die Beamten erbringen ihr solidarisches Opfer durch eine um vier Monate verzögerte Anpassung an Löhne und Gehälter.Wenn wir uns allerdings bei künftigen Steuer- und Abgabebeschlüssen gegen Leistung und Investitionen entscheiden, werden wir sehr schnell mit leeren Händen dastehen. Dann geht es nicht mehr um eine Gerechtigkeitslücke, sondern um eine gewaltige Investitions- und Beschäftigungslücke, die nur sehr schwer wieder zu schließen ist.
In zwei wichtigen Punkten gibt es trotz der großen Abweichungen in Grundsatzpositionen schon weitgehende Übereinstimmung. Das Volumen der Gesamtaufgabe wird übereinstimmend mit rund 110 Milliarden DM beziffert. Auch beim Gesamtbetrag der für die jungen Bundesländer vorgesehenen Finanztransfers — rund 60 Milliarden DM — sind Bund und Lander nicht weit auseinander.In anderen entscheidenden Punkten sind die Vorschläge der SPD, aber auch die Beschlüsse von Potsdam unakzeptabel und sogar verfassungswidrig. Der fragile Kompromiß von Potsdam beruht — das zeigt in seltener Einmütigkeit auch das Presseecho — auf einem Übereinkommen zu Lasten Dritter, nämlich des Bundes. Tatsächlich ist es nach dem Verständnis etlicher Beteiligter der Kompromiß zu Lasten Vierter, nämlich der Steuer- und Abgabenzahler.Artikel 106 Abs. 3 Nr. 2 des Grundgesetzes bestimmt eindeutig: „Die Deckungsbedürfnisse des Bundes und der Länder sind so aufeinander abzustimmen, daß ein billiger Ausgleich erzielt, eine Überbelastung der Steuerpflichtigen vermieden und die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet gewahrt wird." Finanzausgleichsmodelle, in denen der Bund rund 90 % der Zusatzbelastung trägt, stehen in krassem Widerspruch zu dieser Verfassungsnorm.
Es ist weder verfassungsrechtlich noch finanzpolitisch, noch gesamtwirtschaftlich hinnehmbar, wenn
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. März 1993 12447
Bundesminister Dr. Theodor Waigeldem Bundeshaushalt Defizite von 90 bis 120 Milliarden DM zugemutet werden, während Länder und Gemeinden im Westen bei gleicher Ausgabensteigerungsrate wie der Bund sogar Überschüsse erreichen könnten oder jedenfalls kaum Defizite hinnehmen müßten. Auch der Vorschlag, praktisch den kompletten horizontalen Finanzausgleich durch Ausgleichsleistungen des Bundes bei der Umsatzsteuer zu dekken, kann nicht ganz ernst gemeint sein. Schließlich ist auch der Versuch, eine Kompromißlinie von vornherein durch extreme, jenseits aller denkbaren Möglichkeiten liegende Forderungen im eigenen Sinne zu beeinflussen, nicht hinnehmbar.Eine so umfassende Finanzvorlage mit tiefgreifender Auswirkung in allen Bereichen der öffentlichen Haushalte, des Finanzausgleichs und der Steuergesetzgebung ruft unweigerlich auch Widerspruch hervor. Aber die Grundlinien unseres Konzepts haben eine breite Zustimmung gefunden.Mitentscheidend für die Überwindung der Rezession ist vor allem die positive Aufnahme durch die Finanzmärkte und durch die Deutsche Bundesbank. Im Anschluß an die Koalitionsbeschlüsse hat die Bundesbank nicht nur den Lombard- und Diskontsatz ermäßigt, sondern zuletzt die Geldmarktsätze erneut nach unten geführt. Bei den langfristigen Zinsen, dem entscheidenden Indikator mittelfristiger Stabilitätserwartungen, war in den letzten Wochen ein kaum erwarteter Rückgang zu verzeichnen. Mit 6,5 % liegen die Renditen der langfristigen Anlagen in etwa wieder auf dem Stand von Anfang 1989, also vor der Wiedervereinigung und ihren wirtschafts- und finanzpolitischen Konsequenzen.Der Deutsche Industrie- und Handelstag hat das Förderalel Konsolidierungsprogramm als mutigen Schritt begrüßt. Der Währungsausschuß der Europäischen Gemeinschaft und der Rat der EG-Wirtschafts- und Finanzminister haben die deutsche Finanzkonzeption positiv gewürdigt. Beim letzten informellen Treffen der G 7 in London haben mein neuer amerikanischer Kollege Lloyd Bentsen und die Finanzminister aus den anderen fünf führenden Industrieländern uns nachdrücklich aufgefordert, am eingeschlagenen Kurs festzuhalten und so unseren internationalen Beitrag zu Stabilität und Wachstum zu leisten.Meine Damen und Herren, wir stehen unter Einigungszwang. Wir wollen die Ergebnisse schon bei der Klausurtagung, die morgen beginnt. Der Kabinettsbeschluß in der letzten Woche und die heutige Einbringung der Gesetzesvorlagen stellen die notwendigen Verhandlungen mit den Ländern nicht in Frage. Ich habe keine besondere Vorliebe für mitternächtliche Vermittlungsausschußverfahren; ich glaube, diese Liebe teile ich mit allen anderen in diesem Haus. Uns geht es ausschließlich um eine möglichst zügige Beschlußfassung. Modifikationen und Kompromisse können ohne weiteres im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens berücksichtigt werden.Ich will keine Schreckensszenarien an die Wand malen. Aber wenn wir vor der Aufgabe und der Verantwortung zurückschrecken, könnten im Hinblick auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung unddie innere Stabilität unserer föderalen Demokratie beachtliche Gefahren entstehen.
Sowohl die kurzfristige Aufgabe der Konjunkturstabilisierung als auch die längerfristige Aufgabe der Wachstumssicherung in Ost und West sind keine Selbstläufer. Auch die dringend erwartete und für das Jahresende prognostizierte Wende beim Export reicht bei falschen Weichenstellungen im Inland nicht aus, um den Wiederaufschwung sicherzustellen. Schon einmal, 1981, haben sich entsprechende Hoffnungen als verfrüht und falsch erwiesen, weil die Reformbereitschaft fehlte.Diejenigen, die morgen am Tisch sitzen, tragen die Verantwortung für die Beschäftigung Hunderttausender, wenn nicht von Millionen. Wir tragen die Verantwortung für das Zusammenwachsen Deutschlands. Wir tragen auch die Verantwortung für unseren internationalen Beitrag zu Stabilität, Zusammenarbeit und Solidarität.Wir können die Augen nicht vor der Verunsicherung der Bürger und Wähler verschließen. Die Ergebnisse der Kommunalwahl vom letzten Wochenende können weder Regierung noch Opposition unbeeindruckt lassen. Jenseits allen demokratischen Diskussionsbedarfs in einer pluralistischen Gesellschaft brauchen die Menschen im Osten und im Westen klare Orientierung, feste Entscheidungen und gesicherte Zukunftsperspektiven. Wenn wir dieses Elementarbedürfnis nicht befriedigen, wird der eigentlich substanzlose Radikalismus am rechten und linken Flügel verstärkt aufwachsen und unserem Land national und international schweren Schaden zufügen.Noch haben wir jede Möglichkeit. Wir kennen die Alternativen. Bei rechtzeitiger Einsicht und Selbstbeschränkung, bei Auflösung der Verteilungskonflikte sind finanzielle und ökonomische Stabilität, sind Prosperität und zunehmende Beschäftigung so gut wie sicher. Die erfolgreichen 80er Jahre sind hierfür der eindeutige Beleg. Wir wissen aber auch, wie schwer es ist, aus einmal geknüpften Verstrickungen durch ungelöste Verteilungskonflikte wieder herauszukommen.Deutschland hat in den letzten 45 Jahren immer wieder den richtigen Weg gewählt. Die klare Entscheidung für die freie Welt, das Bekenntnis zu Europa, die Einführung der Sozialen Marktwirtschaft, der klare Entschluß zur schnellstmöglichen Wiedervereinigung —jedesmal gab es keine wirkliche Alternative. Auch heute gibt es keine andere Chance als die, sich für das vereinte Deutschland zu entscheiden.Das Verhalten der Politiker, die Entscheidungen der Verantwortlichen bei Bund, Ländern und Gemeinden sind beispielgebend. Nur wenn die Verteilungskonflikte im staatlichen Bereich gelöst werden, kann von Tarifpartnern, von Interessengruppen und von jedem einzelnen Bürger Verzichtsbereitschaft und Einsicht erwartet werden.
Der amerikanische Präsident Roosevelt hat einmal formuliert: „Die einzigen Grenzen bei der Verwirkli-
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12448 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. März 1993
Bundesminister Dr. Theodor Waigelchung unseres Morgen sind unsere Zweifel am Heute." Schütteln wir alle Zweifel ab, gehen wir gemeinsam einen wichtigen Schritt voran, damit das Geschenk der deutschen Einheit zu einem Gewinn für Deutschland und für Europa wird!Ich danke Ihnen.
Es spricht jetzt der Kollege Hans-Ulrich Klose.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich beginne mit einem Zitat:Die deutsche Wirtschaft braucht endlich Klarheit. Die bisherige Situation ist tödlich für Investoren. Das muß aufhören.Worte von Graf Lambsdorff, gesprochen Ende Februar. Ich stimme ihnen zu.
Ich ergänze: Aufhören muß das dauernde Gerede über Handlungsbedarf. Es muß endlich gehandelt werden.
— Seien Sie vorsichtig mit dem Klatschen, sonst spekulieren die da oben auf der Pressetribüne wieder mit der Großen Koalition.
— Sie sind ja ein kluger Mensch.
Die Aufgaben sind klar. Erstens. Die deutsche Wirtschaft durchläuft derzeit eine Krise, die nicht mehr nur konjunkturell begründet ist. Es handelt sich um eine Strukturkrise. Deren Lösung müßte das zentrale Anliegen der Regierung sein, ist es aber schon deshalb nicht, weil der neue Wirtschaftsminister offenbar entschlossen ist, nichts zu tun. Wirtschaft findet statt in der Wirtschaft, hat er gesagt;
ideologisches Kredo liberaler Wirtschaftspolitik, die die Probleme lediglich registriert, statt sie zu lösen.
Wie so einer mit dieser Haltung die Stahlkrise bewältigen und den Stahlkochern in Duisburg-Rheinhausen Hoffnung machen will, ist mir ein Rätsel. Aber wahrscheinlich will er das gar nicht.
Zweitens. Die Lebensverhältnisse in Deutschland zeichnen sich aus durch west-östliche Gespaltenheit und Instabilität. Die Verarmungsprozesse, die wir imWesten seit etwa einem Jahrzehnt schleichend und heute überfallartig in besonderer Ausprägung im Osten der Republik erleben, schreiten fort und verschärfen die vorherrschende soziale Unzufriedenheit und politische Unsicherheit.Die Zahl der Sozialhilfeempfänger hat sich von 1982 bis 1992 verdreifacht. Eine überproportional hohe Zahl von Kindern und Jugendlichen lebt in Haushalten, die auf Sozialhilfe angewiesen sind — eine erschreckende Bilanz, Ihre Bilanz, Herr Bundeskanzler.
Drittens. Die tatsächliche Unfähigkeit der Regierung, die Probleme zu erkennen und zu lösen, ist der eigentliche Grund für das negative Urteil der Bevölkerung über Politiker. Noch trifft diese Kritik nur die Politik und nicht das System. Was aber, wenn mit dem Glauben an die Poltiker auch der Glaube an die Demokratie schwindet? Ist es völlig abwegig, bestimmte Aspekte des hessischen Kommunalwahlergebnisses so zu deuten? Wir müssen sie so deuten, kritisch und selbstkritisch.Viertens. Das Gerede über die gewachsene außenpolitische Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland kontrastiert auffällig mit der Dürftigkeit außen- und sicherheitspolitischer Entwürfe. Wenn am Ende die Frage der außenpolitischen Glaubwürdigkeit Deutschlands an seiner Bereitschaft zur militärischen Intervention gemessen und die Stärke der Bundeswehr ausschließlich haushaltsmäßig definiert werden, dann haben sowohl der Außenminister wie auch der Verteidigungsminister Anlaß, über ihren Verbleib in dieser Regierung nachzudenken.
In dieser Situation, die — ich wiederhole es — gekennzeichnet ist durch Gespaltenheit und Unsicherheit,
wird seit einem halben Jahr über einen Solidarpakt geredet, bei dem es nach allem, was wir bisher gehört, gelesen und miterlebt haben, aber gar nicht um Solidarität, sondern um Finanzen und Finanzverteilung geht.
Der Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt, Werner Münch, hat es gerade heute morgen in einem Interview mit der „BZ" bestätigt, indem er sagte — ich zitiere ihn wörtlich —:Der Solidarpakt Ost ist bisher ein Haushaltskonsolidierungsprogramm West.Recht hat er.
Meine Damen und Herren, es wäre zum Lachen, wenn es nicht zum Weinen wäre. Die deutsche Einheit, dieser Glücksfall der deutschen Geschichte, wird heruntergeredet auf das Niveau von Haushaltskungelei:
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. März 1993 12449
Hans-Ulrich KloseWer bekommt was, wer zahlt wieviel, und wie verpakken wir das alles, damit die Wahrheit nicht offenbar wird, daß nämlich Solidarität ohne Opferbereitschaft der vielen nicht funktioniert?
Diese Wahrheit konnte und wollte der Herr Bundeskanzler den Westdeutschen nicht zumuten. Genau das ist der Kern des Problems. Das wissen Sie auch, meine Damen und Herren von der Koalition. Im persönlichen Gespräch sind Sie nämlich sehr wohl bereit zuzugeben, daß Ihre Aussage vor der Bundestagswahl 1990 „keine Steuererhöhungen" falsch war — und ja auch korrigiert werden mußte —
und daß der Wegfall des Solidaritätszuschlags durch nichts anderes begründet war als durch Ihre Angst, einmal mehr bei einer Steuerlüge ertappt zu werden.
Dies, Herr Bundeskanzler, ist die Wahrheit. Wenn Sie jetzt mit uns über einen Solidarpakt verhandeln wollen, dann sollten Sie sich endlich dazu durchringen, den Menschen die Wahrheit zu sagen. Die Wahrheit lautet: Die Schwierigkeiten, in denen wir stecken, die Herausforderungen, vor die wir uns gestellt sehen, sind ohne eine Kraftanstrengung aller, sind ohne Einschnitte und ohne Opfer nicht zu meistern. — Diese Wahrheit ist bitter, aber es ist die Wahrheit, und mit dem Aussprechen der Wahrheit sollten Sie beginnen.
Daß Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, sich dazu bis heute nicht oder nur schwer durchringen können, zeigen allein schon Ihre Versuche, die Wahrheit semantisch zu vertuschen. Zwei Kunstgriffe sind offensichtlich.Da die finanziellen Probleme ja nicht mehr zu leugnen sind, muß jedenfalls der Eindruck erweckt werden, daß andere für das Zustandekommen dieser Probleme verantwortlich sind.
Daher die Begriffe „Erblast" oder „Erblastfonds", womit doch gesagt werden soll, Sie von der Koalition hätten all diese Probleme nur geerbt, seien also für deren Entstehung nicht verantwortlich. Das ist freilich nur ein Teil der Wahrheit.
Den anderen Teil der Wahrheit, nämlich daß Sie die finanziellen und ökologischen Probleme durch die unwahrhaftige und unsolide Kreditfinanzierung der deutschen Einheit verschärft haben, daß Sie den Prozeß des Wiederaufbaus durch die falsche Eigentumsregelung verhindert haben,
daß Sie den Verlust von Arbeitsplätzen mitverursachthaben, weil Sie zumindest in der schwierigen Anfangsphase keinerlei Anstrengungen unternommenhaben, um den ostdeutschen Unternehmen auf dem Weg in die Marktwirtschaft zu helfen, vertuschen Sie durch die Verwendung des Wortes „Erblast".
Das ist genauso, wie Sie sich auch bis heute nicht trauen, von notwendigen Steuerhöhungen zu reden. Bei Ihnen heißt das „Einnahmeverbesserungen". Sie verbessern die Einnahmen, und wir Sozialdemokraten erhöhen die Steuern. Diese Sprachregelung hätten Sie gern. Aber ich sage Ihnen: Dies ist nicht die Sprache der Wahrheit, sondern dies ist die Sprache der Manipulation.
Wir Sozialdemokraten reden nicht drum herum.
Wir halten Steuererhöhungen für unvermeidlich, wenn nicht nur die Finanzierung der deutschen Einheit gesichert, sondern diese Einheit auch positiv gestaltet werden soll. Es geht um Arbeitsplätze, um Wohnungen, um soziale Sicherheit und um Umweltschutz. Darum geht es in ganz Deutschland und vor allem in Ostdeutschland.
Deshalb fordern wir ein ökologisch orientiertes Zukunftsinvestitionsprogramm für die ostdeutschen Länder; wir fordern ein zusätzliches Wohnungsbauprogramm für Ost und West; wir fordern den Erhalt der noch vorhandenen industriellen Arbeitsplätze im Osten; wir fordern Vermarktungshilfen für ostdeutsche Produkte; wir fordern arbeitsmarktpolitische Maßnahmen und deren Verstetigung zur Milderung der hohen Arbeitslosigkeit vor allem im Osten der Bundesrepublik Deutschland.
Wir Sozialdemokraten wissen, daß diese zusätzlichen Maßnahmen und die Finanzierung der schon entstandenen Kosten der deutschen Einheit viel Geld kosten, daß schwierige Entscheidungen zu treffen sind. Wir sind auch als Oppositionspartei bereit, die notwendigen Entscheidungen mitzutragen.
Wir wissen, daß gespart werden muß, und wir wissen, daß die Steuern erhöht werden müssen. Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, wissen das auch. Nur sind Sie ganz offensichtlich nicht in der Lage, die notwendigen Entscheidungen zu treffen. Dazu reicht die Einigungskraft in der Koalition wohl nicht mehr aus. Wenn nach langem Hin und Her dann endlich doch einmal eine Entscheidung getroffen wird, dann wird diese in einer Art von politischem Possenspiel umgehend wieder einkassiert, wie jüngst geschehen.
Nicht wir, Herr Bundeskanzler, verweigern uns, sondern Ihre eigene Fraktion tut das, und zwar mit
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12450 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. März 1993
Hans-Ulrich Kloseeiner Unbekümmertheit, die unsereinen, der ja auch mancherlei gewöhnt ist, nur staunen läßt.
Sie erinnern sich vielleicht, Herr Bundeskanzler, daß wir Sozialdemokraten von Anfang an unsere Bereitschaft erklärt haben, Mitverantwortung für die Gestaltung der deutschen Einheit zu übernehmen.
Sie haben dieses Angebot nicht nur einmal, sondern dreimal zurückgewiesen.
Jetzt, da Sie nicht mehr weiterwissen, verlangen Sie, wir sollten ganz schnell an Bord kommen und ja und amen sagen zu allem, was Sie vorschlagen, wobei bis heute nicht völlig klar ist, wozu wir eigentlich ja sagen sollen. Das ändert sich ja von einem Tag auf den anderen.
Auch das, was Sie heute vorlegen, wird die nächsten Tage nicht überstehen.
Nein, Herr Bundeskanzler, wir verweigern uns nicht. Wir wollen einen Solidarpakt, der diesen Namen verdient. Aber wir sind nicht bereit, jeden Unsinn durch unsere Zustimmung zu sanktionieren.
Um es noch einmal im Klartext zu sagen: Die SPD-Bundestagsfraktion wird in Zeiten zunehmender Verarmungsprozesse, wachsender Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot Kürzungen bei der Sozialhilfe und bei Arbeitslosengeld und -hilfe nicht zustimmen.
Und kommen Sie uns, meine Damen und Herren von der Koalition, bitte nicht mit dem Argument, daß die Sozialhilfe schon deshalb abgesenkt werden müsse, weil es sich sonst nicht mehr lohne, zu arbeiten. Es mag ja richtig sein,
daß der Postzusteller mit Frau und zwei Kindern nur unwesentlich mehr durch Arbeit verdient,
als der Sozialhilfeempfänger für seine Familie mit drei oder vier Kindern an Unterstützung erhält. Das mag ja so sein. Aber wenn es so ist, dann sollten Sie schleunigst über die Einkommenssituation in den unteren Gehaltsgruppen des öffentlichen Dienstes nachdenken.
Dann sollten Sie darüber nachdenken, wie diesegeringen Einkommen durch steuerliche Entlastungerhöht werden können. Das Problem aber durch Absenkung der Sozialhilfe zu lösen, wie es wohl auch der Familienministerin vorschwebt, das jedenfalls machen wir schon deshalb nicht mit, weil Solidarität auf diese Art und Weise zerstört und die Spaltung der Gesellschaft vertikal und horizontal verschärft wird. Was hat das alles noch mit Solidarität zu tun?!
Herr Bundeskanzler, Sie sagen bei jeder passenden oder auch unpassenden Gelegenheit, Leistung müsse sich wieder lohnen, und ich widerspreche Ihnen gar nicht. Aber ich widerspreche entschieden, wenn diese Leistungsgesellschaft mit konservativer Hilfe zur Ellenbogengesellschaft verkommt, in der das Prinzip der Rücksichtslosigkeit faktisch Vorrang vor dem Prinzip der sozialen Gerechtigkeit hat.
Ich kann Ihnen nur einmal mehr dringend raten, die bestehende soziale Schieflage bei der Finanzierung der deutschen Einheit zu beseitigen. Leider enthalten Ihre Vorschläge dazu nichts. Im Gegenteil: Die Einschnitte im sozialen Bereich verschärfen diese Schieflage.
Dies muß, wenn Sie unsere Zustimmung wollen, geändert werden: sei es durch Einführung einer Arbeitsmarktabgabe, sei es durch Wiedereinführung des Solidaritätszuschlags in der von uns vorgeschlagenen Form der Ergänzungsabgabe, also unter Schonung der unteren Einkommensgruppen.
Wir schlagen beides vor, wohl wissend, daß diese Vorschläge keine Begeisterungsstürme auslösen; das erwarten wir auch gar nicht. Die Bevölkerung aber kann von der Politik erwarten, daß sie die für alle erkennbaren Probleme nicht nur analysiert, sondern auch anpackt. Und anders als Sie glauben wir, daß die Bevölkerung bereit ist, notwendige Belastungen zu akzeptieren, wenn sie das Gefühl haben kann, daß es bei der Verteilung der Belastungen gerecht zugeht, und gesagt wird, wofür die Mehreinnahme verwendet werden soll. Wahrheit, Klarheit, Gerechtigkeit — darum geht es. Ohne Gerechtigkeit gibt es keine Solidarität!
Von notwendigen Steuererhöhungen, Herr Bundeskanzler, reden auch Sie. Aber Sie wollen sie auf später verschieben, weil sie heute nicht in die konjunkturelle Landschaft passen.
Das ist immerhin ein Argument.
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Hans-Ulrich KloseAber seit wann ist es ein Argument, daß Sie, Herr Bundeskanzler, wirklich bekümmert?Bei den Steuererhöhungen der vergangenen zweieinhalb Jahre haben Sie dieses Argument stets mit leichter Hand beiseite geschoben, zuletzt bei der Erhöhung der Mehrwertsteuer. Diese Steuererhöhungen — sozial ungerecht wie jede Verbrauchsteuererhöhung — haben der Konjunktur geschadet. Und es schadet der Wirtschaft heute — insofern haben Sie, Graf Lambsdorff, wahrlich recht —, wenn über die Finanzierung der deutschen Einheit, über Steuererhöhungen jetzt oder später, monatelang gerätselt oder gekungelt wird.Die Wirtschaft weiß sehr wohl, daß wir uns in einer außerordentlichen finanziellen Belastungssituation befinden. Sie weiß, daß Steuererhöhungen unvermeidlich sind. Sie wünscht und braucht aber Klarheit, wohin die Reise gehen soll. Verläßliche Daten sind gefragt, nicht Schönheitsoperationen à la Standortsicherungsgesetz.
Die Spitzensteuersätze abzusenken und zugleich die Abschreibungsbedingungen zu verschlechtern — das mag Ihr Beitrag zur Wirtschaftspolitik sein.
Wir halten diesen Weg — gerade in der jetzigen Wirtschaftslage — für falsch und kontraproduktiv. Dann wäre es allemal besser, die angekündigte Senkung der Unternehmensbesteuerung um zwei oder drei Jahre zu verschieben, sie dann aber so zu realisieren, daß der angestrebte ökonomische Effekt, die Verbesserung der Investitionskraft der Unternehmen, auch eintritt.Die Wirtschaft weiß, daß finanzielle Entlastungen jetzt nicht möglich sind. Sie akzeptiert durchaus, daß besondere Anstrengungen unternommen werden müssen, um die Verhältnisse in Deutschland zum Besseren zu wenden und die Finanzen zu ordnen. Darauf, Herr Bundeskanzler, sollten Sie sich konzentrieren, statt in Pressekonferenzen Haifisch zu spielen.
Nicht Kraftmeierei, sondern solide Arbeit ist gefragt. Was uns heute vorgestellt worden ist, verdient diese Charakterisierung nicht. Der Nachtragshaushalt plus Beiwerk ist weder solide, noch zeugt er von der notwendigen politischen Kraft für einen Neuanfang.
Ich erlaube mir, Herrn Barbier — kein Sozialdemokrat — zu zitieren:Es geht um das Geld der Bürger, um das Schicksal von Millionen von Arbeitnehmern und um die Robustheit und die Innovationskraft der Unternehmen.
Das ist kein Stoff für Kaspereien und Intrigen. Wie gesagt, Worte von Herrn Barbier, kein Sozialdemokrat.Meine Damen und Herren, wer mich kennt, weiß: Ich bin keiner, der dauernd von nationalen oder patriotischen Aufgaben redet. Aber bei der Gestaltung der deutschen Einheit handelt es sich um eine nationale Aufgabe. Und weil das so ist, muß Schluß sein mit Kaspereien und Intrigen. Es muß endlich gehandelt werden!
Als nächster spricht der Kollege Hermann Otto Solms,
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das war ein unbekannter Klose, den wir hier gehört haben.
Ich frage mich: Woher der plötzliche Verbalradikalismus, der gar nicht zu ihm paßt?
Liegt das daran, Herr Klose, daß Sie stellvertretend für Ihren Parteivorsitzenden Engholm, der hier ursprünglich auftreten wollte, sprechen mußten?
— Sicherlich, da gibt es einiges abzulenken; das stimmt. — Oder liegt es an der bevorstehenden Wahl des Fraktionsvorstandes der SPD?
Wenn wir dieses Spiel fortsetzen würden, tun wir, glaube ich, nicht das, was die Bürger von uns erwarten.
Sie erwarten von uns keine Polemik und keine Kampfparolen aus den Zeiten des Klassenkampfes,
sondern sie erwarten von uns sachorientierte Lösungen, Streit um die besseren Lösungen zugunsten der Bevölkerung in Deutschland.
Wenn Sie schon Herrn Münch zitieren, dann hätten Sie doch richtigstellen sollen,
daß wir gegenwärtig jedes Jahr einen Finanztransfervon West nach Ost von über 100 Milliarden DM
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12452 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. März 1993
Dr. Hermann Otto Solmsfinanzieren und daß das natürlich ein so ungeheuer großer solidarischer Beitrag zur Entwicklung im Osten ist, daß eine Klage darüber eine Unverschämtheit ist.
Meine Damen und Herren, in der wirtschaftspolitischen Analyse sind wir uns relativ einig — das hat die Rede von Herrn Klose gezeigt, und das hat letzte Woche auch die Rede von Herrn Biedenkopf gezeigt —, die Frage ist die Therapie. Nachdem ich mir Ihre Vorschläge angehört habe — Sie haben sie sehr schnell vorgetragen; ich habe nicht mehr alles im Ohr —, kann ich nur sagen: Das läuft darauf hinaus: mehr Staat, mehr Intervention, mehr Verschuldung, mehr Steuerbelastung.
Das ist nicht die Lösung, wenn wir die Wettbewerbsbedingungen in Deutschland verbessern wollen.
Ein großes Problem für die Lösung der anstehenden Fragen ist die politische Konstellation hier, und darüber müssen wir reden. Die Regierung verfügt über eine gesunde Mehrheit und kann im Bundestag Gesetze mit dieser Mehrheit verabschieden.
Die Opposition im Bundestag, die SPD, hat die Mehrheit im Bundesrat. Sie kann nicht so tun, als wäre sie nicht in der Verantwortung; sie muß alle Entscheidungen mitgestalten.
Dazu sind Sie aufgefordert. Wer das nicht tut, der wird die Verunsicherung bei den Bürgern weitertreiben; er wird die Politikverdrossenheit schüren. Genau das Gegenteil ist jetzt angezeigt.
Der Gesetzentwurf zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms und der Nachtragshaushalt sind die Antwort der Regierungskoalition auf die Herausforderungen, die sich uns gegenwärtig stellen. Beide Gesetze schaffen die finanz- und haushaltspolitischen Voraussetzungen für den wirtschaftlichen Aufholprozeß.Das Föderale Konsolidierungsprogramm wird der konjunkturellen Lage gerecht. Es schafft notwendige Planungssicherheit und Klarheit über zukünftige Belastungen. Es ist ein faires Verhandlungsangebot an die Ministerpräsidenten der Länder, mit denen wir ja morgen in die Gespräche eintreten wollen, um möglichst schnell den Solidarpakt verabschieden zu können.
Die Lander haben einen eigenen Vorschlag vorgelegt. — Im übrigen — das ist eine persönliche Randbemerkung — halte ich die Inszenierung der Konferenz der Ministerpräsidenten von Potsdam im Ceci-lienhof, sozusagen um den Sowjetstern herum, der da ja immer noch vorhanden ist, für eine historisch unangemessene Entscheidung.
Man muß doch daran erinnern, daß an dieser Stelle 1945 praktisch die Teilung Deutschlands beschlossen und vollzogen worden ist und die Unterjochung der mittel- und osteuropäischen Staaten durch Stalin sanktioniert worden ist.
Das ist, glaube ich, nicht der richtige Ort für solche Konferenzen. Weil über diesem Ort ein schlechter Geist herrscht, sind die Beschlüsse, die dabei herausgekommen sind, auch nicht sehr weise.
Die Ministerpräsidenten haben ihre Verantwortung, nämlich die für den Gesamtstaat, verletzt. Sie wollen ihre Landesprobleme einseitig auf Kosten des Bundes und schlußendlich auf Kosten des Steuerzahlers lösen.
Der Vorschlag der Länder würde den Bund ab 1995 brutto mit rund 100 Milliarden DM zusätzlich belasten. Damit hätte der Bund 90 % der Finanzierungslasten zu tragen. Der Anstieg des Defizits und der Zinslastquote würde damit unvertretbar hoch werden. Die dann notwendigen Steuererhöhungen müßten die Investitions- und Leistungsbereitschaft von Unternehmen und Beschäftigten erdrosseln.Herr Biedenkopf hat sich anläßlich der Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht wieder als exzellenter Analytiker erwiesen, der er ja bekanntermaßen ist; aber er ist uns vernünftige, realisierbare Therapievorschläge schuldig geblieben — wie Sie eben auch, Herr Klose.
Seine Ausführungen enden bei der Forderung: Mehr Geld für Sachsen! — Gut; das ist eine einfache Forderung; sie führt uns aber nicht weiter; denn wir müssen Sorge und Verantwortung für den Gesamtstaat tragen.
Der Ländervorschlag sorgt für eine unverhältnismäßig große Belastung des Bundes. Schon nach dem Föderalen Konsolidierungsprogramm ist die Belastung für den Bund sehr hoch. Das zeigt die hohe Kreditfinanzierungsquote, die sich daraus ergibt, nämlich mit 11,4 %, gegenüber der von den Ländern und Gemeinden mit 6 % bis 7 %.Trotz der unterschiedlichen Ausgangspositionen sind wir natürlich zu den Gesprächen mit den Ministerpräsidenten bereit. Wir wollen möglichst schnell zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen, damit Ruhe in der Diskussion eintritt, damit die Wirtschaft und alle, die davon abhängen, wissen, was die verläßlichen Rahmendaten sind;
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Dr. Hermann Otto Solmsdenn das ist eine der zentralen Voraussetzungen für einen gesteigerten Investitionsprozeß.Der Aufschwung Ost ist auf den Konjunkturmotor West angewiesen. Der Westen wiederum ist darauf angewiesen, daß im Osten auf Dauer ein sich selbst tragender Aufschwung in Gang kommt. Je länger der Anpassungsprozeß in den neuen Bundesländern dauert, um so höher werden die Kosten sein, nicht nur in Form höherer Haushaltsbelastungen, sondern auch in Form von Wachstumseinbußen.
Um den Aufbau zu beschleunigen, muß die Investitionsquote in den neuen Bundesländern steigen. Nur Investitionen können Arbeitsplätze und Wachstum schaffen. Darauf kommt es zentral an: Wie erreichen wir, daß mehr investiert wird?
Die Bundesregierung rechnet damit, daß wir über einen längeren Zeitraum jährlich 5 % unseres Bruttosozialprodukts für die neuen Bundesländer zur Verfügung stellen müssen. Der investive Anteil an diesen Mitteln muß wachsen. Finanziert werden müssen die Transfermittel in erster Linie durch Einsparungen an anderer Stelle. Steuererhöhungen wären in dieser konjunkturellen Situation Gift.
Meine Damen und Herren, man muß das immer wieder wiederholen, damit es auch in die Köpfe derjenigen eindringt, die glauben, sie könnten den leichten Weg über Steuererhöhungen gehen.Das bedeutet: Es gibt nichts zusätzlich zu verteilen. Ich kann nur das verteilen, was ich an anderer Stelle weggenommen habe. Eine solche Medizin ist natürlich bitter. Sie schmeckt niemandem. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, daß die Einsparvorschläge von seiten der SPD wie auch von den Ministerpräsidenten so bescheiden ausgefallen sind.
An Steuererhöhungsvorschlägen dagegen gibt es keinen Mangel.Ich kann an dieser Stelle nur noch einmal wiederholen: Eine Arbeitsmarktabgabe für Beamte und Selbständige darf und wird es mit uns nicht geben.
Die F.D.P. hält diese für verfassungs- und systemwidrig. Eine Arbeitsmarktabgabe würde gerade die Menschen belasten, auf deren Mitwirkung wir bei dem Aufbauprozeß im Osten zentral angewiesen sind.
Wir haben — auch dies wiederhole ich zum zigsten Male — keine Gerechtigkeitslücke; wir haben eine Beschäftigungslücke, eine Investitionslücke. Hier gilt es anzusetzen.
Wir brauchen keine Verteilungskämpfe. Wir brauchen einen nationalen Schulterschluß zur Überwindung von Rezession und Planwirtschaft,
und dazu brauchen wir auch Sie, meine Damen und Herren von der Opposition.Nur durch Sparmaßnahmen können wir die Haushalte konsolidieren. Steuererhöhungen sind ein untaugliches Mittel. Die Abgabenquote ist schon heute zu hoch, und sie steigt auf nahezu 45 %. Damit liegt sie erheblich über dem Durchschnitt aller Industrieländer.Eine weitere Ausdehnung der Defizite wäre auch keine Alternative. Die Handlungsspielräume der öffentlichen Haushalte würden in der Zukunft noch stärker eingeschränkt. Jetzt gibt es keine Alternative zur Politik des Kürzertretens.Das vorliegende Gesetzespaket ist der Beitrag des Bundes zum Solidarpakt. Jetzt sind Opposition, Länder, Gemeinden, Tarifvertragsparteien und die Bundesbank gefragt. Auch die Tarifpartner müssen sich durch eine der wirtschaftlichen Situation angemessene Tarifpolitik an dieser gesamtstaatlichen Aufgabe beteiligen. Die Lohnpolitik muß in Ost und West einen Kurswechsel vollziehen, der auf längere Sicht die Beschäftigung sichern hilft. Man kann die Löhne natürlich auch so lange anheben, bis es keine Lohnempfänger mehr gibt. Wolfram Engels hat diesen Zusammenhang in der „Wirtschaftswoche" kürzlich eindrucksvoll geschildert.Die ökonomischen Gesetze, meine Damen und Herren, kann keiner außer Kraft setzen. Wenn die Löhne schneller steigen als die Produktivität, dann sinkt die Beschäftigung. Das muß sich auch Herr Steinkühler allmählich merken.
Nur wenn alle wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger ihrer Verantwortung gerecht werden, kann auch die Bundesbank der Aufforderung zur Senkung der Zinsen nachkommen. Nur wenn alle Partner ihren Teil schultern, wird ein Solidarpakt daraus. Wenn jeder versucht, dem anderen mehr aufzubürden, muß er scheitern. Der Solidarpakt muß ein Beitrag zur Stabilisierung des Vertrauens in die Politik und in die Wirtschaft sein. Hierzu sind der Konsens und das Zusammenwirken aller Verantwortlichen notwendig. Wir fordern deshalb die SPD, die Opposition, auf, sich an der Lösung dieser Aufgaben zu beteiligen. Im Bundesrat kann sie sich ihrer Verantwortung nicht entziehen.Das Dilemma der SPD ist es, hin- und hergerissen zu sein zwischen oppositioneller Blockadepolitik und dem Willen zur Kooperation. Dies führt zu einem Schlingerkurs, der sich durch alle Verhandlungen zieht, bei denen die SPD gebraucht wird: bei der Asylpolitik, bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität, bei der Beteiligung deutscher Truppen an der Friedenspolitik der Völkergemeinschaft und nun auch bei der notwendigen Anpassung der deut-
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12454 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. März 1993
Dr. Hermann Otto Solmsschen Volkswirtschaft an ein dramatisch geändertes Umfeld.Wenn es der SPD nicht gelingt, die Grenze zu finden, wo Oppositionshaltung umschlagen muß in Zusammenarbeit zum Wohle der Menschen in dieser Republik, wenn sie nicht bald erkennt, wo die Bürger gemeinsames Handeln von uns erwarten, dann wird das Vertrauen in die demokratischen Parteien, welches, wie die hessische Wahl gezeigt hat, teilweise verlorengegangen ist, nicht zurückgewonnen werden können.Das ist eine Aufgabe, die sich uns allen gemeinsam stellt, und daran können wir nur gemeinsam arbeiten und nicht gegeneinander.Vielen Dank.
Als nächster spricht der Abgeordnete Gregor Gysi.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Koalitionsfraktionen behaupten im allgemeinen Teil der Begründung ihres Gesetzentwurfes für ein Föderales Konsolidierungsprogramm, daß mit der Umsetzung des Programms erreicht werden könne, daß ab 1995 im Rahmen des West-Ost-Transfers den neuen Bundesländern jährlich 60 Milliarden DM zur Verfügung gestellt werden. Damit wird der Eindruck erweckt, daß ab 1995 gewaltige Mittel in die ostdeutschen Länder transferiert werden sollen. Es wird auch behauptet, daß damit eine — so wörtlich — „dauerhafte Finanzierung des Aufholprozesses in Ostdeutschland" gesichert werden kann.Aber diese Zahl muß einmal genauer durchleuchtet werden. Dann stellt sich nämlich heraus, daß allein 10 Milliarden DM davon Gesamt-Berlin betreffen. Die bisherige Berlin-Hilfe wird jetzt einfach als Aufbauhilfe Ost deklariert. Aber zu Berlin gehört eben nicht nur Ost-, sondern auch West-Berlin, und West-Berlin bekam die Hilfe schon vor der Vereinigung. Betont werden muß, daß die 10 Milliarden DM jährlich für Gesamt-Berlin ab 1995 weniger Transfer bedeuten als heute. Noch 1991 bekam Gesamt-Berlin 14,5 Milliarden DM. Für die ostdeutschen Flächenländer verbleiben also zunächst einmal nur 50 Milliarden DM.Aber die Koalition verschweigt, daß die neuen Bundesländer ab 1995 an der Finanzierung der Europäischen Gemeinschaft, der Verlagerung von Kosten auf die Länder für Ausgaben im Schienennahverkehr und im öffentlichen Personennahverkehr sowie der Finanzierung des Kapitaldienstes für die Altschulden der kommunalen Wohnungsunternehmen und der Wohnungsgenossenschaften mit insgesamt rund 5,3 Milliarden DM beteiligt werden sollen. Die Koalition unterschlägt auch, daß die Zahlungen aus dem Fonds Deutsche Einheit 1994 auslaufen. Auf diese Art und Weise entfallen für die ostdeutschen Länder mindestens 31,5 Milliarden DM, und dabei sind die Aufstockungen des Fonds 1993 noch gar nicht berücksichtigt. Netto verbleiben also den ostdeutschen Flächenländern an zusätzlichem Transfer lediglich rund 13,2 Milliarden DM. Wer mit Zahlen schwindelt, willauch in der Sache nicht das erreichen, was er vorgibt.Wenn man dann noch weiß, daß aus Ostdeutschland über 40 Milliarden DM an Steuern an den Bund gezahlt werden, Ostdeutschen normale Leistungen nach dem Rechtssystem der Bundesrepublik, wie z. B. Arbeitslosenunterstützung und Erziehungsgeld, als Transferleistungen angerechnet werden, dann ist es auch schon vorbei mit der scheinbaren Großzügigkeit der Koalition zum Zwecke des sogenannten Aufholprozesses in Ostdeutschland.Aber selbst wenn wir einmal von den zusätzlichen 13,2 Milliarden DM für die ostdeutschen Länder ausgehen, muß dem gegenübergestellt werden, daß die neuen Bundesländer ein Gesamtfinanzierungsdefizit ab 1995 von jährlich 35 Milliarden DM errechnet haben. Obwohl die ostdeutschen Länder und Gemeinden unverschuldet in die deutsche Einheit gingen, wird ihre Verschuldung 1995 im Vergleich zu den westdeutschen Kommunen überproportional hoch sein.
— Hören Sie einmal zu: Die schlechte Substanz, die dort bestand, hat den Wirtschaftsboom der Bundesrepublik in den letzten zwei Jahren möglich gemacht. Darauf haben Sie mehrfach hingewiesen.
Wenn aber das Defizit wesentlich größer ist als die zusätzlich zur Verfügung gestellten Mittel, kann es auch keine Investitionsleistungen durch die Kommunen geben. Wer Kommunen in diesem Umfange verschuldet, untergräbt das im Grundgesetz festgeschriebene Selbstbestimmungsrecht der Gemeinden. Die gleiche Entwicklung gibt es in den alten Bundesländern. Auch hier sind die Möglichkeiten und Entscheidungsräume der Kommunen inzwischen auf ein Minimum reduziert, weil sie kaum noch über eigene Haushaltsmittel verfügen. Es braucht deshalb nicht zu verwundern, wenn die Wahlbeteiligung, wie auch die Hessenwahl zeigt, gerade bei Kommunalwahlen immer geringer wird, da die Bürgerinnen und Bürger wissen, daß ihre kommunalen Parlamente sowieso kaum etwas zu entscheiden haben, weil sie nur in äußerst geringem Umfange Ausgaben eigenverantwortlich tätigen und damit die Wirtschaft nicht ankurbeln können.Sie verwalten im Grunde genommen Bundespolitik. Das ist zu wenig. Die Kommunen können sich so für Wirtschaftspolitik und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für unzuständig erklären. Nachdem nun auch noch unser Bundeswirtschaftsminister erklärt hat, daß Wirtschaft in der Wirtschaft gemacht wird, also auch die Bundesregierung dafür nicht zuständig ist, ist damit zu rechnen, daß die Politikverdrossenheit ein immer höheres Ausmaß annehmen wird.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. März 1993 12455
Dr. Gregor Gysi— Wenn Sie, Herr Rüttgers, mich als unfähig bezeichnen,
dann würde ich doch wirklich einmal darüber nachdenken, wie die Fähigkeiten Ihrer Regierungskoalition gegenwärtig aussehen. Sie sind so bescheiden, daß wir im Vergleich dazu wirklich schon fast riesenhaft groß wirken. Das ist aber allein Ihr Verdienst, nicht unser Verdienst.
Irgendwann erleben wir den Tag, an dem alles auf Brüssel geschoben werden wird. Brüssel ist eben weit weg. Aber damit schaden Sie dem europäischen Gedanken.Eigentlich soll es in dem Konsolidierungsprogramm darum gehen, das Investitionsverhalten der Kommunen gerade in den neuen Bundesländern zu fördern. Davon kann inzwischen überhaupt keine Rede mehr sein. Um die geschilderte Finanzierung oder, besser gesagt, Nichtfinanzierung der neuen Bundesländer zu erreichen, plant die Koalition einen rigorosen Sozialabbau für die Menschen in der gesamten Bundesrepublik Deutschland.Gesenkt werden sollen Lohnersatzleistungen, Arbeitslosengeld, Kurzarbeitergeld, Schlechtwettergeld, Arbeitslosenhilfe, Eingliederungshilfe für Aussiedler, das Übergangsgeld für Rehabilitanten und das Unterhaltsgeld bei der Teilnahme an beruflichen Weiterbildungsmaßnahmen. Auch die Sozialhilfe soll — so wörtlich — „sozialverträglich begrenzt" werden. Kürzungen bzw. andere Berechnungsgrundlagen, die bei vielen zum Wegfall des Anspruchs führen, sind beim Erziehungsgeld, beim Wohngeld und in fast allen Bereichen der Bundesausbildungsförderung vorgesehen.Dieser fast einzigartige Sozialkahlschlag hat mindestens vier gravierende negative Folgen.Erstens. Er stürzt eine Vielzahl von Menschen in soziale Not oder vergrößert diese. Die Kürzung der Einkommen der Lohnabhängigen vertieft die sowieso schon riesenhafte soziale Spaltung in dieser Gesellschaft.Zweitens. Er führt zur Überschuldung der Kommunen und Länder in Ost und West und damit Schritt für Schritt zum Verlust von deren Selbstbestimmungsrecht.Drittens. Er schränkt Wirtschaftstätigkeit ein, weil durch das Senken von Sozialleistungen gerade bei weniger gut Verdienenden der Konsum reduziert wird, was zur Verringerung der Nachfrage, damit zum Absatz-, dann zum Produktionsrückgang und letztlich zur Steigerung der Arbeitslosigkeit führen muß.Viertens. Er vertieft die Spaltung zwischen Ost- und Westdeutschen, weil den Kommunen und den Menschen, denen die Mittel gekürzt werden, immer wieder gesagt wird, daß dies im Interesse Ostdeutschlands geschieht, daß sie also für Ostdeutschland zubluten haben. Damit spalten Sie und vereinigen Sie nicht; das wissen Sie ganz genau.Auf der anderen Seite muß man sehen, welche Steuerveränderungen die Koalition plant. Da soll im Ernst der persönliche Freibetrag für das Grundvermögen nach dem Vermögensteuergesetz ab 1. Januar 1995 von 70 000 DM auf 120 000 DM erhöht werden. Damit ist ein Einnahmeausfall der Länder in Höhe von 680 Millionen DM verbunden. Bei der 1993 eingeführten Senkung der Vermögen- und Gewerbesteuer soll es zusätzlich bleiben. Wer einerseits die Sozialhilfe, das Arbeitslosengeld, die Arbeitslosenhilfe, das Erziehungsgeld, das Wohngeld etc. kürzt und andererseits den persönlichen Freibetrag für die Vermögensteuer beim Grundvermögen drastisch erhöht, zeigt überdeutlich, auf welcher Seite in der Gesellschaft er steht.
Eine Steigerung der Einnahmen soll es dagegen bei der Förderung des Erwerbs von Altbauwohnungen, durch Versteuerung der sogenannten Bergmannsprämie und durch Erhöhung des Versicherungsentgeltes, mit Ausnahme von Feuer- und Lebensversicherungen, geben. Dann will die Koalition ab 1. Januar 1995 den sogenannten Solidaritätszuschlag wieder einführen, der wiederum auch diejenigen trifft, die bereits vorher durch die anderen Maßnahmen des sozialen Abbaus zur Kasse gebeten wurden.Auch hier ist eine soziale Ausgewogenheit mitnichten zu erkennen. Es gäbe schon Möglichkeiten, durch Abgaben wirklich soziale Gerechtigkeit herzustellen. Davon ist aber dieses Programm weit entfernt.Insgesamt soll durch die steuerlichen Mehrbelastungen eine Mehreinnahme von rund 19 Milliarden DM erreicht werden. Von diesen 19 Milliarden DM sollen der Bund 17 Milliarden DM, die Länder 1,7 Milliarden DM und die Gemeinden ganze 240 Millionen DM erhalten. Das sagt wohl alles über die strukturelle Machtverteilung in der Bundesrepublik aus.Hier wird deutlich: Bei Ihrem Solidarpakt geht es nicht um Solidarität von West nach Ost, auch nicht von Reich nach Arm, sondern es geht um Solidarität mit der Bundesregierung. Ich finde, daß sie diese Solidarität nicht verdient hat.
Die Abgeordnetengruppe der PDS/Linke Liste tritt dafür ein, daß in den neuen Bundesländern real investiert werden kann. Sie geht davon aus, daß es für die Entwicklung von unmittelbarer Demokratie und zur Erhaltung der föderalen und regionalen Strukturen dringend erforderlich ist, die Kommunen und Länder auch finanziell zu stärken.Zur Finanzierung unterstützen wir vorhandene Vorschläge zur wirksamen Bekämpfung der Steuerhinterziehung und Wirtschaftskriminalität, für den Einstieg in eine ökologische Steuerreform anstelle der Regierungsvorstellungen zur Einführung einer Autobahngebühr und zur Nutzung der Mineralölsteuererhöhung für die Tilgung der Schulden von Bundesbahn und Reichsbahn. Das ist ein völlig falscher Weg. Für
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12456 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. März 1993
Dr. Gregor Gysiökologische Projekte muß die Mineralölsteuererhöhung genutzt werden.Wir unterstützen die Einführung einer Ergänzungsabgabe für Höherverdienende schon ab 1994 anstelle der von der Koalition vorgesehenen Wiedereinführung des Solidarzuschlags für alle, d. h. auch für die unteren Einkommensschichten erst ab 1995, die Einführung einer Arbeitsmarktabgabe für den Bundeskanzler, für Ministerpräsidenten, für Minister, für Abgeordnete — wir nehmen uns nicht aus —, Selbständige, Freiberufler und Beamte.Es ist übrigens ein starkes Stück, Herr Solms, wenn Sie sagen, den Beamten könne man nichts wegnehmen, auch den Höherverdienenden nicht, weil diese gerade für den Aufbau im Osten sorgen müssen. Auf der anderen Seite sagen Sie den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Osten, ihnen kann sehr viel mehr weggenommen werden. Die müssen in Wirklichkeit aber den Aufbau im Osten durchführen.Wir schlagen darüber hinaus vor, den Verteidigungshaushalt drastisch zu kürzen und die Geheimdienste aufzulösen, die Bezüge der Spitzenbeamten im öffentlichen Dienst zu kürzen und keine gesonderten Pensionen für Staatsbeamte vor dem Rentenalter zuzulassen.Das Ehegattensplitting soll zu einer wirksamen Förderung für Kinder und einkommensschwache Familien umgebaut werden.Erreicht werden muß ein wirksamer Steuereinzug für Zinseinkünfte sowie deren progressive Entwicklung unter Beibehaltung der jetzigen Freibeträge. Erforderlich ist eine höhere Besteuerung des Vermögens an Immobilien auf der Grundlage ihrer Neubewertung zum tatsächlichen Verkehrswert. Erhöht werden kann auch die Erbschaftsteuer unter Beibehaltung der gegenwärtigen Freibeträge.Erforderlich ist eine staatliche Zwangsanleihe bei Banken und Versicherungen in Höhe von mindestens 1,5 % der Bruttowertschöpfung.Zurückgenommen werden muß die seit 1993 wirksam gewordene Senkung der Vermögen- und Gewerbesteuer. Verzichtet werden muß auch auf die vorgesehene Nettosteuersenkung für Unternehmen.Ferner sollte eine Investitionshilfeabgabe der westdeutschen Industrieunternehmen und Handelsketten in Höhe von 10 % eingeführt werden, wobei die Bemessungsgrundlage der Jahresüberschuß nach Abzug der Steuern sowie 2 bis 4 % der Umsätze bilden sollten.Damit würden weit über 100 Milliarden DM eingespart bzw. neu eingenommen werden. Damit könnten die Sozialausgaben aufrechterhalten und Schritt für Schritt gerechter ausgebaut werden. Es stünden auch die notwendigen Mittel zum weiteren Aufbau der neuen Bundesländer zur Verfügung, und zwar von jenen, die am meisten an der deutschen Einheit verdient haben. Letztlich müßten auch die Kommunen nicht so geschröpft werden, wie das gegenwärtig geschieht.Ich würde nicht bestreiten, daß mit einer solchen Veränderung der Finanzverfassung die Verfaßtheit der Bundesrepublik Deutschland überhaupt ein Stückverändert werden würde. Aber diese Verfaßtheit ändern auch Sie, meine Damen und Herren von der Koalition. Nur, Sie verändern sie in Richtung Vertiefung der sozialen Ungerechtigkeit, Abbau der Demokratie und Entmündigung der Kommunen.Wir wollen sie verändern in Richtung von mehr sozialer Gerechtigkeit, von mehr Demokratie und von höherer kommunaler Selbstbestimmtheit.Wenn Sie dazu nicht in der Lage sind, sollten Sie endlich die notwendigen Schlußfolgerungen daraus ziehen, und das tun, was ich jetzt mache, nämlich gehen.
Ich erteile jetzt das Wort dem Abgeordneten Adolf Roth.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das alles beherrschende Ziel der deutschen Politik ist die rasche Rückkehr zum wirtschaftlichen Aufschwung.
Die Rede, die der Oppositionsführer Klose dazu heute gehalten hat,
war kein angemessener Beitrag. Es war nicht einmal ein Beitrag, der auf dem Weg zu einer neuen Profilsuche der SPD lag.Es ist noch nicht lange her, da hat Hans-Ulrich Klose öffentlich bekennen müssen, die SPD sei in wichtigen Fragen sehr unterschiedlicher Auffassung. Das führe dazu, daß der Partei- und Fraktionsvorstand in erster Linie moderieren müsse, statt zu sagen: Da geht es lang!
Ich habe das Gefühl, er hat heute räsoniert und nicht moderiert. Er war hurtig in seiner Rede, aber er hat uns keinen Beweis dafür gegeben, daß Sie wirklich die Zeichen der Zeit, um die es jetzt geht, verstanden haben.
Die Bundesregierung und die Koalition handeln in Wahrnehmung ihrer politischen Verantwortung mit klaren Vorgaben. Der Bundesfinanzminister hat das Konzept einer umfassenden, zuweilen auch unbequemen Neuorientierung vor dem Parlament begründet.Wir wollen den Solidarpakt. Deshalb unterstützen wir den Finanzminister bei dieser unglaublich schwierigen Arbeit einer ausgewogenen Neustrukturierung der gesamtstaatlichen Finanzbeziehungen in Deutschland.Unsere Haushaltspolitik und das Föderale Konsolidierungsprogramm bilden eine in sich geschlossene Spar- und Wachstumsstrategie. Dem hat die Opposition nichts entgegengesetzt, vor allem nichts, was unsere Volkswirtschaft nun aus der Rezession heraus-
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Adolf Roth
führen könnte. Am wenigsten leisten können wir uns eine weitere monatelange Streiterei.
Das Gesetzgebungspaket für den Aufschwung in Deutschland duldet keine Verzögerung. Das Genörgele und Gemotze muß nun ein Ende finden.
Durch schnelles, zielführendes Handeln tragen wir dazu bei, daß Wachstums- und Beschäftigungsdynamik wieder die Oberhand gewinnen.Die deutsche Volkswirtschaft hat nach einem Jahrzehnt ununterbrochener Aufwärtsentwicklung einen schweren konjunkturellen Rückschlag hinnehmen müssen, später als andere, aber leider nicht weniger heftig.Die Ursachen sind oft beschrieben worden. Sie liegen in der Schwäche der Weltkonjunktur, in den Schwierigkeiten beim Aufbau und Umsteuern in Deutschland, vor allem auch in den zu hohen Ansprüchen an die volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit gerade auch in Westdeutschland.Wir haben längst einsehen müssen, daß sich unser Handicap als Hochsteuer- und Hochlohnland mit kürzesten Arbeitszeiten, mit längsten Urlaubszeiten, mit einem voll ausgebauten, aber leider auch teuren Sozialsystem nicht mehr länger durch satte Produktivitätsvorsprünge gegenüber unseren Weltmarktkonkurrenten kompensieren läßt.Nun müssen allerdings in der Politik auch grundlegende Entscheidungen mit innovatorischem Charakter getroffen werden: hin zur schlankeren Bürokratie — beileibe nicht nur beim Staat —, zu flexibleren, produktionsgerechten Tarifvereinbarungen, zu kostensparenden und verfahrensbeschleunigenden Reformen. Das alles ist Ziel des Sozialpaktes für Deutschland.Alle am Wirtschaftsprozeß Beteiligten müssen ihren Beitrag zur Stärkung und Verbreiterung der Wachstumsgrundlagen leisten. Andernfalls würde eine Spirale abwärts ihre Fortsetzung finden.Der vorliegende Gesetzentwurf zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms und auch der Entwurf zum Nachtragshaushalt 1993 folgen konsequent dieser wirtschaftspolitischen Zielvorgabe.Wir wollen mit unserem Programm die öffentlichen Haushalte konsolidieren. Wir wollen die Ansprüche von Staat und Gesellschaft an die veränderten gesamtwirtschaftlichen Bedingungen und Möglichkeiten, an die Strukturen nach der Wiedervereinigung in Deutschland anpassen. Wir wollen den Aufbau Ost in den neuen Bundesländern sauber absichern. Wir wollen die Erblasten des Sozialismus — Herr Kollege Klose, das sind Erblasten, die nicht diese Bundesregierung zu verantworten hat, sondern die in Jahrzehnten aufgetürmt worden sind —
kontinuierlich abtragen. Wir wollen weiterhin die Finanzierungslasten aufgabengerecht und fair auf die einzelnen staatlichen Haushalte verteilen.Das Föderale Konsolidierungsprogramm ist das bedeutendste und umfassendste haushalts- und finanzpolitische Vorhaben seit 1945 und demgemäß auch für uns alle die größte Bewährungsprobe. Wenn nun die SPD, wie heute wiederum geschehen, auf die notwendigen Einschränkungen staatlicher Leistungen, die — zugegeben — nicht immer populär und auch mit Opfern verbunden sind, lediglich mit der kleinen Münze oberflächlicher Sozialpolemik reagiert, dann, Herr Kollege Klose, handelt sie entweder wider besseres Wissen oder sie ignoriert einmal mehr den untrennbaren Zusammenhang zwischen Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik. Ich fürchte, in Ihrem Fall ist beides gegeben.
Schauen wir uns doch einmal an, was die SPD zur Lösung der anstehenden Probleme vorzuschlagen hat. Heute haben wir dazu wenig gehört;
in den Papieren steht nicht viel mehr. Es begann mit dem mißglückten Versuch der Präsentation erster Vorschläge Ende Januar durch Herrn Lafontaine, und es setzte sich leider in dem 20-Punkte-Katalog fort, dem die SPD-Bundestagsfraktion ja schließlich zugestimmt hat. Dieses Papier ist ein Ausstiegsszenario aus der gesamtstaatlichen Verantwortung und sonst nichts. Notwendige Sparmaßnahmen im Rahmen des Föderalen Konsolidierungsprogramms werden schlichtweg tabuisiert. Eigene Sparvorschläge, Herr Klose, die eine ernsthafte Erörterung verdienten, sucht man in Ihrem 20-Punkte-Katalog vergeblich, völlige Fehlanzeige.
Sie haben dem Parlament auch heute verschwiegen, in welche Richtung Sie denken.Wie wollen Sie die 40 Milliarden DM finanzieren, die ab 1995 jährlich für die Schulden des Kreditabwicklungsfonds, der Treuhandanstalt und der Wohnungswirtschaft aufzubringen sind? Statt hierfür einen langfristig soliden Finanzierungsvorschlag zu unterbreiten, findet man nichts weiter als das Verlangen der SPD, zusätzlich 15 bis 20 Milliarden DM pro Jahr zur Sanierung industrieller Kerne durch zusätzliche Treuhandschulden zu finanzieren. Dies läuft auf eine dauerhafte Lohnsubventionierung hinaus, auf nichts anderes. Ich frage Sie: Wollen Sie dies ernsthaft?Zusätzlich zu diesen Forderungen machen Sie noch einen Bedarf in Höhe von 10 Milliarden DM für nicht näher erläuterte Maßnahmen zur Absatzförderung von ostdeutschen Produkten geltend. Sie trumpfen wieder einmal mit einem großen Zukunftsinvestitionsprogramm auf; ich erinnere mich an frühere Fehlversuche.
— Zehnmal mindestens 10 Milliarden DM für dieZukunft, aber keine Angaben zu ihrer Finanzierung.
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12458 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. März 1993
Adolf Roth
— Höhere Ausgaben, höhere Steuern, höhere Schulden, keinerlei neue Einfälle: Meine Damen und Herren, dies ist kein Beitrag zum Solidarpakt in Deutschland.
Es ist wirtschaftspolitisch verfehlt, finanzpolitisch verheerend und konjunkturpolitisch nichts als ein reines Abenteuer.Die massiven Steuervorschläge der SPD sollen ja schon ab Mitte des Jahres 1993 greifen. Sie würden in unverantwortbarer Weise die Steuerquote in Deutschland auf über 25 % hinaufführen und damit sogar den Rekord erreichen, den Sie im Jahre 1977 aufgestellt haben.
— Herr Kollege Wagner, es gibt auch nachdenkliche Stimmen in Ihren Reihen, die wir nicht überhören. Ich kann nur hoffen, daß Sie bei der Einkehr nach dem Wahldebakel vom Wochenende nun auch die Frage Ihrer Steuerpolitik einer ernsthaften Revision unterwerfen. Mit Steuerlawinen kann man kein Wachstum bewirken. Dies ist der alte Wunderglaube der SPD: Man muß nur die Steuern erhöhen, und dann könne man Wachstumsprozesse in Gang setzen. Diese Rechnung ist noch nie aufgegangen, denn schon heute liegt Deutschland — im Vergleich zu den anderen Industrieländern — im Spitzenfeld bezüglich der Belastung seiner Bürger.Die SPD will aber nicht nur massiv die Steuern erhöhen, sondern sie verweigert sich auch einer Verbesserung der steuerlichen Rahmenbedingungen für Investitionen und Arbeitsplätze,
indem sie das Standortsicherungskonzept der Koalition ablehnt. Das Kernstück dieser deutschen Standortsicherung ist die geplante Senkung der Ertragbesteuerung durch die Reduzierung des Körperschaftsteuersatzes auf nicht ausgeschüttete Gewinne und durch die Reduzierung des Einkommensteuersatzes für gewerbliche Einkünfte auf 44 %, dies alles bei aufkommensneutraler Gegenfinanzierung. Folgte man den Vorschlägen der SPD, die soeben wiederum lauthals vorgetragen wurden, so würde dies den persönlichen Einkommensteuerhöchstsatz von derzeit 53 auf 58 % hochtreiben, den Einbehaltungssatz bei der Körperschaftsteuer auf 55 %. Dann kommen andere Steuern dazu. Die SPD treibt Wirtschaft und Bürger mit dieser Politik in die Steuerfalle,
genauso wie sie, um ein beliebtes Wort der Kollegin Matthäus-Maier aufzunehmen, mit ihrem Programm den Bund einseitig in eine neue Schuldenfalle hineinstoßen würde.Kern dieses Finanzpakets 1993 ist ja gerade, daß wir nach dem Wegfall der Übergangsfinanzierung nach der deutschen Einheit in Form der besonderen Instrumente Fonds Deutsche Einheit, Kreditabwicklungsfonds und Haushalt der Treuhandanstalt nun eine Neuordnung der gesamtstaatlichen Finanzbeziehungen vornehmen wollen. Ziel ist, daß die heutigegesamtstaatliche Kreditaufnahme von über 130 Milliarden DM und damit 4,5 % unseres Bruttosozialprodukts auf die Gesamtsumme von 100 Milliarden DM im Jahre 1995 abgesenkt wird. Das entspricht dann einer Marke von 3 % des Bruttosozialprodukts.Wir müssen den Zahlenvergleich hier in aller Deutlichkeit offenlegen. Das Föderale Konsolidierungsprogramm der Koalition wird beim Bund 1995 zu einem Defizit von 56 Milliarden DM führen, bei den Ländern und Gemeinden im Westen von 35 Milliarden DM und bei den Ländern und Gemeinden im Osten von 14 Milliarden DM. Folgte man den SPD-Vorschlägen, so würde dies nicht zu einer fairen und angemessenen Lastenverteilung führen, denn danach würde allein der Bund mit 95 Milliarden DM, also um volle 40 Milliarden DM an zusätzlichen Defiziten belastet, während hingegen die Länder und Gemeinden im Westen sogar zu einem Überschuß von 4 Milliarden DM kämen und den Ländern und Gemeinden im Osten eine zusätzliche Lücke von 4 Milliarden DM, insgesamt von 18 Milliarden DM zugemutet würde.Leider ist auch das Vorschlagspaket, das Ergebnis der Ministerpräsidentenkonferenz von Potsdam, nicht wesentlich anders zu bewerten. Natürlich ist es zu begrüßen, daß endlich auch die westdeutschen Länder für die Jahre 1993 und 1994 einen eigenen Handlungsbedarf beim Fonds Deutsche Einheit anerkennen. Es hat lange genug gedauert, bis sie sich dazu durchgerungen haben. Nicht hinnehmbar ist allerdings das Modell der Ministerpräsidenten zur Lösung des Ausgleichs ab 1995, denn damit würden fast neun Zehntel oder knapp 90 Milliarden DM des erforderlichen Konsolidierungsbedarfs einseitig dem Bundeshaushalt aufgebürdet. Dies hat mit einer fairen Dekkungsquote in der Lastenverteilung wahrlich nichts mehr zu tun.
Der größte Mangel der Vorschläge liegt aber sicher auch noch auf einem anderen Gebiet, nämlich darin, daß die Beschlüsse der Ministerpräsidenten auch nicht im Ansatz erkennen lassen, wie die Empfehlungen des Finanzplanungsrates auf der Ebene der Länder und Gemeinden nachvollzogen werden sollen, wie also das vereinbarte Ziel einer Abbremsung der Ausgabendynamik auf 3 % erreicht werden soll.Staatliche Finanzierungsdefizite rühren von überhöhten Ausgaben her und von nichts anderem. Deshalb gibt es keine Alternative zu einer entschlossenen Sparpolitik auf allen Ebenen.
Die föderale Haushaltskonsolidierung ist ein unverzichtbares Element der finanzpolitischen Stabilität, ohne die es keine wirtschaftliche Erholung geben wird. Niemand kann Probleme dadurch lösen, daß er lediglich den Versuch macht, die Kosten auf andere Haushaltsebenen zu verlagern.Nach der Kommunalwahl in Hessen — das ist sicher ein Beispiel, auf das insbesondere die SPD-Bundestagsfraktion ihr Augenmerk richten sollte — hat es keine 48 Stunden gedauert, bis einige sozialdemokratisch geführte Kommunen Abstand von großen, millionenschweren Prestigeobjekten auf der kommunalen
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Adolf Roth
Ebene genommen haben. Sie sind schlichtweg aus dem Verkehr gezogen worden, und zwar in Wiesbaden, in Kassel. Ich sage: Das Ende der Fahnenstange beim Einsparen ist noch lange nicht erreicht. Das sage ich an unsere eigene Adresse,
aber insbesondere an die Adresse der übrigen Gebietskörperschaften.Zum Solidarpakt gehören allerdings auch maßvolle Tarifabschlüsse. Die Hauptverantwortung für die Beschäftigungsentwicklung liegt bei den Tarifvertragsparteien. Die ostdeutsche Schere zwischen der Einkommens- und Produktivitätsentwicklung darf sich nicht weiter öffnen, wenn nicht noch mehr Arbeitsplätze vernichtet werden sollen.Natürlich gilt der Grundsatz: Gleicher Lohn bei gleicher Produktivität. Das ist ökonomisch selbstverständlich. Aber der forcierte Marsch in die Lohngleichheit bei teilweise noch weit zurückliegender Produktivität muß sich für den Arbeitsmarkt verhängnisvoll auswirken. Ich halte es für bedenklich, daß ausgerechnet der öffentliche Dienst in Ostdeutschland Spitzenreiter der Einkommensentwicklung ist,
gestützt auf automatische Anpassungsklauseln, und dies bei einer zahlenmäßig weit überhöhten Personalausstattung. Allein der Anpassungsschritt zum 1. Juli dieses Jahres wird zusätzliche 5,3 Milliarden DM an Haushaltsmitteln binden.Der Schlüssel zum wirtschaftlichen Aufschwung liegt bei den privaten Investitionen. Wir brauchen dazu eine entschlossene Zusammenarbeit, allerdings auch etwas Geduld, denn — die Bundesbank hat es zu Recht kürzlich festgestellt — mit staatlichen Anreizen allein, so unverzichtbar sie im Augenblick auch sein mögen, wird sich der Aufschwung Ost nicht erzwingen lassen.Meine Fraktion begrüßt es, daß die deutsche Wirtschaft im Rahmen der bisherigen Solidarpaktgespräche dem Bundeskanzler eine deutliche Steigerung der Investitionen in den neuen Bundesländern um 20 Milliarden DM auf 130 Milliarden DM zugesichert hat. Allerdings stehen wir alle in der Mithaftung für eine Erfüllung dieser Zusicherung, denn wir dürfen jetzt nicht durch falsche politische Weichenstellungen und Entscheidungen diesen Prozeß konterkarieren.Gemeinsam mit dem Transfervolumen des Bundes in Höhe von 100 Milliarden DM im Jahr 1993 werden hiermit die Kräfte des Aufbaus und der Erneuerung in einem Umfang mobilisiert, wie es bislang ohne Beispiel ist.Lassen Sie mich zum Schluß einige Anmerkungen zum Nachtragshaushalt 1993 machen. Der im Rahmen des Föderalen Konsolidierungsprogramms auf den Bund entfallende Anteil ist im Regierungsentwurf umgesetzt worden. Wir haben die zugesicherte Ausgabensteigerungshöchstrate von 3 % eingehalten, obwohl wir Mehranforderungen von nahezu 9 Milliarden DM aufzufangen hatten. Dies war nur möglich, weil dem Mehrbedarf Einsparungen in Höhe von 4,5 Milliarden DM gegenüberstehen, so daß sich persaldo das Ausgabenvolumen nur um 4,3 Milliarden DM, auf 440 Milliarden DM erhöhen wird.Allein die vom Bundesfinanzminister verfügte Haushaltssperre wird in der Bewirtschaftung 1993 eine Einsparung von 1,8 Milliarden DM erbringen, was unsere Entschlossenheit einmal mehr unterstreicht.Die mit der schlechten wirtschaftlichen Situation verbundenen konjunkturbedingten Mehrausgaben, insbesondere die Milliarden-Zuschüsse an die Bundesanstalt für Arbeit, aber auch die Steuermindereinnahmen von 5 Milliarden DM werden größtenteils durch eine erhöhte Nettokreditaufnahme abgefangen. Sie steigt auf 51 %, 1,6 % des Bruttosozialprodukts. Dies ist politisch hinnehmbar, konjunkturbezogen unvermeidbar, aber es ändert nichts an unserer Entschlossenheit, mittelfristig die Ausgabendynamik abzubremsen und die gesamtstaatliche Nettoneuverschuldung bis 1995 auf 100 Milliarden DM zurückzuführen.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Die Koalitionsfraktionen stehen zu dem verabredeten Gesamtkonzept des Bundes aus Föderalem Konsolidierungsprogramm und Nachtragshaushalt. Dieses Programm duldet in der Umsetzung keinen weiteren Aufschub. Wir richten gemeinsam unseren Blick auf den morgigen Klausurgipfel des Bundes mit den Bundesländern. Wir fordern alle Beteiligten dazu auf, den Streit um die Zahlen, um die Verteilung der Finanzmasse zu überwinden und alle Kräfte darauf zu konzentrieren, nun entschlossen an eine Aufschwungs- und Wachstumspolitik im vereinigten Deutschland heranzugehen.Die CDU/CSU ist zu dieser Politik bereit.
Als nächster spricht der Abgeordnete Werner Schulz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Vergangenheit hat den Bundeskanzler eingeholt. Er sitzt bereits wieder dort, wo er ab 1995 wieder sitzen wird, falls er dann überhaupt noch mitmacht.
Ich gestehe Ihnen natürlich den Liberalismus zu, daß Sie auf dieser Seite sitzen — selbstverständlich. Das verschafft mir zumindest Ihre Aufmerksamkeit; dafür bin ich schon dankbar.Nach der staatlichen Einheit hat die Bundesrepublik auf mich den Eindruck einer großen schläfrigen Katze gemacht, die in der untergehenden Sonne liegt und verdaut. Nun sind — im übertragenen Sinne — die Mäuse knapp geworden.Noch im Einigungsvertrag ging die Regierung davon aus, daß die Wiedervereinigung „nur begrenzte finanzielle Auswirkung" habe. Dies war die
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12460 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. März 1993
Werner Schulz
grandiose Illusion der kostenlosen Einheit, an die zu viele allzugern geglaubt haben.Einer kühnen Entscheidung ist leider eine zaghafte und halbherzige Politik gefolgt. Als es möglich war und vor allen Dingen die Bürger dazu bereit waren, hat die Regierung ohne Grund auf Steuererhöhungen verzichtet. Heute, wo die Auftragslage der Wirtschaft schlecht ist, die Gewinne fallen, die Staatseinnahmen ebenfalls, der Rückgriff auf Exportüberschüsse ins Leere greift, sind fiskalische Einnahmeverbesserungen durchaus problematisch.Die fetten Jahre sind vorbei. Der einigungsbedingte Wirtschaftsboom hat nur kurze Zeit die weltweit bestehende Rezession und die Strukturschwächen der westdeutschen Wirtschaft überdeckt. Auch darin haben sich der Kanzler und andere getäuscht. Oder wie ist zu erklären, daß er noch im Sommer vergangenen Jahres betonte: „Was im Ruhrgebiet geleistet wurde, ist ein Vorbild für die neuen Bundesländer"?Das nach wie vor fehlende Finanz- und Wirtschaftskonzept macht sich immer schmerzhafter bemerkbar. Das erhoffte zweite Wirtschaftswunder bleibt aus. Marktwirtschaft funktioniert eben nicht im Selbstlauf, und unter ungleichen Bedingungen wiederholt sich Vergleichbares schon gar nicht.Nach drei verlorenen Jahren soll nun in einem beschleunigten Kraftakt Versäumtes nachgeholt werden. Doch der 1990, im Einigungsjahr, in allen Reden immerzu sprichwörtlich benutzte Zug ist abgefahren. Das endlose Gerede und Gezerre um den Solidarpakt verstärkt die Politikverdrossenheit der Bürger. Diese Regierung hat die durchaus vorhanden gewesene Solidarität nicht organisiert, sondern eher auf den Hund kommen lassen. Politische Willenserklärungen und Entscheidungsprozesse bleiben der Bevölkerung verborgen, und so bleibt diese bei Wahlen auch lieber zu Hause.Selbst Abgeordnete haben kaum noch Einfluß. Kleine Koalitionszirkel formulieren die Entscheidungen. Die Fraktionen werden vor vollendete Tatsachen gestellt. Im Januar hat die Unionsfraktion ohne genaue Kenntnis der Vorlagen das Konsolidierungsprogramm passieren lassen. Vor wenigen Tagen wurden der Nachtragshaushalt und das Konsolidierungsbegleitgesetz erneut im Schnellverfahren verabschiedet.Nur in einem Fall versagte die „fragwürdige Mischung aus Präsidialdemokratie und Küchenkabinett" , wie ein Eingeweihter in diesen Kungelrunden, Herr Möllemann, es genannt hat. Gerade dort, wo die Bundesregierung etwas halbwegs Vernünftiges in die Wege leiten will, wird sie von der eigenen Fraktion gestoppt. Mit der Entscheidung, nicht allein die Mineralölsteuer zu erhöhen, hat sich die Verkehrslobby in der Union durchgesetzt. „Freie Fahrt in das Verkehrschaos" sollte auf Ihrer Vignette stehen.Finanzpolitisch hat diese Regierung nicht viel zustande gebracht. Die Bundesregierung will die Steuern für Unternehmen senken, und gleichzeitig werden die Ärmsten in dieser Gesellschaft in Schwierigkeiten gebracht, werden ihnen die notwendigen Mittel entzogen. Dabei will ich gar nicht erst davon reden, daß der Gesetzentwurf zum Standortsicherungsgesetz verfassungsrechtlich bedenklich ist und auch von der Finanzwissenschaft als wirtschaftspolitisch verfehlt angesehen wird.Der Nachtragshaushalt 1993 und das Föderale Konsolidierungsprogramm reihen sich ebenfalls in die Liste der mißratenen Versuche ein. Daß der Haushalt 1993, wie er erst vor wenigen Wochen entschieden wurde, keine geeignete Finanzgrundlage für dieses Jahr abgeben würde, war abzusehen. Folglich hatte die Regierung bereits zu diesem Zeitpunkt einen Nachtragshaushalt angekündigt. Der Vorsitzende des Haushaltsausschusses hatte damals dieses Vorgehen scharf kritisiert und entsprechende Maßnahmen zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit angekündigt. Wir haben Herrn Walther daraufhin einen Brief geschrieben. Diesen Brief hat er freundlicherweise Herrn Klose zukommen lassen. — Herr Klose, ich weiß nicht, ob Sie ihn an Herrn Engholm weitergeleitet haben. Das entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls ist bis heute nichts geschehen.Wie die jüngste Wahl in Hessen zeigt, trauen die Bürgerinnen und Bürger auch der SPD nicht mehr allzuviel zu. Die Presse stellt jedenfalls treffend fest: Die Sozialdemokraten sind eine „früh ergraute Mannschaft, die mit Sehnsucht den Vorruhestand erwartet".Hier ist zwar nicht der Ort für Wahlanalyse. Doch führen wir die heutige Debatte auch unter dem Eindruck der Kommunalwahl in Hessen. Nur eine Bemerkung: Die Runde, die sich morgen auf dem Petersberg zum Allparteiengespräch trifft, entspricht ziemlich genau der Koalition der Verlierer der Hessenwahl. Ich halte das nicht für einen Zufall. Die Volksparteien haben an Gestaltungskraft verloren. Nun laufen ihnen die Wähler davon. Geben Sie nur acht, verehrte Kollegen von der SPD, daß Ihnen der Gipfel nicht zum zweiten Petersberger Waterloo gerät!Die Bundesregierung hat mit dem Föderalen Konsolidierungsprogramm keinen Solidarpakt vorgelegt, sondern ein Haushaltssicherungsgesetz. Sie sollten es ehrlicherweise auch so nennen. Statt die unterschiedlichen Interessen von Bund, Gebietskörperschaften und Sozialpartnern durch eine verantwortungsvolle Moderation auszugleichen, hat sie wie so oft die parteitaktischen Interessen in den Vordergrund gestellt. Ein Konzept zu einer solidarischen Lastenteilung ist damit nicht zustande gekommen. Im Gegenteil: Mit dem Föderalen Konsoliderungsprogramm ist sie auf dem besten Wege, den Wohlfahrtsstaat weiter zu demontieren und die von ihr selbst verursachten Finanzprobleme auf die Schwächsten der Gesellschaft abzuwälzen: vom Arbeitslosengeld über das Wohngeld bis zum BAföG. Selbst das Schlechtwettergeld soll reduziert werden. Wie wäre es, wenn sich diese Regierung selbst Schlechtwettergeld verordnete? Denn seit der deutschen Einheit steht sie im Regen. Das könnte ihr Ansehen zumindest ein wenig stärken bzw. zurückbringen.Gewiß: Der Staat muß sparen. Doch warum will er damit ausgerechnet bei seinen Bürgern anfangen? Beispielhafte Eigenleistung ist gefragt. Doch immer, wenn Politikern die Einfälle und Finanzen ausgehen,
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Werner Schulz
taucht das Zauberwort „Solidarpakt" auf. Das hat in Deutschland eine lange und erfolglose Tradition.Bevor ein solcher Pakt geschlossen wird, sollte die Regierung ihre Einsparmöglichkeiten ausschöpfen. Deshalb müssen endlich die ewig versprochenen Subventionskürzungen durchgeführt werden. Noch immer werden überholte Industriebetriebe in Ost und West künstlich am Leben erhalten, werden veraltete Strukturen konserviert. Es kommt aber darauf an, daß jetzt im Osten endlich das versprochene moderne Deutschland aufgebaut wird. Das gilt für die Infrastruktur und für die Wirtschaft. Das gilt für den Städtebau, für die Bildung und die Kultur. Die Konjunkturlokomotive — auch für die westdeutsche Wirtschaft — steht heutzutage im Osten, meine Damen und Herren. Sie in Bewegung zu setzen ist Aufgabe dieser Regierung. Deshalb müssen Subventionen im Westen gejätet werden, um sie gezielt und befristet im Osten zu säen. Denn mittelfristig sind rentable Arbeitsplätze die beste Finanzierungsquelle für den Staat.Längst überfällig ist eine Verwaltungsreform. In vierzig Jahren Bundesrepublik hat sich ein übermäßiger Verwaltungswanst aufgebläht. Die neuen Bundesbürger haben ohnehin den Eindruck, von einer Politbürokratie in eine Verwaltungsbürokratie gerutscht zu sein.
Eine effizienzorientierte Reform der öffentlichen Verwaltung steht an. Eigenverantwortung statt organisierter Verantwortungslosigkeit, Ergebniskontrolle statt Verfahrenskontrolle, Kostenrechnung statt Kameralistik, Motivation statt Alimentation: Das sind in Stichworten die Kriterien, nach denen die öffentliche Verwaltung neu organisiert werden muß. Nur Mut, meine Damen und Herren! Präsident Clinton macht es vor. Er hat 25 % der Stellen in der Administration eingespart. Wenn wir in Deutschland nur 20 % der Beamten einsparen, würde das schrittweise immerhin eine Einsparung von über 88 Milliarden DM ergeben.Selbst kleine Einsparungen könnten eine große Wirkung auslösen. Wie wäre es denn, wenn der Bundestag seine beiden letzten Diätenerhöhungen zurücknähme? Sagen Sie nicht, das sei billiger Populismus. Immerhin hat der Deutsche Bundestag in der schweren Zeit ab 1975 sieben Jahre auf eine Diätenerhöhung verzichtet. Es gibt also durchaus Vergleichbares. Es geht, wenn man will.Was noch immer fehlt, ist eine ehrliche und vollständige Bestandsaufnahme des Gesamtbedarfs öffentlicher Mittel. Ebenso bleibt ein Großteil der Finanzierung im Dunkeln. Trotz unsozialer Einsparversuche und der Abwälzung eines Teils der Lasten auf die Bundesländer bleibt nach dem Konzept der Bundesregierung für 1995 eine Finanzierungslücke von etwa 40 Milliarden DM. Eine neuerliche Schuldenexplosion und weitere Steuererhöhungen zeichnen sich ab. Die Finanzierung der deutschen Einheit erfordert größere Lasten, als die Bundesregierung bisher dargelegt hat. Auch der Solidaritätszuschlag — warum um Gottes willen haben Sie ihn im Sommer 1992abgeschafft? — wird zur Deckung des Finanzbedarfs ab 1995 nicht ausreichen. So wie die Sache steht — hier beginnt Ihr Anteil an der Erblast —, müssen zusätzliche Finanzierungsquellen erschlossen werden. Wir haben unsere Vorschläge dazu auf den Tisch gelegt. Auf einige will ich hier kurz eingehen.Erstens. Angesichts der Zurückhaltung westdeutscher Unternehmer, in den neuen Bundesländern zu investieren, schlagen wir eine Investitionshilfeabgabe vor. Das heißt, die Gewinner der deutschen Einheit müssen zur Kasse gebeten werden. Daß es geht, zeigt Präsident Clinton in den USA. Er hat den Mut, dem nationalen Kapital an den patriotischen Kragen zu gehen. Selbst in Ihrer Fraktion, der CDU/ CSU, gab es Sympathie für diesen Vorschlag. Er kam aus den Reihen der Ostabgeordneten. Ich weiß nicht, warum Sie diesen vernünftigen Vorschlag — Herr Schäuble hat sich dafür stark gemacht — so schnell wieder haben fallenlassen. Was gibt es nicht für Versprechungen aus der Industrie! Herr Necker spricht vollmundig von 130 Milliarden DM Investitionszusage für 1993. Bei genauer Betrachtung sind aus der gewerblichen Wirtschaft nur 18 Milliarden DM dabei. Das ist bei dem desolaten Kapitalstock in den neuen Bundesländern außerordentlich dürftig. Das Hauptproblem ist, daß diejenigen, die Märkte gewonnen haben, nicht bereit sind, die Gewinne, die sie dort erzielen, in irgendeiner Weise verantwortungsvoll im Osten zu investieren.Zweitens verlangen wir eine Arbeitsmarktabgabe von Selbständigen und Beamten, damit die Arbeitsmarktpolitik in Ostdeutschland nicht mehr einseitig durch die Beitragszahler der Sozialversicherungen finanziert wird. Denn durch den Anstieg der Sozialversicherungsbeiträge wird die Arbeitslosigkeit im Osten in einem hohen Maße finanziert.Drittens fordern wir die Erhöhung der Mineralölsteuer und die Einführung einer Primärenergiesteuer.Das Föderale Konsolidierungsprogramm ist kein geeigneter Beitrag zur Stärkung des Föderalismus. Es benachteiligt die neuen Bundesländer — auch die finanzschwachen westlichen Bundesländer — und verstärkt zusätzlich die förderale und ökologische Schieflage durch die geplanten Sonderbelastungen der Bundesländer. Sie sollen verpflichtet werden, sich an der EG-Finanzierung zu beteiligen, die Regionalisierung der Bahn zu übernehmen und im Bereich der Sozialpolitik eine einseitige Belastung hinzunehmen. So geht es nicht. Das wissen Sie genau. Der Bund muß sich in ausreichendem Maße an der Finanzierung von Leistungsgesetzen beteiligen, deren Kosten zunächst auf der Landesebene anfallen.Die Verlagerung der Ausgaben für den Schienennahverkehr und den öffentlichen Personennahverkehr ist nur bei entsprechenden finanziellen Kompensationen vertretbar. Eine Streichung des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes ab 1995 ohne entsprechende Verlagerung des Finanzvolumens ist inakzeptabel. Ebenso ist eine neue Aufteilung der Kompetenzen im Bereich des Schienenverkehrs nur möglich, wenn gleichzeitig den Ländern und Kommunen entsprechende Finanzierungsmöglichkeiten zugebilligt
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12462 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. März 1993
Werner Schulz
werden. Eine Beteiligung der Länder und Kommunen an der Mineralölsteuer ist dafür eine Möglichkeit.Ich glaube, meine Damen und Herren, wir wären gut beraten, wenn wir diese Debatte zum Ausgangspunkt für eine größere Diskussion machten und die dringendsten Fragen klärten, Fragen, die wirklich zur föderalen Konsolidierung beitragen: Wie bringen wir unsere Umwelt wieder in Ordnung und schaffen gleichzeitig neue Arbeitsplätze in einer modernen Industrie? Wieviel Stahl und Steinkohle brauchen wir noch? Wieviel und welche Energie, vor allem welche risiko-, verlust- und schadstoffarme Erzeugungsverfahren nutzen wir künftig? Wie viele Soldaten und Beamte können wir uns noch leisten? Brauchen wir wirklich 16 Bundesländer und 662 Bundestagssitze? Wie viele Autobahnen wollen wir noch bauen? Was dürfen der Erhalt industrieller Kerne und der Umzug nach Berlin kosten? Wie bleibt Wohnraum bezahlbar, und wie viele neue Wohnungen müssen geschaffen werden?Ich glaube, der eigentliche Solidarpakt steht uns noch bevor. Ob die Kraft, den gesellschaftlichen Konsens herzustellen, in dieser Regierungskoalition vorhanden ist, wage ich allerdings zu bezweifeln.
Das Wort hat jetzt der Bundesminister für Wirtschaft, Dr. Günter Rexrodt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Konsolidierungsprogramm als wichtiger Teil des Solidarpakts ist Angelpunkt und Maßstab dafür, ob die Politiker, ob die Politik, ob die Opposition und die Regierung in der Lage sind, in wirtschaftlich schwieriger Zeit zu einem Konsens zu kommen. So erwarten es jedenfalls die Bürger, so sehen es die Menschen im Lande, die eine Beendigung des Gezerres haben wollen und die, wenn ich die Dinge richtig betrachte, durchaus wissen, wer sich bisher in diesem Einigungsprozeß, in diesem Diskussionsprozeß verweigert hat.
Nicht nur die Bürger, sondern insbesondere auch die Wirtschaft schauen auf die Diskutanten im Zusammenhang mit dem Solidarpakt. Auch das Ausland schaut auf sie. Was sich an den deutschen Kapitalmärkten vollzieht, ist bereits die Vorwegnahme einer Entscheidung, und zwar einer positiven Entscheidung. Ich sage Ihnen: Wenn wir nicht in den nächsten Tagen und Wochen zu einer Einigung kommen, geht mehr verloren, als wir denken. Es würde mehr passieren als nur eine Verlängerung des Entscheidungsprozesses. Ich sage Ihnen: Der Standort Deutschland würde als Ganzes darunter leiden, daß wir in Deutschland nicht in der Lage sind, diesen Konsens herbeizuführen.
Ökonomisch ist das Konsolidierungsprogramm ein sinnvolles Paket; es ist im übrigen nicht nur eine Aneinanderreihung von Einzelentscheidungen, dieoft einen sehr kleinen und unbedeutenden Umfang haben. In der Summe ist dieses Konsolidierungsprogramm mit der großen Finanzreform Ende der 60er Jahre vergleichbar. Es ist ein riesiges Paket, das uns in die Lage versetzen soll, 60 Milliarden DM pro Jahr allein im Finanzausgleich in die neuen Bundesländer zu transferieren. Es ist ein Paket, das ermöglicht, schon im Jahre 1993 ca. 102 Milliarden DM in die neuen Bundesländer zu bringen. Es ist ein Paket, das sich in seiner Dimension und seiner Struktur sehen lassen kann.
Es ist auch konjunkturpolitisch im Ergebnis letztlich der richtige Weg.Es wird von bestimmter Seite immer Keynes angeführt, der gesagt hat: Man muß in einer solchen Zeit die Nettoneuverschuldung erhöhen, muß die ausfallende und zurückbleibende private Nachfrage durch öffentliche Nachfrage ersetzen. Das ist in der Theorie richtig. Wenn man Keynes richtig gelesen hat, wird man finden, daß seine Theorien ihre Grenzen durch die Staatsverschuldung gesetzt bekommen. Wenn das zusätzlich aufgenommene Geld nur dazu dient, den Kapitaldienst für bereits aufgenommene Schulden zu leisten, dann kommen wir mit Keynes in Reinkultur nicht klar. Dann müssen wir vielmehr ohne Wenn und Aber Einsparungen vornehmen und müssen ohne Wenn und Aber auch die Einnahmesituation in den Haushalten verbessern.Wenn es um Einsparungen geht, handelt es sich nicht um Kaputtsparen. Davon kann überhaupt keine Rede sein. Das Sparvolumen liegt eher — das ist meine Meinung — an der Untergrenze des Notwendigen, und es ist wirtschaftlich unumgänglich.
Die Einsparungen, so bitter sie auch sind, sind meines Erachtens strukturell richtig. Im öffentlichen Dienst zu sparen bedeutet, den Staat schlanker zu machen. Das wollen wir; das ist unsere Politik.
Der Abbau von Steuervergünstigungen verringert das strukturelle Defizit. Das wollen wir. Der Abbau bestimmter Sozialtransfers dient der Stärkung gewisser Positionen und vor allen Dingen der Abschwächung des Lohngefälles, die wir dringend benötigen, wenn wir rationell und produktiv fertigen wollen.
Es geht doch nicht darum, daß man denen, die die geringsten Einkommen haben, noch etwas wegnimmt. Das ist nicht die Intention.
Überall da, wo Transfers von öffentlichen Mitteln stattfinden, kommt es zu Fehlentwicklungen. Das gilt auch für den unternehmerischen Bereich. Ich bin durchaus bereit, das zuzugeben. Deshalb müssen wir an Subventionen herangehen, müssen Subventionen abbauen und Subventionen streichen. Da hat es Fehlentwicklungen und Mißbräuche im Sozialbe-
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Bundesminister Dr. Günter Rexrodtreich gegeben. Lassen Sie mich sagen: Gehen Sie einmal zu den Menschen, die in diesen Einkommenskategorien leben und leben müssen! Sie ärgern sich darüber, daß Leute, die überhaupt nicht berechtigt sind, bestimmte Transferleistungen zu beziehen, Sozialleistungen mißbräuchlich erhalten.
Ich sage deutlich: Das ist nicht die Normalität. Das sind sicherlich Ausnahmen, aber die Ausnahmen machen in der Summe einen dreistelligen Millionenbetrag aus. Wir möchten für mehr Gerechtigkeit sorgen. Das ist die Intention.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wieczorek?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, das tue ich.
Herr Minister Rexrodt, wären Sie bereit, morgen mit mir nach Rheinhausen zu gehen, um den vielen Menschen, die dort ihre Arbeitsplätze verlieren werden — —
Die Frage richtet sich an den Minister, und er wird selbst antworten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich hatte bereits heute morgen Gelegenheit, mit dem Betriebsratsvorsitzenden von Hoesch/Krupp eine Diskussion zu führen. Ich habe gesagt — das wiederhole ich von dieser Stelle aus —: Ich bin jederzeit bereit, mit den Arbeitnehmern und den Arbeitgebern zu sprechen, Diskussionen zu führen, Lösungen zu suchen.
Ich halte aber nichts von spektakulären Auftritten, die nur dazu dienen, irgendwem die Schuld zuzuschieben.
Ein Gespräch mit den Arbeitnehmern ist mir jederzeit recht, auch morgen.
Herr Minister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Graf Lambsdorff?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, gestatte ich.
Herr Minister, sind Sie bereit, bei einem Besuch in Rheinhausen und bei diesen Gesprächen, die ich für sehr begrüßenswert halte, auch dafür zu sorgen, daß die Vertreter der IG
Metall in den Aufsichtsräten der betroffenen Unternehmen an diesen Gesprächen teilnehmen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Graf Lambsdorff, darauf würde ich bestehen. Es handelt sich bei allen Unternehmen um montanmitbestimmte Unternehmen. Die Verantwortung ist vor vielen Jahrzehnten vom Gesetzgeber bewußt auf breite Schultern gelegt worden.
Deshalb müssen auch die Aufsichtsräte die Verantwortung mittragen. Sie gehören mit ins Boot.
Herr Minister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Büttner?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Gern, noch eine. Aber anschließend möchte ich meine Rede fortsetzen.
Herr Minister, sind Sie bereit, bei Ihren Gesprächen mit den betroffenen Arbeitnehmern, die jetzt ihren Arbeitsplatz verlieren, auch zu sagen, daß ihnen nicht nur ihr Arbeitsplatz weggenommen wird, sondern daß ihnen nach Ihrem Vorschlag auch das Arbeitslosengeld gekürzt werden soll?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
So, wie Sie es sagen, ist es ja gar nicht richtig; das stimmt gar nicht. Ich habe eben erklärt, welches unsere Intention ist. Der Kollege Blüm hat deutlich gemacht, daß er sich darauf konzentriert, die Zahl der Mißbräuche zu verringern. Es wird gerade von den Arbeitnehmern begriffen, daß wir bei unserer Sozialpolitik dort ansetzen müssen,
um Spielräume zu haben, denen, die es wirklich verdienen, genügend — wenn es sein muß, auch mehr — geben zu können. Zur Zeit haben wir einen solchen Spielraum nicht, eben auf Grund dieser Entwicklung.
Ich komme von den Transfers zur Einnahmeseite im Konsolidierungsprogramm. Konjunkturpolitisch wäre es durchaus richtig, auf die Erhöhung von Steuern und Abgaben total zu verzichten. Aber wir befinden uns in einem Dilemma, das Sie kennen. Ihre bisherigen Diskussionsbeiträge waren ein Beweis, daß Sie im Prinzip Verständnis dafür haben. Sie wollen anders vorgehen als wir. Ich will begründen, warum wir so handeln möchten, wie wir es vorgeschlagen haben.Wir tun ja etwas, um die Einnahmeseite schnell verbessern zu können: bei der Versicherungsteuer, bei der Vermögensteuer und bei der Mineralölsteuer. Wir wollen es aber nicht bei den direkten Steuern machen, zumindest jetzt nicht, weil diese die Grundlage dafür sind, daß investiert wird. Und investiert werden muß in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation verstärkt. Deshalb sagen wir nein zur
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Bundesminister Dr. Günter RexrodtArbeitsmarktabgabe. Wir dürfen nicht diejenigen, die am ehesten und am schnellsten investieren können und müssen, ungerechtfertigt belasten. Wir wollen auch nicht das Vorziehen der Solidarabgabe, weil dies konjunkturpolitisch Gift wäre, weil konjunkturpolitisch das Gegenteil dessen erzeugt würde, was wir in dieser Situation brauchen.
Wir gehen beim Standortsicherungsgesetz mit den Spitzensteuern herunter, weil die Steuersätze Maßstab für die Investitionsfähigkeit der Unternehmen sind.
— Das ist so. — Wenn die Gewinne, die Investitionsgrundlage sind, geschmälert werden, dann haben sie keine Möglichkeit zu investieren. Wir wollen die Spitzensteuersätze jetzt senken, um von daher eine Erleichterung der Investitionen zu ermöglichen. Wenn die finanziellen Spielräume gegeben wären, dann würden wir die degressive Abschreibung sicherlich beibehalten. Darüber muß noch gesprochen werden. Im Moment ist das jedenfalls in Reinkultur und in volkswirtschaftlich optimaler Weise nicht möglich.Ich kenne alles in allem kein besseres Konzept als das, was vorgelegt worden ist.
— Von Ihnen habe ich noch kein besseres gesehen. Was da gekommen ist, ist in sich nicht stimmig. Das führt im übrigen dazu, daß die Lasten zwischen Bund und Ländern aus der Balance gebracht werden. Das ist ein Vorschlag, der zum Finanzinfarkt des Bundes führen würde.Die Länder müssen sich fragen lassen, warum es denn dazu gekommen ist, daß im Bundesrat das Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetz gescheitert ist.
Die westlichen Länder müssen sich fragen, warum sie denn bei öffentlichen Aufträgen die Firmen in den östlichen Ländern nicht ausreichend bedenken, sondern ganz egoistisch vorgehen und nur ihre eigene Region bedenken.
Die östlichen Länder müssen sich fragen lassen, ob es denn richtig ist, ob die 7,5 Milliarden DM, die für die Anpassung der Einkommen im öffentlichen Dienst auf 80 % aufgewendet werden, nicht an anderer Stelle, beispielsweise bei den Investitionen, besser angelegt wären.
Diese Fragen muß man stellen.
Alles in allem ist das vorliegende Programm das Ergebnis eines Abwägungsprozesses und der richtigen Balance. Etwas Besseres kenne ich nicht. Dieses FKP ermöglicht die Rückkehr zu einer soliden undkraftvollen Entwicklung auf einem Wachstumspfad. Ich sage Ihnen, daß der Finanzminister und der Wirtschaftsminister an einem Strang ziehen, und zwar in die gleiche Richtung.Schönen Dank.
Ich erteile das Wort der Kollegin Ingrid Matthäus-Maier.
Herr Präsident! Meine sehr verkehrten Damen und Herren! Wenn man Ihren Nachtragshaushalt aufschlägt, würde man erwarten, daß dort als allererstes z. B. stehen: Mittel für mehr Investitionen in Ostdeutschland oder für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oder für den Wohnungsbau.
Weit gefehlt. Dort steht gleich als erster Posten: 10 Millionen DM Mehrausgaben für die Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung zum Solidarpakt. Das ist ja nun wirklich ein dicker Hund. Die Menschen werden gleich doppelt gekniffen: Erst müssen sie unter Ihrer falschen Politik leiden, und dann müssen sie zusätzlich dafür zahlen, daß die Bundesregierung mit ihren Steuergeldern diese schlechte Politik auch noch als gute verkauft.
Ich sage Ihnen: Selbst wenn Sie 100 Millionen DM zusätzlich für die Regierungspropaganda einsetzten, Sie könnten die Bürger über die schlechte Regierungsbilanz nicht hinwegtäuschen.
Im Osten Deutschlands bricht in ganzen Regionen die Industrie zusammen. Von blühenden Landschaften, wie der Bundeskanzler sie versprochen hat, ist weit und breit nichts zu sehen. Unsere Wirtschaft befindet sich in einer schweren Rezession. Immer mehr Unternehmen bauen Arbeitsplätze ab oder gehen sogar in Konkurs. Es fehlen mindestens fünf Millionen Arbeitsplätze in Deutschland. In vielen Regionen im Osten Deutschlands hat jeder zweite seinen Arbeitsplatz verloren.Wir haben wieder Wohnungsnot in Deutschland. Die Mieten explodieren, und viele Menschen plagt die Sorge, daß sie bald keine bezahlbare Wohnung mehr haben werden.Und schließlich: Der Staat steht in der schwersten Finanzkrise seit dem Zweiten Weltkrieg. 1,7 Billionen DM Staatsschulden, — und allein im laufenden Jahr sollen zusätzliche 193 Milliarden DM Staatsschulden dazukommen.In dieser Situation, Herr Rexrodt, hören wir von Ihnen diese Rede. Ich habe gut zugehört: In der
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. März 1993 12465
Ingrid Matthäus-Maierganzen Rede kommt das Wort Arbeitslosigkeit oder Arbeitsloser nicht ein einziges Mal vor.
Wann lernen Sie denn endlich einmal aus Ihren Fehlern? Als der Vorvorgänger von Herrn Rexrodt, Herr Haussmann, der glücklose Wirtschaftsminister
zur Zeit der deutschen Einheit, als er nicht wieder Wirtschaftsminister wurde, gefragt wurde, „haben Sie Fehler gemacht?", hat er gesagt — ich fand es positiv, daß er das eingeräumt hat —, er habe den Fehler gemacht, zu glauben, daß die deutsche Einheit ganz überwiegend mit marktwirtschaftlichen Mitteln hergestellt werden könne. Er hätte einsehen müssen, daß das nicht geht. Herr Rexrodt, jeder hat das Recht zu lernen. Aber daß Sie noch zwei Jahre nach der deutschen Einheit — mittlerweile sind es fast drei Jahre — immer noch lernen und immer noch Reden halten wie „Wirtschaft wird in der Wirtschaft gemacht", obwohl jeder weiß, daß die Stärke unserer Wirtschaft darin liegt, daß wir ein intelligentes Zusammenspiel von Markt und Staat haben, das können die Menschen nun wirklich nicht mehr ertragen.
Und was tut die Bundesregierung? — Der Kanzler kündigt einen Solidarpakt an. Und das ist gut so; denn er ist überfällig. Das aber war vor einem halben Jahr. Jetzt ist März, und es gibt bis heute die unterschiedlichsten Vorschläge aus Ihren Reihen: mal Zwangsanleihe, mal Deutschlandanleihe, mal steuerfrei, mal zinslos; erst mehr Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, dann nein, dann weniger; mal Arbeitsmarktabgabe aus Ihren Reihen, dann Ergänzungsabgabe, dann wieder nein oder vielleicht doch; Steuererhöhungen nein, sagen Sie, aber tatsächlich erhöhen Sie sie dauernd. Höhere Schulden, — nein sagen Sie. Aber dann werden die Bundesschulden gleich in einem Schlag um 8 Milliarden DM erhöht. Einsparungen werden angekündigt, auch im Verteidigungshaushalt. Gut so.
Dann heißt es, der Jäger 90 wird gestoppt, dann doch nicht. Im Gegenteil, jetzt wird er noch teurer als vorher. Und Ihre Vignette: Erst ja, dann nein, und nach 24 Stunden dann ja und nein zugleich.
Nein, meine Damen und Herren, dieses Durcheinander ist nicht zu überbieten. Nichts ist klar, nichts wird entschieden. Die Verunsicherung von Bürgern und Wirtschaft geht endlos weiter. Das Markenzeichen dieser Bundesregierung ist leider das blanke Chaos.
Und was macht der Finanzminister? Er fährt nach Bayern und beklagt von dort das Chaos der Bundesregierung in Bonn. Aber, Herr Finanzminister, so einfach geht das doch nicht. Sie können doch nicht so tun, als hätten Sie mit dem Chaos nichts zu tun, wo doch jeder sieht, daß Sie in dieser Koalition einer der Oberchaoten sind.
Es ist klar, was zu tun ist, und die Vorschläge der SPD liegen auf dem Tisch. Für den Aufbau im Osten brauchen wir endlich ein Zukunftsinvestitionsprogramm Ost in Höhe von 10 Milliarden DM jährlich über zehn Jahre hinweg.Ich weiß, daß manche Menschen in Westdeutschland fragen: Muß das denn wirklich alles sein? Schaffen wir das denn? Aber ich sage Ihnen: Wenn der Osten Deutschlands ökonomisch nicht auf die Beine kommt, dann geht auch der Westen Deutschlands ökonomisch in die Knie. Deswegen muß jetzt die große gemeinschaftliche Anstrengung her.
Und sie ist auch vernünftig. Über die Hälfte der Menschen in Ostdeutschland trinken Trinkwasser, das nicht den EG-Normen entspricht. Andererseits sind Millionen Menschen arbeitslos. Da bietet es sich doch an, daß der Staat Kläranlagen und Abwasseranlagen in Auftrag gibt. Das schafft sauberes Trinkwasser, und das schafft Arbeitsplätze. Das ist doch allemal besser, als Menschen für Arbeitslosigkeit zu bezahlen, meine Damen und Herren.
Wir brauchen eine kommunale Investitionspauschale für die neuen Länder, die sich doch 1991 mit fünf Milliarden DM bewährt hat. Die meisten von Ihnen sind doch dafür. Warum, um Himmels willen, können wir es dann nicht gemeinsam machen!Oder: Die Entindustrialisierung Ostdeutschlands muß verhindert werden. Wir Sozialdemokraten haben es begrüßt, daß der Bundeskanzler den Erhalt der industriellen Kerne Ostdeutschlands versprochen hat, selbstverständlich nur der sanierungsfähigen. Aber: Worte gab es, Taten bisher leider nicht. Wird das ein neuer Wortbruch des Bundeskanzlers?, fragen wir.
Und wo die Bundesregierung handelt, tut sie genau das Falsche. Beispiel: Kürzung beim Wohnungsbau. Wie kann man eigentlich auf die Schnapsidee kommen, angesichts von zwei Millionen fehlenden Wohnungen in Ost und West beim sozialen Wohnungsbau, bei der Eigenheimförderung und beim Bausparen zu kürzen, meine Damen und Herren! Hier darf nicht
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12466 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. März 1993
Ingrid Matthäus-Maiergekürzt werden. Im Gegenteil, hier muß mehr getan werden, damit die Wohnungsnot bekämpft wird.
Anderes Beispiel: Kürzung von Stellen in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Sehen Sie denn nicht, daß Sie zusätzlich viele tausend Menschen dem Schicksal der Arbeitslosigkeit ausliefern?
Sehen Sie denn außerdem nicht, daß die Einsparung, die Kürzung bei ABM-Stellen zum größten Teil reine Luftbuchungen sind? Denn die Menschen, für die es keine Arbeitsbeschaffungsstellen gibt, müssen dann doch Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe oder Sozialhilfe erhalten. Das heißt, Sie sind bereit, Arbeitslosigkeit zu bezahlen statt vernünftige Arbeit. Können Sie denn wirklich nicht begreifen, daß Sie damit volkswirtschaftliche Verschwendung betreiben?Mit ABM macht z. B. ein Arbeitsloser Umweltsanierung. Oder ein Arbeitsloser ist mit ABM bei „Essen auf Rädern" für alte und behinderte Menschen tätig. Das wird jetzt gestoppt. Sehen Sie doch endlich ein: Es ist allemal vernünftiger, Menschen für Arbeit als für erzwungenes Nichtstun zu bezahlen, meine Damen und Herren.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Kansy?
Frau Kollegin Matthäus-Maier, an welcher Stelle dieses Programms haben Sie denn gefunden, daß eine einzige Mark für den sozialen Wohnungsbau gekürzt wird? — Ansonsten kann ich Ihnen, Herr Klose, die Stelle zeigen, wo 800 Millionen DM zusätzlich für den Wohnungsbau in Ostdeutschland stehen, wenn Sie es wünschen. Wäre es vor diesem Hintergrund nicht vernünftig, sich mit Realitäten auseinanderzusetzen und Ihre alte Platte endlich einmal in die Schublade zu legen?
Herr Kansy, dort sind die Unterlagen. Bitte, Herr Kollege Klose, überreichen Sie sie doch gleich Herrn Kansy; denn ich kenne sie.
Herr Kansy, wir sollten uns über eines einigen. Ich weiß, daß sich die Koalition oft über meine Reden ärgert, weil ich ja Klartext rede.
Aber, meine Damen und Herren, daß ich falsche
Zahlen benutze, haben Sie bisher noch nie behauptet;
die haben immer gestimmt. Deswegen: Gehen Sie in sich, und erzählen Sie nicht so etwas!
Gestatten Sie eine Zusatzfrage des Kollegen Kansy?
Frau Kollegin Matthäus-Maier, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß Sie mir nicht das Programm der Bundesregierung, sondern eine Pressemitteilung der SPD haben übergeben lassen?
Sehr geehrter Herr Kollege Kansy, in dieser Presseerklärung der SPD wird genau das aufgeschrieben, was da auf Ihrem Tisch liegt, und auf Ihr Konzept Bezug genommen. Schauen Sie nach, es steht alles drin, Kürzungen in diesem — —
Herr Kansy, ich kann Sie ja verstehen.
Sie sind, wenn ich das richtig weiß, der wohnungsbaupolitische Sprecher der Union.
Und daß sich Ihnen der Magen umdreht, wenn Ihre Koalition gerade in diesem Bereich kürzt, kann ich verstehen. Aber dann kritisieren Sie Ihre Leute und nicht uns!
Frau Kollegin Matthäus-Maier, die Abgeordnete Irmgard Schwaetzer würde Ihnen gern eine Frage stellen.
Frau Matthäus-Maier, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich Sie nachdrücklich bitte, mir die Seite und die Artikelnummer aus dem jetzt vorliegenden Föderalen Konsolidierungsprogramm vorzulesen, auf die sich Ihre unglaubliche Behauptung beziehen könnte,
daß bei den Mitteln für den sozialen Wohnungsbau im Westen gekürzt würde? Können Sie mir auch nur eine Seite aus einem Entwurf der Bundesregierung oder der Koalitionsfraktionen vorlegen, aus der das hervorginge?
Sind Sie, da Ihnen das nicht gelingen wird, bereit, zurKenntnis zu nehmen, daß es sich offensichtlich um
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. März 1993 12467
Dr. Irmgard Schwaetzereinen Irrtum eines Mitarbeiters der SPD-Fraktion handelt?
Frau Kollegin, das bin ich überhaupt nicht. Denn Sie haben zwischen Ihrem ursprünglichen Entwurf und dem, was heute vorliegt, gelernt.
Die Menschen sollten wissen, daß in Ihrem ursprünglichen Entwurf sogar noch die Kürzung des Wohngeldes stand. Und nachdem wir massiv — —
Ich wiederhole: Sie haben nach Ihrem ursprünglichen Entwurf gelernt;
denn ursprünglich stand darin sogar die Kürzung des Wohngeldes. Diese Kürzung haben Sie, Gott sei Dank, zurückgenommen. Im übrigen ist das, was ich hier sage, richtig, Frau Kollegin.
Frau Kollegin Matthäus-Maier, die Kollegin Schwaetzer würde gern eine weitere Frage stellen.
Ja, aber vielleicht sollten wir das dann abstellen.
Liebe Frau Kollegin Ingrid Matthäus-Maier, ich bin selbstverständlich bereit, dies abzustellen, wenn wir uns darauf einigen, daß Sie mir bis heute nachmittag um zwei Uhr vorlegen, worauf Sie sich beziehen.
Da ich davon ausgehe, daß ich bis dahin von Ihnen nichts bekommen haben werde, bitte ich Sie allerdings auch, zur Kenntnis zu nehmen, daß das, was Sie hier betreiben, eine unglaubliche Verunsicherung von Menschen in unserem Lande mit nicht bewiesenen Behauptungen ist.
Frau Kollegin Schwaetzer, es gehört zur Seriosität des Umgangs unter uns,
daß ich, wenn das, was ich gesagt habe, falsch ist, es selbstverständlich offiziell mitteilen werde. Das gehört zum Umgang miteinander.
Aber ich bin vom Gegenteil überzeugt. Wir haben Ihr Konzept sorgfältig durchstudiert, und deswegen werden wir auf die Sache zurückkommen, denn es ist leider so.
Nächstes Beispiel.
Die Bundesregierung will beim Arbeitslosengeld, bei der Arbeitslosenhilfe und bei der Sozialhilfe kürzen. Es gebe Mißbrauch, heißt es. Daß Mißbrauch beseitigt werden muß, ist eine bare Selbstverständlichkeit. Die Steuerzahler haben ein Recht darauf. Wenn die Bundesregierung von Mißbrauch weiß und bisher nichts dagegen unternommen hat, hat sie ihre Arbeit nicht getan.
Mißbrauch gibt es aber vor allem auch bei der Steuerhinterziehung, der Subventionserschleichung und der illegalen Beschäftigung durch Unternehmen. Was tut eigentlich die Bundesregierung gegen diese milliardenschweren Mißbräuche? Fehlanzeige! Ja, noch schlimmer: Durch das sogenannte Zinsabschlagsgesetz hat die Bundesregierung Steuerhinterziehungen sogar noch erleichtert und, indem Sie bis heute das Gewinnaufspürungsgesetz im Bundestag blockieren, fördern Sie die Geldwäsche mit großem Schaden für die Bürger und die Wirtschaft.
Verzeihung, Frau Kollegin, darf ich Sie einen Moment unterbrechen.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich bitte um ein bißchen mehr Ruhe, damit die Rednerin zu verstehen ist.
Ich darf mir die Bemerkung an die Rednerin erlauben: Es gibt eine gewisse Tonstärke, die den Kollegen wiederum den Eindruck vermittelt, sie könnten trotzdem reden, weil das übertönt würde.
Aber, Herr Klein, das Problem ist: Wenn der Geräuschpegel so hoch ist wie hier, was soll man dann machen?
Man sollte versuchen, mehr herunterzudrehen.
Wir fordern Sie auf: Bekämpfen Sie den Mißbrauch an allen Stellen, aber nehmen Sie Mißbrauch nicht als Vorwand, um gerade bei denen zu kürzen, die ehrlich sind und die Leistung zu Recht beziehen. Wollen Sie denn wirklich die Stahlarbeiter in Rheinhausen oder in Brandenburg zusätzlich zum Verlust des Arbeitsplatzes auch noch
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12468 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. März 1993
Ingrid Matthäus-Maiermit der Kürzung des Arbeitslosengeldes bestrafen, meine Damen und Herren?
Das steht noch in Ihrem Gesetzentwurf drin!Sie argumentieren, der Abstand zwischen Sozialhilfe und Arbeitseinkommen sei zu gering. Der Abstand ist in der Tat zu gering, aber nicht erst seit heute, sondern seit Jahren. Dies liegt aber doch nicht daran, daß die Sozialhilfe zu üppig wäre, sondern daran, daß die Bundesregierung in unverantwortlicher Weise die kleinen Einkommen mit Steuern und Abgaben belastet.
Hören Sie sich die Zahlen an! Wer als Lediger z. B. 1 700 DM brutto im Monat oder als Verheirateter mit zwei Kindern 3 300 DM verdient, dem werden von jeder Lohnerhöhung für Steuern und Abgaben mehr als 70 % abgezogen. —Es ist interessant, daß Sie keine Zwischenfrage stellen. — Bei diesem Einkommen sind die Abzüge von jeder Mark Lohnerhöhung also höher als bei Spitzeneinkommen über 240 000 DM, für die Sie den Spitzensteuersatz senken wollen. So greifen Sie den kleinen Leuten mit Belastungen von 70 % in die Tasche, und an die Großen verteilen Sie Steuergeschenke. Das paßt nicht zusammen, meine Damen und Herren.
Haben Sie denn vergessen, daß das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe in den letzten drei Jahren gleich dreimal festgestellt hat, daß Sie in verfassungswidriger Weise das Existenzminimum der Menschen besteuern und auch den Familien mit Kindern zuviel Steuern abnehmen?
Seit Jahren erheben wir Sozialdemokraten die Forderung, den steuerlichen Grundfreibetrag zu verbessern
und die Löhne und Gehälter nicht mehr so scharf zu besteuern, wie das bei Ihnen der Fall ist, und endlich das Kindergeld vom ersten Kind an auf 250 DM anzuheben, solide und gerecht durch Umschichtung finanziert.Eine Senkung des — —
Sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Kollegen Austermann zu beantworten?
Ja.
Frau Kollegin, ich würde Sie doch darum bitten, zu erklären, ob Sie wissen, für welchen Zeitraum die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gegolten hat, die besagt
hat, daß das, was an Kinderfreibeträgen bzw. Kindergeld gewährt worden ist, zu niedrig war.
Alle drei Urteile gehen in den Zeitraum der alten sozialliberalen Koalition hinein.
Darauf brauchen Sie uns doch nicht aufmerksam zu machen. Ich sage sehr wohl die Wahrheit, auch wenn Sie für uns nicht rühmlich ist. Aber Sie sind doch seit dieser Zeit über zehn Jahre an der Regierung. Daß Sie das nicht ausreichend geändert haben, obwohl Karlsruhe das festgestellt hat, das ist doch das eigentliche Problem.
Und wenn Sie hier davon reden, der Unterschied zwischen Sozialhilfe und niedrigen Einkommen sei zu gering, was ich in vielen Einzelfällen ausdrücklich bestätigte, dann wäre es doch gerade Ihre Aufgabe, den Grundfreibetrag anzuheben, das Existenzminimum nicht mehr zu besteuern,
das Kindergeld anzuheben und unseren Finanzierungsvorschlägen zu folgen.
Meine Damen und Herren, wir wissen, eine Senkung der Lohn- und Einkommensteuer durch Anhebung des Grundfreibetrages kostet Geld. Deswegen haben wir — —
Erlauben Sie — —
Lassen Sie mich diesen Gedanken zu Ende bringen. — Deswegen haben wir ja den Finanzierungsvorschlag gleich mitgeliefert, nämlich eine Umschichtung: weniger Steuern auf Arbeit, dafür mehr Steuern auf Energie. Das ist der Kern dessen, was wir „ökologische Steuerreform" nennen.
Wie haben Sie 1989, als wir das hier im Bundestag detailliert vorgetragen haben, herumgetobt!
Verzeihung, ist das noch Antwort auf die Zwischenfrage oder Teil Ihrer Rede?
Das ist Teil meiner Rede.
Dann darf ich die Frage stellen, ob Sie eine zweite Zwischenfrage des Kollegen Austermann zulassen.
Die lasse ich gleich zu, habe ich gesagt, aber ich möchte erst diesen Gedanken zu Ende bringen.Wir haben die ökologische Steuerreform hier als Modell vorgetragen. Sie haben damals furchtbar geschimpft; ich erinnere mich gut daran. Aber ich sage Ihnen: Sie werden aus Ihrer Neinsagerecke herauskommen müssen; denn zu einer ökologischen Steuerreform gibt es keine Alternative. Sie wird kommen, sie
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. März 1993 12469
Ingrid Matthäus-Maiermuß kommen, und auch Sie werden sie nicht verhindern können.
Jetzt bitte schön, Herr Kollege.
Ich will den Zusammenhang zu der ersten Frage, die ich gestellt habe, wiederherstellen. Frau Kollegin, Sie haben ja den Eindruck erweckt, als wenn da eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erforderlich gewesen wäre, um unsere Politik zu korrigieren.
Nachdem Sie das hier nun richtiggestellt haben, müßte, glaube ich, eine zweite Frage an Sie gestellt werden: Sind Sie bereit, zuzugeben, daß wir die Geringverdiener, die Sie besonders gemeint haben, durch die Steuerreform der Jahre 1986, 1988, 1990 weiter kräftig entlastet haben und daß Sie diese Steuerreform damals bekämpft haben?
Also bitte, Herr Kollege, ich muß Ihnen ausdrücklich widersprechen. Sie haben jeweils erst gehandelt, nachdem das Bundesverfassungsgericht Sie dazu verurteilt hat. Und nicht nur das! Ich darf uns alle daran erinnern — und das ist etwas, was wirklich zur Politikverdrossenheit der Familien mit Kindern beigetragen hat —: Sie haben vor der Wahl den Eindruck erweckt, daß Sie rückwirkend für alle Kinderfamilien etwas an Verbesserungen tun würden, auch für die, die nicht Einspruch und Klage erhoben hatten. Bei Ihrer Änderung haben aber rückwirkend nur die etwas bekommen, die Klage oder Einspruch erhoben hatten. Genauso war es. Obwohl Sie dauernd von der heilen Familie reden, ist Ihre Familienpolitik so, daß seit Jahren die Familien mit Kindern unter die Räder kommen. Daran gibt es keinen Zweifel.
Deswegen werden Sie auch an unserer Forderung nach 250 DM Kindergeld vom ersten Kind an nicht vorbeikommen. Deswegen ist auch Ihr Vorschlag, den Grundfreibetrag auf 12 000 DM bzw. — bei Verheirateten — 19 000 DM anzuheben, schlicht und einfach wieder Unrecht gegenüber den Familien, meine Damen und Herren.
Frau Kollegin Matthäus-Maier, die Kollegin Blunck würde gem eine Zwischenfrage stellen.
Wenn Sie den steuerlichen Kinderfreibetrag auf Mark und Pfennig umrechnen, ergibt sich, daß ein Niedrigverdiener im Monat für sein Kind über den steuerlichen Kinderfreibetrag eine Entlastung von 65 DM erhält, ein Spitzenverdiener im Monat aus dem steuerlichen Kinderfreibetrag für sein Kind eine Entlastung von 181 DM, meine Damen und Herren,
daß der Spitzenverdiener für sein Kind fast dreimal so viel Entlastung erhält wie die kleinen Leute.
Wir alle werden später einmal in Rente gehen, und jeder hat sich etwas vorgenommen, was er bis dahin im Bundestag erreichen möchte. Ich muß Ihnen sagen: Ich möchte dann erreicht haben, daß die Ungerechtigkeit, daß Kinder reicherer Leute dem Staat sehr viel mehr wert sind,
weg ist; denn nur ein einheitliches Kindergeld ist gerecht.
Sie werden uns da folgen müssen.
Daß Sie das selber wissen — das geht über die heutige Debatte hinaus, aber da Sie die Familiendebatte anfangen, lassen Sie uns dabei bleiben —, haben Sie 1975 gezeigt: Mit Ihnen zusammen — ich war noch gar nicht im Bundestag —
hat der ganze Bundestag mit den Stimmen auch von CDU und F.D.P. die damaligen steuerlichen Kinderfreibeträge abgeschafft und das einheitliche Kindergeld für alle eingeführt. Jedermann weiß, daß Kinder von kleinen Leuten es im Leben ohnehin schwieriger haben. Daß die anderen Kinder dem Staat dann aber auch noch sehr viel mehr wert sind, das können wir nicht akzeptieren.
Jetzt würde gern noch der Kollege Weng eine Frage stellen.
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12470 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. März 1993
Sie rechnen das aber nicht auf meine Redezeit an? — Okay.
Die Zwischenfragen aus den eigenen Reihen werden angerechnet, weil sie als Hilfestellung angesehen werden, Frau Kollegin.
Gestehen Sie mir zu, daß das Urteil des Verfassungsgerichts, auf das Sie sich beziehen, aber gerade den Aspekt zur Intention hat, daß es darum geht, Steuerfreibeträge für Kinder in größerem Maße anzulegen?
Herr Kollege Weng, dies ist ausgesprochen unzutreffend.
Wir alle haben, wie Sie wissen, dieses Urteil gemeinsam und genau studiert. Es war Gegenstand von Anhörungen im Finanzausschuß. — Ich sehe, daß die Kollegen aus dem Finanzausschuß nicken.Es geht um folgende Frage: Das Urteil von Karlsruhe stellt dem Gesetzgeber ausdrücklich anheim, ob er die ausreichende Berücksichtigung der Belastung der Familien mit Kindern über den steuerlichen Weg
oder über das Kindergeld oder über den dualen Weg durchführt. Das ist ein bißchen kompliziert, aber genau das steht in dem Urteil. Wie der Gesetzgeber das macht, läßt Karlsruhe offen. Karlsruhe verlangt aber — und das ist richtig —, daß Familien mit Kindern bei der Steuer eindeutig entlastet werden. Wenn wir sagen: Kindergeld — 250 DM vom ersten Kind an, dann geht das wunderbar über eine Steuererleichterung. Dann muß das sogleich von der Steuerschuld abgezogen werden. Das heißt: Jemand, der z. B. am Fließband bei Ford in Köln arbeitet und zwei Kinder hat, zahlt dann eben zweimal 250 DM weniger Lohnsteuer als der Kollege neben ihm, der keine Kinder hat. Das ist sozial gerecht und verfassungsgemäß.
Sie gucken so ungläubig, aber es ist wirklich so. Schauen Sie sich das Urteil an!
Meine Damen und Herren, wir debattieren heute über etwas, was Sie Konsolidierungsprogramm nennen. An der Konsolidierung der Staatsfinanzen führt nun in der Tat kein Weg vorbei. In Ihrem Konzept ist davon aber nicht ausreichend die Rede; denn nach Ihren eigenen Zahlen steigt in den vier Jahren bis 1996 die Staatsverschuldung um mehr als 600 Milliarden DM von heute 1,7 Billionen DM auf dann 2,3 Billionen DM; steigt die öffentliche Verschuldung je Einwohner — vom Baby bis zum Greis — von 21 000 DM auf über 29 000 DM; steigen die Zinsausgaben des Staates von 135 Milliarden DM in diesem Jahr auf 182 Milliarden DM 1996 an. Jede fünfte Steuermark muß dann allein für Zinsen der öffentlichen Hand ausgegeben werden. Nein, meine Damen und Herren, es führt kein Weg daran vorbei: Die Bundesregierung ist mit der Politik des Schuldenmachens am Ende. Es muß endlich umfassend und kräftig gespart werden.Dabei wird allerdings eines leicht übersehen: Die beste Sparbüchse ist eine gute Wirtschaftspolitik. Eine Politik für mehr Arbeitsplätze und Wachstum senkt die Kosten der Arbeitslosigkeit und bringt zusätzliche Steuereinnahmen. Ein großer Teil unserer heutigen Finanzprobleme ist darauf zurückzuführen, daß diese Bundesregierung bei der deutschen Einheit fast keinen wirtschaftspolitischen Fehler ausgelassen hat.Ich greife nur ein Beispiel heraus: die falsche Eigentumsregelung in Ostdeutschland. Der Deutsche Industrie- und Handelstag hat ausgerechnet, daß dieser wirtschaftspolitische Kardinalfehler bei der deutschen Einheit Investitionen in Höhe von 200 Milliarden DM verhindert hat. Übersetzt in Arbeitsplätze heißt das, daß dieser Fehler der Bundesregierung rund eine Million Menschen arbeitslos gemacht hat. Diese unnötige und vermeidbare Arbeitslosigkeit kostet die öffentlichen Kassen mehr als 20 Milliarden DM im Jahr. Dieser Fehler der Bundesregierung bedeutet beim Bruttosozialprodukt einen Wohlstandsverlust von 50 bis 100 Milliarden DM im Jahr.Meine Damen und Herren, wer eine solche investitionsfeindliche Eigentumsregelung durchgesetzt hat, der müßte sich eigentlich aus der wirtschaftspolitischen Verantwortung verabschieden.
Unsere zusätzlichen Sparvorschläge liegen auf dem Tisch, und zwar seit geraumer Zeit. Meine Damen und Herren, wer kann eigentlich verstehen, warum die Bundesregierung im Verteidigungshaushalt allein in diesem Jahr 1,5 Milliarden DM für den Kauf neuer Munition vorgesehen hat, nachdem schon im Vorjahr 1,9 Milliarden DM für neue Munition ausgegeben wurden? Und daß Ihnen der Jäger 90 mittlerweile finanziell über den Kopf gewachsen ist, das kann man jeden Tag in der Zeitung nachlesen.
Sehen Sie denn nicht selber, Herr Waigel, daß es besser wäre, gemeinsam mit dem Verteidigungsminister den Jäger 90 einzusparen, statt sich dauernd wie ein Lobbyist der bayerischen Rüstungsindustrie zu benehmen und dafür Geld aus dem Fenster zu werfen?
Meine Damen und Herren, auch wenn Sie heute noch nein sagen — und ich weiß ja, daß Sie das nicht gern hören —, es wird Ihnen gehen wie in der Vergangenheit: Nach jahrelangem Widerstand, der die Steuerzahler viel überflüssiges Geld gekostet hat, mußten Sie am Ende doch immer wieder klein beige-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. März 1993 12471
Ingrid Matthäus-Maierben. Wackersdorf wurde gestoppt. Erst wollten Sie das nicht. Der Schnelle Brüter wurde gestoppt. Erst wollten Sie das nicht. Der Höhenaufklärer Lapas wurde gestoppt. Erst wollten Sie das nicht. Auch der Jäger 90 wird gestoppt werden.
Passen Sie auf, Herr Waigel, daß Sie nicht noch selber zusammen mit diesem Vogel abstürzen!
Die Liste der Subventionen, die nach Meinung der Sozialdemokraten abgebaut werden können, ist lang: Abbau der steuerlichen Abzugsfähigkeit von Bewirtungsspesen, von Luxus-Pkw, von Schmiergeldern, von der Streichung des Hausgehilfinnenfreibetrags bis zur Rücknahme der Vermögenssteuersenkung. Sie wissen, daß zwei Seiten konkreter Vorschläge der Sozialdemokraten vorliegen. Herr Finanzminister, ein Teil dieser Vorschläge ist von den Ministerpräsidenten — auch denen der CDU — vor einer Woche in Potsdam aufgegriffen worden. Wir begrüßen dies ausdrücklich.Trotzdem: Nachdem die Bundesregierung die Staatsfinanzen ins Chaos gestürzt hat, führt auch an Steuererhöhungen kein Weg vorbei. Sie sagen zwar, es gebe keine Steuererhöhungen, aber tatsächlich erhöhen Sie dauernd die Steuern — zuletzt gerade die Mehrwertsteuer. Oder Sie benennen sie nur um. Meinen Sie wirklich, die Leute merken das nicht, wenn Sie das unsägliche Ding Vignette oder Gebühr nennen? Das ist doch in der Sache nichts anderes als eine Kopfsteuer für Autofahrer; und die muß schleunigst vom Tisch, meine Damen und Herren.
Es gibt allerdings zwei entscheidende Unterschiede zwischen Ihrer und unserer Steuerpolitik. Der erste: Wir sagen den Menschen die Wahrheit, auch wenn sie unbequem ist. Sie sagen den Menschen in Sachen Steuern nicht die Wahrheit. Dies ist übrigens ein wichtiger Grund für die Politikverdrossenheit.Glauben Sie denn, daß wir Sozialdemokraten gerne hier stehen und den Menschen erklären, daß Steuererhöhungen nötig sind? Das ist kein schönes Gefühl. Aber ich frage Sie, meine Damen und Herren von der Koalition: Wie müssen Sie sich, die Sie dauernd vor Wahlen sagen „keine Steuererhöhungen", um sie dann nach den Wahlen vorzunehmen, erst fühlen? Ich sage Ihnen, wie ich mich an Ihrer Stelle fühlen würde: Ich würde mich schlicht und einfach schämen, meine Damen und Herren.
Zweiter Unterschied: Sie packen dauernd in die Tasche der kleinen Leute. Die Gerechtigkeitslücke wird von Mal zu Mal größer. Finanzminister Waigel behauptet zwar dauernd das Gegenteil, aber auf eine offizielle Anfrage von den Sozialdemokraten konnte er die Rechnung, die er auch hier heute morgen wieder vorgetragen hat, nicht detailliert beweisen.Nein, die Gerechtigkeitslücke darf nicht größer werden; sie muß geschlossen werden. Deswegensagen wir: Neben Sparen und Subventionsabbau brauchen wir eine sozial gerechte Ergänzungsabgabe für Einkommen oberhalb von 120 000 DM bei Verheirateten, und zwar ab 1. Juli 1993. Daß Leute mit unserem Einkommen seit dem letzten Juli keinen Solidaritätszuschlag mehr zahlen, das will doch den meisten von uns eigentlich nicht in den Kopf.Jetzt sagt die Bundesregierung, das sei Gift für die Konjunktur.
Natürlich haben in einer Rezession Steuererhöhungen genauso wie Ausgabenkürzungen und Subventionsabbau nicht gerade eine konjunkturfördernde Wirkung. Natürlich würde es eher dem Lehrbuch entsprechen, jetzt Steuern zu senken, Ausgaben nicht zu kürzen und Subventionsabbau zu verschieben. Aber Politik nach dem Lehrbuch wäre heute falsch; denn der Staat ist bis über die Halskrause verschuldet, und es darf nicht so weitergehen, daß wir dauernd die Lasten, die wir haben, nun schon unseren Enkeln und nicht nur unseren Kindern hinschieben. Daß das nicht nur unsere Meinung ist, sehen Sie daran, daß die Herren Biedenkopf, Geißler und Münch von der CDU das seit langem fordern. Nein, meine Damen und Herren, was Gift für die Konjunktur ist, das ist die Mehrwertsteuererhöhung zum 1. Januar 1993.Damit aber eine solche Ergänzungsabgabe konjunkturverträglich ist, brauchen wir eine Einkommensgrenze. Ein Solidaritätszuschlag, wie er von Ihnen geplant ist — bis unten durch —, wäre in der Tat konjunkturunverträglich, weil er auch bei den kleinen Leuten, die eine hohe Konsumquote haben, die Nachfrage einschränkt. Deswegen wäre es ein schwerer Fehler, eine Ergänzungsabgabe ohne Einkommensgrenze einzuführen.Meine Damen und Herren, der Solidarpakt muß kommen: für mehr Investitionen im Osten, für mehr Arbeitsplätze in West und Ost, für mehr Wohnungen und für eine sozial gerechte, solide Finanzierung! Machen Sie aus dem Solidarpakt eine Solidaritätsaktion und bitte nicht wieder ein Abkassieren zu Lasten der kleinen Leute! Die SPD ist zur Mitarbeit bereit.Ich danke Ihnen.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Helmut Wieczorek das Wort.
Meine Damen und Herren! Es hat eben einige Mißverständnisse um den Wohnungsbau und die vorgenommenen Kürzungen gegeben.
— Wenn Sie mir bitte zuhören würden, Herr Kollege, bis ich fertig bin; dann können Sie Ihre Zwischenrufe noch machen, so qualifiziert sie immer sein mögen.
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12472 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. März 1993
Helmut Wieczorek
In der Tat, Frau Schwaetzer, stehen im Haushalt Ihres Ministeriums, im Einzelplan 25, in diesem Jahr im sozialen Wohnungsbau keine Kürzungen.
— Bevor Sie klatschen, hören Sie mir bitte bis zu Ende zu: Auf der Grundlage dieses Haushalts ist ein Finanzplan erstellt worden, der Ihnen ebenfalls vorliegt. In diesem Finanzplan, der die Finanzen des Bundes bis 1995 regelt, ist vorgesehen, die Finanzhilfen des Bundes für den sozialen Wohnungsbau wie folgt zu entwickeln: 1993 2,7 Milliarden DM, 1994 2,5 Milliarden DM, 1995 1,8 Milliarden DM ff.
Wenn Sie mitgerechnet haben: Insgesamt kommen wir auf 7 Milliarden DM.Darüber hinaus ist im Nachtragshaushalt vorgesehen, die Förderung für den Bergarbeiterwohnungsbau um 80 Millionen DM in 1994 und um 80 Millionen DM in 1995 zurückzunehmen; und diese Finanzhilfen für den Bergarbeiterwohnungsbau entsprechen ja den Finanzhilfen für den sozialen Wohnungsbau.Ich hoffe, ich habe dazu beigetragen, daß die Mißverständnisse ausgeräumt sind.
Frau Kollegin Schwaetzer zu einer kurzen Antwort!
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Erstens, Herr Kollege Wieczorek, akzeptiere ich natürlich, daß Sie gesagt haben, daß Sie sich geirrt haben, daß Sie sich getäuscht haben.
— Es ist doch völlig unbestritten, daß das FKP — und darüber unterhalten wir uns — keinerlei Kürzungen beim sozialen Wohnungsbau vorsieht.
Zweitens. Zu dem, was Sie angeführt haben, ist zu sagen: Dies ist ein Punkt, über den wir uns mit Ihnen in diesem Plenum schon mehrfach unterhalten haben, und wenn Sie dagewesen wären, hätten Sie gewußt, worauf das zurückzuführen ist, nämlich darauf, daß wir ein Sonderprogramm aufgelegt haben, zwischen Bund und Ländern vereinbart und — übrigens auch auf Wunsch der SPD-regierten Länder — auf drei Jahre begrenzt. Es läuft 1994 aus und ist speziell für Familienwohnungen in Ballungszentren bestimmt.
Aber damit wir wissen, was wir tatsächlich in den nächsten Jahren an öffentlich gefördertem Wohnungsbau brauchen, haben wir durchgesetzt, daß in diesem Jahr eine Wohnungsstichprobe gemacht wird,
damit wir bei den Bedarfszahlen endlich nicht mehr
mit der Stange im Nebel stochern, um, auf diesen
Zahlen aufbauend, zu entscheiden, ob dieses Sonderprogramm über das Jahr 1994 hinaus fortgeführt werden muß. Wenn Sie hier seriös und ehrlich debattieren würden, dann würden Sie dies auch zur Kenntnis nehmen und nicht mit dem kalten Kaffee der letzten Debatten hier noch einmal aufwarten.
Ich erteile dem Herrn Kollegen Hansgeorg Hauser das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Frau Kollegin Matthäus-Maier, in Holland gibt es ein Museum für alte Leierkästen und alte Platten. Ich glaube, Sie könnten da mit den Dingen, die Sie bringen, ganze Abteilungen füllen.
Es ist schon ein starkes Stück, wenn man sagt, mit dem Zinsabschlaggesetz hätten wir zur Steuerhinterziehung beigetragen.
Im Gegenteil, wir haben die Sparerfreibeträge verzehnfacht und gerade die kleinen Sparer aus dieser Grauzone herausgebracht, die mit den wesentlich zu niedrigen Steuerfreibeträgen vorhanden war.
Es ist auch eigenartig, daß Sie offensichtlich noch nicht begriffen haben, daß wir nach dem Verfassungsgerichtsurteil zum Grundfreibetrag eine Verwaltungsanweisung bekommen haben, mit der in einer besonderen Tabelle Z diese niedrigen Einkommen freigestellt worden sind. Wir werden bis 1996, wie der Auftrag des Verfassungsgerichts es vorsieht, auch ein entsprechendes Gesetz dazu vorlegen und dies dann auch regeln.
Aber lassen Sie mich zum eigentlichen Thema des Tages zurückkommen. Ein wichtiger Bestandteil im Rahmen der gesamten Lastenverteilung im Föderalen Konsolidierungsprogramm ist der Abbau von Steuervergünstigungen. Daß hier vom Finanzminister gute Arbeit geleistet worden ist, gestehen sogar Sie zu; denn Sie haben dagegen keine Einwendungen erhoben — mit Ausnahme der Streichung der Steuerfreiheit für die Bergmannsprämien, die Sie in Ihrem eigenen Papier nicht übernommen haben.Die SPD hat aber dann gemeint, noch weitere Vorschläge machen zu müssen. Einiges davon kann man vielleicht noch diskutieren, beispielsweise mögliche Änderungen bei der Wohnbauförderung. Die im
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Hansgeorg Hauser
FKP hierzu vorgeschlagenen Maßnahmen stehen ja unter dem ausdrücklichen Vorbehalt, daß wir noch Änderungen vornehmen können, wenn gleichwertige Einsparbeiträge im Bereich des Wohnens gefunden werden. Ob es allerdings angesichts des drohenden Verkehrsinfarktes sinnvoll ist, gerade die Förderung von Garagen zu beschneiden, ist eine andere Frage; aber, wie gesagt, wir können uns darüber noch unterhalten.Im Prinzip gilt das auch für die von der Opposition geforderten Maßnahmen gegen Wirtschaftskriminalität und Steuerhinterziehung. Um es ganz klar zu sagen: Wir sind für jeden probaten Vorschlag, der die Bekämpfung von Steuerbetrügereien vorsieht, offen; wir können uns darüber unterhalten. Wir sind auch bereit, über den Bericht des Rechnungshofes von Baden-Württemberg zu reden. Das ist alles kein Problem. Nur muß eines in diesem Zusammenhang gesagt werden: Der Bund hat auf die Steuerverwaltung, auf die Betriebsprüfungs- und Steuerfahndungsstellen, keinen unmittelbaren Einfluß. Dies fällt nach unserer finanzverfassungsrechtlichen Ordnung primär in die Zuständigkeit der Bundesländer. Die Herren Engholm und Lafontaine als geistige Urheber dieses Vorschlags könnten, was die Effizienz der Steuerverwaltung angeht, im eigenen Haus mit gutem Beispiel vorangehen.
Herr Engholm könnte z. B. der Frage nachgehen, ob sein Sozialminister für das 40 000-DM-Geschenk
— oder waren es sogar 50 000 DM? —
an einen angeblich mittellosen Journalisten auch Schenkungssteuer gezahlt hat,
und Herr Lafontaine sollte sich erst einmal um die extrem hohen Steuerrückstände im Saarland kümmern, anstatt beim Bund dauernd weiteres Geld einzufordern.
Das hätte vielleicht auch den Nebeneffekt, daß er nach vier oder fünf wegen Überschuldung verfassungswidrigen Haushalten — so der saarländische Rechnungshof — vielleicht im sechsten Jahr endlich einen verfassungsgemäßen Haushalt vorlegen könnte.
Daß Deutschland ein Dorado für Steuertrickser und Finanzjongleure — selbstredend natürlich nur die Unternehmer und die Freiberufler — sei, diesem Eindruck widerspreche ich entschieden.
Der DIHT und der BDI haben bereits in ihrer gemeinsamen Studie über die Notwendigkeit der Unternehmenssteuerreform 1990 festgestellt:Die deutsche Steuerverwaltung ist außerordentlich effizient. Im Vergleich zu den Verwaltungender Konkurrenzstaaten ist sie teilweise erheblich belastender, weil sie wesentlich länger und mit großem zeitlichen Abstand zum Veranlagungszeitraum prüft.Wie Sie wissen, wollen wir auch bei dem Thema der Beseitigung von Mißbräuchen bei den Bewirtungsspesen etwas tun; das ist ja durchaus sinnvoll. Aber gleich einen Kahlschlag zu machen, indem ich alle Bewirtungsspesen streiche, ist mit Sicherheit der falsche Weg, denn Sie wissen: Der mittelständische Gaststätten- und Hotelbereich würde dadurch einen erheblichen Einbruch erleiden, und auch dies ist wieder ein Thema der Gefährdung von Arbeitsplätzen.Alle weiteren Vorschläge der Opposition bedeuten massive Steuererhöhungen. Das beginnt mit den nebulösen Vorstellungen von einem Einstieg in eine ökologische Steuerreform, was schlicht eine drastische Erhöhung der Mineralölsteuer bedeutet,
und setzt sich mit dem Ruf nach einer eindeutig verfassungswidrigen Arbeitsmarktabgabe fort.
Es ist schon seltsam: Bei jedem von uns vorgelegten oder verabschiedeten Steuergesetz behauptet die SPD, es sei verfassungswidrig. Wir haben in der Anhörung jetzt wieder gehört, daß alles, was wir vorlegen, verfassungswidrig sei.
Im Falle der Arbeitsmarktabgabe, zu der das Verfassungsgericht bereits eindeutig festgestellt hat, daß sie verfassungswidrig wäre, will man von solchen Entscheidungen nichts wissen.Schließlich wird die sofortige Einführung der Ergänzungsabgabe für Besserverdienende gefordert, was mit anderen Worten bedeutet, daß Leistungsträger unserer Gesellschaft wie etwa die Facharbeiter dafür bestraft werden sollen, daß sie härter und länger als der Durchschnitt arbeiten. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik!
— Die zahlen einen Sozialversicherungsbeitrag, u. a. für die Arbeitslosenversicherung, aus der sie im Versicherungsfall auch etwas erhalten. Die Beamten erhalten aus einer solchen Abgabe nichts, und darin liegt die Verfassungswidrigkeit, die eindeutig festgestellt worden ist.
Es ist richtig, daß im vorgelegten FKP, im Föderalen Konsolidierungsprogramm, Steuererhöhungen enthalten sind. Wir meinen aber, daß mit diesen Maßnahmen die Belastungsgrenze bereits erreicht ist. Wir haben zu hohe Steuern, wir haben zu hohe Abgaben, und es muß irgendwo Schluß damit sein.
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Im übrigen möchte ich auch betonen, daß bei der Erhöhung der Versicherungssteuer die Besteuerung der Versicherungsprämien für Lebensversicherungen ausdrücklich ausgenommen ist. Auch das ist etwas, was in der Öffentlichkeit immer falsch verbreitet wird. Wir haben das ausdrücklich ausgenommen, weil wir meinen, daß die eigene Vorsorge für das Alter nicht erschwert werden soll. Der, der für sein Alter selbst etwas tut, soll nicht bestraft werden.
Die Verdopplung der Vermögensteuer ist eine der Maßnahmen zur Herstellung der sozialen Symmetrie, auch wenn ich — das sage ich ganz offen und ehrlich — nicht verhehle, daß mir die Abschaffung der Vermögensteuer lieber wäre, wenn dafür an anderer Stelle ein entsprechender Ausgleich gefunden wird. Wir haben in der Anhörung in aller Deutlichkeit zu hören bekommen, daß es falsch ist, die Vermögensteuer zu erhöhen. Man hätte sie besser abschaffen und auch bei der Gewerbesteuer entsprechende Abstriche machen sollen.
Ein böses Wort ist die Unterstellung, daß mit dem vorliegenden Föderalen Konsolidierungsprogramm Sozialabbau betrieben wird.
Ich frage Sie, meine Damen und Herren von der Opposition: Wo ist denn der „Angriff auf den Sozialstaat", wenn jetzt — für meine Begriffe viel zu spät — endlich ernsthaft gegen den Mißbrauch beim Bezug von Sozialleistungen vorgegangen wird?
Nach seriösen Schätzungen — so stand es in der „Welt" — beträgt der Schaden durch mißbräuchliche Inanspruchnahme bei der Arbeitslosenversicherung 5,5 Milliarden DM, beim Kindergeld 2,3 Milliarden DM, bei der Sozialhilfe 2,1 Milliarden DM, beim Wohngeld 600 Millionen DM und beim BAföG 300 Millionen DM.
Insgesamt ist das eine Summe von fast 11 Milliarden DM.
Wenn jetzt dagegen vorgegangen wird, dann scheuen Sie sich nicht, diese Maßnahmen mit dem bösen Wort vom „Zählappell", wie es Herr Schreiner gemacht hat, zu diskreditieren. Meine Damen und Herren, das bedeutet nichts anderes, als daß Sie es billigen, wenn sich — ich benutze jetzt einmal den Ausdruck, der in der „Welt" als Überschrift verwendet worden ist — diese „Sozialschnorrer" weiterhin auf Kosten der Allgemeinheit einen schönen Tag machen können.
Dies ist ein Skandal, und dies ist eine Ohrfeige für die gesamte Bevölkerung, die diese Sozialleistungen mit ihrer Arbeit aufbringen muß.
Vor allem ist es ein Problem für jene, die auf diese sozialen Hilfen angewiesen sind. Zu Lasten dieser Personen geht es.
Herr Kollege Hauser, Herr Kollege Seifert würde gern eine Zwischenfrage stellen.
Bitte.
Herr Kollege, glauben Sie nicht, daß Sie mit dem Wort von den „Sozialschnorrern" all denjenigen Menschen, die wirklich dringendst darauf angewiesen sind, ein großes Unrecht tun,
und glauben Sie nicht weiterhin, daß durch Kürzungen oder Stopp von ABM eine Menge Projekte im sozialen, kulturellen und wissenschaftlichen Bereich einfach wegbrechen, und halten Sie das für sozial gerecht?
Herr Kollege Seifert, Sie wissen, wir haben eine Soziale Marktwirtschaft, in der jeder nach seiner Leistungsfähigkeit behandelt wird. Derjenige, der darauf angewiesen ist, eben weil er in eine unverschuldete Notlage gekommen ist oder weil er, wie wir es zur Zeit leider auch haben, seinen Arbeitsplatz verliert, wird durch unsere Maßnahmen sozial ausreichend abgefedert. Ich wende mich gegen die Leute, die soziale Leistungen schamlos mißbrauchen.
Das ist mit dem Ausdruck „Sozialschnorrer" gemeint, und dagegen sollten wir, glaube ich, alle vorgehen.
Heute ist in der „Süddeutschen Zeitung" auch eine Grafik, die das verdeutlicht. Es heißt, daß sich von 1990 auf 1991 der Mißbrauch allein beispielsweise bei der Arbeitslosenhilfe in den alten Bundesländern auf 232 000 Fälle fast verdoppelt hat.Letzte Woche hatten wir im Finanzausschuß ein Expertenhearing zum Standortsicherungsgesetz. Dabei waren sich alle — ich wiederhole: alle — Experten aus Wissenschaft und Wirtschaft darin einig, daß die Zusatzbelastung durch die Gewerbesteuer der wichtigste Standortnachteil und das Wettbewerbshandikap Nummer eins für die deutsche Wirtschaft ist. Wir haben im Steueränderungsgesetz 1992 versucht, die Gewerbekapitalsteuer abzuschaffen und so die bestmögliche Lösung für die Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland und die Sicherung der Arbeitsplätze durchzubringen. Dies ist an der
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Blockade und der Verweigerungspolitik der SPD gescheitert.
Ich muß in diesem Zusammenhang auch einmal auf die vielen Widersprüche hinweisen, die die SPD in Verbindung mit dem Standortsicherungsgesetz ständig bringt. Das fängt mit den Steuersätzen an. Herr Spöri sagt 40 %, die anderen sagen 46 %, andere wollen sie gar nicht kürzen. Es wird gesagt, die Senkung des Steuersatzes sei ein Geschenk an Reiche.
Der Herr Klose hat uns heute wieder erzählt, die Kürzung der degressiven Abschreibung als Gegenfinanzierung — weil wir es aufkommensneutral machen wollen — wäre ein Investitionshemmnis.
Meine Güte, was wollen Sie denn eigentlich noch? Sie bringen jedesmal neue Widersprüche daher.Alle maßgeblichen Sachverständigen haben Ihnen nun schriftlich bestätigt, daß Sie mit Ihren finanz- und wirtschaftspolitischen Vorstellungen wieder einmal auf dem Holzwege sind.
Herr Kollege Hauser, der Kollege von Larcher würde gem eine Zwischenfrage stellen.
Bitte.
Herr Kollege Hauser, haben Sie die Kritik des Wissenschaftlichen Beirats beim Finanzminister an diesem Gesetz zur Kenntnis genommen, und was sagen Sie dazu?
Ich habe das sehr wohl zur Kenntnis genommen. Bedauerlicherweise ist diese Kritik erst nach dem Hearing gekommen. Wir haben dazu aber auch wesentliche andere Meinungen gehört. Die Kritik hat sich an dem gespaltenen Steuersatz entzündet. Ich halte diese Maßnahme trotzdem für richtig. Es gab auch genügend andere, positive Stimmen, die es befürwortet haben, für die gewerblichen Einkünfte eine Senkung der Steuer vorzunehmen, um einen geringen — ich betone: einen geringen — Ausgleich für die Belastung mit der Gewerbesteuer herbeizuführen. Die Gewerbesteuer gibt es ja in allen unseren Konkurrenzländern eben nicht.
Selbst der im Vermittlungsausschuß mühselig ausgehandelte Minimalkonsens einer Freibetragserhöhung bei der Gewerbesteuer und bei der betrieblichen Vermögensteuer, die Übernahme der Steuerbilanzwerte in die Vermögensteuer und die Aussetzung der Vermögensteuer in den neuen Bundesländern wollen Sie jetzt rückgängig machen. Was noch vor einem halben Jahr für richtig befunden wurde, soll jetzt falsch sein. Trauriger läßt sich diese Konzeptionslosigkeit und Widersprüchlichkeit in der Finanz- und Wirtschaftspolitik der SPD nicht illustrieren.
Ein anderes Beispiel für Ihre widersprüchlichen Forderungen: Sie fordern verstärkte Maßnahmen gegen Steuerbetrügereien. Gleichzeitig aber sollen die Vermögensteuer in den neuen Bundesländern erhöht und die Steuervereinfachung des Steueränderungsgesetzes 1992 rückgängig gemacht werden. Die Folge wäre, daß die Finanzverwaltung in den neuen Bundesländern, die noch nicht den Standard der Altländer erreicht hat, ihr Personal verstärkt für die Umsetzung äußerst komplizierter und verwaltungsaufwendiger Regelungen einsetzen müßte,
wobei der Ertrag in keinem Verhältnis zum Aufwand stände.
In der gestrigen Ausgabe des „Handelsblatts" hat der Direktor des Instituts für Politische Wissenschaft, Herr Professor Kaltefleiter, eindringlich darauf hingewiesen, daß in der ernsten wirtschaftspolitischen Lage, in der wir uns zur Zeit befinden, für die Mobilisierung von Sozialneid kein Raum ist und daß Mobilisierung von Sozialneid eines der bedeutendsten Instrumente ist, mit denen versucht wird, den Marktmechanismus außer Kraft zu setzen. Treffender als diese Aufforderung von Herrn Kaltefleiter an die SPD, nicht wie ein trotzköpfiges Kind gegen Marktgesetze anzulaufen, kann ich es nicht ausdrücken.
Für die bevorstehenden Verhandlungen zwischen dem Bund und den Ländern gibt es nur zwei Möglichkeiten.
Die eine Möglichkeit ist: Die Länder beharren auf ihrer völlig einseitigen Lastenverteilung zum Nachteil des Bundes und hemmen damit die Handlungsfähigkeit des Bundes für die nächsten zehn Jahre. Dieser Crashkurs wäre für die Entwicklung der Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft gefährlich.
Die andere Möglichkeit ist die Einigung auf der Grundlage des fairen Angebots des Bundesfinanzministers, wobei sicherlich Spielräume bestehen.
Nicht zuletzt sollten sich die Länder darüber im klaren sein, daß die Verhandlungen eine Bewährungsprobe für den Föderalismus darstellen.
Diese von uns allen so geschätzte Institution — ich sage das als Bayer mit voller Überzeugung — sollten wir nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.
Ich erteile dem Kollegen Dr. Wolfgang Weng das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Nachtragshaushalt 1993 in Verbindung mit der Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms ist ein Beleg der Handlungsfähigkeit der Koalition. Gerade solche
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Dr. Wolfgang Weng
Handlungsfähigkeit erwartet die Öffentlichkeit zu Recht von uns.Deshalb ist unser Konzept gleichzeitig das Angebot an die Opposition, ihre seitherige Verweigerungshaltung aufzugeben und in gesamtstaatlicher Verantwortung gemeinsam mit uns nach tragfähigen Lösungen zu suchen.
Ich will hier nicht die hessische Kommunalwahl bewerten. Aber eines ist nach meiner festen Überzeugung am vergangenen Sonntag deutlich geworden: Der Bürger honoriert Verweigerungshaltung nicht.
Deshalb ist es bei der Bewältigung der schwierigsten finanz- und haushaltspolitischen Situation, in der sich die Bundesrepublik seit ihrer Gründung je befunden hat, der falsche Ansatz, wenn man glaubt, hier parteipolitische Süppchen kochen zu können.
Meine Damen und Herren, es geht ebenso um eine erträgliche Verteilung der Finanzen zwischen Bund und Ländern wie um eine angemessene Verteilung der öffentlichen Gelder zwischen Ost und West. Da muß es die erste Aufgabe von Bundespolitikern sein — heute morgen ist hier ja sogar an die Verfassungssituation erinnert worden —, die Handlungsfähigkeit des Bundes, die Handlungsfähigkeit des Gesamtstaats, angemessen zu vertreten.Als wir uns im vergangenen Jahr im Zuge der Etatberatungen für das Jahr 1993 entschlossen, einen Nachtrag insbesondere zur weiteren Verbesserung der Situation in den neuen Bundesländern anzukündigen, hatten wir noch andere Vorstellungen darüber, welche Möglichkeiten wir hierzu haben würden. Sie wissen, wir haben damals höhere Transferleistungen angekündigt und erwartet.Die wirtschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik, vor allem im Westen, einerseits und die Entwicklung der Bundesanstalt für Arbeit andererseits schränken uns jetzt jedoch in unseren Ausgabemöglichkeiten nachhaltig ein. Man bedenke allein die rund 5 Milliarden DM mehr Zuschuß an die Bundesanstalt. Wenn die Tatarenmeldungen, die wir gestrigen Presseveröffentlichungen entnommen haben, richtig sind, dann steht uns im Laufe des Jahres in diesem Bereich zusätzlicher Schrecken ins Haus.Herr Minister Blüm, ich fordere Sie als den Bundesminister für Arbeit heute mit großer Deutlichkeit auf, Ihre Aufsichtsfunktion bei der Bundesanstalt für Arbeit konsequent wahrzunehmen. Es muß unbedingt verhindert werden, daß dort in wachsendem Umfang sachfremde und unnötige — ich sage ausdrücklich: und unnötige — Ausgaben getätigt werden.
Die Bundesanstalt als Anlage zur Verschleuderung von Steuergeldern, das nehmen wir nicht hin.
Mit dem Konsolidierungsprogramm der Koalition ist in vielen Bereichen ein konsequenter Subventionsabbau verbunden. Es ist gut, daß wir unter dem Druck leerer Kassen an dieses Thema noch konsequenter herangehen als in der Vergangenheit.
Herr Kollege Weng, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja; bitte.
Herr Kollege, wollen Sie behaupten, daß der Bundesminister bisher seine Aufsichtspflicht nicht konsequent wahrgenommen und gegenüber der Bundesanstalt für Arbeit fahrlässig gehandelt hat? Anders kann ich Ihren Vorwurf nicht werten.
Herr Kollege, ich habe eine Aufforderung und nicht einen Vorwurf gemacht. Die Aufforderung betrifft ja Zukünftiges. Das haben Sie sicherlich so gehört.
Ich sage in Beantwortung Ihrer Frage aber auch: Die Tatsache, daß bei den Beratungen über das Konzept signalisiert wurde, man könne durch Abbau von Mißbrauch in dem Bereich der Bundesanstalt für Arbeit 1,7 Milliarden DM — ich glaube, das war die genannte Zahl — einsparen, läßt darauf schließen, daß die Bundesanstalt offensichtlich die eine oder andere Lücke in ihrer Aufgabenwahrnehmung auch in der Vergangenheit hatte und daß in der Konsequenz hier möglicherweise auch die Aufsichtspflicht nicht genügend ausgeübt worden ist.
Der letzte Satz hat den Bundesminister jetzt etwas geärgert. Aber er ist ja nicht persönlich, sondern in seiner Funktion angesprochen und aufgefordert.
Er macht ein fröhliches Gesicht.
Ich finde, daß die Verantwortung immer dort sein muß, wohin sie gehört. Das ist bei der Bundesanstalt natürlich nicht in erster Linie die Aufsichtsbehörde, sondern es sind diejenigen, die dafür verantwortlich sind, daß diese Dinge gemacht worden sind. Auch die wird man zur Verantwortung ziehen müssen.
Jetzt möchte noch der Kollege Büttner eine Zwischenfrage stellen.
Herr Präsident, ich würde danach gern im Zusammenhang vortragen. Diese Frage jetzt will ich noch zulassen. Die Diskussion wird durch Fragen ja vielleicht lockerer; aber ich kann dann schlecht meine Gedanken im Zusammenhang darstellen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. März 1993 12477
Dr. Wolfgang Weng Bitte schön Herr Kollege.
Herr Kollege Weng, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß der Mißbrauch, der mit kranken Arbeitslosen durch die Bundesanstalt betrieben wird, weil zu wenige Fachärzte zur Verfügung stehen, durch dieses Parlament und durch diese Koalitionsmehrheit verstärkt worden ist, indem man die gemeinsam anerkannten zusätzlichen Stellen gestrichen hat?
Herr Kollege, der Vorwurf kommt mir zumindest sehr weit hergeholt vor. Ich glaube auch nicht, daß er in einem kurzen Frage-Antwort-Spiel hier ausgeräumt oder diskutiert werden kann. Ich nehme Ihre Frage zur Kenntnis und werde mich damit inhaltlich befassen. Ich glaube aber nicht, daß Sie recht haben mit dem, was Sie mit Ihrer Frage unterstellen.
Zurück zum Subventionsabbau: Ich glaube, daß unser Handeln im Zusammenhang mit dem Abbau von Subventionen deutlich macht, daß ein Neueinstieg in großflächige Subventionierungen in Westdeutschland keine Basis hat. Meine Damen und Herren, das ist ein deutlicher Hinweis für die Branchen, in denen es im Augenblick Probleme gibt.
Die Lösung dieser Probleme liegt nicht beim Staat, sondern liegt ganz wesentlich bei den Tarifpartnern, die sich in angemessener Weise unterhalten müssen, um die Wettbewerbsfähigkeit der wirtschaftenden Betriebe zu erhalten oder wiederherzustellen. Die sehr harten Auseinandersetzungen, die hier zum Teil stattfinden, machen deutlich, daß die Tarifpartner im vergangenen Jahr nicht die richtigen Lösungen gefunden und hier offensichtlich eine falsche Prognose zugrunde gelegt haben.
Wer glaubt, daß er die staatlichen Probleme durch übertriebenes Drehen an der Steuerschraube löst, der wird sich täuschen. Höhere Steuern zur Unzeit — und „Unzeit" ist ja fast immer — bremsen die Konjunktur, bremsen sie noch stärker. Sie werden für weitere Arbeitsplatzverluste sorgen, wenn wir uns nicht auf das unbedingt Erforderliche beschränken.
Eine rechtlich fragwürdige und ordnungspolitisch unsägliche sogenannte Arbeitsmarktabgabe wäre der Ausstieg aus unserem Wirtschaftssystem. Sie ist mit der F.D.P. nicht zu machen.
Ich weiß, daß auch beim Koalitionspartner keine Neigung besteht, da mitzumachen. Da man aber die Verfahren kennt, Herr Kollege, also z. B. weiß, daß der Vermittlungsausschuß manchmal wirklich in tiefer Nacht in nicht mehr ganz nachvollziehbarer Weise mit Vorschlägen kommt, muß man, glaube ich, die Pflöcke an der Stelle besonders fest einschlagen.
— Daß die Union auch bei Nacht schwarz ist, weiß ich bereits.
Auch der Beschluß unserer Fraktion, bei der Werftsubventionierung noch einmal ein Zugeständnis zu machen, ist eindeutig an die Finanzierung durch Subventionsabbau an anderer Stelle gebunden. Dies betrachten wir auch als Angebot an die Kollegen der Koalition.
Bei der schwierigen Gratwanderung, wirtschaftlichen Aufschwung bei fortwährender Geldwertstabilität ohne unangemessene Neuverschuldung zu erreichen, erwarten wir eine konstruktive Mitwirkung der Opposition. Der Herr Bundeskanzler hat ja Kompromißbereitschaft der Koalition signalisiert. Ich sage voraus, daß unsere Bürger eine Verweigerungshaltung von Bundesländern und SPD nicht verstehen würden.
Die F.D.P.-Bundestagsfraktion wird in jedem Fall an den für unser Land notwendigen Beschlüssen verantwortungsvoll mitwirken. -
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Rudolf Dreßler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, wir haben heute morgen einiges gelernt.
Wir haben gelernt, daß die Koalitionsfraktionen — die genau wie wir die Bundesregierung zu kontrollieren haben — durch einen ihrer Hauptredner feststellen, daß ein Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung seine Aufsichtspflicht verletzt, ihr nicht nachkommt.
Ich finde, das ist ein parlamentarisch doller Vorgang. Herr Blüm, ich erwarte
gleich Ihre Erklärung, in welcher Art auch immer. Denn entweder stimmt das, was die Sie tragenden Koalitionsfraktionen uns Staunenden hier mitteilen — ich bin erstaunt —, oder es stimmt nicht. Also, Herr Blüm, es gibt heute Konsequenzen entweder für Sie oder Herrn Weng, welcher Art auch immer.
Das zweite, was ich heute gelernt habe, ist: Eine parlamentarische Opposition, die seit drei Jahren eine Gemeinschaftsanstrengung, einen Solidarpakt, fordert, die seit drei Jahren Vorschläge einbringt,
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Rudolf Dreßlerdie seit drei Jahren von der Bundesregierung zurückgewiesen wird, wird hier der Verweigerungshaltung geziehen.
Wer soll das eigentlich noch ernst nehmen?
Eine parlamentarische Opposition, die jetzt ein geschlossenes Konzept zur Einbringung in solche Verhandlungen vorschlägt — unabhängig davon, ob es Ihnen paßt oder nicht, ob Sie begeistert sind oder nicht —, die einen Vorschlag macht, der in sich schlüssig ist, die sich also einbringt, die bereit ist, zu verhandeln, wird einen Tag vor Beginn der Verhandlungen der Verweigerungshaltung geziehen.
Herr Weng, wie ernst soll die deutsche Bevölkerung die F.D.P. eigentlich noch nehmen, wenn Sie hier einen solchen Quatsch auf dem Podium des Deutschen Bundestags formulieren?
Wahr ist wohl eines: daß die Bundesrepublik Deutschland in der politisch schwierigsten Phase seit ihrer Gründung ist. Und wahr ist wohl auch, daß ein bisher gescheiterter Aufbau im Osten mit einer Rezession im Westen zusammenfällt, deren Ausmaß und Dauer selbst von namhaften Ökonomen als höchst ungewiß bezeichnet werden. Wir brauchen also mehr denn je eine große, nationale Kraftanstrengung, um diese Schwierigkeiten zu meistern, eben jene Kraftanstrengung, die die deutsche Sozialdemokratie seit 1989 beharrlich gefordert hat und die von der Koalition bis vor wenigen Monaten ebenso beharrlich abgelehnt wurde.Die Koalition ist nun zumindest verbal auf die Forderung der SPD eingeschwenkt. Der Bundeskanzler nennt das einen Solidarpakt. Wenn ich dieses Wort ernst nehme, dann heißt das doch wohl, zur Bewältigung der beiden dringendsten Probleme, des Aufbaus Ost und der Überwindung der Rezession, Solidarität zu organisieren, heißt das, festzulegen, wer für wen Solidarleistungen aufzubringen hat.Wer nun das Föderale Konsolidierungsprogramm und den Nachtragshaushalt 1993 unter diesen Gesichtspunkten bewertet, der stellt allerdings fest: Beides hat mit diesem Begriff, mit einem wirklichen Solidarpakt, wenig zu tun.
Meine Damen und Herren, es muß doch noch möglich sein, in Ruhe darüber zu reden, daß Ihrem Vorschlag die politische Bestandsaufnahme als Voraussetzung für die Festlegung dessen, was geleistet werden soll und notwendig ist, schlicht fehlt. Es muß doch noch nüchtern darüber geredet werden können, daß Ziele fehlen, die mit einem Solidarpakt erreichtwerden sollen. Der Aufbau im Osten kommt als konkretes politisches Vorhaben in den Vorlagen der Regierung nicht vor.
Und es fehlt die Einlösung des Versprechens, Solidarität organisieren zu wollen. Denn im Konzept der Regierung werden diejenigen zu Solidarleistungen herangezogen, die eigentlich der Solidarität bedürften,
und diejenigen von Solidarbeiträgen verschont, die sie eigentlich leisten müßten.Die Pläne der Koalition zu einem Solidarpakt sind in Wahrheit — wenn sie denn so stehenbleiben — die Fortsetzung einer Entsolidarisierung. Alles das hat mit einer großen nationalen Kraftanstrengung, an der sich alle Gruppen beteiligen, nichts zu tun. Statt zusammenzuführen, wird gesellschaftspolitische Spaltung betrieben: Die einen rackern sich ab und erarbeiten die Leistungen, die für die Einheit Deutschlands erbracht werden müssen, und den anderen wird erlaubt, sich vornehm zurückzuhalten.
Die SPD will die nationale Kraftanstrengung aller. Aber gerade weil wir sie wollen, Herr Weng, sollten sich die Koalitionsfraktionen nicht dem Irrglauben hingeben, sie erhielten unsere Zustimmung zu diesem Föderalen Konsolidierungsprogramm der sozialen Schieflage und der gesellschaftspolitischen Orientierungslosigkeit. Das kann nicht sein!
Im übrigen, meine Damen und Herren, erlaube ich mir eine Anmerkung zum Verfahren: Die Koalition will Gespräche mit der SPD zum Solidarpakt. Aber bevor diese Gespräche überhaupt begonnen haben, verabschiedet das Kabinett die Koalitionspläne und leitet das Gesetzgebungsverfahren ein.
Das unterstreicht weniger die Ernsthaftigkeit des Gesprächsangebots, sondern nährt den Verdacht, hier sollen vollendete Tatsachen geschaffen werden,
zu denen dann später nur noch ein Ja und Amen möglich wäre.
Wenn das Ihre Absicht sein sollte, so werden Sie Schiffbruch erleiden. Für ein solches Vorgehen steht die SPD nicht zur Verfügung, und überrumpeln lassen wir uns auch nicht.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. März 1993 12479
Rudolf DreßlerDie Sozialdemokratische Partei hat ihre Vorstellungen und Vorschläge zu einem Solidarpakt in einem 20-Punkte-Katalog zusammengefaßt. Er unterscheidet sich schon im Ansatz von den Plänen der Koalition, weil er den Aufbau im Osten wirklich in den Mittelpunkt stellt und konkrete Lösungsvorschläge für die drängendsten gesellschaftspolitischen Probleme im Osten und Westen mit der notwendigen Konsolidierung der öffentlichen Haushalte verbindet.Die durch eine verfehlte Finanzpolitik der Regierung ins Maßlose gewendet öffentliche Verschuldung bedroht nun die Handlungsfähigkeit unseres Gemeinwesens auf allen seinen Ebenen. Um des gemeinsamen Ganzen willen ist die SPD bereit, das von der Regierung angerichtete finanzpolitische Durcheinander mithelfend zu ordnen. Aber das kann nur gelingen, wenn alle staatlichen Handlungsebenen den Beitrag leisten, der ihnen zugemutet werden kann. Eine Entlastung des Bundes auf Kosten der Länder kann es ebensowenig geben wie den umgekehrten Weg.
Alles andere als ein gerechter Interessenausgleich zerstört den Gedanken eines Solidarpakts schon im Ansatz.Die Vorschläge der SPD sorgen für finanzpolitische Klarheit, auch was die Frage möglicher Mehreinnahmen angeht. Im Gegensatz zur Regierung drücken wir uns nicht vor einer eindeutigen Antwort, eindeutig sowohl im Hinblick auf deren Umfang als auch auf deren Zeitpunkt. Wir sind für Mehreinnahmen, und zwar in Form einer Ergänzungsabgabe auf die Lohn- und Einkommensteuerschuld von 10 % ab einer Einkommensgrenze von 60 000 DM für Ledige und 120 000 DM für Verheiratete.Die unsägliche Termindiskussion in den Koalitionsfraktionen über mögliche Steuererhöhungen und die damit verbundenen unhaltbaren Versprechungen schaden dem, was unsere Wirtschaft in der derzeit schwierigen Situation am dringendsten braucht: Klarheit und Verläßlichkeit als Voraussetzung für ein kalkuliertes Handeln der in der Wirtschaft Tätigen.
Das Versprechen der Koalition, keine Steuererhöhungen vor 1995 vorzunehmen, ist unseriös. Die variantenreichen Relativierungen dieses Versprechens aus deren eigenen Reihen beweisen dies schlagend. Das SPD-Konzept ist in dieser Frage eindeutig. Wir wollen die Ergänzungsabgabe ab 1. Juli dieses Jahres.
Die Behauptung von Vertretern der Koalitionsfraktionen, die Ergänzungsabgabe, so wie die SPD sie vorgeschlagen hat, sei konjunkturschädlich, ist absurd.
Keine einzige Mark, die auf diese Weise bei den Steuerzahlern erhoben wird und den öffentlichen Haushalten zusätzlich zufließt, geht dem Wirtschaftskreislauf verloren. Im Gegenteil: Jede einzelne Markwird in Form gezielter Projektfinanzierung dem Kreislauf wieder zugeführt, und zwar als Investition.Konjunkturschädlich allerdings ist etwas ganz anderes. Die von der Koalition vorgesehenen Kürzungen bei der Sozialhilfe und bei den Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz schädigen das Konsumklima in unserem Land nachhaltig. Ich warte auf die großen wirtschaftspolitischen Begleiter dieser Regierung, die diesen wirklich simplen Sachverhalt in Kommentaren und in Spalten der Zeitungen endlich würdigen.
Ich will hinzufügen, daß der amerikanische Präsident gesellschafts- wie wirtschaftspolitisch übrigens eine ähnliche Lage zu bewältigen hat wie wir hier in der Bundesrepublik Deutschland. Auch sein Konzept muß Einnahmeverbesserungen in einer Lage herbeiführen, die noch durch Rezession und durch große Staatsdefizite bei ausufernder Staatsverschuldung gekennzeichnet ist. Auch er, Präsident Clinton, versucht, Steuererhöhungen unter Berücksichtigung des Gedankens der sozialen Gerechtigkeit zu verwirklichen. Insoweit lohnt sich der Blick über den großen Teich wieder.Ich habe mir heute vormittag die Frage gestellt, ob es einer dieser Redner aus der Koalition — einer nur —, der sich einmal über den großen Teich machte, heute wagen würde, auf dem Boden von Washington einem amerikanischen Regierungsmitglied oder einem amerikanischen Kongreßmitglied diesen Unsinn zu erzählen, den man hier im Deutschen Bundestag abzulassen wagt.
Herr Kollege Dreßler, der Kollege Hansgeorg Hauser und der Kollege Gattermann und der Kollege Waigel würden Ihnen gern je eine Zwischenfrage stellen.
Das ist gut. Bei wem fangen wir denn an?
Die Reihenfolge ist: Hauser, Gattermann, Waigel.
Bitte schön.
Herr Kollege Dreßler, haben Sie schon einmal zur Kenntnis genommen, daß der amerikanische Präsident eine Steuererhöhung von 25 % oder 28 % auf 35 % vorschlägt, während wir eine Steuersenkung von 50 % auf 44 % vornehmen, daß das ein erheblicher Unterschied ist, daß also die Steuersätze im Anschluß daran immer noch nicht vergleichbar sind und damit nach wie vor ein ganz großer Wettbewerbsnachteil besteht?
Herr Kollege, ich will darauf nur folgendes antworten: Nach meiner festen Überzeugung und der Überzeugung vieler Wirtschaftspolitiker, auch jenseits meiner Partei, ist das, was Sie
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Rudolf Dreßlermit Angebotswirtschaft verbinden, nicht gelungen; Sie haben eine rein angebotsorientierte Politik betrieben. Diese ist gescheitert.Wenn Sie sagen „Warten Sie ab! ", muß ich Ihnen entgegnen: Wir können nicht weitere fünf Jahre oder sechs Jahre abwarten. Jetzt, in diesen Tagen und Monaten, muß in Deutschland insgesamt gehandelt werden.
Rezession im Westen, Aufbau im Osten: Wir können nicht mehr abwarten. Das ist ja das Dilemma, und darin liegt der Unterschied der Positionen.
Herr Waigel, bitte.
Herr Gattermann ist zuerst dran.
Verzeihung, Herr Präsident.
Herr Kollege Dreßler, ich möchte die Frage des Kollegen Hauser auf den Punkt bringen: Glauben Sie nicht, daß die deutschen Steuerzahler, insbesondere die Spitzensteuerzahler, aber auch schon mittlere Steuerzahler, jubeln würden, wenn wir ihnen ab morgen die amerikanische Steuerbelastung „zumuten" würden?
Herr Gattermann, das Problem ist, daß eine parlamentarische Opposition in einer schwierigen nationalen wirtschaftspolitischen Situation, für die sie — das werden Sie einräumen — in den letzten zehn Jahren keine Verantwortung getragen hat,
eine Antwort geben muß.
Nun stehen wir vor folgender Situation: Sie wollen in Ihrem Konsolidierungsprogramm beispielsweise den Menschen aus dem unteren Drittel unserer Einkommensmilieus weitere Kürzungen zumuten. Ich sage das ganz wertneutral.
— Sie wollen ihnen Kürzungen zumuten. — Mein gesunder Menschenverstand, ohne Studium der Ökonomie, sagt mir: Wo jede Mark, die ich erhalte, in den Konsum fließt, da ist es logisch: Wenn ich sie nicht mehr erhalte, kann sie nicht mehr in den Konsum fließen. Also kann das nicht konsumfördernd sein.
Demgegenüber, Herr Gattermann, gestehe ich Ihnen ganz freimütig: Ihre Regierung hat es fertiggebracht, mich bis zum 30. Juni 1992 an diesem großen
Aufbauwerk mit meinem Einkommen beteiligen zu lassen. Ich kämpfe seit drei Jahren mit meiner Partei darum, daß wir alle, die wir hier sitzen, nicht nur die SPD, sondern auch Sie, mit unserer Einkommensklasse endlich einmal an diesem Aufbauwerk gerecht beteiligt werden. Darum geht es!
Solange sich eine Regierung in einer solchen wirklich nationalen Situation
diesem simplen Ziel der sozialen Symmetrie, wie Karl Schiller das einmal formuliert hat, verweigert und auf „Konjunktur" herumreitet oder auf „Neid" herumreitet oder mit dem Stichwort Verweigerung operiert, kommen wir nicht zu diesem nationalen Gefühl, Herr Gattermann. Sie müssen sich endlich mit uns bereit erklären, alle im Rahmen ihrer Leistungsfähigkeit an dieser nationalen Aufgabe zu beteiligen.
Herr Waigel, bitte.
Herr Kollege Dr. Waigel.
Herr Kollege Dreßler, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich bereits vor Wochen dem neuen amerikanischen Finanzminister Lloyd Bentsen dieses Föderale Konsolidierungsprogramm zugeleitet habe, daß er mich bei der Sitzung der G 7 am Samstag vor einer Woche in London dazu beglückwünscht hat
und mich dazu aufgefordert hat, alles zu tun, um das durchzusetzen, weil dies ein wichtiger Beitrag zum internationalen Wachstum ist?
Herr Waigel, ich bin selbstverständlich bereit, zur Kenntnis zu nehmen, was Ihnen da widerfahren ist.
Das ist völlig zweifelsfrei. Aber, Herr Waigel, wären Sie denn bereit, vielleicht mit mir gemeinsam, dem gleichen amerikanischen Repräsentanten die wirkliche deutsche Situation, in der wir uns befinden, zu erklären?
— Das ist nicht das Problem. Das Problem ist, daß man die Gesprächspartner überall findet, sogar auf deutschem Boden.
Herr Waigel, ich bestreite ganz energisch, daß ein Mensch, ein politischer Beauftragter, mit einem Grundgefühl irgendwie von sozialer Gerechtigkeit, der diese deutsche Situation, wie wir sie haben, in
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Rudolf Dreßlerihren Zahlen zur Kenntnis nimmt, auf die Idee käme, daß es gerecht sei
oder daß man jemanden auffordern müßte, durchzusetzen, daß ein Mensch, der mehr als 120 000 DM im Jahr verdient, nichts beiträgt, und einer, der 2 000 DM verdient, auch mit 1 950 DM auskommen muß.
Das kann nicht Sinn einer Politik sein, die den Titel „soziale Gerechtigkeit" verdient.
Sind Sie bereit, eine zweite Zwischenfrage des Kollegen Waigel zu beantworten?
Herr Präsident, ich möchte jetzt gern ein paar Gedanken fortführen dürfen. Wir können ja vielleicht gleich noch einmal in einen Dialog eintreten.
Herr Waigel, jede einzelne Mark, die auf diese Weise von Sozialhilfeempfängern oder Arbeitslosen eingesammelt wird, ist nicht nur ein Verstoß gegen soziale Gerechtigkeit, sondern wird auch direkt — ich wiederhole es — der Güternachfrage entzogen. Wir können doch nun wirklich nicht glauben, es sei ein Konsolidierungsprogramm, in Zeiten der Rezession die Konsumnachfrage durch solche Maßnahmen zu drosseln. Das ist, fachlich ausgedrückt, prozyklisches Verhalten, das einen Abschwung nur noch verstärkt.Ich wiederhole: Jede einzelne Mark, die nach dem Konzept der SPD für eine Ergänzungsabgabe zusätzlich eingenommen würde, ginge in konkrete Projekte, und zwar Projekte zum Aufbau im Osten Deutschlands. Das Wichtigste dabei ist für uns die Sanierung der industriellen Kerne. Das muß jetzt geschehen, und nicht, wie die Koalition allenfalls will, erst 1995. 1995 wäre nicht mehr viel zu sanieren. Dann ist der Industriestandort Deutschland Ost eher ruiniert.Wer also die Ergänzungsabgabe und die mit ihr finanzierten Aufgaben nicht will, der soll die ganze Wahrheit aussprechen: Der Verzicht auf die Sanierung der industriellen Kerne im Osten unseres Landes bedeutet den Verzicht auf die Sicherung von ca. 300 000 Industriearbeitsplätzen, bedeutet also noch mehr Arbeitslosigkeit, bedeutet mehr wirtschaftliche Not in den neuen Ländern. Können wir das wirklich ernsthaft wollen? Kann man das verantworten? Wenn auch Sie das nicht verantworten können, dann sollten Sie aufhören, gegen die Ergänzungsabgabe zu polemisieren.Wir wollen mit der Ergänzungsabgabe darüber hinaus Handelsentwicklungsgesellschaften finanzieren, die ostdeutschen Unternehmen ihre Märkte in den Ländern der ehemaligen RGW-Staaten zumindest teilweise erhalten.
Diese Handelsentwicklungsgesellschaften können helfen, den chronischen Devisenmangel in diesen Ländern zu beheben, weil sie den Tausch Ware gegen Ware organisieren und so die wirtschaftliche Tätigkeit in Gang halten. Will die Regierung auch darauf verzichten, nachdem selbst maßgebliche Vertreter der Industrie dieses Projekt für vernünftig halten?Der Bundeswirtschaftsminister schweigt zu alledem und hat bis heute auch noch nicht die Andeutung einer konzeptionellen Überlegung vorgelegt. Statt dessen flüchtet der Bundeswirtschaftsminister in Sinnsprüche wie etwa dem bereits zitierten: Wirtschaften wird in der Wirtschaft stattfinden. Ich muß Ihnen sagen: Außer einem aufmunternden „Na, dann prost" fällt mir dazu nur ein, daß der Übergang von Möllemann zu Rexrodt bedauerlicherweise nahtloser verläuft, als mancher das erhofft hatte.
Auch das zweite Finanzierungsinstrument des SPD-Konzeptes für einen Solidarpakt erregt nun den Zorn der Koalitionsfraktionen. Ich meine unseren Vorschlag, eine Arbeitsmarktabgabe für Abgeordnete, Minister, Beamte und Selbständige einzuführen. Auch diese wollen wir zum 1. Juli dieses Jahres verwirklichen. Ich kann Ihre Kritik daran nicht wirklich ernst nehmen. Sie ist nicht sachlich begründet, sondern sie ist ideologisch motiviert.
Die SPD will mit dieser Arbeitsmarktabgabe für Abgeordnete, Minister, Beamte und Selbständige endlich die Arbeitsmarktpolitik auf eine finanziell gerechte Grundlage stellen;
denn Arbeitsmarktpolitik zu finanzieren ist Aufgabe aller und nicht nur die Aufgabe der Arbeiter und Angestellten.
Die Bundesregierung hält statt dessen an ihrem einseitigen Konzept fest, allein Arbeiter und Angestellte seien für diese Aufgabe heranzuziehen. Ist Ihnen eigentlich bewußt, daß die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen im Osten seit 1991 ausschließlich von den Beitragszahlern, also den Arbeitern und Angestellten, finanziert werden? Über 35 Milliarden DM jährlich werden aus Beitragsmitteln nur der Arbeitslosenversicherung in die ostdeutschen Länder transferiert. Hält die Regierung, hält die Koalition es wirklich für gerecht, wenn sich Gruppen unserer Gesellschaft auch weiterhin an dieser Aufgabe nicht beteiligen?Ich halte das gesellschaftspolitisch für wenig überzeugend. Wir müssen die Arbeitsmarktpolitik finanziell auf eine neue Grundlage stellen und ihr Instrumentarium quantitativ ausweiten. Auch das ist etwas anderes, als die Bundesregierung will, die mit jeder neuen Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes den
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Rudolf DreßlerKatalog der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und ihren Umfang zusammenstreicht.Herr Blüm hat ausweislich der „Märkischen Oderzeitung" vom 6. März 1993 in einem Interview folgendes gesagt:Die ABM sind kein bequemer Ausweg aus der Finanzklemme der Kommunen. Sie dürfen einfach nicht ihre Pflichtaufgaben mit dem Geld der Beitragszahler finanzieren. Für allgemeine Aufgaben ist der Steuerzahler zuständig.Meine Damen und Herren, ich frage nach den Konsequenzen. Unser Vorschlag liegt auf dem Tisch. Herr Blüm, Sie brauchen ihn nur aufzunehmen, mit uns ab morgen gemeinsam umzusetzen, und schon wird Ihr Wille aus dem Interview erfüllt. Der Kernpunkt ist, Herr Blüm: Haben Sie, wenn Sie in der Koalition alleine nicht genug Kraft haben, diesen an und für sich vernünftigen Gedanken mehrheitsfähig zu machen, denn wenigstens den Mut, mit einer Kraft — wenn es zugegeben auch die Opposition ist — morgen bei den Verhandlungen Ihre eigene Philosophie mehrheitsfähig zu machen?
Ich glaube, unser Instrument einer Arbeitsmarktabgabe ist im übrigen verfassungsrechtlich einwandfrei. Die mit ihm gewonnenen Mehreinnahmen werden der Bundesanstalt für Arbeit ausschließlich für arbeitsmarktpolitische Zwecke zur Verfügung gestellt, dienen also nicht zur Finanzierung von Aufgaben der Arbeitslosenversicherung, eine verfassungsrechtlich wesentliche Voraussetzung.Die Arbeitsmarktabgabe soll 2 % betragen und wie bei der Arbeitslosenversicherung bis zu einer Einkommenshöhe von 7 200 DM im Monat fällig werden; ein zweites wichtiges verfassungsrechtliches Kriterium.Mit diesem Instrumentarium gewinnen wir 6,8 Milliarden DM zusätzlicher Finanzmittel für die Arbeitsmarktpolitik. Damit können die ungerechten Kürzungen der Regierung bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sowie bei beruflicher Fortbildung und Umschulung zurückgenommen werden.Es gibt also einen Weg. Die Frage ist: Gibt es den politischen Mehrheitswillen? Darum geht es. Es geht nicht um Angebote und Lösungsvorschläge. Es geht um den Willen, etwas, das möglich ist, morgen auch möglich zu machen.
Wir brauchen endlich eine Arbeitsmarktpolitik mit Perspektive. Dazu wäre die Arbeitsmarktabgabe eigentlich unverzichtbar. Ich will die Koalition noch einmal fragen, ob sie auf die Verwirklichung auch der von Ihnen genannten Projekte wirklich verzichten will. Ich muß Sie fragen, ob Sie es gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern im Osten und im Westen verantworten können, durch arbeitsmarktpolitische Abstinenz in der Konsequenz mehr Arbeitslosigkeit zu produzieren. Wer nämlich gegen die Arbeitsmarktabgabe ist, wer gegen die Ergänzungsabgabe für Höherverdienende ist, der muß sagen, daß er auf die Projekte verzichten will, die damit finanziert werden: in der Arbeitsmarktpolitik, bei der Sanierung industrieller Kerne im Osten, bei Handelsentwicklungsgesellschaften und für ein Zukunftsinvestitionsprogramm.Wir brauchen beide Instrumente für den Aufbau im Osten. Sich durch lila-laue Reden um diesen Zusammenhang herumzudrücken funktioniert nicht.Einen Solidarpakt schmieden bedeutet, daß endlich auch etwas für den Wohnungsbau getan werden muß. Wir haben soeben einen kleinen Disput gehört. Herr Wieczorek hat das aufgeklärt. Der Nachklang von Frau Schwaetzer war wenig überzeugend, weil sie auf die Einlassungen von Herrn Wieczorek gar nicht eingegangen ist. Frau Matthäus-Maier hat nichts anderes getan, als das zu zitieren, was aus dem Zusammenhang Ihrer wohnungsbaupolitischen Situation erfolgt. Darum geht es, meine Damen und Herren: den Gesamtzusammenhang zu erkennen und nicht immer nur von Montag auf Dienstag zu denken.
Wir fragen uns: Was will denn die Koalition tun, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen und die eklatante Wohnungsnot zu beheben? Ich erkenne nicht den Ansatz einer Antwort darauf. Muß ich daraus schließen, daß die Schaffung zusätzlichen bezahlbaren Wohnraums für die Koalition kein Thema ist, im Solidarpakt nichts zu suchen hat? Für die sozialdemokratische Fraktion gehört die Intensivierung des Wohnungsbaus zu den Kernelementen des Solidarpaktes. Wir brauchen zusätzlich mindestens 150 000 Sozialwohnungen. 700 000 Wohnungen in Plattenbauten sind zu sanieren, von der Sanierung der Altbausubstanz gar nicht zu reden. Keine Antwort der Koalition!Das Föderale Konsolidierungsprogramm hilft unserem Land nicht aus seiner Krise, wirtschaftspolitisch nicht, finanzpolitisch nicht und beim Aufbau Ost schon gar nicht. Wer die Konsolidierungslasten zudem jenen Gruppen unserer Bevölkerung auflädt, die finanziell weniger leistungsfähig sind, handelt einseitig, handelt auch unsozial. Wer das Ganze dann noch mit der Erwartung verbindet, dies könne die Zustimmung der SPD erreichen, der allerdings lebt in einer Scheinwelt und nicht in der politischen Wirklichkeit. Das Konsolidierungsprogramm darf das Bundesgesetzblatt nach unserer Auffassung erst dann erreichen, wenn daraus ein Solidarpakt geworden ist.
Zum Abschluß will ich Ihnen noch den Wunsch erfüllen — den Herr Austermann oder ein anderer Kollege der CDU mir auf den Weg gegeben hat —, ich sollte doch einmal lachen. Bis hierhin gab es ja nicht viel zu lachen; aber nun wollen wir einmal gemeinsam lachen. Deshalb zitiere ich aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 6. März 1993, also vor wenigen Tagen, zum Zustand der Koalition, hier konkret — mit Verlaub, die F.D.P. war gar nicht gemeint — der CDU/CSU. Es geht um den Bundeskanzler, es geht um seine Partei, und es geht vor allen Dingen um die Vignette und die Verkehrsfinanzierung, um das ganze Rauf und Runter, Auf und Ab und Rein und Raus. Der Leitartikler der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" schreibt — ich zitiere —:
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Rudolf DreßlerEs ist schon beachtlich, mit welcher Leichtfertigkeit der Kanzler und Parteivorsitzende demontiert wird. Wie weiland ein Lehrling, der das falsche Bier vom Kiosk auf die Baustelle brachte, wird er zurückgeschickt.Das war es, meine Damen und Herren. Ich habe dem nichts hinzuzufügen.
Herr Kollege Dreßler, die Aufforderung hat der Kollege Dr. Kurt Faltlhauser an Sie gerichtet, und er hat nicht „Lachen", sondern „Lächeln" gesagt.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Arnulf Kriedner.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Dreßler, das Zitieren kann manchmal gefährlich sein. Denn das bedeutet natürlich — ich weiß nicht, ob Sie jetzt noch lachen werden —, daß man den Zitaten Gegenzitate entgegensetzt.Mir liegt ein Interview der „Berliner Zeitung" von heute vor, in dem Ihr Kollege Hans Wallow einige Ausführungen zum innerparteilichen Zustand der SPD vorgetragen hat.
— Darüber lachen Sie auch. Aber der Kollege Dreßler hat eben angemahnt, dem Kollegen Dr. Weng würde etwas ins Haus stehen, weil er hier etwas gesagt habe. Ich frage mich natürlich: Was steht Ihrem Kollegen Hans Wallow ins Haus, der hier ausgeführt hat: Für den SPD-Politiker ist Parteichef Björn Engholm „nicht das einzige Problem" seiner Partei. „Der Fisch stinkt am Kopf", sagte Wallow. Gemeint seien damit „die 15 bis 20 Fernsehköpfe, die die SPD in der Öffentlichkeit vertreten". Ich nehme an, einer davon hat eben gesprochen.
Das Gericht, das Sie über Ihren Kollegen Wallow auskippen werden, wird wahrscheinlich entsprechend sein. Ich hoffe, dann lachen Sie immer noch — und er auch.Meine Damen und Herren, die Einbringung einer, wie ich finde, notwendigen Sparvorlage zum Haushalt 1993 und dessen zwingende Konsolidierung sind für alle in diesem Haus eine harte Nuß. Darüber gibt es überhaupt nichts zu diskutieren. Das gilt insbesondere für die Abgeordneten aus den neuen Bundesländern.Noch Mitte vorigen Jahres durften wir hoffen, im Rahmen der Erörterung um die Angleichung der Lebensbedingungen in beiden Teilen Deutschlands einen Durchbruch zu erzielen. Ohne das Erreichte— dazu werde ich noch Ausführungen vortragen —verkleinern zu wollen: Der große Durchbruch zu einer beschleunigten Verbesserung der Rahmenbedingungen in den neuen Ländern ist uns angesichts der wirtschaftlichen Situation in unserem Land leider nicht gelungen. Das konstatieren wir, das konstatiere ich auch für meine Kollegen aus den neuen Ländern. Wen das allerdings überrascht — so haben sich einige Redebeiträge der Opposition angehört —, der artikuliert seine Überraschung gegen besseres Wissen.Theo Waigel hat in dieser Debatte ausgeführt, daß ein Konsolidierungsprogramm unabdingbare Voraussetzung sei, um die öffentlichen Haushalte an die konjunkturelle Entwicklung anzupassen. Das gleiche gilt natürlich auch für den erforderlichen Nachtragshaushalt.Sie, Herr Kollege Dreßler, haben in Ihrer Rede einfach übergangen, daß das Föderale Konsolidierungsprogramm nicht den Solidarpakt ersetzen, sondern eine Voraussetzung dafür darstellen soll. Das ist etwas anderes als das, was Sie daraus gefolgert haben. Es ist eine Voraussetzung.
— Kollege Diederich, ich glaube, wir können trefflich darüber streiten, was Fundamente für eine Diskussion sind. Aber wenn man gegen ein solches Programm ein Horrorgemälde malt, dann hat man natürlich Schwierigkeiten, in einer Diskussion, die ab morgen erfolgt, zu Ergebnissen zu gelangen. Das muß man einmal deutlich sagen.
Herr Kollege Dreßler, Ihr Fraktionsvorsitzender — er ist nicht mehr hier — hat beklagt, daß sich die Regierung der Semantik bedient, um besondere Wortschöpfungen zu bilden. Was diese Semantik anbetrifft, haben Sie der Regierung einiges voraus. Sie sprechen nämlich immer wieder von Kürzungen beim ABM-Programm. Sie übergehen damit — das tun Sie natürlich bewußt —, daß Kürzungen gar nicht stattgefunden haben, sondern daß das ABM-Programm lediglich neu eingerichtet wird. Das sollten Sie der Wahrheit gemäß auch sagen.
— Herr Kollege Wieczorek, das ist aus dem Grund keine Rabulistik, weil kein Pfennig beim ABM-Programm gekürzt worden ist. Wenn Sie von Kürzungen sprechen, dann müßte das Programm zusammengestrichen worden sein. Ich finde es schon abenteuerlich, wenn Sie auf diese Art und Weise die Debatte führen.
Herr Kollege Dreßler, es zeichnet Sie auch nicht aus— das muß ich wirklich sagen —, wenn Sie als gestandener Parlamentarier auf sehr deutliche, eindeutige Anfragen der Kollegen Hauser, Gattermann und Waigel keine Antwort geben können oder wollen. Es zeichnet Sie nicht aus, wenn Sie sich bei der Frage nach den Steuersätzen in Amerika mit Rabulistik — jetzt bediene ich mich dieses Wortes — an einer Antwort schlicht und einfach vorbeidrücken.
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12484 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. März 1993
Herr Kriedner, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten?
Sie wird mir ja nicht angerechnet, Herr Präsident?
Nein. Bitte sehr.
Herr Kollege, ich darf zu Ihrem vorhergehenden Punkt zurückkommen: ABM, Kürzungen oder Nichtkürzungen. Sind Sie bereit, zuzugeben, daß gerade im Osten Deutschlands der jetzt verfügte ABM-Stopp für viele Projekte im sozialen, im kulturellen und auch im wissenschaftlichen Bereich unter Umständen bald das Aus bedeutet, daß massenhaft Menschen, die darauf angewiesen sind, wenigstens über ABM etwas Nützliches tun zu können, dazu nicht mehr in der Lage sind und daß darunter nicht nur diejenigen leiden, für die die Programme gemacht werden, sondern auch diejenigen, die noch reguläre Arbeitsplätze haben, da sie mit ABM unter Umständen verbunden sind? Sind Sie bereit, das zuzugeben und zu sagen, welche Auswirkungen das im Osten hat?
Herr Kollege, ich bin bereit, einzuräumen, daß das ABM-Programm ein ganz wichtiges Instrument ist, um im Osten Arbeit weiterzubringen oder um Leute über ein solches Anpassungsprogramm wieder in Arbeit zu bringen. Ich bin aber nicht bereit, das Wort Kürzung hinzunehmen, weil es nicht stimmt. Das habe ich ausgeführt.Aber Ihr Einwurf gibt mir die Möglichkeit — gerade weil er von Ihnen kommt —, auf etwas anderes hinzuweisen: Wir lesen heute alle in den Zeitungen, daß die PDS ein Angebot gemacht hat, das ich — ich benutze ein hartes Wort — schamlos finde. Es ist das Angebot, aus dem dem Staat entzogenen PDS- oder früher SED-Vermögen für AB-Maßnahmen 800 Millionen DM zur Verfügung zu stellen. Das ist fast ein Bubenstück, das Sie sich da leisten.Wenn Sie widerrechtliches Vermögen jetzt freihändig nach Ihren Grundsätzen und in populistischer Weise verteilen wollen, dann sollten Sie sich einmal überlegen, daß die Entscheidung über dieses Vermögen nicht den Mithelfern und Mittätern des Systems, sondern allenfalls den Opfern zusteht. Das sollte man bei dieser Gelegenheit einmal sehr deutlich sagen.
— Dagegen haben wir nichts. Aber Ihnen, die dieses System und die zerrüttete Wirtschaft mitzuverantworten haben — und auch deswegen führen wir ein ABM-Programm in diesem Umfang durch —, steht es am wenigsten zu, jetzt darüber zu richten, wer das Geld bekommt.
Ich komme jetzt bewußt zu einem anderen Bereich. Wer, wie vor allem die SPD-geführten alten Bundesländer, in den Jahren seit der Wiedervereinigung mitSteuergewinnen aus ebendieser Vereinigung nichts Besseres anzufangen wußte, als die Ausgaben in den vergangenen Jahren weit überproportional zu steigern, der ist in diesem Hause ein schlechter Lehrmeister. Uns allen sind die Ausgabensteigerungen in den alten Bundesländern noch in guter Erinnerung.Ich sage auch freimütig: Schlechte Berater sind auch die häufig in ihrer Aussagekraft überschätzten Wirtschaftsweisen gewesen. Wer sich die zweifelhafte Freude bereitet, deren Wirtschaftsprognosen für 1993 zu lesen, Prognosen, die noch kein Jahr alt sind, muß konstatieren, wie wenig Verlaß auf diese Berater ist.Es ist verständlich, wenn bei den Verhandlungen um einen nach wie vor notwendigen Solidarpakt — ich habe das eben schon einmal eingeräumt — jeder zunächst einmal Maximalforderungen auf den Tisch legt. Aber unverständlich ist das Schwarze-PeterSpiel, bei dem z. B. gemäß den Potsdamer Beschlüssen der Ministerpräsidenten der Bundesländer 80 % der Zukunftskosten allein dem Bund auferlegt werden sollen und die alten Länder vergleichsweise nur etwas Kosmetikpuder auflegen, um ihre hoffentlich noch vorhandene Schamröte zu überschminken. Das ist unverständlich. Wer einen funktionierenden Föderalismus praktizieren will, der darf nicht nur fordern, sondern muß — der Bundesfinanzminister hat das heute morgen ausgeführt — auch geben und teilen.Es geht bei dem, was wir heute debattieren, um die vornehmste und wichtigste Aufgabe eines Parlaments, nämlich einen Haushalt neuen Erfordernissen anzugleichen, deren Ausmaß alle, auch die Kritiker der Bundesregierung, überrascht hat. Ich habe ja bereits auf die Wirtschaftsweisen und auf das Verhalten der alten Bundesländer hingewiesen. Heute kann doch niemand sagen, er habe vor einem Jahr gewußt, in welcher konjunkturellen Situation wir uns heute befinden. Dann hätten Sie doch einmal Hinweise geben können; vielleicht hätte sich jemand danach gerichtet. Kein Mensch hat darüber gesprochen. In einer solchen Lage gehört es zu den Prinzipien der Solidarität, daß jeder von gehegten Wunschträumen Abschied nehmen muß.Ich nehme gern das Wort des Fraktionsvorsitzenden der SPD von heute morgen auf, jetzt müsse die Wahrheit gesagt werden. Nur, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, zur Wahrheit gehört auch, daß in dem vorgelegten Nachtragshaushalt, aber auch im Haushalt für das Jahr 1993 eine ganze Reihe von wichtigen Leistungen vorgesehen ist, die in diesem Zusammenhang wenigstens einmal genannt werden sollten. Ich denke an die Aufstockung des Fonds Deutsche Einheit und dessen verläßliche Fortschreibung. Ich denke an die wesentliche Anhebung des Bundesbeitrags zum Erhalt der östlichen Kulturlandschaft, obwohl das keine originäre Bundesaufgabe ist. Ich denke an die im Nachtragshaushalt enthaltene Investitionspauschale für Kreise und Gemeinden. Ich denke an die bemerkenswerte Fortführung der Rentenanpassung für die Senioren in den neuen Ländern. Ich denke letztlich auch an die den Bund ja am Ende betreffende Sanierung der Reichsbahn, schließlich aber auch an den
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Arnulf Kriednerweit überproportional gesteigerten Anteil an den Ausgaben für den Straßenbau im Osten.Ich weise Sie auch einmal auf folgendes hin. Wenn Sie hier so vollmundig reden, dann überlegen Sie einmal, daß in den Kommunen im Osten häufig große Koalitionen regieren, die das, was wir debattieren, aus einem völlig anderen Gesichtswinkel heraus sehen als Sie. Sie tun immer so, als seien Sie als Opposition einfach in der Lage, hier vollmundig etwas zu erklären, ohne Mitverantwortung zu übernehmen. Sie tun das aber in den Gemeinden drüben permanent. Ich staune eigentlich, daß Sie das in Ihren Beiträgen nicht berücksichtigen.
Herr Abgeordneter, sind Sie bereit, eine Frage der Abgeordneten Frau Matthäus-Maier zuzulassen?
Ja.
Herr Kollege Kriedner, ich bin darüber erstaunt, daß Sie das sagen, da wir, wenn wir uns im Osten Deutschlands aufhalten — das tun wir ja alle; ich war dieser Tage in Neubrandenburg —, in Gesprächen mit Kommunalpolitikern feststellen müssen, daß sie alle, seien sie der SPD, der F.D.P. oder der CDU angehörig, sagen, daß z. B. die kommunale Investitionspauschale aus dem Jahre 1991 ein ganz großer Erfolg war, und uns fragen, warum wir dieses Instrument nicht wieder einführen. Beantworten Sie meine Frage nicht mit dem Hinweis auf die von Ihnen ergriffene kleine Maßnahme in einem Umfang von 1,5 Milliarden DM; denn sie reicht nicht aus. Ist es nicht gerade umgekehrt, nämlich daß die Kommunalpolitiker aller Couleur uns im Bundestag gerade dazu auffordern?
Frau Kollegin Matthäus-Maier, ich behaupte ja — das habe ich eben auch gesagt —, daß wir in solchen Fragen nicht so weit auseinander sind. Auch uns — ich habe das anfänglich gesagt — hätte vorgeschwebt, diese Investitionspauschale höher auszustatten. Bloß, ich muß doch konstatieren, daß man sich, wenn der Haushalt — wie im Augenblick — nicht mehr hergibt, nach Haushaltsbedingungen richten muß. Ich kann mich doch nicht hier hinstellen und so tun, als könnte die von Ihnen so gepriesene Ergänzungsabgabe — lassen wir die Verfassungsmäßigkeit einmal außen vor — für alles herhalten, was in diesem Haushalt gemacht werden kann.Herr Dreßler hat eine Latte von Maßnahmen aufgezählt, Herr Klose hat eine Latte von Maßnahmen aufgezählt, und Herr Schulz vom Bündnis 90 hat eine Latte von Maßnahmen aufgezählt. Machen Sie das doch einmal! Wenn Sie das alles auf Grund der so erzielten Einnahmen finanzieren wollen, dann frage ich Sie, wo die Milliarden dafür herkommen sollen.
Insofern liegen wir zwar nicht weit auseinander, aber es gibt Dinge, die gegenwärtig nicht machbar sind.
— Es ist der schlechteste Weg, Arbeitslosigkeit zu bezahlen.
Aber es ist, Frau Kollegin Matthäus-Maier — ich glaube, gerade mit Ihnen bin ich mir darüber einig —, ein mindestens genauso schlechter Weg, Wirtschaftsstrukturen zu erhalten, die nicht erhaltenswert sind.
Darüber sind wir uns, glaube ich, einig. Aus diesem Grund wird es an gewissen Stellen Arbeitslosigkeit geben, ob wir das wollen oder nicht. Gerade ich als Vorsitzender des Treuhandausschusses kenne die Situation in den Betrieben sehr gut. Ich weiß, wo man eine Chance zur Erhaltung hat und wo nicht. Aber darüber debattieren wir heute nicht.Ich habe eben schon etwas zu den umfangreichen Forderungen gesagt, die hier aufgestellt worden sind und die ich angesichts der gegenwärtigen Haushaltslage für nicht finanzierbar halte. Das gilt übrigens auch für Forderungen, die gelegentlich aus den eigenen Reihen kommen. Es gibt Dinge, die wir uns nicht leisten können. Wenn man im Ausland ist, dann stellt man fest, daß die Leute darüber staunen, wie die Deutschen gegenwärtig mit ihrer Situation umgehen, die für andere im Grunde genommen schon fast normal ist. Denken Sie einmal an England und die Probleme dort. Ich beziehe mich ganz bewußt nicht auf irgendwelche Länder, die weiter im Osten liegen.Der Herr Kollege Schulz, der jetzt nicht mehr anwesend ist, hat wenigstens die Fairneß besessen, seine Forderungen mit einigen Vorschlägen zu untermauern, bei deren Verwirklichung Einnahmen erzielt werden könnten. Er hat sich insbesondere mit der Struktur im öffentlichen Dienst auseinandergesetzt. Diese Forderung ist gut; man kann sie nur unterstreichen. Bloß, sie richtet sich doch um Himmels willen nicht allein an den Bund, sondern sie richtet sich vornehmlich an die Gewerkschaften, an die Tarifpartner, an die Länder und an die Kommunen. Jeder ahnt ja heute schon, mit welcher Leidenschaft diese Diskussion geführt werden wird und wie begeistert alle dem Vorschlag zustimmen werden, 20 % der Personalstämme einzusparen.Herr Kollege Klose hat der Regierung, wie gesagt, vorgeworfen, sie versuche, die Wahrheit rhetorischsemantisch zu vertuschen. Wer solche Gedankenspiele öffentlich vorträgt, sollte sich hüten, in der eigenen Rede genau das zu tun, was er anderen vorhält. Ich wenigstens habe eine der Bemerkungen des Kollegen Klose mehr als eine verbale Entgleisung denn als einen Versuch empfunden, die Wahrheit semantisch zu vertuschen, nämlich als er das Wort von den „Verarmungsprozessen", die nach seiner Meinung im Osten fortschreiten, in den Mund genommen hat. Das muß Herr Klose beispielsweise einmal den Rentnern im Osten erzählen, die im real existierenden Sozialismus wirklich arm waren. Das muß er den Witwen und Kriegsopfern erzählen, die in den neuen Ländern zum erstenmal in ihrem Leben verdientermaßen für ein nicht verdientes Schicksal finanziell ent-
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Arnulf Kriednerschädigt werden. Diese Schlagworte in den Mund zu nehmen halte ich auch nicht für sonderlich seriös.
Das Föderale Konsolidierungsprogramm ist erforderlich. Solidarität ist erforderlich. Ich gehe immer noch davon aus, daß diese Solidarität in den Gesprächen, die bevorstehen, auch erreicht wird. Sie muß unter den gegenwärtigen konjunkturellen Bedingungen erbracht werden; man darf dabei nicht von irgendwelchen Wunschvorstellungen ausgehen. Übrigens, Kollege Dreßler, ich meine Solidarität im Osten wie im Westen. Auch im Osten muß der eine oder andere lernen, daß er solidarisch sein muß. Auch das ist so.
— Wir brauchen doch nicht zu streiten, Herr Kollege.Es gibt doch eine ganze Reihe von Dingen, die auch der Bürger im Osten heute wider besseres Wissen tut. Gerade weil Minister Blüm gemahnt worden ist: Gucken Sie sich einmal an, was bei den Arbeitsämtern in grenznahen Bereichen passiert. Sehen Sie sich das genau an, und dann reden wir wieder darüber.In diesem Sinne, liebe Kolleginnen und Kollegen, fordere ich alle in diesem Haus auf, mitzuwirken. Ich möchte in diesem Zusammenhang — Sie haben dieses bemerkenswerte Blatt heute schon zitiert — auch meinerseits die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" von heute bemühen.
— Das ist Pech; wenn eine Zeitung so gute Vorlagen liefert, dann muß man sie einfach nutzen. — Die „Frankfurter Allgemeine" schreibt heute in ihrem Kommentar am Schluß folgendes:Die Erneuerung der deutschen Politik kann Union und SPD nur gemeinsam gelingen. Es würde unabsehbarer Schaden entstehen, wenn die Sozialdemokraten jetzt kopflos ihr Heil in der Verweigerung suchten.Ich danke Ihnen.
Ich will einmal hoffen, daß häufige Zitate aus der „FAZ" nicht als Werbung mißverstanden werden und wir deswegen Ärger bekommen.
Das Wort hat Frau Dr. Höll.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die PDS wirkt aktiv mit. Wir haben für heute einen Antrag zur „Heranziehung der westdeutschen Unternehmen zur Finanzierung des Solidarpakts " formuliert. Wir haben uns an dem Gesetz über die Investitionshilfe der gewerblichen Wirtschaft aus dem Jahre 1952 orientiert und einen sehr präzisen Auftrag an die Bundesregierung formuliert.Zur Finanzierung des vordringlichen Investitionsbedarfs und der laufenden Betriebskosten der in den neuen Bundesländern einschließlich Ost-Berlin ansässigen Unternehmen sollen in Ostdeutschland nichtinvestierende westdeutsche Unternehmen verpflichtet werden, eine auf mindestens fünf Jahre befristete Investitionshilfeabgabe zu zahlen. Bemessungsgrundlage soll die Summe aus dem Jahresüberschuß nach Steuern sowie 4 % der Umsätze sein. Auf der Basis der entsprechenden Zahlen von 1991 könnte der Aufbau der ostdeutschen Wirtschaft mit mehr als 28 Milliarden DM jährlich gefördert werden. Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, daß die Geldvermögensbildung der westdeutschen Unternehmen 1991 mit 122,5 Milliarden DM zwar nicht mehr das Rekordniveau von 1990 erreichte, aber immer noch um rund 11,6 % über den Zahlen des Jahres 1989 lag. Es ist sowohl sozial gerecht als auch ökonomisch verantwortbar, den Gewinnern und Profiteuren der deutschen Einheit, zu denen nicht nur wir gehören, sondern zu denen der sächsische Ministerpräsident Biedenkopf auch die Banken zählt, einen Solidaritätszuschlag abzuverlangen.
Daß wir heute in erster Lesung über den Nachtragshaushalt 1993 beraten, ist dem Umstand geschuldet, daß sich Bundesregierung und Koalitionsfraktionen im Herbst vergangenen Jahres nicht zu einer schonungslosen Bestandsaufnahme der Lage der Staatsfinanzen entschließen konnten. Bereits die Beratungen über den Haushalt 1993 führte die Opposition in der Gewißheit, daß dieser Haushaltsentwurf noch nicht einmal das Frühjahr ohne Korrekturen überleben würde. Dieser Nachtrag ist die zwangsläufige Folge einer Politik des Beschönigens, des Verschweigens und der sozialen Kälte. Über eine um 8 Milliarden DM auf 51 Milliarden DM steigende Neuverschuldung werden nur zu einem ganz geringen Teil investive Mittel finanziert. Eine Investitionspauschale in Höhe von 1,5 Milliarden DM ist angesichts des infrastrukturellen Nachholbedarfs ostdeutscher Länder und Gemeinden kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein.Noch im September letzten Jahres war ein Antrag der PDS auf Bereitstellung einer kommunalen Investitionspauschale am gemeinsamen Widerstand von Koalition und SPD gescheitert. Jetzt wird mit den etatisierten 1,5 Milliarden DM immerhin Handlungsbedarf belegt. Wir werden unseren Antrag deshalb erneut zur Abstimmung stellen.Die Mehrausgaben für die Bundesanstalt für Arbeit in Höhe von 5,4 Milliarden DM täuschen den Menschen sozialpolitisches Verantwortungsbewußtsein der Bundesregierung vor. Der Sozialabbau wird damit nicht gestoppt, sondern eher noch verschärft werden.Die um 290 Milliarden DM erhöhten Ausgaben für die Arbeitslosenhilfe sowie die Liquiditätshilfe für die Bundesanstalt für Arbeit in Höhe von 4,9 Milliarden DM sind nicht geeignet, den tatsächlich entstandenen und noch bestehenden Bedarf abzudecken. Von der Verwaltung der Arbeitslosigkeit ist es nur ein kurzer Weg bis zu den Kürzungen der Lohnersatzleistungen, wie sie das Konsolidierungsprogramm vorsieht.Der Nachtragshaushalt und das Konsolidierungsprogramm täuschen nicht einmal mehr Bestandssicherung vor. Soziale Demontage und Zerrüttung sind
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Dr. Barbara Höllangesagt, um durch Eingriffe in die sozialen Leistungsgesetze den Kreis der Anspruchsberechtigten zu minimieren und — so der fromme Wunsch der Regierenden — nach Möglichkeit kommende Haushaltspläne von Liquiditätshilfen an die Bundesanstalt für Arbeit freizuhalten.Um überhaupt noch den Sparkommissar mimen zu können und nicht als Hütchenspieler abtreten zu müssen, hat sich der Bundesfinanzminister des ihm von den Koalitionsfraktionen freudigen Herzens in die Hand gegebenen Instrumentariums der globalen Minderausgabe bedient und mit einem Federstrich Einsparungen in Höhe von 1,3 Milliarden DM erzielt, die vorerst nur auf dem Papier stehen. Gemeinsam mit den Haushältern der CDU/CSU und F.D.P. kann er jetzt auf das parlamentarische Budgetrecht pfeifen. Die Veranschlagung einer globalen Minderausgabe wird als bequemer Ausweg benutzt, das Haushaltsvolumen zu frisieren, um eine optische Sparsamkeit vorzutäuschen.Die angeblich unvorhergesehenen Einnahmeausfälle erklärt Herr Waigel stets als konjunkturbedingt. Dieses Spielchen ist allerdings weder neu noch amüsant, denn es folgt der Logik, erst schönzureden und Einnahmeverbesserungen als Belege und Beweise für die erfolgreiche Politik der Bundesregierung zu interpretieren, Einnahmeausfälle dagegen der Konjunktur anzulasten.Zur Erblastdiskussion ist anzumerken, daß der Finanzminister stets erklärt hat, im Finanzplan sei für die mittelfristigen finanzpolitischen Aufgaben, die infolge der Einheit und des Einigungsvertrages noch zu bewältigen seien, Vorsorge getroffen worden. Jetzt soll das alles nicht mehr gelten, weil Schulden in Höhe von 400 Milliarden DM zu bedienen sind, für die ganz allein die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen die politische Verantwortung tragen.
Die PDS/Linke Liste wird mit konkreten Alternativen und — ich betone ausdrücklich — auch mit Finanzierungsalternativen zur Regierungspolitik in die Beratungen über das Konsolidierungsprogramm und den Nachtragshaushalt gehen.
Frau Dr. Höll, darf ich Ihre Aufmerksamkeit auf das rote Licht lenken.
Das ist der letzte Satz.
Zur Frage meines Vorredners betreffend den Vorschlag der PDS zu ABM: Es ist hier sicher nicht der Ort, darüber zu diskutieren, welche Gelder die Treuhand alle verwaltet. Aber es ist sinnlos, daß das Geld bei der Treuhand liegt und nicht eingesetzt wird. Diesem Vorschlag sollte man unkonventionell auf alle Fälle folgen.
Ich möchte mir erlauben, noch eine letzte Bemerkung zu Herrn Solms zu machen. Ich finde es
erschreckend, was in diesem Parlament gedacht und in dieser Weise geäußert werden kann. Potsdam ist immer noch der Ort, an dem die Niederlage des deutschen Faschismus besiegelt wurde.
Die Teilung Deutschlands ist Ergebnis dieses Prozesses. Es ist die Frage, wie man das darstellen kann. Ich denke, daß die Öffentlichkeit eine solche Äußerung wirklich mit erhöhtem Interesse aufnehmen sollte und richtig bewertet.
Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Ortwin Lowack das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler ist ein Künstler. Obwohl seine Partei auf niedrigstem Niveau in Hessen noch einmal Prozente verloren hat und obwohl sie gerade dort stärker geblieben ist, wo sich Parteifreunde gegen Kohl und seine Politik pointiert ausgesprochen hatten, bringt er es fertig, das Abschneiden seiner Partei als seinen Erfolg darzustellen,
gleichzeitig aber — und jetzt kommst du — diejenigen in der Fraktion zu beschimpfen und zu bedrohen, die das erste Mal seit langem, vielleicht sogar noch rechtzeitig, ihrem Auftrag als unabhängige Abgeordnete nachgekommen waren.Der Bundeskanzler weiß natürlich, daß ein konstruktives Mißtrauensvotum nicht möglich ist. Was er aber offenbar noch nicht weiß, ist, daß er in Zukunft zwar formell noch immer die Richtlinienkompetenz haben mag, aber nicht mehr die politische Kompetenz haben muß, weil nämlich die Fraktion nicht mehr das tut, was er zuvor in irgendwelchen geheimnisvollen Zirkeln hatte absegnen lassen. Das Schlimmste wird sein: Die Republik wird darunter in keiner Weise leiden, vielleicht wird es ihr sogar ein Stück bessergehen.Aber da ist ja noch der Finanzminister. Niemand weiß eigentlich, wo er steht, es sei denn hinter dem Kanzler. Und wenn Theo ein Gottesgeschenk ist, wie er sagt, dann hat sich der Schenker endgültig gegen die CSU verschworen. Gerade hatte der Bundesfinanzminister den Schwur auf den Haushalt 1993 und seine Solidität geleistet, da kommt er schon wenige Wochen später mit dem ersten Nachtrag. Frau Matthäus-Maier hatte das in der letzten Haushaltsdebatte angekündigt; Theo Waigel hatte es zurückgewiesen. Einmal wieder geht es um weitere Neuverschuldung und weitere aktuelle Belastungen der Bundesbürger.Nachtragshaushalt und FKK der Bundesregierung sind ein weiteres Beispiel für Aktionismus und Vernebelung einer dramatischen Situation des Abgleitens der Bundesrepublik Deutschland ins Mittelmaß dank
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12488 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. März 1993
Ortwin Lowackeiner miserablen, egoistischen und egozentrischen Politik.
Der Bundesfinanzminister hat hier eine Haltung eingenommen, die an die eines bekannten Spaniers erinnert, nämlich Don Quichotte. Er bringt die Windmühlenflügel selber zum Laufen und kämpft damit, indem er sich mit Argumenten auseinandersetzt, die entweder die Opposition tatsächlich einmal gebracht hat oder nicht gebracht hat. Er spricht heute von „Anpassung", „Solidarität" und „Vorrang für Wachstum" und bietet Neuverschuldung, neue Belastungen und Perspektivlosigkeit. Niemand glaubt doch mehr die Parolen, niemand nimmt diese Politik mehr ernst.Der Finanzminister spricht von zehn guten Jahren. Er verschweigt, daß in dieser Zeit die Eigenkapitaldecke der Betriebe auf niedrigstem Niveau geblieben ist. Er verschweigt den dramatischen Einbruch in der Leistungsbilanz. Er sagt, wir müßten die öffentlichen Finanzen ordnen. Das hat er noch in der heutigen Debatte gesagt. Muß er sich nicht fragen lassen, wer seit zwölf Jahren die Verantwortung hat und wer seit vier Jahren Bundesfinanzminister ist? Warum sind die Finanzen nicht geordnet, wenn er es schon selbst einräumt?Selbstverständlichkeiten wie Abbau und Kontrolle der Staatsquote werden als wirtschaftspolitische Neuigkeiten verkündet, als ob man noch nie etwas damit zu tun gehabt und nunmehr das Wunderheilmittel gefunden hätte. Wie die Staatsquote wieder zurückgeführt werden soll, bleibt allerdings in einem Nebel voller Attacken auf die Opposition und finsterer Mächte in unserem Volk verborgen.Die „Wirtschaftswoche" stellte in einem Kommentar vor wenigen Wochen zutreffend fest, sozialistisches Denken präge zunehmend die Politik in Bonn. Auch der Nachtragshaushalt und der sogenannte Solidarpakt sind ein typisches Beispiel. Dort, wo tatsächlich gespart werden müßte, fehlt es der Bundesregierung an Überzeugung und vor allem an der Fähigkeit, alle Deutschen zu einer großen gemeinsamen Aktion aufzurufen und zu überzeugen. Gerade dieses mentale geistige Potential hat diese Bundesregierung nicht.Wenn ein CDU-Wirtschaftsminister eines Bundeslandes eine „staatliche Industriepolitik für Ostdeutschland, finanziert vom westdeutschen Steuerzahler" verlangt, wird das sehr schnell zu einer Forderung nach dem Erhalt industrieller Kerne in bestimmten Bereichen des Ruhrgebiets und anderswo in Deutschland führen, weil diese Bundesregierung längst nicht mehr für Marktwirtschaft, für Weitblick, für Konsequenz und für Intelligenz in der Politik steht.Natürlich sind die großen Fehler 1990 gemacht worden, als wirtschaftspolitischer Sachverstand der Machtgier geopfert wurde. Die Probleme lassen sich schon heute mit rein haushaltstechnischen Mitteln und weiterer Neuverschuldung nicht mehr lösen. Die deutschen Unternehmen sind nicht nur bei der Eigenkapitalquote fast am Ende der Skala, sie liegen vor allem auch bei der Umsatzrendite am Ende der Skala der großen Industriestaaten. In der Rangliste der 50 Unternehmen mit der höchsten Rendite gibt es kein einziges aus Deutschland. Bei der Insolvenzzahl sind wir zwischenzeitlich absolute Spitze.Während aber die Unternehmen überall kürzen und Arbeitsplätze abbauen müssen, waren die Steuereinnahmen des Bundes noch nie so hoch wie heute. 731,6 Milliarden DM flossen 1992 in die Kassen von Bund, Ländern und Gemeinden. Allein der Bund kassierte 352,9 Milliarden DM. Machen Sie endlich einmal den Bürgern klar, daß diese Summen nicht ausreichen, um den Staat und seine Leistungen zu finanzieren. Wo ist der große politische Ansatz, um das zu bereinigen? Wenn der Staat glaubt, noch mehr Geld vom Bürger nehmen zu müssen, dann bitte nicht dort, wo es schadet und jede Leistungsbereitschaft systematisch zerstört.Ich frage deshalb: Wo gibt es eigentlich eine angemessene Besteuerung der Gewinne, die ohne jeden Einsatz, ohne jede Leistung gemacht wurden, z. B. aus Bodenspekulationen auf Grund politischer Entscheidungen — auch der deutschen Einheit —, etwa auch der, mit der Bundesregierung nach Berlin zu gehen? Diese Gelder werden nicht in Deutschland investiert. Sie werden transferiert. Sie helfen beim wirtschaftlichen Aufbau nicht.
Vielleicht wäre die Regierung deshalb am besten beraten, wenn sie sich an einen angesehenen Fachmann
oder ein Gremium außerhalb der Politik wendet, das mehr Autorität und Ansehen als die Bundesregierung genießt und uns zumindest für eine Weile vom Aktionismus dieser Bundesregierung befreit.Wenn sie das nicht will, müßte sie allerdings konsequent Dirigismus, hohe und unüberschaubare Besteuerung sowie Gängelei zugunsten von mehr Privatinitiative und Befreiung der schöpferischen Kräfte abbauen. Nichts ist in dieser Debatte seitens der Bundesregierung in dieser Richtung vorgetragen worden.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende dieser Debatte. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/4401, 12/4400 und 12/4493 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. — Weitere Vorschläge werden nicht gemacht. Dann ist das so beschlossen.Ich rufe nunmehr dieFragestunde— Drucksache 12/4482 —auf.Wir kommen zunächst zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz. Zur Beantwortung steht
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. März 1993 12489
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberguns Herr Staatssekretär Rainer Funke zur Verfügung.Ich rufe die Frage 1 des Abgeordneten Göttsching auf:Ist sich die Bundesregierung der Gefahr bewußt, daß, obwohl die Verjährung bei bestimmten Straftatbeständen in der DDR geruht hat, ein nicht unbeträchtlicher Teil aus Personal- und Zeitmangel nicht mehr angeklagt werden kann?Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Herr Kollege Göttsching, für die Strafverfolgung des SED-Unrechts sind im wesentlichen die neuen Länder und Berlin zuständig. Die Bundesregierung kann daher im einzelnen nicht unmittelbar beurteilen, ob und in welchem Umfang eine akute Gefahr der Verjährung eines nicht unbeträchtlichen Teils einschlägiger Straftaten aus Zeit-und Personalmangel besteht. Sollten die Länder ein Bedürfnis für eine Verlängerung noch laufender Verjährungsfristen sehen, wird die Bundesregierung dies von sich aus unterstützen. Die Verlängerung noch laufender Verjährungsfristen ist verfassungsrechtlich zulässig, wenn hierfür sachliche Gründe vorliegen.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Göttsching, bitte sehr.
Herr Staatssekretär, Sie haben jetzt die Kompetenz der Bundesregierung beschrieben. Kann die Bundesregierung eine Auskunft darüber geben, wie viele von diesen Straftatbeständen zur Zeit anliegen und mit welchen Zahlen noch zu rechnen ist?
Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Nein, das können wir nicht. Denn dafür sind die Justizverwaltungen der Länder zuständig. In der Kürze der Zeit war es nicht möglich, eine Umfrage bei den Ländern zu starten. Falls Sie das für erforderlich halten, würde ich sie veranlassen und Ihnen die Zahlen schriftlich nachreichen.
Ich rufe die Frage 2 auf, ebenfalls von Ihnen, Herr Abgeordneter Göttsching, gestellt:
Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, damit laufende Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit SED-Unrecht trotz Personal- und Zeitmangels zum Tragen kommen?
Bitte sehr.
Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Angesichts der Zuständigkeit der Länder für die Strafverfolgung hat die Bundesregierung keine unmittelbaren Einwirkungsmöglichkeiten auf die Tätigkeit der Strafverfolgungsbehörden der neuen Lander und Berlins.
Um seiner gesamtstaatlichen Verantwortung für die strafrechtliche Bewältigung des SED-Unrechts gerecht zu werden, leistet der Bund den neuen Ländern und Berlin insbesondere finanzielle Hilfe.
Auf der Grundlage von mit den Ländern abgeschlossenen Verwaltungsvereinbarungen wurden und werden Finanzhilfen gewährt, wenn Richter, Staatsanwälte, Rechtspfleger und Urkundsbeamte der
Geschäftsstelle von den alten Ländern in die neuen Länder abgeordnet werden, von den neuen Ländern neu eingestellt werden oder aus dem Ruhestand für den Einsatz in den neuen Ländern reaktiviert werden.
Im Rahmen dieser Personalhilfe sind den Ländern vom Bund 1991 53,543 Millionen DM und 1992 106,1 Millionen DM zur Verfügung gestellt worden. Für 1993 ist eine Finanzhilfe des Bundes bis zu einer Höhe von 107,5 Millionen DM vorgesehen. Die Fortsetzung der Aufbauhilfe über das Jahr 1993 hinaus wird von den Ländern dringend befürwortet. Das Bundesministerium der Justiz unterstützt dieses Anliegen und hat bereits Gespräche mit dem Bundesministerium der Finanzen aufgenommen, damit die erforderlichen Mittel für das Jahr 1994 bereitgestellt werden.
Eine besondere Unterstützung durch den Bund haben die Strafverfolgungsbehörden — Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei — des Landes Berlin erfahren, da sie den größten Teil des SED-Unrechts zu bewältigen haben. Der Bund hat insbesondere folgende Leistungen erbracht oder zugesagt: erstens zehn Mitarbeiter des höheren Dienstes für die Arbeitsgruppe Regierungskriminalität beim Generalstaatsanwalt beim Kammergericht, zweitens vierzig Mitarbeiter für die zentrale polizeiliche Ermittlungsstelle, drittens Dienstgebäude für die Arbeitsgruppe Regierungskriminalität, viertens Dienstgebäude für die zentrale polizeiliche Ermittlungsstelle und fünftens finanzielle Unterstützung der zentralen polizeilichen Ermittlungsstelle.
Zusatzfrage? — Das ist nicht der Fall. Herr Staatssekretär, dann bedanke ich mich bei Ihnen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf. Hier steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Wolfgang Gröbl zur Verfügung.
Zunächst rufe ich die Frage 3 des Abgeordneten Kubatschka auf:
Aus welchem Grund hat sich die Bundesregierung nicht dafür eingesetzt, daß die letzte Sitzung des Agrar-Ministerrates mit der Entscheidung über die Bananenmarkt-Ordnung öffentlich tagte?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Herr Kollege Kubatschka, die Bundesregierung mißt den Beschlüssen der Europäischen Räte von Birmingham und Edinburgh zur Transparenz der Arbeit des Ministerrats der Europäischen Gemeinschaften große Bedeutung zu. Der Rat der Agrarminister hat auf seiner Sitzung am 9., 10. und 12. Februar 1993 — das ist die von Ihnen angesprochene Sitzung — zum erstenmal einen Tagesordnungspunkt öffentlich behandelt. Die Präsidentschaft hatte dafür die Beratung über die Preisvorschläge 1993/94 vorgeschlagen. Der Rat hat das akzeptiert, auch mit ausdrücklicher Unterstützung von Bundesernährungsminister Borchert.Einen anderen Tagesordnungspunkt zusätzlich vorzuschlagen wäre nach Meinung der Bundesregierung
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12490 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. März 1993
Parl. Staatssekretär Wolfgang Gröblnicht sinnvoll gewesen, da die Entscheidung, ob ein Punkt öffentlich behandelt werden soll, des Konsenses aller Mitgliedstaaten bedarf und ein solcher Konsens überhaupt nicht in Sicht war. Dies hätte die Beratungen in der Sache nach unserer Auffassung eher noch erschwert.
Zusatzfrage, bitte sehr, Herr Abgeordneter.
Herr Staatssekretär Gröbl, was war Geheimnisvolles an der Bananenmarktordnung, daß das nicht öffentlich verhandelt werden konnte?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Geheimnisvolles war an diesem Tagesordnungspunkt sicherlich nicht festzustellen. Die Frage ist, ob ein Mitgliedstaat einen solchen Vorschlag macht oder gar einen entsprechenden Antrag einbringt. Das richtet sich u. a. auch nach der Zweckmäßigkeit. Dies habe ich in der ersten Antwort zum Ausdruck gebracht.
Zweite Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, hat Bundeslandwirtschaftsminister Borchert bei dieser Sitzung die Bedenken des Drogenbeauftragten der Bundesregierung vorgetragen?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Ich weiß nicht, ob hier ein inhaltlicher Zusammenhang mit der Frage besteht. Selbstverständlich, Herr Kollege Kubatschka, ist auch dieser Gesichtspunkt bei der Haltung der Bundesregierung berücksichtigt worden. Wir haben dies sowohl in Brüssel als auch andernorts immer wieder dargestellt.
Da keine weiteren Zusatzfragen gestellt werden, sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs angelangt. Herr Staatssekretär, ich bedanke mich bei Ihnen.
Wir kommen zu der Frage aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit. Die Abgeordnete Maria Eichhorn hat um schriftliche Beantwortung der Frage 4 gebeten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Herr Parlamentarischer Staatssekretär Eduard Lintner zur Verfügung. Der Abgeordnete Dr. Ullmann ist im Moment nicht im Saal. Die Fragen 64 und 65 des Abgeordneten Simon Wittmann werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Auch die Fragen 66 und 67 des Abgeordneten Jürgen Augustinowitz werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 68 der Abgeordneten Uta Würfel auf:
Treffen nach Ansicht der Bundesregierung Behauptungen zu, daß aus den Mitteln des Bundesministeriums des Innern Leichtathletiktrainer bezahlt werden, von denen bekannt ist, daß sie Doping anwenden?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Frau Kollegin Würfel, der Beantwortung Ihrer Fragen darf ich zunächst vorausschikken, daß allen Bundessportfachverbänden wie auch dem Deutschen Sportbund bekannt ist, daß Sportfördermittel des Bundes zur Deckung von Trainerkosten nur insoweit zur Verfügung gestellt werden, als die Beschäftigung dieser Trainer mit den vom Sport selbst gesetzten Regeln im Kampf gegen das Doping übereinstimmt. Die Kosten für Trainer, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen, werden aus Bundesmitteln nicht finanziert.
Ich komme nun zu Ihren Fragen im einzelnen, und zwar zunächst zur Frage 68. Behauptungen, daß aus den Mitteln des Bundesministeriums des Innern Leichtathletiktrainer bezahlt werden, von denen bekannt ist, daß sie Doping anwenden, treffen nach Ansicht der Bundesregierung nicht zu. Nach den Dienstverträgen der Trainer ist ein Verstoß gegen das Dopingverbot Grund für eine außerordentliche fristlose Kündigung des Vertragsverhältnisses.
Im Zuwendungsbescheid des Bundesministeriums des Innern wird ausdrücklich zur Auflage gemacht, daß die in den Dienstverträgen enthaltenen Regeln zur Bekämpfung des Dopings auch angewendet werden.
Zusatzfrage, bitte schön, Frau Kollegin Würfel.
Herr Lintner, nachdem nun gerichtsfest ist, daß der DLV-Cheftrainer Schubert bei seiner Einstellung falsche Angaben gemacht hat, und nachdem gerichtsfest ist, daß er „Chef-Doper" genannt werden kann, möchte ich Sie fragen, ob Sie im Falle Schubert nicht doch eine andere Antwort geben müßten.
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Gerade im Falle Schubert haben wir uns die endgültige Entscheidung noch vorbehalten. In dem Bescheid vom 15. Dezember 1992, mit dem Gelder in Aussicht gestellt worden sind, heißt es: „Eine Entscheidung über meine Zustimmung" — gemeint ist die Entscheidung des BMI — „zur Beschäftigung der Trainer Dr. Schubert ... kann erst nach Beantwortung der laufenden Anfragen erfolgen. Hinsichtlich etwaiger Belastungen von Trainern wegen Zusammenarbeit mit Dienststellen der Staatssicherheit der ehemaligen DDR verweise ich ...".
Wir haben diese Auskunft, die uns der DLV geben muß, der dabei wiederum auf einen entsprechenden Beschluß der Antidopingkommission zurückgreifen muß, noch nicht erhalten.
Weitere Zusatzfrage, bitte sehr.
Herr Staatssekretär Lintner, wenn ein deutsches Gericht feststellt, daß es sich bei
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Uta WürfelDr. Schubert wirklich um einen Fachmann für Doping handelt, der bei seiner Einstellung falsche Angaben gemacht hat, wenn dies also gerichtsfest ist, welcher Beweise bedarf es dann noch, um anders zu verfahren, als Sie es tun? Wollen Sie wirklich noch zuwarten?Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Würfel, zunächst einmal muß ich sagen: Auf Grund der Vorbehalte, die in den Bescheiden enthalten sind, laufen der Bundesregierung sozusagen keine Möglichkeiten davon. Außerdem sind für uns diejenigen Richtlinien Maßstab, die sich der Sport selber gegeben hat. Diese von einer Kommission erarbeiteten Empfehlungen lauten in dem hier einschlägigen Punkt wie folgt: „Die Kommission empfiehlt Verbänden und Vereinen des DSB, solche Personen, die im Bereich der ehemaligen DDR als Trainer oder Ärzte vor Ort mit den Athleten zusammengearbeitet haben, dahingehend zu überprüfen, ob sie künftig die Gewähr dafür bieten, daß sie für einen von Dopingmitteln freien Sport eintreten und dementsprechend arbeiten werden. "Sie sehen, daß hier insbesondere das Element der Zukunftsprognose enthalten ist. Insoweit bedarf es noch der Auskunft des DLV bzw. der Antidopingkommission.
Ich rufe nunmehr die Frage 69 der Abgeordneten Uta Würfel auf:
Wie rechtfertigt die Bundesregierung die staatliche Unterstützung für den DLV, wenn der DLV Trainer beschäftigt, die Doping betreiben?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Der Bundesregierung ist nicht bekannt, daß der Deutsche Leichtathletik-Verband Trainer beschäftigt, die Doping betreiben. Bei Bekanntwerden eines solchen Falles würde das Bundesministerium des Innern sorgfältig prüfen, ob entsprechend dem Zuwendungsbescheid verfahren wird.
Ergänzend darf ich zu Ihrer Frage mitteilen, daß der Deutsche Leichtathletik-Verband voll am Dopingkontrollsystem des Deutschen Sportbundes teilnimmt, wobei der Anteil der kontrollierten Athleten im Vergleich zu vielen anderen Verbänden überproportional hoch ist. Darüber hinaus führt der Deutsche Leichtathletik-Verband eigene Kontrollen durch.
Zusatzfrage, bitte sehr.
Herr Staatssekretär Lintner, nachdem nun feststeht, daß gerade Dr. Schubert bei seiner Einstellung als Cheftrainer falsche Angaben über sein Verhalten als Trainer in der ehemaligen DDR im Hinblick auf Doping gemacht hat, ist es für mich fraglich, wie Sie davon ausgehen können, daß nicht auch die Angaben, die er in Zukunft machen wird, ebenso unkorrekt sein werden wie diejenigen, die er bei seiner Einstellung gemacht hat.
Wenn ich darf, Herr Präsident, schließe ich gleich eine zweite Frage an. Vor diesem Hintergrund erscheint es mir doch gerade im Hinblick auf die Hygiene im Sport — man spricht ja nicht nur von der politischen Hygiene, sondern auch von der Hygiene
im Sport — in diesem ganz diffizilen Feld angezeigt, daß die Bundesregierung hier handelt und nicht zuwartet.
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Würfel, wir wollen uns an das mit dem Deutschen Sportbund vereinbarte Verfahren halten. Das bedeutet, daß wir die von mir vorhin bereits erwähnte Antwort abwarten wollen, bevor wir endgültig handeln. Da es sich dabei nicht um eine uferlos lange Zeit handeln kann, steht einem Verfahren seitens der Bundesregierung, wie Sie es erwarten, möglicherweise nichts mehr entgegen.
Aber ich weise noch einmal darauf hin: Wir werden dabei natürlich alles verwerten, was uns beispielsweise durch Gerichtsverfahren bekanntgeworden ist.
Weitere Zusatzfragen werden nicht gewünscht.
Da Herr Abgeordneter Dr. Ullmann immer noch nicht im Saal anwesend ist, wird bezüglich der Fragen 62 und 63 verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen.
Herr Staatssekretär, ich bedanke mich bei Ihnen.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald zur Verfügung. Ich rufe die Frage 5 des Abgeordneten Hans-Joachim Hacker auf:
Anerkennt die Bundesregierung, daß mit der Ausklammerung einer Regelung für die Vertriebenen mit Wohnsitz in den neuen Ländern aus dem inzwischen verabschiedeten Kriegsfolgenbereinigungsgesetz die längst fällige Erfüllung der Forderungen der Vertriebenen auf einen materiellen Ausgleich um weitere Monate verzögert wird und damit wiederum eine nicht bekannte Zahl potentieller Anspruchsberechtigter wegen Ablebens nicht mehr in den Genuß dieses Ausgleichs kommt?
Herr Kollege Hacker, die Bundesregierung kann aus dem Umstand, daß die einmalige Zuwendung an Vertriebene mit Wohnsitz in den neuen Ländern nicht im Kriegsfolgenbereinigungsgesetz, sondern im Zusammenhang mit dem Gesetz über die Entschädigung nach dem Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen geregelt werden soll, keine Verzögerung bei der Leistungsgewährung erkennen. Auch bei einer Regelung im Kriegsfolgenbereinigungsgesetz wäre aus finanziellen Gründen keine frühere Leistungsgewährung als die jetzt vorgesehene möglich gewesen.
Zusatzfrage, bitte sehr, Herr Abgeordneter Hacker.
Herr Staatssekretär, wie stehen Sie zu den Aussagen des Staatssekretärs Waffenschmidt und des Vertreters der Bundesregierung im Vermittlungsausschuß, daß insbesondere den älteren Mitbürgern bei der Abwicklung der Entschädigungszahlungen auf Grund ihres Vertriebenenstatus schnell und zügig geholfen werden soll?Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Auf die Zusage im Vermittlungsverfahren kommen wir im
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12492 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. März 1993
Parl. Staatssekretär Dr. Joachim GrünewaldZusammenhang mit einer anderen Frage noch einmal zurück. Aber ich darf Ihnen sagen, daß der Anspruch schon nach der Antragstellung verbrieft wird und damit veräußerlich, abtretbar und auch vererbbar ist.
Weitere Zusatzfrage.
Sehen Sie nicht in der Tatsache, daß die Bundesregierung den Betroffenen einen vererbbaren Anspruch einräumt, eine schwere Krise der Glaubwürdigkeit der Regierung bei der betroffenen Gruppe, weil die Betroffenen für sich etwas reklamieren und nicht für Erben?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Es ist zweifellos zutreffend, daß der so gewährte Anspruch ein höchstpersönlicher Anspruch ist, der deshalb auch nicht der Pfändung unterliegt und auch nicht auf Sozialhilfeleistungen angerechnet wird. Aber der so erworbene Anspruch bleibt und ist sofort fungibel für den Antragsberechtigten.
Dann rufe ich die Frage 6 des Abgeordneten Hans-Joachim Hacker auf:
Wie erklärt die Bundesregierung die Abweichung von ihrer seit Jahren vorgetragenen Argumentation, daß eine Ausgleichsregelung für Vertriebene in den neuen Ländern als Bestandteil der Bereinigung des Kriegsfolgenrechts anzusehen sei und eine Gleichbehandlung der Vertriebenen mit den Heimkehrern erfolgen sollte, wenn sie nunmehr den materiellen Ausgleich in Form einer einmaligen Zuwendung in einem Vertriebenenzuwendungsgesetz regeln will?
Dr. Joachim Grünewald, Parl Staatssekretär: Die Bundesregierung hat zu keiner Zeit weder eine Ausgleichsregelung für die Vertriebenen mit Wohnsitz in den neuen Ländern als Bestandteil der Bereinigung des Kriegsfolgenrechts angesehen noch eine Gleichbehandlung der Vertriebenen mit den Heimkehrern in Aussicht gestellt. Eine solche Gleichbehandlung scheidet schon deshalb aus, weil Heimkehrer in der Regel keine Vertreibungsverluste erlitten haben.
Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, ich entsinne mich, daß die SPD-Bundestagsfraktion im Dezember 1991 den Antrag gestellt hat, die Heimkehrer-Stiftung mit Wirkung 1992 in Kraft zu setzen, damit dieser Gruppe schnell geholfen werden kann. Ich entsinne mich auch, daß die Bundesregierung damals die Vorabinkraftsetzung mit der Begründung abgelehnt hat, daß man eine Bevorteilung der Heimkehrer gegenüber den Heimatvertriebenen nicht vornehmen dürfe.
Dr. Joachim Grünewald, Parl Staatssekretär: Ja, das ist zutreffend. Ich habe ja schon gesagt, die Vertriebenen sind den Heimkehrern nicht vergleichbar; denn die Heimkehrer können sich — in aller Regel jedenfalls — auf einen Vertreibungsschaden nicht berufen. Von daher ist auch die differenzierte Behandlung von Vertriebenen und Heimkehrern gerechtfertigt.
Weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mir dann aber zu, daß ein sachliches Argument gegen die Vorabinkraftsetzung der Heimkehrer-Stiftung für das Jahr 1992 auch aus heutiger Sicht nicht mehr gegeben ist?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Nein, ich kann Ihnen nicht zustimmen, weil es sich hier — wie eben schon zweimal gesagt — um ganz grundsätzlich unterschiedliche Tatbestände handelt.
Der Abgeordnete Gert Wartenberg, der die Fragen 7 und 8 gestellt hat, ist, soweit ich das sehe, nicht im Saal. — Es wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen.Die Abgeordneten Horst Sielaff, Dr. Hans-Hinrich Knaape und Siegrun Klemmer haben — das betrifft die Fragen 9 bis 13 — um schriftliche Beantwortung gebeten. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Den Abgeordneten Dr. Kübler sehe ich nicht. — Hinsichtlich seiner Frage 14 wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen.*)Die Abgeordneten Wolfgang Vogt und Heribert Scharrenbroich haben um schriftliche Beantwortung ihrer Fragen — das sind die Fragen 15 bis 17 — gebeten. — Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Ich rufe jetzt die Frage 18 des Abgeordneten Heinz-Adolf Hörsken auf:Teilt der Bundesminister der Finanzen dabei die Auffassung, daß sich zusätzliches Personal in der Finanzverwaltung nicht nur selbst finanzieren, sondern darüber hinaus einen erheblichen Mehrertrag erbringen würde, insbesondere dann, wenn die Betriebsprüfungen zeitnäher vorgenommen würden?Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Danke schön, Herr Präsident. — Herr Kollege Hörsken, die Bundesregierung vertritt die Auffassung, daß die personelle Situation in der Steuerverwaltung verbesserungsbedürftig ist, und zwar gerade im wohlverstandenen Haushaltsinteresse des Bundes und der Länder. In diesem Zusammenhang hält sie insbesondere eine Verstärkung der Betriebsprüfungsdienste für überlegenswert. Allerdings warne ich vor der Vorstellung, es gebe eine einfache rechnerische Relation zwischen Aufstockung der Betriebsprüfungsdienste einerseits und zusätzlichen Steuereinnahmen andererseits. Bis zu welcher Grenze der Einsatz zusätzlicher Betriebsprüfer noch wirtschaftlich und für die Steuerbürger tragbar wäre, läßt sich nicht vom grünen Tisch aus ermitteln, sondern müßte in der Praxis erprobt werden.Außerdem bin ich nicht der Meinung, daß die Länder imstande wären, die Betriebsprüfung kurzfristig deutlich zu verstärken. Nach unseren Erkenntnissen bestehen zum Teil erhebliche Schwierigkeiten, vorhandene Stellen zu besetzen, unter anderem deshalb, weil es an geeigneten Bewerbern fehlt und weil Personal im Innendienst der Finanzämter wegen der*) Vgl. aber Seite 12496A
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. März 1993 12493
Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewalddortigen Probleme gebunden ist. Mittel- und langfristige Verbesserungen müßten aber möglich sein.Den Finanzministern der Länder liegt ein Bericht vor, der sich mit der personellen und organisatorischen Struktur der Finanzverwaltung seit 1987 befaßt. Auf Bitte der Ministerin von Mecklenburg-Vorpommern werden sich die Finanzminister in einer der nächsten Sitzungen damit befassen. Sie haben mit Sicht auf die große Sensibilität bei den Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern sicherlich Verständnis dafür, daß ich diesen Beratungen der Finanzminister nicht vorgreifen möchte.
Zusatzfrage, bitte schön, Herr Abgeordneter Hörsken.
Herr Staatssekretär, was unternimmt denn der Bund nach diesen Erkenntnissen, um das zu fördern, was Sie hier selber festgestellt haben, nämlich daß hier zumindest mittel- und langfristig etwas passieren könnte? Was unternimmt der Bund, um hier Überzeugungsarbeit zu leisten und um zu dem Ergebnis zu kommen, das Sie nach Ihren Aussagen selber anstreben?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Zunächst einmal haben in der erwähnten Arbeitsgruppe die Organisationsleiter der obersten Finanzbehörden der Länder und selbstverständlich auch der Bund mitgewirkt. Das ist eine gemeinsame Arbeit. Welche Schlußfolgerungen nun aus dem Bericht zu ziehen sind, müssen die Finanzminister entscheiden.
Ich habe in diesem Hause schon wiederholt darauf hingewiesen — das war ja Gegenstand mehrerer Fragen in den letzten Fragestunden und auch von schriftlichen Anfragen —, daß wir schon eine Verdichtung des Betriebsprüfungsdienstes und auch des Fahndungsdienstes für erforderlich halten, daß das aber auch irgendwo an finanzielle Grenzen stößt. Die Personalhoheit obliegt finanzverfassungsrechtlich ausschließlich den Ländern. Da hat der Bund keine Mitwirkungsrechte.
Weitere Zusatzfrage, bitte schön.
In der Frage 18 habe ich gefragt, ob sich dieses Personal selber finanziert. Wie beurteilen Sie das?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Die Frage, ob sich das Personal selber finanziert, ist nicht so einfach zu beantworten. Im Grunde genommen müßte man das in der Praxis erkunden. Natürlich ist es unstreitig, daß eine Verdichtung des Betriebsprüfungsdienstes zu Steuermehreinnahmen führt. Die Frage aber, welches Ausmaß diese Mehreinnahmen im Verhältnis zu dem dann höheren Personalaufwand und höheren Organisationsaufwand der Länder haben wird, läßt sich von hier aus nicht beantworten.
Zusatzfrage des Abgeordneten von Larcher.
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß die Bundesregierung von den 3 000 Zollbeamten, die durch den EG-Binnenmarkt frei werden, 800 Beamte zur Überprüfung der Inanspruchnahme von Arbeitslosengeld einsetzen will? Warum ist nicht geplant, einen Teil der freiwerdenden Zollbeamten, die auch Finanzbeamte sind, gezielt im Kampf gegen die Steuerhinterziehung einzusetzen?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Es ist zutreffend, daß sich die Bundesregierung entschlossen hat, an der Westgrenze freiwerdende Zollbeamte des mittleren Dienstes für die Kontrolle von Sozialversicherungsausweisen bereitzustellen. Das hat folgenden Hintergrund, Herr Kollege von Larcher: Während für die Kontrolle im Sozialbereich die Bundesregierung eine eigene Zuständigkeit hat, hat sie bei den Steuern eben keine eigene Zuständigkeit. Das ist finanzverfassungsrechtlich Sache der Länder. Daraus erklärt sich auch, daß wir diese Bundesaufgabe mit Zollbeamten auszuführen gedenken.
Bis jetzt reden wir nur von 1 000 Beamten; denn wir haben ja nur unmittelbar an der Grenze Veränderungen vorgenommen. Wir beschäftigen die übrigen Beamten ja noch im Binnenbereich. Wenn in der weiteren Entwicklung durch den EG-Binnenmarkt weitere Kräfte freigesetzt werden, brauchen wir diese ganz dringend für die sogenannten Verstärkungsbereiche wie beispielsweise Flughäfen, Seehäfen usw.
Zusatzfrage des Abgeordneten Weißgerber.
Herr Staatssekretär, hält die Bundesregierung das Ermittlungsverbot bezüglich des § 30a der Abgabenordnung im Hinblick auf die Steuergerechtigkeit — es ging ja damals speziell um das Zinsabschlagsgesetz — weiterhin für hinnehmbar?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident, obgleich ein unmittelbarer Zusammenhang mit der Frage nicht gegeben ist, will ich gerne eine Antwort zu geben versuchen. Die Bundesregierung wird an dem in § 30a festgeschriebenen Bankgeheimnis auch fürderhin festhalten.
Gibt es weitere Zusatzfragen?
Auf diesen Komplex werden wir sicher noch einmal zurückkommen, Herr Staatssekretär. Ich will noch einmal auf die Frage des Personals zu sprechen kommen. Trifft es zu, daß die Bundesregierung über das Bundesamt der Finanzen, dessen Beamte z. B. an Betriebsprüfungen teilnehmen können und das bei Ermittlungen in Fällen von Gewinnverlagerung ins Ausland eingeschaltet wird, direkt auf der Verwaltungsebene einen größeren Beitrag zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung leisten könnte?Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Im Prinzip ja. Damit die Antwort auch ganz klar wird, Herr Kollege Poß, darf ich noch einmal die Größenordnungen darstellen. In der Betriebsprüfung — über alles — sind etwa 9 000 Mitarbeiter, im Steuerfahn-
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12494 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. März 1993
Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewalddungsdienst etwa 1 000. Der Bund hat — das sprechen Sie an — zusätzlich bundeseigene Prüfer in einer Größenordnung von etwa 70. Diese Zahl möchten wir gern auch verstärken. Deswegen haben wir, weil wir nicht selber ausbilden können, mit den Ländern Vereinbarungen getroffen, die uns dieses notwendige Personal in einer mittelfristigen Zeitspanne ausbilden werden.
Danke schön. Eine weitere Zusatzfrage?
Herr Staatssekretär, in Pressemitteilungen habe ich gelesen, Sie könnten die Zahlen der Steuergewerkschaft, daß durch Steuerhinterziehungen Ausfälle in Größenordnungen von ungefähr 140 Milliarden DM entstehen, nicht nachvollziehen. Bestehen im BMF Vorstellungen, in welcher Größenordnung Steuerausfälle durch Hinterziehung entstehen? Könnten das 10 % bis 20 % dieser von der Steuergewerkschaft genannten Zahl sein?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hampel, es ist eben das Typische der Schattenwirtschaft, daß man die Auswirkungen nicht so ohne weiteres erkennen kann. Diese für 1991 von der Steuergewerkschaft genannte Zahl von 146 Milliarden DM — das haben Sie richtig wiedergegeben — ist für uns überhaupt nicht nachvollziehbar. Sie geht von etwa 12 % der Wertschöpfung des Bruttosozialprodukts aus, die angeblich in der Schattenwirtschaft vorgenommen wird, und danach errechnet man dann den Steuerausfall und macht noch einen Zuschlag für die neuen Lander von 16 Millarden DM.
Wir haben das der Steuergewerkschaft zum wiederholten Male gesagt und sind augenblicklich mit ihr im Gespräch, um diese Zahl endgültig aus der Welt zu bekommen.
Ganz konkret: Ich kann und darf mich nicht verleiten lassen, eine irgendwie geartete Größenordnung, ohne analytisch saubere Erkenntnisse zu haben, hier einfach in den Raum zu stellen. Daß durch Schattenwirtschaft Steuern verlorengehen, sei gern bestätigt.
Frau Abgeordnete Westrich, bitte.
Herr Staatssekretär, wenn schon am § 30a nicht geändert werden soll, was hat denn die Bundesregierung bisher unternommen, damit sich die Banken nicht länger durch die Werbung mit Kapitalanlagen in Luxemburg aktiv an der Steuerhinterziehung betuchter Bürger beteiligen?
Herr Staatssekretär, ich stelle Ihnen frei, ob Sie antworten wollen, weil offensichtlich der Zusammenhang nicht mehr im nötigen Umfang gegeben ist.
— Wir haben hier keine allgemeine Debatte über Steuerausfälle. — Bitte, Herr Staatssekretär.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident, ich möchte auch davor warnen zu sagen, daß das unbedingt der Tatbestand der Steuerhinterziehung ist. Die Tatsache, daß die deutsche Kreditwirtschaft sehr zu unserem Bedauern — das betone ich mit großem Engagement — ihre Anlagepolitik insbesondere auf den Bankenplatz Luxemburg verlagert hat und die Bürger mit ganzseitigen Anzeigen dazu auffordert, trifft zu. Wir haben unser Mißfallen über diese Maßnahmen der deutschen Kreditwirtschaft wiederholte Male mitgeteilt. Wir überlegen auch, ob, wenn sich das nicht ändern sollte, nicht gesetzgeberische Maßnahmen angezeigt sind, diesem Tun Einhalt zu gebieten.
Ich darf noch einmal sagen: Es ist nicht unbedingt Steuerhinterziehung, denn die Kapitalerträgnisse, die im Ausland erworben werden, unterliegen selbstverständlich der Besteuerung. Man kann nicht ohne weiteres unterstellen, daß sie bei uns nicht versteuert werden. Weil sie aber nicht vom Zinsabschlag erfaßt werden, werden sie auf jeden Fall über eine gewisse Zeit einen Nutzen haben. Deswegen haben wir uns in den vorliegenden Gesetzen zum Föderalen Konsolidierungskonzept auch schon dahin gehend entschieden, daß ausländische Erträgnisse, wenn sie im Inland ausgezahlt werden, zukünftig dem Zinsabschlag unterliegen sollen.
Danke schön.Ich rufe nunmehr die Frage 19 des Abgeordneten Heinz-Adolf Hörsken auf:Wie schätzt der Bundesminister der Finanzen die Feststellungen ein, die Finanzämter hätten bisher in einer Vielzahl von Fallen eindeutige Liebhabereibetätigungen infolge nachlässiger Bearbeitung nicht oder zu spät als solche erkannt und dadurch in erheblichem Umfang Steuerausfälle verursacht, und sieht er vor diesem Hintergrund einen bestimmten Handlungsbedarf?Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Über eine mißbräuchliche Erklärung von Verlusten aus Nebentätigkeiten liegen uns keine statistischen Daten vor. Die Rechtsvorschriften zum Verlustausgleich und die dazu ergangene Rechtsprechung, insbesondere zur Abgrenzung der „Liebhaberei", bieten ausreichende Möglichkeiten, dem Mißbrauch auf diesem Gebiet zu wehren. Die dazu geeigneten und notwendigen Ermittlungen und Prüfungen im Rahmen der Verwaltung des Einkommensteuergesetzes obliegen, wie eben schon einmal gesagt, nach der Finanzverfassung den Ländern.Die Finanzämter haben in derartigen Fällen gute Kontrollmöglichkeiten. Bei Anlaufverlusten aus Nebentätigkeiten erfolgt die Steuerfestsetzung in der Regel unter dem Vorbehalt der Nachprüfung. Sofern nachhaltig keine Gewinne eintreten und die Nebentätigkeit steuerlich als Liebhaberei einzustufen ist, erfolgt eine rückwirkende Neufestsetzung ohne Anerkennung der Verluste mit Nacherhebung der zuwenig einbehaltenen Einkommensteuer.Endgültige Steuerausfälle durch mißbräuchliche Inanspruchnahme von Verlusten aus Nebentätigkeiten dürften daher nur in einem verhältnismäßig geringen Umfang eintreten.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. März 1993 12495
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Hörsken, bitte.
Herr Staatssekretär, ich setze voraus, daß Ihnen die Denkschrift des Landesrechnungshofes von Baden-Württemberg bekannt ist. In dieser Denkschrift sind große Ausfälle nachgewiesen. Ich weiß um die Kompetenz der Länder; aber noch einmal meine Frage: Wie wirkt der Bund mit seinen Möglichkeiten auf die Länder, damit derartige Maßnahmen auch von den Ländern ergriffen werden, wenn solche Mißstände deutlich werden?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hörsken, die nachlesenswerte Denkschrift des Landesrechnungshofes von Baden-Württemberg ist mir natürlich bekannt. Sie ist ja, wenn ich das scherzhaft anmerken darf, nahezu eine Lebenshilfe für Leute, die sich steuerunehrlich verhalten wollen. Der Ideenreichtum ist schon verblüffend, wie da Lehrer zu Wappenkundlern werden, wie Techniker nebenher irgendwelchen Liebhabereien nachgehen, wie die Frau eines Arztes eine Hobbytöpferei unterhält. Es ist ein ganz breites Spektrum.
Wir werden zusammen mit den Ländern auch aus dieser Denkschrift Konsequenzen zu ziehen haben. Das geht in die Richtung, daß wir die Betriebsprüfungsdienste verstärken und verdichten müssen. Ich bin ganz sicher und guter Hoffnung: Wenn es die personellen Ressourcen und die notwendigen finanziellen Mittel der Länder nicht überschreitet, werden wir uns aus der gemeinsamen Interessenlage von Bund und Ländern, die uns möglichen Einnahmen in dieser schwierigen Zeit nun auch tatsächlich zu erheben, mit Sicherheit sehr bald verständigen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Hörsken, bitte.
Herr Präsident, ich weiß nicht, ob es zulässig ist, hier die Bitte zu äußern, daß eine Berichterstattung über die Aktivitäten, die die Bundesregierung in dieser Richtung unternimmt, zu einem späteren Zeitpunkt hier vorgelegt wird.
Erstens ist die Bitte zulässig, und zweitens liegt die Antwort in der Entscheidungsgewalt des Staatssekretärs.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hörsken, ich werde dem gern nachkommen, sobald — wie eben gesagt — die Finanzminister in einer ihrer nächsten Konferenzen den Bericht der Organisationsbeauftragten beraten haben und daraus Konsequenzen ziehen.
Ich darf hinzufügen, Herr Präsident, daß sich auch im Föderalen Konsolidierungskonzept ein Kapitel sehr nachhaltig mit den Mißbräuchen im Steuerrecht befaßt. In unserem Haus wird augenblicklich — das legen wir Ihnen auch vor — für das Kabinett ein Bericht über die Mißbrauchstatbestände, soweit wir sie erkannt haben, erarbeitet, natürlich mit dem Ziel, ihnen alsbald abzuhelfen.
Zunächst eine Frage des Abgeordneten von Larcher.
Herr Staatssekretär, hält die Bundesregierung die Verwaltungsvorschrift, die es zur Nichtberücksichtigung von Verlusten aus Hobby- und Liebhabertätigkeiten gibt, für ausreichend, oder glaubt sie, daß in diesem Bereich zu einer praktikableren Abgrenzung von relevanten und irrelevanten Tatbeständen eine Gesetzesänderung no .wendig ist?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege von Larcher, die Vorschrift ist schon ausreichend, wenn sie denn richtig administriert wird. Ich durfte ja eben sagen, daß im Grunde genommen nur vorübergehend auf die Steuererhebung verzichtet wird, nämlich nur so lange, bis sich herausstellt, daß nachhaltige Gewinne aus den Nebentätigkeiten und Liebhabereien nicht gemacht werden. Wenn keine nachhaltigen Gewinne gemacht werden, führt das, wie eben schon gesagt, zur Nachveranlagung. An der Bestimmung liegt es also nicht. Es liegt, wie der Landesrechnungshof in Baden-Württemberg wohl zu Recht sagt, an einer nicht ausreichend intensiven Administration der Rechtsgrundlagen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Ringkamp.
Dann Herr Abgeordneter Poß.
Herr Staatssekretär, Sie haben im Zusammenhang mit den Liebhabereien einen Bericht angekündigt. Wäre die Bundesregierung auch bereit, den Bericht gegenüber dem Plenum oder dem Finanzausschuß auf alle Formen der Steuerhinterziehung und auf mögliche Gegenmaßnahmen durch Gesetzesänderungen, Verwaltungsmaßnahmen und besseren Verwaltungsvollzug zu erweitern?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Ja, auf jeden Fall, Herr Kollege Poß. Ich hatte ja schon sagen dürfen: Über die Zuständigkeit der Finanzminister hinaus erarbeitet der Bundesfinanzminister zur Zeit einen Bericht für das Kabinett — das hängt auch mit den Beschlüssen von Potsdam zusammen, auch da hat man sich ja mit steuerlichen Mißbrauchstatbeständen befaßt —, um diese Tatbestände aufzuarbeiten und dann gemeinsam mit dem Finanzausschuß zu überlegen, wie wir das eingrenzen können, Stichworte Bewirtungskosten usw.
Frau Abgeordnete Westrich.
Noch einmal ganz konkret: Herr Staatssekretär, ich kenne die Abgrenzungsschwierigkeiten aus der Praxis. Sie sind vielleicht nicht ganz so einfach, wie sie hier beschrieben worden sind. Ich wollte fragen: Ist die Bundesregierung bereit, durch Gesetzesänderung Gestaltungsmöglichkeiten hinsichtlich, wie eben angesprochen, Bewirtungskosten, aber auch Luxuspersonenwagen u. a., zu schaffen?
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12496 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. März 1993
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Da, wo sich herausstellen sollte, daß die gesetzlichen Grundlagen nicht ausreichend sind, ist die Bundesregierung bereit und willens — das betone ich ausdrücklich —, die notwendigen gesetzgeberischen Konsequenzen zu ziehen.
Das freut mich.
Ich habe jetzt folgendes Problem: Die folgenden Fragen der Abgeordneten Karl-Josef Laumann und Editha Limbach betreffen im Grunde genommen wiederum diesen Sachverhalt. Inzwischen ist aber der Abgeordnete Dr. Kübler gekommen. Die Situation ist wie folgt: Wir sind ziemlich schnell nach vorn gegangen, so daß ich die Frage des Abgeordneten Dr. Kübler dazwischenschieben möchte.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Darf ich fragen: Welche Frage war das?
Das ist die Frage 14 des Abgeordneten Dr. Klaus Kübler:
Falls die Bundesregierung rechtlich dazu in der Lage ist, amerikanische Militärstandorte und Standort- bzw. Truppenübungsplätze auf Umweltschäden hin untersuchen zu lassen, wann hat sie davon bislang Gebrauch gemacht, und ist sie bereit, nach den Funden von ölverseuchtem Erdreich auf dem Standortübungsplatz Viernheimer/Lampertheimer Wald dort eine Untersuchung auf Umweltschäden — evtl. auch in Zusammenarbeit mit amerikanischen Stellen — zu veranlassen?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kübler, die Zuständigkeit für die Erfassung und Bewertung von Umweltschäden liegt nach der verfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung bei den Ländern. Es liegt nun in der Entscheidung des Landes, auch Liegenschaften, die den amerikanischen Streitkräften überlassen sind, auf Umweltschäden zu untersuchen. Die Bundesvermögensverwaltung steht mit ihrem Wissen darüber, wie die Liegenschaften genutzt werden, zur Verfügung. Soweit es auf militärisch genutzten Liegenschaften Umweltschäden gibt, ist dies in der Regel den deutschen Umweltbehörden bekannt.
Die Bundesregierung hatte bisher keine Anhaltspunkte, daß es auf dem Standortübungsplatz Viernheimer/Lampertheimer Wald zu Umweltschäden gekommen ist. Erst in jüngster Zeit sind ihr zwei Fälle bekanntgeworden. So hat am 24. Februar 1993 ein umgestürzter Panzer 400 1 Benzin verloren. Die Ölkontamination ist durch die US-Streitkräfte in Abstimmung mit den zuständigen Landeswasserbehörden und dem Landesforst inzwischen beseitigt worden.
Des weiteren wurden am 27. Februar 1993 im Rahmen einer Bepflanzungsaktion einer Bürgerinitialive und lokaler Politiker am Rande des Standortübungsplatzes Ölverunreinigungen festgestellt. Die US-Streitkräfte haben am 1. März durch ihre Umweltabteilung in Zusammenarbeit mit den zuständigen Landeswasserbehörden erste Bodenproben entnommen. Eine Trinkwassergefährdung konnte nicht festgestellt werden. Gerade für heute und die nächsten Tage haben die US-Streitkräfte eine Fachfirma mit weiteren Proben beauftragt. Sobald das Ergebnis vorliegt, wird es öffentlich bekanntgemacht werden.
Zusatzfrage, Herr Dr. Kübler, bitte schön.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie sprachen davon, daß den zuständigen Behörden Umweltschäden bekannt sind. Das ist eine generelle Aussage. Sind diese Umweltschäden von deutschen oder von amerikanischen Behörden festgestellt worden?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Sowohl als auch. In Ihrem Falle ist ja, glaube ich, sogar das Land Eigner der Grundstücke. Dann ist es durchaus möglich, daß die zuständige Landeswasserbehörde, die zuständige Landschaftsschutzbehörde, der Landesforst oder wer auch immer die Schäden feststellt. Im Einzelfall ist es auch möglich — das hängt mit den Vereinbarungen zusammen, die der Bund mit den Streitkräften hat —, daß der Bund die Umweltschäden kennt. Dann macht er selbstverständlich die US-Streitkräfte aufmerksam. Schließlich drittens können es auch die Streitkräfte selber sein, die sich seit 1989 intensiv um die Feststellung und die nachfolgende Beseitigung von Umweltschäden auf den von ihnen bewirtschafteten Grundstücken kümmern.
Eine weitere Zusatzfrage.
Die Frage, die sich jetzt zwangsläufig anschließt, ist die: Gibt es eine Gesamtübersicht der Umweltschäden, der Sache und dem finanziellen Umfang der festgestellten oder der vorhandenen Umweltschäden nach?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: In dem Sinne einer bundesweiten Gesamtübersicht über alle vormals auch in unterschiedlicher Weise genutzten militärischen Anlagen gibt es nicht. Dem Bund fehlt auch die Zuständigkeit dafür, das zu tun, wenngleich er in Einzelfällen solche Umweltprüfungsaufträge erteilt. Aber alles in allem kann ich nur wieder- holen, daß, wenn wir das behördliche Wissen mit den Ländern zusammenlegen, wenigstens im Westen Art und Ausmaß der Umweltschäden bekannt sind.
Damit ist die Frage von Herrn Dr. Kübler beantwortet. Wir kommen dann zu dem alten Sachverhalt zurück, Herr Staatssekretär. Das war also mangelnde Personalausstattung als Ursache für mangelnde Einnahmen.
Ich rufe die Frage 20 des Abgeordneten Karl-Josef Laumann auf:
Was denkt der Bundesminister der Finanzen für eine verbesserte Personalausstattung der Steuerverwaltung zu tun, zumal der Bund als Steuergläubiger ein großes Interesse an einer effektiven Steuerverwaltung haben muß, auch wenn die Länder hauptverantwortlich für Personalausstattung und Organisation der Steuerverwaltung sind?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident, Sie müssen mir nach dem Lauf der Diskussion leichte Wiederholungen gestatten.
Ja, eben. Ich wollte mir mit dieser Bemerkung nur erlauben, darauf hinzuweisen, daß der gesamte Sachverhalt im Grunde schon dreimal durchgekaut worden ist.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. März 1993 12497
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Ich bitte die Kollegen wirklich um Verständnis.Selbstverständlich — das sagte ich ja schon — besteht ein ganz großes Interesse von Bund und Ländern gemeinsam, ihre Einnahmesituation auch durch das völlige Ausschöpfen von Steuern durch eine funktionsfähige Steuerverwaltung zu garantieren. Ich persönlich trete deshalb auch sehr intensiv für eine sachgerechte Personalausstattung der Finanzämter ein. Im Zusammenhang mit der Beratung des eben schon zum wiederholten Male erwähnten Berichts ist auch mit Sicherheit mit entscheidenden Verbesserungen für die Zukunft zu rechnen, wenngleich das nicht von heute auf morgen erreichbar ist, weil das notwendige Fachpersonal auf dem Markt nicht zu bekommen ist.
Zusatzfrage, bitte schön.
Eine Zusatzfrage, Herr Staatssekretär. Sie sprachen gerade an, daß das notwendige Fachpersonal auf dem Markt nicht zu erhalten ist. Hat man sich denn von seiten der Bundesregierung und der Länderfinanzminister auch einmal Gedanken darüber gemacht, wie man es vielleicht durch eine etwas andere Besoldungsstruktur verhindern könnte, daß jährlich Tausende von Steuerfachleuten aus den Finanzämtern zu den privaten Steuerberatungsberufen wechseln?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Das ist in der Tat das Kardinalproblem. Die Steuerverwaltung ist insbesondere durch die Abwerbung aus der freien Wirtschaft erheblich zur Ader gelassen worden. Hinzu kommt — und das sollte man auch wieder einmal anerkennen oder zumindest sagen dürfen —, daß die Ländersteuerverwaltungen wie auch die Bundessteuerverwaltung sehr viel an Personal zum Aufbau der Steuerverwaltung in den neuen Ländern — sie ist ja aus dem Nichts geschaffen worden — beigetragen haben und daß es deswegen Personallücken gibt, die wir gemeinsam mit den Ländern — deswegen auch die Organisationsuntersuchung, die ja bewußt und gezielt im Jahr 1987 beginnt — zu schließen hoffen.
Weitere Zusatzfragen gibt es nicht. Herr Kubatschka, ist das gestrichen? — Dann rufe ich den Abgeordneten Hampel auf.
Herr Staatsekretär, wird die Bundesregierung angesichts der recht unterschiedlichen Handhabung in den Ländern bei den Betriebsprüfungen auf eine Vereinheitlichung hinwirken? Ich denke dabei insbesondere auch an die Finanzämter in den neuen Bundesländern, die zur Zeit oftmals gar nicht in der Lage sind, Betriebsprüfungen durchzuführen. Wenn dann unterschiedliche Hilfestellungen aus unterschiedlichen Ländern in die neuen Bundesländer transferiert werden, wird dieses Durcheinander dort auch fortgeschrieben.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: In den ständigen Kontakten des Bundesfinanzministers mit den Vertretern aller Sparten der obersten Landesbehörden der Länder, sowohl Organisation wie Zoll und
Steuern — Sie, Herr Hampel, kennen das ja aus dem Finanzausschuß —, bemühen wir uns gemeinsam um ein Höchstmaß an Gemeinsamkeit. Aber erzwingen kann der Bund das natürlich nicht, weil die Organisations- und die Personalhoheit bei den Ländern liegt und auch nicht Gegenstand einer bereits im Jahre 1970 mit den Länderfinanzverwaltungen getroffenen Vereinbarung ist.
Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Westrich.
Herr Staatssekretär, ich will noch einmal auf die vorherige Frage zurückkommen. Ist die Bundesregierung denn jetzt bereit, das Steuerbeamten-Ausbildungsgesetz dahin gehend zu ändern, eine Verbesserung der Aufstiegsmöglichkeiten zu erreichen, wie wir das vor kurzem schon einmal im Finanzausschuß erörtert haben?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Wir haben in Übereinstimmung mit den steuerberatenden Berufen, wie Sie wissen, das Steuerberatungsgesetz in der Weise geändert, wie es auch den Erfordernissen dieses für uns so wichtigen Berufsstands entspricht.
Die Abgeordnete Frau Editha Limbach ist nicht im Saal. Es wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen.
Wir kommen zur Frage 22 des Abgeordneten Klaus Riegert:
In welcher Weise gedenkt der Bundesminister der Finanzen die Länder bei der Bekämpfung des Mißbrauchs zu unterstützen, den der Rechnungshof des Landes Baden-Württemberg in seiner „Denkschrift 1992 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung des Landes Baden-Württemberg mit Bemerkungen zur Landeshaushaltsrechnung 1990" dokumentiert hat?
Auch diese Frage beschäftigt sich mit der von Ihnen schon erwähnten Lebenshilfe gleich Betriebsanleitung für Steuerhinterziehung des Landes Baden-Württemberg.
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Wenn Sie es mir gestatten, Herr Kollege — Sie waren ja hier —, möchte ich nur noch einmal im Telegrammstil die Stichworte dazu erwähnen. Ich hatte sagen dürfen, daß die Rechtsgrundlagen für die Einschränkung dieses offenkundig gewordenen Steuermißbrauchs vorhanden sind, daß es aber ganz erkennbar — und das sagt der Rechnungshof ja auch — erhebliche Vollzugsdefizite gibt.
Ich glaube, ich brauche nicht zu wiederholen, wie sich das vollzieht, nämlich daß ja nur auf Zeit bei diesen Liebhabereien, die dann als Nebentätigkeiten gelten, die Steuern nicht erhoben werden. Wenn Sie nachhaltig in Verlust bleiben, werden sie nachveranlagt.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter, bitte sehr.
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12498 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. März 1993
Herr Staatssekretär, sind Ihnen schon konkrete Maßnahmen von den Ländern bekannt, um dieses Vollzugsdefizit aufzufangen?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Ich hatte wiederholt den von der mecklenburg-vorpommerischen Finanzministerin gerade vor wenigen Tagen vorgelegten Bericht an die Länderfinanzministerkonferenz erwähnt. Da sind natürlich auch schon organisatorische Maßnahmen wie auch Vorstellungen, auch in bezug auf die vorgängigen Fragen, angesprochen worden. Personelle Konsequenzen sind in diesem Bericht enthalten. Die Finanzminister werden ihn alsbald beraten.
Zu dieser Frage liegen keine weiteren Zusatzfragen vor.
Wir kommen zur Frage 23 des Abgeordneten Werner Ringkamp:
Hält der Bundesminister der Finanzen Forderungen für berechtigt, wonach es der Steuerverwaltung ermöglicht werden müsse, ihren gesetzesvollziehenden Auftrag wahrzunehmen, um der um sich greifenden Tendenz einer Wohlstands- und Freizeitgesellschaft entgegenzuwirken, Freizeit- und anderen privaten Aufwand mißbräuchlich steuermindernd geltend machen zu können?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Das geht nun ganz konkret, Herr Kollege Ringkamp, auf die Schlußfolgerung, die der baden-württembergische Rechnungshof zieht — schon in der Fragestellung. Die steuerlichen Vorschriften und die Rechtsprechung sehen bereits jetzt vor, daß Freizeit- und anderer privater Aufwand nicht steuermindernd anerkannt werden können. Ich darf dazu beispielhaft über die schon genannten Regelungen hinaus noch einmal auf die Regelung in § 12 Nr. 1 Einkommenssteuergesetz hinweisen, die zur Wahrung der steuerlichen Gerechtigkeit die Aufteilung und damit den Abzug von Aufwendungen, die sowohl der privaten Lebensführung dienen, als auch den Beruf fördern, verbietet, wenn sie sich nicht einwandfrei trennen lassen.
Gleichwohl — auch das habe ich schon zugestanden — gibt es Ungereimtheiten. Wir werden uns auch im Bundeskabinett über den Arbeitskreis der Länderfinanzminister hinaus damit befassen, wie wir solche Gestaltungsmöglichkeiten in erheblicher Weise eindämmen und einengen können.
Nun hat die Abgeordnete Frau Westrich die Möglichkeit, eine Zusatzfrage zu stellen.
Herr Staatssekretär, ist denn die Bundesregierung bereit, dem Parlament oder dem Finanzausschuß einen Bericht über das Ausmaß der Steuerhinterziehung und auch über mögliche Gegenmaßnahmen, wie wir sie vielleicht schon andiskutiert haben, durch Gesetzesänderungen oder Verwaltungsanweisungen und auch besseren Verwaltungsvollzug, zu geben?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Aber selbstverständlich. Wir werden die in dem Föderalen Konsolidierungsprogramm schon vorgesehenen Maßnahmen selbstverständlich gemeinsam miteinander im Finanzausschuß beraten und behandeln müssen.
Der Abgeordnete Wolfgang Dehnel hat gebeten, daß die Frage 24 schriftlich beantwortet werden möge. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Ich bedanke mich bei Ihnen, Herr Staatssekretär.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung auf. Hier steht uns die Parlamentarische Staatssekretärin Michaela Geiger zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 25 des Abgeordneten Horst Kubatschka auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß auf dem Luft/BodenSchießplatz Siegenburg sprengstoffhaltiger Schrott, Blindgänger, die noch Sprengstoff enthalten und auch Hausmüll durch die US-Streitkräfte seit Jahren vergraben wurde, und was wird sie zum Schutz der Bevölkerung und der Umwelt dagegen unternehmen?
Frau Staatssekretärin, Sie haben das Wort.
Herr Kollege Kubatschka, der Bundesregierung ist der angeführte Sachverhalt in diesem Umfang nicht bekannt. Die Bundesregierung hat sich jedoch nach den ersten Hinweisen im Dezember 1992 auf mögliche Umweltschäden auf dem Luft/Boden-Schießplatz Siegenburg an die zuständigen US-Behörden gewandt, die nach den zwischenstaatlichen Verträgen für den Zustand der ihnen überlassenen Liegenschaften verantwortlich sind. Eine Antwort dieser Behörden steht noch aus.
Es wurde vorgesehen, auf dem Luft/Boden-Schießplatz Siegenburg mit den US-Streitkräften, der Oberfinanzdirektion München und den zuständigen Fachbehörden des Landes — hier das Wasserwirtschaftsamt Landshut und das Landratsamt Kehlheim — eine Begehung durchzuführen, um zu prüfen, ob und gegebenenfalls welche Abhilfemaßnahmen erforderlich sind. Diese Begehung hat am 9. März — also gestern — stattgefunden. Sie werden aber sicher verstehen, Herr Kollege, daß ein Protokoll der Begehung jetzt noch nicht vorliegt.
Frau Staatssekretärin, kann ich schriftlich bekommen, welche Umweltbelastungen dort aufgetreten sind?
Das werden wir gern machen.
Noch eine Zusatzfrage — bitte, Kollege Kubatschka.
Wer das Gelände dort kennt, der weiß, daß es ein sehr sandiger Untergrund ist. Wir haben dort Wanderdünen — also auch ökologisch hochinteressant. Aber es besteht natürlich in enormem Maße die Gefahr der Grundwasserbelastung. Sieht deswegen die Bundesregierung einen Grund, diesem Problem besonders nachzugehen?
Soweit wir erfahren haben, wurde gestern beschlossen, daß weitere Untersuchungen, besonders hinsichtlich der vergrabenen Materialien, aber auch hinsichtlich mögli-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. März 1993 12499
Parl. Staatssekretärin Michaela Geigercher Auswirkungen im Boden unter Beteiligung deutscher Behörden durchzuführen sind.
Ich rufe nun die Frage 26 unserer Frau Kollegin Dr. Sigrid Semper auf:
Wie hat sich statistisch gesehen die Zahl der Selbstmorde und Selbstmordversuche von Bundeswehrangehörigen seit der Gründung der Bundeswehr entwickelt, und wird diese Entwicklung wissenschaftlich näher untersucht?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Sehr geehrte Frau Dr. Semper! Die Anzahl der Suizide von Soldaten ist seit Aufstellung der Bundeswehr bis heute relativ konstant geblieben. Die Anzahl der Suizidversuche von Soldaten ist bis zum Jahr 1980 angestiegen und seitdem ständig gesunken. Die Entwicklung dieser Zahlen wird sorgfältig erfaßt und ausgewertet. Trends und Tendenzen werden systematisch verfolgt und analysiert.
Ich rufe die Frage 27 der Kollegin Dr. Sigrid Semper auf:
Gibt es ermittelte oder vermutete Zusammenhänge zwischen dem Dienst bei den Streitkräften und den Suiziden bzw. Suizidversuchen, und wie wird gegebenenfalls darauf reagiert?
Die Suizidzahlen der Bundeswehr liegen deutlich unter denen der zivilen Gesellschaft. Ein Zusammenhang zwischen dem Suizid und dem Dienst als Soldat ist nicht erkennbar. Ein Suizidversuch markiert den Endpunkt einer suizidalen Entwicklung, die in der Regel in der Primär-Persönlichkeit des einzelnen begründet liegt und durch psychosoziale Probleme bereits vor dem Wehrdienst entstanden ist.
Die Anhäufung von Lebensereignissen im Rahmen des suizidalen Prozesses schließt wegen der Eigentümlichkeit des Wehrdienstes im Einzelfall einen Einfluß der Bundeswehrsituation auf die suizidale Entwicklung nicht aus. Neben zahlreichen medizinischen Maßnahmen ist die Bundeswehr besonders durch Maßnahmen und Verhaltensweisen im Rahmen der Menschenführung bemüht, suizidgefärdete Soldaten zu erkennen und ihnen dann auch zu helfen.
Die positive Zahlenentwicklung bestätigt im übrigen den eingeschlagenen Weg.
Frau Staatssekretärin, mir wird mitgeteilt, daß der Kollege Erler unmittelbar vor der Tür steht. Ich sehe ihn aber noch nicht. — Das ist aber offenbar nicht der Fall.
Frau Kollegin Geiger, wenn es Ihnen recht ist und Sie noch fünf Minuten bleiben können, dann würde ich dem Begehren des Kollegen Erler Rechnung tragen und darum bitten, daß Sie die Fragen noch beantworten.
Ja.
Danke schön. Wir kommen darauf dann gleich zurück.
Ich rufe nunmehr den Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung und Technologie auf. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische
Staatssekretär Bernd Neumann zur Verfügung. Die Fragen 51 und 52 des Kollegen Dr. Emil Schnell sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen zur Frage 53 des Kollegen Gunter Weißgerber:
Welche wissenschaftlichen Stellen wurden in den drei neugegründeten Großforschungseinrichtungen extern ausgeschrieben, und wie viele von diesen wurden mit auswärtigen Wissenschaftlern besetzt?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Die am 19. September 1991 von den Wissenschaftsministern von Bund und Ländern beschlossenen Grundsätze für die Personalauswahl waren dazu bestimmt, in der Periode des Übergangs von den Instituten der ehemaligen Akademie der Wissenschaft zu den gemäß den Empfehlungen des Wissenschaftsrats neugegründeten Forschungseinrichtungen den Personalauswahlkommissionen Entscheidungshilfen zu geben. Insgesamt sind über 90 % der Stellen in den neuen Forschungseinrichtungen mit Mitarbeitern der früheren AdW besetzt worden.
Mit den Ende 1991/Anfang 1992 getroffenen Entscheidungen, bei denen Mitarbeiter aus den neuen Bundesländern vorrangig zu berücksichtigen waren, haben sich die Grundsätze praktisch erledigt. Zukünftige Einstellungen müssen sich an den für den Normalfall geltenden Kriterien, insbesondere an Qualifikationsgesichtspunkten, unabhängig von der regionalen Herkunft orientieren. Als von den beiden Zuwendungsgebern Bund und Land einheitlich vorgegebene Entscheidungskriterien waren die Grundsätze intern für die Forschungseinrichtung verbindlich.
Zu einer Zusatzfrage Herr Kollege Weißgerber.
Ich habe noch eine Frage zur Verteilung der ostdeutschen bzw. westdeutschen Wissenschaftler in den verschiedenen Ebenen: Wie sieht es denn da in den höheren Ebenen aus? Ist es da prozentual genauso, wie Sie sagten, nämlich 90 % aus dem Osten, oder sieht es da anders aus?Bernd Neumann, Parl. Staatssekretär: Die Grundsätze, die damals entwickelt worden waren, bezogen sich auf alle Wissenschaftler, wobei Sie wissen müssen, daß in den jeweiligen Nachfolgeeinrichtungen der kleinere Prozentteil zu den Wissenschaftlern gehört. Was die Ausschreibung betrifft, so bezogen sich die externen Ausschreibungen — also die für die Stellen, die nicht intern bei den Mitarbeitern sogenannter Vorläuferinstitute der ehemaligen DDR ausgeschrieben wurden — hauptsächlich auf Leitungspositionen. Mir liegen aber jetzt keine Zahlen vor — das ging aus Ihrer Frage auch nicht hervor —, wie sich die jeweiligen Damen und Herren, die aus den neuen Bundesländern kommen, auf die verschiedenen Positionen verteilen. Ich würde aber vermuten, daß der Anteil der Leitungspositionen und höheren
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12500 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 145. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. März 1993
Parl. Staatssekretär Bernd NeumannPositionen, bezogen auf diejenigen, die aus den neuen Bundesländern kommen, höher ist als bei den anderen; aber konkrete Zahlen kann ich Ihnen nicht nennen. Ich weiß nicht, ob wir sie feststellen können. Wenn wir sie feststellen können, würde ich sie Ihnen zustellen.
Will der Kollege Catenhusen eine Zusatzfrage stellen?
Dann bitte ich einen Augenblick um Geduld. — Frau Staatssekretärin, ich hatte sie gebeten, noch einen Augenblick zu warten. Nach Ablauf der Fragestunde kann die Beantwortung der Fragen des Kollegen Erler nicht mehr vorgenommen werden. Ich bedanke mich sehr, daß Sie dageblieben sind. — Bitte, Herr Kollege Catenhusen.
Da es sich nur um drei Forschungseinrichtungen handelt, wird die Sammlung der Zahlen wohl nicht so ganz schwierig sein, Herr Staatssekretär. Deshalb frage ich noch einmal nach: Wurden denn bei der Entscheidung, welche Stellen extern ausgeschrieben werden und damit auch für Westwissenschaftler geöffnet wurden, Unterschiede etwa zwischen dem Max-DelbrückZentrum in Buch oder dem Geoforschungszentrum in Potsdam gemacht? Das heißt, geht es bei den Leitungsstellen immer nur um C 4-Stellen, oder sind zum Teil auch andere Stellen, etwa Leiter von Arbeitsgruppen, auch in diese externe Ausschreibung einbezogen worden?
Bernd Neumann, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Catenhusen, erst einmal gelten die Grundsätze, die Ihnen bekannt sind. In diesen Grundsätzen findet sich unter dem Abschnitt 2 genau aufgeführt, welche Positionen extern und welche intern auszuschreiben sind. Das gilt für alle.
Nun kommt es aber vor — und dies gilt insbesondere für die drei neuen Großforschungszentren —, daß diese Themen und Aufgaben haben, zu denen es keine vergleichbaren Vorläufereinrichtungen in der ehemaligen DDR gab, so daß sich auf Grund der Faktenlage, wenn es sich um qualifizierte Bewerber handelt, die in der Lage sind, mit bestimmten Erfahrungen völlig neue Aufgaben wahrzunehmen, die Situation ergibt, daß der Bewerberanteil, bezogen auf das, was wir gern wollten, also maximal 10 % aus den alten Bundesländern bzw. aus dem Ausland, nicht eingehalten werden kann. Diese Situation haben wir bei diesen drei Großforschungszentren, wobei bei zwei von ihnen der Anteil bei etwa 14 bis 14,8 % liegt und beim Geoforschungszentrum deutlich höher. Aber, wie gesagt, das hat nichts damit zu tun, daß die Kriterien der Ausschreibung geändert wurden, sondern damit, daß auf Grund der völlig neuen Aufgabenstellung — das war ja auch der Sinn dieser Neugründung von Großforschungseinrichtungen — dementsprechende Angebote nicht da waren, so daß in stärkerem Umfange auf Wissenschaftler der alten Bundesländer zurückgegriffen werden mußte.
Ich darf aber noch einmal sagen: Trotzdem sind wir froh, daß, wenn wir alle Einrichtungen zusammen-
nehmen, an denen der BMFT beteiligt ist — also Großforschungseinrichtungen, Max-Planck-Einrichtungen, Fraunhofer-Institute —, insgesamt der Anteil der ostdeutschen Wissenschaftler über 90 % liegt und damit das Gesamtziel erreicht werden konnte, wenn das auch in diesen drei Großforschungseinrichtungen ganz konkret anders aussieht.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. Wir sind damit am Ende der Fragestunde. Die Zeit ist auch schon weit überschritten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir kommen zum Zusatzpunkt 2:
Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zur Verkürzung der Ausbildungszeiten in Schulen und Hochschulen
Die Fraktion der F.D.P. hat eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema verlangt.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner unserem Kollegen Dirk Hansen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle reden ständig von Bildung und unter anderem neuerdings auch von Verkürzung der Ausbildungszeiten, und ich finde auch, die Ausbildungszeiten sind insgesamt nicht nur im Schulbereich, sondern natürlich auch im Hochschulbereich zu lang,
gerade — Herr Kuhlwein, Sie werden es sich ganz besonders merken müssen — im internationalen Vergleich zu europäischen Ländern, aber natürlich auch innerhalb Deutschlands. Die Frage des 13. Schuljahres in Deutschland ist in den 16 Bundesländern möglicherweise unterschiedlich geregelt, und das kann ja wohl nicht so bleiben wie jetzt.Was lange währt, wird nicht immer gut. Das wissen gerade diejenigen, die schon lange im Bundestag sind, und vielleicht fühlen sich einige da gerade angesprochen.
— Sie werden nie Bundeskanzler, Herr Kuhlwein; da haben Sie allerdings recht, wenn Sie darauf abheben wollen.Es besteht jetzt zum ersten Mal die Chance des Druckes leerer Kassen. Allerdings muß man einschränkend dazu sagen: Nicht die Finanzminister— gewissermaßen als Sparkommissare — dürfen die Bildungspolitik definieren und auch festschreiben, sondern es geht eigentlich nicht um diese Jahreszahlen oder die Zeiten insgesamt, sondern wir sollten uns vielmehr — und ich finde, in Bund und Ländern — auf die Inhalte verständigen. Es wäre eine ganz alberne Diskussion zu sagen: Schulzeiten, das ist Hoheitsgebiet der Bundesländer; das geht den Bund und damit auch uns hier im Bundestag nichts an! Das wäre ganz fatal, weil man dann ganz deutlich machen würde, daß man Schule und Hochschule — mit anderen Worten: das entscheidende Scharnier dazwischen, das Abitur,
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Dirk Hansendas zwar ein Schulabschluß ist, aber gleichzeitig Hochschulzugangsberechtigung erteilt — voneinander trennen und voneinander gelöst beurteilen würde. Das wäre ganz falsch.Im Gegenteil: Wir sind momentan eigentlich in der Phase, uns fragen zu müssen: Ist dieses Abitur noch dieses Scharnier, wie ich es bezeichnen möchte, oder ist es mehr und mehr zur Schimäre geworden? Was ist denn überhaupt der Stellenwert des Abiturs in unserem Bildungssystem? Daran knüpft sich natürlich auch die Frage: Was leistet eigentlich Schule sowohl für den berufsqualifizierenden Weg wie auch für den Weg im tertiären Bildungsbereich, der schließlich auch — wie jedermann es hoffentlich will — berufsqualifizierend sein soll?Es kann doch gar nicht diskutiert werden, ob die Frage berechtigt ist, ob wir uns in einer Krise des staatlichen Schul- und Hochschulwesens befinden. Die Erosion des gegliederten Schulwesens, von wem auch immer betrieben, ist doch existent. Die weitere Steigerung der Abiturientenzahlen und der Zahl der Studienanfänger ist unübersehbar — bis zu 40 % eines Jahrgangs und gleichzeitig Nachwuchsmangel im dualen System. Private Schulangebote steigen zunehmend mehr. Das Stichwort Schulkrise ist also, denke ich, überhaupt nicht wegzudiskutieren.Nun geht es meiner Ansicht nach überhaupt nicht darum, die Schulzeit um das 13. Schuljahr kurz vor dem Abitur gewissermaßen zu amputieren. Nein, zu amputieren, das wäre total verkehrt. Wir müssen aus der ideologischen Auseinandersetzung heraus, zu sagen, 13 oder 12 ist das Richtige, vielmehr geht es um die sachliche Bewertung, um eine pädagogische Bewertung: Was leistet Schule in 12 Jahren, was kann sie leisten? Ich denke, nach 20 Jahren Oberstufenreform und Kurssystem muß dann auch gefragt werden: Was leistet eigentlich das Kurssystem? Ist es nicht vielmehr eine Scheinwirklichkeit mit einer auch Scheinwahlfreiheit, die den Schülern nur noch vorgaukelt, sich entsprechend ihren Interessen, Neigungen und Fähigkeiten orientieren zu können, ohne daß bestimmte klare, ich will sagen: allgemeinbildende Kriterien vorliegen, die für jeden Schüler und jede Schülerin verbindlich sind?Also: Das Abitur muß wieder zu einem Leistungsqualifikationsmerkmal gemacht werden, und dann muß im Hochschulbereich das anknüpfen, was wir allgemein diskutieren: Fachstudium — fälschlicherweise wird neuerdings meist Grundstudium gesagt—, berufsqualifizierender Abschluß und dann ein forschungsorientiertes weiterführendes Aufbaustudium, das die Fachhochschulen einerseits und die Universitäten andererseits zu leisten hätten.Der Bildungsgipfel sollte hier ansetzen. Es sollte nicht ewig gesagt werden: Wir boykottieren demnächst den anvisierten Bildungsgipfel, wenn nicht über Geld geredet wird. Über Geld kann auch geredet werden, aber die Inhalte und Strukturen unseres Bildungssystems müssen neu diskutiert werden. Auch dies ist Aufgabe des Bildungsgipfels. Der Bundesbildungsminister und der Bundeskanzler kooperieren bei der Vorbereitung des Bildungsgipfels sehr eng, um ihn, wenn er in diesem Jahr hoffentlich stattfindenwird, zu einem Erfolg zu führen. Bund, Länder und Sozialpartner — —
Kollege Hansen, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Wir müssen bei der Aktuellen Stunde bei fünf Minuten bleiben.
So ist es. Vielen Dank, Herr Präsident. — Alle beteiligten Seiten sollten kooperieren und den Konsens suchen und sich nicht ideologisch auseinandersetzen.
Vielen Dank.
Nächster Redner ist unser Kollege Eckart Kuhlwein.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als Bildungspolitiker stimmt es einen nicht gerade fröhlich, wenn die Koalition an einem Tag wie diesem in einer Aktuellen Stunde nun auch noch den Bildungsbereich als Sparkasse anbietet.
Etwas anderes, Herr Hansen, kann ich hinter der Aktion nicht endecken,
die Bildungszeiten gerade jetzt beinahe beliebig zur Disposition zu stellen.Wir lassen als SPD-Fraktion über vieles mit uns reden, aber wir werden nicht zulassen, daß die Bundesregierung ihre selbst verursachten Finanzprobleme durch einen Abbau von Bildungschancen zu lösen versucht.
Die Bildungspolitiker der Koalition, von Waldburg-Zeil über Funke-Schmitt-Rink oder Hansen bis zu Minister Ortleb beugen sich mit dieser Aktion heute vor dem Diktat des Finanzministers.
Statt Widerstand zu leisten, nicken sie freudig mit dem Kopf, wenn die Ausgaben für Bildung und Wissenschaft gekürzt werden. Aber wir als Bildungspolitiker und Bildungspolitikerinnen wissen alle, daß die Finanzminister noch nie die richtigen Berater für bildungspolitische Konzepte gewesen sind.
Die Bundesrepublik ist ein rohstoffarmes Land. Wir müssen deshalb stärker als andere in Bildung und Ausbildung investieren. Unser sozialer Zusammenhalt hängt davon ab, ob junge und erwachsene Menschen die Chance bekommen, ihre Fähigkeiten zu entfalten und sich in der Gesellschaft zu engagieren. Deshalb sind wir uns, glaube und hoffe ich, einig, daß das ein gut ausgebautes Bildungssystem voraussetzt.
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Eckart KuhlweinMit dem sogenannten Konsolidierungsprogramm verletzt die Bundesregierung den notwendigen Generationenvertrag mit denjenigen, die morgen in einer immer stärker geschädigten Umwelt unsere Altersversorgung erwirtschaften sollen.
Meine Damen und Herren, wir sind bereit, die Ausbildungszeiten zu überprüfen. Was die Schule angeht, halten wir allerdings viel von der verfassungsmäßigen Verteilung der Kompetenzen. Bei den Ländern liegt nicht nur die Zuständigkeit, sondern auch die größere Sachkompetenz. Das merkt man spätestens dann, wenn man den Bundeskanzler über Bildungszeiten in Europa schwadronieren hört. Es ist z. B. ein schlichtes Vorurteil, wenn behauptet wird, überall in Europa werde die Hochschulzugangsberechtigung schon nach 12 Jahren erworben. Das muß man sich sehr viel genauer ansehen. Herr Lammert, Sie kennen das, aber Herr Pfeifer, der das dem Bundeskanzler aufgeschrieben hat, kennt das offenbar nicht mehr so genau.Was die Länge der Studienzeiten angeht, empfiehlt sich ebenfalls eine gründlichere Prüfung. Ich empfehle die Lektüre des Minderheitenvotums des Enquete-Berichts, wo wir Studienzeiten und die Qualität von Abschlüssen — es gibt eine Studie von der Gesamthochschule Kassel, Teichler u. a. — verglichen haben und zu dem Ergebnis gekommen sind: Die längeren Studienzeiten bedeuten in der Regel auch eine höhere Qualifikation. Und sie sind in Deutschland gar nicht so viel länger als in anderen Ländern, weil die Kinder bei uns oft später anfangen zu studieren, auch wegen Wehrdienst und Zivildienst und aus anderen Gründen.
Aber lesen Sie das noch einmal nach, Herr Hansen, dann werden Sie eine differenzierte Auffassung davon bekommen!
Wer zu lange Studienzeiten beklagt, muß sich auch die Frage gefallen lassen, warum er gleichzeitig die Schulzeit verkürzen will. Oder sollen schlechter auf das Studium vorbereitete Studenten anschließend schneller studieren? Oder gibt es vielleicht noch ganz andere Gründe dafür, daß die Bundesregierung jetzt in diese Richtung marschiert? Vielleicht ist damit die Hoffnung verbunden, daß dann weniger junge Leute zum Studium kommen und Sie das erreichen, was Herr Hansen eben wieder gesagt hat, das — sogenannte — Gleichgewicht zwischen Beteiligung am dualen System der Berufsausbildung und Ausbildung im tertiären Bereich wiederherzustellen?
Wer die Studienzeiten verkürzen will, muß die Studienbedingungen verbessern. Dazu gehört auch der Hochschulbau, den die Bundespolitik zur Zeit sträflich vernachlässigt, wie wir in unserem Ausschuß alle gemeinsam festgestellt haben.Eine neue bildungspolitische Konzeption ist bei dieser Regierung nicht erkennbar. Der Bundeskanzler hat keine — das haben wir eben auf dem CDU-Kongreß gehört —, Herr Ortleb hat auch keine. Solange aber eine zukunftsgerichtete Reform des Bildungssystems nicht in Sicht ist und offensichtlich auch nicht gewollt ist und auch in den Papieren der Bundesregierung zum Bildungsgipfel nicht erkennbar ist, so lange werden Sie von der Opposition im Bundestag nicht verlangen dürfen, daß wir das Herumkurieren an Symptomen mitmachen.Wir halten daran fest: Wir brauchen künftig wieder mehr Geld für Bildung. Wir können uns das Sparen ausgerechnet an dieser Zukunftsaufgabe nicht leisten.Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Kuhlwein, nur eine Bemerkung: Ein Politiker dieses Hauses schwadroniert nicht, vielmehr trägt er im Regelfall seine Meinung vor.
Ich erteile nunmehr unserem Kollegen Alois Graf von Waldburg-Zeil das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer von der Menge der Zeit spricht, die einer aufwendet, um ein Ziel zu erreichen, muß natürlich auch von der Güte sprechen, die das Ergebnis zeitlichen Bemühens dann ist. Da stimme ich Ihnen, Herr Kollege Hansen, gänzlich zu. Aber wenn wir die beengten Staatsfinanzen nun einmal ganz weglassen, fällt im internationalen Vergleich von Industrienationen doch auf, daß in der Bundesrepublik das Alter beim Erwerb der Hochschulzulassungsberechtigung mit ca. 20 Jahren weltweit am höchsten liegt — in Großbritannien und Frankreich liegt es bei 17 bis 18 Jahren, in den USA bei 18 Jahren, in Japan bei 18,5 Jahren —, das das Alter bei Studienbeginn mit 21,3 Jahren wiederum in der Bundesrepublik am höchsten ist — in Großbritannien und Frankreich sind es 19 Jahre, in den USA 20 Jahre, in Japan 19 Jahre — und daß das Alter bei Erreichen des ersten universitären Abschlusses mit 27,9 Jahren geradezu exorbitant hoch liegt gegenüber 22,8 Jahren in Großbritannien, 26,6 Jahren in Frankreich, 26 Jahren in den USA und 23 Jahren in Japan.Im Zeichen der Europäischen Gemeinschaft, aber auch des weltweiten Zusammenwachsens ist Anlaß genug, darüber nachzudenken, junge Deutsche gegenüber ihren ausländischen Kollegen beim Eintritt in die akademische Berufsreife nicht zu benachteiligen.Wenn ich die drei Stufen genannt habe, heißt das aber auch, über alle drei Stufen bei der Verkürzungsdebatte nachzudenken. Bei der Verkürzung des Gymnasiums von 13 auf 12 Jahre scheint mir ein Gesichtspunkt besonders wichtig, den, Herr Kollege Kuhlwein, auch die Enquete-Kommission Bildung
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Alois Graf von Waldburg-Zeil2000 in einem anderen Zusammenhang gesehen hat: daß bei steigendem, aber ständig sich wandelndem Wissen die Weiterbildung zunehmend an Bedeutung gewinnt, ihre Voraussetzung aber eine solide Allgemeinbildung und die Befähigung ist, sich weiterbilden zu wollen und zu können. Die einstige Oberstufenreform hat auf Frühspezialisierung abgestellt. Mit ihr brauchen wir tatsächlich 13 Jahre. Gestraffte Allgemeinbildung kann man aber auch in 12 Jahren erreichen. Die neuen Länder zeigen uns derzeit die Durchführbarkeit in einem Großversuch.Militär- und Zivildienst wurden bereits reduziert. Bezüglich des Studiums selbst wird in der Studienreform, wenn auch erfolglos, seit 20 Jahren an der Straffung gearbeitet. Nun ist es endlich Zeit zu handeln.Dies gilt in drei Richtungen. Erstens kommt es auf eine stärkere Gliederung des Universitätsstudiums in einen berufsqualifizierenden Teil unter Beibehaltung der Komponente von Forschung und Lehre, wobei Lehre aber wieder das gleiche Gewicht bekommen muß, und auf ein darauf aufbauendes Promotionsstudium an. Zweitens muß es ein Angebot der ja schon jetzt kürzeren und gestraffteren Studiengänge an den auszubauenden Fachhochschulen geben. Drittens nenne ich die Einführung neuer Formen des Studiums im dualen Angebot; als Beispiel führe ich hier die baden-württembergischen Berufsakademien an.
Auch wenn sich das Thema dieser Aktuellen Stunde auf Schule und Hochschule bezieht, möchte ich anfügen, daß in der beruflichen Bildung zwar nirgends gekürzt werden kann und nirgends gekürzt zu werden braucht, daß aber auch strikt vermieden werden sollte, die Ausbildungszeiten zu verlängern.
Es ist gut, die zweifellos vorhandenen Kontra- und Pro-Argumente zu diskutieren; es muß dann aber auch entsprechend gehandelt werden, und zwar von den verantwortlichen und hauptverantwortlichen Ländern ebenso wie vom Bund.Ich danke.
Herr Kollege Dr. Dietmar Keller, Sie haben jetzt das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man lernt ja nie aus. Die Kollegen der F.D.P. haben mich im Ausschuß ab und zu einmal darauf verwiesen, daß Bildungs- und Hochschulfragen ausschließlich Ländersache seien und ich sehr vorsichtig sein solle, wenn ich solche Fragen aufwürfe. Heute habe ich gelernt, daß es offensichtlich doch Fragen gibt, die von Bundesinteresse sind. Ich komme Ihnen entgegen, ich akzeptiere das und hoffe, daß auch Sie mir entgegenkommen, wenn Sie das nächste Mal Schwierigkeiten mit den Fragen haben, die ich aufwerfe.
Wiesbaden ist bekannt. Der Bundeskanzler hat dort außerhalb des vorbereiteten Redetextes einen sehr klugen Satz gesagt, nämlich daß sich die Finanzminister törichterweise in die Bildungspolitik eingemischt hätten. Ich stimme dem Satz völlig zu, weil — darüber sind wir über alle Fraktionen hinweg bestimmt einig — Bildungsfragen und Wissenschaftsfragen Geistesfragen sind, die zuerst von Bildungs- und Wissenschaftspolitikern beantwortet werden müssen. Erst völlig untergeordnet spielen dann Finanzen eine Rolle.Einig sind wir uns bestimmt auch darüber, daß die Frage, ob die Schulbildung und die Hochschulbildung verlängert oder verkürzt werden soll, nicht einfach mit ja oder nein zu beantworten ist, weil damit eine Vielzahl von Fragen und Problemen kompliziertester Natur verbunden ist, und zwar z. B. die Frage nach dem Bildungskonzept. Ich kann mir vorstellen, daß ich dann, wenn ich ein Bildungskonzept habe, das auf eine elitäre Bildung ausgerichtet ist, sehr schnell für eine Verkürzung plädieren kann. Ich kann mir aber auch vorstellen, daß dann, wenn ich von einem Bildungskonzept ausgehe, das eine größere Chancengleichheit berücksichtigen soll, die Antwort schon etwas schwerer fällt.Ich vertrete das Konzept einer größeren Chancengleichheit; gleichzeitig bin ich für eine nur dreijährige Abiturschule. Diese Schule würde auf einer Schule für alle Kinder bis Klasse 10 aufbauen, die nicht „Gesamtschule" oder „Einheitsschule" heißen müßte und deren innere Differenzierung sich an den Gegebenheiten der Individualentwicklung orientieren könnte.
— Seien Sie vorsichtig! Aus Ihren Reihen kommt doch der Verweis auf die DDR dahin gehend, daß man sich da etwas abschauen könnte, gerade was die zehnklassige Grundausbildung betrifft.Es ist ja immer so, daß man sich das nimmt, was einem gerade ins Konzept paßt. Davor warne ich einfach. Ich bin natürlich ein Vertreter bestimmter Bildungsentwicklungen in der DDR. Aber so einfach würde ich es mir wiederum nicht machen, zu sagen, weil das in der DDR gutgegangen sei, sei es automatisch auch für die Bundesrepublik Deutschland anzuwenden. Denn es ist die Frage zu beantworten, wie es kommt, daß vor vielen Jahren 5 % eines Altersjahrgangs abiturfähig waren und es heute, vor allem in den großen städtischen Ballungsgebieten, zwischen 40 % und 50 % sind. Die Frage zu beantworten, warum das so ist, bietet, glaube ich, auch die Chance, Antworten darauf zu finden, wie die Bildung in der Schule und die Bildung an der Hochschule organisiert werden müßten.Natürlich gibt es Möglichkeiten, das Studium im Interesse der Studenten zu verkürzen, z. B. durch die Verbesserung der sozialen Infrastruktur an den Hochschulen oder durch eine elternunabhängige soziale Grundsicherung oder durch die Bereinigung von Studien- und Prüfungsinhalten, die nichts mit dem Studiengang, sondern manchmal mit dem Ehrgeiz und mit den persönlichen Steckenpferden des jewei-
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Dr. Dietmar Kellerligen Professors zu tun haben. Auch das könnte man beliebig fortsetzen.Ich sehe also sowohl die Möglichkeiten als auch die Grenzen. Aber „sowohl Möglichkeiten als auch Grenzen" heißt auch, daß beides Geld kostet. Eine Reduzierung der Studienzeit zu Lasten der Studierenden, auch dann, wenn weniger Studierende an den Universitäten und den Hochschulen sind, ist, glaube ich, nicht das, was wir wollen.Ich denke mir, wir sollten uns darauf einigen, daß es dringend notwendig ist, über das Bildungskonzept der Bundesrepublik Deutschland mit dem Blick auf das nächste Jahrhundert zu diskutieren. Wenn wir da gemeinsame Positionen dafür finden, wo wir ansetzen müssen und wohin die Bildung in Deutschland gehen muß, dann werden, vor allem in den Ländern, auch Antworten darauf möglich sein, wie lang die Schulausbildung und wie lang die Hochschulausbildung sein sollten.Ich danke.
Ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Dr. Gerhard Päselt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bedaure sehr, daß die Finanzminister der Länder der Stein des Anstoßes für die heutige Aktuelle Stunde sind.
Sie haben bei Ihrem Treffen in Potsdam die allgemeine Diskussion um die Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur auf zwölf Jahre genutzt, um der verdutzten Öffentlichkeit vorzurechnen, daß die Abschaffung des 13. Schuljahres eine Einsparung von rund 15 000 Lehrerstellen und damit die Einsparung von 1,2 Milliarden DM bis 1,5 Milliarden DM an Gehältern bewirkt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine solche Betrachtung ist für mich unerträglich. Zwar kann man Bildungspolitik nicht losgelöst von der Finanzierbarkeit betrachten; aber das kann nicht der entscheidende Maßstab sein.Grundlage unserer Betrachtung müssen die jungen Menschen und die Dauer ihrer Ausbildung bis zum Eintritt ins Berufsleben sein. Gegenwärtig findet der Einstieg des Akademikers in das Berufsleben im Alter zwischen 29 Jahren und 30 Jahren statt. Für eine vernünftige Lebensplanung müßten Schule und Studium so organisiert werden, daß dieser Eintritt mit dem 25. oder dem 26. Lebensjahr erfolgen könnte.Auch eine andere Sicht spricht für eine Verkürzung der Schul- und Studienzeit. Das ist der Wirtschaftsstandort Deutschland. Nur mit Hilfe gut ausgebildeter Arbeitskräfte, die möglichst früh ins Berufsleben eintreten, kann die deutsche Wirtschaft wettbewerbsfähig bleiben.Eine Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur auf zwölf Jahre ist nicht für sich allein zu sehen, sondern nur in Verbindung mit einer Verkürzung bzw. Straffung der nachfolgenden Ausbildung, um das bereits angeführte Ziel zu erreichen.Die Frage, die sich daraus ergibt, kann nur heißen: Läßt sich das angestrebte Ziel verwirklichen? — Ich sage ja, wenn alle dafür notwendigen Voraussetzungen geschaffen werden. In den fünf neuen Bundesländern, mit Ausnahme Brandenburgs, ist die zwölfjährige Schulzeit bis zum Abitur beibehalten worden. Den Abiturienten wird bis in die jüngste Zeit hinein eine gute Studierfähigkeit bescheinigt.Die Mängel der DDR-Schulbildung lagen nicht darin, daß den Abiturienten ein Schuljahr fehlte, sondern sie lagen im gesamten System der DDR. Davon seien hier einige genannt; hier stehen wir in einem Widerstreit, Herr Keller.Erstens. Der Übergang in eine vergleichbare gymnasiale Ausbildung erfolgte erst nach der 10. Klasse.
Dadurch wurden die leistungsstarken Schüler bis zur 10. Klasse unterfordert,
und zwar insbesondere in der 9. und 10. Klasse. Das hat vor allem die Jungen betroffen, die dann durch eine dreijährige militärische Ausbildung in ihrer Lebensplanung benachteiligt wurden.
— Sie brauchten auch gar nicht hinzugehen; sie konnten auch verweigern; sie konnten sich auch ausbürgern lassen. Nur ist das heute nicht das Thema.Zweitens. Die fremdsprachliche Ausbildung wurde unterschätzt.Drittens. Der Einfluß der marxistisch-leninistischen Betrachtungsweise und der Geschichtsauffassung führten zur Verfälschung der Geschichte und der gesellschaftlichen Fächer.Dies hat sich in den fünf neuen Ländern sehr schnell verändert. Die Schulbildung hat sich dank westlicher Hilfe von den Verbänden bis hin zur Regierung bzw. zu den Länderregierungen sehr schnell umgestellt. Man kommt mit den Lehrinhalten und mit den Lehrbüchern auch in einer zwölfjährigen Schulzeit zurecht. Es ist mir unerträglich, wenn Minister schreiben: Wie sollen denn die Schulbücher neu gestaltet werden? — Die Ostländer müssen damit zurechtkommen. „Vogel, friß oder stirb!", sage ich dazu. Warum soll das nicht auch woanders möglich sein?Die Erfahrungen der DDR und — in der Folgezeit — der fünf neuen Länder könnten bei der Verkürzung der Schulzeit in den alten Bundesländern genutzt werden. Es müssen keine neuen, kostspieligen Modellversuche durchgeführt werden. Nur muß man
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Dr. Gerhard Päseltdie vorhandenen Ergebnisse nutzen. Nichts ist aber so, daß es nicht noch verbessert werden könnte.Was stimmt uns im Hinblick auf eine 12jährige Schulzeit bis zum Abitur optimistisch? Durch organisatorische Mängel werden bei der 13jährigen Ausbildung Schulzeit und Lehr- und Lernkapazität verschwendet. Unter anderem ist anzuführen:Erstens. Das 13. Schuljahr wird bis zur Hälfte für Unterricht genutzt; die andere Hälfte besteht aus Abiturklausuren und mündlichen Prüfungen.Zweitens. Durch Personalmangel, Krankheit und Schwangerschaften fallen so viele Stunden aus, daß von den neun gymnasialen Schuljahren durchschnittlich nur acht genutzt werden. Daran läßt sich unschwer erkennen, daß die Chancen für die Schulzeitverkürzung nicht schlecht stehen.Das zweite Argument auf dem Weg zum schnelleren Berufseinstieg sind die zu langen Studienzeiten an den Hochschulen. Dafür gibt es viele Gründe. Hochschullehrer und Studenten können nur bedingt verantwortlich gemacht werden, wenn das Umfeld nicht stimmt. Einseitige Schuldzuweisungen erinnern hier an das Schwarze-Peter-Spiel. Wenn alle Rahmenbedingungen auf eine Verkürzung des Studiums angelegt sind, muß es möglich sein, das Studium in vier bis fünf Jahren erfolgreich abzuschließen.Ich möchte am Ende noch folgendes sagen: Was soll nun mit dem eingesparten Geld geschehen? — Hier muß die Forderung erhoben werden, daß das eingesparte Geld in die Verbesserung der Lehre gesteckt wird. Die Qualität der Ausbildung — dafür sind höhere Finanzmittel erforderlich — darf nicht leiden; denn es soll sich um eine qualitätssteigernde Reform der Schulen und Hochschulen handeln, die vom Inhaltlichen und nicht vom Finanziellen diktiert wird. Machen wir uns die Losung zu eigen: Zwölf Jahre bis zum Abitur sind genug!
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Stephan Hilsberg.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Präsident! Herr Hansen hat völlig recht, wenn er meint, wir sollten uns hier nicht auf ideologische Art und Weise, sondern selbstverständlich rational auseinandersetzen. Es wäre ja gar nicht schlecht, wenn einige vernünftige Gesamtkonzepte vorlägen. Bisher kann ich die leider nicht sehen. Was wir gegenwärtig erleben, ist das Austeilen finanzpolitischer Prügel. Plötzlich einigen sich Finanzminister auf etwas. Und in der letzten Zeit kommt es gelegentlich vor — —
— Darauf komme ich gleich noch. Sie als Bildungspolitiker, Herr Lammert, wissen, daß wir, was die Finanzen betrifft, alle in einem Boot sitzen und daß wir uns an dieser Stelle nicht auseinanderdividieren lassen, gerade weil es bei der Bildung nicht nur umFinanzen und nicht nur um Wirtschaft geht. Ich habe den Eindruck, daß der Wirtschaftsstandort Deutschland in der letzten Zeit in den Rang eines Denkmals erhoben wird, und die politische Klasse der Bundesrepublik macht Ringelreihen drumherum. Sie betet ihn geradezu an, damit ja nichts davon verlorengeht.
Nur — das muß man einmal ganz klar sagen —, Bildung dient auch dazu, daß wir die jungen Leute befähigen, daß sie aus ihrem Leben etwas Vernünftiges machen. Man lebt ja schließlich nicht, um zu arbeiten, sondern man arbeitet, um zu leben. Und es gibt noch sehr viel mehr Dinge, die man lernen kann und die wir zu vermitteln haben, als nur solche, die der Erhöhung der Effektivität und der Rentabilität dienen.
Das scheint mir doch ganz wichtig zu sein.Bei der jetzigen Diskussion darf man eines nicht außer acht lassen: Die große bildungspolitische Reform die in der Bundesrepublik gelungen ist und an der die Sozialdemokraten einen erheblichen Anteil haben, war die Erhöhung der Bildungsbeteiligung. Was wir in der ehemaligen DDR, in Ostdeutschland zur Zeit an Aufatmen unter der Jugend erleben, daß sie jetzt etwas machen kann, was sie vorher nicht machen konnte, nämlich sich frei entscheiden — was jetzt sehr viele können —, hat zu erheblicher Freisetzung zur Ausschöpfung von Ressourcen geführt, und das wird auch weiterhin so sein. Wir brauchen das, um das Erbe des Kommunismus, die gesamten Altlasten etc. aufzuarbeiten, — nicht nur, aber eben auch.Keine Reform darf diese Bildungsbeteiligung wieder senken. Sie darf auch nicht zu Diskriminierungserscheinungen führen.
— Na ja, man hört gelegentlich — Frau Funke-Schmitt-Rink spricht auch gern davon — von Forderungen nach einer Kommerzialisierung im Bildungsbereich oder beispielsweise die Forderung nach Eingangsprüfungen an den Universitäten oder die Diskussion über 12 Jahre Schulzeit versus 13 Jahre Schulzeit.
Das sind die schleichenden Wege, die auf der einen Seite zur Elitenbildung führen und auf der anderen Seite nicht mehr allen die gleichen Chancen zur Bildung geben. Ich glaube, das muß verhindert werden.
Was das Einsparen betrifft, hört man gelegentlich, auch die DDR habe nur zwölf Jahre Schulzeit gehabt. Aber da hat Herr Päselt völlig zu Recht gesagt: Das läßt sich in der Tat nur schwer vergleichen. Übrigens: Ob die Länder Sachsen und Sachsen-Anhalt mit ihren
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Stephan Hilsbergzwölf Jahren Schulzeit bis zum Abitur die Lösung für das gesamte Problem schon gefunden haben, muß man einmal sehen.Ich bin nicht gegen zwölf Jahre Schulzeit, überhaupt nicht!
Im Gegenteil: Man erlebt ja bei den Jugendlichen jetzt sehr viel, daß sie früher erwachsen sind, daß sie eher reif sind, daß sie Lust auf Leben haben. Sie brauchen die Glasglocke nicht, die man über sie gestülpt hat.
Aber: Die Sache ist durch Kappung in keiner Weise zu schaffen. Das geht natürlich nur, indem man sich genaue inhaltliche Gedanken über das Gesamtkonzept macht, und dann geht es sofort an die Frage des Lehrplans. Aber das ist nun etwas, was wir hier im Bundestag auf keinen Fall zu regeln, zu lösen haben.
Das ist etwas, was in den Ländern zu geschehen hat — übrigens nicht nur durch die Landespolitiker allein. Wenn sie klug und weise sind, nehmen sie Lehrer, Schüler und Eltern, die in diese Konzepte mit eingebunden werden müssen, selbstverständlich mit hinzu. Das halte ich für eine ganz wesentliche Angelegenheit.Weil wir hier einen kleinen Schwenk auf die DDR gehabt haben, Herr Päselt, noch ein letztes Wort dazu: Es ist problematisch, zu sagen, daß man in der früheren DDR drei Jahre Armeedienst leisten mußte nach der Devise: Wir mußten doch, wir konnten doch nicht anders; denn mit dieser Argumentation gibt man all denjenigen, die sich einem dreijährigen Armeedienst verweigert haben, sozusagen selber die Schuld daran, daß sie der Bildungsdiskriminierung ausgesetzt waren. Das ist das Problem, das man in dem Zusammenhang hat. Das ist etwas, womit wir heute an manchen Stellen immer noch zu kämpfen haben. In der Enquete-Kommission werden solche Dinge immer wieder ausgesprochen.Ich glaube, es ist ganz wichtig — und das ist der große Unterschied zur früheren DDR —, daß wir aufhören, bestimmte Dinge wie Bildung etatistisch zu behandeln. Das große Ziel muß sein: nicht Beschränkung, sondern Angebot von Möglichkeiten, bezüglich derer sich die einzelnen frei entscheiden können, welche sie nutzen. Nur wenn wir das so weit wie möglich in allen Bereichen der Gesellschaft umsetzen, werden wir genug Kräfte freisetzen, um die Probleme, die wir heute haben, auch morgen noch lösen zu können. Das heißt: Nicht ein Weniger an Finanzen für Bildung, sondern nur ein Mehr an Finanzen für Bildung kann uns helfen, die Probleme gemeinsam zu lösen.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich erteile das Wort jetzt unserer Frau Kollegin Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink.
Herr Präsident! Meine Herren! Meine Damen! Die Diskussion über die Frage einer Verkürzung der gymnasialen Schulzeit von neun auf acht Jahre hat viel mit der Frage nach einer sinnvollen Lebensarbeitszeit und damit einem vernünftigen Berufseintrittsalter deutscher Hochschulabsolventen und -absolventinnen zu tun. In den neuen Bundesländern und den meisten Mitgliedstaaten der EG gilt eine zwölfjährige, in den alten Ländern der Bundesrepublik, in Luxemburg, Großbritannien und Italien eine dreizehnjährige Gesamtschulzeit. Im weltweiten Vergleich sind die deutschen Studierenden — in den alten Ländern — mit durchschnittlich 21,5 Jahren die ältesten Studienanfänger und mit durchschnittlich 27,9 Jahren die ältesten Studienabgänger.
Damit verringern sich ihre Chancen auf dem EG-Arbeitsmarkt, und mit der geringeren Lebensarbeitszeit sinkt ihr Lebenseinkommen.Für eine Schulzeitverkürzung sprechen aber auch gesamtgesellschaftliche Gründe. Die demographische Entwicklung ruft nach einer Verkürzung der Erstausbildung. Wir gefährden den Generationenvertrag, mein lieber Herr Kuhlwein, wenn nicht die Phase der Erwerbstätigkeit durch eine Senkung des durchschnittlichen Eintrittsalters — und übrigens auch durch eine Erhöhung des Austrittsalters — verlängert wird. Freilich spielt hier nicht nur die Schulzeit, sondern auch die Dauer aller Ausbildungsabschnitte eine Rolle. Auch die Studienzeit und die Dauer der Wehrpflicht müssen gesenkt werden.Es gibt also gute Gründe für die Verkürzung der gymnasialen Schulzeit. Dieser Schulreform muß freilich die Verbesserung des Schulsystems durch Ganztagsschulen und kleineren Klassen gegenüberstehen. — Es tut mir leid, daß die SPD überhaupt nicht zuhört, was wir hier sagen. — Es darf nicht darum gehen, auf Kosten der Kinder Lehrerstellen einzusparen.
— Jawohl, Herr Lehrer.Im Hochschulbereich plädiere ich für die Einführung von Bonus- und Malusregelungen, d. h. für mehr Anreize und Wettbewerb, um das Verhalten der Studierenden, der Hochschullehrer und der Hochschulleitungen so zu ändern, daß die durchschnittliche Studiendauer sinkt und die Aufnahmekapazität der Hochschulen nachhaltig steigt. Es gilt, das Verhalten der beteiligten Gruppen durch Quasi-Marktsignale, durch finanzielle Anreize so zu lenken, als wäre nicht ein bürokratisiertes staatliches Hochschulsystem, sondern ein funktionsfähiger Bildungsmarkt etabliert, in dem sich Angebot und Nachfrage ohne staatliche Intervention angleichen würden.
— Ich möchte gern zu Ende reden, Herr Hilsberg.
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Dr. Margret Funke-Schmitt-RinkDie mit der wachsenden Professoren- und Prüferzahl verbundene Aufblähung des Prüfungsstoffs muß ein Ende haben. Eine Verbesserung der Studienberatung und eine permanente Kontrolle des Studienerfolgs im Rahmen eines obligatorischen Tutorensystems müssen an die Stelle einer falsch verstandenen akademischen Freiheit treten, die für die meisten Studierenden in Wirklichkeit Orientierungslosigkeit und Angst bedeutet.Fernziel der Reformen müßte sein, ein effizientes Hochschulmanagement zu etablieren, das die gesetzten Ziele mit Hilfe betriebswirtschaftlicher Allokations- und Kontrollmechanismen verfolgt und so das Verhalten der Hochschulen näher an das des Managements privater Wirtschaftsunternehmen rückt.Eine Ausgliederung und Privatisierung von einzelnen Hochschuleinrichtungen und privates Sponsoring von Hochschuleinrichtungen, z. B. Einrichtung von Stiftungslehrstühlen, Forschungskooperation, Stipendienverwaltung, wären weitere Möglichkeiten, Effizienzkriterien und Effizienzmechanismen, die sich im freien Wettbewerb bewährt haben, im Hochschulbereich zur Geltung zu bringen.Fazit: Weder verliert das Abitur durch eine Schulzeitverkürzung seinen Wert und wird zum „Expreßabitur", noch produziert die Hochschule mit einer kürzeren Ausbildungszeit den „Schmalspurakademiker! " — Hüten wir uns vor billiger Polemik!Die F.D.P. hat sich als erste Partei seit vielen Jahren nicht deshalb so intensiv und kontrovers mit den pädagogischen Argumenten zur Schulzeitverkürzung auseinandergesetzt und schließlich den Beschluß auf dem Bundesparteitag 1987 herbeigeführt, um jetzt tatenlos zuzusehen, daß die Finanzminister angesichts leerer Kassen eine „Notschlachtung" durchführen wollen. Dies sind die falschen Argumente. Weder mit dem Abiturzeugnis noch mit dem Hochschuldiplom ist die Phase der Bildung und Ausbildung beendet.
Ein Gutteil des in der Erstausbildung erworbenen Wissens veraltet rasch. Die Arbeitsmarktchancen bleiben nur dann über ein langes Erwerbsleben hin erhalten, wenn permanente Weiterbildung das berufliche Wissen und Können auf dem erforderlichen Niveau hält.Vielen Dank.
Unser Kollege Wolfgang Meckelburg ist der nächste Redner. Bitte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die F.D.P. als antragstellende Fraktion wird in ihrer Koalitionsfreude wohl nicht so weit gegangen sein, daß sie den bildungspolitischen Kongreß der CDU von der vergangenen Woche zum Anlaß der heutigen Debatte genommen hat.
Ich vermute mal: Aktuell ist die Frage nach derVerkürzung von Ausbildungszeiten in der Bundesrepublik sicherlich dadurch geworden, daß sich die Länderfinanzminister am vorletzten Wochenende für die Streichung des 13. Schuljahres ausgesprochen haben.
Deswegen sei für unsere Fraktion klar und in aller Deutlichkeit gesagt: Die aus vielen Gründen notwendige Verkürzung der Ausbildungszeiten darf nicht zur Sparoperation der Finanzminister verkommen.
Sie darf auch nicht mit dem Ziel angegangen werden, sich in der Bildungspolitik auf dem qualitativ kleinsten Nenner zu treffen.
Kurz gesagt: Verkürzung ja, Niveauverlust nein.
Meine Damen und Herren, es muß uns als Bildungspolitiker unruhig machen, wenn wir feststellen, daß unsere Hochschulabsolventen im internationalen Vergleich zu den ältesten gehören. Wir müssen den Blick auf alle die Stellen richten, die zu diesem hohen Ausbildungsabschlußalter beitragen. Die gymnasiale Schulzeit ist ein Teil davon; weiter sind zu nennen die Übergangszeiten und auch die Hochschulstudienzeiten selber.Lassen Sie mich den eigentlichen Kernpunkt auch der Aktuellen Stunde, nämlich die Schulzeitverkürzung — auch wenn das vielleicht ungewöhnlich ist; aber da müssen wir als Bildungspolitiker zwischen Bund und Ländern, glaube ich, gemeinsam handeln —, kurz ansprechen. — Sie ist aus meiner Sicht notwendig und machbar. Nicht umsonst sprechen Fachleute von organisatorischen Mängeln, die eine beträchtliche Verschwendung an Schulzeit sowie Lehrer- und Lernkapazität verursachen. Ein Erziehungswissenschaftler aus Hamburg spricht von unglaublich viel sinnlosem Stoff, der am Gymnasium vermittelt werde. — Die Zitate mögen überzogen sein, aber sie treffen die Kernpunkte: Wir brauchen organisatorisch-strukturelle Reformen und Straffung auch der Lehrpläne.Ich nenne einmal ein paar Beispiele, wirklich mit der Bitte um Verzeihung, weil Bildungspolitiker zwischen Bund und Land da zusammenarbeiten müssen; da geht einfach meine Erfahrung als Lehrer mit mir durch.Jahrgangsstufe 13 — das ist schon genannt Worten —: eigentlich nur im ersten Halbjahr voller Unterricht; das zweite Halbjahr ist im wesentlichen durch das Abitur belegt.
Klasse 11 — im ersten Halbjahr Einführung in die Oberstufe — dient in Nordrhein-Westfalen der Integration von Seiteneinsteigern; erst im zweiten Halbjahr werden die Kurse, die zum Abitur führen, gebildet. Hier entstehen aus meiner Sicht auch ein wenig Leerlauf und Wiederholung. Statt des Orientierungs-
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Wolfgang Meckelburglaufs sollte die Klasse 11 stärker auf den Bildungsgang ausgerichtet werden.Unterrichtsausfall spielt hier auch eine Rolle. Es gibt ja das berühmte Beispiel der zwei Lehrer, die einmal gezählt haben und statt auf neun Jahre Schulzeit am Gymnasium auf 7,75 Jahre gekommen sind. Ich habe vielfach den Eindruck: Wir haben faktisch häufig schon eine zwölfjährige Schulzeit, nur verteilen wir sie auf 13 Jahre. Es gibt Ansätze dazu, daß die Länder und wir gemeinsam einen Beitrag leisten, dies abzustellen.
Etappenunterricht, Lehrplanabstimmung sind andere Themen; ich will sie hier nur als Stichworte nennen.Insgesamt gilt es, in den Vordergrund der gymnasialen Bildung die Vermittlung einer soliden Allgemeinbildung zu stellen. Inhaltliche Konzentration und zeitliche Straffung heißen die Forderungen. Ich bin sicher: Beides wird auch zur Verdeutlichung des Bildungsprofils des Gymnasiums beitragen.Meine Damen und Herren, die Verkürzungsdebatte darf von den Kultusministern — auch da hat man ja einiges gehört — nicht vordergründig abgeblockt werden. Ich hoffe, daß unsere Debatte heute und die Bereitschaft, vom Bund aus im Bereich der Hochschulen einen Beitrag zu leisten, auch ein Beitrag dazu ist, den Kultusministern der Länder Mut zu machen, ihren Beitrag auf ihrer Ebene zu erbringen. Gemeinsam werden wir es dann schaffen, glaube ich, unserer Jugend zu kürzeren Ausbildungszeiten und damit zu einem längeren erfolgreichen Berufsleben zu verhelfen.
Als nächster Redner ist jetzt unser Kollege Günter Rixe aufgerufen.
Was soll denn das?
— Ach so. Ja, das mag natürlich sein. Aber ich fange mal freundlich an.Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bundeskanzler hat vor wenigen Tagen auf dem bildungspolitischen Kongreß der CDU in Wiesbaden gesagt, daß das Bildungswesen für den Wirtschaftsstandort Bundesrepublik eine herausragende Rolle spielt;
es gehöre zu den Aktivposten des Standorts Deutschland.
Dem können wir natürlich zustimmen; da hat er recht.
Die Bedeutung der Ausbildung für unsere jungen Menschen, für den Standortvorteil muß man auch im Blick haben, wenn man hier und heute über die Verkürzung der Ausbildungszeiten in Schule, Hochschule und Beruf redet. Ich möchte mich ein bißchen auf den letzten Teil, Beruf, konzentrieren; der hat auch etwas mit Ausbildung an den allgemeinbildenden Schulen und in der Sekundarstufe II zu tun.Wer nämlich lediglich darauf abstellt, daß in anderen europäischen und außereuropäischen Ländern die jungen Leute viel früher ins Erwerbsleben einsteigen und daß man deshalb die Ausbildungsgänge hier verkürzen will, der irrt, auch der Bundeskanzler— jetzt kommt das Negative —, wenn er dabei das außer acht läßt, was unter dem Stichwort Ausbildungsqualität Bedeutung hat;
denn die Qualität der Ausbildung und die Qualifikation, die die jungen Menschen dadurch erfahren— nicht die Zeiten, die dafür aufgewendet werden! —, machen den Standortvorteil aus.Nun ist es beispielsweise in der beruflichen Ausbildung nach wie vor nicht richtig, für lernschwächere Auszubildende die sogenannte Einfachausbildung mit kürzeren Ausbildungszeiten einzuführen; da wird nämlich auch von Ausbildungszeiten geredet.
Dies ist uns bei der Expertenanhörung zur beruflichen Bildung im Ausschuß am 20. Januar ganz deutlich gesagt worden. Viele Sachverständige haben sich ihre Meinung dazu gebildet und sind der Meinung, daß der Facharbeiternachwuchs dadurch nicht gesichert wird.Auch Minderqualifikation, Dummheit von jungen Leuten liegt ja nicht vor — sie sind gut ausgebildet —; die Defizite in ihren sozialen Voraussetzungen sind es, gegen die anzugehen ist.Wenn über die Verkürzung von Schulzeiten geredet wird, muß man sich doch ernsthaft fragen, inwieweit die Gleichwertigkeit der beruflichen und der allgemeinen Bildung besteht. Wir sind uns im Bildungsausschuß doch darüber einig, daß die Möglichkeit, qualifizierten Berufspraktikern, die kein Abitur haben, den Weg an die Unversitäten zu öffnen, eine Attraktivitätssteigerung für das duale Ausbildungssystem ist; und letztere ist, wenn ich auch an die letzten Sitzungen denke, das erklärte Ziel aller Fraktionen. Zu denken ist daran, daß wir die Akademiker haben, während die Fachleute in Industrie und Handwerk fehlen. Das ist ja das Problem.Die vielbeschworene Steigerung der Attraktivität wird aber zur Worthülse, wenn dieser Hochschulzugang abgelehnt wird, zwar nicht bei uns im Bildungsausschuß, aber, wie nachzulesen ist, von der Regierungskoalition im Rechtsausschuß.
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Günter RixeReden und Handeln, meine Damen und Herren von der Koalition, müssen wir zusammenbringen, sonst haben wir Probleme, die Politik und die Bildungspolitik richtig überzubringen.Deshalb kann von einer Gleichwertigkeit von beruflicher und schulischer Bildung nur dann gesprochen werden, wenn die berufsbildenden Abschlüsse und die berufliche Qualifikation zu demselben Ergebnis führen wie das Abitur und die Allgemeinbildung, nämlich zu der Berechtigung zum Hochschulstudium.
Es ist völlig kontraproduktiv, meine Damen und Herren von der F.D.P., wenn Sie nur über einen fachgebundenen Zugang reden und eine Eingangsprüfung für unverzichtbar halten. Es kann doch nicht im Sinne unserer Reformbemühungen sein — Reformen wollen wir ja alle —, erst die besondere Qualifikation der Berufspraktiker hervorzuheben, ihnen aber eine Prüfung in Form eines abgewandelten Abiturs abzuverlangen.
— Frau Kollegin, genau Sie haben das in der Anhörung noch einmal deutlich gesagt.So eröffnen Sie jungen Leuten und deren Eltern keine neuen Perspektiven, die dieses dann veranlassen könnten, statt den Weg der allgemeinen Bildung den der beruflichen Bildung einzuschlagen.Wenn dann auch noch über Schulzeitverkürzungen geredet wird, darf das nicht dazu führen, daß die Allgemeinbildung, die schulische Qualifikation, für diejenigen, die in eine berufliche Ausbildung wollen, verschlechtert wird. Statt dessen müssen wir erst dafür sorgen, daß in allen Bundesländern das zehnte Schuljahr Pflicht wird, damit wir in der beruflichen Bildung ein Stück vorankommen.
Auf der anderen Seite bedeutet eine Schulzeitverkürzung, daß dann, wenn allgemeinbildende Voraussetzungen nicht mehr gewährleistet sind, das Ziel der Gleichwertigkeit, also der Hochschulzugang, für die Leute mit weniger Schulbildung und Berufsausbildung faktisch kaum noch zu erreichen sein wird. Es ist also falsch, hier pauschal einer Verkürzung bei den Ausbildungszeiten das Wort zu reden, nur weil man glaubt, das tun zu müssen, oder weil die Finanzminister der Meinung sind, wir hätten nicht mehr genug Geld dafür, oder weil es auch in anderen Ländern so ist. Das hilft uns nicht, die jungen Menschen für den Weg der beruflichen Ausbildung zu gewinnen. Bitte nicht diese Diskussion! Darüber müssen wir, denke ich, gemeinsam noch einmal ernstlich reden.Danke schön.
Ich erteile dem Herrn Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Dr. Rainer Ortleb, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will mich drei Fragen zuwenden.Erstens: Warum Ausbildungszeiten verkürzen? Im internationalen wie im EG-Vergleich haben unsere Hochschulabsolventen ein zu hohes Berufseintrittsalter. Endlich muß dem Trend, daß es eher länger als kürzer wird, durch nachhaltige Maßnahmen zur Verkürzung entgegengetreten werden. Die hohe Progressionsrate des Wissenszuwachses stellt die Notwendigkeit des lebenslangen Lernens in ein noch deutlicheres und klareres Licht. Die Erstausbildung muß durch ständige, lebensbegleitende Ausbildung fortgesetzt werden.Die zweite Frage: Warum zwölf Jahre bis zum Abitur? Eine Bestandsaufnahme der ohnehin recht unterschiedlichen Schulsysteme in den Bundesländern macht deutlich, daß von einer einheitlichen neunjährigen Gymnasialausbildung längst keine Rede mehr sein kann. Interessant ist übrigens, daß in den alten wie in den neuen Ländern, die ganz überwiegend zwölf Jahre bis zum Abitur festgelegt haben, die Zahl der Ausbildungsstunden einheitlich bei 12 400 Stunden liegt.
— Ober Geld, Herr Kuhlwein, will ich jetzt erst einmal nicht reden.Es muß außerdem berücksichtigt werden, daß die zwölf Schuljahre in den neuen Ländern bis zum Abitur nur noch bis zum Schuljahr 1996/97 anerkannt werden. Also ist auch deswegen die Frage dringend in das Bewußtsein einer bundesweiten Betrachtung zu rükken.
Nicht zuletzt ist es mit Blick auf das, was ich hinsichtlich der Progression des Wissenszuwachses sagte, erforderlich, darüber nachzudenken, ob eine gymnasiale Ausbildung nicht in erster Linie Strategien des Bildungserwerbs lehren muß, natürlich neben Komponenten des Spezialwissens, das aber nicht ausufern darf.Drittens: Warum mischt sich der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft in die Diskussion ein? Weil es ein komplexes Problem ist, das nur durch ein Zusammenwirken aller Beteiligten gelöst werden kann
— wobei die Bundesregierung die zahlreichen Bemühungen von Ländern und Hochschulen ausdrücklich anerkennt —, weil ein Grundsatzpapier der Bundesregierung für eine inhaltliche und qualitativ hochstehende Vorbereitung des bildungspolitischen Spitzengesprächs, auch Bildungsgipfel genannt, auszuarbeiten war,
weil die umfangreichen und komplexen Verflechtungen von Zuständigkeiten vielfältige Abstimmungs- und Umdenkprozesse erfordern und weil letztlich
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Bundesminister Dr. Rainer OrtlebSchluß mit der bloßen Behauptung sein muß, daß kürzere, mehr strukturierte und übersichtlichere Bildung, insbesondere Grundbildung an Schulen und Erstausbildung an Hochschulen, a priori schlecht sein müsse.
Abschließend einige Bemerkungen zu den Darlegungen meiner Vorredner.Erstens. Herr Kuhlwein, ich nicke nicht freudig, wenn ich mit mißliebigen Finanzentscheidungen konfrontiert werde, die ich dann letztlich aus Gründen der Kabinettsdisziplin vertreten muß. Es mag sein, daß mir „Der Spiegel", in dem ich als billigste Lösung bezeichnet wurde, das nicht glaubt. Aber wie vereinbart sich das damit, daß mich der Finanzminister als teuersten Kollegen bezeichnet, was er, wie ich annehme, durchaus finanziell meint?
Zweitens. Herr Kuhlwein, Sie werfen mir vor, keine Konzepte zu haben. Sie haben diese nicht vorhandenen Konzepte gelegentlich kritisiert. Daraus schließe ich, daß man „Nichts" eigentlich nur mit „Nonsens" kritisieren kann.
Drittens. In Sachen „Zwölf Jahre bis zum Abitur" habe ich mich als Bildungspolitiker entschieden und bin ich kein Herold der Finanzminister. Ich möchte noch einmal deutlich sagen, daß ich mich schon längst dazu geäußert habe, ehe die Finanzminister — aus meiner Sicht: unglücklicherweise — auf dieses Thema gestoßen sind. In meinem ersten Interview als Bildungsminister bin ich genau zu diesem Thema gefragt worden, und meine Position war schon damals ganz deutlich.Viertens. Letztlich entnehme ich in dieser Debatte etwas Erfreuliches. Eigentlich könnte man als Konsens folgende Losung mitnehmen.
— Konsens; ich habe mich nicht versprochen, Herr Kuhlwein —: Die Bildungspolitik den Bildungspolitikern!Ich danke Ihnen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, für unsere vorwiegend jungen Besucherinnen und Besucher auf der Tribüne will ich noch einmal sagen: Wir behandeln hier das Thema „Haltung der Bundesregierung zur Verkürzung der Ausbildungszeiten in Schulen und Hochschulen" in Form einer Aktuellen Stunde. Die Redezeit für die einzelnen Redner beträgt fünf Minuten. Wir haben noch drei Wortmeldungen.
Der nächste Redner ist unser Kollege Dr. Rainer Jork.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die oft kritisierten organisatorischen und ökonomischen Diskrepanzen hinsichtlich des durchschnittlichen Berufseintrittsalters von etwa 28 Jahren der Hochschulabsolventen in der Bundesrepublik, der üblichen Studienzeiten und Abbrecherquoten sowie der tatsächlichen, effektiven Lebensarbeitszeit in Relation zu anderen Staaten sind Anlaß dafür, daß heute im Bundestag über die Ausbildungszeiten zu reden ist.Nicht von ungefähr kommt diese Frage in einer Zeit auf den Tisch, da der Nachtragshaushalt bzw. der Solidarpakt zu beraten sind und über den Wirtschaftsstandort Deutschland ernsthaft nachgedacht werden muß. Schlüssige Gesamtkonzepte sind gefragt. Berufsbildung und Qualifikation im umfassenden Sinne sind wesentliche Voraussetzungen für den künftigen Arbeitsmarkt. Das gilt für das geeinte Deutschland angesichts der hohen innen- und außenpolitischen Erwartungen und angesichts des größer werdenden Europas und der Probleme in Europa in besonderem Maße. Die reale Arbeitszeit muß in einer verträglichen Relation zu den sozialen Erwartungen und Verpflichtungen, zu den gesamtpolitischen Aufgaben stehen. Ausbildung hat in hoher Qualität zu erfolgen, Leistungswille ist zu fördern.Das durchschnittliche Berufseintrittsalter bei der sogenannten akademischen Laufbahn wird von sehr vielen Komponenten wie Schul- und Wehrdienstzeit, Lern- und Ausbildungsintensität, fachliche und pädagogische Fähigkeit und Engagement der Lehrkräfte, materielle Ausbildungsbedingungen und persönliche Motivation aller Beteiligten in Relation zur Akzeptanz des Ausbildungsergebnisses beeinflußt.Beim Erwerb des Abiturzeugnisses geht es aus meiner Sicht vor allem um die Frage, ob eine formale Studienberechtigung oder die Studierfähigkeit erreicht werden soll. Sicher geht es um beides, vor allem um einen Leistungsnachweis. Ich fordere von einem Abitur erstens eine hohe und vergleichbare Qualität, zweitens die Studienberechtigung im Zusammenhang mit einem studienrichtungsbezogenen Leistungsnachweis und drittens Paßfähigkeit und Chancengerechtigkeit in Europa.Dies setzt selbstredend eine effiziente Zeitausnutzung — das bedeutet für mich Minimierung des Unterrichtsausfalls und hohe Lehr- und Lehrerqualität — voraus. Die Ausbildungszeit darf nicht mißbraucht werden, um möglicherweise zu Recht befürchtete Erwerbslosigkeit zu kompensieren. Hochschulbildung darf nicht zu fremdfinanzierter, falsch verstandener ABM verkommen.
Für Bürger und Staat ist eine effiziente Ausbildungszeit von existentieller Bedeutung. Insofern sind die Ausbildungsergebnisse von Hochschulen außer nach Qualitätsaussagen auch nach der Relation von Absolventen und wissenschaftlichen Mitarbeitern, nicht aber nach dem Verhältnis von eingeschriebenen Studenten zu wissenschaftlichen Mitarbeitern zu bewerten.
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Dr.-Ing. Rainer JorkNeben einer zwölfjährigen Schulzeit bis zum Abitur, für die ich mir u. a. eine angemessene Förderung individueller, also unterschiedlicher, Leistungsmöglichkeiten wünsche, geht es mir um eine weitgehende Einhaltung der Regelstudienzeit. Das setzt natürlich zuerst entsprechende Studienbedingungen — Qualität, Laborverfügbarkeit, Wohnheime — voraus.Im übrigen stimme ich mit den Aussagen von Professor Schiedermair am vergangenen Freitag zum bildungspolitischen Kongreß der CDU in Wiesbaden überein: Die einzigen, die sich im derzeitigen Bildungsdilemma völlig rational verhalten, sind die betroffenen jungen Menschen.Man muß sich aber fragen, wer wie motiviert wird, wenn die Aufnahme eines Hochschulstudiums u. a. dadurch reizvoll wird, daß oft das Abitur relativ leicht erreichbar ist und auch mäßige Abschlußnoten die Aufnahme eines Studiums rechtfertigen, daß eine frühe verbindliche Berufsentscheidung nicht erwartet wird, ein Studienrichtungswechsel und Schnupperstudium vielmehr als normal empfunden werden, daß beim Studium oft ohne Leistungsnachweis individuelle Freiheit gesichert ist und daß ein vergleichsweise hohes Sozialprestige auch bei Scheitern des Studiums gegeben ist.Zu diesen Gedanken gehört, daß das Laufbahnrecht im öffentlichen Dienst und die Laufbahn in der Wirtschaft genau diesem Zustand entsprechen.Mir scheint der Ruf nach mehr Geld für das Hochschulwesen eine zu einseitige Antwort zu sein. Es geht um effiziente und qualitätsgerechte Ausbildungszeiten. Für das Bildungssystem Deutschlands sind grundsätzliche Korrekturen erforderlich, um die genannten Ziele zu erreichen. Deren Realisierung ist nur durch ein sinnvolles Zusammenspiel von Politik — Bund und Länder also —, Wirtschaft — ich meine Betriebe, Kammern und Verbände —, öffentlichem Dienst, Hochschulen einschließlich Wissenschaftsrat und Interessenvertretungen möglich. Der vom Bundeskanzler angekündigte Bildungsgipfel muß den genannten Zielen entsprechen.Danke.
Die vorletzte Rednerin ist unsere Frau Kollegin Doris Odendahl.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Ich finde es sehr gut, daß wir heute über Ausbildungszeiten reden, weil es dazu dienen kann, daß die bildungspolitische Reformdiskussion vom Kopf wieder auf die Füße kommt.Nach den jüngsten Ausführungen des Bundeskanzlers sollen Bildung und Ausbildung im Entwurf des neuen CDU-Grundsatzprogramms wieder einen breiten Raum einnehmen. — Wissen Sie, bei mir daheim sagt man: Man redet immer über das, was man nicht hat.Daß sich die CDU wieder der Bildungspolitik zuwenden muß, läßt sich am besten durch die Gegenüberstellung einiger Zahlen darstellen: Der Anteil des Bildungsetats am Bundeshaushalt betrug im letztenJahr sozialdemokratischer Regierungsverantwortung 1,82 %. Er war im Jahre 1990 auf klägliche 1,11 % zusammengeschrumpft und geht seit dem ersten Haushaltsjahr nach Vollendung der deutschen Einheit in 1991 mit 1,51 % nun schon wieder zurück, und zwar auf 1,49 %.
Diese Talfahrt von 1,82 % auf kümmerliche 1,49 % macht deutlich, daß sich der Bund immer mehr seinen Verpflichtungen entzogen hat.
Ich sage das hier, um ein für allemal das unsägliche Schwarze-Peter-Spiel zwischen Bund und Ländern zu beenden, dem der Bundesfinanzminister in seinem FKP-Papier mit dem Bildungsgipfel zum Nulltarif die Krone aufgesetzt hat. Die dringend notwendigen Reformen in Schulen und Hochschulen dürfen nicht dem Crash-Kurs — da haben Sie recht — der Finanzminister überlassen werden.
Ich stimme dem Bundeskanzler ausdrücklich zu: Wir haben Ungleichgewichte zwischen den Bildungsbereichen auszugleichen, und wir müssen bei Ausbildungszeiten und Bildungszeiten insgesamt zu neuen Lösungen kommen.Die Kultusminister arbeiten seit einiger Zeit an einer Oberstufenreform, um aus den Erfahrungen der neuen Länder mit zwölf Jahren bis zum Abitur zu gemeinsamen Lösungen zu kommen.
Ich bin auch für eine gründliche Entrümpelung der Lehrpläne. Allerdings zwingen neue Entwicklungen, wie Gewalt an Schulen, zu Überlegungen, ob die Schule auf Grund des übersteigerten Leistungsdrucks und des Aussortierens nicht selber Ursache wachsender Aggressionen ist und in Zukunft ihren Beitrag zu deren Eindämmung leisten muß. Das gehört dazu.Es ist schlicht absurd, Schulzeitverkürzungen auf die finanzpolitische Milchbubenrechnung zu begrenzen — ein Milchmädchen ist auch dabei; das gebe ich zu —: Nehme ich das 13. Schuljahr weg, kommen automatisch 1,3 Milliarden DM dazu. Das wollen alle nicht; dem müssen wir Einhalt gebieten.Leider zeichnet sich bei der dringend notwendigen Studienreform eine ähnliche Tendenz ab. Auch hier erwarten die Finanzminister, durch kürzere Studienzeiten aus der von ihnen selbst mit eingebrockten Hochschulmisere herauszukommen und den Kollaps verhindern zu können.Dem Bundeskanzler und Ihnen allen muß gesagt sein: Es sind nicht die wachsenden Studentenzahlen, die die Qualität des Studiums gefährden. Die katastrophale Entwicklung an den deutschen Hochschulen ist hausgemacht, weil trotz vielfältiger Warnungen
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Doris Odendahlviel zu lange nach dem Motto verfahren wurde: Schönreden, untertunneln, aussitzen.
Selbstverständlich muß es jungen Menschen möglich gemacht werden, in vier bis fünf Jahren zu einem berufsqualifizierenden Studienabschluß zu kommen; denn das wollen sie auch.Ich bin dabei auch für eine Leistungskontrolle, aber nicht einseitig, Frau Kollegin, bei den Studierenden, sondern zunächst bei den Lehrenden.
Wer die Bestrafung von länger Studierenden durch Studiengebühren vorschlägt, muß zuerst dafür sorgen, daß die Lehrenden ihrer Lehrverpflichtung nachkommen.
Wer sich einbildet, notwendige Reformen in Ausbildung, Schulen und Hochschulen ausschließlich auf die Verkürzung von Ausbildungszeiten minimieren zu können, verfehlt den gutgemeinten Ansatz.Die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland hängt ganz entscheidend von unserer allerwichtigsten Ressource ab: dem Wissen und Können, der Qualifikation unserer Menschen. Wir brauchen davon in Zukunft nicht weniger, sondern mehr.Auch deshalb müssen wir gemeinsam dafür sorgen, daß der Bildungsgipfel, ausgestattet mit den notwendigen. Finanzmitteln, zustande kommt, damit es am Ende nicht heißt: Bildungspfusch statt Bildungsreform.
Die letzte Rednerin in dieser Debatte ist unsere Frau Kollegin Maria Eichhorn.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es reizt mich, Frau Odendahl, zu Ihren Haushaltszahlen ein Wort zu sagen. Sie haben hier von Zehntelkürzungen gesprochen, und Sie haben das als sehr dramatisch bezeichnet. Ich möchte ganz klar sagen: Es kommt natürlich immer darauf an, wie man eine Sache darstellt. Wenn man Zehntelkürzungen als sehr dramatisch ansieht, dann, meine ich, ist die Sache etwas zu dramatisch dargestellt.
Meine Damen und Herren, seit über zehn Jahren schon wird die Forderung nach einer Verkürzung der Ausbildungszeiten erhoben. Seitdem sind die Ausbildungszeiten aber nicht kürzer, sondern immer länger geworden. Wir haben heute dazu schon viele Argumente gehört. Ich möchte daher aus meiner Sicht nur noch zusammenfassen.Überlange Ausbildungszeiten bringen unsere jungen Leute um die beruflich kreativsten Jahre und benachteiligen sie im internationalen Wettbewerb.
Während in Deutschland im Durchschnitt 22jährige gerade mit dem Studium beginnen, haben ihre englischen, japanischen und amerikanischen Kollegen oft schon den ersten Hochschulabschluß erworben. Bei diesem Zeitvorsprung verliert die anerkannt hohe Qualität deutscher Abschlüsse erheblich an Wert, Herr Kollege Rixe.Die überlange Ausbildungszeit wird zu einem Wettbewerbsnachteil auf dem europäischen Arbeitsmarkt. Daher sind im gesamten Bereich der Bildung eine Konzentration der Inhalte und die Straffung der Arbeit unabdingbar. Das bedeutet eine regelmäßige Überprüfung der Inhalte und eine Konzentration auf das Wesentliche. Auch hier gilt der Spruch: Weniger ist oft mehr.Mit gezielten Leistungsanforderungen und Leistungsanreizen kann die Effizienz zusätzlich gesteigert werden. Organisatorische Mängel sind zu beseitigen. Eine bessere Abstimmung der Stundentafeln und eine engere Verzahnung der Fächer sind notwendig.Weder Schulen noch Hochschulen können von diesen Überlegungen ausgenommen werden, vor allem angesichts der Tatsache, daß immer mehr Schüler eines Altersjahrgangs zum Abitur geführt werden. Wenn 40 % oder gar 50 % eines Altersjahrgangs Abitur machen, dann hat dies zwangsläufig Rückwirkungen auf die Ausbildungsinhalte und Ausbildungsstrukturen, denn der allergrößte Teil dieser Jugendlichen ist nicht an einer wissenschaftlichen, sondern an einer berufsqualifizierenden Ausbildung interessiert.In unserer schnellebigen Zeit kann während der schulischen Ausbildung getrost auf überflüssiges Spezialwissen verzichtet werden. Gefragt sind heute eine umfassende Allgemeinbildung als Voraussetzung für ein lebenslanges Lernen und der Erwerb von Schlüsselqualifikationen.
Ausbildungspläne und Studienordnungen müssen sich mehr an den Erfordernissen der Wirtschaft orientieren. Auch in der Berufsausbildung des dualen Systems stellt sich die Frage, ob mehr Quantität gleichzeitig mehr Qualität bedeutet. Das gilt auch für die Ausdehnung des Schulanteils über zwei Tage hinaus.Das gleiche gilt für ein generelles 10. Hauptschuljahr, Herr Rixe. Ein zusätzliches Schuljahr ist nicht mit mehr Qualität gleichzusetzen, aber dieses 10. Schuljahr verlängert natürlich die Schulzeit und damit wiederum die Ausbildungszeit.Die Frage der überlangen Ausbildungszeiten ist für das deutsche Bildungssystem zum Kardinalproblem geworden. Alle Reformbemühungen sind bis heute gescheitert. Die Bildungspolitik und das gesamte Bildungswesen haben hier eine Bringschuld.
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Maria EichhornSonst könnte der Fall eintreten, daß die Finanzpolitiker dieses Bildungswesen für nicht mehr finanzierbar erklären. Das gilt es mit unser aller Einsatz zu verhindern.
Vizepräsident Helmuth Becker Die Aktuelle Stunde ist beendet.Wir sind am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 11. März 1993, 9 Uhr ein.Die Sitzung ist geschlossen.