Gesamtes Protokol
Guten Morgen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.
Die Sitzung ist eröffnet.
Zu Beginn möchte ich einigen Kollegen nachträglich zum Geburtstag gratulieren: Kollege Willy Brandt feierte am 18. Dezember 1991 seinen 78. Geburtstag, Kollege Otto Graf Lambsdorff am 20. Dezember 1991 seinen 65. Geburtstag, Kollege Hans Gattermann am 24. Dezember 1991 seinen 60. Geburtstag und Kollege Dr. Albert Probst am 29. Dezember 1991 ebenfalls seinen 60. Geburtstag. Ihnen allen spreche ich herzliche Glückwünsche des ganzen Hauses aus.
Ich habe Sie darüber zu unterrichten, daß der Kollege Dr. Ulrich Briefs am 19. Dezember 1991 aus der Gruppe PDS/Linke Liste ausgeschieden ist. Er wird künftig dem Deutschen Bundestag als fraktionsloses Mitglied angehören.
Aus dem Vermittlungsausschuß nach Art. 77 Abs. 2 des Grundgesetzes scheidet der Kollege Dr. Paul Laufs als ordentliches Mitglied aus. Die Fraktion der CDU/CSU schlägt als Nachfolger den Kollegen Bernhard Jagoda vor, der bisher dem Vermittlungsausschuß als stellvertretendes Mitglied angehört hat. Sind Sie damit einverstanden? — Es erhebt sich kein Widerspruch. Damit ist der Kollege Bernhard Jagoda als ordentliches Mitglied im Vermittlungsausschuß bestimmt.
Meine Damen und Herren, interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesordnung um die zweite und dritte Beratung des Gesetzentwurfs zur Änderung der Bundesärzteordnung und weiterer Bundesgesetze — Drucksache 12/1524 — zu erweitern. Der Zusatzpunkt soll ohne Aussprache mit Punkt 3 der Tagesordnung aufgerufen werden.
Außerdem ist interfraktionell vereinbart worden, die Tagesordnungspunkte 3 g, 11 und 13 abzusetzen.
Sind Sie auch damit einverstanden? — Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Die Fraktion der SPD hat fristgerecht beantragt, die heutige Tagesordnung um die erste Beratung des von ihr eingebrachten Gesetzentwurfs zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes zu erweitern.
Wird zu diesem Aufsetzungsantrag das Wort gewünscht? — Das ist der Fall. Der Kollege Dreßler hat das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bundesregierung und Koalitionsfraktionen veranstalten derzeit ein bemerkenswertes Schauspiel.
Wenn die zweitgrößte Fraktion des Hauses die Geschäftsordnung bemühen muß, um zu ihrem parlamentarischen Recht zu kommen und zu bewirken, daß ein von ihr vorgelegter Gesetzentwurf in erster Lesung behandelt wird, offenbart die Mehrheit aus CDU/CSU und FDP, die das bisher verhindert hat und weiter verhindern will,
ein gestörtes Verhältnis zu den Regeln des gesitteten Parlamentarismus.
Parlamentarische Qualität beweist sich nämlich vor allem darin, wie die Mehrheit die Rechte und Anliegen der Minderheit achtet und behandelt.
Unser Anliegen, den Gesetzentwurf der SPD-Fraktion zur Erhöhung des Erstkindergeldes heute endlich in erster Lesung zu behandeln,
nimmt doch nicht eine Entscheidung des Hauses in der Sache vorweg und macht auch nicht aus einer Minderheit eine Mehrheit. Ich frage: Wovor fürchten sich die Koalitionsfraktionen eigentlich, wenn sie durch Verfahrensheckmeck eine Debatte in der Sache verhindern?
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5874 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992
Rudolf DreßlerDie in der Öffentlichkeit von CDU/CSU und FDP erhobene Behauptung, die SPD blockiere die Verbesserung des Familienlastenausgleichs,
wird durch den Schwindel, einen von uns vorgelegten Gesetzentwurf zur Erhöhung des Kindergeldes nicht auf die Tagesordnung zu setzen, entlarvt.
Wahr ist nämlich das Gegenteil — und die Notwendigkeit der heutigen Geschäftsordnungsdebatte beweist das —: CDU/CSU und FDP verhindern mit ihrer Verfahrensblockade im Parlament, daß den Familien schnell geholfen und das Kindergeld schnell erhöht wird.
Aber das ist nicht alles. Wer dem Ganzen auf den Grund gehen will, findet weitere üble Absichten. Das derzeit im Vermittlungsausschuß liegende Steueränderungsgesetz der Koalitionsfraktionen ist ein Musterbeispiel steuerpolitischer Einseitigkeit. Mehrwertsteuererhöhung für alle und Vermögensteuersenkung für wenige — das ist ein weiterer Meilenstein in der Politik der sozialen Ungerechtigkeit der CDU/ CSU und der FDP.
Und nun kommen Sie daher und knüpfen die verfassungsrechtlich gebotene Erhöhung des Familienlastenausgleichs an die Bedingung, zugleich müßten dann auch die steuerpolitischen Grobheiten wie Mehrwertsteuererhöhung und Vermögensteuersenkung von der SPD in Bund und Ländern geschluckt werden. Ich sage Ihnen klipp und klar: Dieses Manöver machen wir nicht mit. Den darin liegenden Versuch einer politischen Erpressung weisen wir zurück.
Wir wollen eine Erhöhung des Kindergeldes, ohne daß den Familien gleichzeitig ein guter Teil davon durch die Mehrwertsteuererhöhung wieder aus der Tasche gezogen wird. Wir wollen eine Erhöhung des Kindergeldes, ohne daß Rentnerinnen und Rentner durch die Mehrwertsteuererhöhung zusätzlich bestraft werden. Wir wollen eine Erhöhung des Kindergeldes, ohne daß die Besitzer des großen Geldes, Graf Lambsdorff, durch die Vermögensteuersenkung dabei ein zusätzliches Geschäft machen.
Das alles geht nur, wenn Sie Ihre Blockade gegen unseren Gesetzentwurf endlich aufgeben. Ich nenne es ein schamloses Spiel mit den Familien, wenn Sie deren berechtigte Anliegen mit denen des großen Geldes verknüpfen, wenn Sie die Kindergeldempfänger gleichsam für die Vermögensteuerzahler politisch in Beugehaft nehmen. Sie gefährden den sozialen Frieden in Deutschland, meine Damen und Herren.
Wir wollen, daß das Erstkindergeld von 50 DM auf 125 DM erhöht wird, und das rückwirkend zum 1. Januar. Die SPD-Fraktion appelliert nochmals an CDU/ CSU und FDP: Machen Sie endlich den Weg frei, machen Sie Schluß damit, Mehrwertsteuererhöhung und Vermögensteuersenkung mit der Verbesserung des Familienlastenausgleichs zu verknüpfen. Stimmen Sie endlich der Aufsetzung unseres Gesetzentwurfs auf die Tagesordnung heute morgen zu.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Heribert Blens.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer den Familien helfen will und wer ihnen schnell helfen will, der muß den Antrag der SPD heute ablehnen.
Er muß statt dessen endlich die Blockade der Sozialdemokraten im Vermittlungsausschuß aufgeben.
Der Deutsche Bundestag hat Anfang Dezember 1991 eine Verbesserung des Familienlastenausgleichs um 7 Milliarden DM beschlossen. Dem hat der Bundesrat nicht zugestimmt und den Vermittlungsausschuß angerufen.
Im Vermittlungsausschuß blockieren Sie die weitere Beratung
und verhindern dadurch, daß diese 7 Milliarden DM den Familien vom 1. Januar 1992 an zugute kommen. Das sind die Tatsachen.
Wenn Sie diese Blockade aufgeben, dann ist den Familien viel schneller, nämlich bis zum 14. Februar, der nächsten Sitzung des Bundesrates, Klarheit zu verschaffen. Das geht dann viel schneller, als Ihren Gesetzentwurf, den Sie jetzt neu eingebracht haben, durch das Parlament zu bringen. Wer schnell helfen will, muß Ihren Antrag heute ablehnen.
Aber das setzt voraus, daß Sie mit Vernunft und Verantwortungsbewußtsein im Vermittlungsverfahren weiter verhandeln,
d. h. die Entscheidung über die Mehrausgaben des Steueränderungsgesetzes 1992 und die Entscheidung über die dafür erforderlichen Mehreinnahmen durch Erhöhung der Mehrwertsteuer zusammenzuhalten. Das Spiel, das Sie vorhaben — die Opposition verteilt die Wohltaten, und die Koalition kann dann sehen, wie das finanziert wird —, spielen Sie nicht mit uns.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5875
Dr. Heribert BlensIch sage Ihnen hier — das gilt für heute, und das gilt für das gesamte Vermittlungsverfahren —: Die beiden Dinge bleiben für uns zusammen.Worum es konkret geht, ist sehr einfach. Ich nenne Ihnen ein paar Zahlen. Die Sozialdemokraten verlangen im Vermittlungsausschuß für die Jahre 1992 bis 1994 Mehrausgaben des Bundes von 64 Milliarden DM. Dann kommt die Frage der Finanzierung. Dabei hören wir von den Sozialdemokraten einen einsamen Solisten aus Niedersachsen, den Finanzminister, der sagt: Die Mehrwertsteuererhöhung ist notwendig. Er ist der einzig Vernünftige, der bei Ihnen den Mut hat, das offen zu sagen. Und dann kommt der Chor der Kanzlerkandidaten. Engholm: Mit den Sozialdemokraten keine Mehrwertsteuererhöhung. Dann kommt der nächste Kanzlerkandidat, Klose: Mit der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion keine Mehrwertsteuererhöhung.
Dann kommt der Kanzlerkandidat Lafontaine: Mit der SPD keine Mehrwertsteuererhöhung. Aber der Listenreiche von der Saar fügt noch etwas hinzu, nämlich das Wörtchen „jetzt". Er sagt: Jetzt keine Mehrwertsteuererhöhung. Dann ist die Frage: Wann denn, wenn nicht jetzt? Da sagt er: Wenn die Harmonisierung der Mehrwertsteuersätze in der EG kommt. Das versteht kein Mensch draußen. Die Leute behalten nur: Die wollen jetzt nicht die Mehrwertsteuererhöhung. Nur Eingeweihte wissen, was gemeint ist.Die EG-Richtlinie liegt auf dem Tisch, den Mindestsatz der Mehrwertsteuer in der EG auf 15 % anzuheben. Über diese Richtlinie wird im April entschieden.
Dann ist das für uns verbindliches, geltendes Recht, das wir umsetzen müssen.
In Klarschrift heißt das, was Lafontaine sagt: Mehrwertsteuererhöhung jetzt nicht, aber im April.
Ich frage Sie: Wie kommt er auf den April? Das will ich Ihnen auch beantworten: Am 5. April 1992 sind Landtagswahlen, und zwar u. a. in Schleswig-Holstein, wo einer Ihrer Kanzlerkandidaten auf dem Präsentierteller steht. Er hat sich in der Sache Mehrwertsteuer auf ein sehr hohes Pferd gesetzt. Er kommt jetzt vor der Wahl nicht mehr davon herunter. Vielleicht danach; denn vorher ist ja der 1. April. Das kann er seinen Wählern sagen.
Meine Damen und Herren, wir werden Ihnen dieses Spiel nicht so einfach machen. Wir werden Finanzierung und Ausgabenentscheidung zusammenhalten. Ich fordere Sie auf: Spielen Sie nicht auf Opposition, die weder hier noch im Bundesrat eine Mehrheit hat. Die kann nämlich einfach fordern und sagen, finanzieren müssen dann die anderen. Sie haben im Bundesrat die Mehrheit. Sie tragen damit auch Verantwortung für das Ganze mit.
Ich fordere Sie auf: Werden Sie dieser Verantwortung gerecht, und stimmen Sie im Vermittlungsausschuß möglichst schnell einem Ergebnis zu, das den Familien gerecht wird und die nötigen und sinnvollen Ausgaben umfaßt, das aber auch die notwendige Finanzierung und damit die Mehrwertsteuererhöhung enthält.Wenn Sie das tun, kommen wir zugunsten der Familien sehr schnell weiter. Aber Ihrem Antrag zu folgen hieße, parteitaktische Spielchen Ihrer Seite auf Kosten der Familien zu unterstützen. Dafür kriegen Sie uns niemals.
Frau Abgeordnete Dr. Ursula Fischer, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich wundere mich darüber, warum man diese Debatte nicht einfach mit der Debatte über den Subventionsbericht verbindet. Dann hätte man unter Umständen auch eine Idee, woher man Geld bekommen könnte.
Für mich ist ohnehin sehr zweifelhaft, warum eine Debatte über Vermögen- und Mehrwertsteuer mit einer Debatte über Kindergeld verknüpft wird.
— Es mag sein, daß ich dabei etwas nicht verstehe. Ich verstehe es an dieser Stelle sogar sehr gerne nicht.
Vermögensteuer spielt für die Bürger in den östlichen Bundesländern mit Sicherheit nicht die Rolle, aber eine schnelle, unkomplizierte und unbürokratische Kindergeldregelung auf alle Fälle. Die 125 DM sind aus meiner Sicht noch zu niedrig. Es gab auch schon andere zahlen.
Ich schlage vor, wir sollten dem Antrag der SPD zustimmen, diesen Entwurf auf die Tagesordnung zu setzen.
Danke.
Herr Kollege Heinz Hübner, ich erteile Ihnen das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben uns schon mehrfach mit der Verbesserung des verfassungsrechtlich gebotenen Familienlastenausgleichs ausführlich befaßt, zuletzt erst bei der Verabschiedung des Steueränderungsgesetzes in verbundener Debatte mit dem Antrag der SPD.Die SPD hat sich mit ihren Vorstellungen im Finanzausschuß und im Plenum nicht durchsetzen können, und das aus guten Gründen, wie sich aus dem Bericht des Finanzausschusses zum Steueränderungsgesetz 1992 ergibt, der ausführlich auf diesen Problembereich eingeht.
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5876 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992
Heinz Werner HübnerNun beschäftigt man sich damit im Vermittlungsausschuß. Es ist also Sache dieses Ausschusses, zu entscheiden und nach Kompromißmöglichkeiten zu suchen. Sie suchen diese anscheinend nicht.Wenn ich die Signale aus den anfänglichen Beratungen im Vermittlungsausschuß jedoch richtig verstanden habe, erscheint dort ein Kompromiß möglich, und zwar im Sinne einer weiteren Aufstockung des Kindergeldes für Erstkinder und einer entsprechenden Regelung des Kinderfreibetrages zur Wahrung möglichst weitgehender Aufkommensneutralität. Ich frage mich also, was der erneute Antrag auf Änderung des Bundeskindergeldgesetzes zum gegenwärtigen Zeitpunkt soll.Das Aufbrechen oder der Versuch des Aufbrechens eines greifbaren Kompromisses bedeutet doch nur — das wurde schon erwähnt —, daß die Familien noch länger auf die einvernehmliche Regelung warten müssen, weil sich die SPD querstellt.Ihre ignorante Selbstdarstellung und Ihre populistische Marktschreierei
sollen dabei überdecken, daß Sie u. a. die Fortführung der Zusatzabgabe zur Lohnsteuer über den 30. Juni dieses Jahres hinaus anstreben, damit Ihr Abkoppelungsgesetz letztendlich finanzierbar wird. Wenn Sie dieses Paket also aufschnüren wollen, dann wird Ihnen der Inhalt um die Ohren fliegen. Niemand kann sagen, wie lange das geordnete Einsammeln dann dauern wird. Warten muß allemal der Bürger. Aber das scheint Sie nicht zu stören.Dieser Antrag bringt nur neue Nuancen, neue Akzente gegenüber den bisherigen Forderungen der SPD. Was ist das für ein Verständnis vom Vermittlungsausschuß, in dem die Problematik zur Zeit behandelt wird? Aufgabe dieses Ausschusses ist es — das wissen Sie genausogut —, vertraulich und in aller Offenheit und Flexibilität die unterschiedlichen Vorstellungen, Forderungen und Wünsche so zur Dekkung zu bringen, daß es zu einem vernünftigen Ausgleich kommt.Durch die permanente Vorabfestlegung der Verhandlungsführer im Vermittlungsausschuß von außen durch politische Entscheidungsgremien und auch aus dem Parlament heraus wird die verfassungsrechtliche Funktion des Vermittlungsausschusses mißachtet.
Es hat den Eindruck, als ob manche den Vermittlungsausschuß nur als Vollzugsorgan ihrer politischen Interessen betrachten. Der Wunsch der SPD, ihren Entwurf zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes auf die Tagesordnung des Plenums zu setzen, ist beredter Ausdruck für diese — ich sagte es schon — den Vermittlungsausschuß mißachtende Haltung.
Hier wird aus parteipolitischem Kalkül und wegenvermeintlicher taktischer Vorteile in Kauf genommen,daß die Partei- und Staatsverdrossenheit bei den Bürgern wächst.
Denn die Bürger haben es schließlich auszubaden, wenn Fronten aufgebaut werden und die längst fällige Verbesserung des Familienlastenausgleichs immer weiter hinausgezögert wird.Was Sache des Vermittlungsausschusses ist, muß Sache dieses Ausschusses bleiben. Für die FDP ist das eine grundlegende verfassungsrechtliche Aussage. Sie wird daher Ihrem Antrag nicht zustimmen.Ich danke Ihnen.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Aufsetzungsantrag der Fraktion der SPD? — Gegenprobe! —
Enthaltungen? — Der Aufsetzungsantrag ist abgelehnt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir kommen jetzt zu einer Reihe von Abstimmungen im vereinfachten Verfahren. Ich bitte daher, eine Situation herzustellen, die es erlaubt, das Abstimmungsverhalten zu erkennen. — Vielen Dank.Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 auf: Überweisung im vereinfachten VerfahrenBeratung der Unterrichtung durch die BundesregierungBericht der Bundesregierung über Umweltradioaktivität und Strahlenbelastung im Jahr 1989— Drucksache 12/69 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für GesundheitAusschuß für Forschung, Technologie und TechnikfolgenabschätzungInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 a bis 3 f, 3h und 3i sowie den zu Beginn der Sitzung aufgesetzten Zusatzpunkt auf:Beratungen ohne Aussprachea) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. September 1985 zwischen der Bundesrepu-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5877
Vizepräsident Helmuth Beckerblik Deutschland und der Argentinischen Republik über den Luftverkehr— Drucksache 12/759 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr
— Drucksache 12/1848 —Berichterstattung: Abgeordneter Ferdi Tillmann
b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 2. November 1987 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Neuseeland über den Luftverkehr— Drucksache 12/938 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr
— Drucksache 12/1849 —Berichterstattung: Abgeordneter Lothar Ibrügger
c) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 8. April 1987 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Venezuela über den Luftverkehr— Drucksache 12/1057 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr
— Drucksache 12/1850 —Berichterstattung: Abgeordneter Ekkehard Gries
d) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 25. April 1989 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika zur Ergänzung des Abkommens vom 7. Juli 1955 über den Luftverkehr— Drucksache 12/1058 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr
— Drucksache 12/1851 —Berichterstattung: Abgeordneter Ferdi Tillmann
e) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 28. Januar 1986 zwischen der BundesrepublikDeutschland und der Gabunischen Republik über den Luftverkehr— Drucksache 12/1258 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr
— Drucksache 12/1852 —Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Ulrich Janzen
f) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Eichgesetzes— Drucksache 12/746 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
— Drucksache 12/1741 —Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Heinrich L. Kolb
h) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag für eine Verordnung des Rates über Konsultationen zwischen Flughäfen und Flughafenbenutzern sowie über Gebührengrundsätze von Flughäfen— Drucksachen 12/210 Nr. 165, 12/1771 —Berichterstattung: Abgeordneter Lothar Ibrüggeri) Beratung derund Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 60 04 Titel 686 82 — Transportkosten für den Abzug der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte aus dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet —— Drucksachen 12/1383, 12/1808 —Berichterstattung:Abgeordnete Adolf Roth Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Helmut Wieczorek (Duisburg)ZP Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Bundesärzteordnung und weiterer Bundesgesetze für Heilberufe— Drucksache 12/1524 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit
— Drucksache 12/1934 —
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5878 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992
Vizepräsident Helmuth BeckerBerichterstattung:Abgeordneter Dr. Hans-Joachim Sopart
Zweite Beratungen und Schlußabstimmungen über die von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwürfe zu Abkommen über den Luftverkehr mit der Argentinischen Republik, mit Neuseeland, der Republik Venezuela, den Vereinigten Staaten von Amerika und der Gabunischen Republik: Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt auf den Drucksachen 12/1848 , 12/1849, 12/1850, 12/1851 (neu) und 12/1852, die Gesetzentwürfe unverändert anzunehmen.Wenn Sie damit einverstanden sind, stimmen wir über diese fünf Gesetzentwürfe gemeinsam ab. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.Ich bitte diejenigen, die den Gesetzentwürfen zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Die Gesetzentwürfe sind einstimmig angenommen.Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Eichgesetzes, Drucksache 12/746. Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt auf Drucksache 12/1741, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist auch dieser Gesetzentwurf einstimmig angenommen.Meine Damen und Herren, wir kommen nunmehr zur Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr zu einem Vorschlag der EG über Konsultationen zwischen Flughäfen und Flughafenbenutzern sowie über Gebührengrundsätze von Flughäfen, Drucksache 12/1771. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.Wir kommen nun zur Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu einer überplanmäßigen Ausgabe. Es handelt sich um Transportkosten für den Abzug der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte, Drucksachen 12/1383 und 12/1808. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung der Bundesärzteordnung und weiterer Bundesgesetze für Heilberufe, Drucksache 12/1524. Der Ausschuß für Gesundheit empfiehlt auf Drucksache 12/1934, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Auch dieser Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:Vereinbarte Debatte zum Bericht der unabhängigen Kommission für die künftigen Aufgaben der BundeswehrDazu liegen je ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP sowie der Fraktion der SPD vor.Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. Ich höre und sehe keinen Widerspruch. — Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem Minister Dr. Gerhard Stoltenberg das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es war ein guter Beschluß, den wir am 7. Dezember 1989 gefaßt haben und der am 18. Juli 1990 umgesetzt wurde: eine unabhängige Kommission für die künftigen Aufgaben der Bundeswehr einzusetzen. Sie hat nach einjähriger Arbeit ihren Abschlußbericht am 24. September 1991 dem Bundeskanzler übergeben. Gleichzeitig wurde der Bericht dem Hohen Haus zur Kenntnis und Beratung übersandt.Die Kommission unterstreicht die gewachsene weltpolitische Verantwortung des vereinten Deutschlands und von daher die Notwendigkeit zur erweiterten Handlungsfähigkeit national wie im Rahmen internationaler Bündnis- und Sicherheitssysteme. Sie stellt heraus, daß eine weiterentwickelte Atlantische Allianz auch in Zukunft die Schlüsselrolle zur Erhaltung europäischer Sicherheit behält.Besondere Beachtung verdienen ihre Empfehlungen, in einem möglichst breiten Konsens der politischen Kräfte die Möglichkeiten zur Mitwirkung der Bundeswehr an internationalen Aktionen zur Friedenssicherung und Behauptung des Völkerrechts zu erweitern, der geplanten Europäischen Politischen Union auch sicherheitspolitische Aufgaben zu übertragen und zu gewährleisten, daß sich deutsche Streitkräfte nach Beschluß des Deutschen Bundestages auch an der ganzen Bandbreite internationaler Einsätze im Rahmen der Charta der Vereinten Nationen beteiligen können. Ich möchte an die SPD appellieren, diese Argumente ernst zu nehmen und endlich die
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5879
Bundesminister Dr. Gerhard Stoltenbergnotwendige klarstellende Verfassungsergänzung zu ermöglichen.
Die Bundesregierung sieht sich in ihrer sicherheitspolitischen Einschätzung und ihrem konzeptionellen Ansatz zur Reform, zur Neuplanung der Bundeswehr durch Analyse und Schlußfolgerungen der Kommission grundsätzlich bestätigt. Der Bericht gibt uns darüber hinaus wertvolle Denkanstöße und Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Ausbildung, Ausrüstung und Organisation der Bundeswehr, die wir in den vergangenen Monaten sorgfältig ausgewertet haben und in unsere weiteren Entscheidungen einbeziehen werden.Ich hoffe auch, daß der Bericht zu der dringend gebotenen Versachlichung der öffentlichen Diskussion über Auftrag, Aufgaben und Ausgestaltung der künftigen Bundeswehr beiträgt
und damit hilft, eine wirklichkeitsfremde Legitimations- und Akzeptanzdebatte zu beenden.Ich möchte noch einmal allen Mitgliedern der Kommission und insbesondere ihrem Vorsitzenden, Herrn Professor Jacobsen, für die geleistete Arbeit Dank und Anerkennung aussprechen.
Sie hat damit einen inhaltsreichen und bedeutsamen Beitrag für die künftige deutsche Politik geleistet.
Dabei mußte sie ihre Aufgabe in der Zeit eines anhaltend dynamischen und tiefgreifenden Wandels in der Welt erfüllen.Meine Damen und Herren, der historische Umbruch der vergangenen zwei Jahre hat das sicherheitspolitische Umfeld auf unserem Kontinent grundlegend verändert. Mit der Beendigung der traditionellen Ost-West-Konfrontation im Herzen Europas und mit dem Ende der kommunistischen Zwangsherrschaft in den Staaten unserer östlichen Nachbarn sind bedeutende Erfolge für Stabilität und Freiheit und auch zukunftsweisende Möglichkeiten der Kooperation verbunden, die wir nutzen wollen. Aber ohne die militärische Absicherung durch die NATO, ohne die alliierten Soldaten und die Soldaten der Bundeswehr hätten wir dies nicht erreicht.
Sie verdienen rückblickend wie heute für ihren vorbildlichen Einsatz Dank und Anerkennung.
Wir wollen die großen Errungenschaften der vergangenen Jahre erhalten und weiter ausbauen. Der Golfkonflikt wie der tragische Bürgerkrieg in Jugoslawien sind jedoch dramatische Beispiele, welche Gefahren für Sicherheit und Frieden aus politischen, ethnischen, religiösen und territorialen Rivalitäten entstehen können, wenn militärische Macht aggressiv gegen Recht und Selbstbestimmung zur gewaltsamen Durchsetzung von Zielen eingesetzt wird. Zu den bitteren Erfahrungen des letzten Jahres gehört, daß Krieg als Mittel der Politik leider weiter möglich bleibt.Kritische Entwicklungen im Nahen Osten, im islamischen Spannungsbogen zwischen Atlantik und Pakistan, die auch uns berühren, können wir für die Zukunft nicht ausschließen. Die Proliferation moderner Waffentechnologie einschließlich Massenvernichtungswaffen
und weitreichender ballistischer Waffenträger schafft zusätzliche Risiken. Die Ergebnisse der Inspektionen der Vereinten Nationen im Irak belegen, wie akut dieses Problem bleibt. Es gewinnt durch die Abwerbung ehemaliger sowjetischer Nuklearwissenschaftler und -techniker in die Dritte Welt, für die es Anzeichen gibt, eine zusätzliche Brisanz.In unserer Zeit nimmt das Verständnis für die erforderliche politische und militärische Sicherheitsvorsorge in Deutschland wieder erkennbar zu. Die Kommission sagt übrigens zu den künftigen Aufgaben deutscher Streitkräfte prägnant und eindeutig — ich zitiere —:Hauptaufgabe und politische Legitimation der Streitkräfte sind und bleiben die Fähigkeit und Bereitschaft zur Verteidigung, das heißt, zum unmittelbaren Schutz der territorialen Unversehrtheit Deutschlands und seiner Verbündeten, ungeachtet der gegenwärtig geringen Wahrscheinlichkeit eines direkten Angriffs. Weder in Europa noch in der Welt ist ein Zustand absehbar, in dem Deutschland seine Interessen ohne Verfügung über militärische Mittel hinreichend wahren kann. Unverändert ist die Fähigkeit zur Verteidigung des Landes an den Grenzen und gegen Angriffe aus der Luft und von See her erforderlich. Die Wahrung der Lufthoheit als Ausdruck der Souveränität Deutschlands ist als weitere neue Aufgabe hinzugetreten. Sie wird durch fliegende Kräfte der Luftverteidigung erfüllt.Meine Damen und Herren, ich unterstreiche dies alles, auch die letzten Sätze.Der mehrfach erhobene Vorwurf der SPD-Opposition, die tiefgreifenden Organisations- und Strukturentscheidungen zur Neugestaltung der Bundeswehr erfolgten ohne eine angemessene neue strategische Konzeption, kann nicht ernsthaft aufrechterhalten werden. — Ich habe das oft gehört, Herr Kolbow, und ich habe manchmal den Eindruck, daß Sie sich die Ohren verstopfen, um alte Vorurteile wiederholen zu können.
Im Mai 1991 haben die Verteidigungsminister der Allianz erste Entscheidungen über die künftige Struktur der Streitkräfte getroffen, vor allem mit der Wei-
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5880 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992
Bundesminister Dr. Gerhard Stoltenbergchenstellung für schnelle Eingreifverbände innerhalb des Bündnisgebietes.Im November 1991 beschlossen die Staats- und Regierungschefs der NATO die Grundzüge des neuen strategischen Konzepts. Im Dezember haben die Verteidigungsminister die wesentlichen Elemente für die künftige militärische Verteidigungsplanung gebilligt.Die Entwicklung im östlichen Europa — es vergeht ja kein Tag ohne dramatische Meldungen — macht vorrangig Unterstützung und Hilfe des Westens für die demokratischen Reformkräfte nötig, um vor allem die wirtschaftliche Erneuerung zu unterstützen. Sie erfordert aber auch geschärftes Problembewußtsein für eine wirksame Krisen- und Risikovorsorge. Deutschland braucht auch in Zukunft im Rahmen des Bündnisses eine militärische Grundvorsorge zur Gewährleistung seiner Sicherheit und seiner vertraglichen Verpflichtungen. Hierzu ist der seit 1990 vorgegebene Friedensumfang von 370 000 Soldaten insbesondere auch im Licht der jüngsten Entwicklungen angemessen.In Anpassung an den grundlegenden sicherheitspolitischen Wandel kann jedoch die Einsatzbereitschaft der Mehrheit unserer für eine umfassende Verteidigung vorgesehenen Verbände im Frieden deutlich gesenkt werden. Hierzu wurde bereits im letzten Frühjahr die Entscheidung getroffen, neben der vollständigen Auflösung ganzer Truppenteile den überwiegenden Teil der Verbände des Heeres sowie Teile der bodengebundenen Luftwaffe und Kräfte der Marine erheblich zu kadern. Damit verbunden sind die Zusammenfassung von Feldheer und Territorialheer und eine Straffung von Kommandobehörden und Stäben, was beträchtliche Rationalisierungseffekte ermöglicht.In konsequenter Umsetzung dieses organisatorischen Neuansatzes wird es im Frieden künftig eine wesentliche Leistung der Truppe und der Basisorganisation sein, die Grundwehrdienstleistenden so auszubilden, daß sie als voll einsatzbereite Reservisten im Falle einer Mobilmachung zur Verfügung stehen, und die geordnete Mobilmachungsfähigkeit zu gewährleisten.Aus den bereits kurz genannten Gründen muß die Bundeswehr nach Ausbildung und Ausrüstung aber auch in der Lage sein, als militärisches Instrument der Politik zur wirksamen und schnellen Krisenbeherrschung beizutragen. Angesichts der künftig deutlich reduzierten kurzfristigen Einsatzbereitschaft der Masse unserer Streitkräfte gewinnt die kurzfristige Herstellung der vollen Einsatzbereitschaft bestimmter Verbände zentrale Bedeutung. Die hierzu erforderlichen Kräfte werden aus den sieben voll präsenten Brigaden des Heeres sowie aus Teilen der Luftwaffe und der Marine kommen. Die entsprechenden Verbände und Einheiten werden schon im Frieden hochpräsent und kurzfristig einsatzbereit zu halten sein. Sie sind zusätzlich in besonderem Maße für nationale und internationale Unterstützungsleistungen zur humanitären und Katastrophenhilfe geeignet. Gerade hier haben Soldaten der Bundeswehr im vergangenenJahr und auch jetzt in der Sowjetunion einen hervorragenden Beitrag geleistet.
Im vergangenen Jahr haben wir nach den Grundsatzentscheidungen zur Führungsorganisation und Struktur der Teilstreitkräfte im April 1991 im August nach langer öffentlicher Debatte die neue Stationierung der Streitkräfte festgelegt. Anfang Dezember wurden die Grundlagen für die Neuorganisation der territorialen Wehrverwaltung und des Rüstungsbereichs gelegt. Entschieden wurde auch über die personelle Verringerung des Bundesministeriums der Verteidigung in den kommenden Jahren um etwa 1 000 Mitarbeiter und die damit verbundene organisatorische Straffung.Meine Damen und Herren, Ende letzter Woche habe ich die Eckdaten des Bundeswehrplans 1993 abschließend gebilligt. Das ist ein Ressortkonzept. Natürlich steht jedes Projekt nachher zur Diskussion im Parlament an.Damit sind gültige Richtlinien für eine geänderte, aber moderne Ausstattung der Bundeswehr gegeben, die dem gewandelten Aufgabenprofil einer neuen Sicherheitslage entsprechen und einen mittelfristig absehbar engen Finanzrahmen des Verteidigungshaushalts in Rechnung stellen.Wir planen Beschaffungsvorhaben von jährlich 9 Milliarden DM, unter Berücksichtigung von Preissteigerungen real nur etwa die Hälfte der Mittel, über die wir Mitte der achtziger Jahre verfügten. So kommen wir gegenüber dem letzten Bundeswehrplan zu einer drastischen Verringerung um fast 44 Milliarden DM. Wir müssen — Herr Kolbow, ich sage das zu Ihrer Pressemeldung — Plan und Plan vergleichen; sonst kommen wir zu irreführenden Schlußfolgerungen.Damit ist allerdings die Untergrenze des Vertretbaren erreicht. Wenn die SPD bei den wichtigsten Investitionen weiterhin Milliardenkürzungen ohne seriöse Begründung fordert, gefährdet sie die Zukunft einer modernen Bundeswehr.
Sie stellt mit ihren Anträgen
— das war schon im Herbst der Fall — vitale Belange der Soldaten und der zivilen Mitarbeiter in Frage, und sie schadet damit den Sicherheitsinteressen unseres Landes.
Einzelne Erfordernisse, insbesondere im Bereich des Lufttransports, sind noch nicht ausreichend berücksichtigt. Planung bleibt jedoch ein dynamischer Prozeß. Natürlich sind gewisse Korrekturen bei den Fortschreibungen der kommenden Jahre zu erwarten.Die Umsetzung der Reformen im Bundeswehralltag hat weitreichende Auswirkungen auf Hunderttau-
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Bundesminister Dr. Gerhard Stoltenbergsende von Soldaten und zivilen Mitarbeitern und auf ihre Familien. Bei der Realisierung dieser Neuorganisation muß deshalb unsere vorrangige Aufmerksamkeit einer sozialverträglichen Gestaltung aller Maßnahmen gelten.
Wir reden über Sicherheit für unser Volk, und wir reden über Menschen. Bestimmte Zahlenspiele, die in der Öffentlichkeit immer wieder angestellt werden, tragen den betroffenen Menschen und der Sache nicht angemessen Rechnung.
Bis 1998 wird der Personalbestand der Zivilbeschäftigten der Bundeswehr insgesamt um etwa 44 000 Stellen auf einen Umfang von etwa 155 000 Beschäftigten verringert werden. Forderungen nach einem weiteren kurzfristigen Abbau sind deshalb unrealistisch. Sie stellen sowohl die Leistungsfähigkeit der Verwaltung als auch die Sozialverträglichkeit der Neuorganisation in Frage.Zu den wichtigsten Aufgaben des neuen Jahres gehört die baldige abschließende Entscheidung über eine grundlegend verbesserte Personalstruktur für Berufs- und Zeitsoldaten. Wir haben im vergangenen Jahr innerhalb der Bundesregierung Einvernehmen über eine wesentliche Verbesserung der Eingruppierung von Offizieren und Unteroffizieren erreicht. Die Koalitionsfraktionen haben sich ebenfalls grundsätzlich für eine bessere Personalstruktur ausgesprochen. Beides ist auch erforderlich, um die Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehr zu erhalten. In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal die Forderung der unabhängigen Kommission unterstreichen, bessere Rahmenbedingungen für die Gewinnung qualifizierten Nachwuchses zu schaffen.Eine weitere bedeutsame Aufgabe wird es sein, eine der veränderten Personalstruktur und den neuen sicherheitspolitischen Bedingungen entsprechende Reservistenkonzeption zu entwickeln, was im ersten Halbjahr geschehen soll. Daneben wird das Ausbildungskonzept der neuen Struktur und Konzeption anzupassen sein.Meine Damen und Herren, diese Bundeswehrreform stellt nicht nur die größte organisatorische Aufgabe seit dem Aufbau der Bundeswehr dar; damit einher geht auch eine grundlegende konzeptionelle Neuorientierung unsere Streitkräfte von einer Präsenzarmee hin zu einer Ausbildungs- und Mobilmachungsarmee mit einer begrenzten Anzahl von schon im Frieden einsatzbereiten Verbänden.Ich glaube, dieses Konzept ist ein ausgewogener und ganzheitlicher Ansatz, um unter gewandelten sicherheitspolitischen und strategischen Bedingungen die Schutzfunktion unserer Bundeswehr in ihrer Hauptaufgabe der Verteidigung zu gewährleisten und daneben neuen und veränderten Anforderungen an die Streitkräfte als Instrument der Politik zu entsprechen. Die Bundeswehr der Zukunft ist weder eine Zwei-Klassen-Armee noch eine nur bedingt einsatzbereite Streitkraft.Mit diesen grundlegenden Entscheidungen ist nunmehr bei aller Dynamik, die Planung immer bedeutet,die gebotene Planungssicherheit für die personellen und organisatorischen Grundlagen geschaffen worden. Dazu gehört auch die Beibehaltung der allgemeinen Wehrpflicht und einer Dauer des Grundwehrdienstes von zwölf Monaten, wie dies die Entscheidung der Bundesregierung vorsieht. Die Kommission hat dies für die vorausschaubare Zukunft ausdrücklich bejaht. Ob die sicherheitspolitischen Entwicklungen in einer ferneren Zukunft einmal weiter veränderte Strukturen für die Bundeswehr begründen, kann heute niemand seriös vorhersagen. Ich empfehle deshalb auch, mit Spekulationen vorsichtig zu sein.
Die schnelle Abfolge und Dichte der politischen Entwicklung in den letzten beiden Jahren hat, wie ich sagte, die Bundeswehr erheblich gefordert. In beeindruckender Weise haben sich Soldaten und zivile Mitarbeiter mit persönlichem Engagement, mit Sachkunde und mit Kreativität dieser Herausforderung gestellt. Diesem vorbildlichen Einsatz zolle ich meinen großen Respekt und Dank; er verdient unser aller Anerkennung.
Die umfassende Reform der Bundeswehr kann aber nicht nur Aufgabe der unmittelbar politisch und militärisch Verantwortlichen und der damit unmittelbar befaßten Soldaten und zivilen Mitarbeiter sein. Sie kann vielmehr nur gelingen, wenn sie von allen politisch und gesellschaftlich verantwortlichen Kräften — bei allen Unterschieden im einzelnen — solidarisch in gemeinsamer Verantwortung mitgetragen wird. Deshalb unterstreiche ich gegen Schluß meiner Rede noch einmal nachdrücklich den Appell der unabhängigen Kommission, der Landesverteidigung und der Bundeswehr als Gemeinschaftsaufgabe von Politik und Gesellschaft im öffentlichen Leben größere Unterstützung zuteil werden zu lassen.Meine Damen und Herren, Wille und Fähigkeit zu einer glaubwürdigen Verteidigung bleiben weiterhin unverzichtbar, im Interesse von Unabhängigkeit, Sicherheit und Bündnisfähigkeit unseres Staates, aber auch im Sinne der kooperativen Gestaltung einer, wie wir hoffen, sicheren und friedlichen Zukunft Europas und einer stabilen internationalen Ordnung. Dazu wollen wir auch künftig mit einer kleineren, aber modernen und leistungsfähigen Bundeswehr unseren Beitrag leisten. Gerade wir als Mitglieder des Deutschen Bundestages haben die Aufgabe, hierzu die Voraussetzungen zu schaffen.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt dem Herrn Abgeordneten Walter Kolbow das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon etwas unüblich, daß in einer vom Parlament vereinbarten Debatte über den Bericht einer von ihm eingesetzten Kommission der Bundesminister der Verteidigung als erster das beurteilende Wort nimmt. Es drängt sich der Eindruck auf, als ob der Minister für die Koalition
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Walter Kolbowspricht, weil die Koalition nicht mehr für den Minister sprechen will.
Meine Damen und Herren, zuerst möchte auch ich — dann werden Sie sicherlich wieder etwas ruhiger und gelassener — der unabhängigen Kommission für die Arbeit, die sie vollbracht hat, den Dank der Sozialdemokratischen Partei und ihrer Fraktion im Deutschen Bundestag abstatten. Wir haben hier nämlich eine gute Arbeit vorgefunden.
Ein Rückblick auf die gewaltigen Veränderungen der sicherheitspolitischen Landschaft seit der Vorlage des Berichts im September macht dies deutlich; Herr Dr. Stoltenberg hat hier zu Recht darauf hingewiesen.Trotz der Tatsache, daß längerfristige Aspekte nur vereinzelt berücksichtigt werden konnten und daß es kaum möglich schien — ich zitiere —, „die Lage Europas am Ende des Jahrhunderts einigermaßen zutreffend einzuschätzen", hat die Kommission diese beachtenswerte Analyse und der Diskussion werte Empfehlungen vorgelegt, die allerdings in verschiedenen Punkten von der SPD nicht mitgetragen werden können. So findet z. B. die Empfehlung, die Einsatzmöglichkeiten von Frauen in der Bundeswehr zu erweitern, nicht unsere Zustimmung.Wie die Minderheitsvoten ausweisen, gab es aber schon in der Kommission selber zu verschiedenen Fragen widerstreitende Auffassungen. Bei allen Entscheidungen über die zukünftigen Aufgaben der Bundeswehr und deren Struktur sollte deshalb ein weitgehender gesellschaftlicher Konsens gesucht werden — hier treffen wir uns —, nicht nur in der Frage von Einsätzen der Streitkräfte außerhalb des NATO- Gebietes, wie im Bericht empfohlen.Meine Damen und Herren, die Entwicklungen in der ehemaligen Sowjetunion Ende letzten Jahres haben die Lage gegenüber September 1991 in der Tat bereits stark verändert. Es gibt keinen monolithischen Block mehr: Nach dem Warschauer Pakt hat sich auch das größte bisher noch vorhandene Imperium selbst aufgelöst. Damit sind zwar gewisse neue Risiken der Atomwaffen-Proliferation verbunden;
die künftige Aufgabenstellung der Bundeswehr bleibt jedoch unberührt. Deshalb stimmt die Feststellung der Kommission, die militärische Sicherheit Deutschlands sei weniger denn je gefährdet, auch weiterhin.Daraus muß die Bundesregierung endlich praktische Konsequenzen ziehen. Sie muß unserer Meinung nach aufhören mit ihrer „Als-ob-Politik": Der Bundeskanzler kündigte in seiner Silvesteransprache an, den größten Teil früher für Rüstung ausgegebener Milliarden nun für die dauerhafte Verankerung von Freiheit, Demokratie und Sozialer Marktwirtschaft überall in Europa einsetzen zu wollen, während der Herr Verteidigungsminister wenige Wochen später verkündete, daß er weiter von einem Plafond des Verteidigungsetats von Jahr für Jahr 50 Milliarden DM bis 2005 ausgehe. „Friedensdividende", Herr Bundesminister der Verteidigung, ist wahrlich nicht Ihr Sprachgebrauch.
Angesichts neuartiger Gefährdungen der Menschheit und des Bedarfs an Hilfen brauchen wir ein erweitertes, ein internationales Verständnis von Sicherheit. Hungerkatastrophen und Elend in den Ländern der Dritten Welt, die gewaltigen Probleme in den neuen Demokratien Mittel- und Osteuropas und in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die ungeheure Verschuldung vieler Entwicklungsländer, Umweltkatastrophen, Flüchtlingsströme und der weitgehend immer noch unkontrollierte Waffenhandel beinhalten Risiken globalen Ausmaßes, gegen die militärische Potentiale nicht helfen. Hier sind Risiken vorhanden, aber sie können mit militärischen Potentialen eben nicht beseitigt werden. Sicherheit ist eben nur noch gemeinsam möglich. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben seit vielen Jahren darauf hingewiesen, daß Sicherheitsprobleme künftig vor allem mit politischen und wirtschaftlichen Mitteln zu lösen sind.
Die umwälzenden Veränderungen in Europa bieten uns heute mehr denn je die Chance, langfristig das Ziel einer stabilen gesamteuropäischen Friedensordnung zu erreichen. Auf dem Weg dorthin gilt es, die positiven Entwicklungen abzusichern, damit die Umgestaltungsprozesse friedlich ablaufen und nicht in praktisch unsteuerbare Konflikte und militärische Auseinandersetzungen umschlagen. In diesem Zusammenhang begrüßen wir, daß eine friedliche Lösung des Jugoslawien-Konflikts endlich möglich erscheint.Nur der Ausbau der KSZE zu einem kollektiven Sicherheitssystem und die Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa mit einer integrierten Außen- und Sicherheitspolitik sowie einer eigenen Verteidigungsidentität — nicht mit einer Renationalisierung der Sicherheitspolitik — können den offenbar drohenden Rückfall in nationalstaatliches Denken und traditionelle Gleichgewichtspolitik mit der Folge neuer Aufrüstung verhindern. Die militärische Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland muß zukünftig im Rahmen dieses kollektiven gesamteuropäischen Sicherheitssystems gewährleistet werden. Schon deshalb bleiben die Bündnisse NATO und WEU sowie unser Beitrag zu ihnen auf absehbare Zeit unverzichtbar. Auch bei uns ist demzufolge jede Tendenz zur Renationalisierung deutscher Streitkräfte abzulehnen
und bleibt die Präsenz amerikanischer Streitkräfte in Deutschland wünschenswert.
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Walter KolbowDas Miteinander anstelle des früheren Gegeneinander in Europa ließe sich am sinnfälligsten in der mittelfristigen Öffnung des westlichen Verteidigungsbündnisses für die neuen Demokratien in Mittel- und Osteuropa dokumentieren. Der nordatlantische Kooperationsrat ist nur ein erster, wenn auch notwendiger Schritt.Meine Damen und Herren, ich wiederhole: Es wäre jetzt Aufgabe der Regierung, endlich die Konsequenzen aus dieser Lage zu ziehen und die Aufgaben der Bundeswehr unter Berücksichtigung der Kommissionsergebnisse neu zu bestimmen. Dies fordern wir Sozialdemokraten seit langem. In dem Bericht heißt es, eine politische Auftragserteilung sei nur in Ansätzen erkennbar. Bitte nehmen Sie auch die Zitate auf, die kritisch mit Ihnen umgehen, Herr Bundesminister, wie auch wir das getan haben.
Darin ist doch eine kaum verhohlene Kritik an Ihnen zu sehen.Die Hardthöhe und die Bundesregierung sind nicht selbst darauf gekommen, eine Kommission einzusetzen, sondern die Bundesregierung mußte sich vom Parlament dazu zwingen lassen, obwohl die SPD in diesem Hause schon seit 1989 eine Wehrstrukturkommission gefordert hat.
Eine solche Kommission hätte zumindest einen Entwurf für die notwendige große Reform liefern können. Der Wehrbeauftragte, unser ehemaliger Kollege Biehle, hat schon vor Monaten die Orientierungslosigkeit der Streitkräfte und dringenden Handlungsbedarf festgestellt. Nicht von Reform, sondern gar von „Neugründung der Streitkräfte" sprechen die Zeitungskommentare.Auch der vorliegende Bericht fordert eine — ich zitiere — „völlig neue Bundeswehr". Es heißt, die jetzige Planung dürfe nicht einfach fortgeschrieben werden. Doch genau das geschieht mit den verabschiedeten Einzelkonzepten: Stationierungskonzept, Konzept für die Wehrverwaltung und Rüstungsplanung.Wir fragen Sie abermals — Sie haben darauf heute nicht antworten können —, auf welcher Basis das eigentlich geschehen soll. Ein außenstehender Betrachter muß den Eindruck haben, meine Damen und Herren, hier sei ein Orchester am Werk, dem die Noten fehlen, und dem Dirigenten sei der Taktstock entfallen.
Entscheidend ist, schrieb am letzten Sonntag Walther Stützle, der ehemalige Leiter des Planungsstabs der Hardthöhe und Direktor des renommierten Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI, im „Berliner Tagesspiegel", daß die Menschen, denen der Staat Waffen anvertraut, zunächst eine klar formulierte Aufgabe haben und zudem gewiß sein dürfen, daß die Regierung für die Soldaten sorgt.Aber vielleicht, Herr Bundesminister, ist es doch so, wie Karl Feldmeyer in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom Montag analysierte, daß nämlich mit der Rüstungsentscheidung vom Wochenende auch die Entscheidung über die Aufgaben der Streitkräfte gefallen ist. Er schlußfolgert jedenfalls: Die Bundeswehr wird künftig aus Truppen bestehen, die für den Einsatz außerhalb Europas ausgerüstet werden, sowie aus Truppen, deren Ausrüstung nicht mehr modernisiert wird und die allein der Landesverteidigung dienen sollen.Meine Damen und Herren, die SPD sieht den Auftrag der Bundeswehr in erster Linie in einer territorialen, weniger materialintensiven Landesverteidigung sowie in präsenten, gut ausgerüsteten Verbänden als Beitrag zu den Bündnissen NATO und WEU, langfristig auch zu einer ausgebauten KSZE als einem gemeinsamen System kollektiver Sicherheit.Nicht zu vergessen ist die wichtige Rolle der Streitkräfte bei der Umsetzung und Verifikation von Rüstungskontrollvereinbarungen sowie beim Abbau von Mißtrauen und bei der Ausgestaltung der Kooperation mit den neuen Demokratien im Osten.Darüber hinaus sollten sich Bundeswehrsoldaten an Friedensmissionen der Vereinten Nationen und an humanitären Einsätzen eines deutschen Friedenscorps beteiligen können. Dies wäre ein Teil neuer Sinnstiftung und exemplarischer Friedensdienst; etwas völlig anderes als das bayerische Muskelspiel à la Kreuth, das den guten deutschen Ruf nur aufs Spiel setzen kann.
Hören Sie doch einmal, was der interessante Kommentar von Herrn Groblirsch im Bayerischen Rundfunk der jüngsten Forderung von Kreuth entgegenhält.
Er sagte: „Streng Konservative neigen dazu, Politik an irrationalen Idealen festzumachen, die erst gar nicht definiert werden müssen, weil sie angeblich von sich aus gelten. Gegen dieses Denken stand der Entwurf ,Bundesrepublik'. Er hat sich bewährt. Das Modell verdient, verteidigt zu werden. Auf jeden Fall bringt es international mehr Ansehen als das gegenwärtig allzu laut zu hörende neue Auftrumpfen" von der rechten Seite unseres politischen Spektrums.
Ich hoffe, der Kollege Kommentator bekommt keinen Ärger mit Herrn Stoiber!Die SPD hat im Interesse internationaler Verantwortung unseres Landes — —
Herr Kollege Kolbow, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Glos? — Bitte sehr.
Herr Kollege Kolbow, ich möchte Sie fragen, ob Sie diese Zitate aus einem Kommentar des Bayerischen Rundfunks deshalb gebracht haben, um diesem Hohen Hause zu bewei-
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Michael Glossen, daß die Anschuldigung der Landes-SPD, dies sei ein schwarzer Sender, nicht stimmt.
Auch in einem schwarzen Sender gibt es Ausnahmen, und ich habe dies deshalb zitiert, Herr Kollege, weil ein wackerer und vor allen Dingen ein weitsichtiger Kommentator eine richtige Schlußfolgerung gezogen hat, die ich Ihnen, da Sie nicht immer Radio hören, nicht vorenthalten wollte.
Meine Damen und Herren, die SPD hat im Interesse — ich sagte das — internationaler Verantwortung unseres Landes schon im September 1991 durch unseren Vorsitzenden Björn Engholm von dieser Stelle aus angeboten, einer Verfassungsänderung zuzustimmen, die den Blauhelmeinsatz im Rahmen von Friedensmissionen der Vereinten Nationen ermöglicht. Blauhelmeinsätze haben sich als wirksames Mittel erwiesen, Kriegshandlungen zu beenden und Waffenstillstände zu sichern. Deutschland kann nicht länger in Krisenregionen der Welt solche Einsätze fordern, ohne bereit zu sein, selbst an ihnen teilzunehmen. Die Einsätze der Bundeswehrhubschrauber im Irak wie von Bundeswehrärzten in Kambodscha und zuvor schon Minenstreitkräfte im Golf bewegen sich aber bisher in einer rechtlichen Grauzone. Hier muß Klarheit geschaffen werden. Die Bundesregierung ist auf das Angebot der SPD von dieser Stelle aus leider nicht eingegangen. Mit einer Politik des Alles oder Nichts will sie über öffentlichen Druck doch noch eine weitergehende Änderung des Grundgesetzes, nämlich den weltweiten Kampfeinsatz — so Sie heute wieder, Herr Stoltenberg — von Bundeswehreinheiten durchsetzen. Damit werden Sie keinen Erfolg haben. Mit uns ist dies nicht zu machen.
Allerdings kommt für uns auch keine Teilnahme von Wehrpflichtigen an Blauhelmmissionen in Frage. Die Begründung der Wehrpflicht liegt in der Verteidigung des eigenen Landes in einer Situation existentieller Bedrohung. Darauf ist auch das Gelöbnis abgestimmt. Dies kann auf ein Bündnis erweitert werden, das gegenseitigen Schutz garantiert. Einsätze außerhalb des NATO-Vertragsgebietes liegen jedoch nicht in diesem Rahmen. Zu Fragen und Problemen der Wehrform wird im übrigen mein Kollege von Bülow nachher in der Debatte noch das Wort nehmen.Wir sind uns der Tatsache bewußt, daß die im Rahmen der NATO jetzt neu geschaffenen Reaktionsstreitkräfte auf Grund ihrer Mobilität und Ausrüstung auch für Einsätze außerhalb des Vertragsgebietes geeignet sind. Deshalb erwarten wir von der Bundesregierung, daß sie unmißverständlich klarstellt, daß im Einklang mit der bisherigen Staatspraxis ohne Grundgesetzänderung keine solchen Einsätze der Bundeswehr stattfinden. Mit der Einrichtung eines wirksamen Friedenscorps, das die für Katastrophenhilfe vorhandenen Ressourcen einschließlich von Teilen der Bundeswehr koordiniert und bündelt, könnte die neue Bundesrepublik ein erstes eigenes, weithinsichtbares Zeichen setzen. Meine Fraktionskollegen Norbert Gansel, Professor Meyer und Hans Wallow haben im Dezember Vorschläge zu beiden Komplexen vorgelegt.Zur Ausfüllung eines veränderten grundgesetzlichen Rahmens für die Streitkräfte, der Blauhelm- und humanitäre Einsätze im Rahmen eines Friedenscorps einschließt, ist die Verabschiedung eines Bundeswehraufgabengesetzes angebracht. Denn unsere Soldaten, die an solchen Missionen teilnehmen, haben Anspruch auf eine saubere, rechtliche Grundlage für ihre Tätigkeit. Der unserer Debatte zugrundeliegende Bericht empfiehlt ebenfalls eine rechtliche Klarstellung. Es zeuge nicht von politischem Einfühlungsvermögen, so jedenfalls schreibt der „General-Anzeiger", daß sich der Verteidigungsminister am Wochenende nur der Materialschlacht gewidmet, aber kaum ein Wort zur Stimmung in der Truppe gesagt habe. Dem ist nichts hinzuzufügen: Die Motivationskrise ist handfest! In der Generaldebatte im Verteidigungsausschuß und bei der Haushaltsdebatte haben wir hier darauf hingewiesen und festgestellt, daß schnell gehandelt werden muß, wenn bleibender Schaden von den deutschen Streitkräften abgewendet werden soll.Die Probleme bei der Anwerbung länger dienender Soldaten sind der beste Beweis dafür.Da an unseren Grenzen nicht mehr mit dem Angriff großer Massenheere und Panzerarmeen — Gott sei Dank — zu rechnen ist, muß die Struktur der Streitkräfte grundlegend geändert werden; die Reduzierung auf 370 000 Soldaten bietet die einmalige Chance, gleichzeitig eine den neuen Aufgaben angemessene und zukunftsweisende Personalstruktur, die Senkung der Personal- und Betriebskosten der Bundeswehr sowie ein neues Rüstungskonzept zu verwirklichen. Diese Gelegenheit darf nicht ungenutzt verstreichen.Im übrigen können wir uns, nachdem die Bundeswehr die neue Struktur hingenommen hat und auch zur Ruhe gekommen ist — mit Planungssicherheit —, eine stärkere Reduzierung der Soll-Stärke vorstellen.Beim Personal bedarf es einer grundlegenden Reform der gegenwärtigen Struktur, einer Reform an Haupt und Gliedern. Der Generalinspekteur spricht zu Recht von einem Umbau, in Teilen sogar von einem Neubau. Wir werden unsere Vorschläge auch zur Änderung des Dienst- und Statusrechts einbringen, um hier flexibler und auch konzeptioneller werden zu können.Wir trauen uns dies zu. Wir messen uns auch an unserem eigenen reformerischen Anspruch. Die Arbeit von Verteidigungsministern wie Helmut Schmidt und Georg Leber ist uns Vorbild. Wir gewinnen unsere Einsichten
— hören Sie zu — aus Erfahrungen, auch aus unseren Irrtümern und Fehlern. Aus diesen Erfahrungen und Erkenntnissen schöpfen wir unsere perspektivische Gestaltungskraft zur Erfüllung der Aufgabe, die Streitkräfte neu zu begründen.
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Walter KolbowTun Sie das auch; dann sind wir in diesem Land ein ganzes Stück weiter, was unsere Soldaten angeht.
Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen. Das Konzept der Inneren Führung, das die Rolle des Soldaten als die eines Staatsbürgers in Uniform definiert, steht mit der Abrüstung vor einer neuen Herausforderung. Wir werden hierbei auch zügig auf die Probleme der inneren Verfassung der Streitkräfte reagieren müssen. Hier sind die seit langem auf der Tagesordnung stehenden Fragen der Mitbestimmung und der gesetzlichen Dienstzeitregelung anzusprechen. Die SPD fordert die Anwendung des Personalvertretungsgesetzes auf alle Zeit- und Berufssoldaten
und auch einen Fortschritt bei der Dienstzeitregelung. Auch für unsere Streitkräfte ist gerade in dieser Zeit gesellschaftliche Normalität gefordert.Sie wehren sich gegen diesen Demokratisierungsprozeß. Damit werden Sie von uns immer auch zusammen mit denen, die sich mit den Soldaten darum kümmern — Bundeswehrverband und Gewerkschaften —, im Deutschen Bundestag gefordert werden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, zu den Rüstungsfragen wird mein Kollege Opel das Wort nehmen. Aber eines ist klar: Diese Streichung von Träumen, diese Problematik, daß Sie Überplanungen, die finanziell überhaupt noch nicht genehmigt waren, zur Streichung vorgesehen haben und damit lediglich bei 550 Millionen DM Kürzungen pro Jahr sind, lassen wir Ihnen, Herr Bundesminister, nicht durchgehen. Für uns ist dieser Verteidigungshaushalt in der Tat kein Steinbruch, aber es muß Schluß sein mit unbezahlbaren Waffensystemen wie dem Jäger 90.
Wir haben Ihnen vorzuhalten — ich fasse dies kurz zusammen —, daß Sie aus der veränderten Lage nicht die notwendigen Folgerungen gezogen haben. Sie waren nicht imstande, einen Antrag zur Änderung des Grundgesetzes einzubringen, der den Einsatz der Bundeswehr in friedenserhaltenden Blauhelmaktionen der Vereinten Nationen sowie zur humanitären Hilfe ermöglicht. Sie waren nicht imstande, den Auftrag der Bundeswehr neu zu definieren. Sie waren nicht imstande, dem Verfall der Motivation in den Streitkräften gegenzusteuern.Deswegen wollen wir Sie mit unserem Entschließungsantrag rügen. Stimmen Sie diesem Antrag, indem Sie über Ihren Schatten springen, zu.
Meine Damen und Herren, was militärische Gewalt bedeutet und anrichtet, haben wir in Europa bitter erfahren. Die Bürgerkriege, die wir in Europa gegeneinander geführt haben, die entsetzlichen Weltkriege haben uns an den Rand des Abgrunds getrieben. Jetzt bietet sich uns eine neue Chance. Nutzen wir dabei auch unsere Bundeswehr mit ihren von uns bestimmten künftigen Aufgaben weiter als einen Beitrag zum Frieden.Mit dem Dank an unsere Soldaten sollten wir mit Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß an diese große reformerische Aufgabe herangehen.
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist Herr Abgeordneter Benno Zierer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen! Meine Herren! Auch ich möchte der Kommission für ihre ausgezeichnete Arbeit einleitend sehr herzlich danken.Wenn der Kollege Kolbow allerdings glaubt, er müsse hier Versäumnisse der Bundesregierung anmahnen — es ist zwar nicht gerechtfertigt, aber es gehört zum Handwerk der Opposition —, dann macht er es sich etwas allzu einfach. Schon jetzt möchte ich sagen, daß Ihr Entschließungsantrag, der Entschließungsantrag der SPD, in diesem Hause keine Mehrheit finden wird.
Vorweg möchte ich sagen: Ich bejahe die allgemeine Wehrpflicht als Qualitätsmerkmal unserer Demokratie. Die Wehrpflicht ist, wie Theodor Heuss sagte, „das legitime Kind unserer Demokratie". Und noch eines: Das Ansehen unserer Bundeswehr ist höher anzusetzen als das jeder bisherigen deutschen Armee.
Aber angesichts der neuen weltpolitischen Lage —Wegfall der Konfrontation mit dem Osten, Zerfall des Kommunismus — geht die Begründung für die derzeitige Struktur unserer Bundeswehr als Wehrpflichtarmee allmählich zum großen Teil verloren. Die Aufgaben haben sich geändert; sie werden sich auch weiter ändern.Ich bin der Kommission dankbar, daß sie unmißverständlich sagt: Die allgemeine Wehrpflicht ist keine „Glaubenssache" und nur als Übergangslösung zu sehen. — Daher müssen wir uns auch der Frage einer Freiwilligenarmee stellen — und das jetzt und nicht erst in fünf oder sechs Jahren.Tatsache ist auch, daß die Entwicklung in Europa in Richtung gemeinsamer Sicherheitsstruktur, multinationaler europäischer Streitkräfte läuft mit Soldaten, die mit den kompliziertesten Geräten der modernen Waffenelektronik umgehen können und umgehen müssen. Dabei ergibt sich die Frage: Sind diese Aufgaben mit einer zwölf- oder neunmonatigen Wehrpflicht noch erfüllbar? Sind sie verantwortbar, auch außerhalb?Meine Damen, meine Herren, wir sind uns im klaren, daß sich militärische Einsätze außerhalb unserer Grenzen künftig nicht vermeiden lassen.
Ich zitiere aus dem Entschließungsantrag der SPD:Die gewachsene politische Verantwortung desvereinten Deutschland darf nicht zu weltweiten
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Benno Zierermilitärischen Einsätzen der Bundeswehr führen,Dazu darf ich feststellen: Die internationale Völkergemeinschaft erwartet von Deutschland mehr außenpolitisches Engagement als nur die Beteiligung an „Blauhelm"-Einheiten und Schecks, lieber Kollege Kolbow.
„Blauhelme" haben auch die Fidschi-Inseln mit ihren 700 000 Einwohnern gestellt. Deren Sozialprodukt liegt bei 1 800 DM, das der Bundesrepublik Deutschland bei 18 000 DM pro Kopf und Jahr. Ich will damit sagen: Wir haben die Pflicht, künftig auch international Farbe zu bekennen.
Es ist eine Tatsache: Die allgemeine Wehrpflicht wird von den Bürgern heute nicht mehr als notwendig und sinnvoll angesehen. Die Zahlen der Kriegsdienstverweigerer sprechen eine deutliche Sprache. Über 150 000 Anträge im vergangenen Jahr — das ist ein trauriger Rekord. Das müssen wir als Politiker zur Kenntnis nehmen und zum Teil auch mit verantworten.
Es stellt sich die Frage: Kann man heute noch von einem positiven Image unserer Armee sprechen?
Ich denke nur an die Zeit nach dem Golfkrieg.
Ich habe über Verantwortung von uns Politikern, von uns allen gesprochen. Dabei denke ich auch an die Erfindung des sogenannten Heimschläfers, der um 17 Uhr als Zivilist die Kaserne verläßt und sie um 1 Uhr morgens wieder betritt.Erlauben Sie abschließend ein Wort zur Wehrgerechtigkeit. Die Kommission stellt hierzu fest: Wehrgerechtigkeit bedeutet Gleichbehandlung aller Wehrpflichtigen. — Tatsache ist aber: Von drei Wehrpflichtigen muß nur einer die Uniform anziehen. Bei der Reduzierung auf 370 000 wird nur noch einer von vier Wehrpflichtigen eingezogen werden.Natürlich darf auch der Zivildienst, an den sich unsere Wohlfahrtsgesellschaft und unsere Wohlfahrtsverbände so gut gewöhnt haben, nicht verlorengehen. Aber ein Drittel der heranstehenden Jugend leistet weder Wehrdienst noch Ersatzdienst. Deshalb erlaube ich mir auch auf die Gefahr hin, in ein Wespennest zu stechen, den Hinweis auf eine allgemeine Dienstpflicht, und das sowohl für Männer als auch für Frauen,
weil damit die oft angeprangerte Ungleichheit von Frau und Mann beseitigt wäre.
Die Zeiten seit 1955 haben sich geändert. Die Empfehlungen der Expertenkommission, auch an den Aufbau einer Freiwilligenarmee zu denken, sind ernst zu nehmen. Deshalb sage ich abschließend: Fest steht eines: Die Wehrpflichtarmee ist ein Auslaufmodell. Sie wird das Jahr 2000 bestimmt nicht erreichen.Vielen Dank.
Ich erteile der Frau Abgeordneten Andrea Lederer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hören Sie mal zu! Dann kriegen Sie mit, wozu ich rede.Ich gehe sogleich auf meinen Vorredner ein. Erstens. Gleichberechtigung in militärischen Fragen? Nein; danke! Ich schlage vor, die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen in dem Sinn herzustellen, daß Sie die richtigen Schlußfolgerungen ziehen. Damit komme ich — zweitens — zu einer aus meiner Sicht völlig irren Verknüpfung: Die Verweigererzahlen sind doch nicht deswegen in die Höhe geschnellt, weil diese jungen Männer Lust gehabt hätten, in den Golfkrieg zu ziehen. Was soll denn eine solche Schlußfolgerung?Ich komme zum Thema.
Exakt ein Jahr nach dem Beginn des Golfkriegs durch die USA findet hier heute eine Debatte über die Erweiterung des militärischen Handlungsspielraums der Bundesrepublik statt. Ich gratuliere zu diesem sensiblen Timing.Zu etwas anderem, was in den letzten Tagen und Wochen so sehr verlautbart wurde, gratuliere ich nicht, sondern kündige ich unseren Widerstand und hoffentlich den Widerstand aller friedenspolitisch engagierten Menschen in diesem Land an.
So wie der NATO ihr Feindbild abhanden gekommen ist und sie in Rom und andernorts eine neue Begründung für ihre künftige militärische Präsenz in Europa sucht, so ähnlich stellt sich das für die Bundeswehr dar. Ihre erklärte Aufgabenbestimmung seit ihrer Gründung war maßgeblich durch die Ost-West-Konfrontation definiert. Daß wir schon länger angenommen haben, daß auch ohne diesen Konflikt die deutschen Ambitionen, militärisch voll handlungsfähig zu sein, irgendwann in die Realität umgesetzt werden sollen, ändert daran nichts.Folgt man den Begründungen der letzten Jahre für die Bundeswehr, so ist sie überflüssig. Die Antwort der
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Andrea LedererKommission wie auch der Bundesregierung ist aber nicht der Vorschlag drastischer Abrüstung, sondern die Suche nach der Erweiterung des militärischen Handlungsspielraums. Das Schlüpfen in die Weltmachtrolle will gegenüber der Bevölkerung legitimiert sein. Und wenn schon mit gutem Grund ein Aufschrei durch die Lande ging, als die Bundesregierung während des Golfkriegs Soldaten in die Türkei entsandte, und die Verweigererzahlen deswegen in die Höhe schnellten, so zeigt das, daß diese neue Rolle von großen Teilen der Bevölkerung nicht geteilt wird. Genau damit haben Sie Probleme, und das zum Glück.Deutlich wird die politische Intention des heute vorgelegten Berichts gleich zu Beginn. Als Prämisse wird dort festgestellt: „Das Grundgesetz erlaubt der Bundesrepublik Deutschland, auf allen genannten Feldern politisch zu handeln, gegebenenfalls auch unter Mitwirkung ihrer Streitkräfte."
— Ich habe aus der „Einführung" zitiert. — Als ob es nicht einen manifesten verfassungsrechtlichen und politischen Streit darüber gäbe, wird eine diesbezügliche Grundgesetzänderung unter dem Stichwort „Breiter politischer Konsens " behandelt. Das heißt einfach nichts anderes als: Beruhigungspillen für die Bevölkerung, Einbindung der SPD in eine heimliche große Koalition und Vorantreiben einer weiteren Militarisierung der deutschen Außenpolitik.Eine solche Prämisse ist unseriös und vor allem in höchstem Maß besorgniserregend. Das westliche Militärbündnis könnte feierlich die eigene Auflösung erklären, da der Grund seiner Existenz entfallen ist. Von wem eigentlich werden die NATO-Staaten bedroht, wenn die GUS und andere osteuropäische Staaten lieber heute als morgen Mitglied der NATO werden wollen?Diese Entwicklung macht doch deutlich, daß ein Militärbündnis nicht das Kooperationsgremium sein kann, in dem künftig Sicherheitspolitik verhandelt wird. Wenn aber die Bedrohung fehlt, dann ist Ihrerseits eben die Rede von künftig unwägbaren Risiken, worunter ethnische Konflikte, Migrationsbewegungen und der islamische Fundamentalismus fallen sollen. Flüchtlinge lassen sich nicht von Panzern aufhalten, und der islamische Fundamentalismus soll offenkundig in Ermangelung anderer Bedrohungen die Erbfolge des Ostens antreten.
Nein, es ist nicht die Bedrohung von außen, die NATO soll wohl künftig vor allen Dingen den Charakter eines Militärpakts des reichen Nordens gegen den armen Süden statt des freien Westens gegen den kommunistischen Osten annehmen, und sie wird sich weiterhin als Ordnungsmacht für den unruhigen Osten von der Neiße bis zum Ural bereithalten. Die NATO also als eine Art Versicherung gegen Risiken aller Art, das wollen Sie suggerieren — nur, daß der bekannte Werbeslogan „Hoffentlich Allianz-versichert" nicht darüber hinwegtäuschen kann, daß die Lebensversicherung sowenig vor dem Tod schützt wie das Militär Krieg verhindert.Meine Damen und Herren, was hindert eigentlich die Bundesrepublik daran, feierlich zu erklären, daß deutsche Soldaten nach zwei verheerenden Weltkriegen auf fremdem Territorium gar nichts mehr zu suchen haben? Die Antwort ist einfach. Die Logik der Bundesregierung ist, nach der deutschen Einheit flugs in die weltpolitische Verantwortung zu schlüpfen. Eine Nummer kleiner geht es hier offenkundig nicht. Wenn im Ausland die Stimmen laut werden, die eine Zurückhaltung des Riesen BRD fordern, dann gibt es hierzulande die Appelle zur Gelassenheit, in der sicheren Ahnung, die ökonomische Macht der Bundesrepublik werde auf Dauer auch militärisches Mitmischen nicht streitig machen können.Natürlich ist noch viel offen in dieser Entwicklung. Aber allein schon die Rüstungsplanungen für das nächste Jahrzehnt lassen die Entschlossenheit erkennen, mit der die Bundesregierung an die auch militärische „Normalisierung" der Rolle der Bundesrepublik herangeht.Es fällt mittlerweile schon schwer, sich zu den Streitkräfte- und Rüstungsplanungen des Verteidigungsministeriums überhaupt noch zu äußern.
— Ich wußte, daß dieser unwahrscheinlich intelligente Zwischenruf an dieser Stelle kommen mußte.In den nächsten 30 Jahren sollen die unproduktiven Verteidigungsausgaben bei 50 Milliarden DM jährlich liegen. Reduziert wird nur, wo sich dies förmlich aufdrängt, weil einfach das östliche Feindbild verschwunden ist. Nicht einmal zur Streichung des Wahnsinnsprojekts Jäger 90 konnten Sie sich durchringen — und dies, obwohl sich langsam sogar Stimmen aus dem Regierungslager dagegen vernehmen lassen. Es wird vor allem auf die außerparlamentarischen Aktivitäten ankommen — da hoffe ich wirklich auch auf Ihre Parteibasis —, um zu verhindern, daß dieser Vogel überhaupt jemals das Licht der Welt erblickt.Nein, statt uns mit ein paar kosmetischen Kürzungsmaßnahmen abspeisen zu wollen, wäre eine Generalinventur nötig. Jede solide Firma entledigt sich ihrer hohen Lagerbestände und Ladenhüter. Das Unternehmen Bundeswehr sollte hiervon regen Gebrauch machen, freilich mit dem Unterschied, daß auf neue Artikel dieser Branche getrost verzichtet werden kann und vor allem nicht die ausgesonderten Teile in alle Welt, egal, ob dort Krieg und Unterdrückung herrschen, verscherbelt werden, so wie Sie es mit den NVA-Waffen betreiben. Wir empfehlen Ihnen zur Beratung die Treuhandanstalt in Berlin mit ihrem reichen Erfahrungsschatz in Sachen Rationalisierung und Stillegung.Trotz der nur noch kurzen Redezeit muß ich allerdings auf die Vorschläge der SPD, die vor zwei Tagen aus der Presse bekanntgeworden sind, zu sprechen kommen. Was Oskar Lafontaine vorgeschlagen hat, ist nicht nur die faktische Ausdehnung des NATO- Vertragsgebiets gen Osten, sondern auch die Ermöglichung des Einsatzes deutscher Soldaten dort; denn was sonst sollen die vorgeschlagenen Sicherheitsgarantien für die GUS-Staaten, wenn dies nicht gleich-
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Andrea Ledererzeitig bedeutet, daß im Ernstfall die NATO-Vertragspartner die Sicherheit militärisch leisten? Soll nicht für die ehemalige Sowjetunion das gelten, was Sie hinsichtlich Jugoslawiens gesagt haben, daß deutsche Soldaten dort nichts zu suchen haben? Und welche Infamie steckt eigentlich in dem Vorschlag, die so dringend benötigte Wirtschaftshilfe für die GUS-Staaten mit einem Junktim an die Abrüstung zu koppeln?Wir sind sehr für vollständige Abrüstung aller taktischen und strategischen Atomwaffen und aller ABC- Waffen und, weit darüber hinaus, die Verankerung eines Verbots derselben in der Verfassung. Aber eben nicht nur im Osten, sondern vor allem auch im überhaupt nicht bedrohten Westen ist das nötig.Ich hatte Sie in meiner Rede zum Verteidigungshaushalt gefragt, ob zutrifft, was Herr Engholm sagt, nämlich daß die Stimmung in der SPD zugunsten eines Ja zu UNO-Kampfeinsätzen wachse. Der Zuruf von der SPD lautete, im Protokoll vermerkt, „Quatsch" . Der Zuruf von der FDP war: „Es ist so! " Jetzt erklärt Björn Engholm, die Blauhelme seien ein erster Schritt. Die FDP scheint nicht nur recht gehabt zu haben,
sondern seitens der SPD-Führung wird noch nicht einmal ein Jahr nach ihrem Parteitagsbeschluß an dessen Revision gearbeitet. Was uns als Bremse militärischer Pläne der CDU/CSU verkauft wurde, entpuppt sich nämlich hier als das, was die Friedensbewegung immer prognostiziert hatte: als Einfallstor für Schlimmeres. Genau auf dieser Linie liegt leider auch Ihr Entschließungsantrag heute.Die PDS/Linke Liste lehnt eine Grundgesetzänderung ab. Gefragt sind nicht deutsche Soldaten in aller Welt, sondern eine Außenpolitik, die ausschließlich auf radikale weltweite Abrüstung drängt und vor allem bei sich zu Hause anfängt. Dazu brauchen wir keine NATO und keine WEU. Wir brauchen die Fortentwicklung des KSZE-Prozesses und andere Formen nichtmilitärischer Kooperation. Weltpolitische Verantwortung besteht nicht darin, daß unsere Bundeswehr gut gerüstet marschieren kann, wie Minister Stoltenberg verlautbaren ließ. Weltpolitische Verantwortung heißt z. B., in der Verfassung auf Herstellung und Einsatz von ABC-Waffen zu verzichten, Rüstungsexporte verfassungsrechtlich zu verbieten, und zwar auch unter den bis zu den Zähnen bewaffneten NATO-Staaten, radikale Abrüstungsschritte auch in personellen Sektoren zu leisten, und zwar nicht nur, weil man die Bundeswehr kleiner, aber flexibler in die Wüste schicken will, sondern als wirklich ernsthaften Beitrag zur Abrüstung. Eine Grundgesetzänderung ist ausschließlich deshalb überflüssig, weil es Einsätze deutscher Soldaten nicht geben darf.Ich wünsche mir, daß Sie in diesem Sinne den Willen der Bevölkerung zu spüren bekommen und daß wir bei unserem Widerstand gegen die Politik der Bundesregierung auch auf möglichst viele Menschen aus der SPD treffen werden.Ich danke Ihnen.
Ich erteile jetzt das Wort dem Herrn Abgeordneten Günther Nolting.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Bericht der unabhängigen Kommission für die künftigen Aufgaben der Bundeswehr liefert eine grundlegende Bestandsaufnahme der Situation der Bundeswehr und eine Fülle von Empfehlungen für unsere künftige Sicherheitspolitik. Die FDP-Bundestagsfraktion bedankt sich für diese Arbeit nachdrücklich bei den Mitgliedern der Kommission, insbesondere bei ihrem Vorsitzenden, Herrn Professor Jacobsen.
Ich möchte an dieser Stelle festhalten: Diese Kommission war notwendig, und es war gut, daß die FDP diese Kommission gegen manche Widerstände hat durchsetzen können.
Meine Damen und Herren, die FDP-Bundestagsfraktion hat volles Verständnis dafür, daß angesichts der Dynamik der außenpolitischen Lage eine detaillierte und abschließende Empfehlung der Kommission bezüglich der Einbindung der Bundeswehr in zukünftige sicherheitspolitische Strukturen in Europa nicht möglich war. Wir begrüßen aber die geäußerten Forderungen nach sicherheits- und verteidigungspolitischer Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland im nationalen und internationalen Rahmen sowie nach einer Sicherstellung der Bündnis- und Integrationsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland über NATO-Verpflichtungen hinaus.
Die Kommission hat damit eindeutig deutlich gemacht, daß die Bundeswehr an internationalen Einsätzen im Rahmen der UN-Charta beteiligt werden sollte. Das ist eine Bestätigung für die Forderungen der FDP. Wir haben bereits im Mai letzten Jahres entsprechende Beschlüsse gefaßt. Hier wende ich mich ausdrücklich an die SPD, die in dieser Frage offensichtlich noch nicht so weit ist: Verschließen Sie sich diesem Votum der Kommission nicht. Stimmen Sie einer Grundgesetzänderung zu. Lösen Sie sich auch in dieser Frage aus Ihrer außen- und sicherheitspolitischen Isolation.
Sie müssen natürlich vorher klären, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, welcher Kanzlerkandidat in dieser Frage das Sagen hat.
Herr Kollege Kolbow, es geht hier nicht um kriegslüsterne Einsätze der Bundeswehr, wie Sie es darzustellen versucht haben. Es geht um Einsätze zur Friedenserhaltung, zur Friedenssicherung, aber auch zur Friedensherstellung. Das sollten Sie in Ihre weitere Diskussion einbeziehen.
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Günther Friedrich NoltingBei der Frage, welche Soldaten an solchen internationalen Einsätzen beteiligt sein sollten, hat sich die Kommission leider nicht einigen können. Ihr Minimalkonsens lautet:Dies kann Wehrpflichtige einschließen.Diese Frage muß also weiter diskutiert werden. Ich trete dafür ein, auch Wehrpflichtige zu solchen Einsätzen mitzunehmen. Ich plädiere allerdings dafür, eine Einverständniserklärung bei allen betroffenen Soldaten einzuführen, also auch bei Längerdienenden, wenn sie in die entsprechenden Einheiten der Bundeswehr aufgenommen werden wollen. Ich will darauf hinweisen, Herr Kollege, daß es ähnliche Regelungen heute bereits bei den Luftlandeeinheiten gibt. Das könnte man also ohne weiteres übertragen.In der Frage der Wehrpflicht hat sich die Kommission mittelfristig für die Beibehaltung der Wehrpflicht von 12 Monaten ausgesprochen, langfristig dagegen gibt sie kein Votum ab. Bei weiterer Reduzierung der Bundeswehr solle aber die Option einer Freiwilligenarmee ernsthaft geprüft werden.Insgesamt, liebe Kolleginnen und Kollegen, besteht hier kein Entscheidungsbedarf. Aber die Frage der Wehrgerechtigkeit wird immer drängender. In der FDP wird derzeit intensiv über die Alternativen der Wehrpflicht, der allgemeinen Dienstpflicht und der Freiwilligenarmee diskutiert. Wir sind entschlossen, auf einem unserer nächsten Bundesparteitage hierzu eine Entscheidung zu fällen.Meine Damen und Herren, die Kommission empfiehlt weiter, die Streitkräfte über den Sanitätsdienst hinaus für Frauen zu öffnen.
Dies ist eine eindrucksvolle Bestätigung der Forderung der FDP. Wir fordern bereits seit etlichen Jahren eine Öffnung der Bundeswehr für einen freiwilligen Dienst von Frauen auch zum Dienst mit der Waffe. Entscheidend für die Kommission war, Frau Kollegin, daß berufliche Qualifzierungschancen in der Bundeswehr den Frauen nicht vorenthalten werden dürfen. Wir halten dies für ein wichtiges Argument. Wir haben hier einen Bereich, in dem wir den Frauen eine Gleichberechtigung verweigern. Dafür gibt es überhaupt keinen Grund.
Ich fordere auch hier insbesondere die SPD auf, diese Debatte ideologiefrei zu führen. Die Presseerklärungen der SPD zu dieser Frage zeichnen sich durch erschreckende Einseitigkeit aus. Ich frage die SPD: Mit welchem Recht wollen Sie eigentlich einer jungen Frau, die in der Bundeswehr Dienst leisten will, dieses verbieten. Auch hier ist eine Grundgesetzänderung nötig. Auch hier verweigert die SPD die Mitwirkung bei den notwendigen Schritten.
Meine Damen und Herren, die Kommission weist auf die Dringlichkeit einer neuen Reservistenkonzeption hin, nach der die Soldaten bedarfsgerecht ausgebildet werden. Die FDP fordert seit langem, dieseKonzeption vorzulegen. Wir müssen auch den Reservisten eine Perspektive aufzeigen.
Fragen der Akzeptanz hat die Kommission aufgenommen und dazu viele gute Vorschläge gemacht. Über Aufgaben der Bundeswehr muß auch in der Schule neutral informiert werden. Leider ist dies nicht immer der Fall. Wehrpflichtige müssen auch vor Beginn ihres Dienstes mehr über ihre Aufgaben wissen. Auch die Bildungsarbeit der Parteien muß den Sinn des Wehrdienstes vermitteln.Meine Damen und Herren, für die Attraktivität des Berufs des Soldaten mahnt die Kommission eine größere Führerdichte an, ein altes Anliegen der FDP, das nun im Zuge der Verringerung der Bundeswehr auf 370 000 Mann verwirklicht werden kann. Das Personalstrukturmodell 370 muß jetzt endlich umgesetzt werden. Wir sind bereit dazu.
Meine Damen und Herren, wenn wir in den aufgezeigten Bereichen nicht weiterkommen, kann die Bundeswehr schon sehr kurzfristig ihren Bedarf an freiwilligen Bewerbern nicht mehr decken.
Die FDP-Fraktion ist bereit, die intensiven Bemühungen des Verteidigungsministers zu unterstützen.Schließlich fordert der Bericht auch bessere Laufbahn- und Aufstiegschancen. Auch dies kann mit der Umsetzung des Personalstrukturmodells 370 erreicht werden.Meine Damen und Herren, die Kommission hat eine Vielzahl von bedenkenswerten Vorschlägen gemacht. Wir werden auch in der Zukunft darauf zurückgreifen und die Diskussion fortsetzen. Im übrigen kündige ich für die FDP an, daß wir es für möglich halten, zu gegebener Zeit auf der Grundlage des vorliegenden Berichts Folgegutachten in Auftrag zu geben.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich freue mich, daß sich die SPD zumindest in Ansätzen bemüht — das ging aus dem Redebeitrag des Kollegen Kolbow hervor —, mit uns den Konsens zu finden. Herr Kollege Kolbow, wenn das Zeichen dafür der gelbe Pullover sein sollte, den Sie heute tragen,
bin ich gern bereit, ein paar weitere gelbe Pullover für die SPD zu spenden. Ich hoffe, daß Ihre Vorstellungen, Herr Kollege Kolbow, dann in Ihrer Fraktion Mehrheitsmeinung sein werden.Liebe Frau Kollegin Lederer, ein letzter Satz noch zu Ihnen: Nicht die Amerikaner haben den Golfkrieg begonnen, sondern der Irak durch die Besetzung Kuwaits Anfang August 1990.
Die Alliierten haben sich in dieser Region für denFrieden eingesetzt, und dies auf der Grundlage von
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Günther Friedrich NoltingUN-Resolutionen. Dies sollten Sie nach eineinhalb Jahren endlich zur Kenntnis nehmen.Sie haben hier für die SED-Nachfolgeorganisation gesprochen. Ihre Partei hatte früher nur Feindbilder. Dies haben Sie bis heute — auch hier wieder — nicht ablegen können. Sie sollten Ihre Rede vielleicht noch einmal überprüfen.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort dem Abgeordneten Andreas von Bülow.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Rahmenbedingungen der Sicherheitspolitik haben sich dramatisch verändert, wie wir alle wissen. Die Kommission hat die dynamischen Elemente dieser veränderten Situation skizziert und Lösungsvorschläge erarbeitet. Wie wir alle sehen, gibt es noch Kriege innerhalb und außerhalb Europas: Iran-Irak, Golfkrieg, Jugoslawien sind Beispiele. Von daher ist es völlig klar, daß wir als Europäer, als Deutsche eine verläßliche militärische Restsicherung im Verbund der europäischen Nationen brauchen.Aber auf der anderen Seite gibt es im Augenblick die Chance zur Generalüberholung der Bundeswehr. Wir sind kein Frontstaat mehr. Wir haben Freunde vom Atlantik nicht nur bis zum Ural; es geht bis zum Pazifik. Die NATO bekommt die Aufgabe einer Brandwache am erloschenen Vulkan. Wir stehen mitten in der Gestaltung einer neuen europäischen Friedensordnung mit den Elementen NATO, KSZE, vielleicht auch WEU, in wechselnder Gewichtung. Wir sollten uns hüten, insbesondere als Deutsche, neue Gefährdungen zu erfinden, nur um Apparaten Fortbestand zu garantieren.
Sie können reden, wie Sie wollen: Das versprochene Wirtschaftswunder in den neuen Bundesländern findet so nicht statt. Die Prioritäten deutscher Politik liegen deshalb auf zehn bis zwanzig Jahre völlig fest: Wir brauchen die Friedensdividende zum Aufbau der neuen Bundesländer; wir brauchen die Friedensdividende auch zum Aufbau Osteuropas. Dort liegt die Verantwortung der Europäer, insbesondere der Deutschen, nicht im Dschungel oder den Wüsten alter Kolonialgebiete.Unsere Aufgabe ist in den nächsten Jahrzehnten nicht militärisch; es geht um den Kampf gegen Hunger, Arbeitslosigkeit und ökologische Verwüstung. Der Ruf nach mehr militärischer Verantwortung Deutschlands gilt in der Regel, wenn man den Lack vordergründigen Geredes abkratzt, weniger den Soldaten als dem vermeintlich noch vollen Geldbeutel. Trotz der Gnade der späten Geburt sind deutsche Soldaten in vielen, in den meisten Krisengebieten keineswegs erwünscht.Die Verteidigung muß um Faktoren billiger werden. Gleichzeitig darf dieser Schrumpfprozeß nicht auf dem Buckel der Soldaten stattfinden. Die Bundeswehr und das Bundesverteidigungsministerium müssensich dem „design to cost" als dem Gebot der Stunde beugen.
Uns ist der Abbau auf 370 000 Soldaten vorgegeben. Das ist akzeptiert. Das bedeutet vier Soldaten auf tausend Einwohner bei uns. Die Forderung muß sein, daß das bei den Nachbarn im Zuge der Abrüstung ebenfalls maßstabsgerecht umgesetzt wird.Vor weiteren Personalverminderungen, die in sich schon schwierig genug sind, müssen wir uns überlegen, ob nicht Abrüstung in anderen Gebieten noch wichtiger ist, z. B. bei Waffensystemen, die teuer in der Anschaffung, im Betrieb und in der Wiederbeschaffung sind. Wir haben ja das Vorbild: Waffensysteme, die zum tiefen Eindringen erforderlich sind, sind Gegenstand der letzten Abrüstungsrunde gewesen. Hier sollte man erneut ansetzen. Wie viele Panzer, Schützenpanzer, Panzerartillerie, Panzerabwehrhubschrauber brauchen wir überhaupt noch, wenn auch unsere näheren und entfernten Nachbarn in Europa diese invasionsgeeigneten Systeme stillegen, vernichten, nicht mehr erneuern? Wie viele Kampfbomber braucht die Luftwaffe im europäischen Verbund, wenn Kampfeinsätze zur Abriegelung des Gefechtsfeldes oder zur Luftnahunterstützung wegen Abrüstung der Bedrohungsinstrumente entbehrlich geworden sind?Vom Atlantik zum Ural und darüber hinaus in den Strukturen muß die Unfähigkeit zum weiträumigen Eindringen angelegt werden. Wir müssen als Bundesdeutsche und als Europäer jetzt auf die Ukraine, auf Rußland und auf die baltischen Staaten zugehen und vereinbaren, daß Streitkräfte unter Abrüstung der Angriffsfähigkeit nur noch verteidigungsoptimiert werden. Hier liegen neben der Verminderung der Personalkosten auch die entscheidenden Einsparpotentiale bei Rüstung und Betrieb.Mir ist völlig klar, daß die USA, Großbritannien und Frankreich wegen ihrer weltweiten Verpflichtungen zum Teil andere Wege gehen werden und Druck auf uns ausüben, damit auch wir uns anschließen. Gleichwohl haben wir andere und besondere Aufgaben in Zentraleuropa, die uns andere Schwerpunkte aufzwingen als unseren Bündnispartnern.Die Obergrenze von 370 000 Mann beim Personalumfang ist eine Scheidemarke. Wehrgerechtigkeit läßt meines Erachtens weitere Absenkungen kaum noch zu. Bis 1994 gibt es für uns kein Abgehen von der allgemeinen Wehrpflicht. In der Tendenz würden wir gerne noch bis zur Jahrhundertwende — obwohl es Diskussionen auch in unseren Reihen darüber gibt —an der Wehrpflicht festhalten.Jenseits dieses zeitlichen Horizonts, vielleicht auch früher, kann die dramatische Entwicklung in Europa so verlaufen, daß die Bedrohung auf dem europäischen Kontinent — was größere Auseinandersetzungen angeht — so marginal werden, daß es keinen Sinn mehr macht, Massenheere in dem Umfang zu unterhalten, wie dies früher in Ost und West der Fall war.
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Dr. Andreas von BülowDann muß man natürlich den Weg zur Freiwilligenarmee gehen. Die Vor- und Nachteile sind bekannt; ich will sie hier nicht aufführen. Die Freiwilligenarmee ist teuer, und deswegen muß sie, wenn sie überhaupt eingeführt werden würde, weniger als 370 000 Mann umfassen. Die Verteidigung steht dann am Arbeitsmarkt in Konkurrenz um Quantität und Qualität.Die kleinere Armee muß aus der Sachlogik heraus interventionsfähiger werden als eine größere Armee. Sie ist in der Tendenz hochbeweglich, hochtechnisch, angriffsstark, und sie ist sehr teuer. In der Struktur bietet sich dann auf dem europäischen Kontinent erneut der Anreiz zu Erstschlagüberraschung, zu Überfall. Damit ist tendenziell die Botschaft des Mißtrauens und der Instabilität verbunden, und der Anreiz zum Wettrüsten ist eingebaut.Wir Sozialdemokraten wollen genau das Gegenteil. Ein Ausweg könnte z. B. eine Doppelstruktur in ganz Europa sein: Hauptlast der Verteidigung in infanteriestarken Sperrverbänden, geringer Präsenz, ausgerüstet mit modernstem Sperrmaterial. Wehrpflichtige, heimatnah einberufen, könnten zusammen mit Reservisten diese Funktionen übernehmen. Diese Hauptstruktur ist abwehrstark, aber nicht eindringfähig — und dies, wie gesagt, vom Atlantik bis zum Ural.In Ergänzung hierzu kämen Eingreifverbände, die mehr oder weniger eine Fortentwicklung der heutigen Struktur darstellen. Das Zusammenwirken dieser beiden Elemente — Hauptelement Sperrfähigkeit, dazu Eingreifverbände in vereinbarter minimierter und kontrollierter Form — könnte eine wirksame europäische Verteidigungslandschaft garantieren.In diesem Rahmen könnte man dann auch darüber nachdenken, die Wehrdienstzeit etwa auf Schweizer Maß weiter abzusenken und die Interventionsverbände von Freiwilligen bemannen zu lassen. Man könnte damit massiv Einsparungen an Investitionsmitteln, Betriebs-, Personal- und Ausbildungskosten erreichen, und die moderne Bewaffnung der Interventionsverbände und der Sperrverbände wäre denkbar. In diesem Zusammenhang wäre dann endlich auch eine Reservistenkonzeption denkbar, die nicht Lükkenfüller und Lückenbüßer ist wie die heutige Konstruktion, sondern die ein integraler Bestandteil des Gesamtsystems wäre.Die Bundesregierung geht bis zur Stunde einen anderen Weg. Sie führt das prozentuale Schrumpfen der Bundeswehr durch. Der Typ der Verbände wird nur nach dem Präsenzgrad und dem Alter der Bewaffnung unterschieden. Die Friedensdividende wird verschenkt.Wir sind der Meinung, daß neben der Umstellung der gesamten europäischen Verteidigung auf strukturelle Angriffsunfähigkeit als Hauptelement eine Rüstungsexportpolitik hinzukommen muß, die uns militärische Auseinandersetzungen mit und in der Dritten Welt ersparen hilft.
Der Reichtum der Ölwelt zieht Waffenhändler, Waffenverkäufer und waffenvermittelnde Politiker aller Industrieländer an wie das Licht die Motten. Was westliche und auch östliche Waffenexportpolitik allerIndustriestaaten im Zusammenhang mit dem Golfkrieg zu verantworten hat, grenzt ans Kriminelle. Das gilt für Deutschland ebenso wie für die frühere UdSSR, für Frankreich, Großbritannien oder auch die USA. Es wäre grotesk, wenn uns hemmungslose Rüstungsexportpolitik eines Tages zur Entsendung deutscher Soldaten — womöglich sogar noch Wehrpflichtiger — zur Beseitigung dieser hochgefährlichen Militärpotentiale zwingen würde.Wir sind zur Verfassungsänderung bereit, die den Einsatz von Blauhelmen zur Erhaltung des Friedens sicherstellen soll. Diese Grenze aber zu überschreiten gibt es für uns derzeit und in absehbarer Zukunft keinerlei Anlaß und auch keine Rechtfertigung.
Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt der Herr Abgeordnete Paul Breuer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bericht der Unabhängigen Kommission für die künftigen Aufgaben, Aufträge und die Struktur deutscher Streitkräfte ist eine hilfreiche Orientierung für eine gestaltende Politik. Der Bericht entläßt uns nicht aus der politischen Verantwortung. Er ist eine Orientierungshilfe, nicht mehr, aber auch nicht weniger.Am Anfang des Berichts steht sehr deutlich, daß Hauptaufgabe und politische Legitimation der Streitkräfte darin liegen, daß die Fähigkeit und Bereitschaft zur Verteidigung, d. h. „zum unmittelbaren Schutz der territorialen Unversehrtheit Deutschlands und seiner Verbündeten, ungeachtet der gegenwärtig geringen Wahrscheinlichkeit eines direkten Angriffs", aufrechterhalten werden müssen. Es ist wichtig darauf hinzuweisen, daß die Kommission zu dem Ergebnis kommt: „ungeachtet der gegenwärtig geringen Wahrscheinlichkeit eines direkten Angriffs" auf unser Territorium oder das Territorium der Verbündeten. Legitimation deutscher Streitkräfte liegt in der Legitimation des deutschen Staates und seiner politischen Zielsetzungen, die in der Verfassung beschrieben sind. Die Souveränität unseres Staates erfordert den Aufbau und die Erhaltung der Streitkräfte.Die Bundeswehr wird auf Dauer Wehrpflichtarmee bleiben. Dies ist die klare Haltung der CDU/CSU, und das ist die klare Haltung der Koalition.
Die Bundeswehr bleibt Wehrpflichtarmee, weil wir nur mit der Wehrpflichtarmee dazu in der Lage sind, die Aufgabe der Verteidigung, so wie sie sich heute stellt, zu organisieren und zu erfüllen. Die Bundeswehr bleibt deshalb Wehrpflichtarmee, weil die allgemeine Wehrpflicht in einer Form, wie sie in der deutschen Geschichte einzigartig ist, die Legitimation deutscher Streitkräfte und deren Integration in die freiheitliche und demokratische Gesellschaft gewährleistet hat.
Die allgemeine Wehrpflicht ist es gewesen, die das Vertrauen in die deutsche Politik durch die Veranke-
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Paul Breuerrung in allen Teilen unserer Bevölkerung, bei unseren Nachbarn und Partnern sowie in der ganzen Welt neu begründet hat.
Ich denke, daß man feststellen kann — dies ist meine Meinung —, daß allgemeine Wehrpflicht ein Stück Staatsräson ist. Ich halte es für notwendig, deutlich darauf hinzuweisen, damit keine Unsicherheit in unserer Bevölkerung und insbesondere in der jungen Generation sowie in der Bundeswehr entsteht. Wir sollten die Verantwortung klar erkennen, die Krise der Wehrpflicht nicht herbeizureden.
Die allgemeine Wehrpflicht, meine Damen und Herren — um dies deutlich zu sagen —, schafft der Bundeswehr durch den Faktor der Integration in die Gesellschaft den Aufmerksamkeitsgrad, den sie verdient. Welchen Aufmerksamkeitsgrad hätte die Bundeswehr, wenn es die allgemeine Wehrpflicht nicht gäbe, d. h. nicht jede Familie potentiell mit den Streitkräften in Verbindung stände? Der Aufmerksamkeitswert wäre geringer als der des Finanzamtes; denn damit steht man zumindest bei der Steuererklärung einmal im Jahr in Verbindung.
Das haben die Streitkräfte wegen der besonderen Sensibilität nicht verdient.Meine Damen und Herren, wenn die SPD von Orientierungslosigkeit redet, ist, denke ich, die Aufgabe der Orientierung vor allen Dingen in der SPD sehr notwendig.
Meine Damen und Herren Kollegen von der SPD, die Beiträge, die Sie im Zuge des Aufenthaltes der deutschen Streitkräfte in der Türkei als Bündnisverpflichtung,
weil ein Angriff auf die Türkei nicht auszuschließen war, in der politischen Diskussion geleistet haben, waren keine Orientierungshilfe, sondern Ausdruck Ihrer eigenen Orientierungslosigkeit.
Wenn Herr Lafontaine — gestern ging es durch die Nachrichten, meine Damen und Herren — in der heutigen Situation die Aufnahme der GUS-Staaten in die NATO fordert, Sie aber gleichzeitig nicht in der Lage sind zu klären, welche rechtlichen Möglichkeiten und welche politischen Möglichkeiten eine deutsche Regierung mit der Bundeswehr außerhalb des NATO-Gebietes haben soll,
und völlig außer acht lassen, daß NATO „Beistandsverpflichtung" heißt, dann zeigt das Ihre Hilflosigkeit und Orientierungslosigkeit.
Unser Land ist kein Frontstaat mehr — das war so ziemlich das einzige Richtige, was Sie gesagt haben, Herr Kollege von Bülow.
Unser Land ist kein Frontstaat mehr. Wir waren Frontstaat, und andere haben uns geholfen,
Freiheit und Demokratie nicht nur für die alte Bundesrepublik Deutschland, sondern für die ganze deutsche Bevölkerung zu erhalten. Andere haben uns dabei unterstützt, auch durch militärische Präsenz.Das heißt für uns heute, nachdem sich die Situation gewandelt hat, daß wir als freiheitlicher und demokratischer Rechtsstaat im Bündnis, in der Europäischen Gemeinschaft und in der UNO
unsere Verantwortung gegenüber anderen sehen müssen, denen geholfen werden muß. Das ist die Notwendigkeit für deutsche Politik,
und da leisten Sie von der SPD keinen Beitrag.
Da sind Sie orientierungs- und hilflos.Meine Damen und Herren, wenn wir Übereinstimmung finden wollen, muß diese Diskussion in aller Klarheit geführt werden. Ich denke, daß diese Debatte ein Beitrag dazu sein kann.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist der Abgeordnete Dr. Werner Hoyer.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Als wir Herrn Professor Jacobsen und seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern, die, wie ich hoffe, zu der Debatte heute eingeladen worden sind und sie, ob sie das, was sie da hören, immer so gut finden oder nicht, verfolgen können, den gegenüber unseren ursprünglichen Vorstellungen zugegebenermaßen etwas eingeengten Auftrag erteilt haben, haben wir alle wohl nicht im entferntesten daran gedacht, in welch dramatisch verändertem sicherheitspolitischen Umfeld wir das Ergebnis ihrer Überlegungen heute diskutieren würden. Ich bin sicher, die Arbeit, die uns vorgelegt worden ist, wird uns Hilfe sein können bei der Bewertung auch der neuen sicherheitspolitischen
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Dr. Werner HoyerPrioritäten und Notwendigkeiten. Die heutige Debatte wird möglicherweise deutlich machen können, daß es wünschenswert und hilfreich wäre, die Arbeit der Kommission mit einem neu und etwas weiter zu formulierenden Auftrag fortzusetzen.
Meine Damen und Herren, nach der Revolution in Europa ist nichts mehr, wie es war.
Wer vermeiden will, daß wir denen folgen, die nun nichts Besseres im Kopf haben, als das Alte, eigentlich überwunden Geglaubte gleichwohl schlicht fortzuschreiben bzw. schnellstens nach neu zu identifizierenden Gegnern Ausschau zu halten, oder denen, die in teilweise beängstigender Naivität übersehen, daß die Entwicklung zu Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten auf unserem Kontinent in den nächsten Jahren noch keineswegs überall „in trockenen Tüchern" ist, muß tabu- und vorurteilsfrei über Konzeptionen sprechen.
In diesem Jahr, meine Kolleginnen und Kollegen, werden uns schwierige Entscheidungen abverlangt werden; denn zum einen haben sich erfreulicherweise die Rahmenbedingungen völlig verändert, unter denen Verteidigungspolitik innerhalb einer zu Recht immer breiter zu definierenden Sicherheitspolitik relativ und absolut an Gewicht verliert. Zum anderen wird Verteidigungspolitik komplizierter; denn mit dem Verschwinden eines klaren Bedrohungsbildes ist die Orientierung der Konzepte und Strukturen der Streitkräfte an denen eines potentiellen Gegners eben nicht mehr möglich bzw. nicht mehr erforderlich.Dies zu beklagen ließe auf eine abenteuerliche Fehlinterpretation der internationalen Entwicklungen der letzten zwei Jahre schließen. Die Überwindung der Teilung Europas und unseres eigenen Landes, die Überwindung des Denkens in Blöcken, die Abkehr vom Denken in Kategorien der Vorneverteidigung auf engstem Raum entlang einer Grenze durch unser eigenes Land, all das eröffnet doch gerade die Möglichkeit, das Verteidigungsdispositiv eines souveränen, mit allen seinen Nachbarn in Frieden lebenden Landes unabhängig von konkreten Bedrohungsszenarien zu gestalten und die Dimensionierung, die Strukturierung, die Ausbildung und die Ausrüstung der Streitkräfte im Rahmen eines Bündnisses eher aus einer abstrakten Risikobewertung abzuleiten.Es muß klar sein — ich sage das auch im Anschluß an das, was Paul Breuer eben ausgeführt hat —, daß Verteidigungsanstrengungen nur Sinn machen, wenn es a) etwas Verteidigungswürdiges gibt und b) dieses Verteidigungswürdige Risiken ausgesetzt ist.
Daß die Risiken für Stabilität und Sicherheit auf unserem Kontinent insgesamt mit der Überwindung des Gleichgewichts des Schreckens nicht ausgeräumt sind, sondern teilweise vielleicht sogar gestiegen sind, ist evident, ebenso wie es evident ist, Herr KollegeOpel, daß ein großer Teil der Risiken, auch der zusätzlichen Risiken, einer militärischen Vorsorge nicht zugänglich ist.
Aber Risiken bleiben.
Die Frage, die sich bei jeder Entscheidung im Mikrobereich, bei Einzelentscheidungen — egal, ob es um die Beschaffung, die Ausrüstung oder die Stationierung geht — ja so leicht stellen läßt, nämlich die Frage: Gegen wen denn eigentlich noch?, ist insofern abwegig. Sie ist dialektisch falsch und bedenklich und in meinen Augen in vielen Fällen Ausdruck alten Denkens. Denn kaum haben wir das Denken in konkreten Feindbildern oder zumindest Gegnerperzeptionen überwunden, wird die Frage nach neuen Gegnern oder gar Feindbildern gestellt.Es scheint mir angebracht, die Entwicklungen in Europa eher als eine dankbar anzunehmende Chance zu begreifen, die eigenen Verteidigungsanstrengungen aus der Bewahrungswürdigkeit des zu Verteidigenden zu legitimieren und sich weiterhin überall verstärkt um die weitere Reduzierung der Risiken zu kümmern.Das bedeutet zum einen, die vielfältigen Formen der Kooperation zu nutzen — ich glaube, Bündnis, EG und Bundesregierung sind hier auf dem richtigen Weg —; das heißt zum anderen, den Prozeß der Abrüstung und Rüstungskontrolle in Europa kräftig voranzutreiben, und zwar auch im konventionellen Bereich, wo wir bisher erst angefangen haben.
Genau hier hat Deutschland im Zusammenhang mit dem Einigungsprozeß eine weitgehende Vorleistung erbracht. Die Soldaten und zivilen Beschäftigten der Bundeswehr setzen dies gegenwärtig um. Sie leisten in diesem Zusammenhang einen sehr persönlichen Beitrag bei der Aufgabe, innerhalb von nur vier Jahren die deutschen Streitkräfte von über 600 000 auf 370 000 zu reduzieren. Das ist schon eine besondere Anstrengung,
und das beinhaltet erhebliche individuelle Härten. Das sollte deshalb von uns allen mit sehr viel mehr Einfühlungsvermögen, Verständnis und Sympathie und sehr viel weniger mit zynischen Bemerkungen über einen Berufsstand mit vermeintlich düsterer konjunktureller Perspektive begleitet werden.
Wir müssen die Bundeswehr als bündnisfähige Armee an die neuen Herausforderungen bzw. an das verbleibende Restrisiko anpassen. Ich vermute, der Veränderungsprozeß wird noch sehr viel tiefer gehen, als wir gegenwärtig glauben, da manche z. B. noch meinen, wir könnten Teilstreitkraftrelationen tabuisieren, da vordergründige Geplänkel über einzelne Waffensysteme nach vorne geschoben werden oder da jeder meint, sich profilieren zu können, indem er
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Dr. Werner Hoyerdas Zahlenlotto über Verteidigungsumfänge um eine neue Variante bereichert.Statt dessen wäre es klüger, die wesentlichen Aufgaben zu diskutieren, seien es die, die für den Fall des Scheiterns der Politik auf dem eigenen Territorium zu bewältigen wären, seien es die, die wir in Solidarität mit unseren Partnern im Bündnis zu bestehen hätten, die ihrerseits über 40 Jahre deutscher Teilung hinweg uns ihre Solidarität gewährt haben, und seien es diejenigen Aufgaben, die möglicherweise nach einer Verfassungsänderung im Hinblick auf Aufgaben im Bereich der UNO bzw. im europäischen Zusammenhang auf uns zukommen könnten.Ich sage dies ohne jeden Anflug von Abenteurerlust. Hier kommt eine schwere Verantwortung auf uns zu, keineswegs eine leichtfertig anzustrebende Entfaltungsperspektive für militärische Kompetenz.
Aber wir werden uns nicht mehr lange versagen können und uns eine Beschränkung auf friedenserhaltende sogenannte Blauhelmmissionen und damit einen verfassungsmäßigen Ausschluß Frieden schaffender und Völkerrecht durchsetzender Mission nicht leisten können.
Ich stimme Ministerpräsident Lafontaine zwar in der von ihm ins Spiel gebrachten Erweiterung des NATO-Auftrages nicht zu; aber ich anerkenne die Konsequenz, die seinem Vorschlag hinsichtlich der Einbeziehung der Bundeswehr innewohnt. Die SPD wird hoffentlich bereit sein, mit uns in einen Dialog darüber einzutreten, ob diese Konsequenz nicht auch im Hinblick auf Frieden schaffende und Recht durchsetzende Missionen der Vereinten Nationen und gegebenenfalls im europäischen Zusammenhang erforderlich ist.Zugleich möchte ich deutlich sagen: Noch haben wir die Verfassungsänderung nicht!
Ich halte es für legitim, sich planerisch darauf vorzubereiten, daß wir eines Tages diese Änderung werden vornehmen können; aber gegenwärtig haben wir diese Verfassungsänderung noch nicht.Ich halte im übrigen den Ansatz für völlig falsch, bei unseren Bemühungen die Fragen darauf zuzuspitzen: Wie können wir möglichst rasch die Bundeswehr auf 370 000 Mann herunterfahren? Die Frage, die wir zu beantworten haben, lautet: Wie soll die zukünftige 370 000-Mann-Armee aussehen? Wie soll sie in den gesellschaftspolitischen Kontext eingebunden werden? Wie wird ihre Bündnisintegration und Bündnisfähigkeit gewährleistet? Wie ist diese in Zukunft erfreulicherweise sehr viel kleinere Bundeswehr auftragsgerecht zu strukturieren, funktionsgerecht und haushaltsverträglich auszurüsten und motivierend zu führen?Die Bundeswehr, liebe Kolleginnen und Kollegen, respektiert den Primat der Politik. Er muß aber auch erkennbar sein.
Versagen wir Politiker bei dieser Aufgabe, dann tun wir nicht nur den Menschen unrecht, die in der Bundeswehr Dienst leisten, sondern dann schmeißen wir in der Tat auch Geld zum Fenster hinaus. Eine Armee ist nur so viel wert wie die Motivation derer, die in ihr Dienst tun.Ich denke, meine Damen und Herren, die Überlegungen der Hardthöhe vom vergangenen Wochenende sind ein Schritt in die richtige Richtung.
Natürlich ist mancher Kürzungsvorschlag eher auf rüstungspolitisches Wunschdenken als auf abgesicherte Finanzplanung gegründet. Aber Verteidigungsminister Stoltenberg hat zu Recht gesagt, daß hier Plan und Plan miteinander zu vergleichen sind und nicht parlamentarische Festlegung mit parlamentarischer Zukunftsperspektive. Ich denke, wir haben hier eine gute Grundlage für eine sorgfältige Diskussion im Verteidigungsausschuß und in diesem Kreise.Meine Damen und Herren, wir sollten bei all dem, was wir planen, angesichts dessen, was wir in den letzten zwei Jahren an Veränderungen erlebt haben, vorsichtiger und bescheidener sein bei der Festlegung dessen, was wir mit einem Planungshorizont zum Jahre 2005 oder 2010 schon heute glauben für überflüssig halten zu können.
Streitkräfte kann man nicht ein- und ausschalten wie einen Lichtschalter; Streitkräfte brauchen einen klaren Kurs und die Möglichkeit flexibler Nachsteuerung dieses Kurses.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Kollege Dr. Hoyer hat gefragt, ob die Mitglieder der Kommission eingeladen sind. Sie sind eingeladen worden und haben zum großen Teil auf der Tribüne Platz genommen. Die Arbeit der Kommission — das will ich noch einmal wiederholen — ist von vielen Rednern gewürdigt worden, und der Beifall des ganzen Hauses war Ausdruck des Respekts vor der geleisteten Arbeit.
Ich erteile nunmehr Herrn Abgeordneten Manfred Opel das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Dr. Hoyer,
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5895
Manfred OpelIhre ruhige, sachliche Analyse hätte ich vom Verteidigungsminister erwartet.
Ihre Fragen und fragenden Kommentare, aber auch Ihre Anregungen sind das schärfste Schwert der Kritik, der sich ein Verteidigungsminister aus den Reihen der Koalition ausgesetzt sieht. Ich danke Ihnen für diesen Mut.
Es lohnt nochmals darauf hinzuweisen, daß am Anfang die Forderung der SPD nach einer Wehrstrukturkommission stand. Diese Wehrstrukturkommission haben wir bis heute nicht, Herr Kollege Breuer, obwohl sie unverändert dringend erforderlich ist.Erst als die Grenzen Europas durchlässig wurden und der Wandel zu drängend wurde, haben Sie sich in der Koalition bereit gefunden, eine „unabhängige Kommission" einzusetzen. Außerdem haben wir bis heute noch kein tragfähiges Personalstrukturmodell, obwohl es Voraussetzung jeder vernünftigen Personalplanung im Sinne gelebter Innerer Führung wäre.Die „neue Bundeswehrplanung" — so steht es im Bericht — sollte Grundlage der Arbeit der schließlich vier Wochen nach dem Fall der Mauer eingesetzten „unabhängigen Kommission" sein, über deren Bericht wir heute debattieren. Diese neue Bundeswehrplanung gibt es ebenfalls bis heute nicht. Das Fehlen der Bundeswehrplanung, der Wehrstrukturkommission und der Personalstrukturkonzeption wird, Herr Minister, kongenial ergänzt durch das Fehlen jeglicher Rüstungsplanung.Angesichts dieser auf breiter Front fehlenden Grundlagenarbeit fragt man sich, Herr Minister, was Sie und Ihre 5 000 Mitstreiter auf der Hardthöhe den lieben langen Tag eigentlich so tun. Es fehlen sämtliche Grundkonzeptionen; es fehlt die Führung; es fehlt die sichere Hand; es fehlt jede Vision. Das einzige, was nicht fehlt, Herr Kollege Nolting, sind Pannen und Fehlentscheidungen.
Die Konzeptionen haben sich nach dem Auftrag zu richten. Der Bericht gibt dankenswerter Weise der Regierung hier einige deutliche Fingerzeige in Form von Vorschlägen.Erstens. Das Bündnis muß überlegen, wie eine erweiterte Sicherheit für ganz Europa erreicht werden kann. Dazu haben Sie, Herr Minister, heute nichts gesagt.Zweitens. Die NATO muß den veränderten politischen und militärischen Anforderungen angepaßt werden. Doch wenn man das nachvollzieht, was von der Hardthöhe zu hören ist, dann hat man manchmal den Eindruck, als solle die Steinzeit-NATO bewahrt werden.Drittens. Die vorausschauende Planung — so ist im Bericht zu lesen — für die konzeptionellen Festlegungen könnte und sollte unverzüglich beginnen, d. h.ohne schuldhaften Verzug. Doch auch dazu haben Sie offensichtlich bisher nicht die Kraft gefunden.Viertens. Die Weiterentwicklung des Konzepts der Inneren Führung wird durch die Kommission angemahnt. Aber bei Ihnen leidet offensichtlich die Bundeswehr bis heute an innerer Verarmung und innerer Verkrustung.Sie haben zu all diesen Punkten heute bedauerlicherweise nichts Richtungsweisendes gesagt.Leider hat die Kommission zwei der vier an sie übertragenen Untersuchungsfelder überhaupt nicht behandeln können. Diese Arbeit ist von Ihnen, Herr Minister, nachzutragen. Es ist ein Auftrag des Parlaments, sogar ein Entschließungsantrag der Koalition.Es sollten Möglichkeiten zur Verbesserung des Entwicklungs- und Beschaffungssystems untersucht werden. Das ist eines der Felder, die völlig fehlen. Dies ist wahrlich dringlich, wie das aktuelle Geschehen auf der Hardthöhe lehrt. Ich gebe nur einige Hinweise aus der jüngsten sogenannten Planungskonferenz des Verteidigungsministers zur Illustration dessen, was ich meine. Da wird am Symptom kuriert, anstatt die Ursachen der Fehlplanungen zu bekämpfen.Erstens. Sie wissen genau, daß Sie auf Dauer keinen höheren Anteil des Verteidigungshaushalts am Bundeshaushalt begründen können, als es die mittelfristige Finanzplanung der Bundesregierung hergibt. Deshalb war es eine eklatante Fehlleistung, die planerische Zielprojektion für die Bundeswehr nicht auf der Basis realistischer Haushalts- und Finanzdaten durchzuführen. Im Klartext: Ihre Personalplanung und Ihre Investitionsplanung sind unseriös. Der Umfang der Bundeswehr ist so auf Dauer nicht zu bewahren und zu halten.
— So steht es in der Entschließung des Verteidigungsministeriums, wenn Sie es bitte nachlesen wollen.Zweitens. Ausgerechnet die wichtigsten Vorhaben streichen Sie aus der Planung. Sie kürzen den äußerst dringlichen Investitionsbedarf in den neuen Bundesländern und wollen gleichzeitig eine neue Panzerhaubitze beschaffen, obwohl Sie dabei sind, die angeblich so leistungsfähige Panzerhaubitze der ehemaligen NVA zu verschrotten oder zu verscherbeln.Drittens. Sie sagen dem Parlament, daß Aufklärung besonders wichtig sei; dies gelte obendrein auch für die europäische Kooperation. Zugleich streichen Sie aber ausgerechnet das europäische Satellitenaufklärungssystem aus der Planung.Viertens. Sie wollen weiterhin einen 44 Tonnen schweren Schützenpanzer entwickeln und beschaffen, obwohl man den Marder 1 leicht und kosteneffektiv modernisieren könnte. Ich frage Sie, Herr Minister: Wollen Sie sich morgen vom Steuerzahler vielleicht die Entwicklung eines überschweren Lastenhubschraubers finanzieren lassen, um das Monster für die angeblich so wichtige Luftbeweglichkeit vorzubereiten?
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5896 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992
Manfred OpelFünftens. Sie beenden die Modernisierung ausgerechnet des einzigen erfolgreichen und stets organisch verbesserten Kooperationssystems zwischen Europa und USA, an dem sich auch Frankreich beteiligt. Ich meine das mittlere Luftabwehrraketensystem Hawk. Das bedeutet, daß Sie gleichzeitig ein neues Luftverteidigungssystem beschaffen wollen, das wesentlich teurer, kaum leistungsfähiger und technisch erheblich risikoreicher ist. Dies ist eine eindeutige Fehlplanung.Die Reihe ließe sich fortsetzen. Darüber wird noch zu reden sein. Ich meine, daß diese ganz wenigen Beispiele belegen, wie eminent wichtig eine umfassende Verbesserung des Entwicklungs- und Beschaffungssystems der Bundeswehr ist.Wenn wir auf die Rüstungskooperation im Bündnis nicht verzichten wollen, Herr Minister, dann benötigen wir einheitlichere Exportvorschriften in der NATO. Auch hier ist die Regierung gefordert. Rüstungsexport kehrt sich schließlich auch gegen die Exporteure. Deshalb gibt es mit uns keinerlei Rüstungsexport außerhalb des Bündnisses. Lassen Sie mich damit das erste noch offene Feld des Berichts verlassen.Das zweite Feld befaßt sich mit den Aufgaben und der Organisation der Wehrverwaltung.Gerade nach den letzten Entscheidungen zur Stationierungsplanung muß man den Eindruck gewinnen, daß die Wehrverwaltung ein Stiefkind Ihres Ministeriums ist. Die Wehrverwaltung ist der stabilisierende Faktor, gleichsam das Rückgrat der gesamten Bundeswehr. Sie ist es, die dem Soldaten zuerst in den Kreiswehrersatzämtern begegnet. Sie begleitet ihn, sie betreut ihn, sie rüstet ihn aus und stattet ihn aus. Es ist auch die Wehrverwaltung, die die Streitkräfte gegenüber der Wirtschaft vertritt, die den gesamten personellen und materiellen Bedarf der Streitkräfte deckt.Die Wehrverwaltung, die notwendigerweise immer etwas im Schatten der Soldaten steht, bedarf der gleichen Fürsorge wie diese. Dazu, Herr Minister, zählt auch, daß man in dieser Verwaltung in höchste Beamtenränge aufsteigen kann.
Niemandem würde wohl einfallen, den Generalinspekteur aus einem Bereich außerhalb der Streitkräfte zu holen. Das gleiche, Herr Minister, gilt analog auch für die Wehrverwaltung. Das muß man Ihnen offenbar ins Stammbuch meißeln.
Für mich ist es wichtig, Herr Minister, daß Sie den neuen Auftrag der Bundeswehr endlich planerisch fassen. Ich bedanke mich bei den Kollegen, die hier deutlich gemacht haben, daß wir die Planungsdefizite sofort zusammen ausräumen müssen. Wir sind dazu bereit.Ich danke Ihnen.
Ich erteile jetzt dem Herrn Abgeordneten Thomas Kossendey das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben hier heute einige Beiträge der Opposition und der Regierungsfraktionen zu dem Bericht der Kommission gehört. Der einzig hörenswerte Beitrag von der Opposition war eigentlich der des Kollegen Walter Kolbow. Er hat getreu dem Motto: Wer vieles bringt, wird manchem etwas ins Ohr sagen, was dieser dann auch aufnimmt, einiges zu uns gesagt. Ich hoffe, daß einiges von dem, was Sie, Herr Kolbow, gesagt haben, auch in Ihrer eigenen Fraktion auf fruchtbaren Boden fallen wird. Mit dem außenpolitischen Teil Ihrer Ausführungen bin ich nicht ganz einverstanden; das werden Sie verstehen.
Das verleitet mich nur zu der Bemerkung: Ein gelber Pullover macht noch keinen außenpolitischen Experten.
Ich freue mich, daß wir heute die Gelegenheit haben, über die Aussagen des Berichts zu sprechen. Dieser Bericht — lassen Sie mich das deutlich sagen — kann kein Politik-Ersatz sein; er soll uns vielmehr Hilfestellung bei unserer schwierigen Arbeit geben. Ich glaube, es wäre falsch, wenn wir ihn als Arsenal benutzen würden, um die uns im tagtäglichen Kampf um Sicherheitspolitik bekannten Argumente gegenseitig um die Ohren zu hauen. Deswegen war es auch falsch, darauf hinzuweisen, daß Sie vermuten, daß zwischen unserer Regierungsfraktion und dem Minister Differenzen bestehen. Dieser Minister hat die Bundeswehr in den letzten zwei Jahren einigermaßen ruhig und unbeschädigt durch die schwierigsten Situationen gesteuert. Dafür gebührt ihm unser Dank. Das sollten wir deutlich sagen.
In diesen zwei Jahren haben wir von Ihnen selten Alternativen genannt bekommen.Ich glaube, dieser Bericht wird um so wertvoller, wenn wir ihn zum Anlaß nehmen, innezuhalten, nachzudenken und vielleicht auch Gemeinsamkeiten in der Sicherheitspolitik im besten Sinne des Wortes wieder einmal zu erstreiten. Streit ist ja nichts Unkeusches. Auf diese Gemeinsamkeit, lieber Kollege Heistermann, haben die Soldaten und die zivilen Bediensteten unserer Bundeswehr einen sehr hohen Anspruch. Denn das trägt auch sehr zu ihrer Befindlichkeit bei, trägt auch sehr zur Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehr bei.
Lassen Sie mich ein weiteres sagen: Der prinzipielle Auftrag unserer Bundeswehr bleibt. Wir müssen unseren Soldaten und den zivilen Bediensteten der Bundeswehr allerdings immer wieder klarmachen, wie der Rahmen aussieht, in dem sie sich bewegen und in dem sie arbeiten. Da hat sich, glaube ich — wir haben das alle betont —, in den letzten Jahren einiges verändert.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5897
Thomas KossendeyIn diesem Zusammenhang wird immer wieder die wachsende Verantwortung unseres Vaterlandes betont. Ich unterstreiche das, aber ich ergänze es dahin gehend, daß wir diese wachsende Verantwortung nicht nur militärisch begründen dürfen. Diese wachsende Verantwortung hat viele Aspekte, auch den militärischen. Aber Sicherheitspolitik der Zukunft kann sich nicht nur auf militärische Aspekte stützen. Wir werden in der Zukunft verstärkt Vorsorge gegen Risiken zu treffen haben, die eine völlig andere Qualität haben als die Bedrohung durch den Warschauer Pakt zu Zeiten der Konfrontation.
Ich denke nur an das explosive Bevölkerungswachstum, an das Armutsgefälle, an die Ungewißheit der Auswirkungen der Industriealisierung auf die Umwelt und an viele andere Dinge mehr.Unsere Sicherheitspolitik wird also in Zukunft nicht mehr nur auf politisch-ideologische Entspannung, auf Abrüstung und Kriegsverhinderung hinzielen müssen. Sie muß gleichzeitig überall auf der Welt die wachsende Armut und die Zerstörung der Umwelt bekämpfen; sie muß diesem neuen Risiko- und Konfliktpotential mit anderen, neuen Instrumenten begegnen. Allerdings wird im Spektrum dieser Bekämpfungsmechanismen — das sage ich deutlich — auch das Militär seine wichtige Rolle behalten. Darüber werden wir für die Zukunft nachzudenken haben.Woran soll sich denn nun aber der militärische Anteil dieses Risikobekämpfungsszenarios orientieren? Ich glaube, wir wären schlecht beraten, wenn wir die — sich übrigens täglich ändernde — Situation in Osteuropa und in der auseinanderfallenden Sowjetunion zum Maßstab unserer Verteidigungsbemühungen machen wollten. Wir hätten auf Jahre — ich befürchte, auf Jahrzehnte — überhaupt keine sichere Planungsgrundlage.Auch die Waffen der auf dem Boden der Sowjetunion entstehenden einzelnen Republiken können für uns kein ausschließliches Kriterium sein. Wir haben in der Vergangenheit immer betont, daß Waffen alleine noch keine Bedrohung darstellen, sondern der politische Wille, sie gesammelt gegen uns zu richten, dazukommen muß. Diesen Willen sehe ich im Moment nicht.Für unsere Bundeswehrplanungen der Zukunft schlage ich, auch auf Grundlage dieses Kommissionsberichtes, ein Vorgehen in zwei Schritten vor.Erstens. Wir sollten bis 1994 die völkerrechtlich vereinbarte Zahl von 370 000 Soldaten möglichst zügig und sozialverträglich erreichen, und wir sollten auch die vom Minister angekündigte Reduzierung der zivilen Bediensteten zügig und sozialverträglich umsetzen. Jede voreilige Diskussion über die Änderung der Wehrform zu diesem Zeitpunkt würde den Prozeß nachhaltig stören und zur Verunsicherung der Soldaten beitragen.
Zweitens. Für die Zeit nach 1994 müssen wir überprüfen, was wir zu unserer Sicherheitsgrundausstattung, d. h. fremdpotential- und szenarienunabhängig,tatsächlich brauchen. Die Kommission bietet ja einige Perspektiven; ein paarmal erscheint das Jahr 2010. Dabei werden wir auch die Gewichtung der Teilstreitkräfte auf den Prüfstand zu stellen haben. Erste Änderungen sind hier ja bekannt.Dabei müssen wir drei wichtige Faktoren beachten. Der erste wichtige Faktor ist das Geld. Ich sehe nicht, daß wir in Zukunft mehr Geld bekommen. Ein zweiter wichtiger Punkt ist: Wir werden feststellen, daß das Personal von diesem wenigen Geld einen immer größeren Anteil verschlingt. Ich nenne nur die Zahl von 1,6 Milliarden DM, die die letzte Tariferhöhung verschlungen hat. Ein dritter wichtiger Faktor ist die von uns allen gewünschte Steigerung des Investitionsanteils im Verteidigungshaushalt.Das heißt: Wir müssen um diese Rahmendaten herum — Geld, das immer weniger wird, Personal, das immer teurer wird, und Investitionen, die wir dringend steigern müssen — Modellrechnungen anstellen und dann politische Entscheidungsalternativen vorlegen. Eines ist sicher: Die heutigen Daten und die heutigen Erwartungen an die Bundeswehr, sowohl was die Stärke wie auch was die Ausstattung angeht, werden wir auf lange Sicht nicht in Übereinstimmung mit den heute bekannten Rahmendaten bringen können. Das weiß auch der informierte Soldat. Wir müssen also möglichst schnell diese Rahmendaten koordinieren und Entscheidungsalternativen auf den Tisch bekommen. Wenn wir das nicht schaffen, dann wird die Unruhe in der Truppe verstärkt, und das Risiko von Fehlinvestitionen steigt.Die Bundesregierung sollte dem Parlament diese Modellrechnungen möglichst schnell vorlegen, damit wir Entscheidungsalternativen haben. Das sind die Hausaufgaben, die sich für mich für das Parlament aus dem Bericht ergeben. Ich hoffe, daß wir sie gemeinsam machen können.Schönen Dank.
Meine Damen und Herren, ich erteile das Wort Herrn Abgeordneten Ortwin Lowack.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, wir können gemeinsam feststellen: Die Geschichte der Bundeswehr ist vom Ergebnis her eine Erfolgsgeschichte. Eine deutsche Armee, die eine der härtesten Auseinandersetzungen weltweit gewonnen hat, ohne daß ein Krieg geführt werden mußte, ist vielleicht das beste Ergebnis, denn es waren ja die Grundprinzipien dieser Bundeswehr, die sie erfolgreich gemacht haben im Verbund mit anderen Armeen, die wir im Westen zusammengefaßt haben.Diese Verteidigung unseres Staates muß auch in Zukunft glaubwürdig bleiben, von der Ausrüstung einer modernen beweglichen Armee, aber auch von den Einsatzgrundsätzen her. Hier bedauere ich natürlich, daß die Frage, die uns seit Jahren bewegt, wann die Bundeswehr eingesetzt werden kann, eventuell im Rahmen der Vereinten Nationen, der Westeuropäischen Union oder der NATO, immer noch nicht geklärt ist. Ich werfe natürlich auch ein bißchen uns
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5898 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992
Ortwin Lowackselber, dem Parlament und auch der Bundesregierung vor, daß diese Debatte, die schon im April angesetzt war, ohne nähere Angabe von Gründen verschoben wurde, daß wir heute erst genauso weit sind oder es nicht einmal sind, wie wir es vorher waren. Es muß klargestellt werden, daß auch heute schon die Bundeswehr im Verband mit anderen Armeen, z. B. im Rahmen einer UN-Aktion, nicht nur einer Blauhelmaktion, auch außerhalb des NATO-Gebiets grundsätzlich verfügbar ist. Das müssen unsere Soldaten wissen, damit klar ist, für wen sie da sind, wie sie einsetzbar sind.Die Verringerung auf 370 000 ist eine echte Vorleistung. Sie ist im Rahmen der deutschen Einheit zugesagt, aber sie stützt sich darauf ab, daß im Rahmen der KSE auch die entsprechenden Verringerungen vorgenommen werden.Wir müssen darauf hinweisen, daß das die Conditio war, unter der wir diese Zusage gemacht haben, daß wir deshalb auf den Ergebnissen der KSE bestehen müssen.Ich habe eine herzliche Bitte an den Herrn Verteidigungsminister: daß er dort, wo heute reduziert wird, mit sehr harten Auswirkungen für einzelne Standorte, bitte in Zukunft doch etwas mehr den militärischen Sachverstand des Hauses berücksichtigt und nicht nur das, was aus den Kanzleien, Staatskanzleien oder aus den Kabinetten beteiligter Landesregierungen an Sachverstand eingebracht werden sollte, der nicht immer mit dem militärischen Sachverstand in Einklang zu bringen ist.Ich möchte letztlich darauf hinweisen, daß sich die Bundeswehr als Wehrpflichtarmee glänzend bewährt hat, aber daß wir uns doch in Zukunft Gedanken darüber machen sollten, wie weit den Besonderheiten im persönlichen Bereich von Menschen mehr Sorge dadurch getragen werden kann, daß wir den Bereich einer allgemeinen Dienstpflicht erweitern und es damit möglich machen, relativ gleichberechtigt nebeneinander den Wehrdienst neben anderen sozialen Diensten zu leisten. Ich glaube, hier ist das Parlament aufgefordert. Ich werde mich freuen, wenn ich als unabhängiger Abgeordneter den einen oder anderen Beitrag dazu leisten kann.
Meine Damen und Herren, zum Schluß der Debatte erteile ich das Wort dem Herrn Abgeordneten Dr. Wolfgang Schäuble.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich begrüße sehr, daß uns diese Debatte Gelegenheit gibt, öffentlich die Diskussion über die Bundeswehr und die veränderten Aufgaben zu führen, vor die sie sich gestellt sieht. Wir leben ja in einer Zeit weltpolitischer Umbrüche, die auch und gerade unsere Verteidigungs- und Sicherheitspolitik vor ganz neue Herausforderungen stellt. Der Ost-West-Konflikt ist beendet, die Bundesrepublik Deutschland ist nicht länger Frontstaat an der Nahtstelle zweier gegnerischer Militärblöcke, und unsere osteuropäischen Nachbarn stellen keine unmittelbare Bedrohung mehr für uns dar.Zugleich werden wir jedoch in Europa mit neuen Unsicherheiten und Gefährdungen rechnen müssen. Nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation, nach dem Ende der weltpolitischen Bipolarität sind Kriege leider wieder führbar geworden. Bisher verdeckte Konfliktpotentiale sind aufgebrochen, und regionale Konflikte sind wahrscheinlicher geworden. Für Europa ergeben sich daraus neue, schwer kalkulierbare Risiken, die aus politischer oder wirtschaftlicher Instabilität ebenso herrühren können wie aus dem Ausbruch ethnischer Gegensätze oder aus territorialen Besitzansprüchen. Die Vorhersehbarkeit solcher Entwicklungen ist leider geringer geworden. Niemand kann mit Sicherheit sagen, ob und wie sich die Entwicklung in der Golfregion oder in den MaghrebStaaten eines Tages auf unsere Sicherheitslage in Europa auswirken wird.Bei nüchterner Betrachtung muß man zu dem Schluß kommen, daß die Risiken für uns in Westeuropa zukünftig vielleicht eher größer als kleiner werden dürften.
Die Herstellung und der Erhalt einer dauerhaften Friedensordnung in Europa sind deshalb für uns noch wichtiger geworden. Eine entscheidende Voraussetzung für eine solche Friedensordnung besteht in einer ausreichenden militärischen Sicherheitsvorsorge gegenüber urkalkulierbaren Risiken.
Täuschen Sie sich nicht: Wir finden dafür in unserer Bevölkerung breite Unterstützung. Unsere Bürger haben ein deutlich spürbares Bedürfnis nach einer angemessenen Risikovorsorge in einer derart ungewissen Zeit.Die CDU/CSU bleibt entschlossen, diesem legitimen Bedürfnis auch weiterhin in verantwortungsvoller Weise politisch Rechnung zu tragen. Die Politik zur Sicherung von Frieden und Freiheit behält für uns unverändert ihren hohen Stellenwert.
Für uns ist übrigens gegenwärtig insbesondere die Lage in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion Anlaß zu erheblicher Sorge. Dies betrifft vor allem das große militärische Potential dieser Staaten, zumal ihre nuklearen und ihre chemischen Massenvernichtungsmittel. Die noch von der ehemaligen Sowjetunion eingegangenen Abrüstungsverpflichtungen müssen deshalb möglichst rasch umgesetzt werden. Die nuklearen und die chemischen Waffen müssen zuverlässig gelagert und vor fremdem Zugriff gesichert werden. Ihre Weiterverbreitung muß verhindert werden.
Ich denke, daß ein erster, kostengünstiger Schritt zunächst einmal die zentrale Lagerung dieser Massenvernichtungsmittel wäre.Wir fordern die GUS-Staaten auf, ihre Waffenproduktion drastisch zu verringern, um die dadurch frei
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5899
Dr. Wolfgang Schäublewerdenden Mittel zur Deckung des zivilen Bedarfs der Bevölkerung einzusetzen.
Die Republiken der ehemaligen Sowjetunion sollten deutlich den Zusammenhang sehen, der für uns zwischen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit ihnen und der Einhaltung, Durchführung und Fortsetzung des Abrüstungsprozesses auf ihrem Territorium besteht und bestehen muß. Es ist für uns nicht akzeptabel, daß von westlicher Seite beträchtliche wirtschaftliche Hilfe zur Linderung der Not der dortigen Bevölkerung geleistet wird, gleichzeitig aber die Waffenproduktion in den GUS-Staaten ungehindert fortgesetzt wird.
Die positiven Ergebnisse, die die erste Arbeitssitzung des NATO-Kooperationsrats über Ratifizierung und Erfüllung des Wiener Vertrags zur Abrüstung konventioneller Waffen in Europa erbracht hat, sind in diesem Zusammenhang ein hoffnungsvolles Zeichen. Die Tatsache, daß die teilnehmenden Staaten — neben den NATO-Staaten die ehemaligen Mitgliedsländer des Warschauer Pakts und die Vertreter der wichtigsten GUS-Republiken — sich darin einig waren, alles zu tun, damit der Vertrag bis zum Abschluß des KSZE-Folgetreffens am 24. März in Helsinki ratifiziert ist, ist uneingeschränkt positiv zu bewerten. Die Chance für eine Abrüstung konventioneller Waffen in Europa muß auch nach dem Auseinanderbrechen der ehemaligen Sowjetunion gewahrt werden.
Auf dem Weg zu einer neuen dauerhaften Friedens- und Sicherheitsordnung für Europa kommt der NATO auch weiterhin entscheidende Bedeutung zu. Wir müssen versuchen, die NATO noch stärker als bisher europäisch zu nutzen. Aber genauso unverzichtbar bleibt das amerikanische Engagement, die amerikanische Präsenz in Europa. Die NATO ist und bleibt das unverzichtbare Fundament für Stabilität und Sicherheit in Europa.
Die neue NATO-Strategie ist ein entscheidender Ansatz, den veränderten sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen Rechnung zu tragen. Erhöhte Flexibilität und Mobilität sind die vorrangigen Gesichtspunkte dieser neuen Strategie. An ihnen wird sich auch die notwendige Umstrukturierung der Bundeswehr orientieren müssen.Die alte, wesentlich auf dem Ost-West-Gegensatz basierende Weltordnung ist untergegangen, und ihr ist auch nicht nachzutrauern. Wie eine neue Weltordnung aussehen wird, wissen wir heute noch nicht. Fest steht nur, daß auch eine neue, globale Ordnung auf militärische Mittel vorläufig nicht wird verzichten können. Ohne angemessene militärische Mittel können Sicherheitssysteme, soweit wir die Zukunft abzusehen vermögen, nicht funktionieren. Der Golfkrieg hat gezeigt, daß zur Durchsetzung des Völkerrechts,zur Bekämpfung einer Aggression, zur Wiederherstellung des Friedens gegebenenfalls auch militärische Mittel eingesetzt werden müssen.Die Vereinten Nationen sind durch diesen Konflikt bedeutend aufgewertet worden. Sie sind einem Aggressor erfolgreich entgegengetreten. Das Entscheidende dabei ist die abschreckende Wirkung, die hiervon auf andere potentielle Friedensstörer ausgehen kann und ausgehen muß.
Wir wollen, daß die Vereinten Nationen bei der Sicherung und Bewahrung des Friedens zukünftig eine wichtigere Rolle spielen als bisher. Wenn wir eine solche Friedensordnung wollen, müssen wir auch unseren Beitrag dazu leisten.
Nachdem wir unsere staatliche Einheit und Souveränität wiedererlangt haben, werden wir unseren vollen Beitrag zur Sicherung und Wiederherstellung des Friedens und der internationalen Sicherheit leisten müssen. Dies bedeutet, daß notfalls auch Soldaten der Bundeswehr im Rahmen der Vereinten Nationen sowie im Rahmen eines europäischen Streitkräfteverbundes eingesetzt werden müssen. Ein Land von der Größe, der politischen Bedeutung und der wirtschaftlichen Stärke Deutschlands kann nicht auf Dauer nur Nutznießer einer internationalen Ordnung sein, ohne sich selber daran auch aktiv zu beteiligen.
Aus verfassungspolitischen Gründen wollen wir hierzu eine entsprechende Klarstellung in unserem Grundgesetz. Ich begrüße, daß der FDP-Vorsitzende Graf Lambsdorff — wie der Kollege Hoyer hier in der Debatte — erklärt hat, die FDP unterstütze aus Gründen der internationalen Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland den Einsatz von Bundeswehrsoldaten auch bei Kampfeinsätzen, die auf Entscheidungen des UN-Sicherheitsrates beruhen, und er trete dafür ein, die entsprechende Grundgesetzänderung noch vor anderen möglichen Verfassungsergänzungen vorzunehmen.
Auch die SPD muß sich endlich zu einer verantwortungsvollen Politik durchringen. Sonst entlarvt sie Behauptungen wie die jüngst von ihr verbreitete, sie sei bereits „auf dem Weg in die Regierungsverantwortung", als leere Phrasen, an die sie selbst nicht glaubt.Ich will übrigens gleich in aller Freundschaft hinzufügen — vielleicht sagen Sie das dem Kollegen Klose —: Ich würde es, wenn wir Plenardebatten noch attraktiver gestalten wollen, begrüßen, er würde uns seine Meinung dazu heute nicht durch ein Interview bei dpa, sondern im Rahmen dieser Debatte mitteilen.
Im übrigen finde ich es noch weniger schön, daß erseine Meinung in diesem Interview geändert hat. Er
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5900 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992
Dr. Wolfgang Schäublestellt sich nämlich jetzt auf die Linie des SPD-Parteitagsbeschlusses, was ich besonders bedaure;
denn er hat ja die Gegengründe dazu bisher zu Recht vorgetragen. Aber bitte sehr, wir werden das gerne miteinander diskutieren — nur müssen wir dafür zusammensein —, und der Ort, das zu diskutieren, ist in erster Linie der Plenarsaal des Deutschen Bundestages.
Zur Wahrhaftigkeit dieser Diskussion, wie wir sie führen müssen — auch im Interesse unserer Bundeswehr und aus unserer Verantwortung für unsere Soldaten —, gehört, meine Damen und Herren, daß wir sagen, daß auch bei UNO-Einsätzen der Bundeswehr Soldaten zu Schaden kommen können. Aus diesem Grunde ist eine verstärkte öffentliche Diskussion über die Schutzfunktion des handlungsfähigen Staates notwendig. Frieden, Freiheit, Sicherheit gibt es eben nicht zum Nulltarif. Unsere Bürger verstehen das, wenn sich die politisch Verantwortlichen dazu bekennen.
Wenn unsere Bundeswehr auch künftig den Auftrag hat, zusammen mit unseren Partnern und Verbündeten den Schutz und die Sicherheit unseres Landes und die Bewahrung des Friedens zu gewährleisten, dann müssen unsere Streitkräfte auch in Zukunft die Fähigkeit zu einer glaubwürdigen Verteidigung besitzen. Dann müssen ihnen auch in Zukunft die hierzu erforderlichen Mittel zur Verfügung gestellt werden.
Zur Verteidigung gehört im übrigen auch die Fähigkeit zur Luftverteidigung. Es ist unbestreitbar, daß wir spätestens dann, wenn die derzeit dazu eingesetzten Flugzeuge um das Jahr 2005 ihre Lebensdauergrenze erreicht haben, über ein neues Jagdflugzeug verfügen müssen.
Über die Beschaffung eines neuen Jagdflugzeugs werden wir dann im Sommer dieses Jahres entscheiden, wenn alle Alternativen auf dem Tisch liegen.Unsere Soldaten dienen, um Kriege und militärische Auseinandersetzungen zu verhindern, um mögliche Gefährdungen für die Bundesrepublik Deutschland auszuschließen. Dienst in der Bundeswehr ist unverändert Dienst für den Frieden.
Ich will an dieser Stelle den Angehörigen der Bundeswehr, den Soldaten und auch den zivilen Beschäftigten, für den von ihnen geleisteten Beitrag ausdrücklich meinen Dank und meine Anerkennung sagen.
Sie haben in vier Jahrzehnten dafür gesorgt, daß derFrieden in Freiheit erhalten blieb. Sie verdienenunsere Solidarität auch gegen unsachliche Angriffe, wie wir sie immer wieder erleben müssen.Dieser Dank gilt im übrigen genauso unseren Verbündeten, die uns Frieden und Freiheit bewahrt, die uns die Herstellung der deutschen Einheit und die weitreichenden Abrüstungsschritte ermöglicht haben, von denen wir alle in Europa heute profitieren.
Die Bundeswehr steht heute in dem wohl einschneidendsten Strukturwandel seit ihrem Bestehen. In den zurückliegenden Monaten ist dazu Bemerkenswertes geleistet worden. An den getroffenen Grundsatzentscheidungen wollen wir festhalten.Dies gilt insbesondere für den Umfang unserer Streitkräfte von künftig 370 000 Mann. Die Reduzierung der Bundeswehr auf 370 000 Mann ist nicht nur eine vertragliche Verpflichtung und auch ein Preis für die deutsche Einheit, sondern sie ist zugleich Vorleistung der Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf weitere Vereinbarungen im Rüstungskontrollprozeß.
Wir fordern die anderen beteiligten Staaten auf, diesen Schritt nachzuvollziehen.
Im übrigen zeigt dies, wie erfolgreich diese Bundesregierung auch auf dem Feld der Abrüstung ist. Das Versprechen von Bundeskanzler Helmut Kohl, Frieden zu schaffen mit weniger Waffen, ist voll eingelöst worden. Ich möchte hinzufügen: Dieser Erfolg ist auch durch die konsequente Umsetzung des NATO-Doppelbeschlusses durch diese Bundesregierung Anfang der 80er Jahre möglich geworden.
Dies zeigt, daß beides zugleich möglich ist: eine Politik der verteidigungspolitischen Vorsorge und Abschreckung ebenso wie eine Politik der aktiven abrüstungs- und friedenspolitischen Gestaltung. Es gehört zu den großen Leistungen der Bundesregierung unter Bundeskanzler Kohl, diesen Gleichklang erreicht und beibehalten zu haben.Auch diese verkleinerte Bundeswehr bleibt eine Wehrpflichtigenarmee. Wir müssen allerdings noch einiges tun, um das Problem der Dienstgerechtigkeit in den Griff zu bekommen. Denn für die allgemeine Zustimmung zum Wehrdienst ist es entscheidend, daß das Gerechtigkeitsempfinden nicht verletzt wird.
Die neue Bundeswehrplanung stellt eine gewaltige Leistung aller Verantwortlichen dar, eine Leistung, der ihre Kritiker auch nicht im Ansatz gerecht werden. Ich nenne nur die enormen Probleme der Umstellung auf eine Personalstärke von 370 000 Mann und die Integration der ehemaligen NVA in die Bundeswehr. Für die geleistete Arbeit spreche ich dem Bundesminister der Verteidigung im Namen der CDU/CSU- Fraktion meinen Dank und meine Anerkennung aus.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5901
Dr. Wolfgang SchäubleIch möchte in diesen Dank auch meinerseits ausdrücklich die Mitglieder der unabhängigen Kommission einbeziehen, deren Bericht wertvolle Anregungen und Empfehlungen für die künftigen Planungen enthält.Die Bundeswehr kann sich darauf verlassen, daß die CDU/CSU-Fraktion weiter die erforderlichen Entscheidungen treffen wird, um die Einsatzfähigkeit unserer Streitkräfte zu sichern. Und unsere Bürger können sich darauf verlassen, daß wir, unbeirrt von lautstarken Parolen und populistischen Forderungen, das Notwendige tun werden, um ihnen ein Leben in Frieden und Freiheit auch in Zukunft zu sichern.
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Dieter Heistermann das Wort.
Herr Kollege Schäuble, lassen Sie mich zu Ihrer doch etwas billigen Replik auf den Kollegen Klose einiges antworten.
Erstens. Der Kollege Klose war hier anwesend. Er konnte leider nicht bei der gesamten Debatte dabei sein.
— Hören Sie doch bitte erst in aller Ruhe zu!
Zweitens. Kollege Schäuble, auch Ihnen könnte es recht bald passieren, daß Sie bei einer wichtigen Debatte in diesem Hause nicht dabei sein können. Wir würden es uns dann aber versagen, das hier in dieser Art und Weise festzustellen. Vielleicht überlegen Sie sich diese Bemerkung noch einmal.
Ich glaube, den Stil wie eben sollten wir hier nicht einführen.
Weitere Bemerkung: Ich denke, Kollege Schäuble, Sie müssen registrieren, daß zu Beginn des letzten Jahres anläßlich des Golfkrieges plötzlich sehr viele ehemalige Soldaten als Kriegsdienstverweigerer aufgetreten sind. Das hatte ja Ursachen.
Über diese Ursachen sollten wir hier sprechen. Ich sage in aller Deutlichkeit: Die Sozialdemokraten treten dafür ein, daß man das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung und die Wehrpflicht so stehenläßt wie im Grundgesetz ausgeführt.
Wir treten dafür ein, daß auch der Frieden in dieser Gesellschaft erhalten bleibt, daß wir nicht wieder die alten Debatten darüber bekommen: Was ist wichtiger? Ich denke, wir sollten uns auf diese Grundwerte verständigen und sie beide schützen, sowohl das eine als auch das andere.
Herr Kollege Schäuble, da Sie uns in Ihrem Beitrag in wesentlichen Punkten nicht widersprochen haben, können wir davon ausgehen, daß die Gemeinsamkeiten vielleicht größer sind, als sie in Ihrem Redebeitrag zum Ausdruck kamen.
Zu einer Erwiderung auf diese Kurzintervention Herr Kollege Schäuble.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Heistermann, ich will das gleich in Ordnung bringen, damit kein Mißverständnis entsteht. Es ist völlig klar, daß der Kollege Klose, wie ich, wie alle anderen Kollegen dieses Hauses, nicht ständig im Plenarsaal anwesend sein kann. Das ist überhaupt nicht mein Kritikpunkt.
Gleichwohl finde ich es nicht in Ordnung, daß, wenn wir hier im Deutschen Bundestag über Verteidigungspolitik diskutieren, der Kollege Klose, der, was völlig in Ordnung ist, nur teilweise an der Debatte teilnehmen kann, in Form eines Interviews zu dieser Debatte Stellung bezieht. Das wollte ich einmal klären.
Man kann das eine oder das andere, an der Debatte teilnehmen oder nicht; aber wenn man sich an der Diskussion beteiligt, sollte man seinen Beitrag innerhalb dieser Debatte leisten.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 12/1846. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist dieser Entschließungsantrag so angenommen.Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/1928. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist dieser Entschließungsantrag abgelehnt.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 5 auf:5. Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungBericht der Bundesregierung über die Entwicklung der Finanzhilfen des Bundes und der Steuervergünstigungen gemäß § 12 des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachsstums der Wirtschaft vom 8. Juni 1967 für die Jahre 1989 bis 1992 (Dreizehnter Subventionsbericht)— Drucksache 12/1525 —Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuß
FinanzausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
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5902 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992
Vizepräsidentin Renate SchmidtIm Ältestenrat sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen worden. Gibt es dazu irgendeinen Widerspruch? — Das scheint nicht der Fall zu sein. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erster hat Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald das Wort.
Der von der Bundesregierung turnusgemäß vorgelegte Dreizehnte Subventionsbericht informiert über die Entwicklung der Finanzhilfen des Bundes auf der einen Seite und der Steuervergünstigungen auf der anderen Seite in der Zeit von 1989 bis 1992.Über die Auswirkungen, die mit den beispiellosen Herausforderungen für die Finanzpolitik durch die deutsche Einheit verbunden sind, ist in diesem Hause wiederholte Male intensiv gesprochen worden, zuletzt bei der Verabschiedung des Haushaltsplans. Dabei ist eines klargeworden: Notwendige Hilfen für die neuen Bundesländer beeinflussen maßgeblich die Entwicklung der Finanzhilfen und Steuervergünstigungen des Bundes, die in Ost und West entgegengesetzt verläuft. Der Anstieg der Subventionen in 1991 ist ausschließlich — ich betone: ausschließlich — durch die Vereinigung bedingt.Es ist als großer Erfolg zu werten, daß die unabweisbaren zusätzlichen Anforderungen im Zuge der deutschen Einheit gesamtwirtschaftlich und finanzpolitisch verträglich abgefangen werden konnten. Es ist gelungen, den Ausgabenanstieg im Finanzplanungszeitraum von 1992 bis 1994 auf nur 2,3 v. H. zu begrenzen. Die Weichen stehen also auf Konsolidierung. Wir knüpfen damit an den Konsolidierungskurs der 80er Jahre an. Die kommenden Jahre erfordern strikte Ausgabendisziplin. Nach wie vor gilt das von der Koalition beschlossene Moratorium für neue Leistungsgesetze.Die Subventionen zu begrenzen und abzubauen ist dabei ein wichtiger Baustein der Konsolidierung. Das wird in den kommenden Jahren im alten Bundesgebiet zwangsläufig stärker zu Buche schlagen als in den jungen Bundesländern.40 Jahre Sozialismus hinterließen eine nicht wettbewerbsfähige und in der Substanz schwer geschädigte Volkswirtschaft. Ich erinnere, daß wir uns heute morgen im Unterausschuß Treuhand wiederholte Male mit diesem Problem befaßt haben. Die ganzen Auswirkungen spülen nahezu täglich wieder hoch. Es fehlen leistungsfähige Unternehmen. Vor allem fehlt private unternehmerische Initiative. Ohne vorübergehende staatliche Hilfen wäre der einschneidende Prozeß der Umstellung auf unsere marktwirtschaftliche Ordnung überhaupt nicht zu bewältigen. Es ist ganz unerläßlich, daß neue Finanzhilfen und Steuervergünstigungen für die jungen Bundesländer die Umstellung beschleunigen und die beispiellose strukturpolitische Anpassung abfedern. Den Grundstein für wirtschaftliche Gesundung und mehr Wachstum legen private Investitionen. Insbesondere die befristete Investitionszulage und die Sonderabschreibungen auf der steuerlichen Seite sowie die Hilfen für diebetrieblichen Investitionen aus dem Haushalt haben schnell günstige Rahmenbedingungen geschaffen.Mit diesen Maßnahmen ist die Wende zum Besseren in den neuen Bundesländern eingeleitet worden. Die Erfolge sind bereits sichtbar: im Handwerk und bei der Bauindustrie. Weil es Ihnen nicht gefällt, zitiere ich noch die Neujahrsumfrage des Allensbacher Instituts: In Ostdeutschland war der Optimismus in den vergangenen Monaten größer als je zuvor seit der Vereinigung.
Ich füge hinzu: Das ist gut so. Zwei Drittel jeder Hilfe — also auch der Subventionen — ist, Mut einzuflößen; so sagt ein israelisches Sprichwort.
Insgesamt sind im Subventionsbericht für 1991 11 Milliarden DM ausgewiesen, die als Finanzhilfen und Steuervergünstigungen in die jungen Länder flossen. Im Zuge der Verabschiedung des Bundeshaushalts 1992 hat sich das Volumen auf 11,8 Milliarden DM erhöht. Diese Subventionen — darüber besteht wohl Einigkeit — sind sozusagen Investitionen in den wirtschaftlichen Gesundungsprozeß und damit in die Zukunft, also zukunftssicherende Investitionen, die für unsere Kinder und Kindeskinder reichhaltige Ernte in die Scheuern einbringen werden.Auf der anderen Seite ist entgegen allen Unkenrufen deutlich abzulesen, daß für das Gebiet der alten Bundesrepublik die Subventionen des Bundes 1991 und 1992 absolut zurückgehen. Obwohl in den abschließenden Haushaltsberatungen aus guten Gründen — daran sieht man auch die ganzen Schwierigkeiten — der ausgelaufene Einkommensausgleich für die Landwirtschaft durch Finanzhilfen ersetzt und insbesondere die Kokskohlenbeihilfe wieder aufgestockt worden ist — daran sieht man die ganze Sensibilität und auch die Grenzen der politischen Durchsetzbarkeit —,
gehen die Finanzhilfen und Steuervergünstigungen für die alten Bundesländer 1991 und 1992
um 13 % zurück. Für 1992 sinkt auch die Gesamtsumme aller Bundessubventionen wieder.Der Dreizehnte Subventionsbericht dokumentiert also deutlich, daß der Subventionsabbau in den alten Bundesländern in Gang gekommen ist.Subventionsabbau — das haben wir, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, im letzten Jahr alle miteinander, vor allen Dingen wir in der Arbeitsgruppe, leidvoll erfahren — ist äußerst schwierig. Ein sofortiger und radikaler Subventionsabbau ist zwar schnell gefordert. Wenn es aber ans Konkrete geht und erkennbar wird, welche Gruppe oder welcher Wirtschaftsbereich betroffen wird, dann finden sich regelmäßig schnell engagierte Verteidiger der betreffen-
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Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewaldden Subvention. In der Tat können häufig auch gute Gründe gegen allzu rigorose Einschnitte angeführt werden. Deshalb ist auch hier Augenmaß gefordert.Die Bundesregierung folgt daher dem Grundsatz, die Marktkräfte zu stärken und nicht den nationalen und internationalen Wettbewerb durch Subventionen zu verzerren. Andererseits ist sie sich aber auch bewußt, daß zur sozialen Marktwirtschaft in eng begrenzten Fällen auch Hilfen gehören, um den Strukturwandel zu erleichtern und abzufangen, wie am Beispiel der neuen Länder so besonders deutlich wird.
Die Erfahrung lehrt: Dauerhafte Erfolge können deshalb meist nur relativ langsam und in Schritten erzielt werden. Der langfristige Vergleich zeigt: Die Bundesregierung war erfolgreich in ihrem Ziel, Wildwuchs zu beschneiden und die Subventionen zu begrenzen.Von 1982 bis 1990 stiegen die Finanzhilfen und Steuervergünstigungen des Bundes deutlich langsamer als das Bruttosozialprodukt. Gemessen am Bruttosozialprodukt verringerte sich ihr Anteil in diesem Zeitraum von 1,5 auf 1,2 v. H. Nach dem unabweisbaren, einigungsbedingten Anstieg 1991 ist die Quote 1992 wieder rückläufig und wird sich bei etwa knapp 1,3 % einpendeln. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht nimmt der Stellenwert von Finanzhilfen und Steuervergünstigungen somit ab.Ein wichtiger Schritt in Richtung Subventionsabbau war die Steuerreform 1990: Den wachstumsfördernden Tarifentlastungen stand eine erhebliche Einschränkung steuerlicher Vergünstigungen gegenüber.
Ins Gewicht fällt darüber hinaus, daß seit 1991 die Berlin- und Zonenrandförderung zurückgeführt wird, im Endeffekt um 10 Milliarden DM im Jahr. Der Abbau teilungsbedingter Lasten trägt so dazu bei, die Kosten der Einheit zu finanzieren.Die besondere Situation im Zusammenhang mit der deutschen Einheit erfordert aber zusätzliche Anstrengungen.
Deshalb hatte die Koalition bereits vor einem Jahr beschlossen, ein Paket von Einsparungen in Höhe von insgesamt 10 Milliarden DM zu erreichen. Diese Vorgabe ist durch das Konzept der Bundesregierung eingehalten worden,
das Haushalts- und Steuermaßnahmen im Durchschnitt der Jahre 1992 bis 1994 sogar um etwas mehr als 10 Milliarden DM umfaßt.Der steuerliche Teil liegt, wie Sie wissen, zur Zeit im Vermittlungsverfahren. Doch kann es mit uns — und das sei an dieser Stelle ganz deutlich gesagt — keine Lösung geben, die zwar für die Unternehmen noch diesteuerlichen Belastungen, die vorgesehenen Entlastungen aber nicht mehr enthält.
Die Bundesregierung hat im übrigen ihr Einsparziel nie auf den Subventionsbericht beschränkt. Das wäre auch falsch gewesen. Sie wissen, daß der Begriff der Subvention wissenschaftlich höchst umstritten ist.
Der Abbau von 10 Milliarden DM umfaßt vielmehr auch steuerliche Privilegien
und Sondervergünstigungen, die eben nicht unter den Subventionsbericht fallen, weil im Subventionsbericht eine ganz strenge Abgrenzung vorgenommen wird.
Das ist doch aber auch überhaupt nicht bedeutsam. Aus der Sicht des Bundesfinanzministers und des Haushalts kommt es doch allein auf die Wirkungen dieser Maßnahmen an, und die liegen bei über 10 Milliarden DM.Trotz der dargelegten Erfolge beim Subventionsabbau
möchte ich Ihnen deutlich sagen, daß für den Bundesfinanzminister damit die Politik der Begrenzung und Verringerung von Subventionen keineswegs abgeschlossen sein kann. Auch weiterhin müssen alle Möglichkeiten zur Einsparung und Konsolidierung ausgeschöpft werden.
Auch zukünftig gilt: Jede einzelne Maßnahme muß auf den Prüfstand und ist genau zu prüfen, wohlwissend — auch das haben wir gelernt —, daß das eine Sisyphusarbeit ist. Wir haben schon einiges erreicht, dürfen uns aber keineswegs damit zufriedengeben; denn der Abbau von Subventionen ist ein dauerhafter Prozeß.
In diesem Zusammenhang appelliere ich abschließend auch einmal an die Länder und die Gemeinden im alten Bundesgebiet, ihr Ausgabeverhalten zu überprüfen. Auch die haben ja ganz erhebliche Subventionen. Sie mögen sich auch bitte bemühen, ihre großen Haushaltsdefizite zurückzuführen. Sie mögen bitte schön auch endlich Ihren angemessenen Anteil an den Kosten der deutschen Einheit übernehmen.
Denn die Wiedervereinigung ist eine gesamtstaatliche Aufgabe, an der alle Gebietskörperschaften, alle Ebenen, egal, ob Bund, Länder oder Gemeinden, ihren angemessenen Beitrag zu leisten haben.
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5904 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992
Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald Ich danke Ihnen sehr.
Als nächster hat unser Kollege Helmut Wieczorek das Wort.
Frau Vorsitzende!
— Frau Präsidentin! Schon wieder derselbe Fehler, der mir bei Ihnen immer unterläuft. Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Frau Präsidentin.
Das kommt daher, weil Sie so freundlich einführen und dann die Stimmung bei Ihren anderen Kollegen etwas anders wird als normal.
— Schön, nicht? —Jetzt aber richtig: Die heutige Debatte zum Dreizehnten Subventionsbericht der Bundesregierung bildet für mich zugleich den Auftakt der finanzpolitischen Auseinandersetzungen dieses Jahres. Zurück aus der Weihnachtspause muß man sich schon die Augen reiben: Das wirtschafts- und finanzpolitische Umfeld scheint sich dramatisch verändert zu haben. Noch während der Haushalts- und der Europadebatte Ende letzten Jahres tauchte die Bundesregierung die Zukunft in das von ihr sattsam bekannte optimistische Licht.Jetzt aber, in den Pressekonferenzen von Kanzler und Wirtschaftsminister, ist das Jahr 1992 plötzlich ein drohendes Krisenjahr geworden. Es wird zum wirtschaftspolitischen Schicksalsjahr der Nation heraufstilisiert.Das ist wahr, aber nicht neu. Dies ist nämlich die sozialdemokratische Botschaft des letzten Jahres. Seit Monaten fordern die Opposition, die Forschungsinstitute, die Sachverständigen und die Bundesbank einen klaren Kurs der Finanzpolitik, um die Schulden- und Steuerschraube in den Griff zu bekommen. Seit Jahren sprechen wir uns gegen die gesamtwirtschaftlich schädlichen Folgen einer Mehrwertsteuererhöhung aus. Seit Monaten wird das wirtschaftliche Wachstum für 1992 auf eine mittlere Größenordnung von 1 bis 1,5 % geschätzt, was jetzt der Bundeswirtschaftsminister als große Neuigkeit seines Jahreswirtschaftsberichts auszugeben versucht.Der Bundesregierung scheint jede Fähigkeit abhanden gekommen zu sein, die in Richtung Selbstkritik geht.
Sie sucht ständig, die Schuld einseitig auf die Tarifrunde dieses Jahres abzuwälzen. Damit ganz klar werden soll, wer die Schuld für einen wirtschaftlichen Einbruch zu tragen hat, heizt der Wirtschaftsminister den sogenannten Verteilungskampf so richtig an und verlangt eine Vier vor dem Komma der Tarifabschlüsse. Das ist tarifpolitische Brandstiftung.Jede Bundesregierung hat das Recht, sich zu gesamtwirtschaftlichen Wirkungen der Tarifpolitik zu äußern. Was die Gewerkschaften aber zu Recht empört, ist, daß dies mit dem Ruf „Haltet den Dieb" geschieht. Dieser Taktik der Bundesregierung, Sündenböcke für das eigene finanzpolitische Versagen zu suchen, erteilt die SPD-Fraktion eine klare Absage.
Die Tarifforderungen der Gewerkschaften entspringen ja nicht den Köpfen einer Handvoll von Funktionären. Sie sind das Ergebnis eines vielschichtigen und aufgestauten Unmuts der Arbeitnehmer: aufgestauter Unmut über die Umverteilungspolitik der Bundesregierung in den 80er Jahren, in denen die Unternehmergewinne zehnmal so stark stiegen wie die Kaufkraft der Arbeitnehmereinkommen bei gleichzeitiger lohnpolitischer Zurückhaltung der Gewerkschaften; gerechter Zorn über die Schulden- und Steuerpolitik der Bundesregierung, die sich als unfähig erwies, ein finanzpolitisch überzeugendes und sozial gerechtes Konzept für die ökonomische Vereinigung zu entwickeln. Statt dessen wurden die Arbeitnehmer einseitig belastet, so daß die Realeinkommen stagnieren.Letzlich gibt es die Zukunftssorge vor ständig steigenden Belastungen als Ausdruck der Krise des Vertrauens in eine Politik, die mit Wortbruch und Täuschung ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt hat.
Meine Damen und Herren, vor nicht langer Zeit, vor ein paar Wochen, habe ich hier in der zweiten Lesung zum Bundeshaushalt den Bundesfinanzminister angesprochen und habe ihn gewarnt. Ich habe ihm wörtlich gesagt: „Wenn Sie, Herr Bundesfinanzminister, selbst den Mut zur Umkehr nicht aufbringen, wird die Bundesbank Sie mit einer restriktiven Politik dazu zwingen müssen."
— Ohne Erfolg; denn die Bundesbank hat sich jetzt zum Handeln genötigt gesehen, Herr Kollege, und hat trotz der abflauenden Konjunktur einen Diskontsatz beschlossen, den wir in der Nachkriegsgeschichte noch nie gehabt haben. Das hätte die Regierung zum Handeln bringen müssen und nicht ein Kontrollinstrument.
Wenn die Bundesbank in ihrer verantwortungsvollen Politik vor der Entwicklung neuer Tarife dieses Zinssignal geben muß, dann ist das ein für die Bundesbank genauso schmerzlicher Eingriff wie für uns alle. Sicherlich hat es sich niemand leicht gemacht, diese Dinge durchzusetzen. Die Finanzpoli-
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Helmut Wieczorek
tik ist nicht dadurch geschädigt worden, sondern durch Ihre verfehlte Politik.
Die gesamtwirtschaftliche Vernunft der Gewerkschaften hat für die Wettbewerbsfähigkeit des Industriestandortes Bundesrepublik Deutschland in der Vergangenheit mehr bewirkt, als ganze Politikergenerationen vom Schlage eines Möllemann je bewirken werden.
Deshalb, meine Damen und Herren: Wer an die gesamtstaatliche Verantwortung der Gewerkschaften appelliert, muß selbst zu solidarischem Handeln, zum Kurswechsel und zur Korrektur seiner Politik bereit sein.
Hier ist die Bundesregierung gefordert.
In kaum einem anderen Punkt zeigt sich die Mitschuld der Bundesregierung so exemplarisch wie bei dem makabren Subventionstheater zu Lasten einer soliden Haushaltspolitik. Vorausschauend hat Graf Lambsdorff im Herbst 1990 geweissagt: In dem Augenblick, in dem die Steuererhöhungsschleuse geöffnet wird, kann man die Diskussion über den Subventionsabbau beenden. Während der Altmeister wußte, wovon er redete, glaube der Lehrling im Sessel des Bundeswirtschaftsministers, Herr Möllemann, das ideale Profilierungsfeld gefunden zu haben. Diese Regierung braucht nicht mehr zuzugeben, daß sie mit ihrem Vorhaben, die Subventionen um 10 Milliarden DM abzubauen, gescheitert ist; denn jeder sieht es inzwischen.Als Subventionsabbau wurde ausgegeben, was lange im Haushalt stand, nämlich das Auslaufen gesetzlich feststehender Subventionen und der Verzicht auf die Aufstockung von Subventionen. Die bloße Absicht, bei der Europäischen Gemeinschaft für einen Subventionsabbau einzutreten, wurde in ihrer Rechnung mitgezählt. Wenn das intellektuell redlich ist, dann möchte ich mal wissen, wie Sie das Wort Redlichkeit eigentlich definieren, meine Damen und Herren.
Es geht hier um das vorgezogene Etatisieren von Einsparungen, die in späteren Jahren überhaupt erst kassenwirksam werden sollen.
Ergebnis der Beratungen zum Steueränderungsgesetz und zum Haushalt 1992 war, daß von den im Subventionsbericht enthaltenen Steuersubventionen statt der angekündigten 5 Milliarden DM in diesem Jahre ganze 67 Millionen DM eingespart werden sollen.
Im nächsten Jahr werden sich die Steuersubventionen sogar wieder um 1,8 Milliarden DM erhöhen.
Denken Sie immer daran: Eine Milliarde sind 1 000 Millionen, Herr Kollege. An Ihrer Reaktion merke ich aber, daß Sie noch nicht einmal die Dimension dieser Zahl erkennen. Die Finanzhilfen, Herr Kollege Weng, werden sogar noch einmal um knapp 2 Milliarden DM aufgestockt. Das werden mehr als 10 % aller im Subventionsbericht überhaupt angesprochenen Finanzhilfen sein.In einem Punkt sind Sie allerdings zugegebenermaßen hart geblieben, nämlich da, wo es darum ging, Langzeitarbeitslose in den alten Bundesländern weiterhin in die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen einzubetten. 560 Millionen DM haben Sie dort gespart und haben das als Subventionsabbau ausgegeben.
Ist das intellektuell redlich, Herr Kollege Müller?
Meine Damen und Herren, Subventionen müssen danach bewertet werden, ob sie Zukunftschancen verbessern oder ob sie sich sinnvoll in ein wirtschafts- und finanzpolitisches Gesamtkonzept einfügen.
Aus diesen Gründen schreibt das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz vor, die Subventionen in Erhaltungs-, Anpassungs- und Produktivitätshilfen zu untergliedern. Während 1982 — das Jahr, auf das Sie so gern eingehen — der Anteil der Erhaltungshilfen lediglich 18 % betrug, erhöhte er sich nach den Haushaltsberatungen für 1992 auf fast 39 %.Es ist ein strukturelles Problem Ihrer Politik, daß Sie als konservative Regierung das Instrument Subventionen vornehmlich zur Konservierung alter Strukturen einsetzen, statt Umstrukturierungs- und Produktivitätshilfen zu forcieren. Auch wenn die Abgrenzungen nicht immer sachgerecht erscheinen, an der Grundaussage ändert sich nichts.Es ist auch nicht zu bestreiten, daß es sich bei den Ergebnissen der Kohlerunde 1991 um ein Anpassungskonzept handelt. Vollkommen richtig! Unternehmen wie Gewerkschaften, Herr Kollege Müller, Bund und Länder haben sich auf ein struktur- und sozialpolitisch abgestimmtes Kohlegesamtkonzept verständigt, das die Zukunftschancen der betroffenen Regionen verbessern soll. Hier liegt auch der entscheidende Unterschied zu den drastischen Aufstockungen der Agrarsubventionen.Um Mißverständnissen allerdings von vornherein vorzubeugen: Es geht nicht darum, Bauern und Kumpel gegeneinander auszuspielen. Inhaltlich geht es darum, die ökonomisch nicht mehr verkraftbaren Dauersubventionierungen in der Landwirtschaft von der Mengensubventionierung auf die direkten Einkommenshilfen umzustellen.
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5906 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992
Helmut Wieczorek
Die Agrarhilfen sind so hoch wie nie, und dennoch haben wir die ärmsten Bauern, die es jemals in der Geschichte unseres Landes gab.
Meine Damen und Herren, mit der Aufstockung des soziostrukturellen Einkommensausgleichs für Ost und West um 1,4 Milliarden DM wird nach dem gesetzlichen Auslaufen der steuerlichen Regelungen eine neue Dauersubventionierung eingeführt. Handwerklich geschieht das sogar in einer stümperhaften Weise, die der Qualität des Finanzministeriums absolut nicht entspricht. Die gesetzliche Grundlage für diese Subventionierung ist nämlich überhaupt noch nicht in Sicht, weil der Versuch einer Abstimmung mit den Ländern zur Übernahme des ergänzenden Kostenanteils von 35 % festgefahren ist. Damit droht eine zusätzliche Aufstockung der neuen Subventionen auf über 2 Milliarden DM ausschließlich aus Bundesmitteln, Herr Kollege Weng.
Ich habe Sie gestern gefragt, wie Sie eigentlich das Risiko für dieses Jahr einschätzen. Da hat Ihre Regierung großspurig geantwortet, sie habe kein Risiko. Aber Risiken in Größenordnungen von tausend Millionen werden bei Ihnen schon nicht mehr mitgezählt. Eine Milliarde geben Sie schlicht einmal über den Tisch, was das auch immer für unsere Kinder und Kindeskinder an zusätzlichen Zinsen bedeutet.Ein besonders dunkles Kapitel ist die Effizienzkontrolle der Subventionen. Nur ein Beispiel dafür: Für die sogenannte Denaturierung von Magermilch und Magermilchpulver zur Verfütterung an Schweine wurde im sogenannten Beitrittsgebiet eine Sonderbeihilfe gewährt. Als Anspruchsberechtigte für diese Subvention taucht nun eine Handels- und Grundstücksaktiengesellschaft mit Sitz in München auf. Meine Damen und Herren, ich frage Sie: War das eigentlich so gewollt? Kontrollieren Sie so die Ausgaben des Bundes, und gehen Sie so mit dem Geld des Steuerzahlers um?Aber dazu paßt auch noch eine andere Sache hervorragend: Der Bundesrechnungshof ist jetzt einer anderen grotesken Fehlentwicklung auf die Spur gekommen, über die wir uns im Haushaltsausschuß sicherlich noch unterhalten müssen. Während nämlich die Mitglieder der Bundesregierung den öffentlichen Dienst wegen seiner Forderungen schelten, bedienen sie sich selbst in großzügigster Weise mit hochdotierten, zusätzlichen Stellen in den Ministerien, die ihnen eigentlich für zusätzliche Aufgaben wegen der deutschen Einheit bewilligt wurden.Der Bundesrechnungshof hat jetzt festgestellt, daß von 97 höchstwertigen Stellen mehr als die Hälfte, nämlich 51, bestimmungsfremd verwendet worden sind.
Das heißt, sie haben mit der deutschen Einheit überhaupt nichts zu tun, sondern sie werden so eingesetzt, wie es dem Ministerium und dem Minister gerade gefällt. Den Spitzenreiter haben wir auch hier leiderwieder im Wirtschaftsministerium. Wirtschaftsminister Möllemann marschiert nämlich auch hier mit an der Spitze: Er hat 16 hochdotierte Stellen bekommen, und von diesen 16 Stellen sind 12 fehlbesetzt. Das sind drei Viertel. Die Bundesregierung hintergeht hier den Willen des Parlamentes. Wir werden im Haushaltsausschuß dafür zu sorgen haben, daß nicht nur das in der Presse steht, sondern auch die Erfolge des Haushaltsausschusses dabei. Ob Ihnen dann das Lachen nicht vergehen wird, darauf bin ich gespannt.Herzlichen Dank.
Als nächster hat der Kollege Hans-Werner Müller das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kollegen!
Herr Kollege Walther, Sie sind gespannt, was ich sage.
Ich bin enttäuscht von dem, was der Kollege Helmut Wieczorek gesagt hat.
Wir kennen ihn ansonsten als einen sehr sachkundigen Kollegen.
Das, was er hier vorgebracht hat, ist so das Rituelle, was bei den Debatten zum Subventionsbericht seitens der Opposition immer vorgebracht wird. Ich habe mir nämlich einmal die Mühe gemacht, nachzulesen, was der Kollege Wieczorek schon zum 11. und zum 12. Bericht gesagt hat.
Ich habe nur noch gewartet, daß die „Perspektivlosigkeit" und die „Passivität gegenüber Lobby-Interessen" kommen; das hat noch gefehlt. Aber ansonsten war es dasselbe Strickmuster.
Die erfolgreichen Bemühungen der Bundesregierung bezüglich des Subventionsabbaus, die aus diesem Bericht hervorgehen, insbesondere die Differenzierung zwischen dem Abbau West und dem notwendigen Aufbau Ost, zeigen doch, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß Sie mit Ihrer ganzen Polemik im letzten Halbjahr völlig daneben gelegen haben.
Herr Kollege Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Sie wird Ihnen nicht angerechnet.
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Aber selbstverständlich.
Herr Kollege Müller, meine Zwischenfrage ist auch sicherlich nicht polemisch. Ich möchte Sie eigentlich nur fragen, ob Sie nicht mit mir der Meinung sind, daß jeder Redner seine Reden der Vorjahre nachlesen sollte, bevor er eine neue macht.
Sehr gut, selbstverständlich! Ich habe mir darüber hinaus auch noch das Vergnügen gemacht, Ihre Reden durchzulesen. Insofern war ich in der guten Position, daran anknüpfen zu können.Meine Damen und Herren, Sie sprechen von „beispiellosem Desaster" bei dem Abbau von Subventionen in der Vergangenheit. „Hohles Geschwätz" haben Sie der Bundesregierung vorgeworfen. Von einem „selbstgesponnenen Geflecht von Halbwahrheiten", „Mogelpackungen" und vielem anderem mehr war die Rede.
Es ist leider so, daß durch solche Polemik der Blick für eine vernünftige Auseinandersetzung verstellt wird.Bevor ich ein paar grundsätzliche Bemerkungen mache, darf ich die Doppelzüngigkeit, die hier zutage tritt und die auch Sie schon angesprochen haben, noch einmal anführen. Sie haben zu Recht, Herr Kollege Wieczorek, den Kohlekompromiß angesprochen. Sie haben ihn gewürdigt; ich würdige ihn auch. Aber wenn die Bundesregierung ihr positives Erscheinungsbild darstellt, indem sie z. B. durch Bundeswirtschaftsminister Möllemann fordert, daß Subventionen abgebaut werden, auch im Kohlebereich, dann erfährt das bei Ihnen die Polemik, die wir kennen. Ich habe die Presseerklärungen des Kollegen Jung von Ihrer Seite hier vorliegen.Meine Damen und Herren, damit keine Legende entsteht: Ich habe mich für den leistungsfähigen Bergbau in Deutschland als einzige sichere heimische Energie eingesetzt und werde das auch in Zukunft tun. Was zu der Möllemannschen Aktion in diesem Zusammenhang zu sagen ist, habe ich ja, wie Sie wissen, im Haushaltsausschuß zum Ausdruck gebracht.
— Herzlichen Dank für das Kompliment! —(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Das kannstdu schon wiederholen!)Wir haben im Haushaltsausschuß dann die Kokskohlenbeihilfe noch um 200 Millionen DM erhöht. Da habe ich von Ihrer Seite überhaupt keinen Widerspruch gehört. Das sind immerhin 10 % der zusätzlichen Finanzhilfen gegenüber dem 13. Subventionsbericht, die wir in den Haushalt eingebaut haben. Ich kann mich nicht daran erinnern, daß da von Ihrer Seite irgendein Widerspruch oder ein Widerstand gekommen ist. Also bitte etwas mehr Redlichkeit in der politischen Auseinandersetzung, verehrte Kollegen!Hier will ich auch noch etwas Grundsätzliches sagen, und das ist auch wieder bei Ihrem Beispiel zum Ausdruck gekommen, daß die Steuervergünstigung nur auf 67 Millionen DM heruntergefahren worden ist. Sie bedienen sich eines Subventionsbegriffes, wie Sie sozusagen gerade lustig sind. Da nimmt jeder die Definition, die ihm gerade gefällt. Da sagen Sie z. B., wenn staatliche Zuwendungen mit Subventionscharakter gekürzt werden, das seien im Grunde genommen nur Kürzungen von verschiedenen Haushaltstiteln. Oder Sie ereifern sich, der Abbau von überhöhten Steuerbelastungen von Unternehmen sei im Prinzip auch eine Subvention.Ich will ein weiteres Beispiel nennen. Während der Subventionsbericht, den wir hier debattieren, von 99 Milliarden DM spricht, sprechen andere Wirtschaftsforschungsinstitute von Subventionen in einer Größenordnung von 130 Milliarden DM, weil sie z. B. auch Bezuschussungen oder Kapitalzuführungen an Bundesunternehmen dazuzählen. Das heißt — ich darf es noch einmal sagen —: Da wir uns auf keine vernünftige Definition einigen können, haben wir trefflich die Tür für jedermanns Polemik geöffnet, weil jeder das nimmt, was er in seiner Argumentation gerade braucht.Wir machen uns hier bei dieser Debatte das zu eigen, was das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz dazu sagt, und da haben wir die Subventionen in der Größenordnung von 99 Milliarden DM.Es ist doch völlig unbestritten, daß sozialpolitische Hilfen und Unterstützungsmaßnahmen unverzichtbare Bestandteile der Sozialen Marktwirtschaft und damit auch unserer Wirtschaftsordnung sind. Subventionen sind kein Selbstzweck, und das ständige Infragestellen von Hilfen zerstört ja die eventuell aufkommende Subventionsmentalität. Dauersubventionen werden unternehmerische Talente zum Verkümmern bringen. Deshalb hilft der Subventionsabbau ganz selbstverständlich auch bei der Freisetzung marktwirtschaftlicher Kräfte. — Wem sage ich das?Insofern ist dieser Bericht Zeugnis einer erfolgreichen Politik, erfolgt doch in den alten Bundesländern ein substantieller Subventionsabbau von 17 %. In absoluten Zahlen ausgedrückt sind dies 5 Milliarden DM, um die das Volumen der Finanzhilfen und Steuervergünstigungen abnimmt.Einerseits — dies muß hier noch einmal gesagt werden — liegt dies im Wegfall teilungsbedingter Lasten, andererseits an der Verminderung von steuerlichen Vergünstigungen und Sonderregelungen im Rahmen der Steuerreform 1990, die sich jetzt zunehmend auswirken; der Staatssekretär hat darauf hingewiesen.Wenn das Steueränderungsgesetz, das wir hier vorgelegt und verabschiedet haben, durchgeht, würde das in 1992 10 Milliarden DM bringen und in 1993 und 1994 noch einmal je 12 Milliarden DM. Allein aus diesem Gesichtspunkt wäre es gut, wenn wir bald im Vermittlungsausschuß erreichten, daß dieses Steuerpaket verabschiedet werden kann, um diese Anstrengungen zu realisieren.Das Maßnahmepaket für den beispiellosen Umstrukturierungsprozeß im Zuge der deutschen Ein-
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5908 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992
Hans-Werner Müller
heit ist ebenfalls eine Subvention, aber eine notwendige. Deshalb nahmen auch die Finanzhilfen und Steuervergünstigungen des Bundes in 1991 vorübergehend um 81/4 Milliarden DM zu. Diese Hilfen dienen zur Förderung betrieblicher Investitionen sowie der Modernisierung, Instandsetzung und Privatisierung des Wohnungsbestandes und der Umstellung der Landwirtschaft. Steuervergünstigungen, insbesondere die befristete Investitionszulage und die Sonderabschreibungen, schaffen doch erst die Rahmenbedingungen für notwendige Investitionen. Der wirtschaftliche Aufschwung in den neuen Bundesländern wäre ohne diese Maßnahme nicht denkbar. Wer würde denn das kritisieren wollen?Dieser Bericht arbeitet klar heraus, daß Steuervergünstigungen und Finanzhilfen seitens des Bundes aus gesamtwirtschaftlicher Sicht, aber auch innerhalb des Bundeshaushaltes abnehmen. Nehmen wir beispielsweise die Größenordnung des Bruttosozialprodukts, so stellen wir fest, daß die Summen in der Definition, wie wir uns hier verständigt haben, nach dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz, wie beschrieben, zwischen 1980 und 1990 von 1,7 auf 1,2 % zurückgehen.Nach dem Anstieg, der auf Grund der Vereinigung unumgänglich ist, wird 1992 die bekannte Größenordnung wieder erreicht. Der Anteil der Steuervergünstigungen an den Steuereinnahmen ist von 1988 bis 1992 ganz deutlich von 7,7 auf 4,7 % zurückgegangen.
Schließlich sinkt der Anteil der Finanzhilfen an den Ausgaben des Bundes 1992 auf 4,6 %. Damit liegen wir deutlich unter dem Wert von 1990. Die Zahlen die wir gestern im Haushaltsausschuß gehört haben, die noch nicht ganz zu quantifizieren sind, werden diesen Prozentsatz wohl noch einmal um einige Zehntelpunkte herunterdrücken — dank der Finanzpolitik des letzten Jahres.
— Ach Gott, ach Gott! Hervorragende konsequente und stringente Politik
führt zu diesen Ergebnissen.
Lassen Sie mich die Bereitschaft unserer Fraktion zum Ausdruck bringen, die marktwirtschaftlichen Erneuerungen stetig mit dem Subventionsabbau zu verbinden. Dies gestaltet sich zu einer unverzichtbaren Daueraufgabe, wenn wir Wachstum und Beschäftigung aufrechterhalten wollen. Leichtfertige Nachgiebigkeit auf diesem sensiblen Gebiet wird schnell zu Wettbewerbsverzerrungen, bürokratischer Oberwucherung, ökonomischer Fehlsteuerung sowie sozialer Ungerechtigkeit führen. Dies lähmt die private Initiative und stellt sich einem unausweichlichen Strukturwandel in den Weg.Meine Damen und Herren, ich habe von einer Daueraufgabe gesprochen. Wie hat Goethe schon so schön gesagt: Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.Ich bedanke mich, daß Sie mir zugehört haben.
Das Wort hat nun Herr Abgeordneter Dietmar Keller.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der 13. Subventionsbericht beweist vor allem eines: Auch dieser Bundesregierung ist es nicht gelungen, bei der Gewährung und bei der Kürzung von Finanzhilfen dem Lobbyismus zu entsagen. Zu deutlich tritt auch in diesem Bericht hervor,
daß nicht zuletzt mit dem Steueränderungsgesetz 1992 die Tendenz fortgesetzt wird, den Unternehmern massive Steuererleichterungen, ja, sogar Steuerstreichungen zu bescheren.Ich habe schon während der Haushaltsdebatte gesagt, daß es aus meiner Sicht nicht darum geht, Subventionen schlechthin zu kritisieren bzw. abzulehnen, sondern daß Subventionen vor allem mit einer Perspektive verbunden werden müßten. Aus Sicht der PDS/Linke Liste ist eine Verknüpfung staatlicher Finanzhilfen mit einer ökologischen und sozialen Kriterien folgenden Wirtschafts- und Finanzpolitik unerläßlich.Mittels steuerlicher Anreize könnte vor allem in der Umweltpolitik eine ressourcenschonende Energiestruktur aufgebaut werden. Statt dessen schiebt die Bundesregierung die Entscheidung über steuerliche Fördermöglichkeiten bei Heizungsanlagen und beim Wärmeschutz weiter auf. Ebenso unverständlich ist aus unserer Sicht, daß die Abschreibungserleichterungen für den Einsatz erneuerbarer Energien nur in den neuen Ländern gelten, während sie in den Altländern zum 31. Dezember 1991 ausgelaufen sind. Ausgelaufen ist auch seit 1991 das Programm Zuschüsse zum Ausbau der Fernwärmeversorgung in städtischen Schwerpunktbereichen. Wollen Sie ernsthaft behaupten, daß bei der Fernwärme inzwischen ein optimaler Versorgungsgrad erreicht ist? Gleiches gilt für die Zuschüsse zum beschleunigten Ausbau der Fernwärme auf der Basis der Kraft-Wärme-Koppelung, die 1992 nur knapp 7 % der 1989 ausgegebenen Mittel betragen werden.Ich will keiner Rasenmähermentalität das Wort reden, sondern aufzeigen, daß Subventionen bis hin zu Markteinführungshilfen dann sinnvoll und unterstützenswert sein können, wenn sie Bestandteil eines Gesamtkonzeptes sind. Finanzhilfen für krisengeschüttelte Branchen und Wirtschaftsregionen — ich nenne Kohle, Werften und Stahl — sind berechtigt, wenn und solange sie Umstrukturierungsprozesse fördern und beschleunigen und wenn sie einer regional- und arbeitsmarktpolitischen Strategie folgen.Wenn man, wie dies der Wirtschaftsminister offenbar tut, Subventionen für Kohle und Stahl ausschließ-
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Dr. Dietmar Kellerlich unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet, dann verstößt z. B. die Subventionierung eines Arbeitsplatzes im Bergbau mit rund 20 000 DM gegen dieses ordnungspolitische Weltbild; wenn man diese Finanzhilfe aber unter volkswirtschaftlichen Aspekten bewertet, dann wird deutlich, daß sich die Subventionierung von Arbeitsplätzen angesichts der nicht geringen Kosten der Arbeitslosigkeit und der Neuansiedlung von Unternehmen volkswirtschaftlich rechnet.Für branchenspezifische Subventionen, die in der Regel an Anpassungsauflagen gebunden sind, die Arbeitsplatzabbau nach sich ziehen, müssen klare Entscheidungsregeln entwickelt werden, um willkürlich erscheinende Entscheidungen auszuschließen.Generell fehlt der Subventionspolitik der Bundesregierung jegliche Qualitätskontrolle. In den bisher vorgelegten Subventionsberichten konnte von einer Zielkontrolle keine Rede sein. Es fehlen klare Aussagen darüber, ob das, was mit den Subventionen bewirkt werden sollte, erreicht wurde. Ist die Bundesregierung überhaupt in der Lage, eine Bewertung der Subventionen hinsichtlich ihrer Effizienz vorzunehmen, deren Kriterium nicht die Medienwirksamkeit der einen oder anderen kritischen Bemerkung des Wirtschaftsministers ist?Herr Möllemann reitet Attacken gegen die Gewerkschaften, sei es, daß er die Streichung der Finanzhilfen für Kohle und Stahl fordert und dabei offenbar darauf spekuliert, daß die IG Bergbau und Energie unter Rechtfertigungsdruck gerät, sei es, daß er in die Tarifautonomie eingreift. Er tut dies, weil er sich weigert, den Offenbarungseid für seine eigene Wirtschaftspolitik abzulegen, und statt dessen bestrebt ist, schon jetzt aktive Vorsorgemaßnahmen zu ergreifen. Für die Folgen des marktwirtschaftlichen Crash-Kurses dieser Regierung sollen die Gewerkschaften und die angeblich überzogenen Tarifforderungen verantwortlich gemacht werden.Indem der Wirtschaftsminister die Kürzung der Hilfen für Werften, Kohle und Stahl fordert, will er davon ablenken, daß die Bundesregierung jahrelang Projekte wie den Schnellen Brüter in Kalkar oder den Hochtemperaturreaktor in Hamm noch bis in das Jahr 1990 hinein gefördert hat. Heute steht in Kalkar eine unvollendete Investitionsruine. Milliarden DM wurden buchstäblich in den Sand gesetzt. Wo bleiben die Vorschläge des Hauses Möllemann, die dazu beitragen, die Diskussion über den Subventionsabbau und über die Umlenkung von Finanzhilfen an Hand von klaren politischen Zielvorgaben zu führen? Warum verkündet der Wirtschaftsminister beifallheischend die Aktion Subventionsabbau, während er in den Haushaltsberatungen von der Koalitionsmehrheit eine Aufstockung der Subventionen um 2,6 Milliarden DM absegnen ließ?1992 wollte Herr Möllemann bei der Werftenhilfe 70 Millionen DM einsparen. Vor dem Hintergrund der Bürgerschaftswahl in Bremen knickte er ein. Es wäre interessant, von ihm eine Antwort darauf zu hören, warum.Ich fasse zusammen: Dem angekündigten Abbau der Steuersubventionen folgte die Erhöhung derFinanzhilfen. 1991 lag die Summe der vom Bund gewährten Finanzhilfen und Subventionen mit 38,5 Milliarden DM um 10,3 Milliarden DM über den Zahlen des Jahres 1987. In vier Jahren wuchsen die Subventionen des Bundes um mehr als ein Drittel. Betrug das Gesamtvolumen der Subventionen von Bund, Ländern und Gemeinden, ERP und EG im Jahre 1980 60,8 Milliarden DM so stieg es um fast 32 % auf 80,1 Milliarden DM im Jahre 1990. Für die kommenden Jahre sind weitere Subventionserhöhungen in Milliardenhöhe zu erwarten.Die Bundesregierung bekennt sich zwar verbal zum Subventionsabbau; aber sie unterbreitet dem Bundestag nur unzureichende Pläne zur Verwirklichung dieses Ziels. Die Subventionspolitik ist weit davon entfernt, integraler Bestandteil einer umfassend konzipierten Wirtschafts- und Finanzpolitik zu sein.Wir bekennen uns gerade vor dem Hintergrund der vor allem hausgemachten Krise auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt dazu, mittels Subventionen die Absicherung von Arbeitsplätzen und Produktion und die Sanierung mittelfristig sanierbarer Betriebe zu ermöglichen. Wir sind bereit, an der Ausarbeitung eines Konzepts mitzuwirken, das Subventionskürzungen mit klaren Förderprioritäten und Zielvorgaben verbindet. Gleichzeitig weisen wir den Generalangriff der Bundesregierung gegen die Gewerkschaften, an dem der Wirtschaftsminister federführend beteiligt ist, entschieden zurück.Danke.
Als nächstes hat der Kollege Kurt Faltlhauser das Wort.
Dies wird Ihnen Herr Weng, Frau Kollegin, sicherlich noch mitteilen.Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin eigentlich erstaunt über den Mut, den der Herr Keller von der PDS aufgebracht hat, als er hierherging und überhaupt über Subventionen redete. Bei den Subventionen geht es ja um die Abgrenzung privatwirtschaftlicher Tätigkeit einerseits von staatlichem Eingriff andererseits. Für eine Partei, für die der staatliche Eingriff umfassend zur Ideologie — in der Vergangenheit in der Praxis und heute noch in der Theorie — gehört, ist es schon außergewöhnlich erstaunlich, wenn sich einer ihrer Vertreter hierhinstellt und über Subventionen in unserer freien Marktwirtschaft redet und auch noch so anmaßend urteilt.
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5910 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992
Dr. Kurt FaltlhauserWir glauben ja, meine Damen und Herren, aus diesem Haus heraus viele Berichte — —
— Haben Sie sich wieder beruhigt? Ich bitte, weiterreden zu dürfen.Wir glauben ja, aus diesem Haus heraus viele Berichte von der Verwaltung anfordern zu müssen. Wenn wir es uns genau ansehen, dann stellen wir fest, daß viele nicht immer sehr zweckdienlich sind. Es wird viel Papier verbraucht. Wir müßten uns eigentlich kritischer fragen: Was passiert damit? Ist das für uns Grundlage der politischen Arbeit? — Das ist es vielfach nicht.Dies gilt nicht für den Subventionsbericht. Es ist gut, daß es diesen Bericht gibt. Er mahnt uns, Subventionen nicht nur permanent abzubauen, sondern neuen Versuchungen nicht nachzugeben. Er hilft, wie ich gerade im letzten Jahr erfahren habe, in der Praxis sehr konkret bei der Arbeit am Subventionsabbau.Im übrigen ist es hochinteressant, liebe Kollegen von der SPD: Am Ende dieses Jahres wird das Land, das von Ihrem Herrn Lafontaine regiert wird, das einzige in der Bundesrepublik sein, das keinen Subventionsbericht vorgelegt hat; das einzige!
Es täte ihm gut, so etwas zum Zwecke der Selbstprüfung einmal zu machen, damit er auch einmal sieht, wo in seinem Land Wucherungen vorhanden sind. Wir warten auf einen Bericht von Herrn Lafontaine. Aber das Saarland hat ja so viel Geld; wir wissen es! Dann braucht man solche Überprüfungen ja nicht .. .
Ich darf wieder zu unserem Subventionsbericht zurückkommen. Ich wünschte, daß der Subventionsbericht etwas mehr Verbreitung fände. Dann nämlich könnten manche Wirtschaftsführer, manche Gewerkschaftssekretäre, Verbandsgeschäftsführer und auch Journalisten auch einmal darin blättern. Ich bin sicher, dann würden sie in der Zukunft nicht mehr so leichtfertig daherschwätzen, wie der Subventionsabbau zu bewerkstelligen sei, daß man noch wesentlich mehr machen müsse und daß das eine spielerische Sache sei. Das ist mit Sicherheit nicht der Fall. Ich bitte die Bundesregierung, die gute Information, die dieser Subventionsbericht enthält, etwas weiter zu streuen, damit Sachkenntnis im Lande eintritt.
Die Redezeit von sechs Minuten macht mich etwas nervös, Frau Präsidentin. Die Geschäftsführerin hat mir etwas mehr zugeteilt. Ich wäre dankbar, wenn Sie das sicherstellen können.
Dann sollte die Geschäftsführerin mir das einmal sagen.
Liebe Kollegen, ein genauer Blick in den Bericht macht klar, daß Subventionsabbau ein schwieriges Geschäft ist.
Wenn Sie sich z. B. ansehen, daß wir 1992, also im nunmehr laufenden Jahr, 5 Milliarden DM an Finanzhilfen für die neuen Bundesländer und Steuervergünstigungen in Höhe von 10 Milliarden DM, also insgesamt 15 Milliarden DM, in den Haushalt eingestellt haben, dann kann man nicht einfach sagen, das müßten wir abbauen. Genau das haben wir nicht getan. Wir haben diese zielgerichteten Subventionen aus guten Gründen bewußt in den Haushalt eingestellt.Obwohl es so schwierig ist, Subventionen abzubauen, waren wir, liebe Kollegen, in den vergangenen Jahren beim Subventionsabbau erfolgreich, sehr erfolgreich! Der Herr Kollege Grünewald hat schon darauf hingewiesen: Wir haben in den vergangenen dreieinhalb Jahren allein im steuerlichen Bereich Subventionen in Höhe von insgesamt 19,1 Milliarden DM abgebaut: Im Rahmen der großen Steuerreform haben wir steuerliche Subventionen in Höhe von insgesamt 13,6 Milliarden DM und in dem Steueränderungsgesetz 1992, das von der SPD unsinnigerweise blockiert wird, wiederum Subventionen in Höhe von 5,5 Milliarden DM abgebaut. Das sind zusammen 19,1 Milliarden DM. Jetzt sagt der Herr Wieczorek: Von den 5,5 Milliarden DM sind ja nur 67 Milliarden DM übriggeblieben.
— Millionen!
— Herr Wieczorek, bitte nicht dazwischenrufen, ich erkläre es Ihnen! — Hören Sie doch zu, ich will es Ihnen doch gerade erklären! — In der Summe von 5,5 Milliarden DM waren von vornherein Maßnahmen zum Abbau von Subventionen im steuerlichen Bereich in Höhe von genau 4,27 Milliarden DM enthalten, die nicht im Subventionsbericht verzeichnet waren. Es macht ja gerade den Charme und die kreative Leistung dieser Subventionsabbau-Arbeitsgruppe aus
— das war ein Selbstlob; ich gebe es zu —,
daß sie Subventionen gesucht hat, die nicht im Subventionsbericht enthalten sind. Im Subventionsbericht waren vom Gesamtpaket nur 1,3 Milliarden DM verzeichnet. Das Ergebnis war unbestreitbar ein Beschneiden steuerlicher Mißbräuche und Umgehungen. Sie verhindern eine derartige Beschneidung, wenn Sie im Vermittlungsausschuß weiterhin eine Vollbremsung vornehmen. Dann lassen Sie solche steuerlichen Umgehungen und Mißbräuche weiterhin zu. Herr Lafontaine und die SPD-regierten Länder
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5911
Dr. Kurt Faltlhausersind dafür verantwortlich, daß steuerlicher Mißbrauch in diesem Lande weitergeht.
Im übrigen, Herr Wieczorek, sage ich Ihnen — auch dies zur weiteren Aufklärung —, daß beim Abbau steuerlicher Subventionen sinnvollerweise nur das Entstehungsjahr und nicht das kassenmäßige Jahr gezählt werden kann. Das wissen wir doch alle.
Lassen Sie also diesen alten Käse mit den 67 Millionen DM! Durch das Steueränderungsgesetz 1992 sollen 5,5 Milliarden DM an steuerlichen Subventionen abgebaut werden. Ich fordere Sie noch einmal auf, dieses Steueränderungsgesetz im Bundesrat möglichst bald passieren zu lassen.Im übrigen will ich nur noch daran erinnern, daß wir in den Jahren 1990 und 1991 auch ansonsten massive Kürzungen vorgenommen haben. Es wurden in den zwei Haushalten insgesamt 50,5 Milliarden DM gestrichen. Im Jahr 1990 waren es 5,56 Milliarden DM und im Jahr 1991 zunächst 7,6 Milliarden DM, dann noch einmal 37,3 Milliarden DM — das macht zusammen 44,9 Milliarden DM. Die Gesamtsumme der Einsparungen innerhalb von zwei Jahren beträgt also 50,5 Milliarden DM. Das kann sich sehen lassen. Das sage ich nicht nur in diesem Haus, sondern auch an die Adresse derjenigen, die im ständigem Abschreiben ihrer eigenen gleichen Floskeln sagen, man müßte wesentlich mehr Subventionsabbau betreiben. Es ist schon viel geschehen.Sicherlich ist die Abgrenzung des Subventionsbegriffs sehr schwierig. In der Anlage 8 gibt der Subventionsbericht wieder sachkundige Hinweise hierzu. Problematisch ist insbesondere die Abgrenzung zu den Sozialleistungen. Das Wohngeld war darin früher einmal enthalten, heute ist es das nicht mehr. Aber ich meine bei aller Abwägung: Wer am Subventionsabbau tatsächlich interessiert ist, müßte eigentlich an einem möglichst weiten Subventionsbegriff interessiert sein.Ich stelle mir vor, daß unter diesem Gesichtspunkt für den zukünftigen Umgang mit dem Subventionsbericht vielleicht vier Anregungen diskutiert und aufgegriffen werden sollten: Erstens. Ich meine, daß in Zukunft ausnahmslos alle Subventionen befristet werden sollten,
wenn möglich — dies ist rein technisch — befristet bis zu einem immer gleichen Stichtag. Dann nämlich können wir revolvierend immer wieder alles überprüfen. Wir dürfen keine Daueraufträge geben.Zweitens. Wir sollten im Subventionsbericht das mit der Übersicht 3 seit den 70er Jahren bestehende Versteckspiel beenden. Damals, im Sechsten Subventionsbericht, sind viele Subventionen herausgenommen worden; später geschah das nur noch punktuell. Ich glaube, daß diese Subventionen wieder in die Anlage 2 hereingenommen werden sollten. Wenn wir das genauer anschauen, stellen wir fest, daß es doch Subventionen sind. Wir sollten sie auch entsprechend deklarieren.Drittens. Wir sollten in diesem Subventionsbericht, Herr Staatssekretär, auch Übersichten über die Entwicklung der 20 wichtigsten Sozialleistungen aufnehmen. Denn ich meine, daß wir auch diese Entwicklungen — gerade weil die Abgrenzung zwischen Sozialleistungen und Subventionen so schwierig ist — mit beobachten sollen, gewissermaßen zur Kenntnis.Viertens. Wir sollten in diesem Subventionsbericht Angaben darüber aufnehmen, ob es auch in den übrigen EG-Mitgliedsländern vergleichbare Subventionen gibt. Das wird verstärkten Druck zugunsten einer Abschaffung bewirken.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat die Finanzentwicklung, wie ich meine, gut im Griff. Das zeigt die Entwicklung im Jahr 1991. Oberstes Limit der Nettoneuverschuldung war zunächst einmal 70 Milliarden DM; dann wurden 66 Milliarden DM angepeilt. Im Nachtragshaushalt strebten wir schließlich 61 Milliarden DM an. Nunmehr liegen wir im Ist-Ergebnis für 1991, wie wir jetzt wissen, wesentlich unter 60 Milliarden DM.
Natürlich, Herr Kollege Wieczorek, haben wir in dieser Situation mit der Öffnung der östlichen Staaten erhebliche Haushaltsrisiken auf der Ausgabenseite.
Wir haben auch ein gewisses Risiko auf der Einnahmenseite. Ein Prozentpunkt des Bruttosozialprodukts weniger heißt 6 Milliarden DM weniger Einnahmen für den Bund. Dazu haben wir das Risiko der Mehrheit der SPD-regierten Länder im Bundesrat — siehe Blockade der Anhebung der Mehrwertsteuer auf 15 %!
Wenn ich das zusammenrechne, sehe ich persönlich die Möglichkeit, daß wir uns Mitte des Jahres der Notwendigkeit weiteren Subventionsabbaus gegenübersehen, gerade wenn eine Anhebung der Mehrwertsteuer auf 15 % auf Grund Ihrer Haltung wegfallen sollte. Dann müßten wir uns meiner Vorstellung nach ein Paket mit einem sehr weit gefaßten Subventionsbegriff ansehen. Ich habe für mich persönlich schon einen Probelauf gemacht.
— Nein, nein. Subventionen, die sich im wesentlichen am Subventionsbericht orientieren. Wir müssen das wirklich einmal genauer anschauen.Bei diesem „Probelauf" sind mir skurrile Dinge aufgefallen. Wegen des Zeitlichtes, das hier leuchtet, nenne ich nur eines: Es gibt nach § 16 des Rennwett- und Lotteriegesetzes die Gegebenheit, daß Rennvereine, die einen Totalisator betreiben, bis zu 96 % des Aufkommens der Totalisationssteuer zu Zwecken der öffentlichen Leistungsprüfung für Pferde, erhalten. „Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft und der Reichsminister der Finanzen setzen die
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5912 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992
Dr. Kurt FaltlhauserAnteile der Rennvereine fest und treffen die erforderlichen Bestimmungen. " So heißt es hier noch.Dies ist eine Regelung aus einer Zeit, als der Staat noch ein Interesse hatte, genügend Pferde für seine Kavallerie zu bekommen. Heute brauchen wir die Pferde überwiegend noch, damit Politiker getreten werden könnten oder daß irgendwelche Politiker der Staats-, Lord- und Luxusklasse sehr hoch auf ihnen reiten können. So etwas muß weg und kann weg.Ich glaube — das zeigten mir diese Beispiele, die ich bei dieser kritischen Durchsicht, bei meinem Probelauf gemacht habe —, daß wir immer wieder einen Anlauf machen müssen, um Subventionen im steuerlichen Bereich ebenso wie bei den Finanzhilfen abzubauen. Dies ist und bleibt eine Daueraufgabe. Wenn die Rahmenbedingungen in finanzieller und wirtschaftlicher Hinsicht so sind, daß wir hier wieder angreifen müssen, dann müssen wir ein neues Paket schnüren. Ich glaube, daß wir Möglichkeiten haben. Ich hoffe, daß wir es in diesem Jahr nicht machen müssen. Die sozialdemokratischen Länder mit ihrer Mehrheit im Bundesrat sind nicht unwesentlich mitverantwortlich, wenn wir an diese schwierige Aufgabe herangehen müssen.
Nun hat unser Kollege Detlev von Larcher das Wort.
Als Mitglied im Finanzausschuß müßte ich nun zum wiederholten Male darauf eingehen, wie wenig im steuerlichen Bereich entgegen der Rede von Herrn Faltlhauser von dem großspurig angekündigten Subventionsabbau tatsächlich geblieben ist. Wir haben das oft genug vorgerechnet. Nun könnte man sagen: „Repetitio est mater studiorum", aber diese Bundesregierung versteckt und camoufliert, aber sie studiert nicht. Außerdem zum hundertsten Mal das gleiche, dazu habe ich keine Lust.Soweit in der Vorbereitung auf heute gekommen, fragte ich mich: Was tun? Da fiel mir ein Märchen ein, und dieses Märchen will ich Ihnen heute erzählen. Es fängt an wie alle Märchen mit: Es war einmal. Es war einmal ein Diener. Dieser diente dem Volk mehr schlecht als recht zu der Zeit, da Fürst Helmut in Germanien regierte. Dieser Diener dachte Tag und Nacht nichts anderes, als wie er dem Volke groß und einflußreich erscheinen könnte, denn er wollte mehr als nur ein Diener sein. Er wollte unbedingt den Grafen beerben.Eines Tages besorgte sich unser Diener ein wunderschönes güldenes Gerät. Das glänzte so schön in der Sonne, und der Diener zeigte es dem staunenden Volk via Medien und tänzelte damit auf dem Rasen seines Palais wie ein Pfau. Und er pries sein Gerät als Wunderwerkzeug. Doch es zeigte sich bald, daß das Gerät zwar schön funkelte, aber zur Arbeit gar nicht taugte. Es hatte technische Mängel, und seine Gebrauchsanweisung war so kompliziert, daß unser Diener damit nicht zu Rande kommen konnte. Auch war die Mäharbeit für unseren Diener viel zu mühselig. Denn flotte Sprüche, da war er in seinem Element, aber hart und gewissenhaft arbeiten, das war seineSache freilich nicht. Auch die anderen Diener halfen ihm nicht und der, der in dieser Sache eigentlich am engsten mit ihm zusammenarbeiten sollte, der Theo nämlich, stellte ihm gar mehrfach ein Bein.Den Fürsten Helmut aber interessierten solche Sachen schon gar nicht; den interessierte nur sein eigener Ruhm, oder er saß gerade mal wieder aus. Vielleicht aber war es auch so, daß kurz bevor er zu mähen anfangen wollte, ein Chor von bösen Geistern gar furchtbar laut rief: Ihr Subventionen, flieget alle fort, Jürgen Großmaul kommt an diesen Ort, will 10 Milliarden fangen. Da verschanzten sich die Subventionen, alarmierten ihre Verteidiger, und an dieser Phalanx prallt unser Dienerlein mitsamt seinem Glitzerding so hart ab, daß es nur so krachte. Jedenfalls konnte er statt 10 Milliarden nur 67 Millionen in seine Scheuer einfahren.Da fuhr unserem Diener für einen Augenblick der Schreck mächtig in die Glieder, hatte er doch öffentlich versprochen, bei einem solch mageren Ergebnis seinen Platz für einen besseren Diener freizumachen.Doch bald faßte er sich wieder und sagte: Was geht mich mein Geschwätz von gestern an? Und außerdem dachte er bei sich: Wenn auch die 10 Milliarden nicht zu kriegen waren, da gab es doch einmal des Kaisers neue Kleider. Wenn ich nur oft genug behaupte, ich hätte sie doch eingefangen, dann wird das dumme Volk das gar bald glauben, denn es ist ja nicht in der Lage, dieses Subventionsdickicht zu durchdringen.So dachte das freche Kerlchen, und weiter dachte es: Wenn ich dann alsbald andere dumme Sprüche mache, werden die Medien, aufmerksam, wie sie sind, wieder dafür sorgen, daß ich in aller Munde bin, aber diesmal mit einer anderen Seifenblase. Und wenn die dann platzt, dann mache ich wieder eine neue und dann wieder eine neue und dann wieder. Und jedesmal wird die neue Seifenblase wie ein schönes Blendwerk die alten verblassen lassen. So dachte der alte Schlaumeier, denn er hielt das Volk, wie gesagt, für gar dumm und vergeßlich.
Doch er hatte nicht mit der Hartnäckigkeit der bösen Fee Ingrid und ihrer Gehilfen gerechnet. Die gab es nicht nur in den Reihen der Volksvertreter reichlich, sondern auch bei Hofe. Hofnarren und einige Herolde, sie alle sorgten dafür, daß das böse Spiel herauskam und jeder sehen konnte, daß unser Diener nackt vor seiner fast leeren Scheune stand.
Seither werden Lästerreime im Volk herumgereicht, etwa: ein Wort, ein Mann — ein Wortbruch, ein Möllemann; oder: Möllemann — Theaternummer, Lachnummer, Nullnummer; oder: ein typischer Möllemann — viel Wirbel, Möllemann auf allen Kanälen, leider kein Erfolg.Jedoch sagt sich auch das Volk: Jede Regierung braucht einen Buffo. Ganz böse und gemeine Lacher und Schießer legen gar seiner Mutter folgendes in den Mund: Unser Lauserle ist so gestört, richtig unfähig; na
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5913
Detlev von Larcherja, wir werden schon a Platzerl für ihn finden, notfalls schieben wir ihn in die Regierung ab!Viele aber wollen ihn doch im Amte behalten, weil er so einen hohen Unterhaltungswert hat und anderweitig so schwer unterzubringen ist. Seine Freunde aber murmeln schon leise, und das Murmeln wird immer lauter: lieber kinkeln statt klingeln, lieber kinkeln statt klüngeln. Und wenn er nicht gestorben ist, macht er heute noch seine Seifenblasen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jeder weiß oder könnte doch nun wissen, was von den Worten und Auftritten unseres Ministers Möllemann zu halten ist. Sein Märchen vom Subventionsabbau haben nicht nur wir hier im Bundestag wiederholt widerlegt; die Wirtschaftsblätter und Tageszeitungen haben das ebenfalls mehrfach getan. Das Finanzministerium entlarvt ihn schriftlich auf unsere Fragen hin als notorischen Aufschneider. Sogar in Provinzblättern wurde sein Gerede als Mogelei entlarvt, und er wurde aufgefordert, seine Rücktrittsankündigungen wahr zu machen.Mein Sohn Stefan fragt mich — und mit ihm fragen mich viele —: „Wie kann so einer Minister sein und bleiben?"
Was, meine Kolleginnen und Kollegen, antworten Sie auf so eine Frage? Soll man sagen, Kanzler Kohl habe in seinem Kabinett wahrscheinlich einen Wettbewerb um das größte Windei ausgeschrieben, der Wettbewerb laufe noch und sei nicht entschieden? Oder gibt die von mir schon zitierte Münchner Lach und Schieß, der ich herzlich für die Zitate danke, die richtige Antwort, wenn sie sagt: „Paß mal auf, Hansi, dieser Möllemann ist im Grunde nur die visuelle Aufbereitung der allgemeinen mittelmäßigen Beschränktheit" ?Es kann aber auch sein, daß das Phänomen Möllemann so zu erklären ist: Wir normalen Sterblichen rechnen nach Adam Riese, beispielsweise 2 +2=4. Herr Möllemann hat jedoch seine eigene Rechenmethode: Er nimmt jede Zahl, die er sieht, mindestens für das Doppelte, also 2 +2 = 8. Aber dann wäre ja seine Vier vor dem Komma im Zusammenhang mit der Besoldungserhöhung für die Beamten mindestens eine Acht. Warum dann die Aufregung bei den Gewerkschaften?
Aus 67 Millionen werden bei ihm sogar 5 Milliarden, also fast das Hundertfache.Auf jeden Fall würde ich Theo, wenn er zuhören würde,
zurufen: Hüte dich und deine Kasse vor dem flotten Jürgen!Vielleicht trifft aber auch Lach und Schieß ins Schwarze, wenn sie Möllemann sagen läßt: Ich glaube mir nicht, was ich weiß.
Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, wie lange wollen Sie noch mit so einem Minister leben?Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Nun hat der Kollege Dr. Wolfgang Weng das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Frage, was von dem, was der Kollege von Larcher hier gerade vorgetragen hat, in dieses Haus gehört, muß jeder der Kollegen sicherlich selbst bewerten und beurteilen.
Da er bei seinem Märchen u. a. die Hofnarren eingeführt hat, hat er ganz sicher auch an sich selbst gedacht; dafür ist er jedenfalls zu loben.
— Es ist vielleicht besser, wenn Sie das vorweg machen wollen, ehe ich in die Sache einsteige.
Herr Kollege Weng, Sie gestatten also eine Zwischenfrage? — Herr Kollege von Larcher, bitte schön.
Herr Kollege Weng, wissen Sie, daß Hofnarren in Königreichen die einzigen waren, die die Wahrheit sagen durften, ohne daß sie geköpft wurden?
Das mag, Herr Kollege von Larcher, in manchen Königreichen so gewesen sein, hat aber sicher nicht beinhaltet, daß die Hofnarren immer die Wahrheit gesagt haben. Vielmehr haben auch diese Hofnarren manches von dem getan, was Narren eben tun.
Ich glaube, daß der Beitrag des Kollegen Faltlhauser dagegen gezeigt hat, wie man das Thema sachlich angehen kann. Die Forderung nach Transparenz, die er aufgestellt hat, ist meines Erachtens begründet, weil das eine sachliche Debatte über Subventionsabbau, über Subventionen ganz allgemein ermöglicht.Ich will auch, Herr Kollege Faltlhauser, die vier Punkte aufgreifen, die Sie hier genannt haben. Die FDP würde das, was Sie hier gefordert haben, freudig mitmachen. Insoweit wünscht die Koalition, die Regierung sollte das berücksichtigen. Ich würde es allerdings gern noch um einen Punkt erweitert haben,
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5914 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992
Dr. Wolfgang Weng
und zwar um ein Aufführen der Subventionen, die die EG bezahlt.
Man sollte sich also nicht nur darauf beschränken, offenzulegen, was in anderen EG-Ländern an Subventionen gezahlt wird, sondern auch das offenzulegen, was der deutsche Steuerzahler — oder die übrigen Steuerzahler innerhalb der Europäischen Gemeinschaft — mit seinem EG-Beitrag indirekt an Subventionen zahlt. Das sollte zumindest nachrichtlich mit dabeisein, weil das die Transparenz für den nationalen Bereich erhöhen würde.Eine Schlagzeile der „Stuttgarter Nachrichten" vom gestrigen Mittwoch zeigt ganz deutlich, warum das Thema „Subventionen" von immer neuer Aktualität ist und warum das Thema „Subventionsabbau" eine Sisyphus-Arbeit beschreibt. Die Schlagzeile lautet: „Streit um Postpläne: Zeitung im Urlaub bald teurer?" Weiter heißt es: „Die Verleger üben heftige Kritik an den neuen Gebührenvorhaben" der Post. Dem Verbraucher, d. h. dem Zeitungsleser, war bisher wahrscheinlich gar nicht bewußt, daß das Nachsenden seines Tageblatts in den Urlaub von der Post zu einem Gefälligkeitspreis durchgeführt wird, der die Unkosten in keiner Weise deckt — wie übrigens der gesamte Zeitungsversand durch die Post.
Und die Zeitungsverkäufer haben selbstverständlich Angst, daß die Subvention entfallen könnte. Denn sie befürchten, daß im Falle ihrer Beendigung, im Fall kostendeckender Preise die Zahl der Abonnenten zurückgehen würde.Diese Subvention steht zwar nicht im Subventionsbericht der Bundesregierung, ist aber ein Beispiel für die vielfältige Durchsetzung unseres Lebens mit direkten oder indirekten staatlichen Förderungen. Wenn z. B. die Gebühren für eine öffentliche Dienstleistung deren Kosten nicht abdecken und die Differenz mit allgemeinen Steuermitteln ausgeglichen wird, dann wird das üblicherweise als soziale Großtat gefeiert. Aber bezahlen, meine Damen und Herren, tut am Schluß doch wieder der Bürger, nämlich als Steuerzahler. Nur, wegen fehlender Transparenz wiederum wird ihm das nicht bewußt. Deswegen: mehr Transparenz, mehr Ehrlichkeit! Dann ist Subventionsabbau auf jeden Fall leichter.Der heute zur Debatte stehende Subventionsbericht der Bundesregierung steht im Zeichen der Deutschen Einheit und kann damit natürlich nicht nur eine normale Fortschreibung früherer Berichte sein. Er ist in der augenblicklichen Übergangssituation, in der massive Finanztransfers in die neuen Bundesländer erforderlich sind, auch schwerer zu diskutieren als seine Vorgänger. Sonst hat sich die politische Diskussion immer so abgespielt, wie wir es in Teilen auch hier gesehen haben: Die handelnde Mehrheit des Parlaments tritt für den Subventionsabbau ein, hat ihn aber selten mit der nötigen Konsequenz verwirklicht. Die Opposition geht in ihren Forderungen wesentlich weiter. Aber wenn sie sie konkretisieren soll, versteckt sie sich. Es ist tatsächlich so, daß die SPD im Bundesrat, im Vermittlungsausschuß gegenwärtig eine ganze Menge an Subventionsabbau anhält, den wir uns wünschen würden.
Auf die Frage, wo sie Subventionen selbst reduzieren würde, schweigt sie sich natürlich aus; denn an der Stelle wird es unbequem.
Im Moment muß Einigkeit darüber bestehen, daß die Subventionierung des Aufbaus in den neuen Bundesländern notwendig ist. Sie wird noch lange und in großem Umfang notwendig sein. Das schränkt ja unsere Möglichkeiten im Westen entsprechend ein.Wie schwierig das richtige Maß ist, zeigt die augenblicklich in der Regierung noch kontrovers geführte Diskussion über den Umfang der Verbürgung von Warenlieferungen aus den neuen Bundesländern in die Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion. Konsequentes und ordnungspolitisches richtiges Verhalten würde einen im Moment unvertretbaren zusätzlichen Verlust an Arbeitsplätzen in Ostdeutschland bedeuten. Uneingeschränkte Subventionierung aber wäre ein unerträgliches Zukunftsrisiko für uns alle.Falsch wäre es — es ist eigentlich bedenklich, wie leicht die Politik geneigt ist, in eine solche Richtung zu denken —, wenn man hier einen einfachen Weg ginge. Die beginnende Diskussion über eine mögliche Verstaatlichung ganzer Industriezweige in den neuen Bundesländern zeigt: Hier würde der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben. Für mich ist es unbegreiflich, daß man auf die Idee kommen kann, das bankrotte System Staatswirtschaft durch Staatswirtschaft in Ordnung bringen zu wollen. Eine nachhaltige Störung der Marktkräfte würde nichts nützen, sondern die vorhandenen gesunden Strukturen in Deutschland in Gefahr bringen.Ich glaube auch — erlauben Sie mir die Randbemerkung —, es wäre wichtiger, die Rechtsfragen in Sachen Grund und Boden einer schnelleren Abwicklung zuzuführen. Die Rechtsunsicherheit beim Eigentum ist neben einiger bürokratischer Unfähigkeit weiterhin das entscheidende Hemmnis für Investitionen in den neuen Bundesländern.
— Herr Kollege Walther, der Zuruf ist von der fachlichen Zuständigkeit her natürlich begründet. Aber es ist auch eine Aufforderung an die Bundesregierung insgesamt, hier weiterzudenken. Der Deutsche Bundestag hat die Situation deutlich verbessert. Doch die ergriffenen Maßnahmen reichen eben immer noch nicht aus, wie die Praxis zeigt.
— Das wußte man nicht vorher.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5915
Dr. Wolfgang Weng
— Wenn man es vorher gewußt hätte, Herr Kollege Walther, hätte man es ja nicht so gemacht, wie man es gemacht hat.
Beim Stichwort Subventionsabbau ist die FDP zu Recht vorn an der Front. Natürlich sind auch wir nicht ganz frei von Schwächen; aber wir sind zweifellos die Partei, die am wenigsten auf Interessengruppen Rücksicht nehmen muß und deshalb am konsequentesten Subventionsabbau fordert und verwirklicht.
Die erfolgreiche Initiative des Bundeswirtschaftsministers hat dies deutlich gemacht. Sie hat allerdings auch deutlich gemacht, wie schwierig diese Daueraufgabe zu bewältigen ist. Wir stellen uns ihr immer wieder.Der vorliegende Subventionsbericht verbessert die Transparenz und damit auch den Ansatz zur Zurückführung von Subventionen: Sämtliche Steuersubventionen, die nicht ausdrücklich soziale Aspekte haben, bleiben auf dem Prüfstand. Wir werden uns weiterhin für den Abbau wettbewerbsverzerrender staatlicher Förderung einsetzen. Ob bei der produktbezogenen Forschungsförderung, ob bei den sogenannten Wettbewerbshilfen in Luftfahrt und Schiffsbau, vor allem aber bei den ordnungspolitisch wie umweltpolitisch unsinnigen Energiesubventionen, insbesondere bei der Steinkohle: wir sind zum weiteren Abbau der Förderung bereit.
Das gilt auch im Agrarbereich da, wo die Subventionierung falsche Strukturen erhält oder begünstigt. Volkswirtschaftlich müssen wir dringend an einem Erfolg der augenblicklichen GATT-Verhandlungen interessiert sein. Das heißt, eine Rückführung von Agrarsubventionen wird unabänderlich sein. Aber natürlich darf es keine Politik eines totalen Kahlschlags in der Landwirtschaft geben. Das Beispiel der Landwirtschaft zeigt aber ebenfalls, wie schmal der Grat zwischen ordnungspolitischer Vernunft und Sachzwängen einer sich entwickelnden Politik ist.Die FDP-Fraktion dankt der Bundesregierung für die Vorlage des Berichts und stellt sich weiterhin an die Spitze derer, die die Daueraufgabe des Subventionsabbaus ernsthaft zu leisten bereit sind.Wir fordern allerdings den Finanzminister auf, sich als treibende Kraft bei der Überprüfung und dem Abbau von Subventionen zu verstehen und vor allem der Einführung großvolumiger Dauersubventionen in den Bundeshaushalt besser als in der Vergangenheit zu widerstehen.Vielen Dank.
Nun hat der Kollege Werner Schulz das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu Rechtverweist die Bundesregierung darauf, daß die Entwicklung der Finanzhilfen und Steuervergünstigungen ganz im Zeichen der deutschen Einheit steht.Leider vergißt sie, hinzuzufügen, daß es ihr nicht gelungen ist, die Prioritäten der Finanzpolitik entsprechend neu festzulegen. Während im Osten der wirtschaftliche Anpassungsprozeß — bis jetzt ein nicht gerade kreativer Zerstörungsprozeß — große finanzielle Anstrengungen erfordert, betreibt die Bundesregierung im Westen business as usual. Im neuen gemeinsamen Gutachten von DIW und Institut für Weltwirtschaft wird festgestellt:Vor dem Hintergrund dessen, was den Bewohnern in Ostdeutschland gegenwärtig an Anpassungslasten aufgebürdet wird, sind die bisherigen Maßnahmen sehr halbherzig.Ich möchte deshalb Kurt Biedenkopf zitieren, der ebenfalls einen grundsätzlichen Kurswechsel einfordert:Ohne eine nachhaltige Gefährdung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ist der Aufbau in den neuen Bundesländern auch bei sparsamster Haushaltsführung und bei effizientem Mitteleinsatz nur zu finanzieren, wenn öffentlichen und privaten Investitionen im Osten für längere Zeit Priorität eingeräumt wird.Von einer solchen Neuorientierung ist aber nichts zu sehen. Die Haushaltsdebatte 1992 und davor schon die Diskussion zum Steueränderungsgesetz belegen: Die Bundesregierung hat trotz ihrer Ankündigung keinen Kurswechsel in ihrer Subventionspraxis vollzogen. Die Regierung war nicht in der Lage, die Subventionierung der Wirtschaft und anderer Bereiche auf ein ökonomisch vernünftiges Maß zu beschränken. Die „Süddeutsche Zeitung" brachte es auf den einfachen Nenner: „Der Abbau von Subventionen war ein Reinfall."Ich möchte dabei nicht verschweigen, daß die Beschneidung von Besitzständen kein leichtes Unterfangen ist. Anthony Eden hatte dieses Problem bereits erkannt: „Jeder erwartet vom Staat Sparsamkeit im allgemeinen und Freigebigkeit im besonderen."Auch frühere Finanzminister in der Bundesrepublik hatten schon erfolglos den Abbau von Subventionen versucht. Deshalb ist es auch nicht besonders glaubwürdig, wenn sich nun sozialdemokratische Finanzpolitiker zu den schärfsten Subventionskritikern gewandelt haben, nachdem sie seinerzeit diese Subvention eingeführt hatten.
Es kann auch nicht sein, daß die Bundespolitiker der SPD den Abbau von Finanzhilfen fordern, während in den Ländern eben diese Subventionen verteidigt werden.
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5916 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992
Werner Schulz
Dies entlastet aber nicht die Bundesregierung, die entgegen den Ankündigungen nur wenig geleistet hat.
Besonders fatal ist, daß die Subventionspraxis nicht im Hinblick auf ökologische Problemstellungen geprüft worden ist. Ein Beispiel dafür ist der private Straßenverkehr. Die tatsächlichen Kosten werden den Verbrauchern von Mineralöl und den Nutzern der Straßennetze nicht in Rechnung gestellt.Geplante Subventionsreduzierungen wurden dabei wieder rückgängig gemacht. Im ursprünglichen Entwurf des Steueränderungsgesetzes 1992 war beispielsweise vorgesehen, die weitgehende Kfz-Steuerbefreiung für Lkw-Anhänger zu streichen. Zugunsten des Fuhrgewerbes wurde diese Streichung rückgängig gemacht. Auch auf die Einbeziehung der Motorboote in die Kfz-Steuer wurde verzichtet. Insgesamt ergeben sich bei diesen Abstrichen Steuermindereinnahmen von 1,2 Milliarden DM.Andere ursprünglich geplante Kürzungen bei steuerlichen Subventionen sind überhaupt nicht debattiert worden. Dazu gehören der Abbau der Mineralölsteuerbefreiung für die Luftfahrt und für die Binnenschiffahrt.
Kollege Schulz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Faltlhauser?
Ja.
Herr Kollege, darf ich Sie fragen, ob Sie zugestehen würden, daß einer, der mit zu den Erfindern dieser beiden Maßnahmen im steuerlichen Bereich — einerseits Lkw-Anhänger, andererseits Motorboote — gehörte, im Laufe der Debatte auch klüger werden kann — bei den Anhängern etwa im Hinblick auf die Tatsache, daß die Belastung der Lastwagen in der Bundesrepublik Deutschland heute schon, ohne diese Anhängersteuer, bis zu zehnmal höher ist als in EG-Konkurrenzländern — und daß man, wenn dies so ist, von einer Maßnahme doch Abstand nehmen kann? Ähnliches gilt bei den Motorbooten, wo wir — im übrigen gemeinsam mit den Kollegen der SPD — zu dem Ergebnis gekommen waren, daß mehr Bürokratie entstünde und es deshalb unter dem Strich mehr kosten würde als ein Subventionsabbau.
Herr Faltlhauser, es ist nur peinlich, wenn denjenigen, die solche Vorschläge unterbreiten und diese in die öffentliche Diskussion bringen, die Gegenargumente, die Sie eben in Ihrer Frage gebracht haben, erst hinterher einfallen.
Die Verbände haben viele ihrer Ziele erreicht. Die Besitzstände wurden nicht angetastet. Im Gegenteil: Wie der Subventionsbericht ausweist, stiegen von1990 auf 1991 die vom Bund gewährten Finanzhilfen und Steuervergünstigungen um fast 30 %. Im Haushaltsjahr 1991 gewähren allein Bund, Länder und Gemeinden insgesamt 76 Milliarden DM Subventionen. Das sind 11 Milliarden DM mehr als im Vorjahr. Die Struktur der Bundessubventionen zeigt: Die höchsten Beiträge fließen in die gewerbliche Wirtschaft. Ihr Anteil am gesamten Subventionskuchen beträgt 1991 fast 46 % und 1992 über 48 %.Der vorgebliche Subventionsabbau hat sich im Ergebnis als Etikettenschwindel erwiesen. Tatsächlich handelt es sich bei diesem Subventionsabbau überwiegend um Subventionen, die ohnedies auslaufen sollten, um den Verzicht auf die Erhöhung von Subventionen und um die erneute Einbeziehung bereits beschlossener Maßnahmen.
Die Probleme der deutschen Einheit bringen eine zusätzliche Herausforderung für die bestehende Subventionspraxis. Geboten wäre eine deutliche Senkung der Finanzhilfen und Steuersubventionen in Westdeutschland, um die notwendigen Mittel für den Aufbau der Wirtschaft im Osten aufzubringen. Die neuen Bundesländer benötigen nach der schnellen politischen Einheit umfangreiche wirtschaftliche Hilfen, um den ökonomischen Anpassungsprozeß möglichst rasch zu bewerkstelligen und sozial abzufedern. Die anhaltende Strukturkrise in Ostdeutschland zeigt, daß noch für eine lange Zeit Finanzhilfen für den wirtschaftlichen Aufbau benötigt werden. Dabei sind die Mittel vor allem in jene Bereiche zu lenken, die strukturpolitische und regionalpolitische Bedeutung haben. Die Vereinigung Deutschlands muß deshalb zum Anlaß genommen werden, die bisherige Subventionspraxis einer grundsätzlichen Überprüfung zu unterziehen und dabei neue Schwerpunkte und Prioritäten festzulegen.Bündnis 90/DIE GRÜNEN haben schon vor einem Jahr darauf hingewiesen, daß der wirtschaftliche Aufbau in den neuen Bundesländern durch ein breit angelegtes Strukturhilfeprogramm unterstützt werden muß. Die Bundesregierung hat diese Forderung lange Zeit unberücksichtigt gelassen. Auch die jetzigen Aufbauprogramme sind zu zögerlich und zu widersprüchlich. Es gibt nach wie vor kein konsistentes strukturpolitisches Konzept zum Aufbau im Osten. Ebenso fehlt ein schlüssiges Finanzierungskonzept.Aber auch für den Westen besteht Handlungsbedarf. Angesichts der hohen Finanzierungserfordernisse für die Umstellung der Wirtschaft in den neuen Bundesländern werden zusätzliche Einsparmaßnahmen bei den Subventionen im Westen unumgänglich. Die Bundesregierung bleibt aufgefordert, die notwendige Umlenkung der Finanzmittel für den wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Bundesländern sozial verträglich und ökologisch wirksam zu gestalten. Dazu muß sie aber erst einmal ihren Willen bezeugen, die notwendigen Maßnahmen im Westen einzuleiten.Die bisherige Politik des „Weiter so!" wird angesichts der gewaltig angestiegenen Haushaltsdefizite
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Werner Schulz
nicht mehr möglich sein. Die Bundesregierung sollte deshalb eher der Empfehlung Martin Luthers folgen: Der ersparte Pfennig ist redlicher als der erworbene. Der Finanzminister kann diese Maxime schon in den nächsten Tagen beherzigen, indem er auf die geplante Erhöhung der Mehrwertsteuer verzichtet und dafür bei den Finanzhilfen und Steuersubventionen Ausgaben einspart.
Als nächster hat das Wort der Parlamentarische Staatssekretär Klaus Beckmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Entwicklung der Subventionsvolumina für das bisherige Bundesgebiet und die neuen Bundesländer ist gegenläufig. Es gilt: Subventionsabbau in den alten Bundesländern, um den finanzpolitischen Spielraum für den Aufschwung Ost und dessen Beschleunigung zu gewinnen. Das ist die wesentliche Botschaft, die der Dreizehnte Subventionsbericht vermitteln will.Vor diesem Hintergrund sollte allerdings das nach wie vor hohe Subventionsvolumen für die alten Bundesländer Anlaß sein, uns nicht mit den bisherigen — wenn auch beachtlichen — Abbauerfolgen zufriedenzugeben. Denn ohne die berechtigten Ausnahmefälle bestreiten zu wollen, werfen Subventionen in der Regel erhebliche markt- und haushaltspolitische Probleme auf.Subventionsabbau ist also nach wie vor eine schlichte volkswirtschaftliche Notwendigkeit; denn Subventionen bewirken die Fehlleitung von Kapital und Arbeit. Sie führen zur Verschwendung von Ressourcen und zur Minderung des Wohlstandes für alle. Subventionsabbau ist also das Programm dieser Regierung: für Strukturwandel und Wettbewerbsfähigkeit, für mehr Markt und für weniger Staat.Es kommt hinzu: Die Bewältigung der dringenden Aufgaben im Zusammenhang mit der Einheit Deutschlands zwingt zur Ausschöpfung aller Finanzierungsspielräume, Einsparungs- und Umschichtungsmöglichkeiten in den öffentlichen Haushalten. Dazu gehört vor allen Dingen auch die Überprüfung der Subventionen. Wir können nicht so tun, als hätte sich in Deutschland nichts geändert. Mancher Luxus, den sich die Gebietskörperschaften bisher leisten konnten, muß heute im Licht der politischen Gesamtsituation in Deutschland und in Europa neu überdacht werden.Aus diesen haushalts- und ordnungspolitischen Motiven heraus faßte die Koalition im Februar vergangenen Jahres den Beschluß, ab 1992 ca. 10 Milliarden DM bzw. 30 Milliarden DM Subventionen über die Jahre 1992 bis 1994 einzusparen.Als Beitrag zu einer mittelfristigen Konsolidierungsstrategie war die Umsetzung des Beschlusses zum Abbau von Subventionen ein wichtiger und notwendiger Schritt. Entsprechend dem Beschluß der Bundesregierung vom 10. Juli 1991 wurde das Ziel zum Abbau von Subventionen mit 33,32 Milliarden DMerfüllt. Durch Änderungen im parlamentarischen Verfahren und die Verhandlungen in der Kohlerunde wurde das Ergebnis auf 32,26 Milliarden DM reduziert, das Abbauziel damit aber immer noch übertroffen.Der Subventionsabbau verteilt sich etwa hälftig auf Finanzhilfen und ähnliches sowie steuerliche Vergünstigungen. Von den einzelnen Jahresergebnissen des Subventionsabbaupakets geht in den öffentlichen Haushalten ein substantieller, ansteigender Konsolidierungsbeitrag aus. Gleiches gilt für das beschlossene Auslaufen der Berlin- und Zonenrandförderung.Nun hat die Opposition heute versucht, die Debatte in eine Märchenstunde umzufunktionieren. Dabei war der Kollege Wieczorek besonders anspruchsvoll. Er erzählte das Märchen, die SPD habe keine Mehrwertsteuererhöhung gefordert. Aus diesem Märchen muß ich ihn und uns aber auf den Boden der Realität zurückholen. Wenn ich mich recht erinnere, war es Ministerpräsident Engholm, der sich im Herbst 1990 für ein Vorziehen der für 1993 erwarteten Mehrwertsteuererhöhung ausgesprochen hat.
Im übrigen hat Herr von Larcher versucht, sich eben in der deutschen Märchenliteratur zu etablieren.
Allerdings muß ich dazu bemerken: Zu unseren aus der Literatur bekannten Klassikern wie Hauff und Grimm verhält er sich nach Form und Inhalt seiner Darbietung wie Hedwig Courths-Mahler. Mehr möchte ich zu dem Niveau seiner Darbietung nicht sagen.
Die solide Finanzpolitik der Bundesregierung war es, die den bis heute anhaltenden Aufschwung ermöglicht hat. Der während der 70er Jahre verschüttete finanzpolitische und wirtschaftspolitische Handlungsspielraum konnte nur auf der Grundlage solider Finanzpolitik wiedereröffnet werden. Solide Finanzpolitik ist auch in der jetzigen schwierigen Situation des vereinigten Deutschlands der richtige Weg. Die Rückführung der Neuverschuldung und strikte Haushaltsdisziplin der ersten Stunde sind eine Notwendigkeit ersten Ranges.Meine Damen und Herren, mit dem Steueränderungsgesetz 1992 hat die Bundesregierung die erste Stufe auf den Weg gebracht. Allerdings bremst der Bundesrat durch sein Veto dieses Gesetz und damit den beschäftigungspolitischen Fortschritt gerade im Beitrittsgebiet der Bundesrepublik. Der Bundesrat hat es auch zu verantworten, daß die beschlossenen Schritte zum steuerlichen Subventionsabbau noch nicht umgesetzt werden können, was den tatsächlichen Subventionsabbau entsprechend verzögert. Die Verantwortung hierfür kann sich die Bundesregierung nicht zuschieben lassen. Sie liegt allein bei der
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5918 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992
Parl. Staatssekretär Klaus BeckmannMehrheit der Länder. Mein Appell also an die Länder: Räumen Sie die Barrikaden.
Gehen Sie mit der Bundesregierung den Weg der finanzpolitischen Vernunft und Solidarität.Vielen Dank.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/1525 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 6 a und b auf:
a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes — Abgeordnetenbestechung
— Drucksache 12/1630 —
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
b) Erste Beratung des von dem Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Strafbarkeit der Abgeordnetenbestechung
— Drucksache 12/1739 —
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine 10-Minuten-Runde vereinbart worden. Gibt es dazu Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.
Als erster Redner ist der Kollege Hans de With vorgesehen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In § 108 b unseres Strafgesetzbuches heißt es unter „Wählerbestechung":Wer einem anderen dafür, daß er nicht oder in einem bestimmten Sinne wähle, Geschenke oder andere Vorteile anbietet, verspricht oder gewährt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.Ebenso wird bestraft, wer dafür, daß er nicht oder in einem bestimmten Sinne wähle, Geschenke oder andere Vorteile fordert, sich versprechen läßt oder annimmt.Wer nun guten Mutes davon ausgeht, daß damit auch der bestochene Abgeordnete und der ihn bestechende Bürger erfaßt sind, irrt sich. Denn zwei Paragraphen weiter, nämlich in § 108d unseres Strafgesetzbuches, wird klargestellt, daß hierunter die Wahlen und Abstimmungen im Parlament eben nicht fallen, sondern daß nur Bestechungshandlungen bei Bundestagswahlen, Landtagswahlen oder Kommunalwahlen gemeint sind.Begeht ein Beamter oder, wie es im Strafgesetzbuch heißt, ein Amtsträger eine solche Tat oder wird diese ihm gegenüber begangen, so wird ein Strafverfahren als selbstverständlich eingeleitet, weil das Strafgesetzbuch für Straftaten im Amt nach den §§ 331 ff. bekanntermaßen einen ganzen Katalog von Strafsanktionen vorsieht. Der Volksmund spricht ganz richtig von Beamtenbestechung.Für entsprechende Handlungen des Abgeordneten oder Handlungen diesem gegenüber besteht damit eine Lücke. Wer als Abgeordneter 100 000 DM von einem Bauunternehmer in einer bestimmten Stadt nähme, damit er sein Votum für diese Stadt als Hauptstadt abgäbe — solche Gerüchte gab es bei den Abstimmungen über die Hauptstadtfrage Bonn oder Berlin —,
bliebe straflos. Klärung könnte allenfalls ein Untersuchungsausschuß bringen. Das gab es übrigens schon einmal im Deutschen Bundestag.Nach den Verhaltensrichtlinien des Bundestages könnte außerdem, wenn es denn erwiesen ist, die Bundestagspräsidentin die Sache ans Licht bringen und den Abgeordneten damit an den Pranger stellen. Der Bürger wird sich natürlich verwundert die Augen reiben und fragen: Wieso das?Vom 15. Mai 1871 an, dem Inkrafttreten unseres Strafgesetzbuches, bis 1953 wurde der eben erwähnte § 108b in der Tat auch als Bestechungsstraftatbestand für Abgeordnete ausgelegt. 1953 aber wurde die erwähnte Einschränkung in Gestalt des § 108 d hinzugefügt, weil ein — das war der Grund — eigener herausgehobener Straftatbestand für Abgeordnete geschaffen werden sollte.
Es blieb aber bei der Absicht.Es blieb dabei, obwohl es — das sei erwähnt — eine ganze Reihe von Initiativen — im Grunde von allen Seiten des Hauses — gab und obwohl auch der Entwurf der Großen Strafrechtskommission 1962 eine entsprechende Vorschrift vorschlug. Ich denke, wir müssen unumwunden gestehen: eine peinliche Lücke.
Eine peinliche Lücke auch deshalb, weil in der Mutter aller modernen Demokratien, nämlich in England, die Abgeordnetenbestechung als breach of privilege seit dem Jahre 1615 als Kapitalverbrechen bestraft wird, auch wenn die Strafgewalt dort beim Parlament liegt.In den Vereinigten Staaten, in den meisten Staaten der USA, ebenso wie in Dänemark und Griechenland
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Dr. Hans de Withist die aktive und passive Abgeordnetenbestechung speziell normiert und ausdrücklich unter Strafe gestellt. In Belgien, Frankreich und Italien ebenso wie in den Niederlanden sind die Abgeordneten bei der Bestechung strafrechtlich den Beamten gleichgestellt.Daß es sich bei der Abgeordnetenbestechung um strafwürdiges Unrecht handelt, ist, soweit ich sehe, im Bundestag unumstritten. Eine Regelung haben wir in Deutschland noch nicht, weil das zu regeln wegen des besonderen Schutzes des Abgeordneten — das sei zugegeben nicht ganz einfach, ja ich sage: äußerst schwierig und kompliziert ist.Aber natürlich sollten wir auch zugeben, daß bei uns offensichtlich der erforderliche Druck gefehlt hat,
hier mit anderen Demokratien gleichzuziehen. Warum sollte es den Deutschen bei aller Penibilität — die uns nicht immer, aber oft genug auszeichnet — nicht gelingen, das zu tun, was andere als selbstverständlich vorweisen können?
Aber in der Tat: Der Teufel steckt schon im Detail.
Mit den Beamten gleichgestellt werden sollte der Abgeordnete nicht; einmal weil er kein Beamter ist, und zum zweiten weil sein Wirkungsfeld völlig anders aussieht. Hat der Amtsträger ein präzise abgestelltes Wirkungsfeld und darf er niemandes Interessenvertreter sein, sondern nur der des Gesetzesvollzuges, so ist der Abgeordnete in seinem Wirkungsfeld frei. Er kennt keine Zuständigkeiten. Er darf Interessen vertreten, z. B. die des Radfahrers.Was ist, wenn er von einem Bundesverband der Radfahrer einen Mitarbeiter gestellt bekommt und dann für das Einbringen einer Gesetzesvorlage, die die Interessen der Radfahrer besser als bisher — wohlabgewogen mit denen der Allgemeinheit — schützt, ein Fahrrad geschenkt bekommt und er damit auch noch nicht nur durch seine heimischen Zeitungen, sondern auch durch die überregionalen Medien wandert?Es kommt noch anders. Wie steht es mit dem Abgeordneten, der aus dem Arbeitgeber- oder Arbeitnehmerbereich kommt und seit seiner Aufstellung als Kandidat mit dem Wissen seines Wahlkreises in hohem Maß die Interessen — sagen wir es — seiner Klientel vertritt und als Aufsichtsratsmitglied oder Arbeitnehmervertreter für jeden offenkundig in der Chefetage „Zusatzbrötchen" verdient? In all diesen Fällen wird nicht von einem strafwürdigen Mandatsmißbrcauh gesprochen werden können.Wann bekommt eine Vorteilsgewährung gegenüber einem Abgeordneten den Hautgout strafrechtlichen Unrechts? Sicherlich dann, wenn mit heimlicher Geldhingabe eine Meinungsumkehr im Sinne einer bestimmten Stimmabgabe erreicht werden soll, die vielleicht sogar vertreten werden kann, eine Meinungsumkehr aber, die das Licht des Wahlkreises und damit der Öffentlichkeit zu scheuen hat.Damit ist dreierlei klar: Erstens. Es gibt einen Bereich — freilich nur im eng umgrenzten Fall —, der mit dem Begriff des Stimmenkaufs strafrechtlich ganz sicher erfaßt werden kann.Zweitens. Daneben bewegt sich eine breite Grauzone, die zunächst strafrechtlich kaum definierbar erscheint und auch noch nicht — das ist wichtig — dem Maß des Unwertes nach wirklich durchdacht und erfaßt ist.Drittens. Offenkundige Parteinahmen in Form von Interessenvertretungen mit öffentlich gemachten Bindungen und Verbindungen scheiden als strafwürdig aus.Daraus aber, meine ich, müssen drei Konsequenzen gezogen werden: Erstens. Der Straftatbestand der Abgeordnetenbestechung sollte in Form des Stimmenkaufs ausgestaltet werden, wie es die SPD- Bundestagsfraktion vorgeschlagen hat. Ich darf unseren Vorschlag vorlesen:Wer es unternimmt, für eine Wahl oder Abstimmung in einer Volksvertretung des Bundes, der Länder, Gemeinden oder Gemeindeverbände eine Stimme zu kaufen oder zu verkaufen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.Klar ist dabei, daß unter „kaufen" nicht lediglich die Geldhingabe im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches zu verstehen ist, sondern die Hingabe und Annahme all dessen, was geldeswert ist, auch die berühmt-berüchtigte Karibikreise. Natürlich muß sorgfältig geprüft werden, ob darüber hinaus eine Erweiterung nötig ist, um den Bereich der Grauzone wenigstens etwas mehr einzuengen.Zweitens. Der große und sicher ständig in Bewegung befindliche Bereich der Grauzone muß aufgearbeitet, durchsichtig gemacht und in den Verhaltensregeln umfänglicher als bisher beschrieben werden.Drittens. Bei aller Unzulänglichkeit unseres Vorschlages muß sich der Bundestag endlich zu einer Strafvorschrift durchringen.
Der Hinweis, die Materie sei nicht befriedigend regelbar, wird nicht mehr verstanden werden.Die Arbeit, meine sehr verehrten Damen und Herren, die wir uns damit aufhalsen, sollte nicht als Last empfunden werden. Sie muß als Möglichkeit begriffen werden, den Meinungsbildungsprozeß offener und bewertbarer, damit verständlicher und besser nachvollziehbar zu machen. Demokratie ist keine Routine. Demokratie über die Köpfe der Bevölkerung machen zu wollen schadet ihr ebenso wie deren Repräsentanten.Vielen Dank.
Als nächster hat der Kollege Erwin Marschewski das Wort.5920 •Metadaten/Kopzeile:
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Aus der Begründung eines Unionsentwurfs zur Abgeordnetenbestechung vom März 1974:
Nach geltendem Recht sind zwar Wahlbestechung sowie aktive und passive Bestechung von Richtern und Beamten strafbar, nicht jedoch die Bestechung von Angehörigen der gesetzgebenden Gewalt in Bund und Ländern.
Diese Gesetzeslücke verhindert ein wirksames Einschreiten gegen unlautere Einflußnahme auf politische Entscheidungen, die von großer Tragweite sein können.
Ja, sie hatten damals bei der Einbringung dieses Gesetzentwurfes recht, die Abgeordneten von Weizsäcker, Professor Carstens und Wolfgang Schäuble. Der fehlende Strafrechtsschutz gegen Bestechung in demokratischen Einrichtungen ist, so meine ich, deren Ansehen abträglich.
Aber auch diese Kollegen reihten sich in die Vielzahl der Antragsteller ein, die seit Ende der 50er Jahre versuchten, die Lücke, die dadurch entstanden war, daß das dritte Strafrechtsänderungsgesetz eine andere Regelung vorgesehen hatte, zu schließen, Es ist einfach nicht einsehbar, die Bestechung bei Wahlen zu Volksvertretungen zu ahnden, die Bestechung im Parlament aber straflos zu lassen.
Auch diese Kollegen waren sich wie die Große Strafrechtskommission, wie Adolf Arndt, wie der Deutsche Anwaltverein, wie auch die heutigen Antragsteller Bündnis 90 und SPD darin einig, daß die genaue Eingrenzung des Tatbestandes doch, Herr Kollege de With, erhebliche Schwierigkeiten bereitet.
Wer, wie es im vorliegenden SPD-Entwurf geschieht, ohne normative Tatbestandsmerkmale uneingeschränkt von Stimmenverkauf spricht, erfaßt er nicht — zumindest seinem Wortlaut nach — auch Verhaltensweisen, die keineswegs als strafwürdig, vielmehr als im politischen Leben unumgänglich angesehen werden? Was ist z. B., wenn eine Partei Koalitionsgespräche führt, einer anderen Partei für den Fall, ebenfalls eine politische Gegenleistung in Form von Wahlen erbracht zu bekommen, Ämter anbietet? Der Tatbestand des § 108b des Strafgesetzbuches, Herr Kollege, ist natürlich erfüllt. Ich weiß, Sie werden eine solche Regelung natürlich dem alltäglichen politischen Geschäft zurechnen wollen. Das ist klar. Aber, Herr Kollege de With, es bleibt die Frage, ob und inwieweit die Rechtsprechung die hier einschlägige Lehre von der Sozialadäquanz überhaupt anwendet.
Ein weiteres: Sind wir nicht auf Grund des Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes gehalten, ein bestimmtes und ein bestimmendes Gesetz zu formulieren? Und was Sie vorhin selber angesprochen haben: Wie ist es bei gewissen Arbeitsverhältnissen oder Nebentätigkeiten von Abgeordneten
oder bei der Ankündigung, z. B. nicht wieder als Abgeordneter aufgestellt zu werden?
Und was die Rechtspflege anbetrifft: Ist es nicht für einen Richter sehr schwer, mangels deskriptiver oder mangels normativer Tatbestandsmerkmale bei seiner Entscheidung die richtige Grenzziehung vorzunehmen? Auch die Einführung normativer Tatbestandsmerkmale, wie z. B. das Merkmal „in verwerflicher oder pflichtwidriger Weise", würde Schwierigkeiten machen.
Es fehlt eben am Verhaltenskodex für das Parlament. Da sind wir, Herr Kollege de With, sicherlich einer Meinung.
Bereits diese kurze Darstellung zeigt, daß es zwar vonnöten ist, die Abgeordnetenbestechung zu bestrafen. Es ist aber sehr schwer, einen spezifischen Bestechungstatbestand zu formulieren. Ich meine auch — wir werden an die Arbeit gehen; das ist selbstverständlich —, daß es nicht gut wäre, hier ein Adhoc-Gesetz zu verabschieden.
— Da sind wir einer Meinung, Herr Kollege Wiefelspütz.
Es wäre keinem damit gedient, eine Vorschrift zu formulieren, die es ermöglicht, Abgeordnete z. B. in pressewirksamen Wahlkampfzeiten der Bestechung zu bezichtigen, ohne daß danach außer der Einstellung des Verfahrens Weiteres geschähe. Dies brächte — da sind wir einer Meinung — dem Betroffenen, dem Parlament und, so meine ich, auch der parlamentarischen Demokratie Schaden.
Vielleicht ist — das ist unser Vorschlag — der Gesetzentwurf der CDU von 1974 eine Hilfe. Er beschreibt als strafrelevante Gegenleistung das Anbieten oder Annehmen von Geld oder anderen Vermögenswerten. Oder vielleicht hilft die Fragestellung eines ehemaligen Kollegen: Blicken wir nicht, meine Damen und Herren, zu sehr auf das Strafrecht als einzige Abhilfe? Denken wir nicht zu justizstaatlich? Wäre es vielleicht denkbar, die Verhaltensregeln zu erweitern oder, etwas erweitert, so etwas Ähnliches wie die Abgeordnetenanklage in Bayern einzuführen? Vielleicht ergänzt um die Folge, daß der angeklagte Abgeordnete auch seines Mandats für verlustig erklärt werden kann, wenn das Verfassungsgericht die Anklage für begründet erachtet? Rechtlich gangbar wäre dieser Weg. Er würde, so meine ich, Ihre neuen — sprich: alten — Vorschläge zumindest wirkungsvoll ergänzen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Jörg van Essen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Abgeordnetenbestechung
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5921
Jörg van Essenmuß strafbar sein. Mit der Unterstützung dieser Forderung kann man sich des öffentlichen Wohlwollens sicher sein. Auch das eigene Rechtsgefühl sagt einem, daß die Bestechung von Abgeordneten doch nicht anders geregelt sein darf als die von Beamten oder sonstigen Amtsträgern. Wer die Gerüchte noch im Ohr hat, daß bei der Entscheidung über den Regierungssitz gegen Bonn ebenso bestochen worden sein soll wie bei dem Votum für Bonn in der Nachkriegszeit, wird die Notwendigkeit dieser Debatte ebensowenig bestreiten wie der, der gerade über Erkenntnisse gelesen hat, nach denen das Ministerium für Staatssicherheit der DDR die Entscheidung über das Mißtrauensvotum gegen Bundeskanzler Willy Brandt mit erheblichen Geldzahlungen an Abgeordnete beeinflußt haben soll.Die Fraktionen der SPD, der FDP und der CDU haben — in dieser zeitlichen Reihenfolge — in den vergangenen Wahlperioden immer wieder Anläufe unternommen, einen solchen Straftatbestand zu schaffen. Keine der Diskussionen hat bisher zu einem wirklich befriedigenden Ergebnis und damit zu einer gesetzlichen Regelung geführt. Es ist offensichtlich alles nicht so leicht und einfach, wie es zunächst aussieht.Ausgangspunkt für die Schwierigkeiten ist das Dilemma zwischen dem Idealbild des unabhängigen Abgeordneten und der nicht zu leugnenden Tatsache, daß wir alle vielfältigen Abhängigkeiten ausgesetzt sind — aus dem sozialen Umfeld, aus der Erziehung, aus der beruflichen und der sozialen Stellung, seitens der Partei und der Fraktion. Die repräsentative Demokratie lebt gerade von diesen Einbindungen ihrer Volksvertreter und auch davon, daß einzelne Wähler und Interessengruppen die Parlamentarier in ihrem Sinne zu beeinflussen suchen. Demokratie wird dadurch lebendig, daß in vielfältiger Form auf Abgeordnete eingewirkt wird.Wo also ist die Grenze zwischen zulässiger und unzulässiger Einwirkung zu ziehen? Ist es unredlich — ich bringe hier das gleiche Beispiel wie der Kollege de With —, daß zum Beispiel Gewerkschaften und Industrieverbände durch die Gehaltszahlungen an von ihnen weiterbeschäftigte Abgeordnete Abstimmungen in ihrem Sinne erhoffen? Es ist sehr leicht möglich und ohne Auslegungsschwierigkeiten zu begründen, daß diese Kollegen, auf deren Sachverstand wir dringend angewiesen sind, als „gekauft" im Sinne der hier vorliegenden Vorschläge angesehen werden — Monat für Monat mit jeder Gehaltszahlung.Nur diejenigen Abgeordneten könnten vor einem strafrechtlichen Vorwurf sicher sein, die wie ich als Beamte für ihre Tätigkeit im Parlament in den Ruhestand versetzt und daher von jedem Arbeitgeber unabhängig sind.
Wollen wir das eigentlich: ein Parlament nur aus Beamten? Mit Sicherheit nicht.In diesem Zusammenhang stellt sich gleich eine weitere Frage. Die Abgrenzung zwischen zulässiger und erwünschter Einflußnahme einerseits und dem strafbewehrten Stimmenkauf und -verkauf mit, wie es genannt wird, unangebrachten Vorteilen andererseits will der SPD-Entwurf den Strafverfolgungsorganen überlassen. Die Justiz erhält dadurch nach meiner Auffassung eine mit der Rechtsstellung des Abgeordneten nicht zu vereinbarende Reglementierungs- und Kontrollkompetenz über die Angehörigen des Parlaments und über deren Arbeit.Auch ein weiteres, bereits früher diskutiertes Bedenken ist nicht ausgeräumt. Der Druck durch immaterielle Vor- und Nachteile ist nicht weniger verwerflich und damit auch nicht weniger strafwürdig als eine Bestechung mit Geld und anderen Vermögensvorteilen. Ein Abgeordneter, dem damit gedroht wird, er werde nach einer bestimmten Entscheidung nicht wieder aufgestellt werden — ein Beispiel dafür haben wir in der Vergangenheit auch erlebt —, kann in seiner Unabhängigkeit sehr viel mehr eingeschränkt sein als einer, dem ein bestimmter Geldbetrag zugewandt worden ist.Es ist nicht einzusehen, daß die Integrität der parlamentarischen Willensbildung nur einseitig gegen Geldzahlungen und andere Vermögensvorteile geschützt werden soll. Es ist auch nicht nachzuvollziehen, daß nur Abstimmungen in den parlamentarischen Gremien, nicht aber die in den Fraktionen und ihren Untergliederungen durch eine Strafvorschrift geschützt werden sollen. Jeder, der den parlamentarischen Betrieb kennt, weiß, daß die entscheidenden Weichenstellungen sehr oft nicht im Plenum, sondern schon viel früher bei den Beratungen der Fraktionen erfolgen.Völlig unmöglich ist schließlich eine praktikable Abgrenzung bei den Abgeordneten, die Angehörige beratender Berufe sind, z. B. bei Rechtsanwälten. Diese Juristen werden gerade wegen ihrer Rechtskenntnisse „eingekauft". Wo ziehen wir die Grenzen, wenn sich der Auftraggeber auch politische Vorteile erhofft? Auch wenn Zusammenhänge mit dem Stimmverhalten nicht erkennbar sind, so erleben wir derzeit einen solchen Mischfall mit all der sich daraus ergebenden Problematik bei einer Strafverteidigung in Dresden.Es sind nicht nur die Abgeordneten des Deutschen Bundestages gewesen, die sich wegen dieser aufgezeigten Schwierigkeiten nicht zu einer strafrechtlichen Bestimmung haben entscheiden können. Auch der sicher unverdächtige Strafrechtsausschuß des Deutschen Anwaltvereins hat in einer sorgfältigen Stellungnahme die Einführung eines Straftatbestandes der Abgeordnetenbestechung abgelehnt.Noch zu einer Petition in der vergangenen Legislaturperiode hat der Deutsche Bundestag festgestellt, daß es bisher nicht gelungen sei, mit der für das Strafrecht erforderlichen Bestimmtheit die Vorteile zu beschreiben, deren Annahme die Strafbarkeit auslösen soll.Aber die von mir zu Beginn meiner Rede skizzierten Ereignisse in der letzten Zeit sind einen neuen Versuch wert. Ich sage für die FDP zu, daß wir uns
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5922 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992
Jörg van Essenkonstruktiv an diesen Bemühungen beteiligen werden.Geben wir uns aber nicht der Illusion hin, daß wir mit einer Straftatbestimmung qua Gesetz den unabhängigen Abgeordneten schaffen. Der Schwerpunkt unserer Aktivität muß weiterhin darin liegen, unerwünschte Abhängigkeiten zu vermeiden und notwendige so weit wie möglich transparent zu machen. Die Verhaltensregeln des Deutschen Bundestages sind ein guter und, wie sich gezeigt hat, rechtlich klarer Weg.Nachgeordnete Volksvertretungen zeigen aber, daß es auch dort noch Entwicklungsmöglichkeiten gibt. Ich denke etwa an den Ausschluß von Abstimmungen bei offenkundigen Interessenkollisionen. Kommunalparlamente und einige Landesparlamente haben damit bereits lange Erfahrungen gesammelt.Diskutieren wir offen und umfassend; der Ruf dieses Hauses und unser eigener sollten es wert sein. Es sollte auch mehr Kollegen geben, die sich für dieses Thema interessieren. Ich bin sehr beunruhigt, daß nur so wenige Kollegen an dieser Debatte teilnehmen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Ullmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages haben Privilegien, die ihnen wohl anstehen; sie sind Ausdruck und Konsequenz ihrer Würde als Vertreter des ganzen Volkes, und sie sind Ausdruck ihrer Gewissensverpflichtung und ihrer Unabhängigkeit.Es gibt aber auch Privilegien, die mit dieser Würde unvereinbar sind, sie beeinträchtigen oder gar aufs Spiel setzen. Dazu gehört sicherlich das seltsame Privileg, daß Abgeordnete im Unterschied zu Beamten und Richtern straflos bestochen und daß ihre Stimmen zu wichtigen Abstimmungen gekauft werden können. Ihnen droht höchstens — darauf ist hingewiesen worden — die in § 8 der Abgeordnetenverhaltensregeln vorgesehene Veröffentlichung über das Annehmen unerlaubter Bezüge. Die Beendigung dieses Zustands — das setze ich voraus, und davon bin ich nun noch mehr überzeugt als vorher — müssen wir einmütig baldmöglichst anstreben.Die jetzige Gesetzesinitiative ist ein Schritt hierzu. Das Verfahren wäre sicherlich einfacher gewesen, hätten wir von einem einzigen Entwurf ausgehen können. Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang, darauf aufmerksam zu machen, daß die Datierung der Drucksachen nicht der eigentlichen Chronologie der Entwürfe entspricht.
— Lassen Sie mich doch zuerst ausreden, Herr Wiefelspütz! — Der Text von Bündnis 90/GRÜNE wurde bereits am 18. September 1991 veröffentlicht.
Das sage ich nicht, weil ich unseren Entwurf für der Weisheit letzten Schluß halte, und im übrigen weiß ich auch, daß die CDU/CSU schon ähnliche Initiativen gestartet hat. Wir sind also nicht die allerersten. Jedoch muß man einfach wissen, daß diese Datierung zwar stimmt, aber den geschichtlichen Verlauf nicht wiedergibt, und ich denke, es ist zur Würdigung unseres Textes wichtig, diesen Sachverhalt zu berücksichtigen.Immerhin haben beide Entwürfe so viel gemeinsam, daß die Hoffnung auf Einigung durchaus gerechtfertigt erscheint. Beide gehen von dem Strafrecht vor seiner Reform von 1953 aus, definieren die Bestechung als Unternehmensdelikt und schlagen darum eine Änderung in § 108 Strafgesetzbuch und nicht, was Herr Marschewski erwogen hat, in den Verhaltensregeln vor. Freilich unterscheiden sie sich darin, daß der SPD-Entwurf die Einfügung eines § 108 e vorsieht, der Entwurf des Bündnisses 90 eine Änderung in §§ 108b und 108d. Dabei handelt es sich um mehr als eine Differenz in der Gesetzessystematik; es handelt sich auch um eine inhaltliche Differenz, über die man wird reden und, so denke ich, sich auch einigen können.Der SPD-Entwurf definiert einen eigenen Straftatbestand „Abgeordnetenbestechung", der des Bündnisses ordnet ihn in den umfassenden Deliktbereich der Stimmenbestechung ein und muß darum § 108 — Geltungsbereich — neu formulieren, um die Abgeordnetenbestechung dort unter Ziffer 3 einzufügen.Beides mag geringfügig erscheinen, ist es aber nicht. Die SPD-Formulierung läßt bei mir die Frage aufkommen, ob die bei dem behandelten Delikt ohnehin schwierige Beweislage noch zusätzlich durch die Pflicht erschwert wird, nachzuweisen, daß ein ganz bestimmter Zusammenhang zwischen Geldoder Sachleistung und dem Inhalt einer bestimmten Wahl oder Abstimmung besteht. Aber hierüber wird man sich, so denke ich, in der Ausschußarbeit ebenso einigen können wie über die Differenzen im Gültigkeitsbereich.Besonders begrüßenswert am SPD-Entwurf erscheint mir die Strafbestimmung nach § 108e Abs. 2: Aberkennung passiven und aktiven Wahlrechts. Für ihre Beibehaltung möchte ich mich einsetzen.Die Tatsache, daß unter den zahlreichen Versuchen, die Berlin-Entscheidung des Bundestages vom 20. Juni 1991 zu diskreditieren, auch die leichtfertig ausgesprochene Verdächtigung des Stimmenkaufs eine Rolle gespielt hat, spricht für eine zügige Verabschiedung des intendierten Gesetzes.Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir noch zwei Nachbemerkungen, die auf eben Gesagtes Bezug nehmen. Wir sind ja nun wieder einmal belehrt worden, wie entsetzlich schwierig es ist, den Tatbestand zu eruieren. Das ist offenkundig sehr viel
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5923
Dr. Wolfgang Ullmannschwieriger, als leichtfertige Verdächtigungen auszusprechen;
ich weiß aber nicht, ob es sich in Wirklichkeit so verhält. Nach dem Beispielmaterial, das Herr Marschewski hier vorgeführt hat, war ich nun freilich als politischer Quereinsteiger zu der naiven Bemerkung veranlaßt: Irgendwo, so finde ich, meine Damen und Herren, muß doch die Öffentlichkeit auch merken, daß es irgendeinen Unterschied zwischen Politik und Geschäftemachen gibt. Daran, daß das früher oder später einmal klargestellt wird, habe ich ein gewisses Interesse.Schlußbemerkung: Aus einer früheren Begründung für die entsetzlichen Schwierigkeiten einer Straftatbestandsformulierung möchte ich folgenden klassischen Satz verlesen. Als Begründung wurde angeführt, es sei unmöglich, Bestechungsfälle von legitimen politischen Verhandlungen abzugrenzen. Ich denke, es ist eine politische Aufgabe, diese Abgrenzung vorzunehmen und diesen Satz nicht das letzte Wort in der Sache sein zu lassen.
Herr Kollege Dr. Rolf Olderog, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich begrüße die neuen Initiativen, die Abgeordnetenbestechung unter Strafe zu stellen, sehr. Ich empfinde dies auch als eine persönliche Herausforderung; denn ich habe über die Abgeordnetenbestechung meine Doktorarbeit geschrieben. In dieser Arbeit, die mein Doktorvater Professor Friedrich Geerds ausgezeichnet betreut hat, habe ich nachdrücklich für eine Strafvorschrift plädiert und einen Gesetzesvorschlag gemacht.
Natürlich weiß ich, wie extrem schwierig es ist, eine rechtstechnisch treffsichere Gesetzesformulierung zu finden. Ich weiß auch, daß es manchem Richter, unkundig der Besonderheiten des politischen Kräftespiels, schwerfällt, das Do ut des, das nun einmal Bestandteil des Ausgleichs politischer Interessen ist, zu verstehen.
Aber warum haben denn alle anderen demokratisch-parlamentarischen Staaten das geschafft? In den USA, in England, in Frankreich, in Italien, überall in demokratischen Ländern gibt es doch heute diese Vorschriften. Nur in Deutschland soll das rechtstechnisch unmöglich sein?
Sehen Sie einmal in die strafrechtliche Literatur. Sie werden weitgehend Unverständnis und Kopfschütteln finden. Kaum ein Wissenschaftler und selten ein Strafrechtspraktiker begreifen das, dies um so mehr, als es auch bei uns in der Bundesrepublik immer wieder handfeste Skandale gegeben hat, die über
längere Zeit das Vertrauen in unseren demokratischen Staat nachhaltig erschütterten. Denken Sie nur an die Steiner-Wienand-Affäre. Wer will ausschließen, daß sich solche Affären irgendwann, vielleicht schon bald, im Bundestag oder in einem der 16 Landtage oder bei den Kommunen wiederholen?
In der Tat: Ein Beamter, der sich 20 DM zustecken läßt, damit er die Paßverlängerung etwas schneller bearbeitet, muß schon mit harten Konsequenzen rechnen. Aber wenn sich ein Abgeordneter des Bundestages, Mitglied des höchsten Verfassungsorgans, der durch seine Stimme an wichtigsten Entscheidungen für unser Land mitwirkt, mit 200 000 DM kaufen ließe, dann könnten wir ihn nicht einmal aus dem Parlament schmeißen. Der aktiv Bestechende bei dem schmutzigen Geschäft geht nicht das geringste Risiko ein. Was für eine Auswirkung hat das — und was für eine Auswirkung muß es haben — auf das Ansehen unseres demokratischen Parlaments?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten alle Kraft aufbieten, um die unerträgliche und — wie ich auch sagen möchte — peinliche Lücke im Strafgesetzbuch doch noch zu schließen. Noch einmal: Die rechtstechnischen Probleme sind wirklich schwieriger als anderswo. Aber spielt nicht auch dies eine Rolle: unsere Scheu, präziser als bisher die Grenzen zulässigen Verhaltens für den „freien Abgeordneten" abzustecken?
Es wird immer wieder gesagt, das Strafrecht dürfe und solle auch nicht das politische Geschäft honoriger machen, als es nun einmal sei. Warum eigentlich nicht? Wäre es nicht vielleicht durchaus ein Gewinn, an diesem oder jenem Punkt eine Korrektur anzubringen? Die Verhaltensrichtlinien sind doch nur ein erster Schritt.
Gehen wir nicht mit einem resignativen Zug an die Arbeit, sondern mit Mut und dem festen Willen zu einer positiven Lösung. Für unser Parlament ist das eine gewichtige Chance, bei unseren Bürgern mehr Vertrauen zu gewinnen.
Danke schön.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Professor Heuer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach beiden zur Debatte stehenden Gesetzentwürfen soll sich jedermann strafbar machen, der es unternimmt, für eine Abstimmung in den Volksvertretungen eine Stimme zu kaufen oder zu verkaufen.Der Entwurf des Abgeordneten Dr. Ullmann und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN geht davon aus, daß der Kauf oder Verkauf nicht nur mit Geld, sondern auch mit anderen Vermögenswerten strafrechtlich relevant sein soll und daß nicht nur Abstimmungen in der Volksvertretung des Bundes, sondern auch solche in anderen Einrichtungen erfaßt werden sollen.Wir halten die Intention beider Entwürfe, diese „peinliche Lücke" zu füllen — das ist hier heute schon
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Dr. Uwe-Jens Heuermehrfach gesagt worden —, für voll zustimmungswürdig, insbesondere auch die des Entwurfs der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN, da wir keinen Grund dafür sehen, Abgeordnete und andere Personen hinsichtlich der Abstimmung in Volksvertretungen von den Strafbestimmungen völlig auszunehmen.Die Strafbarkeit soll sich auf das Abstimmungsverhalten beschränken, da — so die Begründung der SPD-Fraktion — der Tätigkeitsbereich der Abgeordneten ansonsten begrifflich kaum zu fassen sei. Gefordert wird völlig zu Recht ein nachweisbarer Zusammenhang von Vermögensvorteil und Abstimmungsverhalten, wobei die Beschränkung der Strafbarkeit auf den Kauf oder Verkauf einer Stimme in einer bestimmten Abstimmung erfolgt.Die heftigen Diskussionen der Vergangenheit um § 44 a des Abgeordnetengesetzes, um die Verabschiedung und Neufassung der entsprechenden Verhaltensregeln und um den Parteienfinanzierungsskandal zeigen aber, daß der Kauf oder Verkauf von Stimmen für bestimmte Abstimmungen gar nicht das eigentliche Problem ist. Ich möchte sagen: Es geht oder es sollte in unserer Debatte auch um das viel komplexere Problem gehen, das ja schon angedeutet worden ist, nämlich um die Frage der Beeinflussung politischer Macht durch das große Geld insgesamt. Man könnte frei nach Bertolt Brecht sagen: Der strafrechtlich verfolgbare Stimmenkauf verhält sich zu diesem Problem wie der Einbruch in eine Bank zur Gründung einer Bank.Damit komme ich notwendigerweise auf die Probleme zu sprechen, die in den Verhaltensregeln aufgeworfen worden sind. Es geht um die vielfältigen Nebentätigkeiten der Abgeordneten für Industrie- und Versicherungsunternehmen und Banken in Form von Beraterverträgen, Tätigkeiten im Aufsichtsrat oder Verwaltungsrat und sogar Geschäftsführungstätigkeiten. Sie bringen, wie man immer wieder lesen kann, Beträge von 200 000 bis 500 000 DM jährlich ein. Diese Einnahmen werden nun keineswegs als unzulässig betrachtet. Nach § 44a Abs. 2 Nr. 4 des Abgeordnetengesetzes und § 9 der Verhaltensregeln sind die mit den genannten Tätigkeiten verbundenen oder durch sie begründeten Einnahmen nur dann unzulässig, wenn die Tätigkeiten von dem Abgeordneten tatsächlich nicht geleistet werden, er aber dennoch das Geld bezieht. Werden sie jedoch tatsächlich geleistet oder sonstwie nachgewiesen, so fragt niemand mehr danach, ob nicht dennoch von dem Abgeordneten ein bestimmtes Verhalten erwartet und diese Erwartung von ihm dann auch erfüllt wird.Nach den genannten Regeln sind im Umkehrschluß auch Kulanzzahlungen, d. h. die Weiterzahlung von Gehältern von Unternehmen für ihre Angestellen, auch dann nicht unzulässig, wenn der Abgeordnete keinerlei Tätigkeit mehr für das Unternehmen erbringt. Eine solche Erwartung erscheint nicht einmal dann als nachweisbar, wenn der Abgeordnete von dem kulanten Unternehmen im Einzelfall um die Unterstützung eines bestimmten Interesses gebeten wird. Insgesamt verfügt ca. ein Drittel der Mitglieder des Hauses zusätzlich zu den Abgeordnetendiätenauch noch über Nebenverdienste. Dabei sind Spendenzahlungen nicht einmal eingerechnet.In der SPD-Vorlage wird dieser Tatsache auch volles Verständnis gezollt. Es sei „nicht zu beanstanden", heißt es, „wenn bei der Stimmabgabe politische Zwecke mitverfolgt werden, die den eigenen Interessen des Stimmberechtigten entgegenkommen". „Bei Abstimmungen in politischen Fragen widersprechen", heißt es, „an den Abgeordneten gerichtete Versprechungen und Erwartungen nicht schon deshalb den Spielregeln der Demokratie, weil sie zugleich auch auf eine Verbesserung der Lebensverhältnisse des Abstimmenden oder der von ihm vertretenen politischen Gruppe hinauslaufen."Ein naiver Mensch könnte sich nun fragen, ob eine solche Beeinflussung im Widerspruch zur Aussage in Art. 38 des Grundgesetzes steht, wonach die Abgeordneten „Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen" sind. Wenn nun die Gesamtheit der Abgeordneten des Bundestages Vertreter des gesamten Volkes sein soll, soll es dann nicht erforderlich sein, daß sich die einzelnen Abgeordneten auch an diesen Gesamtinteressen orientieren? Ein solches Gebot ist Verfassungsrechtlern unter dem Begriff der Gemeinpflichtigkeit des Mandats bekannt.In der gesellschaftlichen und politischen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland ist es — das ist hier heute mehrfach gesagt worden — nun aber offenbar so, daß kein Abgeordneter umhin kann, sich bestimmten Interessengruppen, insbesondere Parteien anzuschließen, die aber wiederum selbst an bestimmten Interessengruppen orientiert sind. Parteien und Abgeordnete sind in ihren politischen Interessen und Tätigkeiten real vielfältigen Einflüssen ausgesetzt.Die Antwort — offenbar auch der SPD — lautet nun, daß sich die Orientierung auf das Gemeinwohl des Gesamtparlaments gleichsam automatisch aus der Orientierung der einzelnen Gruppen und ihrer Abgeordneten auf ihre jeweiligen Interessen ergibt, etwa nach dem Motto: Jeder für sich und das Gemeinwohl für uns alle. Diese Vorstellung vom Parallelogramm der Kräfte setzt allerdings die gleiche Kraft der verschiedenen Gruppen sowie die öffentliche Durchsichtigkeit ihres Einflusses voraus.Angesichts der offensichtlichen Macht des Geldes ist diese Vorstellung von der Parität der Mittel jedoch nur ein frommer Wunsch, aber keine Realität. Viele der Abgeordneten scheinen — wie ihre Parteien — so an bestimmte Interessengruppen gebunden zu sein, daß selbst Erscheinungen wie massenhafte Arbeitslosigkeit oder Wohnungsnot sie nicht aus der Ruhe bringen können.Die deutsche Industrie macht gegenwärtig ein Riesengeschäft mit der Treuhand. Der vielfältig gebrauchte Ausdruck „negativer Kaufpreis" heißt ja, daß der Käufer für den Erwerb auch noch bezahlt wird. Ist unser Parlament gegenüber diesen vitalen Interessen genügend widerstandsfähig?Offenbar kann man nicht auf eine sich selbst herstellende Parität vertrauen. Es ist vielmehr — so sehe ich jedenfalls die Dinge — auch durch gesetzgeberische Maßnahmen dafür zu sorgen, daß der finanzielle
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Dr. Uwe-Jens HeuerEinfluß auf die Abgeordneten und damit deren subtile Korrumpiertheit eingeschränkt wird. Ich denke, Realist zu sein. Ich halte eine wesentliche Einschränkung des politischen Einflusses des großen Geldes unter den Verhältnissen dieser Gesellschaft für wünschenswert, aber nur begrenzt möglich. Was aber jedenfalls mehr angestrebt werden soll, ist größere Öffentlichkeit. Das Bundesverfassungsgericht hat die Einwirkung von Interessengruppen für verfassungsrechtlich normal und erlaubt gehalten. Es seien sogar Massenaktionen zur Beeinflussung erlaubt; Bundesverfassungsgerichtsentscheidung Band 5, Seiten 85 und 232. Derartige Aktionen sind öffentlich; ja, ihre Wirkung hängt von ihrer Öffentlichkeit ab. Der Einfluß des Geldes lebt aber gerade — wenn ich es so sagen darf — von seiner Lautlosigkeit. „Das Geld flüstert", formulierten amerikanische Korruptionsforscher. Was die Öffentlichkeit betrifft, so trifft die Formulierung vom Kapital als scheuem Reh — eine in der Volkskammer oft gebrauchte Formulierung — augenscheinlich zu.Wie ist nun die Lage in bezug auf die Verhaltensregeln? Sie kennen keine Einschränkungen hinsichtlich weiterer Tätigkeit von Abgeordneten neben ihrer Tätigkeit als Abgeordneter — mit Ausnahme der Tätigkeit im öffentlichen Dienst. Sonst können sich die Abgeordneten grundsätzlich unbeschränkt finanziell an irgendein Unternehmen binden. Es gibt Anzeigepflichten für bestimmte Nebentätigkeiten und für Einkünfte ab einer bestimmten Höhe. Die anzuzeigenden Einkünfte müssen aber nicht einmal veröffentlicht werden. Die Nebentätigkeiten werden im Amtlichen Handbuch des Bundestages veröffentlicht, für das sich aber anscheinend kaum jemand interessiert. Spenden müssen nicht einmal veröffentlicht werden. Falls Abgeordnete ihren Anzeigepflichten nicht oder nur unzureichend nachkommen oder unzulässige Zuwendungen erhalten, sind die Möglichkeiten für den Bundestag, Zwang auszuüben oder Sanktionen auszusprechen, nur sehr gering. Die Bundestagspräsidentin hat allerdings das Recht, festgestellte Verhaltensverstöße in einer Drucksache zu veröffentlichen.Wir meinen, daß gerade in bezug auf die Verhaltensregeln mehr notwendig ist. Ich weise darauf hin, daß andere Länder erheblich radikaler sind. In den USA wird beispielsweise das Einkommen aus einer an sich erlaubten Tätigkeit auf einen bestimmten Prozentsatz der Diäten beschränkt. In den USA und Großbritannien sind die Offenlegungspflichten der Abgeordneten viel umfassender und tiefgreifender, so auch die entsprechenden Sanktionsmöglichkeiten bei Verstößen.Ich akzeptiere also nicht die Alternative des Kollegen Marschewski: strafwürdig oder normales politisches Geschäft. Wir schlagen vor, nicht durch das Strafrecht, wohl aber durch Änderung der Verhaltensregeln die umfassende Information der Bevölkerung über die finanziellen Nebeneinkünfte der Abgeordneten einschließlich der Spenden sowie über ihre zugelassenen Nebentätigkeiten zu sichern. Für erforderlich halten wir weiterhin die Aufstellung eines differenzierten Katalogs über unzulässige Nebentätigkeiten und Nebeneinkünfte mit einer Regelung überSanktionen bei Pflichtverstößen bis hin zur Mißbilligung durch das Parlament.Ich möchte dem Abgeordneten van Essen sehr zustimmen, daß wir auch in diesem Zusammenhang über die Verhaltensregeln diskutieren sollten. Ich meine, wenn wir es ernst meinen mit einem demokratischen gemeinwohlverpflichteten Abgeordneten, sollten wir auch über diese Fragen diskutieren; sonst hat unser Gesetz wohl nur eine Alibifunktion.
— Ein bißchen machen Sie das doch auch!
Meine Damen und Herren, zur Gewissensfreiheit der Abgeordneten gehört zweifelslos auch, die Priorität zu setzen, an welcher Plenardebatte sie teilnehmen oder nicht. Ich bin mir auch der Problematik bewußt, über die wir, glaube ich, im Ältestenrat noch einmal zu diskutieren haben werden, nämlich Plenardebatten zu einem Zeitpunkt anzusetzen, wo Ausschußsitzungen stattfinden und andere Gremien tagen.
Heute haben wir es allerdings mit einem Phänomen zu tun, das ich nicht ganz verdrängen kann. Die größte Fraktion dieses Hauses — jetzt ist noch schnell ein Parlamentarischer Staatssekretär aufgetaucht, der aus anderem Grunde da ist, nämlich weil er gleich in der Fragestunde auftreten wird — ist zur Zeit durch die Vertreter auf der Regierungsbank, durch die Parlamentarische Geschäftsführerin, die Schriftführerin und den amtierenden Präsidenten vertreten. Nicht einmal die Kollegen, die in dieser Debatte gesprochen haben, sind noch da. Ich finde, das gehört zu den Dingen, über die wir auch ruhig — es tut mir leid, daß es meine eigene Fraktion ist — einmal sprechen müßten. So dürfen wir nicht weitermachen!
Ich erteile als letztem in dieser Debatte dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister der Justiz, Rainer Funke, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit den vorliegenden Entwürfen verfolgt die Fraktion der SPD ebenso wie die Gruppe Bündnis 90/ DIE GRÜNEN ein Anliegen, das auch von der Bundesregierung nachhaltig begrüßt wird. Ich darf in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß die derzeitigen Koalitionsparteien in der Vergangenheit ebenfalls bereits Entwürfe vorgelegt haben, 1956 die FDP-Fraktion und 1974 die CDU/CSU-Fraktion. Diese Entwürfe waren jeweils weitgehend mit den heute zur Debatte stehenden Entwürfen identisch.Dennoch: Wenn die Bundesregierung heute davon absehen möchte, zu den vorliegenden Entwürfen im einzelnen Stellung zu nehmen, so liegt dies vor allem daran, daß die Frage, in welchem Umfang es notwendig und vertretbar erscheint, zur Verhinderung gravierender Mißbräuche eine Überprüfung parlamentarischer Vorgänge durch die Justiz vorzusehen, noch
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Parl. Staatssekretär Rainer Funkeintensiver Erörterung an Hand der hier in Betracht zu ziehenden Fallbeispiele bedarf. Die Bundesregierung bietet hierfür ihre Mithilfe an, um gemeinsam mit Ihnen befriedigende Lösungen zu finden.Wir müssen Klarheit schaffen, welche Verhaltensweisen akzeptiert und welche untersagt zu werden verdienen, ob der von den Entwürfen vorgeschlagene Tatbestand seinerseits geeignet ist, hinreichend bestimmt die akzeptablen von den zu mißbilligenden Verhaltensweisen abzugrenzen. Das muß miteinander diskutiert werden.Unstreitig scheint mir zu sein, daß es im Bereich des politischen Lebens zulässig sein muß, gewisse Vorteile, wie etwa die Wiederwahl des Volksvertreters für den Fall in Aussicht zu stellen, daß der Abgeordnete bei seiner Stimmabgabe den Wünschen seiner Wählerschaft entspricht. Ebenso zweifelsfrei dürfte die Entgegennahme eines Geldbetrages für eine dem Gewissen des Volksvertreters widersprechende Stimmabgabe strafwürdiges Unrecht darstellen.Das sind zwei Extrembeispiele, aber die Kollegen haben bereits, insbesondere Herr van Essen, dargestellt, welch breites Spektrum es zwischen diesen beiden extremen Beispielen gibt. Es könnte durchaus zweifelhaft sein, welcher Fall strafwürdiges Unrecht sein sollte und welcher nicht.Ob tolerable von den strafrechtlich zu mißbilligenden Verhaltensweisen allein durch das Merkmal des Stimmenkaufs bzw. Stimmenverkaufs abgegrenzt werden können, wird sicherlich im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens noch vertieft zu prüfen sein. Die SPD-Fraktion ihrerseits sagt in der Begründung, daß die Definition des § 433 BGB für Kauf und Verkauf nicht gelten soll, sondern mehr der sprachliche Begriff. Auch da ist es natürlich sehr schwer, ob das — darauf ist von Herrn Kollegen Marschewski, wie ich meine zu Recht, hingewiesen worden, eine hinreichende Definition, Bestimmbarkeit nach Art. 103 Grundgesetz sein würde. Darüber muß man sicherlich diskutieren. Allein die umgangssprachliche Definition von Kauf und Verkauf dürfte, wenigstens für Straftatbestände, nicht ausreichen. Gerade § 433 BGB wollen Sie ja nicht als Grundlage nehmen, und wie ich meine, auch zu Recht. Aber dennoch teilt die Bundesregierung mit Ihnen die Auffassung, daß hier eine Gesetzeslücke besteht. Wir wollen gemeinsam mit Ihnen diese Gesetzeslücke möglichst in dieser Legislaturperiode schließen. Wir bieten unsere Hilfe an.Lassen Sie mich abschließend noch kurz zu den Vorschlägen des Kollegen Marschewski und auch von Herrn van Essen Stellung nehmen. Die Vorschläge von Herrn Kollegen Marschewski sind wohl auch mit von der Tatsache geprägt, daß er genauso wie ich aus der Kommunalpolitik kommt. Da ist es selbstverständlich, daß man sich in den Fällen, in denen man befangen sein könnte, z. B. als Anwalt, weil man einen Mandanten berät, der von einem Bebauungsplan betroffen ist, aus der Beratung zurückzieht und dann natürlich auch nicht an den Abstimmungen teilnimmt. Ich halte diese Regelung, wie wir sie z. B. im Hamburgischen Abgeordnetengesetz, das vor kurzem einbißchen ins Gerede gekommen ist, und im Bezirksverwaltungsgesetz haben, durchaus für zweckmäßig.
— Natürlich kann das, Herr Kollege, eine Farce sein, wenn sich der Abgeordnete nicht ordnungsgemäß verhält. Aber gerade deswegen muß man darüber nachdenken, welche Sanktionen es für ein nicht ordnungsgemäßes Verhalten gibt.Lassen Sie mich schließlich noch zu der Frage Stellung nehmen: Wollen wir hier im Plenum wirklich Abgeordnete haben, die überhaupt keinem Beruf mehr nachgehen können, die auch keine beratende Tätigkeit mehr wahrnehmen können? Die Gefahr, daß wir uns auf diesem Weg sehr schnell auch in den politischen Elfenbeinturm begeben und nicht mehr den Bezug zum wirklichen Leben haben, ist sehr groß.
Deswegen halte ich es für durchaus zweckmäßig, daß Abgeordnete auch wegen ihrer Unabhängigkeit gegenüber ihrer eigenen Partei oder Fraktion einem Beruf nachgehen können. Auch dieses Spannungsfeld müssen wir bei den Beratungen mit bedenken.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 12/1630 und 12/1739 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Meine Damen und Herren, meine Vorgängerin hat vorhin bekanntgeben lassen, daß die Fragestunde um 14.15 Uhr beginnen soll. Aber sowohl der erste Fragesteller als auch auf der Regierungsseite der Parlamentarische Staatssekretär, der antworten wird, sind bereits im Saal. Wenn Sie einverstanden sind, setzen wir uns über diese Ankündigung hinweg und beginnen mit der Fragestunde.—Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf: Fragestunde
— Drucksache 12/1912 —
Wir kommen zunächst zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung und Technologie. Zur Beantwortung ist der Parlamentarische Staatssekretär Bernd Neumann erschienen.
Ich rufe die Frage 10 des Abgeordneten Norbert Gansel auf:
Welche Forderungen hat die Bundesregierung gegenüber der Imhausen-Chemie bislang wegen zweckentfremdeter Förderungsmittel oder fälliger Steuerverpflichtungen geltend gemacht, und trifft es zu, daß die Bundesregierung anläßlich des Verkaufs von Teilen der Imhausen-Chemie auf Forderungen verzichtet hat?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Auf Grund
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Parl. Staatssekretär Bernd Neumannvon Verstößen gegen die Abrechnungsvorschriften fordert der BMFT von der Imhausen-Chemie GmbH eine Rückzahlung von insgesamt 11,7 Millionen DM.Zur Höhe der Steuerverpflichtungen der Imhausen-Chemie kann die Bundesregierung keine Auskunft geben. Das Steuergeheimnis verbietet es, Auskünfte über die Steuerschulden und den Erlaß von Steuerschulden der ImhausenChemie zu machen. Im übrigen werden die Besitz- und Verkehrssteuern durch die Landesfinanzbehörden verwaltet.Es trifft nicht zu, daß die Bundesregierung auf Forderungen verzichtet hat. Allerdings wird die Bundesregierung gegen Zahlung von 1,5 Millionen DM aus dem Verkaufserlös der wesentlichen Teile des Imhausen-Chemie-Vermögens dingliche Sicherheiten freigeben. Darin liegt kein Verzicht, weil diese Sicherheiten gegenüber den höheren Steuerforderungen der Finanzverwaltung nachrangig und daher praktisch wertlos waren.Im übrigen wird von dieser Freigabe der Fortbestand der BMFT-Forderungen nicht berührt, ebensowenig wie der Fortbestand von Schadensersatzansprüchen gegen Verantwortliche der Imhausen-Chemie GmbH wegen falscher Abrechnungen.
Herr Kollege Gansel, Zusatzfrage.
Aus welchen Gründen verzichtet die Bundesregierung gegenüber dem Eigentümer der Imhausen-Chemie, Hippenstiel, der wegen der Beteiligung an dem Bau der libyschen Giftgasfabrik rechtskräftig verurteilt worden ist, beim Verkauf von Teilen des Unternehmens auf dingliche Sicherheiten, da diesbezüglich doch ein beträchtlicher Wert vorhanden sein muß, wie der Kaufwert von Teilen des Unternehmens trotz der selbstverursachten Rufschädigung ausweist?
Bernd Neumann, Parl. Staatssekretär: Herr Abgeordneter Gansel, hier müssen zwei Bereiche unterschieden werden: Zum einen geht es um die Forderung von Schadenersatz gegen den Geschäftsführer. Der BMFT fordert diesen Schadenersatz in Höhe von zunächst 2,9 Millionen DM, da ein Betrugstatbestand in Höhe dieses Betrages sicher nachweisbar ist. — Das ist der eine Bereich.
Der andere Bereich bezieht sich auf die Forderung im verwaltungsrechtlichen Sinne. Hier haben wir auf Grund der Aktenlage festgestellt, daß von der Summe für die bewilligten Projekte, die, was unser Haus angeht, eine Größenordnung von insgesamt 26,9 Millionen DM ausmacht, die Summe, die auf Grund falscher Angaben auch ausgezahlt wurde, nämlich 11,7 Millionen DM, zurückzufordern ist.
Nun ist es so, daß nicht nur wir, sondern auch eine Reihe privater Gläubiger Forderungen haben. Beträchtliche Forderungen, über deren Höhe ich aus den genannten Gründen keine Auskunft geben kann, werden von den Finanzbehörden Baden-Württembergs gestellt.
Fest steht, daß unsere dinglichen Sicherungen, bezogen auf die der anderen Gläubiger, nachrangig zu behandeln sind, so daß es gar keine Chance gegeben hätte, sie in irgendeiner Weise zu realisieren.
Wir standen vor der Situation, daß ein anderes Unternehmen, ein neues Unternehmen, beträchtliche Vermögensteile der Imhausen-Chemie aufkaufen wollte, was im Hinblick auf die Strukturschwäche dieses Raumes und die Sicherung von 120 Arbeitsplätzen in der Tat richtig und wichtig ist. Hier gab es Verhandlungen zwischen dem Käufer, dieser Firma, und — natürlich — den Gläubigern. Als Paket ist herausgekommen, daß wir — im Verhältnis zu den Finanzbehörden — von den Summen, die uns normalerweise zustanden, 1,5 Millionen DM realisieren konnten — das war sozusagen schon eine Gegengabe — und, bezogen auf diese Vermögensteile, auf die dingliche Sicherung verzichtet haben; sonst wäre der Kauf gar nicht zustande gekommen. Aber sie wäre auch faktisch wertlos gewesen, weil die Finanzbehörden als erste ein Zugriffsrecht gehabt hätten.
Insofern sind wir mit den Möglichkeiten, die wir haben, sorgsam umgegangen. Wir haben also nicht auf etwas verzichtet, was wir noch hätten erreichen können, sondern haben uns — letztlich auch im Interesse der Sicherung dieser Arbeitsplätze — zu diesem Kompromiß entschlossen.
Zweite Zusatzfrage, Herr Kollege Gansel.
Das wird eine Doppelfrage: Erstens. Aus welchen Gründen macht die Bundesregierung nur eine Schadensersatzforderung von etwas über 11 Millionen DM geltend, wenn von dem Giftgasfabrikanten 26 Millionen DM aus öffentlichen Mitteln erschwindelt worden sind?Zweitens. Warum hat die Bundesregierung ihre Forderungen in Anbetracht des beträchtlichen Privatvermögens des Herrn Hippenstiel noch nicht eingetrieben, das ja auch darin besteht, daß er die Verfügung über die ihm im Zusammenhang mit dem Bau der Giftgasfabrik gezahlten Gelder behalten hat?Bernd Neumann, Parl. Staatssekretär: Sie können davon ausgehen, daß sich die Bundesregierung über jede zusätzliche Mark freut, die diesen Haushalt bereichert, und daß sie alle möglichen Schritte tut, um an das Geld zu kommen, das ihr zusteht. Daß dies von einer Reihe auch rechtlicher Entscheidungen abhängt, brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Insofern gibt es für mich mindestens keine Kenntnis darüber, daß wir in irgendeiner Weise nachlässig oder nicht zügig uns ere Forderungen einzutreiben versuchen.In der ersten Frage, Herr Abgeordneter Gansel, haben Sie gesagt: Über 26 Millionen DM waren bewilligt und ausgezahlt, und es werden nur 11,7 Millionen DM zurückgefordert. — Im Laufe der Projekte, die ja nicht erst 1989, als der Rabta-Skandal aufkam, begannen, also schon in den vorangegangenen Jahren, sind tatsächliche Leistungen mit Ausgaben erfolgt, so daß es auch aus rechtlichen Gründen nicht möglich gewesen wäre, all das zurückzufordern. Wir haben uns auf die Tatbestände konzentriert, die sich
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Parl. Staatssekretär Bernd Neumannauf falsche Angaben und betrügerische Maßnahmen bezogen. Diese Tatbestände haben nach genauer Kalkulation diese Summe ergeben. Mehr war nicht drin.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Müntefering.
Herr Staatssekretär, ist von den Forderungen der Bundesregierung überhaupt schon etwas realisiert worden? Ist schon irgend etwas von dem Geld gekommen? Wieviel?
Bernd Neumann, Parl. Staatssekretär: Ja. Es ist eine Teilsumme eingetroffen, und zwar, wenn ich richtig informiert worden bin, von den 1,5 Millionen die erste Rate von 750 000 DM.
Weitere Zusatzfragen? — Das ist nicht der Fall. Ich danke, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Neuman, für die Beantwortung.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundeskanzleramts. Zur Beantwortung steht Herr Staatsminister Bernd Schmidbauer zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 11 unseres Kollegen Norbert Gansel auf:
Ist die Meldung im „Spiegel" zutreffend, daß der Geschäftsführer der Salzgitter-Industriebau GmbH, Andreas Böhm, von Mitarbeitern des Bundesnachrichtendienstes ein Paket mit Kaviar und Gänseleberpastete erhalten hat, nachdem die Beteiligung des Unternehmens am Bau der Giftgasfabrik in Rabta/Libyen öffentlich bekanntgeworden ist, und seit wann haben Kontakte zwischen Andreas Böhm und Mitarbeitern des Bundesnachrichtendienstes bestanden?
Herr Staatsminister, Sie haben das Wort.
Herr Kollege, die Bundesregierung kann in der Öffentlichkeit keine Angaben über die Kontakte des Bundesnachrichtendienstes machen. Auskunft über nachrichtendienstliche Tätigkeit kann nur dem für die Kontrolle zuständigen Gremium gegeben werden, also der PKK. Ich kann Ihnen aber sagen, daß die von Ihnen zitierte Person dem Bundesnachrichtendienst zu keiner Zeit über die Errichtung einer Giftgasanlage in Rabta berichtet hat.
Die erste Zusatzfrage, Herr Kollege Gansel.
Ich habe Verständnis, wenn die Bundesregierung nicht in jedem Fall operative Einzelheiten über Kontakte zu einem BND-Informanten bekanntgeben will, obwohl es in diesem Fall — Beteiligung deutscher Firmen; mögliches Wissen der Bundesregierung über den Bau einer Giftgasfabrik in Libyen — besondere Gründe geben sollte, die Öffentlichkeit zu informieren.
Aber warum ist die Bundesregierung nicht in der Lage, klipp und klar zu sagen: Es trifft nicht zu, daß der Informant des Bundesnachrichtendienstes, der am Bau der Giftgasfabrik in Libyen beteiligt war, nachdem der Bau der Giftgasfabrik unter deutscher Beteiligung in der Öffentlichkeit bekannt wurde, eine Kiste mit Kaviar und Gänseleberpastete erhalten hat.
Warum können Sie das nicht einfach dementieren? Damit bringen Sie sich doch aus dem Schneider.
Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Herr Kollege Gansel, ich sagte schon eingangs, daß wir bereit sind, dem zuständigen Gremium zu antworten, auch auf diese Frage. Aber wenn Sie es so sehen wollen, gibt es theoretisch und praktisch natürlich die Möglichkeit, daß Nachrichtendienste ein solches Vorgehen praktizieren. Dies ist für mich überhaupt keine Frage. Ich will nur — was ich eingangs sagte — nicht hier in der Öffentlichkeit über die Praxis von Nachrichtendiensten Auskunft geben. Dazu gehört, daß ich weder dementiere noch bestätige, ich aber der PKK darüber Auskunft geben werde bzw. die PKK über diese Vorgänge bereits informiert wurde.
Die zweite Zusatzfrage.
Können Sie in allgemeiner Form bekanntgeben, an welcher Giftgasfabrik in welchem Land sich ein deutscher Staatsbürger beteiligen muß, damit auch er von der Bundesregierung ein Paket mit Sekt und Kaviar und Gänseleberpastete erhält?
Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Darüber will ich in dieser Fragestunde keine Auskunft geben. Aber schon die Qualität der Frage hat darauf abgehoben, daß ich darüber keine Auskunft geben kann und will.
Möchte zu diesem Themenbereich noch jemand eine Zusatzfrage stellen? — Das ist nicht der Fall. Ich danke Ihnen, Herr Staatsminister.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft. Der Parlamentarische Staatssekretär Torsten Wolfgramm ist zur Beantwortung erschienen.
Ich rufe die Frage 32 des Abgeordneten Christian Müller auf:
Wie viele Ingenieure gibt es in den neuen Bundesländern, gegliedert nach Abschlüssen an Fachschulen, Technischen Hochschulen, Ingenieurschulen und Universitäten sowie wesentlichen Fachrichtungen, und wie sehen die entsprechenden Relationen zu Abschlüssen und Fachrichtungen in den alten Bundesländern — auch hinsichtlich des Verhältnisses Anzahl der Ingenieure zur Bevölkerungszahl und -dichte in den jeweiligen Bundesländern — aus?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Herr Kollege Müller, ich erlaube mir, vor der eigentlichen Beantwortung der Frage 32 ein paar Punkte mit Ihrem Einverständnis vorauszuschicken. Der erbetene statistische Vergleich zur Zahl der Ingenieure in der Bundesrepublik vor der Vereinigung und in der DDR kann nur mit folgenden Einschränkungen erfolgen:Während die DDR Ingenieure sowohl in Hochschulen als auch in Fachschulen ausgebildet hat, wurden
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5929
Parl. Staatssekretär Torsten Wolfgrammin der Bundesrepublik seit 1968 Ingenieure nur an Hochschulen, Universitäten und Fachhochschulen, also Hochschulen, ausgebildet. Das Qualifikationsniveau von Ingenieuren, die an Fachschulen der DDR ausgebildet wurden, entspricht nicht voll dem von Fachhochschulabsolventen.Aus diesem Grunde hat die Kultusministerkonferenz beschlossen, daß die Gleichwertigkeit von Ingenieurabschlüssen mit einem Fachhochschulabschluß gemäß Art. 37 Einigungsvertrag grundsätzlich nur nach dem Erwerb zusätzlicher Qualifikationen festgestellt werden kann.Ein Vergleich zwischen den Fachschulingenieuren der DDR und den Absolventen der Vorgängereinrichtungen der Fachhochschulen in der Bundesrepublik macht heute keinen Sinn mehr, weil diese Ausbildung seit etwa 1970 ausgelaufen ist.Die Einbeziehung von Technikerqualifikationen in den erbetenen statistischen Vergleich ist nicht angezeigt, weil diese zwar auch in den Vorgängereinrichtungen der Fachhochschulen, nicht aber an den Bildungseinrichtungen der DDR vermittelt wurden.Das wollte ich zum Verständnis vorausschicken.Die folgenden Angaben erfolgen im übrigen unter dem Vorbehalt einer noch nicht hergestellten Kompatibilität statistischer Daten und von Mängeln in den zur Verfügung stehenden statistischen Unterlagen.Erstens. Im Zeitraum von 1961 bis 1989 wurden in der DDR 550 000 Ingenieure ausgebildet, davon 183 900 Ingenieure an Hochschulen und 357 600 Ingenieure an Fachschulen. Hinzu kommen ca. 100 000 Ingenieure, die vor 1961 an den genannten Bildungseinrichtungen ausgebildet worden sind.Der Schwerpunkt der Ingenieurausbildung in der DDR lag in den vergangenen Jahren in den Fachrichtungen Maschinenwesen, Elektrotechnik, Elektronik und Bauwesen.Der prozentuale Anteil an den Hochschulen belief sich dabei auf 25 % beim Maschinenwesen, auf 30 % bei der Elektronik und Elektrotechnik und auf 20 % beim Bauwesen, an den Fachschulen auf 30, 16 und 13%.Differenziert nach Hochschularten kamen die Absolventen der Ingenieurwissenschaften im Jahre 1990 zu 51 % aus den Universitäten, zu 26 % aus den Technischen Hochschulen, zu 21 % aus Spezialhochschulen und zu 2 % aus Ingenieurhochschulen.Zweitens. Im Zeitraum von 1961 bis 1989 wurden in der Bundesrepublik Deutschland 448 136 Ingenieure ausgebildet, davon 162 277 Ingenieure an Universitäten, 285 859 Ingenieure an Fachhochschulen. Hinzu kommen ca. 30 000 Ingenieure, die vor 1961 im Universitätsbereich ausgebildet worden sind.Der Schwerpunkt der Ingenieurausbildung in der Bundesrepublik lag in den Fachrichtungen Maschinenbau, Elektrotechnik und Bauingenieurwesen.Der prozentuale Anteil an den Universitäten belief sich dabei auf 30, 27 und 9 %, an den Fachhochschulen auf 38, 28 und 10 %.Differenziert nach Hochschularten verteilen sich die Absolventen zu 36 % auf die Universitäten und zu 64 % auf die Fachhochschulen, wobei zu berücksichtigen ist, daß die Fachhochschulen erst Ende der 60er Jahre gegründet wurden und dementsprechend erst seit 1973 Absolventen von dort kommen.Dritter Teil. Bezogen auf den jeweiligen Jahrgang ist die Zahl der Absolventen ingenieurwissenschaftlicher Fächer in der ehemaligen DDR etwa zwei- bis dreimal so hoch gewesen wie in der Bundesrepublik Deutschland. Bezogen auf je 1 000 Beschäftigte in der Industrie hat die Zahl der Ingenieure in der DDR kontinuierlich zugenommen, von 31 in 1961 auf 120 im Jahre 1985. Im selben Zeitraum ist die vergleichbare Zahl in der Bundesrepublik Deutschland von 29 auf 48 angewachsen. Differenziertere Angaben dazu können im Augenblick nicht gemacht werden, weil die entsprechenden Daten nicht zur Verfügung standen.
Herr Kollege Müller, wünschen Sie eine Zusatzfrage zu stellen? — Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, hält die Bundesregierung berufliche Praxis über einen noch näher zu definierenden Zeitraum für eine der möglichen Voraussetzungen für die Nachdiplomierung?
Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Ich nehme an, daß Sie auf den Kultusministerbeschluß abheben, der für diejenigen, die keinen Facharbeiterabschluß haben, im Augenblick keine Umsetzung der Führung dieser Bezeichnung vorgesehen hat. Ich bin der Meinung, daß durch die Festlegung einer entsprechenden Zeitspanne von beruflicher Erfahrung durchaus eine Möglichkeit gegeben wäre, das entsprechend gleichzusetzen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Ich glaube, das ist ein bißchen falsch angekommen. Darf ich nachsetzen? — Ich meinte die berufliche Praxis nach dem Erwerb des Ingenieurabschlusses.
Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Ja, das meinte ich.
Gut, okay. — Die zweite Frage: Sind der Bundesregierung Maßnahmen oder Maßnahmepläne der Länder bekannt, um die Nachdiplomierung in Gang zu setzen?
Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Für das spezielle Problem, das ich eben angesprochen habe, gibt es augenscheinlich keine Überlegungen. Aber ich habe deutlich gemacht, daß ich der Meinung bin, daß Abhilfe geschaffen werden sollte.
Werden zur Frage 32 aus dem Kreis der Kollegen weitere Zusatzfragen gestellt? — Das ist nicht der Fall.Dann rufe ich die Frage 33 auf, ebenfalls gestellt vom Kollegen Christian Müller.
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5930 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992
Vizepräsident Hans KleinWelchen Wert mißt die Bundesregierung den Ingenieuren für den Aufbau in den neuen Bundesländern, insbesondere für das Gelingen des Gemeinschaftswerkes „Aufschwung Ost", bei, und wie beurteilt die Bundesregierung in diesem Zusammenhang den Kenntnis- und Erfahrungsstand der Ingenieure aus den neuen Bundesländern, auch in Relation zu demjenigen der Ingenieure in den alten Bundesländern, bezogen auf die jeweiligen spezifischen Fachrichtungen?Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Müller, die Bundesregierung mißt den Ingenieuren für den Aufbau in den neuen Bundesländern, insbesondere für das Gelingen des Gemeinschaftswerkes „Aufschwung Ost", große Bedeutung bei. Sie geht davon aus, daß sie entscheidend zu einer Steigerung der Produktivität in der Wirtschaft und zur Modernisierung von Produktionsanlagen und der Entwicklung neuer Produkte beitragen können und werden.Soweit für sie der Erwerb zusätzlicher Kenntnisse und Fertigkeiten notwendig ist, gibt es im Rahmen des gemeinsamen Erneuerungsprogramms für Hochschule und Forschung in den neuen Ländern vom 11. Juli 1991 die Möglichkeit zu ergänzenden Qualifizierungsmaßnahmen. Die Entscheidung darüber treffen die neuen Länder.
Zusatzfrage.
Sieht es die Bundesregierung aus heutiger Sicht als ein möglicherweise eingetretenes Versäumnis an, daß im Prozeß der deutsch-deutschen Einigung den Ingenieurschulen in der DDR, ähnlich wie das 1968 in der Bundesrepublik geschah, durch eine Übergangsregelung generell der Weg zur Fachhochschule nicht eröffnet worden ist?
Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Das ist eine sehr schwierige Frage, Herr Kollege. Der Fall in der Bundesrepublik liegt zwanzig Jahre zurück. Damals hat man bei der Einrichtung von Fachhochschulen für einen gewissen Zeitraum entsprechende Abstriche in Kauf genommen. Es wäre also keine Wettbewerbsgleichheit im Vergleich zu den heutigen Fachhochschulen, wenn man für die bestehenden Ingenieurschulen diesen Weg beschreiten würde. Wenn Fachhochschulen eingerichtet werden, handelt es sich in jedem Fall um eine Neugründung mit den entsprechenden Qualitätsanforderungen an Professoren und Mitarbeiter.
Es gibt Überlegungen, die bisher aber nur marginal gediehen sind, im Bereich der Berufsakademien tätig zu werden. Baden-Württemberg hat sich in diesem Bereich sehr engagiert. Ganz augenscheinlich sieht es so aus, daß sich auch Sachsen und Berlin diesem Weg der Berufsakademien nähern wollen. Wir müssen dabei aber berücksichtigen, daß es dafür in der Europäischen Gemeinschaft bisher keine Anerkennung gibt. Auch die KMK müßte dann einverstanden sein.
Keine weitere Zusatzfrage? — Aus dem Kreis der Kolleginnen und Kollegen auch nicht? —
Dann rufe ich die Frage 34 des Kollegen Dr. Rainer Jork auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung den Beschluß der Kultusministerkonferenz „zur Feststellung der Gleichwertigkeit von Bildungsabschlüssen im Sinne des Artikels 37 Abs. 1 des Einigungsvertrages" bei den Fach- und Ingenieurschulabschlüssen, und inwieweit sind Ingenieure, die nach dem Abitur, jedoch ohne Facharbeiterabschluß eine Ingenieurschule erfolgreich abgeschlossen haben, in den Beschluß der Kultusministerkonferenz miteinbezogen?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben wieder das Wort.
Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Jork, die Bundesregierung hat den Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 10./11. Oktober 1991 zur Feststellung der Gleichwertigkeit von Bildungsabschlüssen im Sinne des Art. 37 Abs. 1 des Einigungsvertrages begrüßt. Die von der Kultusministerkonferenz vorgenommene Bewertung der Fach- und Ingenieurschulabschlüsse der DDR scheint unter hochschulpolitischen, sozialen und deutschlandpolitischen Gesichtspunkten angemessen.
Der Beschluß der Kultusministerkonferenz regelt die Gleichwertigkeit von Bildungsabschlüssen jedoch nicht erschöpfend. Wir haben das eben schon bei der letzten Frage mit behandelt. So sind Ingenieure, die nach dem Abitur, jedoch ohne Facharbeiterabschluß eine Ingenieurschule erfolgreich abgeschlossen haben, in den Beschluß der Kultusministerkonferenz nicht einbezogen.
Einbezogen sind nur die Abschlüsse derjenigen Fachrichtungen, in denen in den alten Ländern, wenn auch zum Teil mit anderer Zuordnung oder Bezeichnung, Fachhochschulabschlüsse erworben werden können und für die als Eingangsvoraussetzung in der DDR der Abschluß der zehnjährigen polytechnischen Oberschule, eine abgeschlossene Berufsbildung — Facharbeiterabschluß in diesem Fall — und in der Regel eine mindestens einjährige Berufstätigkeit gefordert worden sind.
Herr Kollege Jork, wollen Sie eine Zusatzfrage stellen?
Ja, bitte. — Herr Staatssekretär, welchen Wert hat aus der Sicht der Bundesregierung die Anerkennung des Titels „Ingenieur", bezogen auf die Einstellung in einen Betrieb? Oder anders gesagt: Führt die Anerkennung des Titels zur Einstellung eines Diplomingenieurs ?Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Die Anerkennung soll natürlich versuchen, die Gleichwertigkeit eines Ingenieur- und Fachschulabschlusses mit dem eines Fachhochschulabschlusses herzustellen. Sie hat wesentlich das Ziel, daß am Arbeitsmarkt eine entsprechende Gleichwertigkeit erreicht werden kann. Ob das jeweils im Einzelfall geschieht und ob im Verhältnis von Arbeitgeber zu Arbeitnehmer das jedesmal voll zum Tragen kommt, ist dann Sache der Bewertung des Einzelfalls. Aber generell ist das jedenfalls die Zielvorstellung.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5931
Weitere Zusatzfrage?
Ja, bitte. —Es geht mir noch einmal um die Frage der Gleichwertigkeit. In dem Beschluß der KMK, den Sie vorhin bereits zitierten, ist der Begriff der Einschlägigkeit der dreijährigen Berufstätigkeit benannt. Uns ist bekannt, daß die Industrie in den neuen Bundesländern weitgehend nicht mehr oder nicht mehr so existiert wie früher. Wer beurteilt aus der Sicht der Bundesregierung die Einschlägigkeit?
Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Nach dem Beschluß der KMK wird die Beurteilung der Einschlägigkeit von den für das Hochschulwesen zuständigen Ministern oder Senatoren der einzelnen Länder vorgenommen. In Berlin ist der Senator für Wissenschaft und Forschung zuständig. Es ist davon auszugehen, daß gemeinsame Absprachen der Länder noch entwickelt werden.
Zusatzfragen von anderen Kolleginnen oder Kollegen? — Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich die Frage 35 auf, die ebenfalls der Kollege Dr. Jork gestellt hat:
Wie viele Studenten aus den neuen Bundesländern studieren Ingenieurwissenschaften in den alten Bundesländern und umgekehrt, und wie wird die Zukunft des Ingenieurstudiums in den neuen Bundesländern aussehen?
Zur Beantwortung wieder der Parlamentarische Staatssekretär Torsten Wolfgramm.
Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Jork, die gewünschten Angaben sind aus der Bundesstatistik für das Hochschulwesen nicht zu ermitteln. Lediglich die Hochschul-InformationsSystem GmbH in Hannover, kurz: HIS, befragt seit 1983 in jedem Wintersemester auf freiwilliger Basis — auf Stichprobenbasis — mit Förderung durch den Bundesminister für Bildung und Wissenschaft die deutschen Studienanfänger nach einer Stichprobenmethodik, urn Informationen über den Prozeß der Studienaufnahme zu gewinnen und bereitzustellen. Seit Wintersemester 1990/91 sind die neuen Bundesländer in die Untersuchung einbezogen.
Daten aus den Untersuchungen im Wintersemester 1990/91 weisen aus: Der Anteil der deutschen Studienanfänger, die in den neuen Bundesländern ihre Hochschulreife erworben haben und deren Studium im Wintersemester 1990/91 an Hochschulen in den alten Bundesländern begann, betrug rund 5 %, also knapp 6 000.
Von diesen wählten zu ca. 28 % ein Studienfach in den Ingenieurwissenschaften. Dieser Anteil liegt geringfügig über dem ihrer westdeutschen Kommilitonen, die die Hochschulreife in den alten Bundesländern erworben haben. Hier sind es nicht 28 %, sondern 26 %.
Im Wintersemester 1990/91 war der Anteil der Studienanfänger aus den alten Bundesländern, die in den neuen Bundesländern studierten, sehr gering. Zahlen hierüber liegen HIS allerdings nicht vor. Deswegen kann ich sie auch nicht zitieren.
Zum zweiten Teil Ihrer Frage, Herr Kollege Dr. Jork: Zur zukünftigen Struktur des Ingenieurstudiums in den neuen Bundesländern hat sich der Wissenschaftsrat mit seinen Empfehlungen zu den Ingenieurwissenschaften an den Universitäten und Technischen Hochschulen der neuen Länder und den Empfehlungen zur Errichtung von Fachhochschulen in den neuen Ländern am 5. Juli 1991 geäußert.
Auf der Basis einer Bestandsaufnahme hat der Wissenschaftsrat dabei eine Reihe von Empfehlungen genereller Art zur Entwicklung der Ingenieurfächer sowie spezielle Stellungnahmen zu jeder Hochschule mit einem Ingenieurfach erarbeitet.
Im Ergebnis empfiehlt der Wissenschaftsrat, die drei bisherigen Technischen Universitäten in Dresden, Chemnitz und Magdeburg sowie die Bergakademie Freiberg und die Hochschule für Architektur und Bauwesen In Weimar zu erhalten und auszubauen. Die Technische Hochschule Ilmenau soll Technische Hochschule mit Universitätsrang bleiben, während die Technische Hochschule Leuna/Merseburg künftig als Technische Fakultät der benachbarten Universität Halle/Wittenberg in Universitätsrang fortgeführt werden soll.
Aus den bisher drei Ingenieurhochschulen sowie den übrigen Technischen Hochschulen sollen Fachhochschulen gegründet werden. Insgesamt empfiehlt der Wissenschaftsrat die Gründung von zwanzig Fachhochschulen in den neuen Ländern.
Die Umsetzung dieser Empfehlungen ist Sache der Länder. Zum Teil sind sie bereits realisiert. Im Ergebnis wird dann für die Ingenieurwissenschaften in den neuen Ländern ein differenziertes Hochschulsystem aus Universitäten und Fachhochschulen entstehen, das von seiten des Bundes nicht nur im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau, sondern auch aus Mitteln des gemeinsamen Erneuerungsprogramms für Hochschulen und Forschung in den neuen Ländern vom 11. Juli 1991 gefördert wird.
Zusatzfrage.
In welchem Umfang — absolut und relativ zu den Ingenieurabschlüssen — wird die Umwandlung des früheren Fachschulingenieurstudiums auf dem Gebiet der neuen Bundesländer in Ausbildungsformen der beruflichen Bildung, der Berufsakademien und der Fachhochschulen erwartet?
Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Zu dem Umfang können wir nichts sagen, weil uns dazu nichts vorliegt. Die Entscheidung liegt bei den Ländern.
Ich weise noch einmal darauf hin, daß ich vorhin schon eine Anmerkung zu den Berufsakademien gemacht habe. Zum Beispiel wird MecklenburgVorpommern seine Ingenieurschulen in Berufsschulen umwandeln. In Sachsen werden sie möglicherweise in Berufsakademien umgewandelt, in Berlin möglicherweise auch in Berufsakademien. Also sind Fachhochschulen, auch wenn sie die Gebäude von Ingenieurschulen übernehmen, Neugründungen.
Zweite Zusatzfrage.
Muß ich Ihre letzte Antwort so verstehen, daß Strukturkonzeptionen der
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5932 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992
Dr.-Ing. Rainer JorkLänder der Bundesregierung nicht bekannt sind und zur Zeit auch noch nicht vorgelegt werden können?Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Der Bundesregierung sind Strukturkonzeptionen der Länder über diesen eben von mir angesprochenen sehr rudimentären Bereich hinaus nicht bekannt, weil sie wohl auch noch nicht existieren.
Herr Kollege Müller, eine Zusatzfrage?
Herr Staatssekretär, da in der ehemaligen DDR die höheren Bildungseinrichtungen sehr ungleichmäßig verteilt waren — z. B. befinden sich deshalb heute etwa zwei Drittel dieser Einrichtungen im Bundesland Sachsen —: Hätte es die Bundesregierung für sinnvoll gehalten, die Hochschulkapazitäten in dieser Form zu erhalten, auch die jetzt in Fachhochschulen umzuwandelnden Technischen Hochschulen zu erhalten und die Bildungsaufgaben im Rahmen von Staatsverträgen zwischen den einzelnen Bundesländern zu regeln?
Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung hat, ohne zuständig zu sein, empfohlen, rasch zu einer Aussage der KMK zur Gleichwertigkeit von Abschlüssen zu kommen. Empfehlungen, bilaterale Verträge abzuschließen, möchte die Bundesregierung nicht abgeben.
Besteht der Wunsch nach weiteren Zusatzfragen zu diesem Thema? — Herr Kollege Päselt, bitte.
Wenn die Qualifikation der Unterrichtenden an diesen Ingenieurschulen so schlecht war, wie erklären Sie sich dann, daß man einen Teil der neu eingestellten Lehrer für die Fachhochschulen gerade aus diesem Kreis rekrutiert und nicht aus dem Kreis der Hochschullehrer?
Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Da ich den Einzelfall nicht kenne, unterstelle ich, daß diese Kollegen besonders gut qualifiziert waren.
Werden zu diesem Bereich weitere Zusatzfragen gestellt? — Nein.
Dann rufe ich die Frage 36 unseres Kollegen Dr. Gerhard Päselt auf:
Inwieweit wird die Fort- und Weiterbildung der Ingenieure in den neuen Bundesländern gefördert?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort zur Beantwortung.
Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Päselt, ich darf die Frage 36 beantworten. Der Bund und die neuen Länder — leider nicht die alten Länder; sie haben sich daran nicht beteiligt — stellen im Rahmen eines gemeinsamen Erneuerungsprogramms für Hochschule und Forschung vom 11. Juli 1991 auch Mittel für die Fort- und Weiterbildung von Ingenieuren zur Verfügung.
Für ergänzende Studienangebote, mit denen im ganzen Bundesgebiet verwertbare Abschlüsse angestrebt werden sollen, sind für 1992 5 Millionen DM
veranschlagt. Die Entscheidung über einzelne Maßnahmen liegt bei den Ländern selbst.
Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft hat im Wege der Auftragsvergabe ein umsetzungsreifes Konzept für Femstudienmaßnahmen zur Zusatzqualifizierung von Absolventen der Ingenieurschulen der DDR entwickeln lassen. Es eröffnet berufsbegleitende Qualifizierungsmöglichkeiten zum Erwerb eines Fachhochschuldiploms für etwa 70 % der Absolventen des Wissenschaftszweiges „Technische Wissenschaften" und etwa 24 % der Absolventen des Wissenschaftszweiges „Agrarwissenschaften" der DDR in acht ingenieurwissenschaftlichen Fachhochschulstudiengängen.
Die Entscheidung über die Durchführung dieser Maßnahmen, an deren Notwendigkeit aus der Sicht des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft angesichts des großen Nachfragepotentials und der politischen Bedeutung dieser Maßnahmen kein Zweifel bestehen kann, liegt bei den Wissenschaftsministern der neuen Länder und dem Wissenschaftssenator für Berlin, denen das Konzept vor wenigen Tagen übersandt worden ist.
Zur generellen Förderung der Fort- und Weiterbildung der Ingenieure in den neuen Ländern stehen — wie den übrigen beruflichen Fachkräften — die Möglichkeiten des Arbeitsförderungsgesetzes zur Verfügung.
Zusatzfragen? — Keine.
Dann rufe ich die Frage 37 des Abgeordneten Eckart Kuhlwein auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung des Parlamentarischen Staatssekretärs beim Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Dr. Norbert Lammert, daß das Abitur seine Funkbon als allgemeine Hochschulreife eingebüßt habe und daß sich die Hochschulen ihre Studierenden z. B. durch Tests und Auswahlgespräche selbst aussuchen können sollten?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär und Herr Kollege Kuhlwein, ich weiß nicht, ob die Fragen 37 und 38 der inneren Logik folgend gemeinsam beantwortet werden sollen.
Nein, dieses Mal ausnahmsweise nicht. Ich bitte darum, sie getrennt zu beantworten.
Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Ich habe mich auf beide Möglichkeiten eingerichtet, Herr Kollege.
Herr Kollege Kuhlwein, die Bundesregierung hat in ihren hochschulpolitischen Zielsetzungen vom 29. November 1990 — Drucksache 11/8506 — festgestellt, daß das Reifezeugnis generelle Voraussetzung für den Hochschulzugang bleibt. Auf Grund der langen Verweilzeit ist die Schule besser in der Lage, eine notwendige Auslese nach Leistung und Eignung zu treffen, als dies die Hochschulen durch zusätzliche Eingangsprüfungen könnten.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie sind nicht ganz genau auf meine Frage eingegangen. Ich habe danach gefragt, ob die Bundesregierung die
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Eckart KuhlweinAuffassung teilt, die Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Lammert öffentlich geäußert hat. Ich hätte gerne, daß Sie meine Frage klar mit Ja oder Nein beantworten.Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung teilt diese Auffassung nicht, sondern sie unterstreicht die Auffassung, die in der Koalitionsvereinbarung steht und der Politik der Bundesregierung entspricht.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, hält die Bundesregierung einen Parlamentarischen Staatssekretär für dieses bedeutsame Amt für ausreichend qualifiziert, dessen Äußerungen von seinem beamteten Kollegen Schaumann laut „Die Welt" vom 5. Dezember 1991 für töricht gehalten werden?
Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kuhlwein, ich möchte — das werden Sie verstehen — über Kollegen in der Weise, die Sie prognostizieren, nicht antworten. Ich möchte vielmehr festhalten, daß diese Problematik, die wir alle kennen und die damit zusammenhängt, natürlich sehr schwierige Fragen aufwirft und daß es dazu Einzelmeinungen geben kann und gibt. Aber sie sind eben nicht Meinung der Bundesregierung.
Zusatzfrage des Abgeordneten Graf Waldburg-Zeil.
Herr Staatssekretär, würden Sie mir zustimmen, daß Ihnen die Beantwortung der gestellten Frage deshalb schwergefallen ist, weil — fragestundengerecht — der Kollege Kuhlwein die Ansicht des Kollegen Staatssekretär Dr. Lammert verkürzt dargestellt hat,
und würden Sie mir zustimmen, daß, wenn ich die Ansicht des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Lammert meinerseits verkürzt in fragestundengerechter Form folgendermaßen formulierte — es käme ihm, glaube ich, näher —, es solle auch geprüft werden, ob die Hochschulen zusätzlich zum Reifezeugnis, das generelle Voraussetzung für den Hochschulzugang bleibt, ergänzende Leistungsnachweise verlangen oder selbst Leistungsfeststellungen treffen können, wenn das Reifezeugnis eine den fachlichen Anforderungen des gewählten Studiums entsprechende Vorbereitung nicht ausweist, dies genau die Ansicht der Bundesregierung darstellen würde,
weil es der Text der hochschulpolitischen Zielsetzungen ist, die Gegenstand der Koalitionsvereinbarungen sind?
Eine Sekunde, Herr Parlamentarischer Staatssekretär. Ich muß hier erst eine Klarstellung treffen. Der Kollege Graf Waldburg-Zeil war klug genug, diese längere Passage, die in der Tat für Fragestunden
— ungeeignet nicht — relativ ausführlich war — ich will auch mit euch nicht so streng sein —, mit der Wendung „würden Sie mir zustimmen" zu beginnen. Die Frage war gleich an den Anfang gestellt, also von der Form her korrekt.
Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär zur Beantwortung.
Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Die Differenzierung, die Sie vorgetragen haben, ist richtig; denn sie steht genauso in der Vereinbarung, und sie ist voll Gegenstand der Politik der Bundesregierung. Es ist ganz klar gesagt, daß generelle Voraussetzung für den Hochschulzugang das Abitur, das Reifezeugnis, bleibt. Das ist die Kernposition. Sie wird durch die Position, ergänzende Nachweise zu verlangen und selbst Leistungsfeststellung treffen zu können, wenn das Reifezeugnis eine den fachlichen Anforderungen des gewählten Studiums entsprechende Vorbereitung nicht ausweist, ergänzt.
Die Bundesregierung weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, daß die Länder beschlossen haben, bei der ZVS in einer zweijährigen Erprobungsphase bis zu 15 % der Studienplätze an Hochschulen, die das wollen, nach eigenen zusätzlichen Leistungskriterien zu vergeben. Das wird dazu führen, daß sich bestimmte Schwerpunkte bei den Hochschulen möglicherweise noch deutlicher herausarbeiten. Wir werden sehen, wie das wirkt. Die Bundesregierung hat das unterstützt. Das ist im Rahmen der koalitionspolitischen Grundlagen selbstverständlich.
Zu einer weiteren Zusatzfrage der Kollege Dr. Jork.
Herr Staatssekretär, wie beurteilen Sie, daß vom Kollegen Dr. Lammert und auch im FDP-Tagesdienst, also den Pressemitteilungen der FDP-Bundestagsfraktion, nicht nur eine Bildungsreform und eine Hochschuldebatte ohne Scheuklappen gefordert wurden, sondern auch die Einführung fachspezifischer Hochschuleingangsprüfungen als ein wichtiger Beitrag angesehen wurde und daß von FDP-Bundestagskollegen ausdrücklich die Auffassung vertreten wurde, daß das Abitur als Ausweis allgemeiner Hochschulzugangsberechtigung zu hinterfragen sei?Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Jork, daß man eine bildungspolitische Debatte ohne Scheuklappen führen sollte, ist eine wichtige Voraussetzung für alle. Daß der oder dem einzelnen Kollegen auch unterschiedliche Meinungen zur Politik der Regierung zuzubilligen sind, dies ergibt sich aus der Position des Abgeordneten selbst.
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5934 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992
Pari. Staatssekretär Torsten WolfgrammIch war über 13 Jahre Parlamentarischer Geschäftsführer und weiß aus der Zeit der Koalition mit den Sozialdemokraten wie auch aus der Zeit der jetzigen Koalition, daß es immer unterschiedliche Meinungen gegeben hat und natürlich auch geben wird.
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Kollegin Professor Lehr.
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung bemerkt, daß in der breiten Öffentlichkeit, insbesondere bei den Hochschulen selbst, zunehmend Zweifel an der Einschätzung des Abiturs zumindest in der heute üblichen Form als Nachweis der allgemeinen Hochschulreife geäußert werden, so z. B. durch den Präsidenten des Wissenschaftsrats, Professor Simon, und den langjährigen Präsidenten der DFG, Professor Markl?
Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Das ist richtig. Aber auf der anderen Seite haben die Kultusminister der Länder, die ja sowohl für die finanzielle Ausstattung, was das Personal, also die Mitarbeiter in den Hochschulen, betrifft, als auch für die sachliche Ausstattung zuständig sind — bei letzterem unabhängig von der einen oder anderen Unterstützung durch den Bund —, deutlich festgestellt — sowohl durch den Sprecher der von der Union geführten Bundesländer, Zehetmair, als auch durch den Vorsitzenden der Kultusministerkonferenz Breitenbach —, daß sie am Abitur als Hochschulzugangsvoraussetzung festhalten.
Gibt es dazu weitere Zusatzfragen? — Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich die Frage 38 auf, die ebenfalls der Kollege Eckart Kuhlwein gestellt hat:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft, Dr. Rainer Ortleb, daß das Abitur als Hochschulzugangsprüfung ausreiche und daß zusätzliche Prüfungen nur zu mehr Bürokratie an den Hochschulen führten?
Sie haben wieder das Wort, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kuhlwein, das Reifezeugnis muß seine grundsätzliche Funktion als Hochschulzugangsvoraussetzung aus den vorgenannten Gründen behalten. Diese Auffassung hat auch der Sprecher der unionsgeführten Bundesländer in der Kultusministerkonferenz, der bayerische Kultusminister Zehetmair, deutlich bekräftigt. Vorrangiges Ziel sei es danach, das Niveau des deutschen Abiturs zu erhalten. Hierzu seien gegebenenfalls auch Maßnahmen in dem von den Ländern verantworteten Schulbereich erforderlich.
Um die Hochschulen stärker an der Auswahl ihrer Studierenden durch ergänzende, studienfachbezogene Kriterien zu beteiligen, haben die Länder im Rahmen des zentralen Verteilungsverfahrens der ZVS beschlossen, daß in einer zweijährigen Erprobungsphase bis zu 15 % der Studienplätze von Hochschulen, die das wollen, nach eigenen Leistungskriterien vergeben werden können.
Die Bundesregierung begrüßt diese Zielsetzung, die sie bereits seit längerem befürwortet hat. Die hochschulpolitischen Zielsetzungen will ich jetzt nicht wiederholen; ich habe sie vorhin in der Antwort auf die Frage des Kollegen Graf Waldburg-Zeil schon genannt. Ich darf betonen, daß es unsere Zielsetzung ist, daß das Abitur die generelle Voraussetzung für den Hochschulzugang bleibt.
In diesem Zusammenhang unterstützt die Bundesregierung ergänzende Maßnahmen, die Hochschulen in größerem Umfang als bisher an der Auswahl ihrer Studienanfänger zu beteiligen und die Verantwortung der Hochschulen für die Ausbildung ihrer Studenten zu stärken.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Kuhlwein.
Herr Staatssekretär, Sie haben sich wieder einmal haarscharf an der Antwort auf meine Frage vorbeigemogelt. Sie lautete, ob die von mir dargestellte Meinung des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft von der Bundesregierung geteilt wird. In ihr hieß es präzise, daß das Abitur als Hochschulzugangsprüfung ausreiche und daß zusätzliche Prüfungen nur zu mehr Bürokratie an den Hochschulen führten.Ich frage Sie jetzt, ob diese vom Bundesminister für Bildung und Wissenschaft öffentlich und gestern noch einmal im Ausschuß für Bildung und Wissenschaft sehr dezidiert vertretene Auffassung nicht vielleicht doch im Widerspruch zu der Interpretation der hochschulpolitischen Zielsetzungen steht, die wir eben aus den Reihen Ihres Koalitionspartners hier gehört haben.Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kuhlwein, auch ich habe das eben hier zitiert. Ich sehe darin keinen Widerspruch, sondern dies entspricht der Politik der Bundesregierung, die ich mir eben darzustellen erlaubt habe. Im übrigen fällt es mir schwer, mich an irgend etwas vorbeizumogeln. Wenn Sie allein mein Gewicht und meinen Umfang betrachten, werden Sie erkennen, daß so etwas schon aus physischen Gründen für mich schwierig ist.
Ich möchte aber mit Ihrer Erlaubnis eine zusätzliche Anmerkung machen: Es wird bei dieser Problematik eine Vielzahl von Maßnahmen notwendig sein, um zu einer Entlastung der Hochschulen zu kommen. Dazu gehört eben nicht die Schaffung einer allgemeinen Zugangsprüfung an den Hochschulen, sondern dazu gehört der — auch überproportionale — Ausbau der Fachhochschulen. Dazu gehört, daß die Länder ihre Verpflichtungen zur Einstellung von mehr Personal erfüllen, dazu gehört die nachhaltige Verkürzung vor allem der universitären Studienzeiten durch eine verbesserte Studien- und Prüfungsordnung, dazu gehört der Wettbewerb in der Lehre. All diese Dinge muß man angehen. Es gibt dazu auch schon seit längerem Empfehlungen der Kultursministerkonferenz, die nun der Umsetzung harren.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5935
Herr Kollege Kuhlwein, eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie haben vorhin meine Frage, ob die Bundesregierung die von Herrn Staatssekretär Lammert vertretene Auffassung teile, mit einem deutlichen Nein beantwortet. Nun würde ich gerne wissen, wie der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, der in dieser Frage für die Bundesregierung offenbar eine andere Auffassung als der Parlamentarische Staatssekretär Lammert vertritt, in Zukunft sicherstellen will, daß seine, des Bundesministers Auffassung als Auffassung der Bundesregierung in seinem Ministerium und nach außen durchgesetzt wird und daß Herr Lammert künftig die Auffassung der Bundesregierung vertritt.
Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Es handelt sich hier um eine Überlegung des Kollegen Dr. Lammert, die nicht Meinung der Bundesregierung ist. Ich gehe nicht davon aus, daß wir uns mit solchen Fragen des Kollegen Kuhlwein in der Zukunft häufiger beschäftigen werden.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Waldburg-Zeil.
Herr Staatssekretär, meinen Sie nicht, daß sich die angeblichen Widersprüche dadurch aufklären, daß nach den hochschulpolitischen Zielsetzungen etwas geprüft werden soll und insofern eine Ansicht noch nicht feststeht, sondern folgendes geschehen soll: Die Anerkennung des Abiturs als allgemeine Hochschulreife steht nicht in Frage; vielmehr müssen in bestimmten Situationen, wo es für einen Studienplatz wesentlich mehr Bewerber als Angebote gibt, andere Formen gesucht werden; Sie haben bereits eine Form genannt, nämlich daß die Hochschulen die Möglichkeit haben, sich 15 % ihrer Studenten aus den Bewerbern in gewissem Sinne selber auszusuchen?
Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Das ganze ZVS-Verfahren zeigt, daß in vielen Bereichen mehr Bewerber anstehen, als Studienplätze zur Verfügung stehen. Aber wir haben nun gerade in der DDR die Situation gehabt, daß durch rigorose Zugangsbeschränkungen sowohl in der erweiterten Oberschule als dann auch im Studium nicht mehr Studienanfänger aufgenommen wurden, als Studienplätze vorhanden waren.
Die Bundesregierung hält das nicht für den richtigen Weg. Deswegen bleibt für uns das Abitur die Zwangsvoraussetzung zum Studium. In Einzelfällen — wir kennen das — gibt es allerdings Zulassungsbeschränkungen. Wir werden aber durch Rat und Unterstützung bemüht sein, sie abzubauen.
Eine weitere Zusatzfrage der Frau Kollegin Baumeister.
Herr Staatssekretär, würden Sie mir zustimmen, daß die Bundesregierung der Vollständigkeit halber vortragen sollte, daß die Stellungnahme des Kultusministers Zehetmair in ihrer letzten Passage aussagt, daß man über eine
Neuregelung der Hochschulzulassung nachdenken müsse, wenn der Standard nicht zu sichern wäre?
Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, das Nachdenken wird uns alle beschäftigen, vor allen Dingen in schwierigen und programmatischen Situationen.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Eckardt.
Herr Staatssekretär, wie beurteilen Sie die von mir festgestellten — so hoffe ich — Widersprüche zwischen Ihren Aussagen und der Verpflichtung nach der Geschäftsordnung der Bundesregierung, daß Mitglieder der Bundesregierung immer die Meinung der Bundesregierung vertreten müssen, in bezug auf Herrn Dr. Lammert?
Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Ich habe erklärt, welche Meinung die Bundesregierung hierbei vertritt. Sie ist in den koalitionspolitischen Beschlüssen niedergelegt, und diese Zielsetzungen sind vom Kabinett beschlossen und in der Zwischenzeit nicht geändert worden.
Eine letzte Zusatzfrage des Kollegen Dr. Jork.
Herr Staatssekretär, wie beurteilt die Bundesregierung die schriftliche Stellungnahme der Bundesvorsitzenden des Bundesverbandes liberaler Hochschulgruppen anläßlich der öffentlichen Anhörung des Deutschen Bundestages zum Thema Perspektiven der Hochschulentwicklung — ich zitiere —:
Der Hochschulzugang sollte, wo nötig, durch Tests, Auswahlgespräche und einen Notendurchschnitt aus bestimmten für die jeweils gewünschte Studienrichtung relevanten Fachnoten geregelt werden.
Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Ich halte noch einmal fest, Herr Kollege Dr. Jork, daß wir das Abitur dabei nicht tangieren lassen. Bei den 15 %, die die Hochschule jetzt auswählen können, wird sich zeigen, wie die Hochschulen reagieren und handeln werden.
Meine Damen und Herren, wir sind mit dem Bereich Bildung und Wissenschaft schon eine ganze Weile beschäftigt. Ich will Sie nur darauf aufmerksam machen, daß sehr viele Kollegen auch noch Antworten aus anderen Geschäftsbereichen erwarten, so wichtig das hier auch sein mag. Ich lasse diese beiden Zusatzfragen noch zu, und dann sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs. Bitte sehr.
Es ist nur Höflichkeit, daß ich erst so spät dran bin; ich habe die anderen vorgelassen. Ich habe eine Frage an den Staatssekretär: Wenn die Bundesregierung die Zielsetzung begrüßt, bis zu 15 % der Studienplätze nach eigenen Leistungskriterien zu vergeben, und zwar in solchen Fachbereichen, in denen bundesweit genü-
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Hubert Wilhelm Hüppegend Plätze vorhanden sind, müßte dies nicht erst recht für die Fächer gelten, in denen weniger Studienplätze vorhanden sind?Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das soll jetzt erst einmal erprobt werden. Eine zweijährige Erprobungsphase ist vorgesehen, und man sollte nicht schon wieder den Fehler machen, der in den 70er Jahren häufig begangen worden ist, daß, bevor eine Erprobungsphase überhaupt ausgewertet worden ist, s hon wieder neue und erweiterte Konzepte vorgelegt werden.
Zur letzten Zusatzfrage bitte sehr, Herr Kollege.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht mit mir der Auffassung, daß — so wie verkürzte Fragestellungen seitens der Kollegen hier im Hause, wie bewiesen — auch vermehrtes Nachhaken auf verkürzte Fragestellungen nicht dazu geeignet ist, etwa Zwietracht in die Bundesregierung oder gar zwischen die Koalitionspartner zu tragen, genau-sowenig wie es nach meiner Einschätzung Aufgabe der Bundesregierung sein kann, die Meinungsäußerungen von Vorsitzenden studentischer Verbände etwa zu kommentieren oder gar zu bewerten?
Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hansen, der Bundesregierung steht es nicht zu, Fragen der Kolleginnen und Kollegen in der Fragestunde zu bewerten. Deshalb möchte ich mich beim ersten Teil einer Anmerkung enthalten, und beim zweiten Teil stimme ich grundsätzlich zu.
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Ende der Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft. Herzlichen Dank dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Torsten Wolfgramm, der zur Beantwortung zur Verfügung gestanden hat.
Wir kommen zum Bereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Alle Fragen aus diesem Bereich sollen schriftlich beantwortet werden. Es handelt sich um die Fragen 39 und 40 des Kollegen Hans-Günther Toetemeyer und um die Frage 41 des Kollegen Jürgen Augustinowitz. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Damit ist auch dieser Geschäftsbereich erledigt.
Wir kommen nunmehr zum Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen. Zur Beantwortung steht uns Herr Staatsminister Helmut Schäfer zur Verfügung. Die Fragen 42 und 43 des Abgeordneten Dr. Peter Ramsauer sollen schriftlich beantwortet werden. Das gleiche gilt für die Frage 44 des Abgeordneten Ortwin Lowack. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Bevor ich die Frage 45 aufrufe, will ich noch einmal auf unsere Regeln für die Fragestunde aufmerksam machen. In der Anlage 4 zur Geschäftsordnung steht:
Die Fragen müssen kurz gefaßt sein und eine kurze Beantwortung ermöglichen.
Das ist unser Grundprinzip. Bei diesem Grundprinzip sollten wir bei unserer Fragestellung nach Möglichkeit auch immer bleiben.
Nun kommen wir zur Frage 45 des Abgeordneten Horst Kubatschka:
Welche Initiativen hat die Bundesregierung ergriffen, um Bundesbürgern einen portofreien Versand von Hilfspaketen in die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten zu ermöglichen, wie es z. B. auch Luxemburg für die Monate Dezember 1991 und Januar 1992 für Hilfspakete in alle osteuropäischen Länder geregelt hat, und wie wird sie bei zukünftig notwendigen Hilfsaktionen verfahren?
Herr Kollege, die Bundesregierung würdigt die Hilfsbereitschaft der deutschen Bevölkerung für die notleidenden Menschen in der ehemaligen Sowjetunion. Portofreiheit für Hilfspakete ist aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht das geeignete Mittel, ihnen notwendige Hilfe zukommen zu lassen. Diese Einschätzung ergibt sich aus den folgenden beiden Gründen:
Erstens. Es gibt in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion zur Zeit keine zuverlässig funktionierenden Postverwaltungen. Unter diesen Umständen ist zu befürchten, daß die Hilfspakete ihre Empfänger nicht oder mit ganz erheblicher Verspätung erreichen würden.
Zweitens. Portofreiheit müßte aus den Mitteln für humanitäre Hilfe des Auswärtigen Amtes finanziert werden. Diese äußerst begrenzten Mittel können bei weitem effizienter und direkter eingesetzt werden, wenn mit ihnen die Hilfslieferungen anerkannter deutscher karitativer Organisationen unterstützt werden.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Kubatschka.
Wenn die Postverwaltungen funktionierten, wäre die Bundesregierung dann bereit, über internationale Abmachungen wenigstens eine Gebührenverringerung zu erreichen?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, diese Frage stellt sich deshalb nicht, weil sie nicht funktionieren. Wenn Sie zusätzlich zu den bereits jetzt herrschenden schwierigen Zuständen die sowjetische Post mit einer großen Anzahl von Paketlieferungen belasteten, könnten Sie sicher sein, daß die Empfänger nicht schnell, wenn überhaupt, in den Genuß der Waren kämen, die in den Paketen sind.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Dr. Struck.
Herr Staatsminister, darf ich dann aus Ihren beiden Antworten schließen, daß Sie der Bevölkerung hier in der Bundesrepublik Deutschland empfehlen, überhaupt keine Pakete in die Staaten der ehemaligen Sowjetunion zu schicken?Helmut Schäfer, Staatsminister: Nein, das habe ich natürlich nicht gesagt. Ich habe vielmehr darauf hingewiesen, daß der Postversand nicht der richtige
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Staatsminister Helmut SchäferWeg ist, sondern daß die Zusammenarbeit mit den vielen Organisationen, die unmittelbar mit Hilfe von Lastwagen, Zügen und Flugzeugen solche Mittel transportieren und auch vor Ort dafür sorgen, daß diese an die Empfänger gelangen, unterstützt werden sollte und daß es sicher nicht gut wäre, wenn sich unsere Bevölkerung auf den schwierigen Weg von Postpaketen verließe.
Danke sehr.
Jetzt kommen wir zu den Fragen 46 und 47 unserer Kollegin Katrin Fuchs. — Frau Abgeordnete Fuchs ist nicht im Saal. Die Fragen werden nach der Geschäftsordnung behandelt, d. h. sie werden nicht beantwortet.
Wir kommen dann zur Frage 48 des Kollegen Hans Wallow:
Aufgrund welcher Bedarfsanalyse der Staaten auf dem Territorium der ehemaligen UdSSR koordiniert die Bundesregierung die nationalen und internationalen Nothilfemaßnahmen?
Bitte sehr, Herr Staatsminister.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, die in erheblichem Umfang durch deutsche karitative Einrichtungen geleistete bilaterale Hilfe für die Staaten der GUS erfolgt im wesentlichen auf Grund von Erkenntnissen, die diese Organisationen durch Kontakte mit ihren Partnern in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion unmittelbar gewinnen. Dabei ermitteln die Organisationen die Bedürftigen und deren Bedarf in aller Regel selbst.
Die Bundesregierung unterstützt und koordiniert die Tätigkeit der karitativen Organisationen durch den Arbeitsstab „Hilfe für die Staaten der GUS" im Auswärtigen Amt, früher „Arbeitsstab Sowjetunion-Hilfe " .
Der Koordination humanitärer Hilfsmaßnahmen mit der russischen Seite liegt bislang ein am 28. November 1990 von Ministerialdirektor Teltschik und sowjetischen Regierungsvertretern unterzeichnetes Memorandum of Understanding zugrunde, mit dem bisher erfolgreich gearbeitet wurde.
Die russische Regierung ist jetzt mit der Bitte um ein neues Memorandum an die Bundesregierung herangetreten. Eine neue Übereinkunft, die u. a. den karitativen nichtstaatlichen Charakter der betreffenden Hilfslieferungen betonen und Erfahrungen aus der bisherigen praktischen Arbeit umsetzen wird, steht derzeit kurz vor dem Abschluß.
Im Bereich der internationalen Nothilfemaßnahmen für die Staaten der GUS ist die Bundesregierung im Rahmen des deutschen Beitrags zum EG-Haushalt — ca. 28 % — an der EG-Hilfe beteiligt. Die EG hat für diesen Winter Nahrungsmittelhilfen im Wert von insgesamt 450 Millionen ECU, eine Kreditbürgschaft zum Kauf von Nahrungsmitteln von 500 Millionen ECU und einen Kredit, ebenfalls für Nahrungsmittelkäufe, von 1,25 Milliarden ECU bewilligt. Die im Rahmen dieser Zusagen erfolgten Lieferungen beruhen auf entsprechenden Absprachen mit den zuständigen russischen Stellen und deren Anforderungen.
Letzter Punkt. Ein weiteres wichtiges Forum zur Abstimmung der Hilfe für die Staaten der GUS ist die
Gruppe der G 7. So war dieses Thema ein Tagesordnungspunkt für das Sherpa-Treffen in Bonn vom 10. bis 12. Januar dieses Jahres. Ferner wird die Bundesregierung an der Konferenz zur Koordinierung der humanitären Hilfe für die Staaten der GUS am 22. und 23. Januar in Washington aktiv teilnehmen.
Zusatzfrage des Kollegen Wallow.
Herr Staatsminister, hat die Bundesregierung eine Übersicht, wie viele nationale Organisationen und parastaatliche Einrichtungen an dieser Hilfe beteiligt sind?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich gehe davon aus, daß unser Stab im Auswärtigen Amt eine solche Übersicht hat. Ich kann nicht sicher sagen, ob kleinere private Organisationen zusätzlich zu den uns bekannten Organisationen noch solche Hilfe leisten. Ich weiß nicht, ob wir eine hundertprozentige Übersicht haben, aber wir verfügen selbstverständlich über eine Übersicht der wesentlichen Organisationen.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Wallow.
Ich möchte zunächst fragen, ob ich die Liste bekommen kann.
Meine zweite Zusatzfrage ist: Gibt es im Auswärtigen Amt eine Übersicht — ich nehme an, daß Sie dort in der Art eines Lagezentrums arbeiten — über die regionalen Schwerpunkte der Bedürfnisse?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Auch das gibt es. Sie wissen, daß die Hilfe je nach den Geberländern oder Geberorganisationen etwas verschieden verläuft, daß sich beispielsweise die EG-Hilfe sehr stark auf die zwei größten Städte mit einer besonders schwierigen Versorgungslage — Moskau und Sankt Petersburg — konzentriert, daß unsere Organisationen aber darüber hinaus Hilfsgüter breit gefächert verteilen, d. h. in sehr viele Städte bringen. Wie gesagt, eine solche Übersicht gibt es.
Die Fragen 49 und 50 des Abgeordneten Günter Verheugen sollen auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Wir sind damit am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministers des Auswärtigen.Die übrigen Fragen aus dieser Woche werden nach der Geschäftsordnung behandelt, d. h. sie werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Ich rufe den Zusatzpunkt zur Tagesordnung auf: Aktuelle StundeSituation der älteren Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern nach dem Erhalt der Rentenbescheide gemäß RentenüberleitungsgesetzDie Gruppe PDS/Linke Liste hat eine Aktuelle Stunde zu dem erwähnten Thema verlangt.
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Vizepräsident Helmuth BeckerIch eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Deutschland wächst zusammen — die Renten wachsen mit. " — Mit dieser Losung sind die neuen Bundesländer geradezu zuplakatiert. Doch die Konsequenzen des im Juni 1991 im Bundestag verabschiedeten RentenÜberleitungsgesetzes, nämlich die Rentenbescheide, die im Dezember in die betroffenen Haushalte geflattert sind, sprechen eine andere Sprache.
Für 300 000 Rentnerinnen und Rentner, die verheiratet sind, fielen die Sozialzuschläge weg. Das bedeutet Einbußen bis zu 155 DM. 500 000 Pflege- und Blindengelder wurden gestrichen. Sie können — füge ich hinzu — nicht anderweitig ersetzt werden, weil noch nicht alle neuen Bundesländer entsprechende Folgesätze haben.
Über 300 000 Rentenempfängerinnen und -empfänger, die Zusatz- und Sonderversorgungssystemen zugeordnet waren, können ihre Rentenerhöhung um sage und schreibe 2 bis 5 Pfennig wohl nur als Hohn empfinden, letzteres insbesondere deshalb, weil der Kompromiß des Renten-Überleitungsgesetzes versprach, daß Berufsgruppen wie Ärztinnen und Ärzte, Technikerinnen und Techniker, Künstler und Künstlerinnen, Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus der sogenannten Sonderbehandlung wegen Staatsnähe heraus seien.
Der eigentliche Hintergrund dafür, daß 83 % der Rentnerinnen und Rentner nur deshalb nicht absolut weniger bekommen, weil sie der Auffüllbetrag schützt, ist in dem verwirrenden Zahlendschungel der Rentenbescheide wohl den wenigsten klar geworden. Die nächste Welle der Ernüchterung ist also schon vorprogrammiert, nämlich für den Zeitpunkt, ab dem nur die Rente nach SGB VI — also die in den meisten Fällen bedeutend niedrigere Rente — dynamisiert wird. Fakt ist: Viele ältere Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern merken nichts von den hochangepriesenen 11,65 % der Rentenerhöhung.
Wir fragen deshalb die Bundesregierung: Wie will sie der Widerspruchswelle derer, die jetzt ernüchtert sehen, was ihnen verloren geht — bereits jetzt sind beispielsweise bei der Bundesversicherungsanstalt in Berlin allein 11 000 Widersprüche eingegangen —, begegnen? Mit neuen Versprechungen? Wir fordern erneut — heute wohl mit mehr Verständnis vieler Betroffener in Ost und West — die Erarbeitung eines neuen Rentenrechts, das Frauen im Sinne eines eigenständigen Lebens absichert und durch eine Mindestrente viele Betroffene vor der entwürdigenden Sozialhilfe bewahrt. Denn erst dann wird Herr Blüm sein Argument nicht mehr anbringen können, daß bei Weiterführung der Sozialzuschläge die Rentnerinnen und Rentner in den neuen Bundesländern gegenüber denen in den alten besser gestellt seien. Erwidern Sie uns bitte nicht, dazu reiche das Geld nicht! Die „Sozialpolitischen Informationen" aus dem Bundesarbeitsministerium, Nr. 1 1992, besagen es schon auf der Titelseite: Rentenkassen in hervorragender Verfassung — und das in Ost und West.
Im Osten also auch, obwohl von dort 1,2 Millionen Beitragszahlerinnen und -zahler in den Westen übersiedelten bzw. pendeln. Rentnerinnen und Rentner West gegen selbige Ost auszuspielen, ist der absolut falsche Weg. Daß der Westen den Osten finanziert, stimmt auf diesem Gebiet einfach nicht. Stattdessen sollte rasch an eine wirkliche Reform des Rentensystems gegangen werden, und zwar gemeinsam mit Verbänden, Vereinen und Initiativen der betroffenen betagten und behinderten Bürgerinnen und Bürger, an eine Rentenreform, die zu sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit für alle Bürgerinnen und Bürger führt.
Danke.
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Wolfgang Engelmann.
Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ja, wie geht es denn nun wirklich unseren Rentnern in Ostdeutschland?
Leben sie am Rande des Abgrunds? Bedarf es nur noch einer weiteren Rentenerhöhung, und sie stürzen ab? Diese und ähnliche Schreckensvisionen geistern seit geraumer Zeit durch linkslastige Massenmedien, um den Bürgern glaubhaft zu machen: Das Gespenst des bösen Kapitalismus geht um wie ein brüllender Löwe und sucht seine hungrigen Ostrentner, auf daß er sie verschlinge.
Tatsache ist: Die Rentenempfänger in der ehemaligen DDR haben am ehesten die Vorzüge der sozialen Marktwirtschaft erfahren.
Bereits bei der Währungsumstellung haben sie 2 000 DM mehr, also insgesamt 6 000 DM zum Kurs 1 : 1 erhalten. Die Rentenangleichung am Tage darauf brachte eine sofortige Erhöhung um 30 %. Bis zum heutigen Tage wurden die Rentenbezüge in den neuen Bundesländern fast verdoppelt. Nicht nur eine unglaubliche Leistung
finanzieller Art, sondern vor allen Dingen auch eine technische Höchstleistung!
Zweimal jährlich folgen Rentensteigerungen auf den jetzt ermittelten Rentenbetrag in den nächsten Jahren.Meine Damen und Herren, viele Leistungen sind bekannt. Ich möchte sie hier nicht wiederholen. Ich behaupte mit Fug und Recht: Unseren Senioren geht es gut. Sie können sich jetzt Wünsche erfüllen, von denen sie vor zwei Jahren noch geträumt haben. Wer waren denn die Leute, die damals nicht in die teuren Delikatessenläden gehen konnten, wo eine Tafel
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Wolfgang EngelmannWest-Schokolade 8 Ostmark und eine Dose Ananas 18 Ostmark gekostet haben? Das waren nicht die Stasi-Offiziere und SED-Funktionäre. Nein, das waren die normalen Rentner Ost.Zur Erinnerung: Das SED-Regime hat es in 40 Jahren geschafft, einem Großteil der Frauen eine Rente in Höhe von 330 Ostmark zuzumuten,
und pries dies noch als soziale Errungenschaft an.
Jetzt begibt sich die Nachfolge-SED/PDS in die Rolle eines Anwalts und Rächers der Renten! Das finde ich äußerst grotesk.Eines jedoch möchte ich hier anmahnen: So positiv die bisherigen Rentenangleichungen und Erhöhungen waren und von einem Großteil der Bevölkerung begrüßt wurden, so ungeschickt und unpopulär ist das Renten-Überleitungsgesetz mit seiner Rentenerhöhung propagiert worden. Die verheißungsvoll angekündigten Steigerungen von 11,65 % erwiesen sich für viele Rentner als eine Enttäuschung. Ein weiterer Beweis der noch vorhandenen Sprachschwierigkeiten, denn unsere Bürger verstehen unter Rente das, was sie auf die Hand bekommen, ohne nach Auffüllbeträgen und Sozialzuschlägen zu fragen. Sie kommen auch mit den Informationsbroschüren nicht zurecht, da diese zu umfangreich sind, zu schwer verständlich und in einem Beamtendeutsch verfaßt wurden, das die Bürger im Osten noch nicht verstehen.
Unsere Bürger glaubten der Schlagzeile: 11,65 % Erhöhung. Die Welt war in Ordnung. Jeder rechnete sich die Rente selbst aus.Besonders schockiert waren die Ehegatten, denen der Sozialzuschlag gestrichen wurde. Meiner Mutter ging es ebenso, als sie laut ihrem Rentenbescheid 120 DM weniger erhielt, den nur hochqualifizierte Rentensachverständige lesen können. Selbst Bundestagsabgeordnete haben damit Probleme. Auch hier sollte man versuchen, die Form der Rentenbescheide einfacher zu gestalten. Nachdem ich meiner Mutter die Zusammenhänge erläutert hatte, nachdem ich ihr erklärt hatte, daß mein Vater jetzt 180 DM mehr erhält und beide jetzt über 2 000 DM erhalten, hat meine Mutter schon verstanden, daß sie keine bedürftige Sozialhilfeempfängerin ist, also den vormals pauschalierten Sozialzuschlag nicht mehr erhält.
Herr Kollege Engelmann, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Bitte noch einen Satz.
Wenn man die Bürger sachlich aufklärt, in einer für sie begreifbaren Sprache, stößt man auf Verständnis. Meine Damen und Herren, um künftige Mißverständnisse bei Informationen besonders für die neuen Länder zu vermeiden, schlage ich vor, daß OstAbgeordnete zu Rate gezogen werden, die das Informationsmaterial in ein allgemein verständliches gesamtdeutsches Deutsch übersetzen.
Diesen Satz zu hören hat sich noch gelohnt. — Nun spricht unser Kollege Günther Heyenn.
Vielen Dank, Herr Kollege, für die Vorschläge an Herrn Norbert Blüm.Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor wenigen Wochen, nämlich zur Jahreswende, haben die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung 4 Millionen Umwertungsbescheide verschickt an 3,1 Millionen Rentner. Dabei wurde gleichzeitig der neue Zahlbetrag vom 1. Januar 1992 an mitgeteilt. Ich möchte zu Beginn für diese außergewöhnliche Leistung allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bei der deutschen Rentenversicherung herzlichen Dank sagen.
Aber — und insofern verstehe ich die Aussagen der Kollegin Bläss — es hat vielfach Unsicherheit, Unverständnis gegeben. Es ist auch nicht leicht, diese Bescheide zu lesen. Es wird noch problematischer, wenn man bedenkt, daß ein Rentner in den neuen Bundesländern der undifferenzierten Ankündigung des Bundesarbeitsministers vertraut hat, die Rente werde um 11,65 % angepaßt. Hier sind in unnötiger und wenig verantwortungsvoller Weise mehr als 2,5 Millionen Rentenempfänger, deren Rente nicht um 11,6 % angepaßt wird, getäuscht worden.Wenn sich nach der Umstellung gegenüber dem Zahlbetrag vom Dezember 1991 eine niedrigere Rente ergibt, wird der Differenzbetrag als Auffüllbetrag weitergezahlt. Dieser Betrag wird jedoch nicht angepaßt; die Erhöhung ist also geringer als 11,65 %. Zu einer Erhöhung nur um Pfennigbeträge kommt es im übrigen bei Behindertenrenten, beim gleichzeitigen Bezug einer Unfallrente und bei zusätzlichen Leistungen aus einer Zusatzversorgung, wo der Zahlbetrag besitzgeschützt ist. Auch hier gibt es keine Erhöhung um 11,6 %.
— Das war uns klar, aber das war den Bürgerinnen und Bürgern in den neuen Ländern nicht klar. Es ist ihnen auch nicht verdeutlicht worden. Norbert Blüm hat Millionen und Abermillionen in die Öffentlichkeitsarbeit, in teure Broschüren gesteckt, aber den Leuten in den neuen Ländern hat er gesagt: 11,6 %. Deswegen ist die Unsicherheit völlig erklärlich.
Ich will aber, um Ihnen entgegenzukommen, das Renten-Überleitungsgesetz in seiner Bedeutung nicht schmälern. 900 000 Witwenrenten werden erhöht, es gibt 150 000 neue Witwenrenten. Die Herabsetzung der Altersgrenze betrifft 200 000 Menschen allein in 1992. Durch die Neufassung des Rechts der Invalidität wird die Zahl dieser Renten um ca. 50 % erhöht. Die
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Günther HeyennSPD hat durch ihre Mitarbeit an diesem Gesetz wesentliche Verbesserungen erreicht.Ich kritisiere das Gesetz nicht, obwohl es nicht voll unseren Erwartungen entspricht. Wir tragen es mit. Wir haben die Geltungsdauer der Besitzstandsbestimmungen bis zum 1. Januar 1997 verlängert. Das bedeutet: Der Sozialzuschlag wird weitergezahlt. Das bedeutet, daß wir ab 1997 in der Lage sein werden, wenn wir es denn gemeinsam wollen, zur Bekämpfung der Altersarmut für unsere Republik eine Anschlußregelung im Bereich der bedarfsorientierten sozialen Mindestsicherung zu finden.Unsere Beteiligung bedeutet weiter, daß bei der Überführung von Sonder- und Zusatzversorgungseinrichtungen ein Eindringen von strafrechtlichen Elementen in das Sozialrecht verhindert wurde. Es bedeutet eine Begrenzung bei Rente und Zusatzrente nicht bei 1 500 DM, sondern bei 2 010 DM.Durch den Ausbau des Bestandsschutzes sind soziale Ungerechtigkeiten weitgehend vermieden worden.Das wäre der wesentliche und auch vor dem Hintergrund der Entwicklung in den neuen Ländern besonders gebotene Grund für die Einführung einer sozialen Grundsicherung. In diesen Themenkomplex gehört auch die eigenständige Alterssicherung der Frau.Nicht alle Verbesserungen dieses Gesetzes sind für die Menschen in den neuen Ländern sofort erkennbar, werden sofort wirksam. Dies mag zu negativen Urteilen beigetragen haben. Dies wird sich ändern. Es mag aber auch Fehler geben. Dies wäre bei dem Umfang der Aufgabe, der wir uns gestellt haben, verständlich. Es mag auch Ungerechtigkeiten geben, die nicht erkannt wurden.Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung sollte sich daher noch in diesem Frühjahr mit den ersten Erfahrungen aus der Rentenüberleitung beschäftigen und gegebenenfalls Konsequenzen anregen.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich komme zum letzten Satz. — Insgesamt, so meine ich feststellen zu müssen, ist uns die Rentenüberleitung gelungen.
Vielen Dank.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, noch zwei Bemerkungen zu den Regelungen für die Aktuelle Stunde: Die Redebeiträge dürfen maximal fünf Minuten dauern. Ich habe keine Chance, das zu verlängern. Das ist bei sonstigen Debatten anders.
Frau Kollegin Dr. Enkelmann, es gibt während der Aktuellen Stunde keine Zwischenfragen.
Als nächste Rednerin hat Frau Kollegin Dr. Gisela Babel das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Sommer 1991 hat der Deutsche Bundestag das Gesetz zur Überleitung unseres Rentenrechts für die Rentner in den neuen Bundesländern beschlossen. In der Diskussion haben die Vertreter von SPD, CDU und FDP die Vorzüge unseres Rentenrechts und die sich durch das Gesetz ergebenden Verbesserungen für ostdeutsche Rentner dargestellt. Haben wir den Mund zu voll genommen? Sind übermäßige Erwartungen geweckt worden? Konnten die Rentner nicht annehmen, daß bei einer angekündigten Rentenanhebung um 11,6 % diese Erhöhung auch tatsächlich und rechnerisch nachvollziehbar aus dem Rentenbescheid folgt?Meine Damen und Herren, die positiven Meldungen des Sommers 1991 waren berechtigt. Insgesamt stehen sich die Rentner in den neuen Bundesländern besser als vor Einführung des westdeutschen Rentenrechts.
Lassen Sie mich das kurz begründen: In den anderthalb Jahren stiegen die Renten um 90 %. Die Kaufkraft der Renten, auch wenn man gestiegene Mieten mit berücksichtigt, hat sich im Vergleich zu 1989 um 45 % erhöht. Durchschnittlich haben Männer heute nicht 11 %, sondern 16 % mehr. Frauen haben durch die Hinterbliebenenrente im Durchschnitt 21 % mehr in der Rententüte. Meine Damen und Herren, das wollen wir hier doch einmal festhalten.
Warum also die Enttäuschung? Viele — der Durchschnitt — haben mehr, einige haben weniger bekommen. An uns ist es — insofern hat auch einmal eine Aktuelle Stunde ihr Gutes, die von der PDS beantragt worden ist —, dies zu erklären. Nicht zuletzt auf Grund politischer Äußerungen haben die Rentner geglaubt, daß sich der Zahlbetrag nicht mindert, sondern sich, wie in früheren Anpassungen, um 11,6 % erhöht.Die Bescheide sind schwer verständlich und kaum nachzuvollziehen. Das liegt nun auch an der schwierigen Rentenmaterie, die ja deswegen so hochdifferenziert und komplex ist, weil sie individuelle Gerechtigkeit mit Grundsätzen der Gleichheit in Einklang bringen muß. Aber es liegt sicher auch daran, daß bestimmte Informationen untergegangen sind, nämlich die, die eine Minderung des Zahlbetrages erklären.Ein paar Beispiele! Es entfällt der Sozialzuschlag für Ehepaare, wenn das gemeinsame Einkommen 960 DM überschreitet. Der Sozialzuschlag ist, wie bei uns die Sozialhilfe, an Bedürftigkeit gebunden. Die Frau eines Staatssekretärs mit einer Mindestrente von 330 DM bekommt nun auf Grund des guten Einkommens ihres Mannes keinen Sozialzuschlag mehr.
Das haben wir hier einvernehmlich so geregelt. Ich denke, das entspricht auch unseren gemeinsamen Vorstellungen von Gerechtigkeit, meine Damen und Herren.
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Dr. Gisela BabelAllerdings hat die Rentenversicherung jegliche Zahlung des Sozialzuschlags an Ehepaare eingestellt, auch wenn ein Anspruch besteht. Hierfür muß jetzt also erst ein Antrag gestellt werden, um die Höhe des individuellen Einkommens feststellen zu können.
Die Renten sind pauschaliert berechnet worden; anders war das in sechs Monaten gar nicht zu leisten. Nach korrekter Rechnung können sich hier in manchen Fällen höhere Renten ergeben.Wie im ganzen Bundesgebiet zahlen jetzt auch die Rentner in den neuen Bundesländern 6,84 % in die Krankenkasse. Dies ist für sie zwar neu und ungewohnt, aber die Rentner in den alten Bundesländern tun das auch. Es wäre also ein Verstoß gegen Gleichheit, wenn sich das in einem einheitlichen Rentenrecht heute nicht so darstellte. Auch hier sind die Renten um den Betrag erhöht worden — es ist also keine Einbuße —, aber es besteht nun die Zahlungspflicht. Weitere Fälle wird meine Kollegin Dr. Pohl darlegen.Fazit: Rentenbescheide sind schwer verständlich. Die FDP forderte ja schon sehr früh — und jetzt erneut — eine genauere Aufklärung. Eine Informationskampagne sollte die enttäuschten Rentner auch über die Tatbestände aufklären, die ihre Renten jetzt um einen Zahlbetrag gemindert haben.Insgesamt aber halten wir fest: Auch für Rentner in den neuen Bundesländern ist die Übernahme der leistungsbezogenen und mitwachsenden Rente eine soziale Errungenschaft.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort jetzt der Abgeordneten Frau Christina Schenk.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst ein Wort zu Herrn Engelmann: Wenn Sie sich hier auf die durchschnittlichen Frauenrenten in der ehemaligen DDR beziehen, die übrigens nicht bei 320 DM — eine ähnliche Zahl haben Sie hier genannt —, sondern bei 454 DM lagen, dann nehmen Sie bitte auch zur Kenntnis, daß man seinen Lebensunterhalt mit diesen 454 DM ohne weiteres bestreiten konnte und durchaus besser oder müheloser — —
— Ich bedanke mich bei Ihnen für diese Reaktion. Das zeigt Ihre Inkompetenz in dieser Frage.
Auch konnte man mit diesem Betrag von 454 DM besser leben als mit dem durchschnittlichen Altersruhegeld von westdeutschen Arbeiterinnen, das bei 785 DM liegt, oder von westdeutschen weiblichen Angestellten, das bei 1 072 DM liegt. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis! Vielleicht setzen Sie sich einmal damit auseinander.Ich komme jetzt zum eigentlichen Thema: In der Ex-DDR sind in letzter Zeit — die Kollegin Bläss hat das schon gesagt — in nicht geringer Anzahl großformatige Plakate aufgetaucht, die das Konterfei unseres Herrn Arbeitsministers Blüm zeigen. Darunter steht die Zeile: „Deutschland wächst zusammen — die Renten wachsen mit". Der Ernst der tatsächlichen Lage hat den Lachanfall erstickt, der sich bei mir melden wollte. Es sind genau diese vollmundigen Versprechungen, die die Menschen im Osten so enttäuschen und so verbittern, wenn sie nicht eingehalten werden.
Sie müssen es als Hohn empfinden, daß man solche Sprüche plakatieren läßt, während ihnen gleichzeitig die Rentenbescheide ins Haus flattern, die oft das glatte Gegenteil davon ausweisen.
So mußten viele Rentnerinnen und Rentner zu Beginn des Jahres feststellen, daß sie eben nicht, wie versprochen, 11,65 % mehr Rente erhielten. Im Gegenteil: Hunderttausende fühlten sich betrogen, weil sie gar nicht oder nur in geringem Maß von der Anhebung profitieren bzw. sogar Kürzungen hinnehmen müssen. Für die Betroffenen ist das nicht nur bitter, sondern auch in keiner Weise nachvollziehbar.Für die meisten Rentnerinnen und Rentner ist das komplexe Verfahren der Rentenumwertung mit seinem teils anpassungsfähigen, teils nicht anpassungsfähigen Rentenanteil nur schwer durchschaubar. Das ist ein Vorwurf, den man schon dem westdeutschen Rentenrecht insgesamt machen muß und der leider auch — und in besonderer Weise — für die Überleitungsregelungen mit ihrem mehrfach abgestuften Bestandsschutz zutrifft.Aber es sind nicht nur die rechentechnischen Details, sondern auch die leitende sozialpolitische Philosophie und die Logik, die von den Betroffenen nicht nachvollzogen werden können. Nehmen wir z. B. die angekündigte Rentenanhebung von 11,6 %, die zu Beginn des Jahres gleichzeitig mit der Rentenumwertung zum Tragen kommen sollte.Wer bei der Umwertung nach dem Renten-Überleitungsgesetz einen niedrigeren Zahlbetrag als bisher bekäme, erhält einen sogenannten Auffüllbetrag. Damit soll — das versteht man unter Bestandsschutz — zumindest die bisherige Rentenhöhe nominell garantiert werden.Die angekündigte Anhebung bezieht sich nun nicht auf den garantierten Zahlbetrag, sondern nur auf den anpassungsfähigen Rentenanteil, der sich nach westdeutschem Rentenrecht errechnet. Daher fällt die Anhebung für all jene, deren Rente lediglich infolge des Bestandsschutzes in bisheriger Höhe weitergezahlt wird, niedriger aus.Das sozialpolitisch Widersinnige dabei ist, daß dies vor allem für Renten aus niedrigerem Einkommen und geringerer Versicherungszeit zutrifft. Je niedriger also die nach dem Renten-Überleitungsgesetz errechnete Rente ist, um so niedriger fällt insgesamt die prozentuale Anhebung aus. Vor allem die Frauen sind davon
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Christina Schenkbetroffen, die im Osten mit der Rentenüberleitung ohnehin strukturelle Verschlechterungen hinnehmen mußten. Ich erinnere hier nur an den Wegfall der frauenspezifischen Zurechnungszeiten, der additiven Anerkennung von Kindererziehungszeiten und der Mindestrenten.Noch problematischer als die unterschiedlich ausgefallene Anhebung wirkt sich die ab dem 1. Januar 1992 geltende Neuregelung des Sozialzuschlags aus. Hier kann es infolge der neu eingeführten Ehegattensubsidiarität zu regelrechten Einschnitten in der Haushaltskasse kommen. Bisher stand einem Ehepaar mit niedrigem Renteneinkommen mit Sozialzuschlag immerhin ein garantiertes gemeinsames Renteneinkommen von 1 200 DM zur Verfügung. Laut RentenÜberleitungsgesetz haben Ehepartner nun nicht mehr individuell Anspruch auf Aufstockung der Rente auf jeweils 600 DM, sondern gemeinsam auf maximal 960 DM.In diesen Fällen ist es nicht übertrieben, vor allem angesichts der enorm gestiegenen Lebenshaltungskosten und der drastischen Anhebung der Mieten von einer dramatischen Verschlechterung der Lebensverhältnisse zu sprechen.Unabhängig davon, ob solche Fälle nun häufig oder weniger häufig eintreten, bleibt festzuhalten, daß die Frauen in Ostdeutschland mit der Einführung des Subsidiaritätsprinzips de facto ihren eigenständigen Anspruch auf Mindestrente verlieren.Wir dürfen gespannt sein, zu welchen Ergebnissen die geplante Kommission, die sich auch mit dem Ausbau einer eigenständigen Alterssicherung für Frauen befassen soll, kommt. Das Renten-Überleitungsgesetz zumindest läuft dem proklamierten Auftrag dieser Kommission klar entgegen. Ich versichere Ihnen an dieser Stelle, daß der Unabhängige Frauenverband diese Entwicklung mit großer Sorgfalt beobachten wird.
Ich erteile dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, unserem Kollegen Norbert Blüm, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin der PDS für diese Aktuelle Stunde sehr dankbar.
Deutschland wächst zusammen. Die Rente wächst mit. Wenn die PDS, wenn die SED noch an der Macht wäre, würde weder Deutschland zusammenwachsen noch die Rente steigen. Das ist der Unterschied.
Das gibt mir Gelegenheit zu weiterer Aufklärung, an der wir uns ja alle beteiligen müssen. Das Rentenrecht ist kompliziert. Man kann nicht mehr als das tun, was wir versucht haben, nämlich alle Details in 7,5 Millionen Broschüren unter ausdrücklichem Hinweis darauf zu erläutern, daß der Sozialzuschlag unterbestimmten Bedingungen wegfällt und das Pflegegeld wegfällt.
Aber wir können immer besser werden.
— Zur Anpassung habe ich vor dem Deutschen Bundestag erklärt: 11,65 % ist der Durchschnittssatz. Er wird variiert. Es wird etliche geben, die weniger erhalten; es wird beim Zusammenzählen sogar einige geben, die keine Erhöhung bekommen.
— Lassen Sie mich doch ausreden!
Diese 11,65 % sind für die Mehrheit der Betroffenen nicht eine Übertreibung, sondern eine Untertreibung. Der durchschnittliche Erhöhungssatz ist bei den Männern 16 % und bei den Frauen 21 %. 11,6 % sind für den Durchschnitt eine Untertreibung, in Wahrheit sind es mehr.Ich glaube nicht, daß wir mit so einem Schlagabtausch hier den Rentnern wirklich helfen. Mein Bemühen um Konsens war nicht zuletzt davon getragen, eine hohe Rentenübereinstimmung zu erreichen, damit Vertrauen entsteht. Das wollen wir jetzt auch nicht zerstören.Allerdings, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der PDS,
ausgerechnet Sie spielen sich als Anwalt der Rentner auf! 40 Jahre hat die SED die Rentner gequält. 40 Jahre hat die SED die Rentner betrogen. Den Bock zum Gärtner, das machen wir hier im Deutschen Bundestag nicht. Ausgerechnet die!
Die Rente wächst mit. Die Renten stiegen mit der Sozialunion um 30 %, am 1. Januar 1991 um 15 %, am 1. Juli 1991 um 15 % und am 1. Januar 1992 um 11,65 %.
Seit Einführung der Sozialunion, in eineinhalb Jahren — ich sage das, damit das hier nicht verlorengeht —, sind die Renten in den neuen Bundesländern um durchschnittlich 90 % gestiegen. Wann gab es das in der Geschichte der Rentenversicherung noch einmal? Ich lasse mit mir nicht darüber streiten, daß die Rentner die ersten Gewinner der deutschen Einheit sind. Sie haben es auch verdient; sie haben unter der Trennung am längsten gelitten.
Die Frauenrente: früher 432 Mark, heute 779 DM, mit der Witwenrente 937 DM. Das sind Zahlen, die Sie doch nicht wegdiskutieren können. Durchschnittsrente bei den Männern am 30. Juni 1990 — da war noch die SED am Ruder —: 572 Mark, heute, nach der Anpassung vom 1. Januar, 1 165 DM. Das ist doch eine massive Erhöhung. Darüber sollten wir uns doch
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5943
Bundesminister Dr. Norbert Blümbei aller Detailkritik und meinetwegen auch der Kritik, daß die Aufklärung noch besser werden sollte, nicht streiten. Das Faktum bleibt bestehen, daß wir für die Rentner zuerst und am besten gesorgt haben.Daß die Rente jetzt dynamisch ist, daß sie lohnbezogen ist, daß die Rentner nicht betteln müssen und nicht davon abhängig sind, ob der Staat in guter Laune ist und auch für sie etwas übrig hat, — ist das kein Fortschritt? Zu Honeckers Zeiten war es so: Wenn er gute Laune hatte, hat er auf einem SED-Kongreß Apfelsinen verteilt und den Rentnern eine Erhöhung gegeben. Das war doch eure Rentenpolitik.
Die Rentner waren Almosenempfänger. Die Rentner brauchen heute niemandem „Danke schön" zu sagen, keinem Blüm, keinem Kohl, niemandem. Die haben sich ihre Rente selber verdient. Sie sind in Solidarität, in einem Boot mit den Arbeitnehmern. Wenn die Löhne steigen, steigen auch die Renten. Im Unterschied zur Rentenanpassung West, wo die Renten mit einem Jahr Abstand folgen, steigen die Renten in den neuen Bundesländern jetzt noch unmittelbar. Während die Renten im Westen jedes Jahr nur einmal angepaßt werden, werden sie in den neuen Bundesländern, damit sie aufholen, halbjährlich angepaßt. Die Aufholjagd hat doch bereits erste Früchte gezeitigt. Als Sie, liebe PDS, noch an der Macht waren
— ich bin heute christlich, wie ich bin; also gut: PDS ohne Zusatz —, war der Abstand zur westdeutschen Rente 70 %; 30 zu 100 %, das macht 70 %. Inzwischen, nach eineinhalb Jahren, sind wir bei fast 60 %, also bei einem Abstand von ca. 40 % angelangt. Wenn die Rentenaufholjagd so weitergeht — ich hoffe, wir betreiben sie gemeinsam —, dann werden wir auch die Rentengleichheit erreichen.Jetzt noch zu dem im Rentenchinesisch, wie ich zugebe, sehr schwierig darzustellenden Phänomen. Zwei unterschiedliche Systeme von ganz unterschiedlicher Herkunft und Bauart zusammenzufügen ist ein kaum zu schaffendes Werk. Das müssen Sie sich so vorstellen, als müßten zwei Güterzüge während der Fahrt umgeladen werden — während der Fahrt, und zwar in entgegengesetzter Richtung.
— Ja, so ähnlich ist das. Ein Fürsorgesystem während der Fahrt auf ein Leistungssystem umzustellen ist ein kaum zu bewerkstelligendes Unternehmen. Wir haben es doch gemeinsam geschafft. Ich bedanke mich ausdrücklich bei allen Gutwilligen, die dabei mitgewirkt haben und die in der Vorbereitung dieser Überleitung doch gesehen haben, welche fast nicht zu bewerkstelligenden Schwierigkeiten darin steckten. Überleitung und Anpassung gleichzeitig zu handhaben, das ist selbst für mich kaum zu schaffen.
— Es ist jedenfalls sehr schwer.
Dann dürfen wir nicht vergessen — der Kollege Heyenn hat es schon gesagt —: 900 000 Witwen bekommen zum erstenmal eine anständige Witwenrente, durchschnittlich 240 DM mehr. So viel haben manche im ganzen Monat vorher nicht bekommen. Die Überleitung hat also diese Erhöhung um 240 DM gebracht. 150 000 Witwen, die zu SED-Zeiten nichts bekamen, bekommen zum erstenmal eine Witwenrente. Die Altersgrenze wird gesenkt. BU- und EU- Renten werden im Unterschied zum alten DDR-Recht nun vielen erstmals gezahlt. Das ist eine menschliche Leistung. Und da schütteln Sie den Kopf? Ist das keine handfeste Verbesserung? Ich frage die Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern, ob sie auf die Propaganda der Miesmacher hereinfallen oder sich an die Fakten halten wollen. Ich halte mich an die Fakten.
Jetzt kommt es dazu, daß einige ausgezahlte Beträge niedriger sind als vorher. Warum? Weil bisher mit der Rente auch Leistungen gezahlt wurden, die mit der Rente nichts zu tun hatten. Wir haben in Broschüren gesagt, daß diese Leistungen wegfallen bzw. nicht mehr mit der Rente gezahlt werden. Beispielsweise ist es nicht Aufgabe der Rentenversicherung, Pflegegeld zu zahlen. Das wird von der Krankenversicherung bezahlt. Für Blindengeld muß es die entsprechenden Ländergesetze geben. Bei Blindheit auf Grund von Unfall zahlt die Unfallversicherung. Dieses Geld fällt also nicht einfach weg, sondern wird nur nicht mehr über die Rentenversicherung gezahlt. Die Kriegsopferfürsorge zahlt für Kriegsopfer, die blind sind. Wenn all diese Gelder nicht mehr von der Rentenversicherung gezahlt werden, heißt das nicht, daß sie in den Kamin gerauscht sind, sondern alles wird jetzt ordnungsgemäß dorthin gepackt, wo es hingehört.Lassen Sie mich noch etwas zum Sozialzuschlag sagen. — Herr Präsident, dies ist wichtig zur Aufklärung. — Der Sozialzuschlag ist eine pauschalierte Sozialhilfe. Wir gewähren ihn grundsätzlich länger, als er im Einigungsvertrag vorgesehen war: eineinhalb Jahre länger. Aber für diejenigen, die als Alleinstehende mehr als 600 DM oder als Verheiratete mehr als 960 DM haben, entfällt er. Jetzt bitte ich, einmal unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten zu prüfen, ob das nicht richtig ist. Es gibt in Westdeutschland 4,4 Millionen Rentner, die 600 DM Rente haben. Sie bekommen keinen Sozialzuschlag. Wenn die Rente zusammenwachsen soll, müssen wir auch darauf achten, daß West und Ost im Gleichgewicht ist.Zweitens. Ist es denn gerecht, daß jemand zu seiner Mindestrente von 330 DM einen Sozialzuschlag bekommt, der in einer Familie mit einem Familieneinkommen von 2 300 DM lebt? Das bekommt nicht nur der Staatssekretär. Wenn es zwei Einkommen in einer Familie gibt, eine kleine Rente mit Sozialzuschlag und ein sehr hohes Einkommen, haben beide Partner mehr als ein Rentner, der nur 800 DM bekommt und der keinen Sozialzuschlag erhält. Jetzt frage ich Sie: Was ist daran gerecht?Ich gebe zu: Das Rentenrecht ist kompliziert. Wir können alle dazu beitragen, es zu erklären. Daß es die Rentenversicherungsträger bei 4 Millionen Rentnern schwer hatten, die Renten in so kurzer Zeit umzustellen, neu auszurechnen, auszuzahlen und die Leute aufzuklären, das erkenne ich an. Daß es auch Fehlberechnungen gibt, ist ganz selbstverständlich.
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5944 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992
Bundesminister Dr. Norbert BlümNun kann man in einem demokratischen Rechtsstaat Einspruch erheben. Ich freue mich, daß die BfA heute erklärt hat, daß sie auf die übliche Einspruchsfrist von vier Wochen verzichtet. Bei einer solchen Umstellung muß man die Einspruchsfrist verlängern.
Sie sehen, wir liegen nicht auf dem Chaiselongue und schlafen. Ich trete mit Ihnen in einen Wettbewerb darüber ein, wie wir die Aufklärung verbessern können. Was nicht passieren darf, ist Angst aus Unsicherheit, Angst aus Unkenntnis. Ich versichere allen Rentnern in den neuen Bundesländern — nicht aus kleinkarierter parteipolitischer Taktik —, daß der Sozialstaat Deutschland für sie da ist, daß Deutschland zusammenwächst und die Rente mitwächst.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Volker Kauder.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Angst geht um im Osten unseres Landes.
Es ist aber nicht die Angst vor der wirtschaftlichen und politischen Zukunft. Es ist die Angst davor, daß die als überwunden geglaubte SED-Diktatur nun doch noch auf die persönliche Zukunft einen düsteren Schatten werfen könnte. Es ist die Furcht und Sorge, daß sich in den nun zugänglichen Akten bittere Erkenntnisse finden, daß der von der SED eingesetzte Stasi-Apparat auch die eigene Familie und den engsten Freundeskreis vereinnahmt haben könnte.
Es ist die Sorge und Furcht, nun bittere Wahrheiten erfahren zu müssen, die man vielleicht nicht so ohne weiteres verkraften könnte.Ich komme gleich zur Sache.
Die SED des Sozialismus und Kommunismus hat Tausenden von Menschen das Leben so zerstört, daß sie trotz radikaler materieller Verbesserungen in ihrem Leben nie mehr richtig glücklich werden können. Wer dies verantworten muß, hat jedes moralische Recht verloren, sich als Interessenvertreter von Menschen darzustellen.
Die Menschen in Deutschland interessiert nicht, wozu die PDS eine Aktuelle Stunde im Deutschen Bundestag beantragt. Sie würden auch keine Schuldbekenntnisse interessieren. Dazu weiß jeder nur zugenau, was die SED angerichtet hat. Die Menschen würde aber interessieren, ob Modrow noch immer so ruhig im Deutschen Bundestag sitzen könnte, wenn man tatsächlich wissen würde, was er alles zu verantworten hat. Die PDS würde also gut daran tun, in ihrer eigenen Gruppe eine öffentliche Aktuelle Stunde durchzuführen, um Licht ins Vergangenheitsdunkel ihrer einflußreichen Mitglieder zu bringen.
Es fällt mir schwer, in einer Debatte zu sprechen, die eine Gruppierung wie die PDS beantragt hat.
— Herr Schreiner, wer so argumentiert wie Sie, stellt sich ins Abseits.
Ich tue es aber, weil wir gar nicht oft genug sagen können, was wir in der kurzen Zeit seit der Erlangung der deutschen Einheit für die Menschen in Ostdeutschland erreicht haben. Das gilt in besonderer Weise auch für die Rentner in Ostdeutschland.Zu dem, was die Rentenversicherung für die Menschen in Ostdeutschland tatsächlich gebracht hat, ist hier schon einiges gesagt worden.
Dies alles war nur möglich, weil die Menschen im Westen Deutschlands einen kräftigen finanziellen Beitrag erbringen. Das ist richtig. Das ist unser Beitrag für die Gestaltung der inneren Einheit. Die Menschen im Osten Deutschlands müssen einen persönlich vielfach schwereren Beitrag leisten.Wir werden auch weiterhin dazu beitragen, daß aus den Ruinen des Sozialismus in einigen Jahren eine blühende Industrielandschaft entsteht, damit so die Renten auch in Zukunft sicher sind.Ich bitte unsere Landsleute im Osten aber auch um Verständnis dafür, daß wir unsere Wirtschaft und Finanzen zusammenhalten müssen und nicht in Unordnung bringen dürfen. Ohne stabile Mark gibt es keine positive Entwicklung, weder im Osten noch im Westen.Wir wissen aber selbstverständlich, daß wir in Ostdeutschland nicht alles mit dem gleichen Maßstab messen können wie in den alten Bundesländern. Wir müssen aber auch darauf achten, daß aus notwendigen Übergangsregelungen nicht Dauertatbestände mit unübersehbaren Folgen geschaffen werden.Beide Aussagen treffen auf die Rentenbescheide zu, von deren Empfängern nun kritisch nachgefragt wird oder deren Empfänger sogar unzufrieden sind. Wir sind den Menschen in Ostdeutschland entgegengekommen, indem wir das differenzierte System von Rente und Sozialhilfe für eine Übergangszeit haben zusammenlaufen lassen. Solange die Sozialhilfeträger
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Volker Kauderihre Aufgaben noch nicht erfüllen können, haben wir gesagt — das haben wir gemeinsam mit der SPD und FDP gesagt —, dürfen die Menschen nicht darunter leiden. Deshalb der Sozialzuschlag als pauschalierte Sozialhilfe.Wir dürfen aber, wie Professor Ruhland sagte, die Grenze zwischen dem Versicherungs- und staatlichen Hilfssystem nicht verwischen, damit die spezifischen Garantien versicherungsmäßiger Leistungen nicht gefährdet werden. Unsicherheiten sind entstanden. Deswegen haben wir alle miteinander die Aufgaben, die Menschen mit Geduld und mit ganzer Kraft aufzuklären. Daß dazu die PDS nicht geeignet ist, wissen wir. Wir werden aber nicht zulassen, daß sie, wie ihre Vorgängerpartei es gemacht hat, verdunkelt und die Menschen irreführt.
Sie doch in ausreichender Weise!)
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt der Frau Kollegin Renate Jäger das Wort.
Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das, was die Menschen direkt betrifft, wird am intensivsten wahrgenommen. Deshalb gibt es jetzt, nach der Verabschiedung der Rentenbescheide, auch die heißesten Diskussionen um das im Sommer verabschiedete Rentenüberleitungsgesetz.Doch manche Regelungen im Gesetz hätten die Menschen nicht so erschreckt, wenn ihnen vorher klare Informationen gegeben worden wären.
Das laute Getöne der Regierung „Keiner bekommt weniger" hat viele Rentnerinnen und Rentner irritiert.Zu einer offenen Information gehört auch das Benennen von unbequemen und unliebsamen Wahrheiten.
Schönfärberei hat in diesem Falle auch etwas mit Lüge zu tun. Schöngefärbt hat die Regierung den Wegfall des Sozialzuschlags für Verheiratete und ebenso die Rentenerhöhung in den neuen Ländern zum 1. Januar 1992.Ich zitiere aus einem Rentnerinnenbrief:Im Vertrauen auf Äußerungen verantwortlicher Politiker und dadurch im festen Vertrauen auf die Beständigkeit unseres Gesamteinkommens haben wir unseren Lebensstil gestaltet, Versicherungen abgeschlossen und bescheidene Einkäufe getätigt. Statt der angekündigten Erhöhung von 11,65 % wurden mir 26,58 % gekürzt.Da der Bundesregierung nach Beantwortung der gestrigen Fragen des Abgeordneten und Kollegen Manfred Kolbe noch keine Informationen über die Zahl der Rentner vorliegen, deren Renten und Zusatzleistungen im Januar niedriger als im Dezember sind,fordere ich die Bundesregierung hiermit auf, diese Zahlen schnellstmöglich festzustellen, um reagieren zu können.
Ebenso hätte in dem verteilten Informationsmaterial des Ministeriums klar ausgeführt werden müssen, warum es bei den neuen Rentenbescheiden häufig zu Pauschal- und Fehlberechnungen kommt. Die Tatsache, daß das u. a. oft auf fehlende, weil bisher nicht benötigte Unterlagen zurückzuführen ist, hätte jeder verstanden.
Auf zwei Punkte möchte ich in diesem Zusammenhang nochmals eingehen, und zwar zum ersten auf die Frauenrenten. In den Kompromißverhandlungen zum Rentenüberleitungsgesetz konnten wir als SPD den Bestandsschutz für Frauen wesentlich verbessern. Das gilt im besonderen für die Anrechnung von Kindererziehungszeiten nach altem DDR-Recht, die wir um anderthalb Jahre verlängern konnten, also bis zum Dezember 1996.Da Frauen auch in der ehemaligen DDR das niedriger verdienende Geschlecht darstellten, erhielten sie nach der Einigung zu ihrer Rente oft einen Sozialzuschlag. Seine Gewährung ist auf unsere Initiative hin zwei Jahre länger gesichert.Eine ebensolche Verlängerung haben wir für die Laufzeit der Sozialzuschläge erreicht. Bis zu diesem Zeitpunkt sollte es uns gelungen sein, eine eigenständige Alterssicherung für Frauen zu schaffen und vor allen Dingen die Wertigkeit der Kindererziehung neu zu durchdenken.In einem Artikel von Dr. Jürgen Borchert, Richter am Sozialgericht Darmstadt, fand ich ein kurioses Beispiel über das derzeitige Maß der Anrechnung von Kindererziehung. Danach müßte eine Frau 35 Kinder erziehen, um eine Rente in Höhe der durchschnittlichen Sozialhilfe zu erhalten. Nach Friedrich List ist es leider tatsächlich so, daß der, der Schweine pflegt, als produktives und der, der Menschen pflegt oder erzieht, als unproduktives Glied der Gesellschaft angesehen wird.
Zum zweiten geht es um den Wegfall von Blinden-, Pflege- und Sonderpflegegeld. Für diese in der ehemaligen DDR erbrachten Leistungen an bestimmte Behindertengruppen gibt es im westdeutschen Rentenrecht keine Entsprechung. Da diese Leistungen aber ab 1. Januar 1992 entfallen, bleibt vielen Menschen nur die Abhängigkeit von der Sozialhilfe; in besonderen Fällen ist über die Krankenversicherung Unterstützung möglich. An diesem Beispiel wird nochmals deutlich, wie wichtig und notwendig eine gesetzliche Pflegeversicherung für Behinderte ist. Besonders kraß wirkt sich ihr Fehlen jetzt in den neuen Bundesländern aus.Unser Gesetzentwurf, der dieses Problem regeln würde, ist eingebracht. Die weitere Lösung liegt in den Händen und Köpfen der Koalitionsfraktionen.
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5946 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992
Renate Jäger Danke schön.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Rainer Eppelmann das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei dieser Debatte wird es vermutlich immer wieder vorkommen, daß Fakten doppelt genannt werden; aber bei der Kompliziertheit dieses Problems ist das vielleicht ganz gut.
— Sie ist Bundesbürgerin, und zwar schon lange. —Es zeigt sich erneut, daß das Zusammenwachsen der beiden Teile Deutschlands kompliziert ist und Zeit braucht. Die Herstellung der inneren Einheit erfordert u. a. Einfühlungsvermögen, Verständnis und Informationen, aber auch die Bereitschaft eines jeden, sich selbst zu informieren.
In diesem Heft, das in jeden Haushalt in den neuen Bundesländern gekommen ist, steht auch das, was ab 1. Januar 1992 nicht mehr gezahlt werden kann. Vielleicht werden diese Hefte jetzt gelesen, nachdem man festgestellt hat, daß man weniger Geld bekommen hat.
Die Schwierigkeiten, die wir beim Zusammenwachsen und beim Finden der inneren Einheit haben, werden am Rentenüberleitungsproblem besonders deutlich. Es mußten in kürzester Zeit zwei Rentensysteme miteinander verbunden werden, die völlig unterschiedlich waren. Während in der DDR ein fürsorgeorientiertes starres Rentensystem eingerichtet war, gab und gibt es in der Bundesrepublik ein leistungs- und lohnbezogenes dynamisches Rentensystem.
Bei dieser Unterschiedlichkeit war es nicht möglich, alle Rentner gleichermaßen zufriedenzustellen. So kommt es diesmal auch zu geringeren Auszahlungsbeträgen. Konkret heißt das: Von den 3,9 Millionen Rentnern, die es im Osten gibt, erhalten vermutlich etwa 150 000 bis 180 000 ab dem 1. Januar 1992 weniger, als sie bis zum 31. Dezember 1991 bekommen haben.
Für 3,7 Millionen Menschen hat sich das Rentenüberleitungsgesetz schon jetzt vorteilhaft ausgewirkt: Bei Frauen stieg die Rente durchschnittlich um 16 % und bei den Männern durchschnittlich um 21 %.
— Ich habe versucht zu sagen, daß man manches vielleicht zweimal sagen muß.
Wie kommt das, daß bei der Angleichung der Systeme 180 000 — hauptsächlich verheiratete — Frauen ab dem 1. Januar weniger Geld zur Verfügung haben als vorher?
In der DDR war der Auszahlungsbetrag identisch mit der Rente. Pflegegeld, Blindengeld, Kinderzuschläge und andere Sozialzuschläge waren im Rentenbetrag enthalten. Außerdem wurden die Renten im Osten Deutschlands grundsätzlich als Einzelrenten berechnet, auch bei Verheirateten. Beides ist in der Bundesrepublik anders.
Die Rente ist das eine; die gibt es von der Rentenversicherung. Pflegegeld und Blindengeld z. B. erhält der Rentner aber von der Krankenkasse, und dort muß er es extra beantragen.
Bei Verheirateten werden, wenn es um die Feststellung der Bedürftigkeit geht, die Renten der Verheirateten zusammengezogen. Das bedeutet: Wenn ein Mann über eine hohe Rente verfügt, wird seine Frau, auch wenn sie eine niedrige Rente hat, keinen Sozialzuschlag bekommen. Ich finde, das ist gerecht.
Ziel aller bisherigen Maßnahmen war es, das DDR- Rentensystem möglichst sanft überzuleiten und so rasch wie möglich dem bundesdeutschen System anzugleichen. Dabei war von Anfang an geplant, die Renten insgesamt an die Lohn- und Einkommensentwicklung im Westen zu binden und anzugleichen.
Nimmt man den Sommer 1989 als Meßzahl, dann haben sich die Renten in Ostdeutschland seitdem um 90 % erhöht und sind auf knapp 60 % des Westniveaus angehoben worden. Diese „sanfte Überleitung" konnte nur gelingen, weil die Annäherung der Ostrenten durch halbjährliche Erhöhungen ermöglicht wurde. Von 35 % des Westniveaus am Tag der deutschen Vereinigung über die 58 % des Westniveaus heute wird sich die vollkommene Angleichung in den nächsten Jahren vollzogen haben.
Wir betreiben das mit solcher Eile, weil die Rentner zu den besonders Benachteiligten in der DDR gehörten und zugleich die kürzeste Lebenszeit zur Verfügung haben, um noch aufzuholen.
Da wir diese Debatte einem Antrag der PDS/Linke Liste zu verdanken haben, sei den SED-Nachfolgern in Erinnerung gerufen, daß zu DDR-Zeiten jede Rentenerhöhung ein majestätischer Generalsekretärsgnadenakt gewesen ist. Heute gibt es dagegen auch bei uns dynamische Renten. Diese folgen automatisch der Lohn- und Einkommensentwicklung der Berufstätigen; d. h. nicht mehr „Honis Renten-Gnadenakt", sondern endlich Rentenerhöhungsrecht.
Und dennoch stimmt: Wir muten etwa 4,6 % der Rentner zu, daß sie diesmal ab Januar 1992 weniger Geld bekommen, als sie im Dezember 1991 erhalten haben.
Alle Rentner gleich zu behandeln wäre in manchem konkreten Fall Unrecht gewesen. Wie soll eine Frau, die sozialhilfeberechtigt ist, verstehen, daß den Zuschlag, den sie erhält, auch die Ehefrau eines Rentners mit sehr hoher Rente bekommt? Darum ist ein Rentnerehepaar erst dann sozialhilfeberechtigt, wenn beide Partner zusammen weniger als 960 DM Rente erhalten.
Herr Abgeordneter Eppelmann, schon mein Vorgänger im Amt hat das Plenum darauf aufmerksam gemacht, daß die Gestaltungsfreiheit des Präsidenten bei einer Aktuellen Stunde sehr eingeschränkt ist. Ich muß Sie
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5947
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenbergdarauf aufmerksam machen, daß Sie am Ende Ihrer Redezeit sind.
Danke schön.
Zwei gute Nachrichten zum Schluß; ich möchte sie nennen: Die nächste Rentenerhöhung kommt gewiß, für Ostdeutsche schon in sechs Monaten.
Sie wird nach dieser Anpassung voll durchschlagen. Die 3,9 Millionen Rentner in den neuen Ländern gehören in ihrer übergroßen Mehrheit zu den eindeutigen Gewinnern der deutschen Einheit. Ich finde, das ist gut so.
Ich danke Ihnen für Ihr dummes Dazwischengerede.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Pohl.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die heutige Debatte gibt Anlaß, sich mit einem Problem auseinanderzusetzen, das gerade jetzt uns Abgeordnete aus den neuen Bundesländern besonders betrifft. Seit die ersten vier Millionen Bescheide von seiten der Rentenversicherung an die Rentner geschickt wurden, kommen in Ihre wie in meine Sprechstunde viele Bürger mit ihren Rentenbescheiden. Sie erwarten, daß wir als Teil des Gesetzgebers ihnen möglichst rasch Auskunft geben und Korrekturen mitveranlassen können. Sie verstehen oft die abstrakte Sprache der Rentenjuristen nicht. Auch ich muß gestehen, daß ich, obwohl am Gesetzgebungsverfahren beteiligt, große Schwierigkeiten habe, diese in einer Reihe von Fällen nachzuvollziehen.Deshalb ist mehr Klarheit und mehr Verständlichkeit in den Rentenbescheiden und ihren Erklärungen unerläßlich. Das gilt insbesondere in all den Fällen, in denen zunächst nur vorläufige Umrechnungen vorgenommen wurden. Warum kann nicht auf jedem dieser Bescheide deutlich stehen: Achtung, vorläufige Umwertung; Korrektur erfolgt von Amts wegen?
Dann wären auch die zahlreichen Widersprüche — 15 000 in der ersten Woche — nicht erforderlich.Der Hintergrund dieser vorläufigen Regelungen war doch folgender: Entweder berechnen wir wenig Renten ganz korrekt und lassen alle anderen warten,
oder wir geben allen etwas und müssen später Korrekturen vornehmen.
Wir haben uns schweren Herzens für letzteres entschieden und müssen das den Bürgern verdeutlichen.
Bevor ich auf die hauptsächlichen Klagen eingehe, lassen Sie mich zunächst den Rentenversicherungen und insbesondere ihren Mitarbeitern dafür danken, daß sie oft bis an die Grenzen ihrer Belastungsfähigkeit gearbeitet haben, um die gleichzeitige Umstellung des Rentenrechts im Westen wie im Osten voranzubringen. Wenn dabei Fehler auftreten, so ist dies bei dem Massengeschäft nicht völlig zu vermeiden.Verständnis muß man aber auch für die Bürger haben, wenn Rentenerhöhungen nur wenige Pfennige ausmachen oder die Zahlbeträge niedriger sind als bisher; denn erfahrungsgemäß blickt der Rentner zu Recht nur auf das, was als Zahlbetrag auf dem Rentenbescheid steht.Lassen Sie mich einige Gründe für mögliche Minderungen anführen. Die Kollegin Frau Dr. Babel und auch andere Redner haben schon darauf hingewiesen, daß sich mit dem Wegfall des Sozialzuschlages bei Verheirateten zwangsläufig Änderungen ergeben. Ein niedrigerer Zahlbetrag kann aber auch darauf zurückzuführen sein, daß im Gegensatz zur bisherigen Praxis bestimmte Leistungen, wie z. B. Blinden- und Pflegegeld oder der Kinderzuschlag zur Rente, nicht mehr von der Rentenversicherung ausgezahlt werden. Sie müssen jetzt bei den zuständigen Trägern — der gesetzlichen Krankenversicherung, der Sozialhilfe oder beim Arbeitsamt — beantragt werden. — Dies ist ein Komplex.Ein weiterer betrifft die Hinterbliebenenrente. Grundsätzlich werden Hinterbliebenenrenten im Vergleich zum früheren DDR-Recht erhöht; aber es gibt auch einige Fälle, wo das nicht so ist, z. B. dann, wenn eigenes Einkommen auf den Zahlbetrag der Hinterbliebenenrente zu 40 % angerechnet wird, weil der Freibetrag in Höhe von 622,25 DM überschritten wird. Bei hoher eigener Rente oder hohem eigenem Arbeitseinkommen kann dies dazu führen, daß die Hinterbliebenenrente teilweise oder ganz ruht. Verschärft wird diese Situation dadurch, daß auch bei der Hinterbliebenenrente zunächst eine Pauschalierung vorgenommen wird. Das heißt, der Berechnung werden 35 Versicherungsjahre mit einer Bewertung von 75 % des Durchschnittsentgelts zugrunde gelegt.Folge in einer Reihe von Fällen ist, daß sich entweder nichts ändert oder sogar Einbußen hinzunehmen sind, während sich bei exakter Berechnung Erhöhungen in beträchtlichem Umfang ergeben würden.Was Minierhöhungen um zwei bis drei Pfennige betrifft, die insbesondere bei Empfängern von SV- Rente und früheren Zusatzversorgungen zu verzeichnen sind, so sind sie auf Rundungsdifferenzen bei der Einführung des Krankenversicherungsbeitrages der Rentner zurückzuführen. Da die Überführung von Zusatzversorgungen in die Rentenversicherung ebenfalls vorläufig pauschaliert erfolgt, gibt es auch hier eine Menge von Irritationen.Hier steht im Vordergrund, zunächst einen sogenannten anpassungsfähigen Rentenbetrag aus SV-
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5948 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992
Dr. Eva PohlRente und Zusatzversorgung zu ermitteln. Mit Hilfe bestimmter Hochwertungsfaktoren wird zunächst im Durchschnitt eine Gleichstellung des Rentners mit Zusatzversorgung mit einem Rentner aus der FZR erreicht. Aber natürlich gibt dies nicht die im Einzelfall individuell zustehende Rente wieder, und je später der Rentenbeginn, desto höher die Abweichungen. Also auch hier nur eine vorläufige Rentenberechnung, aber aus den Rentenbescheiden für den Laien nicht deutlich zu erkennen.Gerade bei diesen oft gravierenden Abweichungen appelliere auch ich an die BfA, diese Fälle möglichst rasch aufzugreifen und eine exakte Neuberechnung durchzuführen. Ich begrüße daher, daß der Bundesarbeitsminister insoweit schon aktiv geworden ist, und hoffe, daß unser gemeinsamer Appell rasch Wirkung zeigen wird.Bei der Rentenanpassung zum 1. Januar 1992 — das wird trotz klarstellender Presseberichte oftmals nicht verstanden — bezieht sich die Anpassung nur auf den sogenannten lohnbezogenen, das heißt dem jetzt bundesdeutschen Rentenrecht entsprechenden Rentenbetrag.
Frau Abgeordnete Dr. Pohl, ich darf und will Sie nicht besser behandeln als den Pfarrer Eppelmann. Ich möchte mich auch nicht dem Verdacht aussetzen, Sie zu privilegieren. Ich bitte Sie, jetzt zum Ende zu kommen.
Ich komme sofort zum Ende. — Nur diese wird um 11,65 % angehoben.
Ich möchte noch eines sagen. Schönfärberei ist hier nicht angebracht. Aber trotz aller Schwierigkeiten muß erneut klar gemacht werden, welche Veränderungen — im Positiven und im Negativen — sich tatsächlich ergeben. Gestatten Sie mir, ein positives Beispiel zu nennen.
— Ich möchte das noch sagen. Meine Mutter hat im „glorreichen" SED-Staat eine Rente mit Witwenrente von 440 Mark gehabt. Jetzt bekommt sie 1 581 DM ausgezahlt.
Das ist eine Erhöhung von 360 %. Frau Schenk, ich darf Ihnen sagen: Meine Mutter konnte sich für ihre Rente in der DDR 10 Pakete Kaffee kaufen; jetzt kann sie 200 kaufen.
Frau Abgeordnete Mascher, jetzt kann ich Ihnen das Wort erteilen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Dr. Pohl, zu Ihrem anschaulichen Beispiel mit den 200 Paketen Kaffee
möchte ich nur sagen: Der Mensch lebt nicht von Kaffee allein.
Es gibt eben auch Verzerrungen bei den Lebenshaltungskosten, die keine so günstige Relation zulassen.
Herr Kauder hat zu Beginn seiner Rede den Kolleginnen und Kollegen von der PDS gegenüber erklärt, daß sie kein moralisches Recht haben, hier die Interessen ihrer Landsleute zu vertreten.
Ich finde das eine unhaltbare Position. Ich denke, die Kolleginnen und Kollegen von der PDS sind gewählte Abgeordnete, genauso wie ihre Kollegen von der CDU und der FDP, die aus den Blockparteien gekommen sind. Ich möchte diesen Kollegen und Kolleginnen der CDU und der FDP
kein moralisches Recht absprechen, hier die Interessen ihrer Landsleute zu vertreten.
— Ich habe keine Veranlassung, mich hier anzubiedern, sondern ich denke, daß wir als Parlamentarier uns hier nicht gegenseitig so behandeln sollten.
Entschuldigen Sie bitte, ich will Sie eben unterbrechen. — Meine Damen und Herren, Herr Abgeordneter Feilcke, die Zwischenrufe werden durch ihre Vielzahl unverständlich. Ich bitte daher, wenn Sie schon dazwischenrufen, es nacheinander zu tun. Aber in jedem Fall bitte ich darum, dafür Sorge zu tragen, daß sich die Rednerin noch verständlich machen kann. — Frau Mascher, ich habe Ihnen die Zeit nicht angerechnet; Sie können fortfahren.
Die Haltung, die hinter diesen Zwischenrufen steht, hat uns bei einem Bereich des Rentenüberleitungsgesetzes eine sehr schwierige Debatte beschert. Sicher war die angreifbarste Regelung im Rentenüberleitungsgesetz die Frage der pauschalen Kürzungen bzw. der individuellen Aberkennungen von Renten aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen. In diesem Bereich gibt es ganz erhebliche Verunsicherungen, Verärgerungen und auch eine große Anzahl von Widersprüchen.Ursprünglich hatte der Entwurf der Koalition und des Arbeitsministeriums sofortige Kürzungen der Sonderrenten bzw. der Gesamtversorgung aus Sozialversicherungs- und Zusatzrenten auf 1 500 DM vorgesehen und für Leistungen aus dem Sonderversorgungssystem der Staatssicherheit eine Kürzung auf 600 DM.Die SPD hat sich in den Beratungen dafür eingesetzt, daß bei den laufenden Renten aus den Zusatz-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5949
Ulrike Mascherversorgungssystemen die Begrenzung auf2 010 Mark, die von der demokratisch gewählten Volkskammer vorgenommen wurde, auch im Rentenüberleitungsgesetz festgeschrieben wurde.Bei der Umrechnung der Sonder- und Zusatzversorgungsrenten in Renten nach dem bundesdeutschen Rentenrecht gibt es jetzt keine pauschale Begrenzung. Es gibt allerdings eine Begrenzung für diejenigen, die in leitender Stellung tätig waren. Da kommen im Einzelfall für bestimmte Personengruppen sicher Ungerechtigkeiten vor; jedenfalls geht das aus den Schreiben hervor. Ich denke, daß es hier Widersprüche und Prozesse geben wird.Wir haben uns im Ausschuß bemüht, einen möglichst tragbaren Kompromiß zu finden; jedenfalls hat sich die SPD dafür eingesetzt. Das ist dann auch gemeinsam von allen Parteien so im Rentenüberleitungsgesetz formuliert worden.Gerade in diesem Bereich muß man, glaube ich, überlegen, ob eine solche Regelung z. B. für Schuldirektoren auf Dauer wirklich tragfähig ist. Ich denke, wir sollten uns nach den Erfahrungen mit dem Rentenüberleitungsgesetz in einigen Monaten zusammensetzen und prüfen, ob hier Änderungen notwendig sind; das gilt aber nicht nur für diesen Bereich. Wir haben schon einige Reparaturen vorgenommen, und ich denke, wir sollten im Lichte der Erfahrungen mit dem Rentenüberleitungsgesetz prüfen, ob wir noch weitere Veränderungen vornehmen müssen.Ich danke Ihnen.
Ich bedanke mich, daß Sie mit Ihrer Zeit so hervorragend ausgekommen sind.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Kronberg aus Neudietendorf das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
— Meine Tante lasse ich jetzt lieber draußen. —
Ich denke, die Debatte hat gezeigt, daß die von der PDS beantragte Aktuelle Stunde ein weiterer mißlungener Versuch ist, Unsicherheit in den Reihen der Senioren in den neuen Ländern zu verbreiten. Sie als SED-Nachfolgepartei wollen hier den Eindruck erwecken, als ob die Einführung des bundesdeutschen Rentenrechtes unrechtmäßige Nachteile bewirkt. Genau das Gegenteil ist der Fall: Wir haben in der Zusammenarbeit innerhalb aller Fraktionen das Renten-Überleitungsgesetz beraten und auch beschlossen. Ich denke mir, das war ein gemeinsamer Erfolg. Es ist ein Zeichen vom Zusammenwachsen der beiden deutschen Teile.
Es gibt viele Verbesserungen. Ich will sie nicht noch einmal aufzählen; sie sind hier oft genannt worden. Ich will auch nicht extra auf die Vorwürfe eingehen, die von Ihrer Seite aus erhoben worden sind, weil auch darauf schon mehrfach geantwortet worden ist.
Ich bin etwas verwundert gewesen, daß die Kollegin Mascher die PDS so verteidigt hat.
Das hat fast den Eindruck gemacht, als ob Sie doch das gemeinsame Strategiepapier im Auge hatten; aber das mag ich nicht recht glauben.
Ich will jetzt noch einmal auf die Rentenbescheide eingehen. Es ist natürlich ganz selbstverständlich, daß bei Rechenfehlern auf Rentenbescheiden bzw. bei fehlerhafter Anwendung des Rentenrechts durch die BfA sofort die Korrigierung vorgenommen wird. Wir müssen aber auch bedenken, daß gerade die Senioren in den neuen Bundesländern mit der Frage von Einspruchsrechten und Einspruchsfristen nicht allzu bewandert sind. Das betrifft nicht nur die Senioren in den fünf neuen Ländern, sondern auch die Senioren in allen Bundesländern. Gerade ältere Menschen tun sich sehr schwer, ehe sie in ein Widerspruchsverfahren eintreten. Wir sollten die Bitte formulieren, daß die BfA die verwaltungstechnischen Fristen kulant handhabt.
Wenn ich zu mir nach Thüringen sehe und unsere Wirtschaft betrachte, muß ich sagen: Ich bin optimistisch, und ich bin deswegen optimistisch, weil die Strukturdaten eine entsprechende Sprache sprechen. Jetzt so zu tun, Frau Bläss, als ob die Rentner durch das Renten-Überleitungsgesetz in ein Elend, in ein tiefes Elend verfallen, ist in meinen Augen politische Brandstifterei.
Alle politisch Verantwortlichen, die dieses Gesetz mit beraten und beschlossen haben — und da sind Sie von der PDS zum Glück draußen vor gewesen —, sind sich ihrer Aufgaben bewußt. Ich denke, wir werden das auch weiterhin in gemeinsamem Einvernehmen lösen.
Wenn ich Ihre Einwürfe höre, Frau Bläss, denke ich mir, vielleicht wäre es besser gewesen, auch bei den Beratungen des Gesetzes in der Ausschußsitzung dabeizusein und sich dort einzubringen.
— Ich kann mich nicht daran erinnern; aber gut, ich will mich nicht darum streiten. — Ich denke mir aber, wir sollten uns von unserer gemeinsamen Arbeit nicht abbringen lassen.
Vielen Dank.
Nun erteile ich dem Abgeordneten Ottmar Schreiner das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Kronberg, Frau Mascher hat nicht die PDS verteidigt;
Frau Mascher hat völlig zu Recht darauf hingewiesen,daß die Damen und Herren der PDS frei gewählte
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5950 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992
Ottmar SchreinerAbgeordnete des Deutschen Bundestages sind und die gleichen Rechte und Pflichten wie andere frei gewählte Abgeordnete dieses Hauses haben.
Das entspricht unserem Demokratieverständnis, und wenn Sie dies anders sehen, sollten Sie es sagen.Zum Thema selbst: Ich denke, daß wir allen Grund haben, sehr sensibel mit diesem Thema umzugehen, weil es sich um eine Gruppe von Menschen handelt, die an ihrem Lebensabend zum erstenmal erfahren, was Demokratie ist, und denen man zumindest unnötige Enttäuschungen an und mit dieser Demokratie ersparen sollte.
Deshalb will ich darauf hinweisen, daß zumindest meine Erfahrungen aus der vergangenen Woche — ich bin mehrfach in Ostdeutschland gewesen — —
— Ich war nicht in Mitteldeutschland, ich war nicht in Hessen; ich war in Ostdeutschland, ich war u. a. in Rostock und in Potsdam. Wenn Sie von Mitteldeutschland reden, haben Sie möglicherweise Erklärungsbedarf, sehr verehrter Herr!
Ich habe erfahren, daß es in der Tat sehr viel Verunsicherung bei den Menschen drüben gibt, daß manche auch enttäuscht sind und daß manche auch unzufrieden sind; ob zu Recht oder zu Unrecht, sei erst einmal dahingestellt.Deshalb werden wir nach der umfänglichen Petentenpost, die wir erhalten und die vermutlich auch das Bundesarbeitsministerium erhalten hat, und nach einer an Fallgruppen orientierten systematischen Auswertung dieser Petentenpost uns vorbehalten, ob wir als SPD-Fraktion — konsensorientiert, Herr Blüm — anregen, möglichst schnell innerhalb des ersten Quartals dieses Jahres eine Überprüfung in den Bereichen vorzunehmen, die anhand der Anhaltspunkte, die wir gewinnen, besonders fraglich erscheinen könnten. Das gilt auch für das Pauschalverfahren, das Sie, Frau Kollegin Pohl, angesprochen haben. Zu diesem Verfahren gab und gibt es keine Alternative;
aber wenn sich herausstellen sollte, daß dieses Verfahren zu einer Unterbewertung tendiert, müßte es möglich sein, zumindest über einen denkbaren Fehlerausgleich, insbesondere für ältere Rentnerinnen und Rentner aus Ostdeutschland, nachzudenken.Die Enttäuschungen, Herr Minister Blüm, und die Unzufriedenheiten liegen nicht nur an nicht lesbaren Formularen, sondern sie hängen zu einem erheblichen Teil auch damit zusammen, daß die Bundesregierung selbst systematisch Illusionen in Ostdeutschland geweckt und geschürt hat.
Nun sagt der Herr Kollege Kauder, das sei nicht wahr. Ich will Ihnen ein Zitat vortragen, um zu zeigen, daß es wahr ist. Das Arbeitsministerium hat mit Datum vom 14. November 1991 folgende Presseerklärung unter der Überschrift „Kabinett beschließt Rentenerhöhung um 11,65 % für Ostdeutschland" veröffentlicht. Darin heißt es:Das Kabinett hat heute auf Vorschlag von Bundesarbeitsminister Norbert Blüm eine Anhebung der Renten in den neuen Bundesländern um 11,65 % zum 1. Januar 1992 beschlossen.— Wörtliches Zitat Blüm:Die Rentenanpassung ist ein weiterer Schritt hin zum einigen Sozialstaat. Die Aufholjagd in den neuen Bundesländern ist erst beendet, wenn in Ost- und Westdeutschland die Renten gleich hoch sind.
— Nein, so ist es gerade nicht. Wir haben ja jetzt offenkundig nicht nur einen Jäger 90, sondern einen Aufholjäger 92.
Mit dieser Erklärung haben Sie den Menschen drüben eingeredet, ihr Rentenzahlbetrag würde zum 1. Januar 1992 um 11, 65 % erhöht werden.
Ich wiederhole: Sie haben ihnen eingeredet, ihr Rentengesamtbetrag würde zum 1. Januar 1992 um die Summe von 11,65 % erhöht werden.
Nun sage ich Ihnen: Gerade das ist falsch. Sie wußten es damals, so wie wir es wissen, die wir uns mit der Problematik beschäftigt haben, und Sie wissen es heute: Mehr als 50 % der Männer und nahezu alle Frauen erhalten Renten, die zum 1. Januar 1992 nicht in vollem Umfang dynamisiert werden. Sie haben aber genau das Gegenteil mit der zitierten Presseerklärung suggeriert. Sie haben nämlich den Eindruck erweckt, zum 1. Januar 1992 gibt es bezogen auf den Rentengesamtbetrag 11,65 % mehr.
Nun sage ich Ihnen: Wenn jemand wie Sie, Herr Aufholjäger 92, durch grobschlächtige Propaganda
und Selbstbeweihräucherung völlig unnötig das Vertrauen in die Demokratie und in die Solidität unserer Entscheidungen aufs Spiel setzt, dann tut er der Demokratie insgesamt keinen Gefallen; er schwächt
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Ottmar Schreinersie auch im Ansehen der Menschen in Ostdeutschland. Das ist der Vorgang, um den es hier geht.
Nun sage ich Ihnen, daß wir als sozialdemokratische Fraktion aus einer absoluten Minderheitenposition heraus
mit den Ergebnissen des Rentenüberleitungsgesetzes insgesamt durchaus zufrieden sein können. Wir haben für die Menschen drüben den Sozialzuschlag beim Zugang um zwei Jahre verlängern können, wir haben den Sozialzuschlag beim Bestandsschutz um zwei Jahre verlängern können. Uns ging es im wesentlichen darum, eine bloße Überstülpung der Westregelungen auf Ostdeutschland zu verhindern; wir wollten vielmehr herausfinden, inwieweit strukturell progressive Elemente — —
Herr Abgeordneter Schreiner, Sie demonstrieren dem Haus, daß Sie die Kunst der freien Rede perfekt beherrschen.
Damit fällt es Ihnen auch überhaupt nicht schwer, nun aufzuhören;
denn Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Es könnte sein, daß der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, der sich geschäftsordnungsmäßig korrekt gemeldet hat, so lange spricht, daß ich die Debatte erneut eröffnen muß. Sollte dies der Fall sein, kann Ihre Fraktion Sie wieder melden. Aber bis dahin muß ich darauf bestehen, daß Sie zum Ende kommen.
Herr Präsident, ich darf auf Ihre freundliche Ermahnung hin mit einem Satz schließen.
Ich versuche immer wieder bei meinen Veranstaltungen in Ostdeutschland, den Menschen deutlich zu machen, daß mehr Stimmen für die SPD auch mehr soziale Gerechtigkeit in Ostdeutschland bedeuten. Das gelingt meistens.
Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, den an die Geschäftsordnung zu erinnern ich mir erlaube.
Die Rentenanpassung in den neuen Bundesländern zum 1. Januar betrug 11,65 %. Wenn es anders gewesen wäre, frage ich mich, warum Sie dann zugestimmt haben. Allerdings verändern sich
zusammen mit der Überleitung die Beträge, und zwar so, daß bei den Männern — ich wiederhole mich — die durchschnittliche Erhöhung am 1. Januar nicht 11,65 %, sondern 16 % beträgt und daß bei den Frauen die durchschnittliche Erhöhung nicht 11,65 %, sondern 21 % ausmacht.
Außerdem ist es richtig, daß es in einigen Fällen durch den Wegfall des Sozialzuschlags keine Erhöhung und in einigen Fällen sogar eine Kürzung gegeben hat.
Aber es bleibt dabei: Die Renten sind um 11,65 % erhöht worden. Der Zahlbetrag ist im Durchschnitt bei den Männern um 16 % und bei den Frauen um 21 % gestiegen.
Als letzter Redner in der Aktuellen Stunde hat der Abgeordnete Heinz Schemken das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube die Praxis draußen und insbesondere die Diskussion hier machen doch deutlich, daß bei uns — wie in keinem anderen Land — festzustellen ist, daß uns der Anpassungsprozeß von einer sozialistischen Planwirtschaft, Mißwirtschaft hin zur Sozialen Marktwirtschaft in besonderer Weise fordert. Dabei treten markante Schnittstellen zutage.Im übrigen, Herr Schreiner, wir wissen sehr wohl, daß ein Tupfer in die Diskussion gehört, aber ich darf den Sozialdemokraten ausdrücklich bestätigen: Das waren moderate und der Sache angemessene Beiträge.Ich meine, daß sich Schnittstellen in besonderem Maße bei den sozialen Sicherungssystemen ergeben. Nun haben wir bei der Rentenüberleitung auf die neuen Bundesländer den bewährten Generationenvertrag eingeführt. Das ist wohl der schwierigste Teil des Unternehmens überhaupt. Wenn Sie von einem „Aufholjäger 92" sprechen und damit den Bundesarbeitsminister meinen, dann muß ich hier einmal ausdrücklich sagen: Er ist ja wirklich der Minister, der reparieren muß,
denn die Wirtschaft hat Schwierigkeiten, so voranzukommen, wie wir es uns wünschen. Deshalb muß er permanent reagieren, und das trifft doch auch auf Sie im zuständigen Fachausschuß zu. Wir sind doch ständig gefordert.
Daher wollen wir dem Minister einmal unseren Dank abstatten. Das darf ich hier auch einmal ausdrücklich sagen.
Um noch einmal auf die Frage des Generationenvertrages zurückzukommen: Die Betroffenen — es
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Heinz Schemkensind die älteren Menschen, die durch die SED- Herrschaft um ihren Lebensertrag gebracht wurden; das darf ich hier ausdrücklich sagen — warten auf eine schnelle Angleichung ihres Lebensstandards an den Lebensstandard hier im Westen. Der Sozialbeirat stellt in seinem Gutachten vom 6. Dezember 1991 eindeutig fest — das können Sie nachlesen —, daß die Lage der Rentenversicherung, was die einheitlichen Anpassungsverfahren zwischen Ost und West angeht, damit in Zusammenhang steht, daß das Entgeltniveau in Ost und West weitgehend angenähert wird. Das ist das eigentliche Ziel, das wir erreichen müssen.Damit es bei der Zusammenführung in unserem Vaterland keine Gewinner und Verlierer gibt, haben wir in einem ungewöhnlichen Kraftakt — der Minister hat soeben noch einmal darauf hingewiesen — halbjährlich Erhöhungen um jeweils mehr als 10 % zugunsten der Rentner im Osten vorgenommen. Ich darf sagen: Es fließen 19 Milliarden DM von West nach Ost, und das wollen wir doch auch. Wir wollen doch teilen und Solidarität beweisen. Das war doch der Ausgangspunkt der Wiedervereinigung.Wir brauchen auch Akzeptanz, denn mittelfristig — das müssen wir auch einmal deutlich sagen — führt dieser Aufholprozeß zu einer Schieflage, was die Rentner in den westlichen Ländern angeht. Das sollte man hier ausdrücklich einmal sagen. Aber das wollten wir ja auch, um den älteren Menschen in den neuen Bundesländern schnell zu einem besseren Lebensstandard zu verhelfen.Um aus dem Rentental des Arbeiter- und Bauernstaates herauszukommen — das wollen wir ja auch —, gab es keine andere Wahl, als Auffüllbeträge und auch Sozialzuschläge zu gewähren. Bei Männern waren es 50 %, bei Frauen 90 %. Der Minister hat die übrigen Zahlen schon genannt. Ich darf feststellen, daß hier noch ein großes Bedürfnis nach Aufklärung besteht. Dies gehört dazu. Wir müssen auch feststellen, daß das Verwirrspiel, das hier betrieben wird, das Ziel hat — das macht die PDS ja ganz geschickt —, bei diesem Erklärungsprozeß möglichst Sperrfeuer zu legen. Ich muß sagen, sie hängen an alten Strickmustern. Die Wolle hat sich zwar geändert, aber gestrickt wird mit gleichem Muster. Es sind auch dieselben Schablonen, mit denen sie arbeiten.
Das haben sie über Jahrzehnte getan. Aber wir lassen uns nicht von der soliden Grundlage auch für eine sichere Rente auf die mittelfristige Perspektive hin ablenken. Wir werden die Lage der Menschen Tag für Tag, Stück für Stück verbessern. Das ist der solide Weg. Wir werden auch die Lasten gemeinsam tragen, die es aus der Wiedervereinigung zu tragen gilt.Ich darf allen herzlichen Dank sagen, die an dieser großen Aufgabe mitgewirkt haben, die Rente überzuleiten und den Generationenvertrag in seiner Faszination auch für die Menschen in den neuen Bundesländern einzuführen. Ich glaube, hiermit ist ein Stück Hoffnung verbunden und wir sind angehalten, dies gemeinsam auch weiter zu leisten.Schönen Dank.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aktuellen Stunde.
Ich kann nun den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufen. Es handelt sich um den Tagesordnungspunkt 7:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Peter Götz, Georg Brunnhuber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Fraktion der FDP
Wohnen im Alter — Förderung der Selbständigkeit in der Gemeinschaft
zu dem Antrag der Abgeordneten Gabriele Iwersen, Dieter Maaß , Siegfried Scheffler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Wohnen im Alter
— Drucksachen 12/434, 12/1571, 12/1763 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Götz Gabriele Iwersen
Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von einer Stunde vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann darf ich dies als beschlossen feststellen und die Debatte eröffnen.
Zunächst erteile ich das Wort dem Abgeordneten Götz.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die zunehmende Zahl älterer Menschen fordert neue Konzepte, auch beim Wohnungsbau. Wir alle wissen, die in den vergangenen Jahren erfreulicherweise stark gestiegene Lebenserwartung hat auch Probleme mit sich gebracht. Mit unserem Initiativantrag „Wohnen im Alter" wollen wir erreichen, daß sich die Wohnungs- und Städtebaupolitik im Bund, aber auch in den Ländern und den Gemeinden frühzeitig mit den zu erwartenden demographischen Veränderungen befaßt, diese Herausforderungen angeht und die politischen Weichen rechtzeitig stellt.Für das Jahr 2030 wird ein Ansteigen der über 60jährigen von heute 16 Millionen auf 23 Millionen prognostiziert. Die jährliche Zunahme unserer Bevölkerung zwischen 500 000 bis zu 1 Million, die erwartet wird, vor allem durch Zuzug von Aussiedlern und Asylbewerbern, die eine menschenwürdige Wohnraumversorgung erwarten, ist hierbei noch nicht berücksichtigt.Bei diesen sich elementar verändernden Rahmenbedingungen und gleichzeitig bei einem immer enger werdenden finanziellen Korsett der öffentlichen Haushalte ist es nicht damit getan, einfach nur nach mehr Geld des Steuerzahlers zu rufen. Was wir brauchen, sind neue Wege, die den sich künftig noch mehr verändernden Strukturen Rechnung tragen. Zukunftsorientiertes Handeln muß sich den daraus
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Peter Götzerwachsenden sozialen Fragestellungen, vor allem auch dem Wohnungsmarktgeschehen und der städtebaulichen Entwicklung, verstärkt zuwenden. Das heißt: Wohnungspolitik für die ältere Generation muß Teil einer umfassenden Gesellschaftspolitik sein.Beim Bau von neuen Wohnungen ist bereits an das Leben im Alter zu denken. Wir brauchen im Wohnungsbau mehr Multifunktionalität. Je flexibler und vielfältiger die Nutzungsmöglichkeiten sind, die die einzelnen Räume einer Wohnung, die das Gebäude und vor allem das Wohnumfeld für Menschen in verschiedenen Lebensphasen und -situationen, für Familien, Behinderte und für ältere Menschen offenhält, desto attraktiver bleibt die Wohnungsumgebung auf lange Sicht. Wir brauchen Wohnungen, die teilbar sind, die zusammengelegt werden oder in einzelnen Räumen zugeordnet und nach Bedarf wieder abgeteilt werden können. Wir brauchen Häuser, deren einzig Beständiges die tragenden Wände sind, denn die Menschen wohnen im Leben mal allein, mal als Paar oder mit Familie, dann im Alter in der Regel zu zweit oder wieder allein. Da sollte sich das Haus anpassen und nicht umgekehrt.
So wäre gewährleistet, daß die Infrastruktureinrichtungen über lange Zeit gleichmäßig ausgenutzt werden können. Es gäbe keine Alterswellen, die nacheinander zunächst Engpässe und dann überzählige Kapazitäten bei den Kinderbetreuungseinrichtungen, Schulen und Alteneinrichtungen entstehen lassen. Durch verschiedene Wohnungstypen könnte eine Entzerrung der Nachfrage erreicht werden, d. h. keine Gettobildung, sondern eine gesunde Mischung von Jung und Alt, in der Kinder genauso wie ältere Menschen und Behinderte ihren Platz finden. Ziel sollte sein, eine Situation zu schaffen, in der sich Bewohner in allen Phasen des Familienzyklus wohlfühlen. Eine Fluktuation könnte so verhindert werden, Nachbarschaftshilfen könnten sich langfristig aufbauen.Wir sollten auch neuen psychosozialen Erkenntnissen Rechnung tragen und mehr Chancen zur Kommunikation ermöglichen. Das beginnt beim Wohnungsgrundriß. Wir brauchen wieder einen Gemeinschaftsraum statt eines Fernsehzimmers. Das kann z. B. eine große Küche sein, in der Hausarbeit als Familienarbeit erfahren wird und nebenbei Gespräche möglich sind, eigentlich ein sehr traditionelles Konzept.Es sollte selbstverständlich werden, dem Prinzip des barrierefreien Wohnens bei der Wohnungsversorgung vor allem — aber nicht nur — älterer Menschen und Menschen mit Behinderung verstärkt Geltung zu verschaffen,
d. h. möglichst stufen- und schwellenlose Haus- und Wohnungszugänge, ausreichende Durchgangsbreiten bei Türen oder benutzerfreundliche Haus- und Sanitärtechnik, um nur einige Beispiele zu nennen.Die im Juli vergangenen Jahres beschlossene neue Baunorm DIN 18025 über barrierefreie Wohnungen sollte, wo immer möglich, Anwendung finden. Solche Maßnahmen kosten, wenn sie frühzeitig bei der Planung berücksichtigt werden, nicht unbedingt mehr Geld. Wir wollen erreichen, daß die Länder ihre Richtlinien für den öffentlich geförderten Wohnungsbau darauf abstimmen.Ein anderes Thema, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ist es nicht humaner und gesamtwirtschaftlich gesehen auch richtiger, gezielt Steuergelder in die Förderung betreuter altengerechter Wohnungen zu stecken, damit älteren Menschen die Selbständigkeit und die Möglichkeit der Selbstbestimmung, solange es geht, zu erhalten und nur für solche Fälle, wo eine häusliche ambulante Betreuung nicht oder nicht mehr vertretbar ist, Pflegeheime zu bauen? Wir brauchen sicher beide Wohnformen im Alter. Aber sollte das Pflegeheim nicht die Ultima ratio sein, sollten wir nicht alles daran setzen, das großartige Engagement der sozialen Dienste in unserer Gesellschaft zu stärken? Zur Förderung der Selbständigkeit älterer Menschen gehört auch, daß wir den Sozialstatus der Pflegekräfte in unserer Gesellschaft deutlich anheben.
Viele Menschen pflegen in sozialen Diensten bei Trägern der freien Wohlfahrtspflege und auch bei privaten Einrichtungen oder als Angehörige oft über viele Jahre aufopfernd ältere Menschen in deren Wohnung. Ich denke, es ist angemessen, in dieser Debatte dafür ein herzliches Dankeschön zu sagen und unsere Anerkennung auszusprechen.
Wir brauchen jedoch nicht nur altengerechte Wohnungen, wo es dem Zufall überlassen bleibt, ob eine Betreuung möglich ist, sondern wir benötigen im Hinblick auf die zunehmende Berufstätigkeit beider Ehepartner aus der Generation der Kinder künftig verstärkt betreute altengerechte Wohnungen. Das Land Baden-Württemberg hat ein vorzügliches Programm, wie ich meine, zur Förderung betreuter altengerechter Wohnungen aufgelegt. Vielleicht kann dies auch für andere Länder, in denen es solche Programme noch nicht geben könnte, beispielgebend sein.Für ältere Menschen, die ihre bisherige, in der Regel größere Wohnung räumen, in eine meist kleinere, betreute altengerechte Wohnung umziehen, ist es psychologisch von großer Hilfe und von Vorteil, wenn ein mehrstufiges Betreuungsangebot vorliegt. Das heißt, die anzustrebende Kombination wäre, eine ambulante Betreuung in der altengerechten Wohnung durchzuführen, dabei die Selbständigkeit im Vordergrund zu sehen und zu wissen, daß für den Fall der Fälle ein fast nahtloses Überwechseln in ein Pflegeheim gesichert ist.Von einem solchen Angebot an betreuten altengerechten Wohnungen machen ältere Menschen in der Regel gern Gebrauch. Sie machen damit meist preiswerte, oft größere Wohnungen frei, die wohnungssu-
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5954 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992
Peter Götzchenden Familien mit Kindern zur Verfügung gestellt werden könnten.Ebenso ist die Förderung betreuter Seniorenwohngemeinschaften in die Überlegungen mit einzubeziehen, wenn wir über neue Wohnformen nachdenken. Das Zusammenleben und Zusammenziehen von alleinstehenden älteren Menschen in einer betreuten altengerechten Seniorenwohngemeinschaft ist nicht nur für die Betroffenen billiger und entlastet den Wohnungsmarkt, sondern hilft, der Vereinsamung vor allem Hochbetagter entgegenzusteuern.Auch das Mehrgenerationenwohnen unter einem Dach wäre wohl eine denkbare und sinnvolle Lösung für eine Reihe Älterer, wobei sicher auf die eigene Haushaltsführung in einer abgeschlossenen Wohneinheit Wert gelegt wird. Die Forschung bezüglich solcher Wohnformen sollte daher fortgesetzt werden — ein weites Feld, meine Damen und Herren, das sich für Architekten, für Bauherren, für soziale Betreuungsdienste öffnet.Wohnungspolitik für alte Menschen muß aus unserer Sicht dem Ziel dienen, das Zusammenleben der Generationen zu fördern und einer Ausgrenzung älterer Menschen entgegenzuwirken.Der Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau empfiehlt einstimmig die Annahme der Ihnen vorliegenden Beschlußempfehlung. Ich bitte Sie im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion um Ihre Zustimmung.Vielen Dank.
Nun erteile ich dem Abgeordneten Fuhrmann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die heutige Debatte und damit auch die Beschäftigung mit dem Thema „Wohnen im Alter" hat zwei sozialpolitische und gesellschaftliche Einzelbereiche zum Inhalt, die jeweils für sich und in der Verbindung zueinander Aufgabe und Auftrag, eigentlich auch Verpflichtung für Staat und Gesellschaft darstellen.Wohnen — Wohnung, Lebensmittelpunkt, Stätte der persönlichen Entfaltung und Entwicklung — ist heute mehr denn je abhängig von Einkommen, Familienstand, Zugehörigkeit zu religiösen, politischen oder anderen Gruppen und nicht zuletzt von der Willkür der Haus- und Wohnungseigentümer und -besitzer.Alter ist ein lebenslanger Prozeß, der weniger Gewicht hat, solange sich Frau und Mann im gesellschaftlich anerkannten und wirtschaftlich interessanten Stadium des Verbrauchers, Produzenten, Machers und Gestalters befinden, der erst dann zur Kenntnis genommen wird, wenn die Gesundheit nicht mehr so recht will, wenn sich die wirtschaftliche Situation verändert, wenn der Lebenspartner gestorben ist und wenn die Kolleginnen und Kollegen, die Freunde, die Nachbarn immer weiter entfernt erscheinen.„Wohnen im Alter" heißt also, auch dann, wenn die Zeit der Erwerbstätigkeit beendet ist, wenn Behinderungen — welcher Art auch immer — das „normale" Leben schwer machen, wenn Betreuung nötig ist, in der eigenen Wohnung, der Stätte der persönlichen, der individuellen Entfaltung bleiben, leben und im Zweifel auch sterben zu dürfen.Im Grunde wäre es wünschenswert, wenn Wohnungen, Wohnformen, Wohnumfeld und der Umgang mit dem Alter diesen heute zur Abstimmung vorliegenden Antrag überflüssig machen würden. „Wohnen im Alter" gilt für alle Generationen, gilt für alle Wohnformen und gilt für eine Gesellschaft, die vorgibt, Daseinsfürsorge ernst zu nehmen.Alter ist nicht abhängig vom Kalender oder vom Geburtstag. Alter begleitet unsere Kinder, die „erst" drei oder sechs Jahre oder „schon" 18 Jahre alt sind, Alter begleitet den Studenten, der mit 40 Jahren „viel zu alt" für das Studium an der Universität ist, und Alter begleitet den Arbeitslosen, der mit 50 Jahren „zu alt" für diese oder jene Aufgabe ist.Alter ist kein ausschließliches Synonym für Gebrechlichkeit, verwirrten Geist, Krankheit, Einsamkeit oder Pflegebedürftigkeit; Alter ist auch Gelassenheit, Klugheit, Ruhe, Reife und Ausgeglichenheit. Jugend bedeutet nicht immer Kraft, Stärke, Fleiß, Gesundheit; Jugend besteht auch aus Gebrechen, verwirrtem Geist, Krankheit, Einsamkeit oder Pflegebedürftigkeit.„Wohnen im Alter" ist also auch „Wohnen aller Generationen" , ist also auch „Wohnen und Leben".Und doch unterscheiden sich Wohnungen und Wohnformen, die auch für „Alte, Behinderte und Pflegebedürftige" geeignet sind, ganz elementar von den nach DIN und Norm erstellten Wohnungen für die „Normalbürger". Wir alle kennen sie, diese 30 Quadratmeter kleinen „Altenwohnungen", eingebettet in 50, 100 oder mehr solcher Wohnungen entweder in der „Altensiedlung" möglichst am Rande der Stadt oder im dörflichen Bereich.Und wir kennen die andere Wohnform von alten oder pflegebedürftigen Menschen: das Zimmer im Alten- oder Pflegeheim, meist ein Mehrbettzimmer, mit Gemeinschaftstoilette und Hubbadewanne; Wohnungen und Wohnformen, von denen wir uns im Regelfalle fernhalten und distanzieren und die uns — wenn Angehörige dort wohnen, die etwas mit uns zu tun haben — mit so etwas wie einem „schlechten Gewissen" belasten.Natürlich gibt es auch die große, helle Vier-, Fünfoder Sechszimmerwohnung, in der zwei alte Menschen wohnen oder in der die alte Witwe „immer noch lebt" . Nur — die Treppen, die sind viel zu steil, die machen den Betroffenen zu schaffen, die Schwellen in der Wohnung sind Stolperfallen, das Saubermachen geht nicht mehr so recht, und die Bushaltestelle ist viel zu weit entfernt — und dies und jenes und noch was...Dennoch werden diese Wohnungen nicht aufgegeben. Die Betroffenen setzen sich mit den Widrigkeiten und Unzulänglichkeiten auseinander, weil sie „hier zu Hause sind", weil sie in der gewohnten Umgebung
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Arne Fuhrmannbleiben wollen und weil sie hier selbständig und in Würde weiterleben können.„Wohnungspolitik für alte Menschen ist Teil einer umfassenden Gesellschaftspolitik", so heißt es im Eingangsabschnitt der vorliegenden Beschlußempfehlung. Wohnungspolitik für alte und behinderte Menschen ist ein Spiegelbild und ein Signal für das Selbstverständnis im Umgang mit allen Altersgruppen und — darüber hinaus — mit den unterschiedlichen sozialen Gruppierungen in unserer wohlstands- und kapitalorientierten Gesellschaft.Die Versorgung mit altengerechtem und behindertengerechtem Wohnraum, die Schaffung wirklich „barrierefreier Wohnungen" bei Neubau, Umbau und Modernisierung vorhandenen Wohnraums muß unter Einbeziehung zweier Schwerpunkte geschehen: erstens unter Berücksichtigung der sozialen Bedürfnisse und Wünsche der Betroffenen und zweitens unter Würdigung der finanzpolitischen Komponente, die in erster Linie nicht den Bund, sondern die Kommunen und die Länder betrifft.Zu den sozialen Aspekten einer Neuorientierung im Wohnungsmarkt für alte und behinderte Menschen zählen: erstens der Verbleib in der gewohnten Umgebung; zweitens der Erhalt von gewachsenen Bindungen und Beziehungen, die auch den geliebten Baum im Garten oder den Hund des Nachbarn betreffen können; drittens das Gefühl der Selbständigkeit und Eigenverantwortung und viertens — ein elementarer Punkt — die Selbstbestimmung. Natürlich gehört zur Selbstbestimmung auch der Weg zur Krankenkasse oder zum Sozialamt, um Pflege- oder Betreuungskosten zu sichern — allerdings mit der Gewißheit verbunden, weiterhin den eigenen Haushalt zu führen und die Eigenständigkeit dabei zu bewahren.Zu den finanzpolitischen Überlegungen, die in der offenen Altenhilfe und damit auch beim Bau von alten- und behindertengerechten Wohnungen zu berücksichtigen sind, zählen die Erkenntnisse, daß „geschlossene Altenhilfe" — also Heime jeder Art — aus volkswirtschaftlichen Gründen dann abzulehnen ist, wenn durch die Bereitstellung von alternativem Wohnraum und ambulanten Hilfsdiensten kostengünstiger verfahren werden kann; daß Sozialhilfeleistungen auf Dauer immer dann eingespart werden können, wenn Bund, Länder und Kommunen eine vorausschauende Daseinsfürsorge betreiben; daß alten- und behindertengerechte Wohnungen, mit Beratungsdiensten und Betreuungsangeboten ausgestattet, eine dauerhafte Alternative zu teuren „Reparationsleistungen" in der Sozialarbeit für alte und behinderte Menschen bedeuten und daß ein ausreichendes Angebot von ambulanten Diensten wie beispielsweise „Essen auf Rädern", „Handwerkerhilfsdienst", „Bücherdienst", „Haus- und Pflegehilfe", „Besuchsdienst", „Fußpflege" usw. einer aus Resignation und Vereinsamung entstammenden Heimaufnahme entgegenwirkt.Bund, Länder und Kommunen sind aufgefordert, neue Wege in der Versorgung mit alten- und behindertengerechten Wohnungen zu gehen. Neue Standards wie „Notrufdienste", „Serviceleistungen durch Betreuungszentren" und ähnliche müssen zum Alltaggehören und damit einer Zentralisierung von Diensten und Betroffenen vorbeugen.Einrichtungen wie das Kuratorium Deutsche Altenhilfe, Köln, das Deutsche Zentrum für Altersfragen in Berlin, der Deutsche Verein in Frankfurt oder andere sind — gemeinsam mit Hochschulen, Universitäten, den vielen kommunalen Seniorenvertretungen und den Landesseniorenräten — als Berater und Fachvertreter bei neuen Modellvorhaben und dem Ausbau und der Weiterentwicklung eines ausgewogenen und an den Bedürfnissen der Betroffenen orientierten Wohnungsbaus zu beteiligen.Entscheidend für das Gelingen eines Neuansatzes im Verhältnis unserer Leistungsgesellschaft zu den Wünschen und Bedürfnissen der alten und behinderten Mitbürger wird aber sein, daß wir uns als Leistungsträger und Meinungsbildner dieser Gesellschaft in ihnen, den altgewordenen oder durch Behinderung eingeengten Menschen, selber wiederentdekken.Auch im Bereich „Wohnen im Alter" gilt das, was Kinder bereits im Kindergarten als Weisheit für ihr ganzes Leben gelernt haben: Vorbeugen ist immer besser als Heilen.Die SPD-Bundestagsfraktion wird der Beschlußempfehlung „Wohnen im Alter" zustimmen.Vielen Dank.
Es spricht nun die Abgeordnete Frau Lisa Peters.
Herr Präsident! Meine Herren! Meine Damen! In diesen Wochen beschäftigt sich der Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau sehr intensiv mit den Raumordnungsberichten der Jahre 1990 und 1991. Diese Raumordnungsberichte zeigen sehr genau, wie die Entwicklung der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland bisher verlaufen ist und in den nächsten Jahren verlaufen wird.Ganz nüchtern müssen wir feststellen, daß die Alterspyramide, unser „Lebensbaum", immer kopflastiger wird. Es ist ein etwas eigenartiger „Baum", der im Raumordnungsbericht abgebildet ist. Er ist unten leider etwas schmal. Dort zeigt sich die gesunkene Geburtenrate. In der Mitte ist dieser Baum etwas breiter angesetzt. Wir, die Eltern, haben für die Nachfolge gesorgt. In den 60er Jahren sind genügend Kinder geboren worden. In der Spitze ist unser Baum noch schmal. Die Menschen der heute älteren Generation sind durch den unglückseligen Zweiten Weltkrieg dezimiert. Viele haben die Auswirkungen nicht überlebt, nicht überleben können.Wenn man diesen Lebensbaum weiter betrachtet, stellt sich die bange Frage: Was wird denn nun eigentlich aus uns? Noch stehen wir im Erwerbsleben. In nur wenigen Jahren aber sind wir Altenteiler — wie ich —, Rentner oder Pensionäre.Unsere Jahrgänge sind stark. Die Bevölkerung der Bundesrepublik hat viele „alte Leute", ältere Mitbür-
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Lisa Petersger und Mitbürgerinnen. Wir alle wollen und müssen wohnen. Das ist unser Thema: Wohnen im Alter.Dafür müssen wir vorsorgen und rechtzeitig Vorsorge treffen. Die älteren Menschen müssen sich nicht nur ernähren, sondern sie müssen auch wohnen, möglichst altersgerecht wohnen. Die Themen, die wir heute in unseren Reden berühren, werden sich sicher ein bißchen gegenseitig überschneiden.Gerade in diesen Wochen und Monaten wird uns bewußt und täglich deutlicher vor Augen geführt, was es heißt, nicht genügend Wohnraum zu haben. Nicht nur Familien mit Kindern und Alleinerziehende, sondern auch ältere Menschen — und gerade ihr Anteil wird immer größer — gehören zu den Wohnungssuchenden. Bisher gibt es nicht genügend Wohnungen, die den Bedürfnissen und Ansprüchen der älteren Menschen genügen und gerecht werden. Hier muß ein Umdenken einsetzen.Der Deutsche Bundestag will durch diese Anträge und die gemeinsame Beschlußempfehlung der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der FDP dazu beitragen und helfen, diese Situation zu verbessern.
Wir sind sehr glücklich, daß wir diese Gemeinsamkeit erreicht haben. Das sollte man hier erwähnen.
Wir wissen, daß es noch ein langer Weg sein wird, bis wir die notwendigen Maßnahmen eingeleitet und umgesetzt haben. Wir wissen auch, daß wir bloß dadurch, daß wir uns mit diesem Thema intensiv beschäftigen, keine zusätzlichen altersgerechten Wohnungen auf den Weg bringen. Hier muß mehr getan werden. Wir müssen das Problem der Öffentlichkeit deutlich machen.Konkret bedeutet dies: Wir sind darauf angewiesen, daß die Bundesregierung unseren Appell aufnimmt und dem Prinzip des altersgerechten barrierefreien Wohnens mehr Raum verschafft. Auch ältere Menschen mit Behinderungen müssen in Häusern, die auf ihre Behinderung Rücksicht nehmen, wohnen können. Wir brauchen noch viele benutzerfreundliche Wohnungen zu ebener Erde, in Wohnquartieren, die ein angenehmens Umfeld haben, die noch oder schon wieder — auch das sieht man hier und dort — mit Versorgungseinrichtungen des täglichen Bedarfs ausgestattet sind.Wir wissen auch, daß mit den Bundesländern Verhandlungen geführt und Verwaltungsvereinbarungen getroffen werden müssen. Die Förderprogramme der Länder sollten in Zukunft altengerechte Wohnungen angemessen berücksichtigen. Auch bei Um- und Ausbauten im Mietwohnungsbau und im sozialen Wohnungsbau müssen die inzwischen gewonnenen Erkenntnisse über altersgerechtes Wohnen Berücksichtigung finden.
Aber auch dann, wenn das eigene Einfamilienhaus — meist in jüngeren Jahren — gebaut wird, sollte man schon bei der Planung an die spätere Nutzung im Alter denken.Noch nie gab es auf dem Bausektor so viele Möglichkeiten wie heute, um altengerechte Wohnungen zu bauen. Ideen und Kreativität ermöglichen die praktische Gestaltung altengerechten Wohnens. Viele Möglichkeiten gibt uns seine Fülle von Baumaterialien. Die Industrie bringt täglich neues Zubehör auf den Markt.Es zeigt sich auch immer mehr, daß alte Menschen in „ihrer" Stadt, in ihren angestammten Wohnbereichen, in „ihrer" Straße auch im Alter wohnen wollen. Nachbarschaften, Freundschaften, persönliche Beziehungen — der Hund von nebenan wurde schon genannt — sollten weiter gepflegt werden. Diesem müssen wir ebenfalls Rechnung tragen.Weiter müssen wir an die Vermieter appellieren. Sie müssen in Zukunft die große Gruppe der älteren Menschen entsprechend einbeziehen. Die Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft sind aufgefordert, Hilfen für alte Menschen zu geben und zu schaffen. Hilfe zur Selbsthilfe ist die richtige Form. Unterstützen, nicht bevormunden — das muß das Handlungsmotto sein.
Flexibel reagieren, neue Formen in Betreuung und Pflege finden: Hierzu zählt auch der Ausbau der sozialen Dienste in den Gemeinden und Städten. Wir müssen uns dieser Herausforderung stellen. Ich denke, da ist schon eine Menge getan worden.Eine Ausweitung der Forschung auf diesem Gebiet wäre wünschenswert. Es gibt noch nicht genügend experimentellen Wohnungs- und Städtebau für ältere Menschen. Hier haben Architekten und Stadtplaner noch ein weites Feld der Arbeit.Auch die Mehrgenerationenfamilie, deren Angehörige nicht unbedingt miteinander verwandt sein müssen, ist wieder gefragt. Sie bietet viele Vorteile, hat gute Chancen, die Zukunft zu meistern. Es zeigt sich nämlich immer deutlicher, daß wir nicht weiterkommen, wenn wir das Miteinander-Leben generell ablehnen.Deshalb: Der Generationenvertrag muß auch weiterhin in unserer Gesellschaft seinen Stellenwert haben. Lebensmodelle, bei denen jeder sich selbst überlassen bleibt, wären auch bei gutem Willen und vollen Staatskassen, die wir nicht haben, nicht bezahlbar.Die FDP-Fraktion stellt fest, daß die Forderung nach einer altersgerechten Wohnung eine elementare Forderung ist. Wir appellieren an alle Beteiligten in Bund, Ländern und Gemeinden, Verbänden und Kirchen, die Verantwortung tragen, sich dieser Verantwortung bewußt zu sein und entsprechend zu handeln.Wir danken allen Männern und Frauen unserer Gesellschaft, die sich täglich — oft in ehrenamtlicher Arbeit — um alte Menschen kümmern, mit ihnen reden, sie betreuen und versorgen. Diese Arbeit kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sie wird leider oft unterbewertet.Wir haben eine große Chance, unser Ziel, zu geeignetem Wohnraum für ältere Mitbürger und Mitbürgerinnen zu kommen, erreichen zu können. Die zu erwartende große Bautätigkeit in den neuen Ländern
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Lisa Petersin den nächsten Jahren zwingt uns förmlich dazu, Vorreiterfunktionen wahrzunehmen, die Bedürfnisse der älteren Menschen angemessen zu berücksichtigen. Auch die Phantasie hat hier genügend Spielraum. Hier sollten Wettbewerbe für optimale Baulösungen ausgeschrieben werden.Alle, auch die ältere Generation, einbeziehen — das ist unser Appell heute. Wir dürfen die Zeit nicht verpassen. Wir müssen handeln.Meine Herren und Damen, ich danke Ihnen.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Seifert.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin erstaunt, daß in zwei aufeinanderfolgenden Debatten — hie um die Renten, da um Bauen im Alter —, die sich inhaltlich sehr überschneiden, einmal ein so großer Dissens und einmal ein so weitgehender Konsens im Hohen Hause zum Ausdruck kommen. Ich denke, es wird erforderlich sein, daß wir genau aufeinander hören. Herr Hitschler, Sie sagten neulich, daß Sie das tun. Es geht nicht darum, nur Schelte zu verteilen, sondern hinzuhören, was vorgeschlagen wird, egal, von wo es kommt.
Wir reden immerhin über Dinge, die uns alle angehen. Jeder von uns wird alt, und jeder und jede kann in die Situation kommen, auf Pflege angewiesen zu sein. Es geht also darum, daß jeder Mann und jede Frau überall dort wohnen können, wo er oder sie es möchte: im angestammten Kiez, in der Nähe von Freunden und Bekannten, bei den Kindern und Enkeln oder in alternativen Wohngemeinschaften. Die freie Wahl hat man aber nur dann, wenn die baulichen Voraussetzungen und die finanziellen Belastungen überhaupt gleiche Chancen bieten.
Das heutige Thema ist leider auf die baulichen Voraussetzungen eingeschränkt. Ich werde mich daran halten, obwohl ich den anderen Aspekt, die finanzielle Chancengleichheit, für mindestens genauso wichtig halte.
Die weitgehende Übereinstimmung im Hohen Hause zeigt aber, daß der Bedarf so offensichtlich ist, daß ihn niemand mehr ignorieren kann. Insofern ist es auch kein Zufall, daß gerade in dieser Woche beispielsweise im Landtag Mecklenburg-Vorpommern über behindertengerechten Wohnraum debattiert wird. Damit ist der entscheidende Zusammenhang bereits genannt: In verschiedenen Lebensphasen und in verschiedenen Lebenssituationen ist der qualitative und quantitative Bedarf an Wohnraum unterschiedlich. Herr Götz, Sie haben darauf sehr eindringlich hingewiesen. Ich finde, dem kann man nur zustimmen. Es geht also darum, daß die Wohnungen so flexibel sind, daß sie ohne großen Aufwand dem jeweils konkreten Bedarf angepaßt werden können.
Nicht zufällig gibt es neben den Begriffen alters- und behindertengerechte Wohnungen auch die Kategorie alters- und behindertenfreundliches Bauen. Das heißt, die Voraussetzungen sind da, daß man es so
machen kann, wie derjenige oder diejenige es braucht. Hier haben neben den Politikern und — das möchte ich sagen, auch wenn kaum jemand von ihnen hier ist — den öffentlichen Meinungsmachern die Architekten, Projektanten, Städteplaner und Bauausführenden eine große Verantwortung. An ihnen liegt es, durch originelle Lösungen ihre Kreativität nachzuweisen.
Eine alten- und behindertengerechte Wohnung kann jederzeit von jedermann und jeder Frau genutzt werden. Umgekehrt ist das nicht möglich. Wenn in jeder Phase der Ausschreibung, der Planung, der Projektierung und selbstverständlich der Bauausführung prinzipiell die Belange der alten- und behindertenfreundlichen Bauweise hinreichend berücksichtigt werden, sind die Mehrkosten relativ gering. Auch darauf wurde bereits hingewiesen. In diesem Zusammenhang darf ich sagen, wie paradox es ist, wenn in Berlin sogenannte behindertengerechte Wohnungen gebaut werden — ich wohne darin — und vor der Haustür die Bordsteine so hoch sind, daß man mit dem Rollstuhl nicht drüber kann. Paradoxer geht es nicht.
Ein letzter Tip an die Architekten und an uns Politiker: Nutzen Sie und nutzen wir doch den Sachverstand der Betroffenen. Menschen im höheren Lebensalter und Menschen mit Behinderung verfügen über konkrete Erfahrungen, die ihnen und uns originelle Lösungen erleichtern werden. Beispielsweise ist der Allgemeine Behindertenverband in Deutschland jederzeit bereit und in der Lage, kompetente Auskünfte zu geben; andere übrigens auch.
Die PDS/Linke Liste stimmt der Ausschußempfehlung zu. Allerdings füge ich hinzu, daß wir selbstverständlich die Aufforderung an alle Verantwortlichen richten, mehr zu tun und nicht lange zu reden.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort erteile ich nunmehr der Abgeordneten Frau Uta Würfel zu einer Kurzintervention.
Herr Präsident! Die Ausführungen meiner Kollegin Lisa Peters zum experimentellen Wohnungsbau und die Forderungen nach Modellvorhaben haben mich ermutigt, hierzu noch einige Ausführungen zu machen.Tatsächlich hat es noch nie in einer Gesellschaft so viele Menschen gegeben, die nach der Berufsphase noch aktiv sein wollen und über Jahrzehnte hinweg aktiv sein können. Immer mehr Menschen werden immer älter. Deren Ansprüche und Bedürfnisse werden und sind immer differenzierter. Es ist doch eine Tatsache, daß in sehr vielen Fällen Menschen in Wohnungen oder Häusern leben, die für sie viel zu groß sind. Beispielsweise können sie die Arbeit im Garten oder die Hausarbeit nicht mehr bewältigen. Für sie wäre es erstrebenswert, ganz andere Wohnformen zu haben.Also muß unsere Forderung sein, in der dritten Lebensphase einerseits die Lebensqualität, die man
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Uta Würfelvorher hatte, sicherzustellen und andererseits eine größtmögliche Selbständigkeit zu gewährleisten. Aber das ist nicht alles.Viele von uns erwerben im Laufe ihres Berufslebens erhebliche Kenntnisse und Qualifikationen, die sie nach dem Aussscheiden aus dem Berufsleben gerne an die nachfolgende Generation oder an diejenigen, die das in Anspruch nehmen wollen, weitergeben möchten. Das können sie nicht, solange wir Älterwerden als ein notwendiges Übel betrachten und uns bei unseren Überlegungen im Grunde genommen nur darauf kaprizieren, daß Älterwerden gleichbedeutend ist mit schwächer sein und inaktiv sein.Ich könnte mir durchaus vorstellen, daß wir gemeinsam mit Ihnen, Frau Ministerin Rönsch, und anderen Kräften wie beispielsweise Oberbürgermeistern, die ein Interesse daran haben, bei neuen Wohnformen experimentell zu arbeiten, ein Modell in der Nähe einer Stadt entwickeln. Denn es gibt Menschen, die bereits mit 50 überlegen, was sie tun, wenn sie 60 oder 65 sind, was sie dann mit ihren Qualifkationen, ihren Kenntnissen, ihren pädagogischen Fähigkeiten anfangen. Sie wollen dann z. B. das tun, was sie sich während ihrer 30-, 40-, 45jährigen Berufstätigkeit immer schon gewünscht haben: endlich einmal zu schreinern, zu gärtnern, anderen Hobbys nachzugehen.Es sollte also in der Nähe einer Stadt ein Wohnkomplex geschaffen werden, wo Dienstleistungsunternehmen angesiedelt werden, die hinsichtlich der Infrastruktur sicherstellen, daß man im äußersten Notfall gepflegt werden kann, daß Essen auf Rädern kommt, daß die Arbeiten im Haushalt durch fremde Kräfte erledigt werden können. Andererseits sollte man die Qualifikationen und Kenntnisse in Schreinereibetrieben, in Gärtnereien, in anderen Betrieben, die darum herum angesiedelt sind, weitergeben können. Das gilt auch für die pädagogischen Fähigkeiten, indem man Kinder betreut.Ich bitte Frau Rönsch, sich dieses Modells, dieser Phantasie im Wohnungsbau einmal anzunehmen. Danke.
Nunmehr erteile ich dem Parlamentarischen Staatssekretär Echternach das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Ablauf der Debatte und die gemeinsame Beschlußempfehlung zeigen, daß es bei der Frage des Wohnens im Alter und seiner politischen Beurteilung einen breiten Grundkonsens in diesem Hause gibt. Ich kann diesen Grundkonsens nur begrüßen; denn die starke Veränderung der Alterspyramide bedeutet, daß in fast allen Politikfeldern neue Aufgaben auf uns zukommen. Der Wohnungs- und Städtebau ist dabei nur ein Teil. Aber er ist eben für das Zusammenleben, für das Leben im Alltag — für die Jüngeren genauso wie für die Älteren — von ganz entscheidender Bedeutung. Er ist einer der Schlüsselbereiche für die Frage, wie sich die Gesellschaft weiterentwickelt und wie die Generationen miteinander leben.Dabei kann es nicht darum gehen, eine eigenständige Wohnungs- und Städtebaupolitik nur für alte Menschen zu betreiben. Wohnen im Alter muß vielmehr in einer Wohnungs- und Städtebaupolitik für alle eingebettet sein. Aber innerhalb dieses umfassenden Ansatzes muß den besonderen Bedürfnissen der älteren Generation verstärkt Rechnung getragen werden. Das gilt sowohl für die dauerhaft Pflegebedürftigen wie auch für die sehr vielen sehr vitalen älteren Mitbürger. Viele von ihnen haben eine höhere berufliche Qualifikation, haben ein breiteres Spektrum an Interessen, als es noch in der Generation ihrer Eltern und Großeltern der Fall war.
Auch die Politik muß dem Rechnung tragen.
Gerade für Menschen, die aus dem Berufsleben ausgeschieden sind, gewinnen die Wohnung und auch das unmittelbare Wohnumfeld eine viel höhere Bedeutung als für junge Menschen. Dies gilt um so mehr, wenn ihre Bewegungsfreiheit aus gesundheitlichen Gründen eingeschränkt ist. Deshalb brauchen wir Wohnformen, die sowohl die Betreuung und Pflege im eigenen Hause möglich machen wie auch gleichzeitig soziale Bindungen erhalten und Kontakte fördern. Die Politik muß die Voraussetzungen dafür schaffen, daß dem Wunsch der weit überwiegenden Mehrheit der älteren Menschen Rechnung getragen wird, möglichst lange in der angestammten Umgebung wohnen zu bleiben.Für die Wohnungspolitik ergibt sich daraus eine doppelte Aufgabe: einmal für ein ausreichendes Angebot an Wohnungen Sorge zu tragen, zum anderen aber auch gleichzeitig sicherzustellen, daß die Bedürfnisse älterer Menschen berücksichtigt werden bzw. bei verändertem Bedarf eine schnelle Anpassung ermöglicht werden kann.Die Bundesregierung hat erst vor kurzem mit der Verabschiedung des Wohnungspolitischen Konzeptes deutlich gemacht, welch hohen Stellenwert sie dem Wohnungsbau beimißt. Ich nenne beispielhaft nur die erhöhten Bundesmittel von 3,7 Milliarden DM für den sozialen Wohnungsbau. Damit können auch die Länder, die ja für die Durchführung dieses Programms verantwortlich sind, verstärkt altengerechte Wohnungen bauen.Außerdem wollen wir mit dem Steueränderungsgesetz 1992 den Bau einer zusätzlichen Wohnung im selbstgenutzten Eigenheim fördern, wenn diese Wohnung unentgeltlich einem Familienangehörigen zur Verfügung gestellt wird. Wir wollen damit noch Reserven im Eigenheimbereich mobilisieren. Wir wollen gleichzeitig den Wohnungsmarkt entlasten, aber auch das Zusammenleben mehrerer Generationen unter einem Dach fördern. Ich hoffe sehr, daß diese Vorschrift nach dem Abschluß des Vermittlungsverfahrens möglichst bald wirksam wird.Aber auch für Anpassungsmaßnahmen im Wohnungsbestand gibt es bereits eine Reihe von Fördermöglichkeiten, sei es im Rahmen der Wohnungsbauförderprogramme der alten Bundesländer, sei es durch die attraktiven steuerlichen Anreize oder durch die direkten Hilfen für die Modernisierung und Instandsetzung in den neuen Ländern.
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Parl. Staatssekretär Jürgen EchternachWeitaus besser aber als ein nachträglicher Umbau ist es, wenn die Wohnungen grundsätzlich so geplant und gebaut werden, daß sie den Bedürfnissen älterer und behinderter Menschen entsprechen. Ziel muß sein, daß Wohnungen grundsätzlich barrierefrei gebaut werden. Im übrigen sollten alle planerischen und baulichen Vorkehrungen getroffen werden, um spätere Anpassungsmaßnahmen ohne größeren Aufwand durchführen zu können.Vor diesem Hintergrund ist die Planungsnorm für Behindertenwohnungen, die DIN 18 025, vollständig überarbeitet worden. Ich appelliere an die Länder, sie auch für den Wohnungsneubau nutzbar zu machen, sie in die Wohnungsbauförderungsbestimmungen der Länder zu übernehmen.Wohnungspolitik für ältere Menschen darf jedoch nicht nur auf die Wohnung oder auf das Haus beschränkt sein. Sie muß auch das Wohnumfeld einbeziehen und mit der Städtebaupolitik verknüpft sein. Dies ist der Ansatzpunkt für das Forschungsfeld experimenteller Wohnungs- und Städtebau, das wir seit 1989 durchführen. Mit insgesamt 21 Modellvorhaben untersuchen wir, wie bei Planung und Organisation, in Gesetzgebung und Verwaltung und vor allem mit welchen baulichen Maßnahmen wir den Lebensinteressen der älteren Mitbürger noch besser Rechnung tragen können. Wir wollen damit auch Impulse für eine sozial orientierte Stadterneuerungs- und Wohnungspolitik und überzeugende Alternativen zum herkömmlichen Altenwohnheim aufzeigen.Im Rahmen dieser Modellvorhaben hat sich gezeigt, daß bei den älteren Mitbürgern noch deutliche Informationsdefizite über spezielle Anpassungsmaßnahmen und Wohnungshilfen vorhanden sind. Beratung und Information müssen also verbessert werden.Ebenso hat sich gezeigt, daß im Bereich des Wohnumfeldes teilweise gravierende Mißstände bestehen. Das betrifft sowohl die Nutzerfreundlichkeit für ältere Menschen wie auch das versorgungsnahe Angebot und seine Qualität für soziale und wirtschaftliche Dienstleistungen.Die Modellmaßnahmen belegen aber auch, daß derartige Schwierigkeiten, derartige Wohnbarrieren durch quartierbezogene Konzepte überwunden werden können; dafür gibt es gute Beispiele, die wir auch publiziert haben.Dies gilt um so mehr, je stärker Sozialpolitik und Wohnungs- und Städtebaupolitik zusammenwachsen, je stärker also das wohnungs- und städtebauliche Instrumentarium mit sozialen Maßnahmen verbunden wird. Wir sind auch hier in einem intensiven Diskussionsprozeß mit den Ländern, Gemeinden und Verbänden mit dem Ziel, ein harmonisches Zusammenleben der Generationen, die soziale Integration der älteren Mitbürger zu ermöglichen und nicht etwa der Isolierung einzelner oder ganzer Bevölkerungsgruppen Vorschub zu leisten. Dabei ist auch die Frage zu klären, ob wir die Erfahrungen aus den alten Bundesländern so auch auf die neuen Bundesländer übertragen können oder ob wir hier andere Wege beschreiten müssen.Diese Frage nach gemeinsamen Entwicklungen und übertragbaren Problemlösungen stellt sich auchim europäischen Rahmen. Nicht zuletzt deshalb hat die Europäische Gemeinschaft das Jahr 1993 zum Jahr der älteren Menschen und der Solidargemeinschaft der Generationen erklärt. Wir sind mit unseren europäischen Nachbarn darüber bereits im Gespräch, bauen unsere Forschungskontakte aus und arbeiten auch bei gemeinsamen Projekten bereits zusammen.Die Bundesregierung hat in den letzten Jahren bereits eine ganze Reihe von Maßnahmen zur Erleichterung des Wohnens im Alter beschlossen. Dazu gehören die Wohngeldanpassungen, Änderungen des Wohnungsbindungsgesetzes, um die Möglichkeit älterer Mitbürger, im wohnnahen Bereich umzuziehen, zu erleichtern. Dazu gehört die Verlängerung der Kündigungssperrfrist bei der Umwandlung von Mietwohnungen in Eigentumswohnungen. Dazu gehört die Änderung der Baunutzungsverordnung, um auch die Errichtung von Behinderten- und Pflegeeinrichtungen in reinen Wohngebieten möglich zu machen. Das ist auch von der Beschlußempfehlung des zuständigen Ausschusses ausdrücklich aufgenommen worden.Wir sind offen für weitere Maßnahmen, die die Wohnverhältnisse der älteren Mitbürger verbessern. Denn diese Mitbürger, die entscheidend zum Aufbau unserer heutigen Gesellschaft beigetragen haben, erwarten von uns mit Recht, daß ihnen auch nach Beendigung ihrer Berufstätigkeit ein Leben in Selbständigkeit, aber auch ein ausreichender Raum für die aktive Teilnahme am Leben dieser Gesellschaft ermöglicht wird. Dem müssen wir mit unserer Politik Rechnung tragen.
Nunmehr erteile ich dem Abgeordneten Maaß das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! An dieser Stelle sollte jetzt meine Kollegin Gabriele Iwersen sprechen. Durch den Tod ihrer Mutter, die morgen früh beigesetzt wird, ist Gabriele Iwersen nicht in der Lage, selbst ihren Redebeitrag zu leisten. Aus diesem Grunde trage ich Ihnen den Text vor. Er entspricht der Auffassung unserer Arbeitsgruppe.Es ist bedauerlich, daß das Thema „Wohnen im Alter" fast immer am Schluß der Tagesordnung auftaucht und in der Diskussion deshalb eindeutig zu kurz kommt, als wären die Alten eine lästige Gruppe in unserer Gesellschaft. Trotzdem sprechen wir gerne von ihrer Integration und davon, daß sie nicht an den Rand gedrängt werden dürfen. Deshalb sollten wir diesen Antrag — auch wenn er nur das Problemfeld umreißt und Aufmerksamkeit auf Wünsche und Forderungen lenkt — wirklich nur als Einführung in das Thema verstehen, um in den folgenden Jahren für die finanziellen Grundlagen zur Umsetzung unserer Erkenntnisse zu sorgen.
Im Vordergrund steht die Forderung nach mehr pflege- und betreuungsgerechten Wohnungen. Das sind Wohnungen, in denen bei Bedarf tatsächlich ein Pflegebett Platz findet, das nun einmal 10 cm länger
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Dieter Maaß
ist als ein normales Bett. Pflege- und betreuungsgerecht bedeutet: stufen- und schwellenlos, mit ausreichender Türbreite auch zum Bad und zum WC, rutschfester Boden und eine Fensterbrüstungshöhe, die auch aus dem Bett den Blick nach draußen möglich macht.All diese Forderungen sind für keinen Menschen zum Nachteil, auch nicht für die jüngeren. Deshalb sollten wir uns dazu durchringen, alle kleineren Wohnungen, die für Ein- und Zweipersonenhaushalte geeignet sind, in Erdgeschossen und in ersten Obergeschossen oder in Häusern mit Aufzügen prinzipiell barrierefrei und damit pflege- und betreuungsgerecht zu bauen; wenigstens in allen öffentlich geförderten Mietshäusern. Schließlich ist es allgemein bekannt, daß die Rentner noch stärker als andere Altersgruppen auf den sozialen Wohnungsbau angewiesen sind und daß die Frauen, die unter den alten Menschen ohnehin in der Mehrheit sind, meist noch weniger Geld haben.Diese Erkenntnis führt zu der logischen Schlußfolgerung, daß bei öffentlich gefördertem Mietwohnungsbau die Zahl der Wohnungen, die für Ein- und Zweipersonenhaushalte geeignet sind, mindestens dem prozentualen Anteil der über 60jährigen in unserer Gesellschaft entsprechen sollte. Das sind heute etwa 20 %, und es werden in 30 Jahren vielleicht 30 % sein.Aber im Zuge der Wohnungsbauförderung mit den Sonderprogrammen zum Bau von Altenwohnungen sind z. B. 1988 in den alten Bundesländern zusammen nur 2 229 Altenwohnungen — das sind 5,7 % der Sozialwohnungen — für die über 60jährigen fertiggestellt worden. Rechnet man nun noch jeden geförderten Platz in einem Alten- oder Pflegeheim dazu, so kommt man immerhin auf 13,5 % der geförderten Wohneinheiten, bleibt damit aber noch immer weit hinter dem ständig wachsenden Bedarf zurück, so daß sich das Defizit stetig erhöht.Darauf wollen wir mit dem gemeinsamen Antrag die Aufmerksamkeit der Bundesregierung und der Länderregierungen verstärkt lenken. Dieser Antrag mußte gemeinsam erarbeitet und eingebracht werden, damit keine politische Partei, wo immer sie gerade die Regierung stellt, den Antrag ungelesen zur Seite legen kann.
Nur wenn Bund und Länder gemeinsam das immer dringender werdende Problem der Wohnungsknappheit für die alten Menschen und die endlosen Wartelisten der Pflegeeinrichtungen sehen sowie ihre Bereitschaft zum Handeln erheblich verstärken, nur dann können wir unseren Traum von der humanen Gesellschaft in die Wirklichkeit hinüberretten.Die Selbstheilungskräfte der Marktwirtschaft und die Hilfe zur Selbsthilfe sind zwei Schlagworte. Mit beiden Instrumenten sollen unter weitestgehender Schonung der öffentlichen Haushalte viele Probleme unserer Gesellschaft behoben werden. Aber für die alten Menschen taugen diese Rezepte nicht. Wo Angebot und Nachfrage den Mietpreis für die Wohnung bestimmen und umlagefähige 11 % eines beliebig hohen Modernisierungsaufwandes die Mietpreise in astronomische Höhen treiben können, bleiben unsere Rentner auf der Strecke.
Die Frauen, die auf Witwenrenten von wenigen hundert D-Mark angewiesen sind, können auch mit Hilfe des Wohngeldes nicht zurechtkommen, wenn sie keine Chance finden, aus der angestammten, für sie allein zu großen und natürlich auch zu teuren Wohnung auszuziehen. Der freie Wohnungsmarkt ist nicht sozial, und Hilfe zur Selbsthilfe ist Augenwischerei.
Der überwiegende Wunsch der Älteren ist klar und bei allen Parteien unumstritten: Selbständigkeit bis ins hohe Alter, nach Möglichkeit unter Beibehaltung der sozialen Kontakte in der gewohnten Umgebung. Für den Notfall sollte schnell und einfach Hilfe bei der Bewältigung des täglichen Lebens bis hin zur Pflege erhältlich sein. Dabei wäre es wünschenswert, die Sozialstationen zu festen Bestandteilen aller Wohnquartiere zu machen und ihnen nicht nur die Betreuung der Alten und Kranken zu übertragen, sondern den Aufgabenbereich so zu erweitern, daß alle Altersgruppen, vom Kind bis zum alten Menschen, in diesen Häusern eine natürliche Anlaufstelle zum Knüpfen notwendiger Kontakte finden.
Das heißt, auch ohne zusätzliche öffentliche Finanzierung kann hier von der Organisation einer Stillgruppe über die Vermittlung von Babysittern und Schularbeitshilfen, über die Einrichtung von Nachbarschaftstreffs für die aktiven Bürger, die ihr Wohnumfeld mitgestalten wollen, bis hin zum gemeinsamen Kegeln, Kartenspielen, Mittagessen oder Kaffeetrinken vieles in Gang gesetzt werden, was gute Nachbarschaft kennzeichnet. Aus diesen Kontakten heraus sollte auch für die Alleinlebenden die selbstverständliche Suche nach Hilfe im Bedarfsfall entstehen; denn bei zunehmendem Alter wird die Aufnahme neuer Kontakte immer schwieriger.Aber es gibt noch andere Probleme, die alte Menschen besonders stark betreffen und die im Bericht zu dem vorliegenden Antrag fast unauffällig enthalten sind: die wohnungsortnahe Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs. Bezogen auf den ländlichen Raum heißt es da: „Eine Stärkung des Versorgungs- und Einkaufsniveaus ist notwendig." Dieser von der CDU eingebrachten Formulierung habe ich nur zu gerne zugestimmt, kann man doch die Hoffnung auf ein gemeinsames Vorgehen in dieser fast ausweglosen Situation daraus ableiten.Diese Forderung wird leider zeitgleich mit der Schließung der letzten kleinen Lebensmittelläden erhoben, denen die neuen Supermärkte auf der grünen Wiese und die — auch in den neuen Bundesländern — explosionsartig gestiegenen Gewerbemieten das Wasser abgegraben haben. Über die Gewerbemieten ist ein rücksichtsloser Verdrängungs- und Vernichtungswettbewerb in Gang gekommen, der gerade die gewachsenen Strukturen in den bislang gut durchmischten Wohngebieten zerstört und damit die Versorgung der nicht motorisierten Bevölkerung
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Dieter Maaß
mit Waren des täglichen Bedarfs und mit Dienstleistungen starkt einschränkt.Mit dem Verschwinden von Bäcker und Schlachter ist aber nicht nur die Versorgung gefährdet, sondern es fehlen die Gesprächspartner. Die kann auch der junge Mann nicht ersetzen, der in Eile das Essen auf Rädern in die Wohnung bringt.
Diese Anpassung an westdeutsche Verhältnisse stellt gerade für die alten Menschen in den neuen Ländern eine Verschlechterung der Versorgung dar und verhindert die von allen gewünschte Selbständigkeit im Alter.Der autofahrende, bärenstarke Kunde, der kiloweise Waschmittel, kastenweise Getränke, zentnerweise Kartoffeln, sackweise Zwiebeln und andere Nahrungsmittel nach dem Motto „Je mehr, um so billiger" einkauft, ist zum Leitbild der Firmenstrategie im Einzelhandel geworden, und nicht der alte Mensch, der auf seinem täglichen Gang durch sein Wohnquartier oder sein Dorf seine Einkäufe erledigt, verbunden mit der notwendigen Kommunikation und orientiert an der eigenen Leistungsfähigkeit, d. h. kurze Wege und kleine Gewichte.An diesem Beispiel kann man erkennen, daß der gemeinsame Antrag nur ein Einstieg in das Thema „Wohnen im Alter" sein kann, wenn wir dem demographischen Wandel ernsthaft Rechnung tragen wollen. Zufrieden sein sollte dieses Parlament erst, wenn ausreichend Tages-, Kurzeit- und Vollzeitpflegeplätze und die dazugehörenden Rehabilitationseinrichtungen gebaut und mit gut ausgebildetem Personal besetzt sind, wenn der Wohnungsmangel für alte Menschen nicht nur erkannt, sondern auch behoben ist, wenn humaner Städtebau, der auch den Belangen der älteren Menschen Rechnung tragen muß, nicht nur ein Forschungsfeld des experimentellen Städtebaus ist, sondern zur Wirklichkeit in unseren Städten und Gemeinden geworden ist.Deshalb bitte ich alle hier anwesenden Kolleginnen und Kollegen um Zustimmung zu diesem Antrag. — Danke schön.
Nunmehr erteile ich der Bundesministerin für Familie und Senioren, Frau Rönsch, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den antragstellenden Fraktionen, ausgesprochen dankbar dafür, daß Sie heute mit großer Sensibilität an dieses Thema herangegangen sind und daß bei Ihnen der ältere Mensch, der alte Mensch im Vordergrund gestanden hat, nicht die Baunormen oder die DIN-Normen, wie es bei uns im Ausschuß — ich habe acht Jahre Wohnungsbaupolitik gemacht — sonst sehr oft der Fall gewesen ist.Ich meine, für uns sollte der ältere, der alte Mensch ganz besonders in den Vordergrund rücken, und wir müssen für ihn Wohnformen finden, die ihm einangenehmens Wohnen im Alter möglich machen. Ich will jetzt nicht das wiederholen, was Sie, die Kolleginnen und Kollegen, heute schon über die Mobilität und die Flexibilität der Wohnformen vorgetragen haben. Ich will mich darauf beschränken, vielleicht den einen oder anderen Punkt anzusprechen, der noch nicht vorgetragen worden ist.Frau Kollegin Würfel, ich bin Ihnen ausgesprochen dankbar, daß Sie darauf aufmerksam gemacht haben, daß ältere Menschen nicht isoliert, sondern in der Gemeinschaft mit jungen und mit mittleren Generationen, aber vor allem auch mit Kindern wohnen sollen und daß für sie auch die Möglichkeit einer aktiven Teilnahme am Leben im Umfeld gegeben sein soll.Ich nehme das deshalb gerne auf, weil wir in der Bundesrepublik Deutschland — hier muß ich sagen: in der alten Bundesrepublik — das experimentelle Wohnen schon in den verschiedensten Einrichtungen praktiziert haben. Unmittelbar vor unserer Haustür, hier in Köln, können Sie sich bei einer gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaft ein hervorragendes Modell anschauen. Dort wird das Leben der Generationen miteinander praktiziert. Dort leben alte Menschen, alte Ehepaare und Alleinstehende, die die Kinder der jungen Familien betreuen, und man hilft sich gegenseitig beim Renovieren der Wohnungen; es ist ein großes Haus. Man hat — Gott sei Dank! — noch eine Baulücke mitten in Köln gefunden, so daß die älteren Menschen gemeinsam mit den jungen einkaufen gehen können. Man erledigt sich gegenseitig die Besorgungen. Ich meine, das ist ganz ideal, und empfehle Ihnen, sich das anzuschauen. Es ist nur eine halbe Stunde entfernt. Es ist eines der vielen Beispiele, die wir in der alten Bundesrepublik erfreulicherweise schon haben.Aber es ist unsere besondere Verpflichtung, solche Wohnformen jetzt gerade in den fünf neuen Bundesländern zu entwickeln. Ich meine durchaus, daß wir aus dem, was wir in der Vergangenheit falsch gemacht haben, in dem einen oder anderen Fall auch lernen können, damit wir nicht dieselben Fehler wiederholen.Frau Kollegin Professor Lehr sitzt hier im Hause. Ihr möchte ich ausdrücklich dafür danken, daß sie die Ausstellung „Mehr-Generationen-Wohnen" auf den Weg geschickt hat. Nunmehr ist in vielen Städten und in vielen Rathäusern — auch da muß ich wieder sagen: in der alten Bundesrepublik — Gelegenheit gewesen, die Generationen miteinander in Verbindung zu bringen. Ich wünsche und erhoffe mir, daß jetzt auch sehr, sehr viele Kommunen aus den fünf neuen Bundesländern diese Ausstellung anfordern und dann auch in ihren Rathäusern deutlich machen, wie man eine neue Stadtplanung und eine neue Stadtentwicklung für alle Generationen entwickeln kann.Sie alle, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben davon gesprochen, daß wir den älteren, den alten Menschen so lange wie möglich in eigener Kompetenz wohnen und leben lassen wollen, daß er so wohnen und leben soll, wie er will, und daß wir ihn unterstützen müssen, damit er sich diese Kompetenz so lange wie möglich erhält. Denn es schafft bei dem alten Menschen Zufriedenheit, wenn er in eigener
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Bundesministerin Hannelore RönschVerantwortung leben und arbeiten kann. Das erweitert seine Mobilität. Ich glaube, daß auch der alte Mensch immer in das Miteinander eingebunden sein will.Bedenken wir einmal, wie wir noch in den 70er Jahren Wohnkonzepte für alte Menschen entworfen und gedacht haben, ein alter Mensch, ein älterer Mensch, der aus dem Berufsleben ausgeschieden ist, habe keinen sehnlicheren Wunsch, als an einem Stadtrand die Rehe im Grünen weiden zu sehen. Aber wir wurden sehr schnell eines Besseren belehrt; denn war gerade eine solche Altenwohnanlage bezogen, war der dringendste Wunsch des Heimbeirates eine Busanbindung mitten in die Innenstadt, und das am besten im Achtminutentakt.Das hätte uns damals eine Lehre sein müssen, und wir hätten das umgehend abändern müssen. Es hat eine ganze Weile gedauert. Aber wir werden jetzt— da bin ich ganz sicher — diese Fehler nicht mehr machen; denn auch der alte Mensch will mitten im Leben stehen und will unmittelbar teilhaben.
— Selbtverständlich, er will mit seinen Nachbarn, mit seinen Freunden Kontakt haben. Es wurde der Hund des Nachbarn und der schöne Baum in Nachbars Garten angesprochen. Er will daran teilhaben. Das sollten wir dem alten Menschen so lange wie möglich erhalten.Man kann als älterer, als alter Mensch natürlich nur das wahrnehmen, was man kennt. Deshalb bin ich dem Ausschuß für Familie und Senioren sehr dankbar, daß er das Thema der Beratung mit eingebracht hat, daß er angesprochen hat, daß die Familien der älteren, der alten Menschen, aber auch die alten Menschen selber, beraten werden. Ich meine, wir müssen von dieser Komm-Struktur, die sich bei uns festgesetzt hat, nämlich daß man um Beratung nachsucht, wegkommen. Es muß eine Bring-Struktur werden. Wir müssen versuchen, an die alten Menschen heranzukommen, und müssen die Beratungen und die Hilfsangebote, die zur Verfügung stehen, dem alten Menschen nahebringen. Das gilt wieder ganz besonders für die fünf neuen Bundesländer; denn an den vielen Briefen, die unser Ministerium momentan erhält, merke ich, daß noch ein großer Informationsbedarf besteht und daß wir diese Informationen dringend weitergeben müssen.Ganz besonderen Wert müssen wir darauf legen— auch da müssen wir alle informieren —, daß der ältere, der alte Mensch sich auf die Wohnsituation, in der er in der nächsten Zeit, vielleicht bis ans Lebensende, leben will, rechtzeitig einstellt. Es ist sicher wesentlich besser, wenn man sich zu einer guten Zeit bei guter geistiger Kondition, bei guter Gesundheit mit seiner Familie, mit Freunden bespricht und sich vielleicht auch von einem liebgewordenen Möbelstück zur rechten Zeit trennt,
als wenn man es dann zu einem Zeitpunkt tut, wo man vielleicht krank und gezwungen ist, in eine Altenwohnanlage, in ein Altenheim umzuziehen. Mir liegt sehr viel daran, daß wir die älteren und alten Menschenermuntern und auffordern, zu einer guten Zeit, bei wirklich guter geistiger und körperlicher Verfassung, ihre Wohnsituation für die zukünftigen Jahre zu bedenken.
Ich will auf eines noch hinweisen: Das Ministerium für Familie und Senioren bietet umfangreiche Broschüren an, die gerade auf diese Situation hinweisen und Hilfestellung geben. Ich kann nur jeden bitten und ermuntern, diese Broschüren anzufordern bzw. in seinem persönlichen Umfeld dafür zu werben, daß diese Broschüren dann weitergeben werden.Ich glaube, wenn wir uns, wie wir es heute hier getan haben, in breitem Konsens an diese Aufgabe heranmachen, ist der alte, der ältere Mensch der Gewinner, und so sollte es eigentlich auch sein.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aussprache.
Ich lasse jetzt über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau abstimmen, die Ihnen auf Drucksache 12/1763 vorliegt. Wer für diese Beschlußempfehlung ist, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich kann erfreulicherweise Einstimmigkeit feststellen und diesen Tagesordnungspunkt somit abschließen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Sondergutachten „Allgemeine ökologische
Umweltbeobachtung" des Rates von Sachverständigen far Umweltfragen — Oktober 1990
— Drucksache 11/8123 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Innenausschuß
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine halbe Stunde Debattenzeit vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall.
Dann kann ich die Debatte eröffnen und erteile zunächst dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Laufs das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Naturhaushalt ist nicht unbegrenzt belastbar. Neue Erkenntnisse mahnen zur strikten Vorsorge. Das Treibhausgas CO2 z. B. galt lange Zeit als harmlos, unproblematisch und ungiftig, bis seine Klimarelevanz entdeckt wurden.Die Belastbarkeit des Naturhaushalts läßt sich allerdings nicht allein auf Grund der Bewertung der Schädlichkeit einzelner Stoffe und ihrer über die Zeit
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5963
Parl. Staatssekretär Dr. Paul Laufskumulierten Wirkungen bestimmen. Zu berücksichtigen sind auch Synergismen und Kombinationswirkungen unterschiedlicher Schadstoffe, Eingriffe und natürlicher Einflüsse, deren ökologischer Schaden sich nicht selten schleichend und mit langer zeitlicher Verzögerung entwickelt. Die neuartigen Waldschäden sind dafür ein Beispiel.Was wir brauchen, ist ein zuverlässiges Frühwarn- und Kontrollsystem, um die Grenzen der Belastbarkeit des Ökosystems rechtzeitig erkennen zu können. Es gilt, den sektoral und zentral vorhandenen Datenbestand konzeptionell neu zusammenzuführen, um verantwortliche Umweltpolitik auf eine verläßliche Datengrundlage zu stellen. Umweltschutz muß noch stärker wirkungsorientiert betrieben werden können. Die vorhandene Datenbasis reicht hierfür nicht aus.Praktisch wird dieser Ansatz etwa in neuen Auswirkungsprognosen bei standortbezogenen Genehmigungsverfahren, bei denen künftig auch die Anforderungen der Umweltverträglichkeitsprüfung berücksichtigt werden müssen.Anders als bei früheren Ansätzen für Datensysteme im Umweltbereich können wir heute auf umfangreichen Datenvorarbeiten in Bund und Ländern aufbauen. Ich nenne beispielhaft das Emissionsursachenkataster, die Luftimmissionsdatenbank, das Frühwarnsystem für Fälle des ferntransportierten Smog oder die Hydrologische Datenbank.Wenn wir nunmehr also darangehen, ein Netz repräsentativer Dauerbeobachtungsflächen aufzubauen, dann müssen wir die vorhandenen Bestände in das neue Konzept einbinden und die bei ihrem Aufbau gewonnenen Erfahrungen berücksichtigen. Wir wollen keine neuen Datenfriedhöfe. Wir wollen mit Hilfe einer modernen ökologischen Umweltbeobachtung, die man im Ausland als Öko-Monitoring bezeichnet — auch dieser Begriff hat sich bei uns inzwischen eingebürgert —, Veränderungen wichtiger Ökosysteme erfassen und die Langzeitwirkungen anthropogener Stoffeinflüsse abschätzen können.Der Rat der Sachverständigen für Umweltfragen belegt in seinem nun von der Bundesregierung vorgelegten Sondergutachten, daß die Einrichtung einer ökologischen Umweltbeobachtung eine unverzichtbare Grundlage für die Umwelt- und Naturschutzpolitik ist. Dies bestätigt unsere bisherigen Vorarbeiten an diesem neuen Datensystem. Die Sachverständigen heben hervor, daß sektorale Umweltbeobachtungen auch nach weiterem Ausbau, verbesserter Koordination und Abstimmung den Anforderungen einer ganzheitlichen Umweltpolitik nicht genügen. Vielmehr soll die ökologische Umweltbeobachtung integriert, also mit einem neuen konzeptionellen, umfassenden Ansatz durchgeführt werden. Die Umwelt muß als Einheit begriffen werden. Das heißt, die abiotischen und Biotischen Einflußgrößen sowie die Reaktionen des beobachteten Systems müssen erfaßt sein, und die Umwelt muß durch repräsentative Standorte modellhaft abgebildet und an den Standorten sektorübergreifend beobachtet werden.Was bleibt uns, meine Damen und Herren, nun zu tun?Erstens. Die bestehenden Umweltbeobachtungssysteme des Bundes und der Länder müssen zusammengeführt und aufeinander abgestimmt werden. Ohne die Länder geht es nicht. Deshalb werden wir mit den Bundesländern intensiv zusammenarbeiten, damit noch in diesem Jahr die Voraussetzungen für die Einführung eines bundesweiten Öko-Monitoring geschaffen werden können. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn alle Fraktionen des Deutschen Bundestages den Umweltminister dabei unterstützen könnten.Zweitens. Der Dauerbetrieb der Umweltprobenbank des Bundes ist aufgenommen worden. Die bundesweite Ausdehnung wird derzeit vorbereitet. Damit steht ein Archiv von repräsentativen Umwelt- und Humanproben für retrospektive Analysen bereit, um Stoffe neu zu bewerten, die zum Zeitpunkt ihrer Einwirkung noch nicht bekannt oder nicht analysierbar waren oder nicht für bedeutsam gehalten wurden. Die Umweltprobenbank hat sich, wie die Sachverständigen in ihrem Sondergutachten bestätigen, bewährt. Sie wird ein wichtiger Baustein einer ökologischen Umweltbeobachtung sein.Drittens. Das Öko-Monitoring muß von vornherein auch international angelegt sein. Anläßlich der UN- Konferenz „Umwelt und Entwicklung" wird sich die Bundesregierung deshalb nachdrücklich für ein international koordiniertes Konzept einer ökologischen Umweltbeobachtung einsetzen. In Europa haben wir erste grenzüberschreitende Ansätze geschaffen,
und zwar für die Ökosysteme Wattenmeer — sehr richtig — und Alpen. Der Ausbau dieses Öko-Monitoring ist uns ein großes Anliegen.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Lennartz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Staatssekretär, ich möchte Ihnen erst einmal einen Glückwunsch zu Ihrem neuen Amte aussprechen.
Ich darf Ihnen eine glückliche Hand — es wäre hier besser zu formulieren: eine ökologisch glückliche Hand — wünschen und will Ihnen für meine Fraktion eine gute Zusammenarbeit im Interesse der Lösung der Probleme anbieten, die es zu bewältigen gilt. In diesem Sinne von dieser Stelle aus ein herzliches Glückauf!
— Das zeigt, daß wir unvoreingenommen an Personen und Sachen herangehen, sie analysieren und uns dann ein Urteil erlauben. Daran, daß wir nicht voreingenommen sind, sehen Sie den guten Einstieg.
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5964 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992
Klaus Lennartz— Das dürfen Sie. Das gesprochene Wort wird bei mir auch in die Tat umgesetzt; das wissen Sie ja.Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Sachverständigenrat für Umweltfragen hat festgestellt, daß wir in der Bundesrepublik zur Zeit den Zustand unserer Umwelt weitgehend nur sektoral betrachten, so wie es eben auch von Ihnen vorgetragen wurde. Umweltdaten werden an vielen verschiedenen Stellen mit unterschiedlichen Methoden gewonnen und mit unterschiedlicher Systematik in vielen verschiedenen, nicht miteinander verknüpfbaren Datenbanken gesammelt und — wie sollte es auch anders sein? — nur sektoral ausgewertet. Es gibt kein Erfassungssystem, das die Umwelt als Ganzes, als kompliziertes Wirkungsgeflecht behandelt. Es gibt keine allgemeinverbindliche und anerkannte ökologische Systematik für das Erheben, Verknüpfen und Auswerten von Umweltdaten. Die Analysetechnik hat sich in den letzten Jahren so rasant fortentwickelt, daß wir immer feiner und genauer messen und unterscheiden können und so natürlich auch über eine größere Anzahl von Umweltdaten verfügen, als es bisher jemals der Fall war.Was nützt uns jedoch das ganze Messen und Zusammenfassen beispielsweise von Einleitungsdaten, wenn die Ergebnisse nicht zusammenfassend aufbereitet werden können, weil weder ökologische Bewertungsverfahren noch eine einheitliche Verknüpfungstechnik für verschiedene Daten existieren?Hinzu kommt, meine Damen und Herren: Schadstoffe machen vor Länder- und Staatsgrenzen nicht halt. Deshalb darf die zur Zeit in den Ländern angesiedelte Umweltbeobachtung nicht dazu führen, daß länderübergreifende Schadstoffeinzuggebiete getrennt beobachtet und ausgewertet werden. Wenn in den Datensammlungen zu Luftschadstoffen keine Verbindung zu Bio-Monitoring und Nahrungsmittelanalysen hergestellt wird, dann ist dies nicht richtig. Wenn bei Trinkwasserdaten die allgemeinen Qualitätskontrollen nicht nur unterschiedlich, sondern auch unzureichend sind, dann ist dies nicht richtig. Wenn ein Bodeninformationssystem erst in kleinen Ansätzen erkennbar ist, dann, meine Damen und Herren, haben wir mehr als Handlungsbedarf. Was wir brauchen, ist ein integriertes, flächendeckendes Umweltbeobachtungssystem.Die Umweltbeobachtung muß in einem Institut zusammengefaßt werden. Die föderale Struktur der Umweltbeobachtungen darf diesem Ziel nicht weiter im Wege stehen. Vielmehr müssen wir die unterschiedlichen Beobachtungsebenen — von der lokalen über die regionale, die nationale und die übernationale bis zur globalen Ebene — miteinander verknüpfen und die Datenerfassung der verschiedenen Ebenen untereinander abstimmen.Das vom Sachverständigenrat vorgeschlagene Modell einer vertraglichen Kooperation zwischen dem Bund und den Ländern ist richtig und wichtig, um die Umweltbeobachtung weiter zusammenzuführen. Wir meinen, Herr Staatssekretär, daß auf lange Sicht auch gesetzliche Grundlagen für die ökologische Umweltbeobachtung geschaffen werden sollten, damit bestehende Rechtsunsicherheiten beseitigt und Lücken in behördlichen Befugnissen geschlossen werden können. Das Ziel sollte ein allgemeines Umweltinformationssystem, miteinander harmonisierte verschiedene Datenbanken und auch Teilsysteme, sein. Es wird wohl so sein, daß hierzu eine ständige Institution erforderlich ist. Das gilt erst recht, wenn die so vernetzte Umweltbeobachtung auf die europäische Ebene übertragen werden soll, z. B. in Form einer zukünftigen europäischen Umweltagentur.Herr Staatssekretär, dann wird auch Streit darüber entstehen, wo diese Umweltagentur ihren Sitz haben wird. Wenn man die Entwicklung auf der europäischen Ebene verfolgt, dann darf der Streit über den Sitz nicht dazu führen, daß darüber Zeit verlorengeht, die wir für ein derartiges integriertes Netz für Europa insgesamt brauchen. Wir sollten aber darauf achten — das sage ich ganz bewußt auf Grund der federführenden Rolle, die wir spielen —, daß der Sitz dieser Umweltagentur nach Möglichkeit in Deutschland sein soll. Wissen Sie, wie am Klang meiner Sprache unschwer erkennbar, hätte ich natürlich nichts dagegen, wenn sie in der Region Köln/Bonn ihren Sitz nähme. Ich nehme an, da werden wir uns auch treffen.Wenn wir das System Umwelt, wie ich es gerade dargestellt habe, auch im europäischen Maßstab als ein Ganzes begreifen, werden wir um eine solche Vernetzung nicht herumkommen und gleichzeitig auch ein Interesse daran haben, daß die Staaten Osteuropas auf längere Sicht in das europäische System der Umweltbeobachtung integriert werden.Nun ist das Umwelt-Monitoring ja nicht als Selbstzweck gedacht, sondern es ist nötig, damit wir bessere, klarere Informationen über den Zustand unserer Umwelt erhalten. Dies macht jedoch nur dann Sinn, wenn die politische Ebene bereit ist, die gewonnenen Erkenntnisse auch zu verwerten. Ob unsere preußische Kabinettsordnung dazu weiter in der Lage sein wird, wage ich zu bezweifeln. Ich denke z. B. an ein Umweltkabinett, welches auch wirklich den Namen verdient. Vernetztes Denken sollte nicht nur bei der Umwelt anfangen, sondern sich auch im Kabinett fortsetzen, um den Problemen begegnen und auch handeln zu können.Herr Staatssekretär, was nützt die beste und breiteste Information, was nützen Erkenntnisse, wenn sich beispielsweise der Bundesumweltminister und der Bundesverkehrsminister beim Tempolimit, das ja auch zu einer Reduzierung der Luftschadstoffe führen würde, gegenseitig Abstinenz in bezug auf politisches Handeln verordnen? Aber Sie haben nachher die Möglichkeit, mich hier Lügen zu strafen, indem Sie ein koordiniertes Handeln befürworten und sich für ein Tempolimit aussprechen.Was nützt ein ausgefeiltes Umwelt-Monitoring im Waldschadensbericht, wenn der Landwirtschaftsminister das Sterben unserer Wälder wie ein unabwendbares Schicksal hinnimmt? Was nützt die erschrekkende Erkenntnis, daß das Trinkwasser in weiten Teilen Ostdeutschlands lebensgefährlich ist, wenn das Bundesgesundheitsministerium diese Tatsache wider besseres Wissen bestreitet und bis zum heutigen Tage nicht einmal bereit ist, diese Daten überhaupt bekanntzugeben?
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5965
Klaus LennartzWir hoffen dennoch, daß die Voraussetzungen für eine Koordination zwischen Bund und Ländern bei der Umweltbeobachtung noch in diesem Jahr geschaffen werden. Herr Staatssekretär, meine eingangs gewählte Formulierung, daß wir Sie unterstützen, gilt auch hierfür. Wir werden Sie unterstützen, um zu erreichen, daß eine solche Koordination auf BundLänder-Ebene durchgeführt wird. Nur, es liegt auch an Ihnen, den entsprechenden Anstoß zu geben, daß wir 1992 wirklich zu einem Ergebnis kommen. Sie werden Verständnis dafür haben, daß wir kontrollieren werden, ob das, was Sie heute als Staatssekretär gesagt haben — anders als bei dem, was Sie vormals als Parlamentarier gesagt haben —, auch wirklich in die Tat umgesetzt wird.Wir rechnen — das sage ich ganz offen — nicht damit, Herr Staatssekretär, daß die Bundesregierung im Jahre 1992 zu einer ausgewogenen ökologischen Betrachtung unserer Welt kommt und so endlich die Maßnahmen zur Erhaltung unserer natürlichen Lebensgrundlagen ergreifen könnte. Ich wäre froh, wenn Sie diese meine Worte angenehm enttäuschen würden und das Gegenteil bis zum 31. Dezember 1992 auf den Tisch des Hauses legen könnten.In diesem Sinne bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nunmehr Herr Dr. Schmidt .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen empfiehlt am Schluß seines Sondergutachtens eine schrittweise Ausdehnung der vorgeschlagenen Aktivitäten auf das Gebiet der ehemaligen DDR. Da ich überzeugt bin, daß auch und vor allem im Bereich des Umweltschutzes die Vollendung der deutschen Einheit die Gegenwartsaufgabe schlechthin ist, erlauben Sie mir, zum Problemkreis der ökologischen Umweltbeobachtung aus der Sicht der östlichen Bundesländer kurz Stellung zu nehmen.Es war eines der herausragenden Ziele der friedlichen Revolution des Herbstes 1989, die Lebensqualität der Bevölkerung entscheidend zu verbessern. Dies bedeutet, wirtschaftlichen Aufschwung und ökologische Sanierung gleichzeitig in unmittelbarer, sachlicher Verflechtung in die Tat umzusetzen. Eine wichtige Voraussetzung dafür sind zuverlässige Informationen über den derzeitigen Stand der Umwelt. Das heißt: Eine wichtige Voraussetzung ist eine gezielte ökologische Umweltbeobachtung, die im Prinzip alle Umweltmedien wie Luft, Wasser, Boden, Pflanzen- und Tierwelt einschließt und das System Umwelt als Ganzes erfaßt und begreift. Es überrascht nicht, wenn ich feststelle, daß auf diesem Gebiet ein bedeutender Nachholbedarf besteht, wobei die integrierende Umweltbeobachtung bisher vollständig fehlte. Aber auch auf sektoralem Gebiet gilt es, vieles aufzuholen.Besonders der Beobachtung der Oberflächengewässer und des Grundwassers gebührt im Hinblickauf die Nutzung als Trinkwasser größte Aufmerksamkeit. Dabei ist es z. B. unbedingt notwendig, die Palette der zu untersuchenden Parameter — im Moment Nitratgehalt und pH-Wert — auf toxikologisch gefährliche organische Verbindungen, z. B. Halogenkohlenwasserstoffe und Pestizide, und vor allem auf Schwermetalle auszudehnen. Dies gilt im Prinzip auch für Bodenbeobachtungen, vor allem im Hinblick auf vermutete und bekannte Altlasten.In den Ländern muß insbesondere ein System aufgebaut werden, das diese Aktivitäten sinnvoll koordiniert. In den östlichen Bundesländern besteht die große Chance, sektorale und integrierende Umweltbeobachtungen in direkter, sachbezogener Verknüpfung zu installieren. Ich glaube, diese Chance birgt große und bisher nirgendwo erprobte Möglichkeiten in sich.Erste gute Ansätze sind auf sektoralem Gebiet aber schon vorhanden: Ich selbst war 1990 verantwortlich beteiligt an der Einrichtung des ersten großflächigen Immissionsmeßnetzes in Sachsen, das in der Region Freiberg auf einer Fläche von 180 km2 im Einkilometerraster angelegt wurde und das zur Grundlastermittlung in einem vor allem schwermetallbelasteten Gebiet dient. Dabei stehen Cadmium und Blei als Parameter von Schweb- und Sedimentationsstaubmessungen im Mittelpunkt. Das Programm wird durch SO2-Messungen ergänzt.Nach 18 Monaten Untersuchungsdauer — das Programm ist auf drei Jahre angelegt — lassen sich im Hinblick auf die Umweltbeobachtung in den östlichen Bundesländern einige grundsätzliche Schlußfolgerungen bereits ziehen. Zuerst sei die erfreuliche, aber für uns eigentlich nicht überraschende Feststellung genannt, daß hinsichtlich der sachlich-fachlichen Kompetenz bei der Durchführung der Messungen und der Auswertung und Interpretation der Meßergebnisse sowie hinsichtlich der Zuverlässigkeit und der Einstellung der mit dem Meßprogramm beauftragten Mitarbeiter keinerlei Defizite im Hinblick auf westlichen Standard existieren.Zweitens. Es ist aber notwendig, die apparativen Ausrüstungen erheblich zu verbessern. Dies wird durch entsprechende Investitionen möglich und nötig sein. Ich möchte in diesem Zusammenhang die sehr hilfreiche apparative Unterstützung hervorheben, die die westlichen Bundesländer — auch im Falle des von mir genannten Immissionsmeßprogramms — bisher geleistet haben.Die dritte Schlußfolgerung betrifft ein Kernproblem aller Umweltaktivitäten: die Akzeptanz der Ergebnisse in der Bevölkerung. Wir stellen fest, daß negative Ergebnisse sofort akzeptiert werden. Dort, wo die Ergebnisse besser sind als befürchtet, z. B. in dem genannten Immissionsmeßprogramm, müssen wir zur Kenntnis nehmen, daß die Ergebnisse nicht angenommen werden.Diese Reaktion ist angesichts der eigenen Vergangenheit, in der ausschließlich Umweltschönfärberei mit verantwortungsloser Bagatellisierung der Gefahrenmomente betrieben wurde, sicher sehr verständlich. Aber für die Verbesserung der Umweltbedingungen ist die konstruktive Mitwirkung der Bevölkerung
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5966 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
unabdingbar. Die wichtigste Aufgabe besteht jetzt darin, ein Vertrauen zu begründen, das die Annahme der ermittelten Umweltinformationen zuläßt.Es müssen deshalb alle Anstrengungen auf eine fachlich überzeugende, seriöse, faire, durchschaubare und nachvollziehbare Informationspolitik gerichtet werden. Nur durch verantwortungsbewußtes Vorgehen aller, insbesondere der Medien, wird es gelingen, das ausgeprägte Mißtrauen abzubauen. Nur dann werden ökologische Sanierung und Aufschwung gleichzeitig erfolgreich bewältigt werden können. Wir alle sind aufgefordert, dabei mitzuwirken.Herzlichen Dank.
Ich erteile dem Abgeordneten Professor Dr. Starnick das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wurde bereits gesagt: Uns liegt ein Sondergutachten zur ökologischen Umweltbeobachtung des Rates der Sachverständigen für Umweltfragen zur Beratung vor. Ich freue mich, daß ich von vornherein sagen kann, daß ich mich mit allen meinen Vorrednern inhaltlich in einem Boot befinde; insbesondere mit dem Herrn Staatssekretär,
dem ich natürlich recht herzlich zu seiner neuen Würde — zugleich Bürde; ich kenne diese Bürde aus eigener Erfahrung, die sehr oft darin besteht, daß man im Umweltschutz nie genug tut — gratulieren möchte. Ich hoffe, daß die Zusammenarbeit genauso eng und vertrauensvoll weitergeführt wird, wie das bisher der Fall gewesen ist.Das Ziel, das von den Sondergutachtern vorgetragen und beschrieben wird, ist unter uns wohl unbestritten. Deshalb möchte ich auf das eingehen, wo mir beim Lesen bzw. beim vertieften Studium des Gutachtens mehr und mehr Fragen gekommen sind. Die Gutachter schlagen vor, eine integrierende, die verschiedenen Umweltmedien Luft, Wasser, Böden, Pflanzen- und Tierwelt zusammenfassende Umweltbeobachtung einzurichten und hierfür eine dies tragende neue Institution zu schaffen. Diese Institution könne Informationen aus verschiedenen Meßnetzen und Langzeituntersuchungen zusammenführen und ein Netz repräsentativer Flächen für die Beobachtung der Veränderung der wichtigsten Ökosystemparameter aufbauen und die Umweltprobenbank ausbauen.Der Sachverständigenrat hält es für erforderlich, eine ständige Institution einzurichten, die sich ausschließlich mit diesen Aufgaben beschäftigt. Sie soll Verfahren entwickeln, mit deren Hilfe Daten systematisch erfaßt werden, um sie für Umweltinformationen auszuwerten und abrufen zu können. Letztendlich soll eine gesetzliche Grundlage für die Durchführung der ökologischen Umweltbeobachtung geschaffen werden, weil man der Meinung ist, daß — wie auch Herr Lennartz schon ausgeführt hat — die Rechtsunsicherheit zu groß und die behördlichen Befugnisse zu lückenhaft sind.Die Sachverständigen weisen im Gutachten zwar darauf hin, daß in der Länderverantwortung sektoral zum Teil recht intensiv einzelne Umweltmedien beobachtet werden — das kann ich aus eigener Erfahrung nur bestätigen, das gilt insbesondere für Emissionen —, sie bemängeln jedoch und das auch zu Recht, daß dabei nur unzureichend die Umwelt als System begriffen wird und die biotischen und abiotischen Einflußgrößen nicht hinreichend mit Veränderungen von Ökosystemen korreliert werden. Diese Kritik ist im Grundsatz berechtigt. Wir sollten uns deshalb anstrengen, das, was von den Gutachtern inhaltlich vorgeschlagen wird, zu realisieren.Um der Komplexität von Ökosystemen gerecht zu werden, brauchen wir auch eine stärkere Verknüpfung der sektoralen Umweltbeobachtungen auf einer höheren Ebene, als die Länder sie schaffen können. Es erhebt sich aber die Frage, ob die nationale Ebene schon übergreifend genug ist, um wesentlich mehr als die Länder leisten zu können. Wenn sich die Wirkungszusammenhänge, die man mit einer solchen Beobachtungsstrategie erfassen möchte, nicht mehr punktuell und in abgegrenzten Testgebieten beobachten lassen, sind sie in der Regel raumübergreifender als unsere nationalstaatlichen Grenzen.Um zwei Beispiele zu geben: Weder das Wattenmeer als Küstenökosystem noch die Hochgebirgsökosysteme machen vor diesen Grenzen halt. Ich bin deshalb der Meinung, daß wir von vornherein eine europäische Konzeption für eine integrierte Umweltbeobachtung anstreben sollten.Die zweite Frage, die sich in diesem Zusammenhang sogleich erhebt, lautet: Warum sieht das Gutachtergremium die Notwendigkeit, eine eigenständige Institution einzurichten, die sich ausschließlich mit dieser Aufgabe beschäftigen soll, obwohl ganze Aufgabenbereiche, die in dem Gutachten beschrieben werden, bereits vom Umweltbundesamt abgedeckt sind? Dort existiert z. B. schon eine funktionierende Struktur eines Umweltinformationssystems. Auch die regelmäßige Umweltberichterstattung wird vom Umweltbundesamt hinreichend geleistet. Ich persönlich habe keine Zweifel daran, daß das Umweltbundesamt mit einer Zusatzausstattung, die weit weniger kosten dürfte als das, was der Bund bei der Schaffung einer neuen Institution aufzuwenden hätte, die Aufgaben einer integrierten Umweltbeobachtung aus der Kompetenz des Bundes heraus leisten könnte.Die dritte Frage, die sich erhebt, lautet: Brauchen wir zusätzliche gesetzliche Grundlagen, gar ein eigenes Gesetz, um die angestrebte ökologische Umweltbeobachtung durchführen zu können? Das Problem besteht doch in erster Linie darin, daß die Ökosystemforschung noch gar nicht all diejenigen standardisierten Methoden zur Verfügung gestellt hat, die unerläßlich sind, um lokal und sektoral vorgenommene Umweltbeobachtungen miteinander vergleichen zu können. Ebenso fehlen die Konventionen zur Datenhandhabung, mit denen man diese Beobachtungen beschreibt.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5967
Dr. Jürgen StarnickUm solche Vergleichbarkeiten herzustellen, muß man aber nicht gleich die dicke Keule eines Gesetzes zur Hand nehmen, sondern kann sich anderer Möglichkeiten bedienen. Ein Beispiel dafür ist in unserem Nachbarland Schweiz gegeben. Auch der Bund könnte — wie dort — eine Kommission einrichten, in der die Länder, die Wissenschaft und er selbst vertreten sind und die sich des Problems der Standardisierung von integrierten Umweltbeobachtungen annimmt. Erst wenn sich herausstellen sollte, daß eine solche Kommission für die Vereinheitlichung der Standards für die Umweltbeobachtungen wegen allzu konkurrierender Länderzuständigkeiten nicht mehr wirken kann, wäre ein Gesetz gerechtfertigt.Meine Damen und Herren, ich will mich in der Ausschußberatung gern von gegenteiligen Argumenten überzeugen lassen. Mein erster Eindruck von dieser Debatte ist jedoch, daß wir in unserer Einschätzung des hier vorliegenden Berichts gar nicht so weit auseinanderliegen. Ich freue mich auf die Diskussion.Recht herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Damit diese angekündigte Debatte im Ausschuß stattfinden kann, bitte ich das Haus, der Überweisung an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuzustimmen. — Das Haus ist damit einverstanden. Dann darf ich das als beschlossen feststellen.
Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung an den Deutschen Bundestag über die Auswirkungen der 5. Novelle zum Wasserhaushaltsgesetz auf die Gewässer
— Drucksachen 11/7327, 12/1700 —
Berichterstatttung:
Abgeordnete Dr. Norbert Rieder Marion Caspers-Merk
Uwe Lühr
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der SPD-Fraktion vor.
Der Ältestenrat schlägt Ihnen hier ebenfalls eine Debattenzeit von einer halben Stunde vor. — Das Haus ist damit einverstanden. Ich kann also die Debatte eröffnen und dem Abgeordneten Professor Dr. Rieder das Wort erteilen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor etwa fünf Jahren hat der Deutsche Bundestag die 5. Novellierung des Wasserhaushaltsgesetzes verabschiedet. Damals war die Bundesregierung aufgefordert worden, über die Auswirkung dieser Novellierung bis Ende 1989 zu berichten. Heute haben wir nun über diese Novellierung und die damit gemachten Erfahrungen zu beraten.Dabei stehen drei Fragenkomplexe im Vordergrund: Erstens. Was hat man sich von der damaligenNovellierung erwartet, und wie hat man die angestrebten Ziele zu erreichen versucht? Zweitens. Inwieweit wurden diese Erwartungen erfüllt? Drittens. Welche Forderungen bzw. Änderungen sind aus heutiger Sicht zusätzlich erforderlich?Zwei wichtige Neuerungen standen bei der 5. Novellierung im Vordergrund. Der erste — so möchte ich sagen — Glanzpunkt des Gesetzes war die Hervorhebung der Belange der Gewässerökologie, um deutlich zu machen, daß die Gewässernutzung nicht das alleinige Ziel eines modernen Wasserhaushaltsgesetzes sein kann — ein ungemein wichtiger Aspekt für ein dichtbesiedeltes Industrieland, in dem beide Aspekte, Nutzung und naturnahe Erhaltung, gleichberechtigt nebeneinander stehen müssen.Der zweite wichtige Aspekt war die Einführung des „Standes der Technik" statt der „allgemein anerkannten Regeln der Technik" bei der Vermeidung von Einleitungen gefährlicher Stoffe, also solcher Stoffe, bei denen die Besorgnis einer Giftigkeit, Langlebigkeit, Anreicherungsfähigkeit oder einer krebserzeugenden, fruchtschädigenden oder erbgutverändernden Wirkung gegeben ist. Diese Forderung hat nicht nur zu einem technischen Innovationsschub bei der Entwicklung neuer Vermeidungsmethoden, sondern — durch den Einsatz und die Erprobung dieser neuen Techniken — gleichzeitig auch zu einer schnellen, weitgehenden Anpassung der „allgemein anerkannten Regeln der Technik" an den „Stand der Technik" geführt. Deshalb stehen heute hervorragend ausgereifte Techniken zur Verfügung, und es kommen immer neue, preisgünstige, teilweise überraschende und vor allen Dingen noch umweltfreundlichere Lösungen dazu.Als besonders spektakuläres und dennoch weitgehend unbekanntes Beispiel für solch überraschende Entwicklungen mag die Phosphateliminierung in Kläranlagen dienen. Noch vor einem Jahr war unter Fachleuten sehr umstritten, ob die theoretische Möglichkeit, in der biologischen Stufe einer Kläranlage die nach dem Nord-/Ostseeprogramm geforderten Grenzwerte sowohl für Nitrat als auch für Phosphat zu erreichen, in der Praxis zu verwirklichen sei. Inzwischen zeigt das Beispiel der Kläranlage in Berlin, wozu Kollege Starnick sicherlich etwas sagen kann — jetzt ist er verschwunden; wenn man ihn bzw. seine Stadt einmal lobt, dann ist er nicht da
— ja, das kriegt er auch so mit —, daß die soeben genannten Grenzwerte allein mit der biologischen Stufe, also ohne die dritte, chemische Stufe, locker erfüllt werden können. Eine zweite Anlage in einer anderen deutschen Großstadt ist derzeit in der Optimierungsphase und wird diese Werte wohl ebenfalls rein biologisch einhalten können. Allerdings geht das bisher — das ist leider Gottes der Wermutstropfen — nur bei sehr großen Anlagen mit einem sehr gleichmäßigen Klärgutaufkommen. Aber immerhin steht damit ein Verfahren zur Verfügung, daß äußerst kostengünstig ist und — ohne die Probleme bei der chemischen Fällung — sehr harte Grenzwerte erfüllt.
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5968 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992
Dr. Norbert RiederDa das Wasserhaushaltsgesetz ein Rahmengesetz des Bundes ist, ist nicht verwunderlich, daß die Umsetzung durch die notwendigen länderspezifischen Regelungen und die danach folgenden praktischen Anwendungen noch keineswegs vollständig vollzogen ist. Das gilt für die alten Bundesländer, noch mehr natürlich für die neuen Bundesländer, bei denen die Umsetzung allenfalls ansatzweise zu erkennen ist — und das bei einem beachtlichen Nachholbedarf.Die Gesamterfahrungen sind also noch begrenzt. Die vollständige Umsetzung in den Ländern wird sicherlich noch bis zum Ende dieses Jahrzehntes dauern. Insgesamt läßt sich aber jetzt schon sagen, daß sich dieses Gesetz hervorragend bewährt und wesentliche Fortschritte gebracht hat.Es lassen sich aber auch jetzt schon verschiedene Bereiche erkennen, in denen Veränderungen bzw. Verbesserungen der bisherigen Regelungen eingefordert werden müssen. Diese Forderungen liegen Ihnen als Beschlußempfehlung vor. Ich will auf die wichtigsten dieser Forderungen etwas näher eingehen, ebenso auf einen Punkt, in dem der Ihnen ebenfalls vorliegende Antrag der SPD, der in wesentlichen Teilen deckungsgleich mit der Beschlußempfehlung des Ausschusses ist, von dieser Beschlußempfehlung abweicht.Nach dieser Beschlußempfehlung sollte die Bundesregierung z. B. die Anforderungen für die Abwasserreinigung nach dem Stand der Technik für verschiedene gefährliche Stoffe, die etwa — und ich bringe jetzt ganz bewußt eine zufällige Auswahl, die nichts mit einer Prioritätenliste zu tun hat — in der chemischen Industrie, bei der Herstellung von Leder oder Pelzen oder auch in Arztpraxen und vielen anderen Bereichen anfallen, nach einer zu erstellenden Prioritätenliste schnellstmöglich festlegen.Bei den übrigen Einleitungen, also bei den Einleitungen nicht gefährlicher Stoffe, muß derzeit noch auf die generelle Einführung des Standes der Technik — und da sind wir mit der SPD nicht im Konsens — verzichtet werden.
Selbstverständlich liegt auch uns daran, daß auch in diesem Bereich modernste Technik eingesetzt wird. Dennoch sollten wir derzeit auf eine gesetzliche Festlegung verzichten. Ich möchte das etwas genauer begründen.Der erste Grund — wohl der gravierendste — ist der, daß wir im Nord-/Ostseeprogramm schon sehr harte Grenzwerte für Kläranlagen festgelegt haben, Grenzwerte, die so hart sind, daß viele Fachleute in der Vergangenheit und auch heute noch sie für überzogen halten.
— Das ist so. Reden wir gemeinsam mit den entsprechenden Fachleuten! Kommen Sie mal mit!
Hätten wir diese Grenzwerte nun mit der Forderung nach dem „Stand der Technik" gekoppelt, wären zwangsläufig nur dritte chemische Stufen mit all ihren Nachteilen in Frage gekommen und wäre die in jederHinsicht überlegene biologische Lösung, die ich vorhin erwähnt habe, nicht zum Zuge gekommen. Andersherum: Die geforderten Grenzwerte haben das Endergebnis, das die SPD erreichen möchte, auf marktwirtschaftliche Art und Weise zum großen Teil, nämlich für Phosphate und Nitrate, vorweggenommen.Den Rest — so denke zumindest ich — bekommen wir über unsere gemeinsame Forderung nach der Förderung der natürlichen Entwicklung der Gewässer und der Schaffung von naturnahen Gewässerrandstreifen in den Griff, da dadurch die Selbstreinigungskraft der Gewässer so weit angehoben werden kann, daß weitere Maßnahmen in der Regel nicht nötig sein werden.Sollten aber — und das sage ich in aller Deutlichkeit —
die soeben genannten Forderungen nicht erfüllt werden, dann müßten wir in der Tat mit weiteren teueren technischen Maßnahmen arbeiten.
Daß entsprechend naturnah entwickelte Gewässer außerdem für das Gesamtökosystem und für die Erholungsvorsorge eine große Rolle spielen, sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt.Der letzte Grund, den ich anführen möchte, ist die Situation in den neuen Bundesländern. Hier sind der Nachholbedarf und der entsprechende Kapitalbedarf im technischen Bereich der Kläranlagen so hoch, daß mit einer Umsetzung entsprechend verschärfter Vorschriften frühestens in zehn Jahren begonnen werden könnte. Aber auch in vielen Kommunen und Landkreisen bzw. Abwasserzweckverbänden der alten Bundesländer, besonders in den Ländern, in denen die SPD an der Regierung beteiligt ist,
sind wir noch weit entfernt von der Umsetzung der jetzt schon geltenden Regelungen. Wir sollten deshalb nicht den zweiten Schritt vor dem ersten tun,
sondern erst das durchsetzen, was bereits beschlossen ist. Ich würde sagen: Wiedervorlage in fünf Jahren! Dann wissen wir mehr und haben keinerlei Zeit verloren.
Im übrigen glaube ich, daß die inhaltlichen Unterschiede zwischen der vom Ausschuß vorgeschlagenen Beschlußempfehlung und dem Antrag der SPD so gering sind,
daß alle hier Anwesenden dem Ausschußantrag zustimmen können, ohne sich etwas zu vergeben. Dazu fordere ich Sie hiermit auf.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5969
Dr. Norbert RiederVielen Dank.
Das Wort hat nun die Abgeordnete Frau Caspers-Merk.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Rieder hat schon festgehalten, daß wir im Umweltausschuß bereits über diesen Bericht der Bundesregierung debattiert haben. Oft ist auf Grund der drangvollen Tagesordnung solch eine Beratung eine reine Routineangelegenheit. Solche Berichte werden von der Regierungskoalition zustimmend, von der Opposition meist kopfschüttelnd zur Kenntnis genommen. In diesem speziellen Fall hat sich die SPD-Bundestagsfraktion aber angesichts der Bedeutung des Themas entschlossen, den Kopf nicht nur zu schütteln, sondern ihn sich auch zu zerbrechen und eine Initiative zur Novellierung des WHG zu starten. Es war nämlich unsere Initiative, etwas dazu vorzulegen. Wir wollen nicht länger warten, bis ein schleppend arbeitendes Umweltministerium irgendwann einmal die Schwachstellen erkennt und mit großer Verzögerung einen Gesetzentwurf vorlegt. Es genügt eben nicht, nur mal eben durch den Rhein zu schwimmen, sondern man muß auch etwas tun.
Deshalb haben wir die Vorlage des Berichts zum Anlaß genommen, eigene Eckpunkte für eine Novellierung des Wasserhaushaltsgesetzes einzubringen. Das grundsätzliche Anliegen unserer Initiative wurde vom Ausschuß aufgegriffen. Heute liegt dem Bundestag eine Beschlußempfehlung vor, die immerhin noch in Teilbereichen des Forderungskatalogs unsere Handschrift trägt, in weiten anderen Bereichen aber von Ihnen verwässert wurde. Unsere Forderungen gingen in zentralen Bereichen deutlich weiter:Wir forderten den Stand der Technik für die Abwasserreinigung auch in bezug auf Nährstoffe.Wir forderten die bundeseinheitliche Festlegung von Fristen für die Umsetzung der Mindestanforderungen für Direkt- und Indirekteinleiter nach § 7 a des Wasserhaushaltsgesetzes.Wir forderten endlich die Umsetzung der vielen EG-Richtlinien, die nach wie vor nicht umgesetzt worden sind.
Gerade im Bereich der Wasserpolitik ist nämlich die Bundesregierung nicht der Musterknabe, für den sie sich immer ausgibt, sondern sie mußte sich schon verschiedene Male vom Europäischen Gerichtshof bestätigen lassen, daß sie die Hausaufgaben nicht gemacht und eben das Klassenziel in der Wasserpolitik nicht erreicht hat.
Wir fordern eine Klarstellung, daß als Benutzung des Grundwassers auch landwirtschaftliche Maßnahmen gelten, die zu einer Schädigung des Wassers beitragen können.Diese Eckpunkte unseres Beschlußvorschlages sind für uns aber erst der Auftakt zu einer breiten Diskussion über die Wasserpolitik der Bundesregierung. Darüber hinaus sollte im Rahmen der Neufassung des Wasserhaushaltsgesetzes auch einmal ganz grundsätzlich über die Art und Weise unserer Umweltgesetzgebung nachgedacht werden.Das WHG steht noch ganz in der verstaubten Tradition der preußischen Wassergesetzgebung, wo man alle Materien ausschied, „welche nicht unmittelbar das Element des Wassers zum Gegenstande haben", wie es im Vorwort von „Wasserrecht im preußischen Staat" von 1866 heißt.
— Nichts geändert, sehr richtig.Genau wie sein preußischer Vorgänger handelt das WHG in den allermeisten Paragraphen noch davon, wie das Eigentum im und am Gewässer zu handhaben ist. Dagegen stehen aber mittlerweile ganz andere Probleme, beispielsweise — ich nenne nur drei Beispiele — die Versauerung der quellnahen Bäche und der oberflächennahen Grundwasservorkommen, zweitens die möglicherweise schwerwiegenden Veränderungen im Abflußsystem unserer Flüsse im Gefolge des Treibhauseffektes, drittens das allgegenwärtige Eindringen von Luftschadstoffen in unsere Grundwasserressourcen — dies kann man sehr gut beim Thema Pflanzenbehandlungsmittel nachlesen.Heute ist eine medienübergreifende Betrachtungsweise gefragt. So finden sich Regelungen, die die Wasserqualität direkt betreffen, auch im Bundes-Immissionsschutzgesetz und im Abfallgesetz. Auch die diskutierte Düngemittelanwendungsverordnung, das Pflanzenschutzgesetz, das Chemikaliengesetz und das Waschmittelgesetz betreffen die Wasserqualität unmittelbar. Wir haben hier also eine Fülle von Gesetzen und Verordnungen, die endlich einmal in einem Umweltgesetzbuch zusammengefaßt werden sollten. Dieses Umweltgesetzbuch ist von der Regierung, wie so oft, angekündigt, aber bislang leider nicht umgesetzt worden.Vieles, was wir bislang haben, ist doppelt oder dreifach geregelt und dann auch noch unterschiedlich. Betroffene Industriebetriebe können hiervon ein Lied singen. So kann es durchaus passieren, daß ein Betrieb nach Anhang 40 der Wasserverwaltungsvorschriften zum WHG zu Vermeidungs- oder Verwertungsmaßnahmen verpflichtet wird, nach erfolgreichem Abschluß dieser Maßnahmen von der zuständigen Abfallbehörde gebeten wird, seinen Betrieb noch einmal umzustellen, diesmal entsprechend der Verwaltungsvorschrift zum Abfallgesetz. Doppelter Aufwand, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, für separate Verwaltungsvorschriften. Dabei sind die Entstehung von Abwasser einerseits und Abfall andererseits nur zwei Seiten derselben Medaille. Das ist keine moderne Umweltpolitik, sondern bürokratischer Aufwand ohne Ertrag.
Manches ist aber bislang überhaupt nicht geregelt worden. Das betrifft vor allen Dingen die Schnittstellen zwischen den einzelnen Gesetzen. Das fällt oft
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Marion Caspers-Merkdurch sämtliche Zuständigkeitsraster. Auch darüber sollten wir im Rahmen der Novellierung des WHG nachdenken.Was uns nötig erscheint, ist eine medienübergreifende Gesetzgebung, die auch einmal Überflüssiges wegläßt. Diese zentrale Forderung bei einer Gesetzesnovellierung sollte auf jeden Fall bei allen Umweltgesetzen der Zukunft beachtet werden.Wir wollen bei der Novellierungsdiskussion auch von der Schutz- und Reservatepolitik wegkommen, was das Grundwasser angeht. Es kann doch nicht angehen, daß immer mehr Wasserschutzgebiete ausgewiesen und der Landwirtschaft hohe Entschädigungen dafür gezahlt werden, gleichzeitig aber auf der verbliebenen Fläche intensiver denn je gedüngt und gespritzt wird. Die Wasserverbraucher, nämlich wir alle, zahlen die Rechnung. Den Landwirten in Wasserschutzgebieten geht es an die Existenz. Der Rest wirtschaftet wegen einer verfehlten Agrarpolitik weiter nach dem Motto: Viel hilft viel.
Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang einen historischen Exkurs. Im Jahre 1909, als die erste Beratung des neuen preußischen Wassergesetzes stattfand, eröffnete der Versammlungsvorsitzende die Diskussion mit folgenden Worten: Als wir erfuhren, daß die Regierung beabsichtigte, der Vorlage eines Wassergesetzentwurfes näherzutreten, war unser Gedanke der: Das ist gut und schön, aber wenn wir uns nicht mit der Landwirtschaft verständigen können, wird aus der Sache nichts, und der traurige Zustand bleibt für eine Reihe von Jahren bestehen.Dieses Zitat hat leider an Aktualität nichts verloren. Ich finde, die Feststellung sollten wir beherzigen. Wir sollten bei der Novellierungsdiskussion vor allen Dingen über Neuregelungen zum § 19 Abs. 4 nachdenken, d. h. daß in Zukunft beispielsweise auch die Überdüngung in der Landwirtschaft geregelt werden muß. Hierzu sind neue Regelungen dringend erforderlich. Denn schon 1984 wurde das von der Bundesregierung geplant und 1987 vom Sachverständigenrat nochmals verlangt. In der Diskussion damals ging es auch schon um die Erlaubnispflicht. Vor allen Dingen sollten damals typische Überdüngungsbetriebe und typische Überdüngungslagen separat behandelt werden. Andere Bewirtschaftungsformen und Hilfen zur Umstellung schützen das Grundwasser besser als der Wasserpfennig — was im übrigen von unverdächtiger Seite genauso gesehen wird. Denn das Büro für Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestages kommt im Rahmen seines Projekts Grundwasserschutz und Wasserversorgung zu ähnlichen Ergebnissen.Ein zentrales Anliegen unserer Wasserpolitik ist die Sorge um die Wasserqualität in den neuen Ländern. Umweltpolitikerinnen und Umweltpolitiker der SPD haben sich in den vergangenen Monaten intensiv um die Trinkwasserqualität in den neuen Ländern bemüht. In unserem Beschlußvorschlag waren Forderungen nach einer Sonderfinanzierung von Abwasserreinigungsanlagen in den neuen Ländern enthalten.Sie erinnern sich: Im allerersten Beschlußvorschlag des Ausschusses war eine entsprechende finanzielle Forderung enthalten. Leider wurden diese Forderungen schon in der ersten Beratung abgeschmettert. Wer sieht, wie es um die Trinkwasserqualität in den neuen Ländern bestellt ist, kann die Bundesregierung nur dringend zum Handeln auffordern, um die Bürgerinnen und Bürger der neuen Länder vor Gesundheitsgefahren zu schützen.In diesem Zusammenhang weise ich auch auf die skandalöse Zersplitterung der Zuständigkeiten im Wasserbereich hin. Es gleicht einem Würfelspiel, wer auf parlamentarische Fragen antwortet und wer sich zuständig fühlt: für Düngung und Pflanzenschutz der Landwirtschaftsminister, für die Trinkwasserverordnung die Bundesgesundheitsministerin. Das Sofortprogramm Trinkwasser wurde unter Federführung des Bundesumweltministers durchgeführt. Ich fordere Sie auf, im Bereich der Wasserpolitik endlich für klare Kompetenzen zu sorgen. Wer hier wegen Kompetenzgerangel nicht handelt, macht sich am Gesundheitszustand der Bürgerinnen und Bürger der neuen Länder schuldig. Ich bitte Sie deshalb, unseren Änderungsantrag, der viel weitergehend ist, als Ihr Vorschlag, zu unterstützen, und danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Nunmehr spricht der Abgeordnete Rudolf Baum.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sollten uns im Bereich der Wassergesetzgebung und des Vollzugs der Wassergesetzgebung nicht überfordern. Ich meine den Gesamtstaat. Ich meine die Länder und Gemeinden. Ich stelle fest, daß es ein erhebliches Vollzugsdefizit gibt. Es geht nicht an, daß wir uns hier in Gesetzen sonnen und feststellen, daß die Länder nicht umsetzen, aus welchen Gründen auch immer. Manchmal liegt es auch an uns. Die Vorschriften sind kompliziert. In vielen Fällen liegt es an den Ländern, die zuständig sind, daß unsere gesetzgeberischen Vorstellungen nicht umgesetzt werden. Es hat überhaupt keinen Sinn, ein Gesetz nach dem anderen zu produzieren und in der Wirklichkeit damit nichts zu erreichen.
Deshalb muß man sich zunächst einmal klar werden — das hat ja auch Herr Kollege Rieder zum Ausdruck gebracht —: Was ist möglich? Was ist nach dem vorhandenen Gesetzgebungsinstrumentarium notwendig? Was ist dort an Defiziten festzustellen? Meine Fraktion hat seit langem gefordert, daß wir uns einmal einen Bericht geben lassen — das ist natürlich sehr heikel — über den Vollzug des Bundesrechts auf diesem Gebiet.Der erste Einwand gegen hohe neue Gesetzgebungsforderungen resultiert aus dem mangelnden Vollzug. Wir täuschen uns über die Wirklichkeit hinweg.Der zweite Einwand ist, daß wir einen wirklich fundamentalen Themenwechsel haben. Wir können
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Gerhart Rudolf Baumnicht mehr so tun, als hätten wir nicht erhebliche Probleme in den neuen Bundesländern zu lösen. Dies muß Priorität haben. Wasserversorgung und Abwasserentsorgung in den neuen Ländern bedürfen rascher Sanierung. Erhebliche Aufwendungen sind dafür erforderlich; man schätzt bis zu 100 Milliarden DM. Der Bund tut hier schon einiges. Er hat angestoßen, er hat wichtige Maßnahmen mitfinanziert, die die Trinkwasserqualität und auch die Abwasserentsorgung betreffen.Der Bund, die öffentliche Hand können das nicht allein schaffen. Meine Fraktion setzt sich nachhaltig dafür ein, privates Kapital zu aktivieren. Wir begrüßen, daß die Umweltminister und die Wirtschaftsminister der neuen Bundesländer beim Bundeswirtschaftsminister und beim Bundesumweltminister festgelegt haben, daß sie die Mobilisierung privaten Kapitals zur Entlastung der öffentlichen Haushalte vornehmen wollen und dazu auch ganz konkrete Maßnahmen in den neuen Bundesländern treffen, z. B. die gesetzliche Zulässigkeit der Einschaltung Privater und die Gewährung öffentlicher Zuschüsse auch für Private.Ich stelle überhaupt die Frage: Warum muß es erst die Einheit Deutschlands geben, um auf diese Gedanken zu kommen? Das wäre auch ein Instrument in den alten Bundesländern, um den Gesetzesvollzug zu beschleunigen.Wir haben in unserem Antrag festgestellt, daß die 5. Novelle zum Wasserhaushaltsgesetz eine Menge bewirkt hat. Wir haben wesentliche Verbesserungen der Wasserqualität festzustellen. Wir haben in den letzten Jahren im Gewässerschutz beachtliche Fortschritte gemacht. Wir verkennen nicht, daß es nach wie vor erhebliche Lücken bei der Erfassung und Überwachung der Indirekteinleiter, hinsichtlich der unzureichenden Ausweisung von Wasserschutzzonen, bei den Anforderungen an Anlagen zum Umgang mit gefährlichen Stoffen gibt. Die dritte Reinigungsstufe ist noch längst nicht überall eingeführt. Die ökologische Ausrichtung des Gewässerschutzes ist vielfach mangelhaft.Die FDP setzt sich für eine Novelle zum Wasserhaushaltsgesetz ein. Wir müssen die Umsetzung der EG-Gewässerschutzrichtlinien vornehmen, insbesondere der EG-Richtlinien über die Behandlung kommunaler Abwässer.
Wir sind auch der Meinung, daß das Umweltinformationsgesetz kommen muß. Wir müssen die Umweltsituation transparenter machen. Die Umsetzung der EG-Richtlinie steht aus.
Ich nehme an, daß die Bundesregierung dazu Stellung nimmt.Alles in allem sind wir der Meinung, daß wir die Landwirtschaft erneut auf ihre Verantwortung hinweisen müssen. Wir haben zum Ausdruck gebracht, daß ein Regelungsbedarf besteht, um eine flächendeckende, umweltverträgliche und nachhaltige Landwirtschaft zu erreichen. Die Düngemittelanwendungsverordnung spielt hier eine Rolle. Insbesondere ist die Schädigung des Grundwassers und der Oberflächengewässer zu vermeiden. In diesem Zusammenhang fordern wir die Bundesregierung auf, diese wirksame Düngemittelanwendungsverordnung zu verabschieden.
Also einerseits Fortschritte, andererseits ein Handlungsbedarf, der aber unter die Prämisse gestellt werden muß, daß ein wirksamer Vollzug gewährleistet sein muß und daß wir in erster Linie jetzt alle unsere Kräfte zusammennehmen, um die erheblichen Schädigungen in den neuen Bundesländern zu beseitigen. Das ist das Thema Nummer eins, bevor wir uns an komplizierte, auch die Verwaltung belastende Novellierungen begeben.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Damit sind wir am Ende der Aussprache.
Ich komme nun zur Abstimmung, und zwar zunächst einmal über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf der Drucksache 12/1930. Wer diesem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Dann ist der Antrag mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen abgelehnt.
Wir stimmen nunmehr über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf der Drucksache 12/1700 ab. Wer dafür stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltungen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr zu dem Antrag der Abgeordneten Harald B. Schäfer (Offenburg), Klaus Daubertshäuser, Klaus Lennartz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Mehr Umweltschutz, Verkehrssicherheit und Lebensqualität durch Geschwindigkeitsbegrenzungen
— Drucksachen 12/616, 12/1621 —
Berichterstattung: Abgeordneter Horst Friedrich
Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von einer Stunde vor. — Das wird offensichtlich akzeptiert.
Dann können wir mit der Debatte beginnen. Zunächst einmal hat die Abgeordnete Frau Ferner das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Johann Wolfgang von Goethe schrieb einmal, man reise nicht, um anzukommen, sondern um zu reisen. Es liegt mir fern, den Bundesverkehrsminister in die Nähe dieses notorischen Fuß-
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Elke Fernergängers zu rücken. Aber nach den Äußerungen der letzten Woche könnte man bei Herrn Krause wohl sagen: Er rast, um zu rasen, und nicht, um anzukommen.Unser Antrag dagegen zieht die richtige und notwendige Konsequenz aus der Tatsache, daß das Auto und der ungebremste Autoverkehr längst zu einer erstrangigen Umweltbelastung und zu einem unerträglichen Sicherheits- und Gesundheitsrisiko geworden sind. Über 7 900 Verkehrstote im Jahr 1990 in Westdeutschland, über 3 100 Verkehrstote in den fünf neuen Ländern, insgesamt über 11 000 Menschen kamen 1990 auf unseren Straßen ums Leben.Von 100 Kindern zwischen fünf und fünfzehn Jahren, die sterben, werden fast ein Viertel, also 25 %, direktes Opfer des Straßenverkehrs. Dies sehen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, als unvermeidliches Opfer des motorisierten Individualverkehrs an.
Wir müssen endlich Konsequenzen ziehen; denn wir werden so lange nicht zu einer sinnvollen Einbindung des Autos in ein integriertes umwelt- und gesellschaftsverträgliches Verkehrskonzept kommen, solange Motorstärke und Höchstgeschwindigkeit der Maßstab für die Bewertung eines Autos sind. Dieses irrationale Potenzdenken liegt jenseits jeder Wirtschafts-, Energie-, Umwelt- und Sicherheitslogik.In der Bundesregierung und den sie tragenden Parteien gibt es ja auch Stimmen, die unserer Position zustimmen. Der brandenburgische CDU-Landesvorsitzende Fink hat ein Ende der sinnlosen Raserei gefordert. Der Vorsitzende der CDU-Landtagsfraktion in Stuttgart ist für Geschwindigkeitsbegrenzungen, hoffentlich auch noch nach der Landtagswahl. Der CSU-Minister Goppel meinte noch vor dem CSU- Parteitag, mit der freien Fahrt für Raser sei es bald vorbei. Aber auch da: weit gefehlt.
Nicht zuletzt Umweltminister Töpfer — ich verstehe ja, daß Sie das nicht gerne hören — plädiert für Geschwindigkeitsbegrenzungen. Dies sei für ihn kein Glaubensbekenntnis, sondern eine Frage der nüchternen Analyse der Fakten.
Auch die veröffentlichte Umfrage spricht für sich. An der Abstimmung will er sich, wie ich sehe, bis jetzt noch nicht beteiligen. Ich hoffe aber, daß er es tut und endlich einmal zu dem steht, was er sagt.
Offenbar zählen jedoch diese Stimmen bei denen, die in der Koalition den Ton angeben, überhaupt nicht. Nüchterne Analysen und Fakten haben weder Sie, Herr Krause, erreicht noch die Ausschußvorsitzenden im Umweltausschuß und im Verkehrsausschuß. Für Herrn Krause hat sich offenbar die Rasereibewährt. Warum sollte man es der Sache wegen ändern? — so fragte er diese Woche in „Monitor".Aber Sie sehen die Tatsachen nicht, Herr Krause. So behaupten Sie beispielsweise in der besagten Sendung, daß in Ostdeutschland gar nicht mit über 200 Stundenkilometer gefahren wird. Dann kam ein Szenenwechsel. Die mit einem Radarwagen ausgestattete Polizei wurde gefragt: Was ist gerade gemessen worden? Antwort: 212 Stundenkilometer. Das ist ja sicherlich kein Einzelfall.Sie sollten die Augen endlich einmal aufmachen und sich nicht den Realitäten auf unseren bundesdeutschen Autobahnen verschließen.
Die CSU, die im vergangenen Jahr mit mehr als 300 000 DM an Spenden vom BMW-Konzern bedacht wurde,
hat die vernünftige Forderung nach Geschwindigkeitsbegrenzungen aus ihrem Umweltprogramm gestrichen. Ich sage da nur: Die Automobilindustrie sollte mehr Geld und Intelligenz in die Entwicklung umweltgerechterer, sparsamerer und schadstoffärmerer Autos stecken, als immer stärkere und schnellere Autos zu bauen. Auch deshalb brauchen wir ein Tempolimit. Diesen unvernünftigen Streit in den Koalitionsparteien versteht auch niemand: die Bürgerinnen und Bürger nicht und unsere europäischen Nachbarn erst recht nicht.Die Koalition verwechselt Raserei mit Freiheit. Wenn der Kollege Lühr die Argumente und Fakten für Geschwindigkeitsbegrenzungen fadenscheinig und technikfeindlich nennt und sogar von staatlichem Dirigismus spricht, muß ich sagen:
Er irrt, wenn er Technik mit mehr Geschwindigkeit gleichsetzt, und er irrt, wenn er es für staatlichen Dirigismus hält, wenn es darum geht, die Mehrheit der Verkehrsteilnehmer vor der rasenden Minderheit zu schützen.
Denn bei Unfällen, die durch zu schnelles Fahren verursacht werden, werden auch Verkehrsteilnehmer verletzt und getötet, die sich die Freiheit herausnehmen, nicht zu rasen. Immerhin wollen 72 % der Verkehrsteilnehmer Geschwindigkeitsbegrenzungen von 120 Kilometern pro Stunde, wie wir sie auch fordern.
Betrachten wir die Fakten. Es gibt keinen Zweifel darüber, daß niedrigere Geschwindigkeiten zu weniger Unfällen und zu weniger schweren Unfällen führen. Durch Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Autobahnen, Landstraßen und in Ortschaften lassen
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Elke Fernersich die Zahlen der Unfälle und der Unfallopfer weiter drastisch reduzieren.Die Erfahrungen in Dänemark und in der Schweiz nach Einführung von Tempolimits und die Erfahrungen mit den zeitweiligen Geschwindigkeitsbegrenzungen in den 70er Jahren bei uns zeigen, daß sich die Todesrate auf Autobahnen um über 25 % senken läßt. Warum sollen die Rückgänge denn jetzt plötzlich geringer sein als vorher oder in anderen Ländern?Das gleiche gilt für Bundes- und Landstraßen, auf denen tödliche Unfälle durch Geschwindigkeitsbegrenzungen auf 90 Stundenkilometer ebenfalls verringert werden könnten.Bei Tempo 30 in den Ortschaften könnten die Unfälle mit Fußgängern um 80 % und mit Kindern um 60 % zurückgehen. Ich frage Sie: Ist Ihnen das keine Geschwindigkeitsbegrenzung wert?Bei den Autobahnen wollen Sie den teuren Umweg über flächendeckende rechnergesteuerte Verkehrsbeeinflussungsanlagen gehen, um, wie Sie sagen, den Verkehrsfluß zu verbessern, um also angepaßte Geschwindigkeiten elektronisch zu verordnen. Wenn Sie dann in einigen Jahren für sehr viel Geld — das man gerade in der Verkehrspolitik auch sinnvoller einsetzen könnte — diese Anlagen installiert haben, dann wird Ihnen der Rechner als optimale Geschwindigkeit wohl auch höchstens 120 Kilometer pro Stunde ausrechnen.Warum beschließen wir heute nicht unseren Antrag? Das kostet nichts und wirkt sofort.Ich will die Frage der Geschwindigkeitsbegrenzung innerhalb geschlossener Ortschaften noch etwas vertiefen. In der Stadt gehören die Straßen nicht allein den Autos, obwohl manche das gerne noch immer so hätten. Wir müssen also insbesondere die gefährdeten Verkehrsteilnehmer — wie Fußgänger und Radfahrer — vor den Autos schützen. Das Beispiel der Hamburger Stresemannstraße spricht, denke ich, für sich.Nirgendwo in Europa verunglücken so viele Kinder auf Straßen wie in Deutschland. In erster Linie hat das auch etwas mit der Geschwindigkeit zu tun.
Eine allgemeine Tempobeschränkung in den Ortschaften auf 30 Kilometer pro Stunde — mit Ausnahme der Hauptstraßen — wäre ein Beitrag zur Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer.
Im „Spiegel" Nr. 45 des letzten Jahres stand zu lesen, zwei Drittel der etwa 3 300 innerörtlichen Verkehrsopfer, also 2 200 Menschen, sterben als Fußgänger oder Radfahrer. So ist es dann auch kein Wunder, daß 74 % aller Zehnjährigen Angst vor dem Verkehr haben. Man muß sich das vorstellen: Sie haben Angst vor dem Verkehr. Wir müssen den Autoverkehr also den Menschen anpassen und nicht umgekehrt.Für einen Fußgänger oder Radfahrer ist es oft eine Entscheidung über Leben und Tod, ob das Auto 50 oder 30 km/h gefahren ist. Bei 50 Kilometern proStunde beträgt der Anhalteweg 30 Meter, bei 30 Kilometern pro Stunde nur knapp 15 Meter. Das lernt jeder in der Fahrschule. Selbst wenn es zu einer Kollision kommt, haben bei einer Aufprallgeschwindigkeit von 20 Kilometern pro Stunde immer noch 90 % der Fußgänger Überlebenschancen; während bei einer Aufprallgeschwindigkeit von 60 Kilometern pro Stunde — z. B. auf Landstraßen — nur noch 15 % überleben.Tempo 30 wäre vor allem ein Schritt zu weniger Vorrang für das Auto und mehr Gleichberechtigung aller Verkehrsteilnehmer.Ich fasse zusammen. Die Diskussionen der vergangenen Wochen haben gezeigt, daß Sie von der Koalition mit Ihrer Ablehnung allein stehen, gegen die Mehrheit der Bevölkerung entscheiden und auch gegen die besseren Einsichten aus den eigenen Reihen. Weiterhin werden Sie zu einem Sicherheitsrisiko ersten Ranges für Kinder, ältere Menschen, Fußgänger und Radfahrer. Nichts wäre einfacher, als wenn Sie unserem Antrag zustimmen würden.
Es wäre die billigste und schnellste Variante, die Verkehrssicherheit zu erhöhen, und in Europa würden wir in Sachen Tempolimit auch nicht mehr im Abseits stehen.Offensichtlich geht es Ihnen aber weniger um Vernunft als vielmehr um die Lust am Rasen. Vielleicht gehören Sie auch zu einem neuen Typ gelangweilter Freizeitmenschen, die der Autoraserei als außergewöhnlichem Nervenkitzel frönen.
Ich hoffe, nicht.Ich fordere Sie nochmals auf: Lassen Sie Vernunft walten, machen Sie den Weg für mehr Verkehrssicherheit, mehr Umweltschutz und mehr Lebensqualität frei. Stimmen Sie also unserem Antrag zu.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Bauer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Liebe Kollegen! Alle Jahre wieder — und das mit erstaunlicher Hartnäckigkeit — kommt von der linken Seite dieses Hauses die Forderung nach einer generellen Geschwindigkeitsbeschränkung auf unseren Autobahnen. Wenn meine verehrte Frau Kollegin Ferner soeben etwas sachlicher geblieben wäre, hätte ich mir die Bemerkung verkniffen; aber so sehen Sie mir bitte nach, wenn ich feststelle, daß unsere Opposition
in diesem Punkt nicht nur eine generelle Beschränkung der Geschwindigkeit fordert, sondern ganz5974 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Borm, Donnerstag, den 16. Januar 1992Dr. Wolf Baueroffensichtlich in ihrer Verkehrspolitik einer generellen Beschränkung unterliegt.
Neue Erkenntnisse, die für die Einführung eines Tempolimits sprechen, gibt es weder aus Gründen der Verkehrssicherheit noch aus Gründen des Umweltschutzes.
Bis heute sind folgende Argumente nicht widerlegt:Erstens. Die Hauptursache für Unfälle auf unseren Autobahnen ist vor allem individuelles Fehlverhalten,
z. B. nicht angepaßte Geschwindigkeit, Vorfahrtsmißachtung und Fahrt unter Alkoholgenuß. Hinzu kommt ein Nichtbeachten der speziellen Verhältnisse vor Ort wie Verkehrsdichte und Ausbauzustand der Straßen.Zweitens. Die weitaus größte Zahl der Unfälle ereignet sich deutlich unterhalb der Richtgeschwindigkeit.Drittens. Meinungsumfragen — das stimmt so nicht, wie Sie das gesagt haben — haben ergeben, daß die individuelle Betroffenheit bei der Frage des Tempolimits eine wesentliche Rolle spielt. Wer die Autobahn nur wenig benutzt, tendiert stärker zu einem Tempolimit. Die beruflichen Vielfahrer hingegen setzen sich in aller Regel gegen ein Tempolimit ein. Es gibt übrigens auch Umfragen des Emnid-Instituts aus dem letzten Jahr — diese sind sicher auch Ihnen bekannt —, in denen sich von 2 000 Befragten nur 31 % für ein Tempolimit ausgesprochen haben.Viertens. Verkehrsregelungen werden um so mehr befolgt, je sinnvoller sie dem Verkehrsteilnehmer erscheinen.
Auch hier ist Akzeptanz eine der wesentlichen Voraussetzungen zum Erfolg.
Übrigens, Sie hatten das Thema Dänemark angesprochen. Dänemark schreibt 100 Stundenkilometer vor, die bis zu 90 % überschritten werden. Mangelnde Akzeptanz ist das Problem, vor dem wir stehen.
In diesem Zusammenhang ist eine Aussage von Prognos über CO2-Emissionen interessant. Ein Vergleich von Verschärfung der Geschwindigkeitsbeschränkungen mit Verschärfung der Geschwindigkeitskontrollen zeigt ganz deutlich, daß mit Letztgenanntem wesentlich mehr erreicht werden kann. Ein Tempolimit von 120 Stundenkilometern auf Autobahnen und 80 Stundenkilometern auf Außerortsstraßen bringt im Vergleich mit der — ich zitiere — trendmäßigen Entwicklung in 2005 gegenüber 1987 eineReduzierung um lediglich 1,2 %, so Prognos. Bereits der Abgasgroßversuch von 1985 hat gezeigt, daß solch geringe Ergebnisse durch die Fortentwicklung der Technik weit mehr als ausgeglichen werden.Neuerdings wird behauptet, daß der Drei-WegeKatalysator oberhalb einer Geschwindigkeit von 130 Stundenkilometern unzuverlässig arbeitet. Diese Aussage ist so nicht richtig. Aus technischen und aus Gründen der Betriebssicherheit muß der Katalysator in bestimmten Betriebsbereichen kurzzeitig so gesteuert werden, daß von der emissionsgünstigsten Regelung abgewichen wird, wie z. B. beim Kaltstart und bei der Beschleunigung.Die Frage stellt sich doch hier, was auf unseren Straßen überhaupt noch zu beschränken ist. Hier sollten wir nicht mit Polemik herangehen, Frau Kollegin, sondern mit Fakten. Bei einer Gesamtstraßenlänge von 624 000 km sind nur noch ganze 1,1 % ohne Geschwindigkeitsbegrenzung. Das heißt, meine Damen, meine Herren, nahezu 99 % unseres Straßennetzes sind mit einem Tempolimit versehen.
Die Geschwindigkeitsbegrenzung für ein Drittel unserer Autobahnen — auch das ist bekannt — ist signifikant. Auf unseren Autobahnen wird im Durchschnitt mit einer Geschwindigkeit von weniger als 120 Stundenkilometern gefahren. Von der Gesamtfahrleistung entfallen 70 % auf Bereiche unterhalb dieser Durchschnittsgeschwindigkeit. Ich will damit nur belegen, daß alles das, was gefordert ist, durch andere Maßnahmen viel leichter zu erreichen ist. Hinzu kommt, daß bereits heute ein Drittel der Fahrleistungen auf unseren Autobahnen bei Verkehrsdichten erbracht wird, die keine Geschwindigkeitswahl mehr erlauben.Aus Sicherheits- und Umweltgesichtspunkten ist zu begrüßen, daß 30 % der Fahrleistungen 1989 z. B. auf unseren Autobahnen abgewickelt wurden. Wir müssen deshalb alles tun, damit die Attraktivität unserer Autobahnen nicht negativ beeinflußt wird. Denn nur dann würden keine Verkehre von der Autobahn auf die Landstraße verlagert, wenn letztendlich auch auf den übrigen Straßen die jetzt gültigen Geschwindigkeitsbeschränkungen entsprechend herabgesetzt würden. Auch das findet sich im Antrag der SPD-Fraktion wieder, und das scheint mir auch der Grund dafür zu sein.Meine Damen, meine Herren, unsere Autobahnen sind nach wie vor die sichersten Straßen, die wir haben.
Obwohl, wie bereits angeführt, auf ihnen 30 % der Fahrleistung erbracht werden, ereignen sich dort nur 7 % der Unfälle mit Personenschäden.Für 1989 zeigt ein internationaler Vergleich der Unfallzahlen, daß Deutschland unter 14 dort aufgeführten Ländern an sechster Stelle liegt. Außer Deutschland sind alle von einer Geschwindigkeitsbegrenzung betroffen. Die Skala der tödlich Verunglückten pro 1 Milliarde Fahrkilometer, meine Da-
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Dr. Wolf Bauermen, meine Herren, reicht hierbei von 3,2 in den Niederlanden bis 61,0 in Spanien. Für Deutschland sind 6,0 angegeben.Wir alle sind uns einig, daß jeder Verkehrstote bereits ein Toter zuviel ist.
Deshalb müssen wir uns überlegen, welche Möglichkeiten wir haben, unsere Straßen noch sicherer zu machen.
Ich möchte dies an Hand von zwei Beispielen aufzeigen, bei denen erkennbar ist, was sinnvoller als ein generelles Tempolimit ist.
— Genau jetzt kommt es. Das erste ist der weitere Ausbau von Verkehrsbeeinflussungsanlagen. Bisherige Erfahrungen mit derartigen Anlagen haben Unfallrückgänge zwischen 20 und 30 % erbracht, in Einzelfällen sogar bis zu 50 %.
Die 550 Millionen DM, die im Etat des Bundesverkehrsministers für rechnergestützte Verkehrsbeeinflussungsmaßnahmen eingeplant sind, sind eine wesentlich sinnvollere Maßnahme als ein generelles Tempolimit. Die Maxime, meine Damen, meine Herren, muß also lauten: Die Beseitigung von bestimmten Unfallschwerpunkten, nicht zuletzt durch den Einsatz moderner Technik, ist effektiver als ein starres und unflexibles Tempolimit, das noch dazu wenig respektiert wird.
Vor Nebel und Glatteis zu warnen ist besser, als Autofahrer bei einem sturen Tempolimit in Sicherheit zu wiegen,
das in keiner Weise Gefahrenquellen berücksichtigt. Das können Sie übrigens in der einschlägigen Fachpresse nachlesen; auch dort ist das niedergelegt.
— Ja, Wahrheit tut gelegentlich weh; so ist es nun einmal.
Zweitens müssen wir schnellstmöglich dafür sorgen, daß die Problematik der Anschnallpflicht für Kinder unter zwölf Jahren gelöst wird. Über 40 dieser Kinder fahren ohne jegliche Sicherung im Auto; nur knapp 60 % benutzen also Gurte. Von diesen 60 wiederum ist ein Drittel mit Erwachsenengurten gesichert, die für Kinder häufig ungeeignet sind. Eine allgemeine Anschnallpflicht und die richtigen Rückhaltesysteme sind unbedingt erforderlich.
— Bei allen vernünftigen Vorschlägen sind wir immer einer Meinung.Mit den beiden genannten Beispielen will ich aufzeigen, daß wir tunlichst davon wegkommen sollten, irgendwelchen liebgewonnenen, aber unvernünftigen Ideologien nachzulaufen wie die SPD,
und uns statt dessen, meine Damen, meine Herren, der praktischen Verkehrspolitik widmen sollten.
Gleichwohl lege ich Wert auf die Feststellung, daß unsere Fraktion alle neuen Erkenntnisse der Wissenschaft und Technik sehr sorgfältig analysieren und insofern auch den Fragenkomplex Tempolimit nicht dogmatisch behandeln wird,
vor allem dann — Moment! Sie müssen mich den Satz aussprechen lassen —, wenn diesbezüglich wirklich etwas überzeugend Neues vorliegt.Den Antrag der SPD-Fraktion lehnen wir ab.
Nun erteile ich dem Abgeordneten Dr. Feige das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was soll ich nach dem Vortrag von Frau Ferner nun noch sagen? Sie hat alle Argumente eingebracht. Sie hat auch daran erinnert, daß Herr Töpfer insbesondere gesagt hat, daß es nicht um ein Glaubensbekenntnis geht. Trotzdem habe ich mich bei der Diskussion im Vorfeld zu diesem Tagesordnungspunkt doch irgendwie an eine Religion erinnert.Aber ich habe bei der Diskussion im Verkehrsausschuß und im Umweltausschuß auch eine andere Erfahrung gemacht: Ich hatte bisher immer geglaubt, daß nur Einzelpersonen schizophren sein können. Aber ich glaube nun, ganze Regierungsparteien leiden unter einer gewissen Bewußtseinsspaltung.
Ich komme nämlich gerade aus der Enquete-Kommission zum Schutz der Erdatmosphäre. Da sitzen wir gemeinsam beieinander: Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberale, Vertreter vom Bündnis 90/DIE GRÜNEN. Die ganze Anhörung war hochinteressant. Es geht um den Schutz der Erdatmosphäre, um Treibhauseffekt und ähnliche Dinge. Wir bereiten uns auf einen Weltkongreß, die UNCED, vor. Ganz, ganz tolle Sachen! Und alles basiert darauf, daß es darauf ankommt, den CO2-Ausstoß so gering wie möglich zu halten.In der Diskussion dort haben Fachexperten — die nicht von mir gestellt werden, denn ich darf überhaupt niemanden benennen — ganz klar und deutlich ausgesagt, daß eine der wesentlichen Ursachen dafür das
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Dr. Klaus-Dieter FeigeVerkehrschaos ist und daß in einem erheblichen Ausmaße der Ausstoß durch die Verbrennung bei hohen Geschwindigkeiten eine Rolle spielt. Tolle Sache! Ich freue mich, daß ich in der Enquete-Kommission mit meinen christdemokratischen Kollegen einer Meinung bin: Das muß sich ändern.
Aber kein Wort davon steht in der Begründung des Verkehrsausschusses. In der Begründung des Verkehrsausschusses — das kann sich jeder genau durchlesen — geht es nur um die Frage der Verkehrssicherheit. Dort steht nichts zum Umweltschutz und zu den Problemen, die auftreten, nichts zum Steigen der Lebensqualität. — Das ist sicherlich konsequent: Man ist doch wahrscheinlich im Verkehrsausschuß, weil man sich mit Verkehr beschäftigen will, und nicht unbedingt, weil man ihn vielleicht reduzieren möchte. Man hat ja auch einen Minister, der deutlich sagt, daß er gerne Auto fährt.Aber was heißt das denn: Freie Fahrt hat sich bewährt! Auch Geschwindigkeiten über 200 km/h können sinnvoll sein! Man muß die Unfälle differenziert sehen!? — Das erscheint mir sehr makaber; denn die Schwere der Unfälle — das ist ein ganz einfaches physikalisches Gesetz —nimmt mit der Geschwindigkeit und mit der Masse zu. Und die Autos werden schwerer, und die Geschwindigkeit nimmt deutlich zu!Auch wenn man sagt — das ist für mich ein Problem —, unsere Straßen seien die sichersten der Welt, so gibt es trotzdem immer noch Tote. Für mich ist etwas unverständlich. Aus der CDU/CSU-Fraktion waren so kluge Worte wie die des Enquete-Vorsitzenden Herrn Lippold oder in den letzten Jahren auch die von Herrn Schmidbauer zu hören, die ganz klar und deutlich eine ganz andere Position fordern. Wo und wann kommt endlich dieser Umbau?
— In der Anhörung heute, Herr Lennartz?
— Er ist nicht als Experte benannt worden; aber das ist sicherlich nicht seine Aufgabe.Unverständlich ist für mich z. B. das Stimmverhalten im Umweltausschuß. Die Kollegen waren dort mitberatend. Dort sitzen zum Teil auch Kollegen aus der Enquete-Kommission. Es ist für mich völlig unverständlich, wie es dort zu einem solchen Abstimmungsverhalten kommen konnte. Denn dort liegt meines Erachtens das ökologische Fachwissen vor. Für mich ist dort der Beleg einer Doppelmoral sogar in Personalunion gegeben.Mit dem Wissen über den Treibhauseffekt und die industrielle Entwicklung werden wir, wenn wir nicht zu einem konsequenten Umstieg in der Verkehrspolitik kommen, weiterhin viele Verkehrstote zu beklagen haben.Herr Fischer, Sie haben das letztens einmal angedeutet — Sie sind ja, glaube ich, Hamburger —: In der Stadt Hamburg passiert vor Ort einiges. Dort gibt eseine ganze Reihe von Demonstrationen und Protesten, die nur die eine Position, nämlich 30 km/h fordern. Wenn Sie schon nicht an Ihre „heilige Kuh", die Autobahn, heranwollen, warum dann nicht an die Stadt? Denn in der Argumentation im Ausschuß ist eindeutig gesagt worden, daß es Geschwindigkeitsbegrenzungen genau dort geben sollte, wo es die größten Gefahren gibt, und Städte sind nun einmal das Hauptgefahrenpotential.Ich möchte noch einmal auf die „sichersten Straßen" eingehen: Ich glaube, es gibt keinen Grund, die Bemühungen einzustellen; denn unsere Straßen können ganz einfach dadurch noch sicherer werden, daß wir die Geschwindigkeit herunterdrehen.
Herr Dr. Feige, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Aber ja doch, gerne.
Bitte sehr, Herr Kollege.
Herr Dr. Feige, können Sie mir erklären, warum die SPD- Landesregierung in Hamburg, wenn sie schon das Tempo 30 flächendeckend innerorts befürwortet, eine sehr große Zahl von Stadtstraßen durch Zusatzschilder sogar noch auf Tempo 60, 70 und 80 beschleunigt hat?
Es ist sicherlich das Problem meines Nachredners von der SPD, diese Frage zu beantworten. Für mich ist das nicht nachvollziehbar; denn ich würde — und Sie scheinen da j a mit mir übereinzustimmen — auch dort Tempo 30 fordern und versuchen, das durchzusetzen.
Da sind wir also völlig in Übereinstimmung.Herr Friedrich hat in seiner Begründung mehr Verkehrssicherheit durch den Bau von Ortsumgehungen und die Herausnahme des Durchgangsverkehrs aus Städten und Gemeinden gefordert. Tolle Sache! Dem kann ich folgen. Das ist eine ganz ausgezeichnete Geschichte; aber eigentlich ist das ja eine Forderung nach Geschwindigkeitsverringerung, für einen Teil des Verkehrs, sogar auf Null. Völlige Übereinstimmung! Aber warum tun wir dann für den verbleibenden Teil des Verkehrs nicht auch noch etwas? Denn das Argument der Scheinsicherheit stimmt nicht. Es ist keine Scheinsicherheit; es ist absolute Sicherheit, die dazukommt. Und wenn Sie jetzt kommen und sagen: „Gut, das mit der Verkehrsreduktion ist eine tolle Sache", so wäre das eigentlich genauso Scheinsicherheit, wenn wir das andere Argument nehmen.Wir stimmen dem Antrag der SPD zu. Ich befürchte aber, die Koalition wird ihn ablehnen. Man muß sagen, daß man angesichts eines so aktiven Verkehrsfanatikers wie des Herrn Professor Krause schon
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Dr. Klaus-Dieter Feigezufrieden sein muß, wenn nicht bundesweit Mindestpflichtgeschwindigkeiten eingeführt werden.
Wer glaubt, daß das das letzte Mal war — Herr Breuer, Sie haben es angekündigt —, daß hier über solche Geschwindigkeitsbegrenzungen diskutiert wird, den werden, glaube ich, die Wähler bzw. den wird die Öffentlichkeit sehr deutlich korrigieren.
Ich erteile nunmehr unserem Kollegen Ekkehard Gries das Wort.
Wenn die Erwartung so hoch ist, will ich sie gern erfüllen; denn, meine Damen und Herren, ich bin sehr erfreut darüber, daß wir diesmal schon zu Beginn der Legislaturperiode die Gemeinde der Gläubigen und vermeintlich Nichtgläubigen des Tempolimits versammeln. Wie alljährlich und wie immer sind wenige dabei, die bereit sind, diese rituellen Handlungen quasi wie Exerzitien auch zu vollziehen.
Die SPD-Opposition dreht wieder einmal die Gebetsmühle zur Befriedigung der Anti-TempolimitGemeinschaft. Ich frage mich — nun ist er gerade hinausgegangen —, ob es nicht doch so ein kleines Harald-Schäfer-Stündchen ist mit ein bißchen Töpferei — der ist nicht dabei —, und am Ende kommt dann aus Albrecht Müllers Mühle irgendein Ergebnis heraus.
Nein, ich finde das gar nicht despektierlich; ich denke, wir sollten über das Thema so reden, wie es hier immer wieder behandelt wird, nämlich jedes Jahr; aber das kann Herr Feige noch nicht wissen.
Ich bin weit davon entfernt — und wir alle miteinander —, die Probleme des Verkehrs, der Sicherheit der Verkehrsteilnehmer, die Gefahren für Gesundheit und Leben und auch die Schäden für die Umwelt hier in irgendeiner Weise zu verniedlichen.
Ich sage auch — ich bin das meinen Kolleginnen und Kollegen aus der eigenen Fraktion schuldig —: Wir haben auch eine Reihe von Freunden bei uns, die in der gleichen Weise glauben, daß das ein probates Mittel sei, nämlich das Tempolimit einzuführen, und ich respektiere das. Das sind Kolleginnen und Kollegen, die ich sehr schätze, und ich bitte Sie alle, Sie von der Opposition und meine eigenen Freunde, um eine sachgerechte und vorurteilslose Betrachtung.
Ich sage aber auch dazu, meine Damen und Herren — und das muß einfach auch hier einmal gesagt werden —: Wir sind hier, um solche Probleme, die wir gemeinsam eigentlich gleich beurteilen, zu lösen, und nicht, um ideologische Wünsche zu befriedigen. Ich
sage Ihnen noch etwas — das ist hier schon zweimal gesagt worden —: Meinungsumfragen sind für uns alle, Politiker und Parteipolitiker, die wir sind, wichtig. Auch das, was man — vorhin fiel das Wort schon einmal — Akzeptanz nennt, alles das ist wichtig; aber es ersetzt nicht die politisch verantwortliche Entscheidung in der Sache. Das ist doch der Punkt.
Ich sage Ihnen auch — alle, die hier sitzen, wissen das doch; es ist doch immer die kleine Schar, diese Glaubensgemeinde, die da besteht —: Man kann durch die schablonenhafte Wiederholung von Argumenten doch die Einsicht vor Fakten und Realitäten nicht verschließen. Ich sage Ihnen — und ich bin fest davon überzeugt —: Das führt am Ende zum Vertrauensverlust und zur Unglaubwürdigkeit von uns allen, aller Politiker, weil wir darüber reden und nicht gehandelt wird und die einen so tun, als hätten sie die Rezepte und die anderen hätten sie nicht. Wir kennen doch die Schwierigkeiten des Verkehrs zu Wasser, in der Luft und auf der Straße, und jetzt frage ich Sie — —
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Antretter?
Wenn es mir nicht auf die Zeit angerechnet wird, natürlich!
Herr Kollege Gries, wären Sie angesichts der Tatsache, daß Sie sich auch im Vorfeld der bußgeldbewehrten Anschnallpflicht vehement gegen diese Anschnallpflicht gewehrt haben, und der Tatsache, daß die heutigen Zahlen, nachdem wir sie haben, belegen, daß dramatisch weniger — im positiven Sinne dramatisch — Verletzungen erfolgen und weniger Todesfälle zu verzeichnen sind, bereit, auch Ihr vehementes Vorurteil gegen das Tempolimit zu revidieren und nochmals zu überdenken?
Herr Kollege Antretter, ich bin bereit, über jeden vernünftigen Vorschlag nachzudenken; das ist völlig klar.
Ich habe das ja auch beim Tempolimit getan. Es gibt aber einen großen Unterschied: Die Anschnallpflicht ist eine Maßnahme, die sich offensichtlich bewährt hat, auch wenn es viele Sünder gibt. Aber beim Tempolimit sprechen alle Zahlen, alle Erfahrungen und alle internationalen und auch nationalen Auswertungen schlichtweg gegen die beabsichtigte Wirkung. Ich wehre mich dagegen, daß das einfach verglichen wird. Aber ich bin bereit, über jeden vernünftigen Vorschlag mit Ihnen zu diskutieren.
Herr Kollege Gries, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Feige?
Natürlich, das ermöglicht es mir, noch mehr Argumente vorzubringen.
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Das ist ja schön. Danke, Herr Gries.
Ich beziehe mich auf Ihre Aussage zur Akzeptanz. Können Sie sich vorstellen, daß ein Alkoholsüchtiger freiwillig seine Flasche hergäbe, und können Sie sich eine Parallelität zum Temporausch vorstellen?
Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich rede von der Akzeptanz von Parolen. Wenn Sie bei Meinungsumfragen eine Frage richtig formulieren, werden Sie immer eine Akzeptanz für die erwartete Antwort finden. Das hat aber mit dem Problem nichts zu tun.
Meine Damen und Herren, ich frage hier einmal ganz deutlich: Haben wir — ich meine jetzt meine eigene Fraktion und mich selber — oder hat die Opposition ein Patentrezept? Ich sage nein.
Ich wehre mich nur dagegen, daß die SPD so tut, als hätte sie ein solches. Denn was beinhaltet denn in Wirklichkeit Ihr Antrag? Sie wollen Tempo 30 flächendeckend einführen. 30 km/h sind jetzt schon möglich und sind überall da sinnvoll, wo sie sinnvoll umgesetzt werden. Aber wohin führt das? Ich sage es Ihnen; ich komme aus der Kommunalpolitik und bin heute dort noch tätig.
— Also, meine Freunde von der SPD, Ihre Kommunalpolitiker — Sie haben nämlich wesentlich mehr als die anderen — werden diejenigen sein, die die Schilder auswechseln. Im Gesetz stehen 30 km/h flächendekkend, und dann kommen Ihre Kommunalpolitiker daher und stellen Schilder mit den Ausnahmen 40, 50, 60 oder 70 km/h auf. Natürlich wird das die Folge sein. Das sehen wir ja heute schon, und das ist doch die Realität.
Was passiert denn mit den 90 km/h auf den Straßen außerhalb geschlossener Ortschaften? Wir haben ja Tempo 100. Wer kontrolliert diese denn? Nur die Gemeinden, die Einnahmen brauchen.
Und wer hält sich daran? Wer hält sich denn dann an 90 km/h? Es hält sich natürlich keiner daran, weil man keine Kontrollen durchführen kann, da man sonst am Ende einen in der Tat überreglementierten Kontrollstaat hätte.Was ist mit den 120 km/h auf der Autobahn? Die Lawine auf der Autobahn läuft heute bei 100 km/h; das wissen Sie doch alle. Die Durchschnittsgeschwindigkeit auf der Autobahn liegt bei 119 km/h. Und was passiert auf der freien Strecke? Jetzt nehme ich einmal an, Sie wären alle anständig. Sie werden sich als Normale ärgern, weil Sie nur 120 km/h fahren dürfen. Aber die Raser, die wir jetzt haben, werden wir auch in Zukunft haben; sie rasen weiter. Was ist denn das für ein Effekt?Ich sage Ihnen: Ihr Vorschlag ist verkehrspolitisch und umweltpolitisch völlig ungeeignet. Wir haben bei uns die sichersten Straßen; Herr Bauer hat schon darauf hingewiesen. Wir haben bei uns rückläufige Unfallzahlen wie noch nie, und zwar seit Jahren.
— Das ist eine neue Situation, Herr Feige; das will ich zugeben; das müssen wir anders betrachten.In den alten Ländern haben wir trotz steigender Verkehrsbelastung die geringsten Unfallzahlen. Ich bestreite auch nicht, damit wir uns da nicht mißverstehen, die Schadstoffbelastung, die durch den Verkehr entsteht.
— Also, Sie sollten soviel Fairneß aufbringen. Natürlich bestreite ich das nicht. Ich sage nur eines: Ihr Antrag, der 120 km/h als Höchstgeschwindigkeit auf Autobahnen fordert, aber in Wirklichkeit 140 km/h als Toleranzgrenze vorsieht, führt zu keiner nennenswerten Schadstoffminderung; das ist unser gemeinsames Problem. Ihr Antrag wird jedoch seine Lösung nicht erreichen.Ich wollte hier bewußt keine Zahlen nennen. Es gibt eine neue Untersuchung der Technischen Universität in Wien, die 57 — oder wieviel auch immer; vielleicht kann ich das irgendwo nachlesen — oder 54 internationale Untersuchungen über Umweltauswirkungen bzw. die von Temporeduzierungen dadurch entstehenden Schadstoffverminderungen ausgewertet hat. Sie kommen alle zu dem Ergebnis, daß das Tempolimit kein probates Mittel ist; da muß uns etwas anderes einfallen.Meine Damen und Herren, ich frage mich deshalb immer wieder, weshalb Sie solche Anträge stellen, jedes Jahr wieder, seit zehn Jahren. Herr Feige hat ja angekündigt, solche Anträge würden jedes Jahr wieder gestellt, vielleicht im nächsten Halbjahr schon wieder. Warum stellen Sie diese Anträge? Einige, die mich kennen, wissen, was es bedeutet, wenn ich sage: Zu meiner eigenen Enttäuschung glaube ich allmählich, es zu wissen. Sie haben kein besseres Verkehrskonzept oder ein sachpolitisches Konzept. Aber viele von Ihnen haben eine feste Überzeugung, nämlich die, daß der Mensch beliebig steuerbar ist und daß die Gesellschaft total reglementiert werden muß. Das ist das, was mich erschreckt. Anders kann ich das gar nicht verstehen.
Sie glauben in der Tat, mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30, 90, 120 Stundenkilometer sei die Welt in Ordnung. Das ist nicht der Fall. Darin können Ihnen Liberale nicht folgen.
Wir bemühen uns zusammen mit unserem Koalitionspartner, die negativen Umwelteinwirkungen, die doch niemand bestreiten kann — das wäre doch Unsinn —, oder die nach wie vor zu hohen Unfallzahlen — auch wenn sie sinken; auch wenn wir im
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Ekkehard Grieseuropäischen Maßstab an der Spitze stehen, sind sie immer noch zu hoch — zu reduzieren, aber wir setzen dabei auf vernünftige Konzepte, auf Schritte, auf das Bemühen, nicht jedoch auf Überzeugungen und ideologische Beschlüsse.Wir versuchen, das Schienennetz auszubauen. Wir versuchen, EG-weit — wir leben doch nicht auf einer Insel — bessere Sicherheitsvorschriften, Abgas-, Verbrauchs-, Lärmschutzvorschriften durchzusetzen. Wir versuchen, mit flexiblen Verkehrsbeeinflussungsmaßnahmen das zu erreichen, was Sie durch einen Beschluß des Bundestages zu erreichen glauben; das erreichen Sie nämlich nicht. Aber wenn Sie eine verkehrsgeleitete Strecke installieren und dafür Haushaltsmittel zur Verfügung stellen, dann sind Sie ein ganzes Stück weitergekommen.
Wir versuchen nicht, die Menschen zu reglementieren, sondern wir versuchen, die Menschen aufzuklären, sie zu informieren und sie zu überzeugen, daß sie sich als Verkehrsteilnehmer vernünftig zu verhalten haben. Und wir tun eines — da sind wir vielleicht nicht mehr so weit auweinander; aber das gilt dann für alle —: Wir versuchen auch, das Kontrollsystem zu verbessern. Der Mensch ist ja nicht nur gut; er muß auch kontrolliert werden, er muß auch zur Rechenschaft gezogen werden, wenn er gegen Gesetze verstößt. Das heißt: Wir brauchen ein ganz anderes Überwachungssystem. Die Vorschriften müssen eingehalten werden.Nur, durch eines werden wir unser Ziel nicht erreichen — lassen Sie mich das zum Schluß sagen; es leuchtet nicht einmal die rote Lampe, sondern nur die gelbe; ich bin ganz stolz darauf, Herr Präsident —: Sie können den Menschen nicht alles vorschreiben, sondern Sie müssen sie überzeugen. Mit Beschlüssen, die eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30, 90, 120 Stundenkilometer vorsehen, erreichen Sie gar nichts. Deshalb werden wir den Antrag ablehnen.
Ich erteile jetzt unserer Kollegin Frau Dr. Dagmar Enkelmann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die neunjährige Katja H. aus Bernau im Land Brandenburg verunglückte im November vorigen Jahres bei einem Verkehrsunfall tödlich. Nur wenige Tage zuvor war das Ortseingangsschild so versetzt worden, daß der Schulweg von Katja und vielen anderen Kindern von einem Tag zum anderen zur Fernverkehrsstraße wurde. Die willkürliche Versetzung des Ortseingangsschildes stellte eine akute Unfallgefahr dar, weil damit in einem Wohngebiet, vor einer Kaufhalle und vor allem vor einer Schule die Geschwindigkeit von 80 km pro Stunde gestattet worden war.Hinweise von Eltern und Lehrern darauf beim zuständigen Straßenbauamt Strausberg sofort nach der Versetzung des Schildes blieben ungehört. Nicht einmal der schwere Verkehrsunfall, sondern erst massive Proteste und die Ankündigung von Straßenblokkaden bewegten die Verantwortlichen dazu, Geschwindigkeitsbegrenzungen einzuführen.Meine Damen und Herren, die Bundesrepublik hält einen traurigen Rekord: Sie nimmt den unrühmlichen ersten Platz in der internationalen Kinderunfallstatistik ein. Da sprechen Sie, Herr Kollege Gries, von den sichersten Straßen in Deutschland! Das allein wäre — jedenfalls für mich — ein Grund, für ein allgemeines Tempolimit zu stimmen.Darüber hinaus belegen Berechnungen des Bundesumweltamtes, daß eine Verminderung der Geschwindigkeit auf Autobahnen von 130 auf 120 km pro Stunde beispielsweise den Kohlenmonoxidausstoß bereits um 21 % senkt. Die Erfahrungen unserer europäischen Nachbarn mit einer Tempolimitierung belegen überzeugend deren nachhaltige Wirkung auf Verkehrssicherheit und Senkung der Umweltbelastung. Sie sollten nicht überheblich ignoriert werden.Dennoch — hier, Herr Minister Krause, befinde ich mich ausnahmsweise in Übereinstimmung mit Ihnen —, Tempolimits können die bestehenden gravierenden Verkehrsprobleme nicht dauerhaft lösen. Aber die Lösung liegt auch nicht im weiteren und vor allem beschleunigten Ausbau des Straßennetzes oder beim Bau immer schnellerer und technisch raffinierterer Autos. Wo schon der Verkehrsminister den Bau von Straßen beschleunigt, kann man von den Benutzern wohl keine angemessene Geschwindigkeit erwarten. Es ist heute allerhöchste Zeit, nicht nur an die nächste Wahl zu denken, sondern weit darüber hinauszuschauen und ein neues Verkehrskonzept zu entwickeln, das eine echte Alternative zum drohenden Verkehrskollaps darstellt.Die Alternative kann nur dort liegen, wo folgende Prämissen gesetzt werden: Wirksame Maßnahmen zur Dämpfung der Verkehrsnachfrage, unter anderem durch Senkung der Mobilitätsanforderungen, Vermeidung von Leerfahrten usw.; radikale Umkehrung des Prinzips „Vorrang der Straße zu Lasten der Schiene", eine deutliche Verlagerung des Güterfernverkehrs auf die Schiene und eine sinnvolle Anbindung des Nahverkehrs; Ausbau und umfassende Förderung des Öffentlichen Personennahverkehrs, also eine annehmbare Fahrpreisgestaltung, Bus- und Taxispuren, Rufbussysteme und anderes; eine verkehrspolitisch vernünftige Raum- und Städteplanung sowie die Schaffung günstiger Bedingungen für den nichtmotorisierten Verkehr, also für Fußgänger und Radfahrer.Es muß endlich Schluß gemacht werden mit der Bevorzugung der Autolobby. Warum eigentlich fordert der Verkehrsminister nicht, daß auf jeder Autoreklame die Aufschrift „Mit Alkohol am Steuer im Temporausch gefährden Sie Ihre und die Gesundheit anderer" steht? Es war von Aufklärung die Rede. Das könnte ein Beispiel sein.
Daß es auf dem Verkehrsgebiet so wie bisher nicht weitergehen kann — immer mehr, immer schneller und auch immer aggressiver —, hat inzwischen die Mehrheit der Bundesbürger begriffen. 72 % der
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Dr. Dagmar EnkelmannBefragten einer im Auftrag des Bundesumweltministeriums erstellten Untersuchung sprachen sich für Geschwindigkeitsbegrenzungen aus. Es gibt also auch andere Untersuchungsergebnisse, Herr Kollege Bauer. Zeigen Sie, meine Damen und Herren, daß Ihnen die Meinung einer Mehrheit nicht egal ist, stimmen Sie für ein Tempolimit und verhindern Sie Verkehrszustände, wie sie heute schon am Popocatepetl zu erleben sind!Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Steffen Kampeter.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Verkehr verursacht nach wie vor große Umweltbelastungen, und trotz zahlreicher von der Bundesregierung ergriffenen Maßnahmen bleiben diese Belastungen hoch. Die Zunahme des Straßenpersonen- und des Straßengüterverkehrs zeigt uns die Grenzen der Aufnahmekapazität unseres Infrastruktursystems auf. Diese Wachstumstendenz wird sich nach Meinung von Experten weiter verschärfen.
Um die Auswirkungen für die Umwelt auf ein für Mensch und Ökosystem auch langfristig vertretbares Maß zu beschränken, hat die Umweltministerkonferenz für den Verkehrsbereich Emissionsminderungsziele für Stickoxide, Kohlenwasserstoff und Kohlendioxid vorgegeben. Für kanzerogene Stoffe wie Benzol und Dieselabgaspartikel gelten die scharfen Forderungen des Minimierungsgebotes. Der Verkehr, meine sehr verehrten Damen und Herren, steht ganz oben auf der Tagesordnung der Umweltpolitik. Welches sind daher aus Sicht der Umweltpolitik die vorrangigen Handlungserfordernisse? Lassen Sie mich zu diesem Bereich einige Stichworte geben:Erstens sollte es uns gehen um die Minderung zu hoher verkehrsbedingter Schadstoffkonzentrationen, die beispielsweise an den Hauptverkehrsstraßen in Innenstädten entstehen. Aus diesem Grunde muß dringend die nach § 40 Abs. 2 Bundesimmissionsschutzgesetz mögliche Verordnung erlassen werden.Der zweite Punkt: Die weitestgehende Minderung kanzerogener Emissionen sowie die Minderung der Emissionen mit Treibhauspotential, insbesondere beim CO2, ist eine wichtige Aufgabe, die es zu lösen gilt, beispielsweise durch eine gesamteuropäische Flottenverbrauchsregelung.Einen dritten wichtigen Punkt sehe ich in der Minderung des Verkehrslärms, der von den Menschen als immer unerträglicher wahrgenommen wird. Dies gilt sowohl für die Verkehrswege, aber auch vor allen Dingen beim Kraftfahrzeug.Das vierte, was ich hier als wichtigen Punkt anführen möchte, ist die Frage der Begrenzung des wachsenden Flächenverbrauchs und der Flächenzerschneidung durch Verkehrswege und Verkehrsanlagen im Interesse von Umwelt-, Natur- und Landschaftsschutz.Meine sehr verehrten Damen und Herren, im Kern des Handelns der Bundesregierung bei Umwelt und Verkehr stand unter anderem die technische Verbesserung des Verkehrsmittels Automobil. Hier werden wir auch zukünftig weitermachen. Die verkehrsorganisatorischen Maßnahmen hingegen stehen erst am Anfang. Wir Umweltpolitiker sind daher — und das ist das entscheidende Kriterium — offen für zielführende Vorschläge in diesem Bereich.Lassen Sie mich darauf hinweisen, daß die Potentiale zur Verlagerung auf umweltverträgliche Verkehrsmittel nach unserer Meinung noch lange nicht ausgeschöpft sind. Umweltpolitiker verlangen in diesem Zusammenhang mit Recht, daß die verursachungsgerechte Anlastung von Wegekosten und externen Effekten
zu einer ökologisch wie ökonomisch rationalen Verkehrsmittelwahl führen soll. Als marktwirtschaftliches Instrument erwarten wir auch dringend den Entwurf zur Umgestaltung der Kfz-Steuer von einer Hubraumsteuer in eine Steuer mit einer umweltfreundlichen Bemessungsgrundlage, in die z. B. auch der Kraftstoffverbrauch einfließen soll.
Ein wichtiger Aspekt ist die Information und Aufklärung über umweltschonendes Verhalten im Verkehr. Hier kommt dem Bildungssystem eine zentrale Aufgabe für eine umweltförderliche Verkehrserziehung zu.
Transparenz über die verkehrsbedingten Folgen für Menschen, Umwelt und Atmosphäre durch den motorisierten Verkehr könnte — neben den preislichen Signalen — eine wichtige Entscheidungshilfe für Verkehrsvermeidung sein. Dazu gehört auch eine selbstkritische Überprüfung unseres eigenen Verhaltens als Abgeordnete. Hier sind wir als Vorbild in bezug auf Verkehrsverhalten gefragt.Der sozialdemokratische Antrag verspricht, all unsere Probleme durch die Einführung einer generellen Geschwindigkeitsbegrenzung auf Blechschildern zu lösen. Dieser Ansatz greift so nicht. Der Bundesverkehrsminister hat sich ebenso wie der Bundesumweltminister für verkehrslenkende Maßnahmen im Geschwindigkeitsbereich ausgesprochen, die an die jeweilige Situation angepaßt sind. Dieser Situationsbezug fehlt völlig in den Vorschlägen des Antragstellers.Wir Umweltpolitiker bedauern diese Scheindiskussion der Sozialdemokraten, die nicht an den Ursachen der eigentlichen Probleme ansetzt. Der Antrag reduziert den komplexen Zusammenhang zwischen Umweltsystem und Verkehrssystem auf ein kleines rotes Blechschild. Wir haben — bei Offenheit für weitere wichtige Erkenntnisse — unter Aufzeigung dieser Argumente den wenig weiterführenden Antrag der Sozialdemokraten im Ausschuß für Umwelt,
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Steffen KampeterNaturschutz und Reaktorsicherheit abgelehnt; heute wird dies im Plenum die gesamte CDU/CSU-Bundestagsfraktion tun.Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, ich erteile das Wort unserem Kollegen Harald B. Schäfer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Zwei Vorredner, Herr Bauer und Herr Gries, haben beklagt, daß wir Sozialdemokraten alle Jahre wieder diesen Antrag einbringen. Ich sage Ihnen: Wir werden uns alle Jahre wieder hier im Deutschen Bundestag, wenn es sein muß, noch häufiger, für mehr Verkehrssicherheit, für mehr Umweltschutz und für Energieeinsparungsmaßnahmen einsetzen.
Dazu gehört — dies stellt eine Maßnahme dar — das Tempolimit.Meine Damen und Herren, die Frage der Geschwindigkeitsbegrenzung ist zwischenzeitlich — nicht nur für die Bundesregierung, sondern auch für viele Menschen — der Prüfstein dafür geworden, ob wir es mit unserem Reden für mehr Umweltschutz, für mehr Verkehrssicherheit und für mehr Energieeinsparungsmaßnahmen ernst meinen.Deshalb sage ich: Wir werden Jahr für Jahr als entschiedene Anwälte der Umwelt, der Menschen und der Kinder — dies betrifft vor allem Tempo 30 — auftreten.
Meine Damen und Herren, was sind die Fakten? Ich stelle ganz ruhig und nüchtern fest: Wer mit dem Auto im Ausland fährt, muß langsamer fahren als bei uns. Alle zivilisierten Staaten der Erde haben Geschwindigkeitsbegrenzungen für den Autoverkehr; auch auf Autobahnen. Nur in der Bundesrepublik Deutschland wird jedes Jahr schneller gefahren. Seit 1981, Herr Kollege Gries — Sie wissen das, und dem Verkehrsminister hat man es im Zweifel aufgeschrieben —, nimmt die gefahrene Geschwindigkeit auf den Autobahnen von Jahr zu Jahr kontinuierlich zu. Lieber Herr Kollege Gries, wir haben heute auf freier Strecke — ohne Anfahrt — eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 133 km/h auf Autobahnen. Im Jahre 1985 lag die Durchschnittsgeschwindigkeit bei 120 km/h. Meine Damen und Herren, das sind die Fakten.Wie sieht denn die Wirklichkeit aus? — Auf unseren Autobahnen schießen die berühmten Edelgewächse mit 220 km/h oder 250 km/h an den anderen Verkehrsteilnehmern, die mit 100 km/h, 120 km/h oder 130 km/h unterwegs sind, vorbei.
Von einem gleichmäßigen Verkehrsfluß kann keine Rede sein. Sie sollten sich einmal überlegen, ob das aggressive Verhalten mancher Autofahrer nicht auch mit dieser Hetze, mit dieser Jagerei, mit dieser Raserei auf den Autobahnen zu tun hat.Die Folge ist — Sie wissen es —: Viel zu viele Menschen verunglücken und sterben im Straßenverkehr. Bei knapp einem Drittel aller Unfälle war die Unfallursache ein unzureichendes Gefühl für die Geschwindigkeit und den notwendigen Abstand.Gegen alle Vernunft, meine Damen und Herren, hat die Bundesregierung aus der ungebremsten Raserei auf unseren Straßen einen Fetisch gemacht. Mich erinnert auch die heutige Debatte etwas an die Debatte in den Vereinigten Staaten von Amerika. Die Forderung, bei uns die Geschwindigkeitsbegrenzung einzuführen, wird von vielen bei uns so beantwortet wie die Forderung in Amerika, den Bürgern nicht mehr den freien Zugang zu den Schießwaffen zu gestatten. Was für eine Art und Weise der Diskussion über eine wichtige Sachfrage, die rational geführt werden müßte!Ich habe gelesen, was einige Herren von den Regierungsparteien — Herr von Geldern ist nicht mehr da — über den Zusammenhang zwischen Schadstoffausstoß und Geschwindigkeit gesagt haben. Es schüttelt einen, wenn man weiß, daß derjenige auch noch Vorsitzender des Umweltausschusses ist! Nur notorische Verneiner der Realität können einen Zusammenhang zwischen dem Tempolimit und den aus dem Kraftfahrzeugverkehr herrührenden Schadstoffemissionen verneinen. Auf jedem gefahrenen Kilometer pustet ein Pkw im Durchschnitt rund 250 Gramm Kohlendioxid in die Luft, zwischen 3 und 4 Gramm Kohlenwasserstoffe und 3 bis 4 Gramm Stickoxid. Dies sind im übrigen die Durchschnittsemissionen, gemittelt über alle Pkws und alle Fahrgeschwindigkeiten: pro gefahrenen Kilometer. Dabei gilt: Wer schneller fährt, jagt auch mehr Gifte in die Luft. Dabei werden — um auf Ihre 1,4 % der Straßen zu kommen, die Bundesautobahnen ausmachen, wo es keine Geschwindigkeitsbegrenzung gibt — von 100 gefahrenen Kilometern, die von einem Kraftfahrzeug zurückgelegt werden, 30 Kilometer auf Bundesautobahnen zurückgelegt — mit steigender Tendenz.Insofern ist Ihr Hinweis, Herr Kollege Gries, die Autobahnen ohne Tempolimit machten nur 1,4 % des Straßennetzes aus, irreführend, weil annähernd ein Drittel aller von Kraftfahrzeugen zurückgelegten Kilometer auf Autobahnen zurückgelegt werden. Man kann nicht, Herr Kollege Gries, auf der einen Seite für Rationalität werben und gleichzeitig die Argumente so verfälschend darstellen. Das ist nicht seriös, meine Damen und Herren.
— Ich mache mit Ihnen gern ein „ Schäfer" stündchen, aber jetzt nicht auf dieser Ebene.Der Verkehrsminister und der CDU-Vorsitzende des Umweltausschusses wie auch Sie, Frau Kollegin Roitzsch, sollten sich endlich mit den Fakten vertraut
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Harald B. Schäfer
machen, statt sich mit Ihrem ideologischen Abwehrkampf gegen das Tempolimit durch Unkenntnisse über Schadstoffe und deren Umweltauswirkungen lächerlich zu machen. Wer immer noch den Zusammenhang zwischen Waldsterben und saurem Regen auf der einen Seite und den Autoabgasen auf der anderen Seite leugnet, hat sich für eine ernsthafte Auseinandersetzung disqualifiziert. Wir werden auf dieses dümmliche Argument, weil es kein Argument ist, nicht mehr eingehen. Das verbietet unser Intellekt.
Ich komme zum Klimaschutz und damit auch wieder zu Ihnen, Herr Gries. Herr Krause wird ähnlich argumentieren, es sei denn, er übertrifft sich und bleibt sachlich.
Nur ein Zyniker kann die Energieeinsparung, die CO2-Reduzierung, die durch ein Tempolimit erreicht werden können, als zu gering, als „Peanuts", als minimal bezeichnen. Schon der sogenannte Großversuch der Bundesregierung mit Tempo 100 im Jahre 1985 hat eine CO2-Verringerung von 1,7 Millionen Tonnen im Jahr erbracht. Da sagen Sie: minimal, zu gering. Das sagen Sie alle von der Koalition.
— Ich rede von CO2, lieber Herr Bauer. Das hat mit dem Kat doch überhaupt nichts zu tun. Mein Gott, denken Sie doch erst nach, bevor Sie reden!Sie haben diese Verringerung als minimal bezeichnet. Ich sage noch einmal zu Herrn Bauer: Der geregelte Dreiwegekatalysator mit Lambdasonde ist kein Instrument gegen den Ausstoß von Kohlendioxid. Daher ist der Zwischenruf „Katalysator! " wirklich ein Knüppel, der einen selbst totschlagen kann. Deswegen geben Sie acht, Herr Bauer.Ich will zurück zur Sache. Eine Reduzierung um 1,7 Millionen t jährlich sei zuwenig, sagen Sie, es sei minimal. Gemessen am Gesamtumfang der CO2- Emissionen in Höhe von 140 Millionen t, die aus dem Verkehr kommen, ist das gering. Da stimme ich Ihnen zu.
Aber ich frage Sie: Mit welcher Maßnahme kann man denn, ohne einen einzigen Pfennig aufwenden zu müssen, von heute auf morgen in der Bundesrepublik sowiel CO2-Emissionen einsparen, wie das gesamte El Salvador mit 6 Millionen Menschen in einem Jahr produziert? Sie reden dauernd von der globalen Verantwortung. Wer das dann als minimal bezeichnet, der ist für mich zynisch — nicht mehr und nicht weniger —, weil er egoistisch argumentiert.
Alle möglichen Gründe sprechen für ein Tempolimit: Verkehrssicherheit, Umweltpolitik, Energiepolitik.Im übrigen hat sich die Einführung von Tempo 30 in Wohngebieten — nicht auf Durchgangsstraßen — der Kommunen bewährt. Lesen Sie doch die entsprechenden Berichte des Umweltbundesamts! Die Schadstoffemissionen sind zurückgegangen. Die Unfälle, vor allem die mit Todesfolge für Kinder, sind gottlob drastisch zurückgegangen. Insgesamt ist die Durchschnittsgeschwindigkeit in diesen 30-km/h-Zonen um 20 km/h zurückgegangen. Das sind die Fakten. Darüber sollten Sie reden und sich mit uns freuen, daß wir durch diese Maßnahme Kinderleben retten können,
statt die Debatte so zu führen, wie Sie sie hier betreiben. Das ist auch Ihrer unwürdig, meine Damen und Herren.
Herr Kollege Schäfer, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte sehr.
Herr Kollege Schäfer, können Sie mir bitte sagen, wer die Voraussetzungen geschaffen hat, damit Tempo 30 in Wohngebieten eingeführt werden kann?
Liebe Frau Kollegin, es ist bereits heute möglich, daß die Kommunen die Tempo-30-Zone festlegen können. Das geschieht heute in vielen Orten auch. Was wir beantragen, ist, daß die entsprechenden Vorschriften der Straßenverkehrs-Ordnung so geändert werden, daß 30 km/h in den Wohngebieten die Regel werden und nicht die Ausnahme bleiben, damit den Menschen der unsägliche Schilderwald erspart bleibt. Darum geht es doch, meine Damen und Herren.
Ich wäre meinen Kollegen von der SPD dankbar, wenn sie sich zurückhalten würden, damit ich meine kostbare Zeit nicht durch Zwischenrufe dieser Art verlieren muß.Ich will jetzt etwas zu der Auffassung der Menschen zum Tempolimit sagen. 71 % der Bürger der Bundesrepublik Deutschland — der alten und der neuen Länder — sind für eine Höchstgeschwindigkeit auf den Autobahnen. Heute hat uns eine Pressemitteilung Ihres Umweltministers, der bezeichnenderweise nicht da ist, erreicht: 71 % beantworten die Frage „Was halten Sie von einer allgemeinen Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen? " positiv. Von den CDU/ CSU-Wählern sind 62 % dafür. 62 % Ihrer Wähler sind für ein Tempolimit auf Autobahnen; insgesamt sind es 71 %. Sie von der CDU/CSU machen in diesem Fall eine Politik nicht nur gegen die Mehrheit der Burger, sondern auch gegen die Mehrheit Ihrer Wähler.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5983
Harald B. Schäfer
Das will für Sie, meine Damen und Herren, schon etwas heißen.Daß sich der Bundesverkehrsminister geradezu kindisch gegen alle Einsichten sperrt und sich entgegen seiner Verantwortung als Bundesminister seinen alten Vorurteilen verschreibt, hängt vielleicht mit seiner Persönlichkeitsstruktur zusammen.
Beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit liegen die Dinge komplizierter. Er weiß, daß das Tempolimit der Umwelt hilft, den Energieverbrauch und die klimaschädigenden Emissionen senkt und die Verkehrssicherheit erhöht. Was wir dem Bundesumweltminister vorwerfen, ist, daß er für diese Position dann, wenn es darauf ankommt — wie jetzt im Deutschen Bundestag —, nicht einsteht und zudem in seinen eigenen Reihen nicht für eine Mehrheit in dieser Sache kämpft. Das ist der Vorwurf, meine Damen und Herren.
Ich weiß, daß unser Appell an Sie, heute unserem Antrag auf Einführung eines Tempolimits zuzustimmen, sein Ziel verfehlen wird. Ich weiß aber auch, meine Damen und Herren: Wir werden es noch in dieser Legislaturperiode erleben, daß auch in der Bundesrepublik Deutschland eine allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen kommt. Ihr Problem wird sein, so rechtzeitig die Kurve zu kriegen, daß wir, was die Geschwindigkeitsbegrenzung angeht, sagen können: Wenigstens in dieser Frage hat bei der CDU/CSU die Vernunft Vorfahrt.Ich bedanke mich für das Zuhören.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zum Schluß dieses Tagesordnungspunktes erteile ich dem Bundesminister für Verkehr, unserem Kollegen Dr. Günther Krause, das Wort.
Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenigstens für seine Ausführungen am Schluß möchte ich dem Kollegen Schäfer ein Lob aussprechen. Wir können ihn an seinen prophetischen Weisheiten messen und könnten ihm im Laufe der Legislaturperiode über seine Persönlichkeitsstruktur hinsichtlich seiner prophetischen Möglichkeiten ein Testat geben. Wir werden es abrechnen.
Wenn Sie auch zum CDU-Wählerverhalten etwas sagen, müßte es für Sie eher beruhigend als aufregend sein, wenn wir bei unserer Entscheidung bleiben. Das aber nur ganz nebenbei.
In den zuständigen Ausschüssen des Deutschen Bundestages wurde der Antrag auf Einführung allgemeiner Geschwindigkeitsbeschränkungen abgelehnt. Ich begrüße diese Entscheidung, da ich sie für sachgerecht und ausgewogen halte.
Bereits bei der ersten Beratung der Vorlage am 27. September habe ich ausgeführt, daß mehr Umweltschutz, Verkehrssicherheit und Lebensqualität durch allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzungen nicht wesentlich verbessert werden können.
Die Argumente sind Ihnen bekannt; Für und Wider sind wiederholt ausgetauscht worden. Die Autobahnen sind — das möchte ich heute wiederholen — unsere sichersten Straßen; denn dort — da muß ich dem Kollegen Gries recht geben — wird ein Drittel der Verkehrsleistung mit nur einem Anteil von 7 % der Unfälle mit Personenschaden erbracht.
Es ist ganz wichtig, daß wir uns über diese 7 % unterhalten. Noch wichtiger aber ist es, daß wir uns über die anderen 93 % unterhalten.
Ich möchte folgendes ausführen: Im Bundesverkehrsministerium werden, entgegen Presseberichten, keine Studien über die Auswirkung eines Tempolimits von 130 km/h auf das Unfallgeschehen geheimgehalten.
— Sie wissen doch, daß man nichts geheimhalten kann. Das ist auch gut so.
Die in diesem Zusammenhang genannten Zahlen
— z. B. Rückgang der Unfälle um 11 %, Rückgang der Zahl der Schwerverletzten und tödlich Verunglückten um 23 % — stammen aus einer Untersuchung der Bundesanstalt für Straßenwesen aus dem Jahre 1977. Ich wundere mich eigentlich darüber, warum Sie Ihre Regierungsverantwortung damals nicht genutzt haben.
Die Zahlen lagen also bereits vor, als 1978 darüber entschieden wurde, ob eine generelle Höchstgeschwindigkeit von 130 km/h auf den Autobahnen eingeführt werden sollte. Ich denke, Sie hatten damals die Verantwortung.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schäfer?
Aber natürlich, wir kennen ja die Diskussionen.
Bitte.
Ich hatte mich schon etwas früher zu der Zwischenfrage gemeldet, muß deswegen auf eine Aussage von Ihnen zurückkommen dürfen. Ich möchte Sie fragen, worin der argumentative, besondere Reiz Ihrer Aussage liegt, daß die Autobahnen gesicherte Straßen seien, wenn man bedenkt, daß diese Straßen besonders breit sind, daß auf diesen Straßen kein Gegenverkehr vorhanden ist, daß diese Straßen kreuzungsfrei sind. Ich möchte
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Harald B. Schäfer
Sie fragen, wo in der Tat die aufsehenerregende Neuigkeit dieses Arguments ist.
Herr Schäfer, soll ich Ihre Frage so verstehen, daß Sie demnächst einführen wollen, daß die Geisterfahrer zu ihrem Recht kommen?
Damals war die Unfallsituation auf unseren Straßen wesentlich dramatischer als heute. Zwischenzeitlich sind die Fahrzeugsicherheit und die passive Sicherheit für Fahrzeuginsassen wesentlich besser geworden. Örtliche Unfallschwerpunkte wurden mit Hilfe straßenverkehrsrechtlicher Maßnahmen, z. B. durch Überholverbote und örtliche Geschwindigkeitsbeschränkungen, entschärft.
Erlauben Sie mir an dieser Stelle ein Wort zur Unfallentwicklung. Nach den Berechnungen des Statistischen Bundesamts geht die Zahl der Verkehrstoten in den alten Bundesländern voraussichtlich um 6 % gegenüber dem Jahr 1990 zurück. Bei der Zahl der Verletzten ist ein Rückgang um 7,8 % zu erwarten. Dies wird damit das günstigste Jahresergebnis seit Einführung der Statistik im Jahre 1953 sein.
Nun erwarte ich von Ihnen nicht, daß Sie die Politik zur Sicherung der Verkehrssicherheit dem Bundesverkehrsminister zuschreiben. Ich denke aber, einen kleinen Teil an diesem Ergebnis hat diese Regierung, und darauf sind wir stolz.
Zwar ist in den neuen Bundesländern die Unfallzahl angestiegen, hinsichtlich der Zahl der Verkehrstoten ist allerdings seit Mitte des letzten Jahres eine deutliche Trendwende eingetreten. Sie wissen das, sagen es nur nicht. Im Vergleich zum Vorjahresmonat ist im August erstmals kein Anstieg zu verzeichnen gewesen; ich rede über Ostdeutschland. Im September und Oktober gab es sogar erhebliche Rückgänge, im Oktober beispielsweise urn 6,9 %.
Wir haben ein Verkehrssicherheitsprogramm unter dem Titel „Rücksicht kommt an". Wir sind der Meinung, daß das Regierungsprogramm bereits wirkt und sich die ersten erfreulichen Ergebnisse ablesen lassen.
Diese Zahlen machen insgesamt eines deutlich: Es ist nicht das Fehlen eines Tempolimits auf Autobahnen, das die Unfallentwicklung trägt. Das Verhältnis der Zahlen in den alten und den neuen Bundesländern müßte sich dann anders darstellen, da bekanntlich 1991 in den neuen Bundesländern noch generell Tempo 100 auf den Autobahnen galt.
Dort wurde das versucht, was Sie permanent für Deutschland insgesamt fordern. Die Ergebnisse kennen Sie.
Herr Minister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Feige?
Meinem mecklenburgischen Kollegen immer.
Bitte sehr.
Herr Krause, wären Sie bereit, Ihre Meinung zu ändern, wenn mit der seit Anfang des Jahres erfolgten Freigabe der Geschwindigkeit auf verschiedenen Straßen im Osten Deutschlands die Unfallzahl ansteigt?
Ich möchte sachlich ergänzen, daß nicht, wie Sie es darstellen, auf verschiedenen Straßen die Geschwindigkeit freigegeben worden ist, sondern daß nur in einem recht geringen Abschnitt zur Zeit bundesdeutsches Recht gilt. An anderen Stellen sind in der Regel auf Grund des schlechten technischen Zustands die Geschwindigkeitsbeschränkungen von 100 oder 120 km/h bzw. — auf bestimmten Streckenabschnitten — von 130 km/h beibehalten worden.Ich kann Ihnen zu dieser Frage auch sagen, daß es nicht mehr zu den Fahrgewohnheiten beispielsweise eines Trabifahrers gehören wird, die linke Autobahnspur zu besetzen, wenn 130 km/h zulässig sind.
Es wird mit Sicherheit eine Verbesserung geben.
Zum zweiten Punkt: Wir haben durch die Installation der Mittelleitplanken erreicht, daß es eine wesentliche Verringerung der Begegnungsunfälle gegeben hat. Das war die Hauptunfallursache auf den ostdeutschen Autobahnen.
— Ich bin sicher, daß sie nicht steigen wird. Ich hoffe, Sie nehmen es zur Kenntnis und ändern Ihr Verhalten, wenn die Unfallzahlen weiter sinken. Darüber würde ich mich freuen.Meine Damen und Herren, das Unfallgeschehen wird durch ganz andere Faktoren wesentlich stärker beeinflußt. In erster Linie nenne ich individuelles Fehlverhalten wie nichtangepaßte Geschwindigkeit, Vorfahrtmißbrauch und Fahren unter Alkoholeinfluß.Völlig unbefriedigend ist nach meiner Auffassung die Sicherheit von Kindern in Pkw. Aber hier gibt es, wie ich meine, allerorts Zustimmung.Innerorts, wo das Unfallrisiko übrigens am größten ist — wir diskutieren eigentlich am wenigsten darüber, daß das Unfallrisiko innerorts am größten ist —, werden derzeit in Pkw nur 30 % der Kinder gesichert, nur 26 % durch spezielle Kinderrückhaltesysteme. Auch auf Landstraßen ist es nicht besser. Das Verletzungsrisiko eines ungesicherten Kindes ist siebenmal höher als das eines gesicherten. Hier müssen und werden wir ansetzen.Aber auch die örtlich gegebenen Verkehrsverhältnisse wie Verkehrsdichte oder Ausbauzustand der
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Bundesminister Dr. Günther KrauseStraße, schlechte Fahrbahndecke, fehlende Mittelschutzplanken und ähnliches spielen eine entscheidende Rolle. Ein generelles Tempolimit hilft hier nicht weiter.Dagegen gibt es gute Beispiele, wie durch individuelle, situationsangepaßte Verkehrsbeeinflussung eine deutliche Senkung der Unfälle erreicht werden kann. Zum Beispiel konnte durch die Anlage auf der A 4 zwischen Köln und Aachen, die im übrigen durch das Bundesverkehrsministerium installiert und finanziert worden ist, seit deren Inbetriebnahme 1988 eine sofortige Absenkung der Zahl der Schwerverletzten um ein Drittel bewirkt werden, obwohl dort nur ein Jahr zuvor, also 1987, noch eine Steigerung um 50 %— um 50 %! — gegeben war.
— Entschuldigen Sie bitte, zu diesem Zeitpunkt hat die CDU in Bonn regiert, und unter Führung der CDU ist diese Anlage finanziert worden. Ich bitte Sie, Sie werden doch nun nicht meinen, daß diese Anlage aus Mitteln der Kommune bezahlt worden ist.
Herr Minister, gestatten Sie zu dieser Frage Herrn Kollegen Lennartz eine Zwischenfrage?
Aber natürlich, gerne.
Herr Minister Krause, kann ich davon ausgehen, daß Sie die Protokolle des Deutschen Bundestages aus den Jahren 1985 und 1986, wo über diese Frage diskutiert worden ist, nachgelesen haben, aus denen hervorgeht, daß insbesondere die Kolleginnen und Kollegen von seiten der CDU heftigst gegen den Regierungspräsidenten Dr. Franz-Josef Antwerpes polemisiert haben, der diese Maßnahme vorgeschlagen hatte?
Das ist nicht das Entscheidende. Entscheidend ist, wer bezahlt. Die Bundesregierung hat diese Maßnahme bezahlt. Im übrigen wird zum 1. Februar 1992 eine vollautomatische Lösung in Betrieb gehen. Ich bin stolz darauf, daß wir mit dieser Lösung Ergebnisse erreicht haben, die ein deutliches Absenken der Zahl der Unfalltoten und vor allen Dingen der Schwerverletzten gebracht hat. Eigentlich ist das ein Beleg dafür, daß Ihre Argumentation nicht ganz richtig ist.
Von verschiedenen Seiten wird behauptet, das generelle Tempolimit sei aus Gründen des Umweltschutzes erforderlich. Herr Kollege Schäfer, ich denke, Sie gestatten mir, Ihnen zu widersprechen. Die Fahrzeuge, die im Stau stehen, machen den größten Umweltschmutz, nicht die Fahrzeuge, die drei, fünf oder acht Stundenkilometer schneller fahren.
Das einzige zuverlässige Material zur Frage der Umweltbelastung steht nur aus einem Abgasgroßversuch zur Verfügung. Danach ist aber erwiesen, daß selbst bei Tempo 100 auf Autobahnen die gesamten
Stickoxidemissionen lediglich um 1 % sinken. Bei Tempo 120 wären die Ergebnisse noch geringer. Auch eine wesentliche Reduzierung des Kohlendioxidausstoßes bei Einführung eines Tempolimits ist bislang nicht nachgewiesen worden. Anderslautende Behauptungen halten einer Prüfung nicht stand.
Ich meine, aus den genannten Gründen müssen wir uns auch darum kümmern, die Staus zu beseitigen. Ich hoffe, daß Sie künftig der Beschleunigung nach dem novellierten Planungsrecht zustimmen werden.
Aus dem erwähnten Abgasgroßversuch können lediglich Rückschlüsse gezogen werden. Diese Rückschlüsse bestätigen sich durch die durchschnittlich gefahrene Geschwindigkeit auf den Bundesautobahnen, nämlich 119 km/h und nicht, wie vorhin von Ihnen zitiert, 134 km/h. Ich meine, damit ist nachgewiesen, daß sich die Geschwindigkeit, mit der durchschnittlich gefahren wird, um 120 km/h eingependelt hat.
Drittens. Im Bundesrat wurde ein ähnlicher Antrag des Landes Niedersachsen, wie zu erwarten war, abgelehnt. Gleichzeitig wurde aber empfohlen, die Struktur einer repräsentativen Zahl von Autobahnunfällen zu untersuchen und dann gegebenenfalls die erforderlichen Maßnahmen auf den verschiedenen verkehrssicherheitsrelevanten Gebieten zu veranlassen oder vorzuschlagen. In die Untersuchung sollen auch die Erfahrungen und die Unfallentwicklung anderer Staaten einbezogen werden, die für ihre Autobahnen ein Tempolimit haben.
Lieber Herr Kollege Schäfer, ich denke, wir überlassen es nicht unseren prophetischen Weissagungen, sondern wollen die wissenschaftlichen Untersuchungen noch weitertreiben.
Ich meine, vor allen Dingen der Großversuch im Raum Köln hat bewiesen, daß ein situationsbezogenes Tempolimit den entscheidenden Vorteil auf Autobahnen bringt.
Ich hoffe, daß Sie unsere Bemühungen in Sachen Sicherung von Kindern im Pkw unterstützen werden.
Vielen Dank.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will am Ende der Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt noch darauf hinweisen, daß der Bundesminister für Umwelt mit Zustimmung der Fraktionen an einem Termin teilnimmt, der unaufschiebbar war.
— Ich sage ja, daß er einen Termin wahrnimmt, der unaufschiebbar war.Wir sind nun am Ende der Aussprache und kommen zur Abstimmung. Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt auf Drucksache 12/1621, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/616 abzulehnen. Wir stimmen über die Ausschußempfehlung ab. Wer stimmt für
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5986 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992
Vizepräsident Helmuth Beckerdiese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Beschlußempfehlung des Ausschusses ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, gegen die Stimmen der SPD und der Gruppen PDS/Linke Liste und Bündnis 90/GRÜNE entsprochen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir kommen damit zum letzten Punkt der heutigen Tagesordnung.Ich rufe Punkt 12 der Tagesordnung auf:Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung von Lohndumping— Drucksache 12/1060 —Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Erhebt sich dagegen Widerspruch? — Ich sehe, das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem Minister des Landes Nordrhein-Westfalen, Herrn Hermann Heinemann, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei der Einbringung des Gesetzentwurfes zur Bekämpfung von Lohndumping durch die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen im Bundesrat habe ich betont, daß es nicht um eine grundsätzliche Diskussion des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und um die alten Schlachten zu diesem Thema gehen soll. Wir müssen aber die Realität zur Kenntnis nehmen und die erforderlichen Konsequenzen ziehen.Zur Realität gehört die deutsche Einigung mit ihren Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Es steht fest, daß Unternehmen das Lohngefälle zwischen den alten und den neuen Bundesländern zu ihren Gunsten ausnutzen. Das ist zwar eine verständliche Reaktion auf die tariflichen Gegebenheiten. Sie kann aber nicht hingenommen werden, wenn sie dazu führt, daß die Tarifautonomie in den alten Bundesländern durch den Import von Arbeitnehmern mit Niedriglöhnen unterlaufen wird.
Der Gesetzentwurf greift weder in die Tarifautonomie ein noch benachteiligt er, wie die Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung suggeriert, die Arbeitnehmer aus den alten Bundesländern. Vielmehr werden diese ebenso wie die Tarifautonomie durch das vorgesehene Gesetz abgesichert. Die ablehnende Stellungnahme der Bundesregierung, die der Ablehnung durch die CDU-geführten Länder entspricht, erstaunt mich insbesondere deshalb, weil auch die CDU-geführten neuen Bundesländer die Augen vor der Wirklichkeit verschließen.
Wer kann denn mit Anstand zusehen, wie Arbeitnehmer aus den neuen Bundesländern zu Niedrigstlöhnen in den alten Bundesländern arbeiten, währendihre Kollegen für die gleiche Arbeit als Mitglied der Stammbelegschaft einen doppelt so hohen Lohn bekommen!Ich muß sagen: Wie kann ich ruhigen Auges, wenn ich von Menschen gewählt bin, in einem Lande diesen Menschen in die Augen schauen, wenn ich mich bei der Abstimmung genau gegen die Interessen der Bürgerinnen und Bürger verhalte, die mir vorher mit einem gewissen Stimmenanteil das Vertrauen ausgesprochen haben!
Das beweist — da haben Sie recht —, daß die Arbeitnehmer in dieser Partei keine Bedeutung hatten.Meine Damen und Herren, ich bitte daher alle Mitglieder des Hohen Hauses herzlich, sich der Mühe zu unterziehen, dem Gesetzentwurf und seiner Begründung die Zielsetzung zu entnehmen, der man meines Erachtens nur zustimmen kann. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um das Sozialstaatsprinzip, um dem Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" Geltung zu verschaffen.Der Gesetzentwurf entspricht damit der von der EG-Kommission vorgeschlagenen Dienstleistungsrichtlinie, die ein ähnliches Instrumentarium für die Tätigkeit von Arbeitnehmern aus einem Mitgliedstaat in einem anderen Mitgliedstaat vorsieht. Unser heutiges Problem ist jedoch zu brennend, als daß wir auf eine Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie warten könnten. Das Gesetz wird heute gebraucht. Für mich ist es schon erschreckend, welcher Zeitraum bei dieser Gesetzesvorlage aus dem Bundesrat bis heute vergangen ist und wieviel Zeit zu Lasten der Menschen in den fünf neuen Bundesländern verlorengegangen ist. Da die Westarbeitnehmer die billige Konkurrenz aus den neuen Bundesländern fürchten, gilt es, die aufkommende Unruhe in den Betrieben ebenso zu beseitigen wie die Benachteiligung der Ostarbeitnehmer.Das Problem hat aber über die Problematik der deutschen Einigung hinaus eine weitere Dimension. Auch in den alten Bundesländern kommt es zu erheblichen Lohndifferenzen bei gleicher Tätigkeit, die einerseits durch die Stammbelegschaft und andererseits durch Leiharbeitnehmer ausgeführt werden. Die Differenzen sind zwar nicht so kraß wie gegenüber Arbeitnehmern aus den neuen Bundesländern, sie erreichen aber mitunter eine beträchtliche Höhe, die sich nicht aus den Besonderheiten des Leiharbeitsverhältnisses, das ich persönlich als moderne Form des Sklavenhandels strikt ablehne, rechtfertigen läßt.
Da es bilaterale Vereinbarungen mit osteuropäischen Staaten gibt, bei denen die deutschen Arbeitsämter mit den Arbeitsverwaltungen des Herkunftslandes zusammenarbeiten, um die unkontrollierten Einreisen ausländischer Arbeitnehmer zu verhindern und — das betone ich — um die Beschäftigung zu vergleichbaren Arbeits- und Lohnbedingungen mit den deutschen Arbeitnehmern zu gewährleisten, frage ich — die Frage stelle ich ernsthaft —: Warum darf es entsprechende Regelungen für Arbeitnehmer aus den neuen Bundesländern nicht geben?
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5987
Minister Hermann Heinemann
Es geht allein darum, genau diesen Arbeitnehmern die ortsüblichen Löhne zu verschaffen, wenn sie in den alten Bundesländern eingesetzt werden. Die ostdeutschen Arbeitnehmer sind die Hauptbetroffenen des Vorschlages dieser Regelung, aber nicht, wie sich aus der Stellungnahme der Bundesregierung ableiten läßt, im negativen, sondern nach unseren Vorstellungen im positiven Sinne.Nicht den Arbeitnehmern der ostdeutschen Betriebe drohen Nachteile, sondern Nachteile drohen den Arbeitsverleihern aus dem Westen, die eine Ostfiliale gründen, um wiederum im Westen tätig zu sein und durch Billiglöhne ihren Profit weiter aufzublähen.Eine Schlechterstellung ostdeutscher Betriebe gegenüber Betrieben aus dem Ausland kann ich in keiner Weise erkennen, da auch ausländische Betriebe, soweit ein auffälliges Mißverhältnis in den Bedingungen des Arbeitsvertrages zu den ortsüblichen Bedingungen besteht, ebenfalls dieser Regelung unterfallen. Es soll kein Mindestlohn, wie in vielen anderen Staaten üblich, festgelegt werden. Vielmehr sollen die ortsüblichen Arbeitsbedingungen, die durch die Tarifparteien ausgehandelt werden, gelten.Der Vorhalt bürokratischer Hemmnisse für die ostdeutschen Betriebe ist offensichtlich vorgeschoben. Die Feststellung des ortsüblichen Vergleichslohns für einen Arbeisverleiher ist nicht eine Frage der Bürokratie, sondern bestenfalls diejenige eines Telefonanrufs.Ein letzter Hinweis: Anlaß des Gesetzentwurfs war nicht zuletzt der Deutsche Bundestag selbst. Aufgefallen sind krasse Fälle des Lohndumping nirgendwo anders als auf der Baustelle des Bundestages in Bonn.
Es steht Ihnen frei, die Bedeutung des Gesetzesvorhabens zu relativieren, indem Sie den Entwurf langfristig in den Ausschüssen beraten. Allerdings werden dadurch nur die Aspekte ausgesessen, wie es ja bisher schon von der Einreichung im Bundesrat bis hierher geschehen ist, die das Lohngefälle innerhalb der Bundesrepublik betreffen.Das Gesetz wird aber darüber hinaus seine Bedeutung behalten, vermutlich sogar in verstärktem Maße, da künftig mit Wanderungsbewegungen von Arbeitnehmern in Europa, vor allen Dingen aus Osteuropa, zu rechnen sein wird. Diese Dimension des Problems bitte ich bei Ihren Beratungen mit zu berücksichtigen.Bedenken Sie bei Ihrer Entscheidung, ob es sich ein Sozialstaat erlauben kann, den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit im gleichen Betrieb und am gleichen Arbeitsort" für einen Teil seiner Arbeitnehmer außer Kraft zu setzen. Sie sind aufgefordert, die soziale Gerechtigkeit wiederherzustellen. Insofern bitte ich Sie alle, bei der Beratung unseres Gesetzentwurfs diesem Ihre Zustimmung zu geben.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Horst Günther.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung spricht sich gegen den Gesetzentwurf des Bundesrates aus;
denn er ist weder zweckmäßig, noch besteht für ihn Bedarf, Kollege Heinemann.Der Gesetzentwurf sieht insbesondere vor, daß Arbeitnehmer bei Arbeitnehmerüberlassung und bestimmten Werkverträgen nach den Bedingungen im Entleiher- oder Einsatzbetrieb entlohnt werden müssen, wenn ihr Entgelt 20 % oder mehr hinter dem Tariflohn oder der ortsüblichen Vergütung zurückbleibt.Hauptbetroffene dieser Regelung sind die ostdeutschen Arbeitnehmer und ihre Betriebe.
Diesen wird — oder, besser gesagt: würde — durch diesen Gesetzentwurf die Chance genommen, in der schwierigen Aufbauphase Arbeitsplätze zu erhalten. Der Antrag erschwert nämlich, Auftragslücken durch Arbeitnehmerüberlassung in Westbetriebe zu überbrücken oder im Westen als Werkvertragsunternehmer tätig zu werden.
Das weiß auch der Initiator des Gesetzentwurfs, das Land Nordrhein-Westfalen. In der Begründung des Entwurfs wird die Tätigkeit von Arbeitnehmern aus Ostdeutschland im Westen nämlich ausdrücklich als Motiv für den Gesetzentwurf genannt.Eines muß klargestellt sein: Soweit sich der Gesetzentwurf auf die Arbeitnehmerüberlassung bezieht, betrifft er nur Verleiher, die eine Erlaubnis der Bundesanstalt für Arbeit haben.Die Erlaubnis nach dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz benötigen auch sogenannte Mischbetriebe, also z. B. Handwerksbetriebe, die Arbeitnehmer gewerbsmäßig überlassen. So haben denn auch im vergangenen Jahr weit überwiegend solche Betriebe in Ostdeutschland eine Erlaubnis erhalten und nur wenige sogenannte reine Verleiher.Leiharbeiter von illegalen Verleihern, also solchen ohne Verleiherlaubnis, sind schon heute kraft gesetzlicher Fiktion Arbeitnehmer des Entleihers und haben als solche Anspruch auf den Lohn nach den Verhältnissen im Entleiherbetrieb.Der Gesetzentwurf nimmt unseres Erachtens den ordnungsgemäß handelnden legalen Verleihern und Werkvertragsunternehmern in Ostdeutschland einen Teil der neugewonnenen Freiheit des Dienstleistungsverkehrs über die früheren Grenzen hinweg. Die ostdeutschen Unternehmen verlieren den Wettbe-
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Parl. Staatssekretär Horst Güntherwerbsvorteil niedriger Arbeitskosten, wenn sie Werkverträge im Westen durchführen.
— Doch, Herr Kollege.
Kurioserweise würden damit ostdeutsche Betriebe und Arbeitnehmer schlechtergestellt als vergleichbare EG-Unternehmen.Die ostdeutschen, vom Gesetzentwurf betroffenen Arbeitgeber haben sich an den Westlöhnen zu orientieren und müssen die Arbeitsbedingungen im Westbetrieb ermitteln, auch wenn der Einsatz eines Arbeitnehmers dort nur kurzfristig ist. Hier werden auch bürokratische und finanzielle Schranken aufgebaut, die der Ostarbeitgeber aber ernstzunehmen hat. Bei Fehlern, auch solchen, die er fahrlässig begeht, drohen ihm nach dem Gesetzentwurf hohe Bußgelder bis zu 100 000 DM.Meine Damen und Herren, noch gibt es ein Lohngefälle, wie Sie wissen, zwischen den alten und neuen Bundesländern. Doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Angleichung erreicht ist. Die Tarifvertragspartner haben bereits die Weichen hierfür gestellt. Für einige Branchen sind Stufenpläne über die vollständige Anpassung der östlichen Tarifvergütungen an die westlichen bereits fest vereinbart worden.
Freie Lohnverhandlungen zwischen den Tarifpartnern — darauf können wir in unserer Sozialen Marktwirtschaft stolz sein, und darauf werden wir auch nicht verzichten, meine Damen und Herren.
Im übrigen würde ein solches Gesetz auch nur eine kurze Überbrückungsfunktion in bezug auf die neuen Bundesländer haben.
Jetzt sollen mit diesem Gesetzentwurf die Räder plötzlich zurückgedreht werden. Der Gesetzgeber soll die Lohnhöhe in bestimmten Bereichen der Wirtschaft zumindest indirekt regeln. Dies ist jedoch weder seine Aufgabe, noch entspricht dies dem Grundsatz der Tarifautonomie. Wir wollen aber an der Tarifautonomie nicht rütteln, denn sie ist ein Fundament unserer Sozialen Marktwirtschaft, und auf die Tarifvertragspartner ist Verlaß. Sie sind durchaus selbst in der Lage, auf offene Fragen die passenden Antworten zu finden.Bedenken Sie bitte auch, daß der Verleiher nach dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz Arbeitgeber der Leiharbeitnehmer ist. Der Lohn richtet sich daher nach den im Verleiherbetrieb geltenden Bedingungen. Durch den Gesetzentwurf wird dieser Grundsatz, der sich übrigens bewährt hat, verlassen und damit Unruhe in die Ostbetriebe getragen. So wird sich z. B. der Arbeitnehmer in einem ostdeutschen Betrieb benachteiligt fühlen, wenn er nicht wie sein Kollege in einem West-Berliner, sondern in einem Ost-Berliner Betrieb zum Einsatz kommt. Das Entgelt der Arbeitnehmer schwankt je nach dem, ob sie einem West-oder Ostbetrieb überlassen werden. Das wissen auch Sie.Einigkeit besteht darin, daß die Qualifizierung der Ostarbeitnehmer auch durch Einsatz in Westbetrieben nicht behindert werden darf. Der Gesetzentwurf sieht deshalb eine Ausnahme für den Einsatz von Arbeitnehmern zur Qualifikation vor. Auch die Bundesregierung tritt dafür ein, daß nicht unter dem Deckmantel der Qualifikation tatsächlich unerlaubte Arbeitnehmerüberlassung betrieben wird. Auftretende Mißbräuche in diesem Bereich wurden und werden bekämpft.Damit die Arbeitgeber und die Dienststellen der Bundesanstalt für Arbeit Kriterien zur Abgrenzung zwischen Überlassen zur Arbeitsleistung und Entsendung zur Qualifizierung von Arbeitnehmern erhalten, hat der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit am 4. Juli 1991 entsprechende Weisungen erlassen, die mit den Sozialpartnern abgestimmt sind. Danach besteht auch für die Ausnahmevorschrift im Gesetzentwurf kein Bedarf.Aus all diesen Gründen bitte ich, meine Damen und Herren, diesen Gesetzentwurf abzulehnen. — Im übrigen, Herr Kollege Heinemann: Ob die Arbeitnehmer in der CDU-Partei keine Rolle spielen, das überlassen Sie bitte einmal der Bevölkerung. Die jedenfalls sieht das ganz anders.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren. Ich erteile jetzt unserer Kollegin Frau Petra Bläss das Wort.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Namen der PDS/Linke Liste begrüße ich den vom Bundesrat vorgelegten Gesetzentwurf zur Bekämpfung von Lohndumping, auch wenn ich der Auffassung bin, daß mit dieser Initiative nur ein Ausschnitt der sich in den letzten Monaten verschärfenden Gesamtproblematik des Ost-West-Arbeitsmarktes erfaßt ist.Mir fällt es schwer, über Lohndumping ausschließlich unter dem Stichwort „Arbeitnehmerüberlassung" zu diskutieren und dabei nicht einzubeziehen, welche Aushöhlung der Tarifstruktur und welche Auswüchse des Handels mit Leiharbeiterinnen und -arbeitern durch die enormen Einkommensunterschiede in Ost und West entstehen können, ohne mitzudenken, was die inzwischen auf 600 000 Personen angeschwollenen Pendler- und Pendlerinnenströme ebenso wie Übersiedlerinnen und Übersiedler sowie all jene, die im Ost-West-Verkehr auf Arbeitssuche sind, bewirken.Der vorliegende Gesetzentwurf zielt vor allem darauf, einen Mißbrauch bisheriger Vorschriften im Zusammenhang mit Leiharbeit zukünftig zumindest einzugrenzen bzw. ein Umgehen gesetzlicher Regelungen zu erschweren. Verhindern wird man weder den Mißbrauch noch illegale Leiharbeit überhaupt, auch nicht mit neuen Gesetzen; es sei denn, dieser
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Petra BlässBundestag entschließt sich zu einer radikalen Lösung, nämlich einem Verbot der Leiharbeit — eine von den Gewerkschaften seit langem nicht ohne Grund erhobene Forderung. Denn ein Anwachsen der Leiharbeit bleibt nicht ohne Wirkung auf die Einkommens- und Arbeitsverhältnisse der in Leiharbeit Arbeitenden. Niedrigstlöhne und das Fehlen von Schutzrechten sind an der Tagesordnung. Aber auch die Tarifstruktur und die Beschäftigtenpolitik der Entleiherbetriebe werden im Zuge anwachsender Leiharbeit negativ beeinflußt.Deshalb unterstützen wir die Forderung der Gewerkschaften nach einem Verbot der Leiharbeit, stimmen aber dem vorliegenden Gesetzesentwurf zu, weil damit ein Schritt in die richtige Richtung gegangen wird.Ein des Linksabweichlertums gänzlich unverdächtiges Presseorgan wie die Zeitschrift „Die Marktwirtschaft" wußte immerhin schon in ihrer März-Ausgabe 1991 zu berichten, daß das Leihgeschäft blühe wie nie zuvor. Danach gab es bereits zu diesem Zeitpunkt in Ostdeutschland mehrere hundert Leiharbeitsunternehmen. Täglich sollen fünf bis zehn Lizenzen neu beantragt worden sein.Dies ist auch der Hintergrund der Bundesratsinitiative. War die Leiharbeit schon eh und je umstritten, so muß jetzt angesichts der neudimensionierten Riesengeschäfte, insbesondere auf Kosten der ostdeutschen Beschäftigten, dieser Praxis Einhalt geboten werden. Denn Fakt ist: Im Zuge des Anschlufiprozesses hat die Leiharbeit einen neuen Auftrieb und für Unternehmer aus Ost und West lukrative Attraktivität bekommen. Die Gewinnspannen für Verleihfirmen sind sprunghaft angestiegen. Dadurch, daß nach bisheriger gesetzlicher Regelung das Lohngefälle West/ Ost für sie fast unbegrenzt nutzbar ist, winken ihnen beim Handel mit Leiharbeiterinnen und -arbeitern größere Gewinne als durch andere wirtschaftliche Aktivitäten.Dabei braucht man gar nicht auf halblegale Praktiken oder sogenannte Graubereiche im Leihgeschäft wie Arbeit unter dem Deckmantel von Qualifzierungsmaßnahmen oder im Gewand von Werkverträgen auszuweichen. Nein, ganz regulär kann eine Verleihfirma nicht selten mehr als 50 % der Lohnkosten, die der Entleihbetrieb pro Kopf und Stunde zu zahlen hat, für sich einstreichen.In der bereits zitierten Zeitschrift „Die Marktwirtschaft" wird als Beispiel die Firma Intron GmbH in Dömitz genannt. Früher wurden dort Zündkerzen für den Trabant produziert; heute verleiht dieser Betrieb seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an Matsushita in Lüneburg und kassiert dafür 14 DM des dort gezahlten Stundenlohns von 23 DM — ein echtes Schnäppchen für die Intron GmbH. Die Frage ist nur: Was geschieht mit diesen Geldern? Schafft Intron dafür zukunftsträchtige Arbeitsplätze in der Region Dömitz für Fachkräfte, die sich inzwischen im Westen weiterqualifizieren konnten, oder aber wird über diese Form der Leiharbeit das Ausbluten ganzer ostdeutscher Regionen fortgesetzt? Und was bewirken die Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter aus Dömitz — Ost — bei Matsushita in Lüneburg — West —, befördern sie etwa den Trend in westdeutschenBetrieben, nur noch olympiareife Stammbelegschaften zu beschäftigen?Ein Gesetz, das eine hier nur in wenigen Punkten angerissene fatale Entwicklung für die betroffene Beschäftigtengruppe, aber auch für den Industriestandort Ost eindämmen hilft, werden wir in jedem Falle unterstützen. Daß die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme ausgerechnet bei dem hier vorliegenden Gesetzentwurf vor einem Eingriff in die Tarifautonomie warnt, wirkt, meine Damen und Herren, angesichts der gegenwärtigen Stellungnahmen von Regierungsmitgliedern zu den anstehenden Tarifauseinandersetzungen allerdings etwas seltsam.Danke.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Heinz Hübner.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu dem uns vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung von Lohndumping kann ich an dieser Stelle nur massive Vorbehalte anmelden, massive Vorbehalte insofern, als es gerade mir, der ich aus Thüringen komme, um die Hauptbetroffenen einer solchen Regelung geht, um die negativ Betroffenen, nämlich die ostdeutschen Betriebe und deren Arbeitnehmer, für die sich die Chance verringern würde, in der schwierigen Aufbauphase der ostdeutschen Wirtschaft Arbeitsplätze zu erhalten.
Zum anderen kann und darf es nicht die Aufgabe des Gesetzgebers sein, die Lohnhöhe in bestimmten Bereichen der Wirtschaft zu regeln. Auf so etwas läuft nämlich Ihr Gesetzentwurf letztendlich hinaus, der eine alte Kampagne fortsetzt, um Arbeitnehmerüberlassungen durch mehr Bürokratie unmöglich zu machen.Des weiteren sehen wir in diesem Entwurf — das wurde bereits erwähnt — einen unerlaubten Eingriff in die Tarifpolitik, da durch diesen Gesetzentwurf bestehende Tarifvereinbarungen für Ostdeutschland korrigiert werden.
— Herr Möllemann mahnt. Er greift nicht ein, er mahnt. Sie haben einen Gesetzentwurf gemacht, Herr Möllemann nicht. — Es kann doch wohl nicht die Absicht der SPD-Fraktion im Bundestag sein, bestehende Tarifvereinbarungen zu unterwandern.Der Gesetzentwurf, den Sie hier vertreten, erschwert die Überbrückung von Auftragslücken in den neuen Bundesländern und erschwert den Anpassungsprozeß in der ostdeutschen Industrie, wie ich eingangs schon erwähnte.
Er würde ein Ventil öffnen, Kollege Reimann, dasnicht nur, wie schon angedeutet, die Tarifvereinba-
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Heinz Werner Hübnerrungen unterläuft, sondern auch noch einen Unterschied zwischen Ost und Ost innerhalb des gleichen Betriebes hervorruft, weil sich der Arbeitnehmer, der im Osten arbeitet, während sein Kollege im Westen aus dem gleichen Betrieb mehr verdient, sagt: Ich gehe auch hinüber. — Dann verschwinden wieder Arbeitsplätze.Ein weiterer Einwand muß gestattet sein, was die Regelungen betrifft, die praktisch einen gesetzlichen Mindestlohn festlegen, was wiederum nicht dem Grundsatz der Tarifautonomie und der Sozialen Marktwirtschaft entspricht.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Reimann?
Ja, bitte.
Herr Kollege Hübner, da Sie als FDP-Abgeordneter so großen Wert auf liberale Marktwirtschaft legen, frage ich Sie: Was würden Sie denn sagen, wenn ein Unternehmer aus den neuen Ländern auf Grund seiner niedrigeren Tarifgestaltung
— ich würde jetzt einmal von Lohndumping sprechen
— einen Unternehmer aus den alten Ländern, der unsere Tariflöhne zahlen muß, bei einer Ausschreibung aus dem marktwirtschaftlichen Rennen wirft und der daraufhin in den alten Ländern Entlassungen vornehmen muß, weil der Unternehmer in den neuen Ländern so billig arbeitet? Was würden Sie als FDP- Mann dazu sagen?
Das, Kollege Reimann, kann gerade nicht passieren, weil die zur Zeit einzige Möglichkeit für ostdeutsche Betriebe, sich zu halten, über den Preis gestaltet wird. Und das ist mit Leiharbeitern durchaus möglich.
— Das ist keine Wettbewerbsverzerrung, sondern das ist eine Ausnahmesituation, von der auch Sie konkret sprechen.Wir sehen hier keinen Handlungsbedarf, zumal es sich, wie ich sagte, um eine Ausnahmesituation, um ein Übergangsproblem handelt. In einem Punkt jedoch ist den Verfassern dieses Gesetzentwurfes zuzustimmen, Herr Kollege Schreiner: Es besteht Handlungsbedarf, aber nicht im Sinne des Gesetzentwurfs, sondern in Richtung auf mehr Flexibilität und eine sachgerechte Abgrenzung zwischen Werkverträgen und Arbeitnehmerüberlassungen.Wir müssen dem Gesetzentwurf auch entgegenhalten, daß er wohl auf einer Überschätzung der legalen Leiharbeit beruht, der Mitte des Jahres 1990 nur etwa ein halbes Prozent der Beschäftigten im Westen Deutschlands nachging. § 1 Ihres Gesetzentwurfes z. B. sieht die Unwirksamkeit des Vertrages zwischen Verleiher und Leiharbeitnehmer bei einem auffälligen Mißverhältnis von 20 % vor. Hier sei Ihrer Meinung nach ein Eingriff in die Vertragsfreiheit notwendig, um Wettbewerbsverzerrungen durch unterschiedliches Lohnniveau und soziale Spannungen zu unterbinden. Es sind hehre Absichten, was dieBenachteiligungen betrifft, die Sie heraufbeschwören. Doch das ändert nichts an der Tatsache, daß Vertragsfreiheit besteht und der Arbeitsvertrag zwischen dem Verleiher und den Leiharbeitnehmern geschlossen wird.Es werden dem Entleiher in Ihrem Entwurf Pflichten auferlegt, die er bei Anwendung der notwendigen Gewissenhaftigkeit nicht erfüllen kann — von den Schwierigkeiten gerade in dem Zusammenhang, die Ihr Gesetzentwurf z. B. für die Handwerksbetriebe im Osten hervorrufen würde, ganz zu schweigen.Aber auch im Bereich der Qualifikation begegnen wir dem Entwurf mit erheblichen Bedenken; denn ostdeutsche Arbeitnehmer verfügen in der Regel über gute theoretische Kenntnisse — das müßten Sie eigentlich wissen — und müssen lediglich praktische Erfahrungen mit modernen Maschinen und mit neuen Arbeitsformen sammeln.Verleiher und Werkvertragsunternehmen in Ostdeutschland würden durch Ihren Gesetzentwurf einen Teil der gerade gewonnenen Freiheit der Dienstleistungen über diesen früheren Stacheldrahtzaun hinweg verlieren. Sie würden den Wettbewerbsvorteil — ich wiederhole das, Kollege Reimann — eines ostdeutschen Unternehmens einbüßen, nämlich derzeit noch niedrigere Arbeitskosten anbieten zu können, damit sie erhalten bleiben. Darum muß es uns doch gemeinsam gehen.
Unsere Betriebe in Thüringen, in Sachsen und in den anderen neuen Bundesländern wären durch Ihre Regelung faktisch am stärksten betroffen und im Grunde genommen nicht mehr konkurrenzfähig.
Die Tatsache, daß Ihr Gesetz sofort nach Verkündung in Kraft treten soll, ist einmal im Hinblick auf schon bestehende Vertragsbedingungen und Geschäftsbeziehungen nicht praktikabel. Zum anderen soll dieser Gesetzentwurf als Gesetz nach wenigen Jahren außer Kraft treten. Das zeigt Ihr geringes Zutrauen zum eigenen Gesetzentwurf.
Summa summarum: Der Entwurf erscheint uns erstens unausgegoren und halbherzig, vor allem jedoch wenig durchdacht. Er nimmt zweitens keinerlei Rücksicht auf die noch bestehenden Unterschiede in West- und Ostdeutschland. Drittens wird verkannt, daß es hier auch und besonders um Chancen für einzelne Unternehmen und die ostdeutsche Wirtschaft im gesamten geht. Viertens müssen gerade im Hinblick darauf für wenige Jahre gewisse — unseres Erachtens jedoch geringfügige — Nachteile akzeptiert werden, gerade im Interesse der Betriebe, die wir erhalten wollen.Im Verhältnis zu diesen geringfügigen Nachteilen, insbesondere auch im Hinblick auf die Bedeutung der legalen Leiharbeit für die Gesamtwirtschaft, sind die
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Heinz Werner Hübnerschwerwiegenden Eingriffe in bewährte Grundsätze der Sozialen Marktwirtschaft, etwa Tarifautonomie und freier Wettbewerb des Marktes, zu sehen. Übervater Staat kann sich auch hier nicht so reinhängen, wie Sie sich das vorstellen.Dieser Gesetzentwurf würde für die betroffenen Unternehmen weniger den Aufschwung Ost als mehr den Abschwung Ost bedeuten. Diese wesentliche Erkenntnis zwingt uns, diesem Entwurf auf keinen Fall unsere Zustimmung zu geben. Es sind untaugliche Versuche, wenn man noch bestehende Unterschiede künstlich beseitigen will, indem man diese Unterschiede selbst forciert, vergrößert und aufbläht. Von staatlichen Eingriffen haben wir im Osten genug. Wo sie vermeidbar sind — hören Sie genau zu! —, wo der Staat so wenig wie möglich eingreifen muß, dort kann die Marktwirtschaft wirken — unter Zuhilfenahme dieser staatlichen Eingriffe, aber nur als Hilfsmittel. Diese müssen so gering wie möglich sein und einen Anstoß für eine gut funktionierende Marktwirtschaft geben,
die dann auch sozial sein kann und sozial sein wird.Herr Gilges, wir werden über diese Fragen sicherlich noch ausführlich diskutieren. Unterlassen Sie also die Fortsetzung des alten Feldzuges gegen das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz!
Fordern Sie statt dessen mit uns gemeinsam den DGB auf, Tarifverträge zum Arbeitnehmerüberlassungsgesetz abzuschließen. Das wäre vielleicht eine Möglichkeit, sich zu treffen.Recht vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen HansEberhard Urbaniak das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um es vorweg zu sagen: Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion unterstützt diesen Gesetzentwurf des Bundesrates
und dankt vor allen Dingen Minister Heinemann, daß er ihn vorangebracht hat.
Wir haben es hier mit einem Mißstand zu tun, der den Staat und das Parlament natürlich herausfordert. Die aufgeworfenen Punkte, die Arbeitnehmer betreffen und die Arbeitgeber über illegale Maßnahmen reicher machen, müssen aufgegriffen und die Schlupflöcher geschlossen werden.
Dies ist bisher trotz aller Maßnahmen, Appelle und Darstellungen nicht gelungen. Wenn die Bundesregierung in ihrer Gegendarstellung feststellt, daß wir es1989/90 mit 125 000 Arbeitnehmern zu tun haben, die von Leiharbeitsfirmen vermittelt worden sind, so ist heute festzustellen, daß über 600 000 Menschen aus den neuen Ländern — mit steigender Tendenz — in den alten Ländern ihre Beschäftigung suchen. Da kann ich nur sagen: Da gibt es eine große Grauzone; es ist eine weitaus höhere Zahl anzunehmen. Im übrigen hat sich die Bundesregierung auch dann darum zu kümmern, wenn es sich nur um 10 000 handelt, die ungerecht behandelt werden. Das kann man doch nicht zur Seite schieben; das ist doch nicht in Ordnung!
Darum sage ich: Der Gesetzentwurf des Bundesrates ist zu begrüßen. Es ist ja schlimm genug, über Lohndumping sprechen zu müssen. Das müssen wir bekämpfen; das ist überhaupt keine Frage, meine Damen und Herren!Selbstverständlich haben wir eine Reihe von Erfahrungen mit dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz. Wir haben es 1972 novelliert und mit Bußgeldvorschriften verschärft. Das hat alles nicht ausgereicht, so daß die Sozialdemokraten auf ihren Parteitagen beschlossen haben: Dies kann überhaupt kein brauchbares Instrument zur Vermittlung von Arbeitnehmern sein; wir können gut und gerne auf dieses Gesetz verzichten und lehnen es im Grundsatz ab.
Darum bitte ich, diesen Entwurf nicht einfach pauschal abzulehnen, sondern sich dem Problem tatsächlich zu stellen; denn Sie müssen zwei Dinge bedenken:Die Wanderungsbewegungen aus dem südöstlichen und östlichen Europa werden sich, ob wir das wollen oder nicht, massiv verstärken. Es wird findige Leute geben, die sich Unternehmer nennen — wir verurteilen ja nicht sämtliche Unternehmer, sondern einschlägig findige —, die versuchen, sich über illegale Maßnahmen dieser Arbeitnehmer zu bemächtigen, um sie über dubiose Verträge in Beschäftigung zu bringen, und die Leute glauben, dies sei alles in Ordnung.Das zweite, was ab 1993 auf uns zukommt, wird der Binnenmarkt sein. Dabei gibt es ein Leitmotiv, nämlich freier Warenhandel. Davon, daß soziale Flankierung, Rechte der Betriebsräte, Einflüsse der Gewerkschaften und ein großer Konsens gleichwertig danebengestellt werden, ist in der Europäischen Gemeinschaft überhaupt nichts erkennbar; das wird doch geradezu sabotiert. Dies kann natürlich dazu führen, daß der soziale Konsens der eigentlich den Aufbau unserer Demokratie herbeigeführt hat und der durch Gewerkschaften und tüchtige Arbeitnehmer und natürlich auch durch weitschauende Unternehmer zustande gekommen ist, in Gefahr kommt.
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Hans-Eberhard UrbaniakWenn der in Gefahr gerät, dann sehe ich ganz große Probleme auf uns zukommen. Dieser Frage müssen Sie sich selbstverständlich ebenfalls stellen, meine Damen und Herren; das ist gar nicht anders zu machen.Wir treten daher dafür ein — das ist im Gesetzentwurf konkret vorgesehen —, daß die Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte ausgebaut werden, um sich dieses Problems tatsächlich konstruktiv annehmen zu können.Es ist leider wohl auch notwendig, daß die Bußgeldvorschriften stärker ausgebaut werden, weil die Leute einfach nicht davon abzubringen sind, sich auf diesem Felde illegal zu bewegen.Daher bitten wir Sie, sich bei den Ausschußberatungen mit der Bundesratsinitiative ernsthaft zu beschäftigen. Denn sie gründet sich auf Erfahrungen, die gerade bei Kontrollen und Nachprüfungen durch die Gewerbeaufsicht in den Ländern gemacht worden sind. Kontrollen, die die Mißstände nach oben gespült haben. Wenn die Landesregierungen — und hier Nordrhein-Westfalen an der Spitze — das dann voranbringen, kann man das doch wohl nur begrüßen. Dies tun wir als Sozialdemokraten ausdrücklich; das will ich hier noch einmal sagen. Das Problem der Leiharbeiter wird nicht, so wie die Bundesregierung es sagt, gemessen an dem Bereich der Gesamtbeschäftigten, eine bedeutungslose Rolle spielen; durch die Problematik der Wanderungsbewegungen und der europäischen Einigung wird dies vielmehr noch eine größere Dimension annehmen.Daher ist Handlungsbedarf angesagt. Wir unterstützen hierbei den Bundesrat. Dem Handel mit Leiharbeitern neuen Auftrieb zu geben, wäre eine ganz schlechte Sache. Dies ist ein verwerflicher und sehr unsittlicher Vorgang.Ich glaube, was die Frage des sozialen Konsenses angeht, gibt es in diesem Hause keinen Unterschied. Wir werden daher in den Plenar- und Ausschußberatungen alle Möglichkeiten nutzen, um auf diesem Felde voranzukommen und den Entleihern, die sich unkorrekt, ja strafrechtlich relevant verhalten, mit diesem Gesetz entscheidend entgegenzutreten.Ich hoffe, daß Sie uns und den Bundesrat dabei unterstützen. Noch einmal: Schönen Dank, lieber Hermann Heinemann!
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt als letztem Redner in dieser Debatte unserem Kollegen Dr. Peter Ramsauer das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es verwundert mich schon etwas, daß ausgerechnet in der derzeitigen tarifpolitischen Auseinandersetzung, bei der die Gewerkschaften von uns Politikern Zurückhaltung fordern, ein Gesetzentwurf diskutiert wird, mitdem wir Politiker gerade in Tariffragen eingreifen sollen.
— Diese Frage werde ich im Verlauf meiner Ausführungen gerne beantworten.
Vielleicht geht es den Initiatoren des Gesetzentwurfes im Kern eben nicht um Tariffragen, sondern schlicht und einfach darum, die legale Arbeitnehmerüberlassung ganz generell zurückzuschrauben oder möglichst ganz zu verhindern.Initiator des Gesetzentwurfs ist das SPD-regierte Bundesland Nordrhein-Westfalen. Wenn man den Gesetzentwurf liest, merkt man sofort, daß der DGB dabei Pate gestanden hat.
Das allein, meine lieben Kollegen, wäre als solches jedoch noch nicht unanständig. Schlimm ist jedoch, daß der DGB Schritte zum generellen Verbot der Leiharbeit einfordert
und daß dieser Gesetzentwurf ein Schritt in diese Richtung sein soll, obwohl das Bundesverfassungsgericht bereits im Jahr 1967 das bis dahin bestehende Verbot der Arbeitnehmerüberlassung aufgehoben hat, weil es gegen das Grundrecht der Berufsfreiheit verstößt.Mit dem Verbot der Arbeitnehmerüberlassung für den Baubereich, wie es das AFG bekanntlich regelt, ist der DGB wohl nicht zufrieden. Statt dessen soll nun mit dieser Bundesratsinitiative die Arbeitnehmerüberlassung so erschwert und urpraktikabel gemacht werden, daß ein Quasi-Verbot auf dem Umweg erreicht wird. Statt mit Phantasie alle Möglichkeiten auszuschöpfen, Arbeitsplätze und Beschäftigung zu ermöglichen, sollen sie hier mit starrer Kolonnenmentalität unterbunden werden.
Bezeichnenderweise trugen die ersten Entwürfe von Nordrhein-Westfalen, Herr Minister Heinemann, die Bezeichnung „Gesetz zur Bekämpfung von sozialschädlicher Arbeit". Diese verräterische und eigenartige Bezeichnung — ich frage mich auch, was „sozialschädliche Arbeit" eigentlich sein soll — wurde dann in die allerdings auch nicht sehr viel bessere Bezeichnung „Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung von Lohndumping" umgewandelt.Als Dumping definiert der Duden eine „Preisunterbietung auf Auslandsmärkten mit dem Ziel, die
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Dr. Peter RamsauerMachtstellung der ausländischen Konkurrenz zu brechen".
Übertragen auf das vorliegende Problem muß ich klar feststellen, daß von Preisunterbietungen für den Produktionsfaktor Arbeit mit dem Ziel, die Machtstellung anderer Anbieter von Arbeitskraft, also anderer Arbeitnehmer, zu brechen, überhaupt nicht die Rede sein kann. Allenfalls sieht der DGB selbst sein Machtmonopol in manchen Bereichen gefährdet,
was aber für sich genommen kein entscheidungsrelevanter Faktor für arbeitsmarktpolitische und arbeitsmarktrechtliche Fragen sein kann.
Angesicht dieses Machtmonopols hat Helmut Schelsky einem bekannten Aufsatz einmal die berechtigte Frage als Überschrift gegeben: „Wer schützt die Arbeiter vor den Funktionären?"
Quelle ist der „Rheinische Merkur — Christ und Welt" vom September 1982.
— Um Ihre Frage gleich vorweg zu beantworten: Ich lasse Ihre Zwischenfrage nicht zu, denn erstens würde das die Debatte nur verlängern
und zweitens haben sich, wie Sie sehen, schon die ersten Kollegen aus dem Plenum verabschiedet.
Bitte verzichten Sie deshalb auf die Zwischenfrage.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, nun ist aber in der Tat nicht zu verkennen, daß eine Arbeitnehmerüberlassung, bei der der Leiharbeitnehmer ein Arbeitnehmer des Verleihers ist und deshalb von diesem auch den Lohn bezieht, die Gefahr in sich birgt, daß Tarifverträge umgangen werden.
Deshalb sieht das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz aber auch vor, daß die Einsatzzeit ein und desselben Leiharbeitnehmers bei ein und demselben Entleiher sechs Monate nicht überschreiten darf.
Diese Sechs-Monats-Frist wurde durch die beidenBeschäftigungsförderungsgesetze von 1985 und 1990eingeführt. Vom 1. Januar 1996 an werden es wieder drei Monate sein. Die Begrenzung der Einsatzdauer beim Entleiher verhindert also, daß Dauerarbeitsplätze mit Leiharbeitnehmern besetzt werden.Im übrigen wird auch der Umfang der legalen Leiharbeit offensichtlich weit überschätzt. Nur ganze 0,55 % aller sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse sind solche von Leiharbeitnehmern.Der Gesetzentwurf begründet den mit ihm verbundenen gestaltenden Eingriff in die Vertragsfreiheit und in die Tarifautonomie damit, daß einer Benachteiligung der Arbeitnehmer, die zufällig an einem Ort leben, an dem wesentlich schlechtere Wirtschaftsbedingungen als am Einsatzort herrschen, vorgebeugt werden muß.Ansonsten - so die Begründung des Gesetzentwurfs — „entstehen Arbeitnehmer unterschiedlicher Klassen". Ganz abgesehen davon, daß damit wieder einmal von abgedroschenem, altem, untauglichem Vokabular marxistischen Klassendenkens Gebrauch gemacht wird,
das sich bekanntlich als Irrtum und zu Lasten jedes wirklich arbeitenden Menschen herausgestellt hat, wären demnach fast alle Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern Arbeitnehmer zweiter Klasse, denn die Tarifvereinbarungen sehen nun einmal im allgemeinen vor, daß ein Lohngleichstand im Verhältnis 1 : 1 etwa erst im Jahr 1994 erreicht werden wird.
Solange dies jedoch nicht der Fall ist, werden die Ostlöhne mehr oder weniger hinter den Westlöhnen herhinken.
Diese tüchtigen Arbeitnehmer, die heute und in den kommenden Jahren am Aufblühen der neuen Bundesländer entschiedenen Anteil haben werden, aus diesem Grunde als Arbeitnehmer zweiter Klasse zu bezeichnen, ist eine Diskriminierung, die ich entschieden zurückweise.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es kann wohl kein Zweifel daran bestehen, daß eine moderne arbeitsteilige Volkswirtschaft Arbeitnehmerüberlassung braucht, um vorübergehenden Arbeitskräfteausfall und teilweisen Expertenmangel schnell ausgleichen zu können.Auf der anderen Seite können Arbeitsplätze bei vorübergehendem Beschäftigungsmangel aber auch erhalten bleiben, wenn die Arbeitnehmer als Leiharbeitnehmer eingesetzt werden können. Deshalb weise ich es auch zurück, wenn legale Arbeitnehmerüberlassung als „sozialschädliche Arbeit" bezeichnet und versucht wird, sie mit dem vorliegenden Gesetzentwurf unpraktikabel zu machen. Die Gesetzesinitia-
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Dr. Peter Ramsauertive kann deshalb gut und gern als trojanisches Pferd bezeichnet werden,
da unter einem raffinierten Deckmantel ein massiver Angriff auf die Arbeitnehmerüberlassung im speziellen und auf die Tarifautonomie im allgemeinen gestartet wird.Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn man Verständnis für die Ansicht der DGB aufbringen kann, daß das, was hier unbeholfen als Lohndumping bezeichnet wird, verhindert werden sollte, ist es doch unverständlich, daß vom DGB bisher noch nicht versucht worden ist, dieses Problem selbst anzugehen. Es wäre beispielsweise Sache der Tarifparteien, selber zu überlegen, ob nicht bei einer Arbeitnehmerüberlassung der entleihende Arbeitgeber Zuschläge an den entliehenen Arbeitnehmer zahlen soll, wenn die Tarife im Entleiherbetrieb sonst unterschritten würden.Auch könnten Betriebsräte, die nach dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz vor dem Tätigwerden eines Leiharbeitnehmers vom Entleiher beteiligt werden müssen, dafür sorgen, daß der entleihende Betrieb einen finanziellen Ausgleich an den Leiharbeitnehmer gewährt, wenn dies gerechtfertigt ist.
Deshalb meine ich, daß schon mit ein bißchen Tarifphantasie bei den Gewerkschaften und den Arbeitnehmervertretungen der vorliegende Gesetzentwurf gänzlich überflüssig wäre — ein Gesetzentwurf, der zudem für die deutsche Wirtschaft unpraktikabel ist und den Arbeitnehmern selbst schadet.
Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß das Lohngefälle von West- nach Ostdeutschland ein allgemeines Problem ist
und die Tätigkeit von Arbeitnehmern aus Ostdeutschland im Westen auch ausdrücklich ein Motiv für den Gesetzentwurf bildet. Die Bundesregierung hat deshalb mit ihrer Feststellung recht, daß mit dem Gesetzentwurf Arbeitnehmern aus den neuen Bundesländern eine Chance genommen wird, in der schwierigen Aufbauphase eine Arbeit zu bekommen.
Die Presse der letzten Tage strotzt von Bekenntnissen von Politikern jeder Couleur, alles zu tun, um den arbeitsmarktlichen Aufschwung im Osten zu schaffen. So fordert beispielsweise Ihre Kollegin, Frau Matthäus-Maier, bei Bundeskanzler Kohl eine konzertierte Aktion ein. Denn, so die Kollegin Matthäus-Maier in einem Interview der Münchner „Abendzeitung", die „schlichte politische Vernunft" verlange, alle Beteiligten an einen Tisch zu holen.Die schlichte politische Vernunft spricht aber auch gegen diesen Gesetzentwurf. SPD-Altbundeskanzler Helmut Schmidt forderte bei dem renommierten Bergedorfer Gesprächskreis vor wenigen Tagen sogar Null-Runden bei den Tarifverhandlungen im Rahmen seines Modells einer konzertierten solidarischen Aktion, damit die wirtschaftliche Aufholjagd des Ostens gelinge.
Auch diesem Vorschlag von Helmut Schmidt steht die Absicht dieses Gesetzentwurfs völlig entgegen.Das Kieler Institut für Weltwirtschaft mahnt mit der Überschrift: „Lohnzurückhaltung schafft Arbeitsplätze" . Der Gesetzentwurf wäre genau das Gegenteil einer solchen Zurückhaltungsstrategie. Er würde sich vielmehr in die blinden Versuche einreihen, bei den Arbeitskosten unter allen Umständen hinaufzurennen, koste es, was es wolle. Dieselben Leute, die heute dieses blinde Hinaufschrauben fordern, stimmen morgen das laute Klagelied an, wenn es bei der Zunahme der Beschäftigung in den neuen Bundesländern und in der Bundesrepublik insgesamt nicht so vorwärts geht, wie sie zu fordern vorgeben.Nüchtern weisen die Wissenschaftler des Kieler Instituts darauf hin, daß in den Jahren von 1988 bis 1990 600 000 zusätzliche Arbeitsplätze nur dadurch geschaffen werden konnten, weil der Nominallohnanstieg um durchschnittlich 3 Prozentpunkte hinter dem Zuwachs des Volkseinkommens zurückgeblieben ist.Der Gesetzentwurf würde genau das Gegenteil dieses Rezepts bewirken. Wirklich soziale Politik, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, zeigt sich eben nicht darin, daß die Arbeitskosten in Kolonnenmentalität nach oben nivelliert und arbeitswillige Menschen dadurch künstlich vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden, sondern darin, daß diese Menschen mit Vernunft und Augenmaß im Arbeitsmarkt eingebunden werden.
Es geht auch nicht an, daß wir auf der einen Seite mit Phantasie und arbeitsmarktpolitischen Instrumenten wie AB-Maßnahmen, Fortbildung, Umschulung und Vorruhestand versuchen, die arbeitsmarktliche und soziale Lage in den neuen Bundesländern im Griff zu halten und damit die größte Herausforderung in unserem Land seit Ende des Zweiten Weltkriegs zu meistern, jedoch auf der anderen Seite diese Bemühungen mit einem solchen Gesetzentwurf torpedieren.
In der Tat mag es Fälle geben, in denen östliche Leiharbeitnehmer in westlichen Betrieben de facto zu etwas niedrigeren Löhnen tätig sind, als dies Branchen- oder ortsüblich ist. Als wesentlich ist dabei aber festzuhalten, daß dieser sonst möglicherweise im Osten arbeitslose Arbeitnehmer dennoch einen Arbeitsplatz hat, weil hier der ansonsten völlig starre
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Dr. Peter RamsauerArbeitsmarkt etwas gelockert ist und an Funktionsfähigkeit hinzugewonnen hat.Ein Problem liegt darin, daß bislang die Rechte eines einzelnen Arbeitslosen auf Vereinbarung von Arbeitsbedingungen, die seinen Wünschen entsprechen und ihm auch einen Arbeitsplatz sichern würden, den kollektiven Interessen in jedem Fall untergeordnet werden.
Eine derartige kollektive Zwangsregelung enthält auch der vorliegende Gesetzentwurf.Im Mittelpunkt unseres politischen Interesses, liebe Kolleginnen und Kollegen, dürfen jedoch in der augenblicklichen Lage weniger derartige nivellierende Kollektivregelungen als Selbstzweck stehen. Mittelpunkt unserer Bemühungen muß vielmehr der Arbeitssuchende sein, dem eine faire Beschäftigungschance gegeben werden muß.
Dem Individualrecht auf Sicherung von Erwerbschancen steht dieser Gesetzentwurf diametral entgegen. Die Initiatoren des Gesetzentwurfs müssen sich deshalb den Vorwurf gefallen lassen, daß sie mit ihrem Vorstoß Arbeitssuchende in den neuen Bundesländern eher ausbooten als einbinden und ihre hehren Worte von der Solidarität bei der Herstellung der wirtschaftlichen und sozialen Einheit Deutschlands nichts als bloße Sonntagsreden sind.Eine Klarstellung ist erforderlich: Der Gesetzentwurf behandelt die legale und nicht die illegale Arbeitnehmerüberlassung.
Eine illegale Arbeitnehmerüberlassung wäre eine solche ohne die Verleiherlaubnis der Bundesanstalt für Arbeit. Gegen diese illegale Arbeitnehmerüberlassung schreitet die Bundesanstalt für Arbeit ohnehin ein, und zwar auch, soweit es sich um einen Verleih aus den neuen Bundesländern in die alten Bundesländer handelt.Es trifft zu, daß in manchen Fällen illegale Arbeitnehmerüberlassung durch Werkverträge, die nur zumSchein abgeschlossen werden, verschleiert werden soll. Das wäre aber auch bei einem Verbot der Arbeitnehmerüberlassung der Fall. Daran könnte auch der Gesetzentwurf nichts ändern.Ich möchte festhalten, daß der Titel und die angebliche Intention des Gesetzentwurfs vorgeschoben sind, um das eigentliche Fernziel einer restlosen Beseitigung der Arbeitnehmerüberlassung auf diesem Umweg anzugehen. Weder den von Arbeitslosigkeit betroffenen Menschen noch unserer dynamischen Wirtschaft wäre damit gedient. Gerade in der schwierigen Phase des Aufbaus in den neuen Bundesländern und des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenwachsens
wäre ein solches Gesetz mehr Hindernis als Hilfe.
Bei allem Verständnis für die Belange der Leiharbeitnehmer, die eines besonderen Schutzes bedürfen, werden die weiteren Erörterungen zeigen, daß mit diesem Gesetzentwurf der falsche Weg beschritten wird.Für die Fraktion der CDU/CSU lehne ich deshalb diesen Gesetzentwurf ab. Wir stimmen jedoch einer Überweisung an die Ausschüsse zu.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind am Schluß der Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf der Drucksache 12/1060 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Ich sehe, das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 17. Januar 1992, 9 Uhr. ein.
Die Sitzung ist geschlossen.