Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.Ich möchte zunächst dem Herrn Kollegen Dr. Czaja, der am 5. November seinen 75. Geburtstag feierte, die herzlichen Glückwünsche des Hauses aussprechen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:1. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Sozialplan im Konkurs- und Vergleichsverfahren — Drucksache 11/5585 —2. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofes — Drucksache 11/5584 —3. Aktuelle Stunde: Die Haltung der Bundesregierung zur gerichtlichen Feststellung über die Unzulässigkeit des Betriebs der Atomanlage in Hanau4. Einspruch des Abgeordneten Böhm gegen den am 26. Oktober 1989 erteilten Ordnungsruf.5. Aktuelle Stunde: Schätzung der EG-Getreideernte durch die EG-KommissionZugleich soll mit der Aufsetzung der Zusatzpunkte 1 und 2 von der Frist für den Beginn der Beratung abgewichen werden. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich rufe Punkt 3 sowie die Zusatzpunkte 1 und 2 der Tagesordnung auf:3. Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Dritten Zusatzprotokoll vom 20. April 1989 zu dem Protokoll zu dem Europäischen Abkommen zum Schutz von Fernsehsendungen— Drucksache 11/5319 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß
Auswärtiger Ausschußb) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen Nr. 160 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 25. Juni 1985 über Arbeitsstatistiken— Drucksache 11/5316 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Innenausschußc) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Pick, Dr. Däubler-Gmelin, Bachmaier, Klein , Schmidt (München), Schütz, Singer, Stiegler, Wiefelspütz, Dr. de With, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Konkursordnung— Drucksache 11/5483 —Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Arbeit und SozialordnungZP1 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Sozialplan im Konkurs- und Vergleichsverfahren— Drucksache 11/5585 —Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Arbeit und SozialordnungZP2 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofes— Drucksache 11/5584 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß Finanzausschuß
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13010 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989
Präsidentin Dr. SüssmuthInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung und in der Zusatzpunktliste aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist ebenfalls so beschlossen.Ich rufe Punkt 4 der Tagesordnung auf:a) Abgabe einer Erklärung der BundesregierungBericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschlandb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Hensel, Dr. Lippelt und der Fraktion DIE GRÜNENDoppelstaatsangehörigkeit für Bürger und Bürgerinnen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik— Drucksache 11/5275 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen
Auswärtiger AusschußInnenausschußRechtsausschußHierzu liegen bisher Entschließungsanträge der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 11/5586 und 11/5587 vor. Für den Entschließungsantrag auf Drucksache 11/5586 hat die Fraktion der SPD namentliche Abstimmung verlangt.Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte fünf Stunden vorgesehen. — Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Freie Selbstbestimmung für alle Deutschen, das war, ist und bleibt das Herzstück unserer Deutschlandpolitik. Freie Selbstbestimmung, das war, ist und bleibt auch der Wunsch, ja die Sehnsucht unserer Landsleute in der DDR.
Wer von uns ist nicht angerührt und bewegt angesichts der Bilder der vielen Hunderttausenden friedlich versammelten Menschen in Berlin, in Leipzig oder in Dresden, in Schwerin, in Plauen und in anderen Städten der DDR? Sie rufen: „Wir sind das Volk! " und ich bin sicher, ihre Rufe werden nicht mehr verhallen.Unsere Landsleute, die täglich für Freiheit und Demokratie auf die Straße gehen, legen Zeugnis ab von einem Freiheitswillen, der auch nach 40 Jahren Diktatur nicht erloschen ist. Sie schreiben damit vor den Augen der Welt ein neues Kapitel im Buch der Geschichte unseres Vaterlandes, dessen freiheitliche Traditionen weder durch Krieg noch durch Gewalt und Diktatur zerstört werden konnten.Wir alle stehen ebenso unter dem bewegenden Eindruck der Fluchtwelle aus der DDR, ein im Europa unserer Tage beispielloser, bedrückender Vorgang. Eigentlich sollten die Bilder, wie wir sie aus Ungarn, der CSSR und Polen, aber auch bei der Ankunft der Menschen in der Bundesrepublik Deutschland gesehen haben und immer noch sehen, im Europa unserer Vorstellung der Vergangenheit angehören.Die Flucht von Zehntausenden vor allem jüngerer Menschen aus der DDR in den freien Teil Deutschlands ist vor aller Welt eine „Abstimmung mit den Füßen" , ein unübersehbares Bekenntnis zu Freiheit und Demokratie, zur Rechtsstaatlichkeit, zu einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die den Menschen einen gerechten Anteil an den Früchten ihrer Arbeit sichert. Sie ist zugleich eine eindeutige Absage an ein politisches System, das die grundlegenden Rechte des einzelnen, seine Freiheit und sein persönliches Wohlergehen mißachtet.Diese Ereignisse haben der ganzen Welt vor Augen geführt, daß die Teilung unseres Vaterlandes widernatürlich ist, daß Mauer und Stacheldraht auf Dauer keinen Bestand haben können.
Diese Bilder haben deutlich gemacht, daß sich die deutsche Frage nicht erledigt hat, weil sich die Menschen in Deutschland mit dem bestehenden Zustand nicht abfinden werden.Unsere Landsleute in der DDR verlangen die Achtung ihrer bürgerlichen und politischen Grundfreiheiten. Sie bestehen auf ihrem Recht auf Selbstbestimmung. Sie schweigen nicht länger zu dem Zwangssystem der Einparteiherrschaft.Wir, meine Damen und Herren, und mit uns alle in Europa sind Zeugen eines großen Umbruchs. Im Westen Europas bereiten sich die Staaten der Europäischen Gemeinschaft durch fortschreitende Integration auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts vor. Durch den großen europäischen Binnenmarkt, den wir bis 31. Dezember 1992 vollenden wollen, wird Westeuropa mit über 320 Millionen Menschen zum größten Wirtschaftsraum der Welt. Aber er wird nicht nur der Wirtschaft, sondern — das hoffen und das wollen wir — vor allem der politischen Entwicklung und Einigung Europas neue Impulse geben.
Im Osten unseres Kontinents, in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, vollzieht sich in mehreren Staaten ein grundlegender Wandel des politischen und wirtschaftlichen Systems. Mit der von Generalsekretär Gorbatschow eingeleiteten Politik der Umgestaltung verbindet sich erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine begründete Hoffnung auf die Überwindung des Ost-West-Konflikts.Auch wenn wir erst am Anfang einer solchen Entwicklung stehen und niemand von uns die Risiken eines Scheiterns und der sich daraus ergebenden Ge-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989 13011
Bundeskanzler Dr. Kohlfahren übersehen oder unterschätzen darf: es gibt jetzt eine Perspektive für einen wirklichen Wandel in ganz Europa, eine wirkliche Chance für eine europäische Friedensordnung, für ein Europa der Freiheit und der Selbstbestimmung.Wir erleben alle mit großer Sympathie und Anteilnahme, wie Ungarn wieder zur Republik geworden ist, wie es dort in Kürze, in wenigen Monaten, erstmals nach vielen Jahrzehnten freie Wahlen geben wird,
wie in Polen ein nichtkommunistischer Ministerpräsident gewählt werden konnte, der jetzt vor der schweren Aufgabe steht, sein Land in eine neue, in eine bessere Zukunft zu führen.Morgen werde ich nach Polen reisen, um zusammen mit Ministerpräsident Mazowiecki die Fundamente — wie wir hoffen — für eine gemeinsame Zukunft des deutschen und polnischen Volkes auszubauen. Wir sind beide entschlossen, die neuen Chancen für einen Durchbruch in den deutsch-polnischen Beziehungen beherzt zu ergreifen. Die Zeit ist reif für eine Verständigung, ja, für eine dauerhafte Aussöhnung zwischen unseren beiden Völkern. Wir schulden ein solches Werk des Friedens gerade den jungen Menschen, die in guter Nachbarschaft und Freundschaft miteinander leben wollen. Ich fühle mich dieser Aufgabe ganz persönlich verpflichtet. Wir wollen alles tun, um gemeinsam auf diesem Weg voranzukommen.
Meine Damen und Herren, dazu gehört auch, daß wir auf beiden Seiten ehrlich mit den dunklen Kapiteln unserer Geschichte umgehen. Wir wollen nichts von alledem verschweigen, verdrängen oder vergessen,
aber es kommt darauf an, für die Gestaltung einer friedlichen Zukunft die richtigen Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen.
— Meine Damen und Herren, was Frieden und Ausgleich betrifft, was unseren Friedenswillen und unsere Erkenntnis, daß wir aus der Geschichte lernen müssen, betrifft,
brauchen wir, meine politischen Freunde und ich, von niemandem Nachhilfeunterricht, auch von Ihnen nicht.
Aus dieser Überzeugung gehen wir auch gemeinsam nach Kreisau. Dieser Ort war eines der Zentren des Widerstandes gegen Hitler.
Er stand und steht für jenes andere, bessere Deutschland, dessen unverlierbares Erbe die Bundesrepublik Deutschland hüten und an künftige Generationen weitergeben will.Ich bin sicher, daß die Chancen für das Gelingen einer Aussöhnung zwischen beiden Völkern infolge der großen politischen Veränderungen in Polen heute besser sind als jemals zuvor in den letzten Jahrzehnten.Die Grundlagen der Politik der Bundesregierung sind klar: Im Europa der Zukunft muß es vor allem um Selbstbestimmung und um Menschenrechte gehen, um Volkssouveränität, nicht um Grenzen oder um Hoheitsgebiete, wie ich schon vor über vier Jahren vor dem Deutschen Bundestag gesagt habe. Denn, so habe ich damals erklärt, nicht souveräne Staaten, sondern souveräne Völker werden den Bau Europas dereinst vollenden.Ganz in diesem Sinne heißt es in der gemeinsamen Entschließung des Deutschen Bundestages vom 17. Mai 1972 — ich zitiere — :Mit der Forderung auf Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts erhebt die Bundesrepublik Deutschland keinen Gebiets- oder Grenzänderungsanspruch.Wir können und wir wollen keine Rechtspositionen verändern. Es bleibt bei den bekannten Staats- und völkerrechtlichen Grundlagen unserer Deutschland- und Ostpolitik, und dazu gehört selbstverständlich auch, daß wir an Buchstaben und Geist des Warschauer Vertrages in allen seinen Teilen festhalten.In diesem Vertrag bekräftigen die Bundesrepublik Deutschland und Polen unter anderem — ich zitiere — „die Unverletzlichkeit ihrer bestehenden Grenzen jetzt und in der Zukunft und verpflichten sich gegenseitig zur uneingeschränkten Achtung ihrer territorialen Integrität. Sie erklären, daß sie gegeneinander keinerlei Gebietsansprüche haben und solche auch in Zukunft nicht erheben werden"Gleichzeitig stellen in diesem Vertrag beide Seiten fest — auch dies darf nicht verschwiegen werden —, dieser Vertrag berühre — ich zitiere — „nicht die von den Parteien früher geschlossenen oder sie betreffenden zweiseitigen oder mehrseitigen internationalen Vereinbarungen". Meine Damen und Herren, jeder von uns in diesem Hause weiß, was dies bedeutet, weiß, daß wir noch keinen Friedensvertrag haben.
Unser Ziel ist eine europäische Friedensordnung, die nicht von einzelnen Mächten diktiert, sondern von den Völkern Europas in freier Selbstbestimmung eigenhändig gestaltet wird. Dies war schon die Vision Konrad Adenauers. Das Recht aller Völker auf Selbstbestimmung ist in der Charta der Vereinten Nationen anerkannt. Wer unsere Forderung nach Verwirklichung dieses Rechts auch für alle Deutschen als „Revanchismus" diffamiert, der stellt sich also in Wahr-
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13012 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989
Bundeskanzler Dr. Kohlheit gegen dieses Grund-Gesetz der Völkergemeinschaft.
Meine Damen und Herren, gerade weil wir geltendes Recht nicht als „Formelkram" abtun — wir haben allen Grund dazu, dem Recht verpflichtet zu bleiben —, wissen wir um unsere Verantwortung für den Frieden Europas und für das Wohl seiner Menschen sowie um unsere Pflicht, jede Chance der Aussöhnung beherzt zu ergreifen. In diesem Sinne habe ich schon 1985 in meinem Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland hier erklärt:In den Gebieten jenseits der polnischen Westgrenze leben heute polnische Familien, denen diese Landschaften in zwei Generationen zur Heimat geworden sind. Wir werden dies achten und nicht in Frage stellen.
Meine Damen und Herren, wir wollen den Teufelskreis von Haß und Gewalt, von Unrecht und Vertreibung durchbrechen und neue Brücken der Verständigung und Aussöhnung, der guten Nachbarschaft und der Zusammenarbeit zwischen Deutschen und Polen bauen. Das kann nur gelingen, wenn die Rechte der dort lebenden Deutschen auf Wahrung ihrer sprachlichen und kulturellen Identität gewährleistet werden. Was wir auf diesem Gebiet jetzt mit Polen vereinbart haben, ist ein entscheidender Schritt zur Beendigung der Diskriminierung unserer dort lebenden Landsleute.
Meine Damen und Herren, wir wollen und wir werden alle Chancen nutzen, um unseren Beitrag für ein Gelingen der Reformprozesse im östlichen Teil Europas zu leisten. Diese Reformprozesse sind unmittelbar mit unserem nationalen Anliegen verknüpft: mit unserer Forderung nach Freiheit, Menschenrechten und Selbstbestimmung für alle Deutschen.In unserer Gemeinsamen Erklärung vom 13. Juni dieses Jahres haben Generalsekretär Gorbatschow und ich wesentliche Bauelemente eines Europas des Friedens und der Zusammenarbeit beim Namen genannt:Die uneingeschränkte Achtung der Integrität und der Sicherheit jedes Staates. Jeder hat das Recht, das eigene politische und soziale System frei zu wählen. Die uneingeschränkte Achtung der Grundsätze und Normen des Völkerrechts, insbesondere Achtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker.Das darf nicht ein bloßes Bekenntnis bleiben. Das Recht aller Völker, ihr politisches und gesellschaftliches System selbst zu wählen, muß für alle Menschen und Völker in Mittel-, Ost- und Südosteuropa gelten, selbstverständlich auch für die Deutschen in der DDR.
Die Ausstrahlungskraft der Freiheit, die Anziehungskraft der rechtsstaatlichen Demokratie und der elementare Wunsch der Völker nach Selbstbestimmung erzeugen eine historisch zu nennende Dynamik, die sich heute in ganz Europa Bahn bricht. Die Zeit arbeitet für — und nicht gegen — die Sache der Freiheit.Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, wir haben allen Grund, an unseren freiheitlichen Zielen in der Deutschlandpolitik festzuhalten. Weniger denn je haben wir Grund zur Resignation, und weniger denn je haben wir Grund, uns auf Dauer mit der Zweistaatlichkeit Deutschlands abzufinden.
Gerade die Ereignisse der letzten Tage und Wochen haben insbesondere unsere klare und feste Haltung in der Frage der einheitlichen deutschen Staatsangehörigkeit für jedermann erkennbar bestätigt.
Die Deutschen in der DDR sind und bleiben unsere Landsleute, die wir auf gar keinen Fall als Ausländer behandeln wollen und als Ausländer behandeln dürfen.
Alle Empfehlungen, den politischen Status quo als endgültig anzuerkennen, haben sich als kurzlebig, als kurzsichtig erwiesen.
Denn sie haben ein Grundgesetz menschlicher Existenz, das Streben des Menschen nach Freiheit, ignoriert.Freiheit und Selbstbestimmung sind auch tragende Elemente der KSZE-Beschlüsse, die zum Maßstab für die West-Ost-Beziehungen wurden. Der KSZE-Prozeß zeigt die Richtung, in der Veränderungen notwendig sind. Was in der Sowjetunion geschehen ist und weiter geschieht, besonders aber die zum Teil dramatischen Veränderungen in Ungarn und Polen, können und — das ist meine Überzeugung — werden nicht ohne Auswirkungen in den anderen Staaten des Warschauer Pakts bleiben.Sie haben natürlich auch Konsequenzen für die DDR. Die Menschen dort fragen jetzt offen und immer drängender, warum nicht auch bei ihnen endlich politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Reformen eingeleitet werden. Sie sind es leid, gegängelt zu werden. Sie wollen nicht länger von politischer Mitbestimmung und Mitverantwortung ausgeschlossen sein. Sie wollen nicht unter persönlichen und wirtschaftlichen Bedingungen leben müssen, die ein von ihnen nicht gewolltes politisches System ihnen auf erlegt, ein System, das ihnen sowohl persönliche Freiheit als auch einen gerechten Lohn ihrer täglichen Arbeit vorenthält.Unsere Landsleute in der DDR wollen endlich selbst frei entscheiden können. Sie wollen Selbstbestimmung, und das heißt zunächst einmal: endlich frei selbst zum Ausdruck bringen können, welchen Weg
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989 13013
Bundeskanzler Dr. Kohlsie in die Zukunft gehen wollen. Es kommt darauf an, eine demokratische Willensbildung in der DDR zu ermöglichen. Dazu gehören unbedingt Meinungs- und Pressefreiheit, freie Bildung von Vereinen, Gewerkschaftsfreiheit, Parteienpluralismus und schließlich und selbstverständlich freie, gleiche und geheime Wahlen.
Die Fluchtbewegung aus der DDR, die uns alle aufrüttelt und die Aufmerksamkeit der Welt findet, ist ein Symptom für das Grundproblem der DDR: Die politische Führung dort ist nicht frei gewählt, und deshalb können sich viele unserer Landsleute mit diesem Staat nicht identifizieren.Das Politbüro der SED kann sich in seinen Entscheidungen nicht auf eine in freier Wahl zustande gekommene Zustimmung der Bürger berufen. Nach allem, was wir jetzt jeden Tag erleben, ist deutlich: Die Menschen in der DDR werden sich mit dem Machtmonopol der SED nicht abfinden, und sie werden sich auch mit dem bloßen Austausch von Führungspersonen und dem Rücktritt einiger im Führungskader nicht begnügen. Der neue SED-Generalsekretär wird sich daran messen lassen müssen, ob er das Tor zu tiefgreifenden Reformen in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft wirklich öffnet. Dafür ist es höchste Zeit!Die Bilder und die Äußerungen der Flüchtlinge, die in großer Zahl zu uns kommen, haben mehr als alles andere deutlich gemacht, um was es geht: um Freiheit. Diese überwiegend jungen Leute sind ja nicht ahnungs- und willenlose Menschen, die verderblichen Sirenengesängen des Kapitalismus gefolgt wären. Es sind selbstbewußte, tüchtige Leute, die oft genug schweren Herzens ihre Heimat, ihre Freunde und Familien verlassen haben, um im freien Teil Deutschlands in einer freiheitlichen Demokratie ein neues Leben zu beginnen. Sie wissen: Nur wo Freiheit herrscht, ist auch sozialer Fortschritt möglich.Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, in diesem Jahr haben bisher über 200 000 — das sind die neuesten Zahlen — Übersiedler die DDR verlassen. Wir nehmen sie in unserer Mitte als Deutsche unter Deutschen auf. Und ich bin sicher, daß die Bereitschaft zu helfen, die die Bürger der Bundesrepublik Deutschland bisher in so eindrucksvoller Weise gezeigt haben, auch andauern wird, bis diese Landsleute bei uns ihren Platz gefunden haben.
Dies muß selbstverständlich genauso auch für die Aussiedler gelten, die aus der Sowjetunion und anderen Staaten des Warschauer Pakts zu uns kommen.Ich weiß auch, daß sich manche bei uns schwertun mit den Neuankommenden. Es ist ja auch nicht zu leugnen, daß der Zustrom so vieler in einigen Bereichen Probleme schafft oder verschärft, wie beispielsweise die Diskussion über die Versorgung mit Wohnraum zeigt. Andererseits, meine Damen und Herren, sollten wir uns immer wieder bewußt machen, daß es unter den sehr viel schwierigeren Bedingungen der späten 40er und frühen 50er Jahre möglich war, viel,viel mehr Flüchtlingen und Vertriebenen, die damals kamen, Brot, Obdach und Arbeit zu geben.Der Vergleich mit der damaligen Zeit, der Vergleich der Schwierigkeiten unserer Republik damals und heute zeigt, daß wir das Problem lösen können, wenn wir das gemeinsam wollen.
Die materiellen Voraussetzungen heute sind viel besser. Was uns oft fehlt, das sind der Optimismus und die Lebensbejahung der Gründergeneration unserer Republik —
jener Generation, der wir ein Leben in Frieden und Freiheit, in Wohlstand und einem hohen Maß an sozialer Gerechtigkeit ganz entscheidend verdanken.Meine Damen und Herren, nicht die materiellen Fragen stehen heute im Vordergrund. Sie sind nach meiner festen Überzeugung prinzipiell lösbar — wenn auch nicht über Nacht. Entscheidend ist die Bereitschaft des einzelnen, im Bewußtsein seiner Verantwortung für den Nächsten und für das Ganze mitzudenken und mitzutun.Es geht hier um eine Aufgabe von nationalem Rang, über die es eigentlich keinen Streit geben sollte. Ich darf als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland auch heute von dieser Stelle aus an alle appellieren, die in Bund, Ländern und Gemeinden, in allen Bereichen unserer Gesellschaft, unseres Staates Verantwortung tragen: Vereinigen wir unsere Kräfte zum Wohl unserer Landsleute!
— Ich habe es Ihnen hier ja schon einmal gesagt: Sie sind hier unter dem Signum des Friedens eingezogen, und in dieser schwierigen Lage unseres Landes sitzen Sie hier mit dem Ausdruck des Zynismus.
Ich will all jenen danken, die in dieser Zeit spontane Hilfsbereitschaft, auch als ein Zeichen der Ermutigung, gezeigt haben.Ich will an dieser Stelle auch den besonderen Dank der Bundesregierung für die Haltung der ungarischen Regierung zum Ausdruck bringen,
die den Flüchtlingen aus der DDR durch ihre an den Grundsätzen der Menschlichkeit und des Völkerrechts ausgerichteten Entscheidungen geholfen hat.Ich schließe in diesen Dank ausdrücklich die österreichische Regierung und die österreichischen Behörden ein, die ohne viel Aufhebens wirklich alles getan haben, um unseren Landsleuten zu helfen.
Ich finde, wir sollten in diesen Dank — neben den offiziellen Stellen — die vielen, vielen einschließen,
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13014 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989
Bundeskanzler Dr. Kohldie in Ungarn, in Österreich, in Polen, in der Tschechoslowakei unseren Landsleuten in schwierigsten Situationen selbstlos geholfen haben.
Wir alle wissen, daß ein Massenexodus aus der DDR weder im Interesse der Menschen im Deutschland liegt, noch das Ziel einer vernünftigen Deutschlandpolitik sein kann. Unsere besondere Achtung und Sympathie gehören genauso jenen, die in der DDR bleiben und darauf hoffen, daß sich die Verhältnisse jetzt auch dort zum Besseren verändern.Ich möchte in diesem Zusammenhang auch eindringlich davor warnen, sich hier bei uns als Richter über jene aufspielen zu wollen, die sich dafür entschieden haben, aus der DDR zu uns zu kommen, oder über jene, die sich entschieden haben, dort zu bleiben.
In beiden Fällen verdienen sie unsere Sympathie und auch unser Verständnis. Ziel unserer Politik, meine Damen und Herren, muß es sein, zu einer Entwicklung in der DDR beizutragen, die den Wünschen der Menschen dort entspricht,
d. h., ihnen zu Freiheit und Selbstbestimmung zu verhelfen.
Meine Damen und Herren, angesichts mancher Diskussionen möchte ich auch sagen: Wir können und wollen dabei keine Patentrezepte anbieten.
Unsere Landsleute in der DDR wissen, was sie wollen. Sie wollen aus eigener Verantwortung handeln. Sie zeigen — jeder kann dies beobachten — ein neues, ein kraftvolles Selbstbewußtsein. Sie sprechen in einer offenen und klaren Sprache über ihre Wünsche, über ihre Befindlichkeit und über ihre Forderungen. Es stimmt nicht mehr — wie immer gesagt wurde —, daß sie sich am liebsten in private Nischen zurückziehen und von Politik nichts wissen wollen. Sie brauchen überhaupt keine Vormünder. Sie wollen selber entscheiden.
Was wir tun können, ist vor allem, daß wir sie ermutigen und in der Hoffnung bestärken, daß sich auch in der DDR ein Prozeß demokratischer Veränderungen in absehbarer Zeit vollziehen wird. Wir sollten und müssen einen solchen Prozeß, wenn er beginnt, aktiv fördern. Dazu sind wir, wenn nötig, auch mit eigenen Anstrengungen bereit.Die Bundesregierung wird alles in ihren Kräften Stehende tun, um den Prozeß einer Öffnung in der DDR zum Wohle unserer Landsleute zu unterstützen. Sie bleibt deshalb entschlossen, in ihrer bisherigen Politik der praktischen Zusammenarbeit mit der DDRim Interesse der Menschen auf beiden Seiten fortzufahren. Bei der wirtschaftlichen Zusammenarbeit bemühen wir uns um dauerhafte und weitreichende Verbesserungen für die Menschen in der DDR.Der Umweltschutz ist hierfür ein gutes Beispiel. Er hat für die Menschen in beiden Staaten in Deutschland große Bedeutung. Es geht dabei gleichermaßen um die Verbesserung der Lebensbedingungen von heute und um das Wohl künftiger Generationen.Wir haben bereits in diesem Jahr mit der DDR konkrete Projekte zur Luft- und Gewässerreinhaltung vereinbart.
Die finanziellen Beiträge der Bundesregierung fließen eben nicht an die DDR, sondern ausschließlich an Unternehmen im Bundesgebiet, die dorthin Anlagen zur Durchführung von Pilotprojekten liefern.Das Geld kommt also auch unserer Wirtschaft zugute, und zugleich helfen wir damit bei der Lösung massiver Umweltprobleme in der DDR. So wird z. B. die für Hamburg und die Nordsee schwerwiegende Quecksilberbelastung der Elbe um etwa ein Drittel reduziert.Verhandlungen über Maßnahmen zur Verminderung der Luftschadstoffe und Maßnahmen auf dem Gebiete des Naturschutzes sind angelaufen. Gespräche über den Strahlenschutz haben erfreuliche Fortschritte in der praktischen Zusammenarbeit erbracht. Nach jahrelangen Schwierigkeiten zeigt sich die DDR jetzt auch zur Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Drogenmißbrauchs bereit.Wir werden auch die Chancen, meine Damen und Herren, die das Kulturabkommen von 1986 eröffnet hat, zielstrebig nutzen. Wechselseitige Ausstellungen, Konzerte, Theatergastspiele und Begegnungen von Wissenschaftlern wecken große Aufmerksamkeit und Interesse für den jeweils anderen Teil Deutschlands. Sie tragen zu dem Bewußtsein auch der kulturellen Verbundenheit und der gemeinsamen Geschichte bei und geben vielfältige Anstöße zur Auseinandersetzung mit den Fragen unserer Zeit.Die bisherige Bilanz ist positiv. Besonders erfreulich in den innerdeutschen Kulturbeziehungen ist die in diesem Sommer erfolgreich abgeschlossene Rückführung kriegsbedingt verlagerter Kulturgüter. Zahlreiche Städte und Museen diesseits und jenseits der innerdeutschen Grenze verfügen jetzt wieder über ihr angestammtes Archivgut, ihre Gemälde, ihre wissenschaftlichen Sammlungen und Bibliotheken. Das Beispiel zeigt: Mit gutem Willen und sachbezogener Arbeit ist ein Interessenausgleich möglich, auch und gerade in einer Zeit der Veränderungen, wie sie sich jetzt in der DDR abzeichnen.Von ganz großer Bedeutung ist auch die Verbesserung der Kontakte zwischen den Hochschulen. Meine Damen und Herren, es sollte und müßte gelingen, die Zahl der Hochschulpartnerschaften und wissenschaftlichen Einzelkontakte auszubauen, besonders aber die wechselseitigen Arbeitsaufenthalte von jungen Wissenschaftlern zu steigern.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989 13015
Bundeskanzler Dr. KohlNatürlich — auch das gehört zu diesem Bericht — gibt es ebenfalls im Kulturbereich nach wie vor Defizite. Das gilt vor allem für die Volks- und Laienkunst und für die Begegnung von Auszubildenden und Schülern. Wir werden auch weiterhin alles versuchen, daß die Führung der DDR in diesem Bereich ihre spurbare Zurückhaltung aufgibt.Dies gilt in gleicher Weise für den Breiten- und Jugendsport. Die DDR verschließt sich nach wie vor den vielfältigen Möglichkeiten, die es hier gibt. Die Bundesregierung wird sich weiterhin darum bemühen, den innerdeutschen Sportkalender über die Daten des reinen Spitzensports hinaus zu erweitern.Ein zentrales Anliegen unserer Politik für den Zusammenhalt der Nation bleiben die menschlichen Begegnungen. Dazu dient vor allem der Reiseverkehr, bei dem es 1989 eine weiterhin positive Entwicklung gegeben hat. Jeder sechste Erwachsene unterhalb des Rentenalters in der DDR konnte im vergangenen Jahr zu uns reisen.Dieser Verbesserung der Kontakte dienen auch die Städtepartnerschaften. Zwischen Städten in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR sind bereits mehr als 60 solcher Partnerschaften vereinbart oder angebahnt worden. Sie eröffnen vielfältige Möglichkeiten, Menschen zueinanderzubringen und persönliche Kontakte zu knüpfen.Ganz wichtig ist schließlich der Jugendaustausch, der sich trotz mancher Schwierigkeiten langsam weiterentwickelt.Vergessen wir nicht: Mehr als die Hälfte der Deutschen in Ost und West ist nach dem Krieg geboren und kennt den jeweils anderen Teil Deutschlands nicht aus eigener Anschauung. Überdies ist in der DDR seit dem Bau der Mauer eine ganze Generation herangewachsen, die auf Grund der einschneidenden Reisebestimmungen der DDR bisher kaum Gelegenheit hatte, die Bundesrepublik Deutschland zu besuchen, Land und Leute hier kennenzulernen.Es ist ein unbestreitbarer Erfolg unserer Deutschlandpolitik, daß inzwischen ein nennenswerter Teil — auch jüngerer — Menschen aus der DDR zu uns zu Besuch kommen, die Lebenswirklichkeit der beiden Staaten miteinander vergleichen und nicht zuletzt auch die Informationen der DDR-Medien einer kritischen Prüfung unterziehen konnte. Das alles dient dem Zusammenhalt unserer Nation.
Die neue DDR-Führung ist jetzt entschlossen, eine neue Reiseregelung zu erlassen, die auf die bisher noch bestehenden Beschränkungen weitgehend verzichtet. Sie will damit allem Anschein nach der Tatsache Rechnung tragen, daß die fehlende Freizügigkeit ein ganz wesentlicher Anlaß zur Unzufriedenheit der Menschen und in vielen Fällen auch ein wichtiger Grund für den Wunsch war, die DDR ganz zu verlassen.Für eine abschließende Bewertung der Neuregelung, deren Entwurf soeben veröffentlicht wurde und jetzt zur Diskussion steht, ist es noch zu früh. Prüfstein wird auch hier die Praxis, die Wirklichkeit sein. Vor allem wird es darauf ankommen, ob die Neuregelungund deren Handhabung den Wünschen und den Erwartungen unserer Landsleute tatsächlich entsprechen. Wenn sie zu wirklicher Reisefreiheit führt, werden auch diejenigen zu uns kommen können, die bisher nicht kommen konnten, weil sie hier keine Verwandten oder Bekannten haben. Wir würden damit eine neue Dimension des Reiseverkehrs erhalten, die auch uns in der Bundesrepublik Deutschland vor neue Aufgaben stellt.Wir können nicht alle Lasten übernehmen, aber wir müssen und werden uns bemühen, denen, die zu uns kommen, gute Gastgeber zu sein.
— Ihr einziger Beitrag — neben dem vorhin erwähnten Zynismus — sind Maximalforderungen. Das ist das, was Sie in diesen Jahren hier beigetragen haben.Für eine Übergangszeit wird die Bundesregierung im Zusammenwirken mit Kirchen und karitativen Einrichtungen versuchen, Unterbringungsmöglichkeiten für solche Besucher zur Verfügung zu stellen, die keine privaten Unterkünfte finden. Zur finanziellen Seite werden Überlegungen angestellt werden müssen. Über dieses Thema ist natürlich auch noch mit der Regierung der DDR zu sprechen.Dabei muß jedoch berücksichtigt werden, daß die DDR ihrerseits aus dem innerdeutschen Reiseverkehr, insbesondere durch den Mindestumtausch, erhebliche Deviseneinnahmen erzielt. Kein anderer Staat des Warschauer Pakts verfügt laufend über derartige Deviseneinnahmen. Es wäre deshalb nicht mehr als recht und billig,
wenn die Führung der DDR einen erheblichen Teil dieser Einnahmen unmittelbar zum Nutzen unserer Landsleute aufwenden und sie auch mit angemessenen Reisedevisen ausstatten würde.
Langfristig, meine Damen und Herren, wird die DDR auf jeden Fall dafür sorgen müssen, daß die Menschen mit eigenem Geld reisen können. Das wird nur bei einer erheblichen Verstärkung der wirtschaftlichen Leistungskraft der DDR möglich sein. Wir sind bereit, durch Zusammenarbeit dabei zu helfen.Aber die DDR muß selber durch Reformen die Voraussetzungen dafür schaffen, daß diese Zusammenarbeit auch tatsächlich Früchte tragen kann. Dazu gehören insbesondere ein Abbau zahlreicher Maßnahmen, die den innerdeutschen Handel behindern und erschweren, eine Erweiterung der wirtschaftlichen Kooperation auf allen Ebenen, die Zulassung von Direktkontakten zwischen Betrieben beider Seiten und vor allem die Schaffung einer fortschrittlichen Jointventure-Gesetzgebung.Im innerdeutschen Handel scheint der Abwärtstrend der letzten Jahre erfreulicherweise gebrochen
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13016 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989
Bundeskanzler Dr. Kohlzu sein. Für 1989 dürfte wieder ein Gesamtumsatz von 15 Milliarden Verrechnungseinheiten erreicht werden. Es muß jedoch, meine Damen und Herren, das Bestreben beider Seiten bleiben, diesen Handel nach Struktur und Niveau in einer Weise zu entwickeln, wie es zwischen zwei hochindustrialisierten Partnern angemessen wäre.Gerade angesichts der dringend notwendigen Reformen in der DDR auch im wirtschaftlichen Bereich sehe ich auf den innerdeutschen Handel neue Aufgaben und neue Entwicklungen zukommen. Im Zusammenhang mit einer breit angelegten wirtschaftlichen Zusammenarbeit können von hier wesentliche Anstöße für eine weitere Entwicklung unserer Beziehungen ausgehen.Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die Bundesregierung hält an ihrem Kurs in der Deutschlandpolitik fest. Sie geht dabei unverändert von den bekannten staats- und völkerrechtlichen Grundlagen aus. Insbesondere hält sie an dem in der Präambel unseres Grundgesetzes verankerten Ziel fest, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden".
Dabei ist uns die Reihenfolge der Ziele unserer Politik durch das Grundgesetz vorgegeben. Voraussetzung für die Wiedervereinigung in Freiheit ist die freie Ausübung des Selbstbestimmungsrechts durch alle Deutschen.Unsere Landsleute haben keine Belehrungen nötig, von welcher Seite auch immer. Sie wissen selbst am besten, was sie wollen. Und ich bin sicher: Wenn sie die Chance erhalten, werden sie sich für Freiheit und Einheit entscheiden.
Für uns in der Bundesrepublik Deutschland ist es eine selbstverständliche nationale Pflicht, bei unseren Nachbarn und Partnern in der Welt für das Recht aller Deutschen auf Selbstbestimmung zu werben. Denn ein Votum aller Deutschen für die Einheit ihres Vaterlandes wird niemand in Ost und West ignorieren können. Wir alle, meine Damen und Herren, schulden Staatspräsident Mitterrand großen Dank dafür, daß er sich am vergangenen Freitag genau in diesem Sinne zum Selbstbestimmungsrecht aller Deutschen bekannt hat.
Wir haben in vielen Bereichen — gerade in den letzten Jahren — beachtliche Fortschritte erzielt. Aber, meine Damen und Herren, wir sind uns auch bewußt, daß es sich dabei nur um Schritte zu weitergesteckten Zielen handeln kann.In nahezu allen Bereichen der innerdeutschen Beziehungen sind die Möglichkeiten für die von den Menschen dringend gewünschten Verbesserungen noch lange nicht ausgeschöpft. Es gibt ein breites Feld der Zusammenarbeit, der Öffnung und der gemeinsamen Anstrengungen, das bislang brachlag.Wenn die Beziehungen zwischen den beiden Staaten in Deutschland wirklich eine neue Qualität bekommen sollen, dann müssen jetzt dafür die notwendigen Voraussetzungen in der DDR selbst geschaffen werden. Es geht um einen wirklich offenen Austausch von Informationen und Meinungen, um einen raschen und umfassenden Abbau der Beschränkungen im Reiseverkehr, um die Abschaffung jeglicher Zensur und um mehr Austausch und Zusammenarbeit im Bereich der Wissenschaft, der Hochschulen und der beruflichen Bildung. Es geht um effektive und weitreichende gemeinsame Anstrengungen in allen Bereichen des Umweltschutzes, der von den Menschen in beiden Staaten in Deutschland als eine der wichtigsten Aufgaben für die Erhaltung einer lebenswerten Zukunft angesehen wird.Bei all diesen Aufgaben, meine Damen und Herren, gilt die Feststellung: So wie die gegenwärtigen Probleme ihre Ursachen allein in der DDR haben, so können auch nur dort die Voraussetzungen für ihre Lösung geschaffen werden. In dieser Situation können deshalb weder globale wirtschaftliche Hilfen noch gar Sanktionen von unserer Seite weiterhelfen. Es liegt letztlich an der Führung der DDR, den Menschen dort eine lebenswerte Perspektive zu bieten. Nur so können auch jene, die jetzt noch mit dem Schritt der Obersiedlung ringen, zum Bleiben in ihrer Heimat bewogen werden.Meine Damen und Herren, es darf dabei nicht nur an Symptomen kuriert werden. Es müssen sich sichtbare und spürbare Reformen vollziehen, die den Menschen politische Mitbestimmung, Achtung der Menschenrechte und vor allem eine konkrete Hoffnung auf bessere materielle Lebensbedingungen bringen. Ein Wandel ist überfällig. Das sagen uns die Ereignisse der letzten Tage und Wochen. Sie widerlegen all jene Stimmen, die uns in der Vergangenheit einreden wollten, daß nicht eine Veränderung hin zu mehr Freiheit zu mehr Stabilität führe, sondern die Zementierung der bestehenden Verhältnisse. Diese Auffassung hat sich eindeutig als falsch erwiesen.
Wir erleben jetzt, daß nur rasche und umfassende Reformen weiterhelfen können. Wir in der Bundesrepublik Deutschland können nur versuchen, diese Entwicklung zu fördern. Das erfordert den Dialog mit allen politischen Kräften in der DDR, auch jenen, die jetzt dort politische Verantwortung tragen. Ich erkläre gegenüber der neuen DDR-Führung meine Bereitschaft, einen Weg des Wandels zu stützen, wenn sie zu Reformen bereit ist. Kosmetische Korrekturen genügen nicht.
Meine Damen und Herren, wir wollen nicht unhaltbar gewordene Zustände stabilisieren. Aber wir sind zu umfassender Hilfe bereit, wenn eine grundlegende Reform der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der DDR verbindlich festgelegt wird. Die SED muß auf ihr Machtmonopol verzichten, muß unabhängige Parteien zulassen und freie Wahlen verbindlich zusichern. Unter dieser Voraussetzung bin ich auch
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989 13017
Bundeskanzler Dr. Kohlbereit, über eine völlig neue Dimension unserer wirtschaftlichen Hilfe zu sprechen.
Dabei ist auch klar, daß ohne eine grundlegende Reform des Wirtschaftssystems, ohne den Abbau bürokratischer Planwirtschaft und den Aufbau einer marktwirtschaftlichen Ordnung wirtschaftliche Hilfe letztlich vergeblich sein wird.
Einen grundlegenden politischen und wirtschaftlichen Wandel in der DDR zu fördern ist unsere nationale Aufgabe.Darüber hinaus haben alle freien Staaten des Westens ein Interesse daran, daß der Prozeß des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels in Mittel-, Ost- und Südosteuropa voranschreitet. Deshalb sind auch alle in der westlichen Staatengemeinschaft — namentlich die Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft und unsere Partner in der Atlantischen Allianz — aufgerufen, diesen Prozeß durch Kooperationsbereitschaft zu fördern.Reisefreiheit, Freizügigkeit und Zusammenarbeit werden — davon bin ich überzeugt — dazu führen, daß die Teilung Europas überwunden wird. Damit wären auch die Tage der Mauer in Berlin gezählt. Dieses abstoßende Symbol der Unmenschlichkeit muß verschwinden.
Meine Damen und Herren, das freie Berlin bleibt in jedem Fall ein Prüfstein für die Verständigungsbereitschaft und den guten Willen der DDR — ebenso wie der Sowjetunion und ihrer anderen Bündnispartner. Die Bindungen dieser Stadt zur Bundesrepublik Deutschland, ihre Außenvertretung durch die Bundesrepublik Deutschland, und die volle Einbeziehung Berlins in alle Entwicklungen und Vereinbarungen im West-Ost-Verhältnis muß ohne Wenn und Aber gewährleistet sein. Bis in die allerjüngste Vergangenheit mußte immer wieder viel Energie aufgewendet werden, um mit Berlin zusammenhängende Probleme zu lösen. Diese Energie ließe sich viel konstruktiver für eine Zusammenarbeit zum Wohle der Menschen in Deutschland und in Europa nutzen.Für die Bundesregierung — ich habe dies wiederholt erklärt, ich will es auch heute wiederholen — wird es keine Deutschlandpolitik ohne Berlin oder um Berlin herum geben.
Freiheit und Lebensfähigkeit des westlichen Teils der Stadt zu wahren und seine Anziehungs- und Ausstrahlungskraft zu fördern bleibt eine unserer wesentlichen Aufgaben.Hierzu tragen das Engagement der drei westlichen Schutzmächte ebenso bei wie eine dynamische Entwicklung der Bindungen zwischen Berlin und dem Bund. Im Interesse der Stadt müssen diese Bindungen auch bei allen Kontakten des Senats mit der DDR beachtet werden.
Nur sie gewährleisten, daß die Stadt an der Entwicklung des freien Teils Deutschlands wie in den vergangenen Jahren voll teilhat.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat die jüngsten Verbesserungen im Berliner Reise- und Besucherverkehr nachdrücklich begrüßt; sie standen seit langem auf der „Wunschliste" von Bundesregierung und Senat. Nicht nur für die Berliner, sondern generell bei Reisen in die DDR gibt es freilich noch erheblichen Nachholbedarf: Vor allem der Mindestumtausch und die Einreiseverweigerungen für bestimmte Personengruppen passen nicht in diese Entwicklung.
Die Entwicklungen in der DDR bedeuten auch für Berlin neue Herausforderungen. Der Westteil Berlins wird durch einen freieren Reiseverkehr verstärkt Anziehungspunkt und Anlaufstelle für viele Besucher, auch für viele Hilfesuchende aus der DDR und dem Ostteil der Stadt werden. In gewisser Hinsicht wird dies auch für die grenznahen Regionen in der Bundesrepublik Deutschland gelten, deren Förderung immer ein besonderes Anliegen der Bundesregierung war — und auch bleiben wird.Berlin wird dadurch aber wegen seiner besonderen Lage und Probleme möglicherweise vor Aufgaben gestellt sein, bei denen es unsere besondere Unterstützung braucht. Wir sind dazu bereit.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die deutsche Frage ist eine Frage von Freiheit und Selbstbestimmung. Bewahren wir, so schwer uns — und vor allem auch unseren Landsleuten in der DDR — dies fallen mag, die beharrliche Geduld, auf den Weg evolutionärer Veränderung zu setzen, an dessen Ende die volle Achtung der Menschenrechte und die freie Selbstbestimmung für alle Deutschen stehen müssen.Vergessen wir auch nicht, daß die Lösung der deutschen Frage nicht die Deutschen allein angeht. Übersehen wir nicht, daß sich ein Scheitern der Reformen in Polen und Ungarn auch auf die Chancen für einen Wandel in der DDR auswirken würde.Hüten wir uns vor der Annahme, eine Lösung der deutschen Frage mit einem Drehbuch und einem Terminkalender in der Hand vorherbestimmen zu können. Die Geschichte — das zeigen gerade die letzten zwölf Monate — hält sich nicht an Kursbücher. Historische Entwicklungen laufen nicht nach Fahrplänen ab. Die enormen Veränderungen im östlichen Teil unseres Kontinents belegen dies einmal mehr auf eindrucksvolle Weise.
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13018 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989
Bundeskanzler Dr. KohlEs kommt deshalb jetzt entscheidend darauf an, daß wir unseren Prinzipien treu bleiben:Freiheit und Demokratie, Rechtsstaat und soziale Marktwirtschaft bleiben die Grundpfeiler unserer politischen und gesellschaftlichen Ordnung.Die feste und dauerhafte Verankerung der Bundesrepublik Deutschland im Atlantischen Bündnis und in der Wertegemeinschaft der freien Völker des Westens ist unwiderruflich. Sie folgt aus den bitteren Lehren unserer Geschichte und entspricht den Entscheidungen für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat im Innern.Nur auf dieser Basis können wir ein verläßlicher Partner sein und erwarten, daß wir Fortschritte bei der Lösung der deutschen Frage und damit im Interesse der Menschen in Deutschland erreichen.Meine Damen und Herren, wir sind keine Wanderer zwischen Ost und West,
und wir haben aus der Geschichte dieses Jahrhunderts gelernt.Wiedervereinigung und Westintegration, Deutschlandpolitik und Europapolitik sind wie zwei Seiten derselben Medaille. Sie bedingen einander. Ohne die Dynamik des westeuropäischen Einigungsprozesses würden heute die verkrusteten Strukturen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa nicht aufbrechen.
Und ohne die feste Verankerung in der Wertegemeinschaft der freien Völker hätten wir nicht das Vertrauen unserer westlichen Partnerländer, die uns in unseren deutschlandpolitischen Bemühungen stets unterstützt haben. Ich danke hier stellvertretend vor allem dem französischen Staatspräsidenten François Mitterrand und Präsident George Bush, die dies in den letzten Tagen wieder deutlich ausgesprochen haben.
Die aktive Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland am Prozeß der europäischen Einigung bleibt ein tragendes Element unserer Politik. Heimat, Vaterland und Europa: dieser Dreiklang entspricht der Sehnsucht der Menschen nach Vertrautheit und Geborgenheit, nach Offenheit, nach Gemeinschaft und Freundschaft, auch im Verhältnis zu den Nachbarn.Die Zukunft Deutschlands liegt in einer übergreifenden Friedensordnung, die die Menschen und Völker unseres Kontinents in gemeinsamer Freiheit zusammenführt. Die europäische Dimension der deutschen Frage bedeutet für uns: nationale Einheit und europäische Einigung. Aus gutem Grund verpflichtet uns das Grundgesetz, unsere Verfassung, auf beides.Dabei sind wir uns sehr wohl bewußt, daß die Europäische Gemeinschaft nur ein Anfang und nicht das ganze Europa ist. Bei uns darf niemals die Erinnerung daran verblassen, daß Warschau und Budapest, daßPrag, daß Rostock, Leipzig und Dresden selbstverständlich zu diesem gemeinsamen Europa gehören.
Wir streben an — und das bleibt Ziel unserer Politik, wie Konrad Adenauer es einmal formuliert hat — : „In einem freien und geeinten Europa ein freies und geeintes Deutschland".
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Herr Dr. Vogel.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In den letzten Wochen und Monaten hat sich in Deutschland, hat sich im Herzen Europas mehr verändert als zuvor in Jahren oder in Jahrzehnten.Die Ursachen für diesen revolutionären Prozeß sind mannigfaltig und reichen weit zurück. Aber diejenigen, die jetzt Geschichte machen, ja, die bereits Geschichte gemacht haben, sind die Menschen in der DDR.
Ich beginne meine Rede deshalb mit einem Gruß an die Bürgerinnen und Bürger in der DDR, mit einem Gruß, der Verbundenheit, Hochachtung und Sympathie zum Ausdruck bringt.
In diesem Sinn grüße ich diejenigen, die seit Wochen in Leipzig und Dresden, in Schwerin, Rostock und Güstrow, in Magdeburg, Meiningen, Nordhausen und Plauen und an vielen anderen Orten und zuletzt am Wochenende in einer gewaltigen Kundgebung in Berlin zu Hunderttausenden mit dem Ruf „Wir sind das Volk" ihr Recht auf Mitsprache und auf Mitbestimmung einfordern.
Hier hat das Volk selber begonnen, den Grundprinzipien der Demokratie Geltung zu verschaffen,
und zwar so elementar und so spontan, aber auch so unpathetisch, diszipliniert und besonnen wie selten auf deutschem Boden.
Christa Wolf, die Autorin, Stefan Heym, der Autor, Friedrich Schorlemmer, der Pfarrer — sie haben für alle zum Ausdruck gebracht, worum es wirklich geht: darum, den Traum von Ernst Bloch Wirklichkeit werden zu lassen, endlich aufrecht gehen zu dürfen.
Wir verfolgen das, was da geschieht, mit Bewunderung und tiefer Anteilnahme. Ich bin sicher, im Buch
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989 13019
Dr. Vogelder wechselvollen Geschichte des Verhältnisses der Deutschen zur Demokratie ist in diesen Tagen ein neues Kapitel geschrieben worden, ein Kapitel, das an die besten Traditionen der demokratischen Bewegung von 1848 anknüpft.
Wir hier können denen, die das bewirkt haben, nur dankbar sein; sie haben mehr für die politische Kultur der Deutschen getan, als uns vielleicht im Augenblick bewußt ist. Sie haben das mit einer Würde und mit einer sprachlichen Kraft getan, die auch für uns Maßstäbe setzen sollte, jedenfalls in der heutigen Debatte,
wenn es sein kann, auch in Zukunft.Ich grüße weiter die, die sich in Foren und anderen Reformgruppen zusammengeschlossen und entscheidend mitgeholfen haben, diese Volksbewegung in Gang zu setzen, die jetzt an Alternativen zu einem Gesellschaftssystem arbeiten, das in seiner Erstarrung den Menschen zuletzt die Luft zum Atmen nahm und sie in Scharen aus dem Lande trieb, und die damit den Menschen wieder Perspektiven geben und Mut machen, in ihrem Lande zu bleiben.
Zu diesen Kräften gehört auch eine neue Partei, die Sozialdemokratische Partei in der DDR, die von mutigen Männern und Frauen am 7. Oktober 1989 aus eigenem Entschluß gegründet worden ist und der ich auch von dieser Stelle aus unsere Solidarität bekunde.
Wir wissen, diese Partei steht noch am Anfang, und Menschen, die sozialdemokratische Positionen vertreten, gibt es auch in anderen Foren und Gruppen. Aber es berührt und bewegt wohl nicht nur uns, daß es in einem Gebiet, das zu den Stammlanden der deutschen Sozialdemokratie gehört, jetzt, 43 Jahre nach der Zwangsvereinigung, wieder eine Sozialdemokratische Partei gibt;
übrigens seit Anfang dieser Woche auch in Ost-Berlin, also dort, wo Sozialdemokraten der Zwangsvereinigung bis 1961 Widerstand geleistet haben.Ich denke weiter mit hoher Achtung an die Kirchen in der DDR, insbesondere an die Evangelische Kirche, und grüße ihre Repräsentanten und Angehörigen mit Dankbarkeit.
Diese Kirche war über Jahre hin die einzige Institution, die den Sorgen, Nöten und Bedürfnissen der Gesellschaft Ausdruck geben konnte und das auch tat. Sie hat in einer Zeit, in der die Gesellschaft selbst nahezu sprachlos war, den Raum geboten, in dem sich Menschen begegnen, ihr Bewußtsein entwickeln und beginnen konnten, sich zu artikulieren. Die Kräfte, die jetzt aus dem kirchlichen Raum herausgetreten sind,hätten sich anders kaum entfalten können. Auch dies ist eine neue Erfahrung auf deutschem Boden.
Ich wende mich aber auch an die, die in der SED selbst inzwischen öffentlich Fehler einräumen und ebenfalls für Veränderungen eintreten, die sich der Diskussion stellen und die wollen, daß den vielen Worten auch Taten folgen. Ihre Rolle und ihre Bedeutung für die weitere Entwicklung dürfen wir nicht unterschätzen.Ich sagte, in der DDR vollziehe sich ein revolutionärer Prozeß. Dieser Prozeß hat die politische Realität der DDR bereits tiefgreifend verändert. Hunderttausende, ja, inzwischen wohl Millionen von Menschen auf den Straßen, Tausende, die sich zur Entwicklung neuer Perspektiven zusammenfinden, offener Widerspruch auch gegen die neue Führung, kritische Beurteilung der Vergangenheit, öffentliche Proteste gegen Übergriffe der Staatsorgane, Liveübertragungen von Demonstrationen, rückhaltlos offene Diskussion im Fernsehen und in anderen Massenmedien, aber auch in Volksversammlungen, Gründung einer Sozialdemokratischen Partei, reihenweise Ablösung von Führungspersonen, Zurückweisung eines von der DDR vorgelegten Gesetzentwurfs, erst gestern abend der Sturz der Regierung und vor allem die immer lauter werdende Forderung nach freien Wahlen — das ist schon jetzt eine neue DDR, eine andere als noch vor wenigen Monaten.
Als eine DDR, die noch vor vier Wochen eine — —
— Meine Damen und Herren, ich verstehe nicht, warum Sie bei der Erörterung solcher Themen glauben, sich in einer Art und Weise benehmen zu können, die vielleicht bei anderen Anlässen am Platze ist, aber nicht am heutigen Tage bei der Diskussion dieses Themas.
Ich sagte, dies ist eine neue DDR, eine andere als die, die vor vier Wochen in einer quälenden und bedrükkenden Zeremonie noch einmal und wohl zum letzten Male das Volk an der Führung vorbeiziehen ließ.
Es ist eine DDR, in der sich die Menschen — um ein Wort Erhard Epplers aus seiner großartigen Rede zum 17. Juni 1989 zu wiederholen, der Sie mit Recht, gerade Sie und alle, stürmisch Beifall geklatscht haben — in ihre eigenen Angelegenheiten eingemischt und ihre Sache selbst in die Hand genommen haben. Ein Land, in dem die politische Initiative, die Artikulation des politischen Willens bereits auf das Volk übergegangen ist und in dem sich das Volk wichtige Freiheiten selbst verschafft hat, die Meinungsfreiheit, die Demonstrationsfreiheit, die Versammlungsfreiheit und die Vereinigungsfreiheit zum Beispiel. Wir können das nur mit Bewunderung und mit großer Dank-
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13020 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989
Dr. Vogelbarkeit gegenüber dem Volk konstatieren, das sich diese Freiheiten verschafft hat.
Die Zeit, in der solches geschieht, ist nicht die Zeit für Auseinandersetzungen der üblichen Art. Was wir hier sagen und austauschen, auch die Art und Weise, wie wir das hier — für jedermann auch drüben sichtbar und hörbar — begleiten, muß vor dem geschärften Urteil der Menschen in der DDR und ihrem neuen Selbstgefühl bestehen können.
Deshalb konzentriere ich mich auf drei Fragen, nämlich erstens: Welche Ursachen haben diesen revolutionären Prozeß ermöglicht? Zweitens: Was ist jetzt wichtig? Drittens: Was können und was müssen wir jetzt tun?Zunächst zu den Ursachen. Die Klarheit über die Ursachen ist auch deshalb wichtig, weil diese Ursachen fortwirken und weil sich daraus wichtige Anhaltspunkte für die weitere Entwicklung ergeben. Den letzten Anstoß für das Aufbrechen der erstarrten Strukturen gab sicherlich die Tatsache, daß zunächst Hunderte, dann Tausende von Bürgerinnen und Bürgern der DDR im Juli, August und September ihrem Land den Rücken kehrten und in die Botschaften nach Budapest, Prag und Warschau flüchteten und daß es sich dabei ganz überwiegend um junge Menschen handelte. Das war eine Form des Protestes, die sich und zugleich dem Protest derer, die zu Hause für Veränderungen eintraten, weltweites Gehör verschaffte.In diesen Zusammenhang gehört die mutige Entscheidung der ungarischen Regierung, für die auch ich mich heute im Namen meiner Freundinnen und Freunde noch einmal ausdrücklich bedanke.
Für die Entscheidung nämlich, die Stacheldrahtsperren an der österreichisch-ungarischen Grenze beiseite zu räumen und die Menschen reisen zu lassen. Diese Entscheidung hat der Mauer und dem System, das sich nur noch mit ihrer Hilfe halten konnte, die Grundlage entzogen. Dies war das letzte Glied in der Kette.Andere Ursachen gingen voraus. So die Reformpolitik Gorbatschows in der Sowjetunion. Auf die Frage, warum in der DDR das Maß an Freiheit und Demokratie nicht möglich sein sollte, das in der Sowjetunion schon verwirklicht war, fand die damalige Führung der DDR keine Antwort mehr. Die Rechnung, man könne die Politik der Öffnung und des Umbaues aussitzen, sie werde sich von selbst erledigen, ging nicht auf. Im Gegenteil, bei seinem Besuch in OstBerlin am 6. und 7. Oktober 1989 hat Gorbatschow die Reformkräfte öffentlich ermutigt. Sein Satz „Wer zu spät kommt, den straft das Leben" hatte es in sich.
— Die Art und Weise Ihrer Begleitung läßt nicht Anteilnahme an den Geschehnissen, sondern selbstüberhebliche Rechthaberei in einem Moment erkennen, in der sie besonders verfehlt ist.
Mindestens ebenso wichtig war, daß die sowjetische Führung die Breschnew-Doktrin widerrief und damit die Souveränität und das Selbstbestimmungsrecht der Staaten des Warschauer Paktes wiederherstellte. Und daß Ungarn und Polen in Ausübung dieses wiedergewonnenen Selbstbestimmungsrechtes auf dem Weg der Demokratisierung beispielhaft und besonnen vorangingen. An dieser Stelle wird übrigens auch die Verkettung aller Reformprozesse sichtbar. Jeder Rückschlag, den der eine Prozeß erleidet, gefährdet, jeder Fortschritt, den ein Prozeß erzielt, befördert den anderen. Das gilt insbesondere im Verhältnis zur Sowjetunion. Deshalb müssen wir, deshalb muß der Westen insgesamt alle Reformprozesse nach besten Kräften unterstützen. Beispielsweise auch dadurch, daß die Abrüstungsverhandlungen sobald wie möglich zu konkreten Ergebnissen gebracht werden, die die Volkswirtschaft der Sowjetunion und die der anderen Staaten entlasten.
übrigens auch die Volkswirtschaften des Westens, auch unsere eigene.Aber die Gorbatschowsche Reformpolitik ist nicht vom Himmel gefallen. Die Ursachenkette, die die Voraussetzungen dafür geschaffen hat, daß sich die Prozesse in der Sowjetunion, in Polen, in Ungarn, jetzt auch in der DDR entfalten können und sich in der ČSSR demnächst entfalten werden, reicht weiter zurück. Sie hat von der Politik ihren Ausgang genommen, die vor 20 Jahren von einer sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt ins Werk gesetzt worden ist.
Denn das ist inzwischen wohl unstreitig: Ohne die Ost- und Deutschlandpolitik, ohne die Enspannungspolitik hätte es die Verträge nicht gegeben. Ohne die Verträge wäre es nicht zur Helsinki-Konferenz und dem durch sie ausgelösten Prozeß gekommen. Und ohne Helsinki-Prozeß gäbe es auch keine Reformen und keine Reformprozesse.
Diese Entwicklung und die mit ihr verbundene Entspannung hat den Reformen überhaupt erst eine Chance eröffnet und sie Schritt für Schritt nach vornetreten lassen. Die Orthodoxen, die Hardliner, diejenigen, die nichts verändern wollten und wollen, hatten nicht in dieser Phase Konjunktur; sie hatten ihre Konjunktur in den Zeiten der Konfrontation und des Kalten Krieges — übrigens auf beiden Seiten, nicht nur auf einer.
Diese Politik hat schon in der Vergangenheit Früchte getragen. Sie hat eine schrittweise Normalisierung der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten und eine konkrete Zusammenarbeit aufDeutscher Bundestag — 11, Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989 13021Dr. Vogelvielen Gebieten bewirkt. Auch und gerade auf dem Gebiet der Friedenssicherung. Sie hat zur Erweiterung einzelner Freiheitsräume, zur Verbesserung der Reisemöglichkeiten und zu einer Vielzahl von persönlichen Kontakten über die deutsch-deutsche Grenze hinweg geführt. Das hat zur Bewahrung und Belebung der Geschichts-, Kultur-, Sprach- und Gefühlsgemeinschaft der Deutschen und damit zur Bewahrung des Wissens, daß wir über die Grenzen der beiden deutschen Staaten hinweg unverändert einer Nation angehören, mehr beigetragen als das, was diejenigen gesagt und gefordert haben, die sich dieser Politik über viele Jahre erbittert entgegengestellt haben.
Aus dieser Entwicklung ergibt sich, daß wir die Politik, die das möglich gemacht hat, jetzt nicht abbrechen dürfen, daß wir sie vielmehr fortsetzen müssen.
Für die Abrüstungsverhandlungen sagte ich das schon. Für den Helsinki-Prozeß und für die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Friedensordnung gilt das ebenso. Mit einer Sowjetunion, die auf die Breschnew-Doktrin verzichtet hat und ihre Kraft auf innere Reformen konzentriert, mit Staaten, die sich auf den Weg zur Demokratie begeben haben, sind Fortschritte auf diesem Wege leichter und schneller zu erreichen.
Das bevorstehende Treffen zwischen Präsident Bush und Generalsekretär Gorbatschow wird das erweisen.Wir sind überzeugt: Die Chance, Krieg in Europa für alle Zukunft unmöglich zu machen, ist heute größer denn je, größer als in den Jahren nach dem Kriege.
Nicht Zögern und Zaudern, sondern Voranschreiten ist das Gebot der Stunde. Das gilt allerdings nicht nur in einer Richtung; es gilt auch in westlicher Richtung, z. B. hinsichtlich der Einschränkungen, denen auch unsere Souveränität immer noch unterliegt. Wir haben gerne gehört, daß sich die Repräsentanten der USA und Frankreichs und — etwas verhaltener — auch des Vereinigten Königreichs in den letzten Tagen erneut für das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen ausgesprochen haben. Das muß sich dann aber auch in diesen Fragen bewähren.
Was ist jetzt wichtig?
Wichtig ist vor allem, daß wir den Übersiedlerstromaus der DDR, der immer noch anschwillt und derallein seit Öffnung der tschechoslowakischen Grenzein wenigen Tagen 35 000 Menschen zu uns gebracht hat, bald zum Versiegen bringen. Und zwar in erster Linie im Interesse der DDR und erst in zweiter Linie wegen der Probleme, die dieser Strom für uns mit sich bringt. Eine DDR, die ausblutet, eine DDR, deren Versorgungssysteme zusammenbrechen, deren Wirtschaft noch weiter verfällt, wird sich nicht schneller, sondern überhaupt nicht reformieren. Sie wird in Lethargie oder gar im Chaos versinken. Vielleicht spekulieren einige Orthodoxe im SED-Apparat sogar darauf, daß die Volksbewegung auf diese Weise geschwächt wird und sie dann noch einmal eine Chance haben, oder auch darauf, daß der Übersiedlerstrom bei uns soziale Spannungen verursachen und zu Konfrontationen, jedenfalls aber zum Erstarken rechtsextremer Kräfte führen könnte. So ganz abwegig ist eine solche Befürchtung oder Spekulation ja auch nicht.
Der Exodus kommt aber nur zum Stehen, wenn die Menschen in der DDR wieder eine lebenswerte Zukunftsperspektive sehen, wenn sie wieder Vertrauen fassen. Wenn sie glauben, daß es sich lohnt, in ihrer Heimat zu bleiben, daß sie dort in absehbarer Zeit in Freiheit und auch in dem Wohlstand leben können, den sie auf Grund ihrer Anstrengungen und ihrer Leistungen erwarten können.Das bedeutet politisch: Die SED muß ihren Wahrheitsanspruch und zugleich ihren Führungsanspruch aufgeben. Sie sollte beherzigen, was Rosa Luxemburg, auf die sich die SED ja oft genug berufen hat, gesagt hat.
Ich bedauere ein bißchen, daß das Fernsehen — vielleicht darf ich da eine Anregung geben — die hämischen Gesichter derer, die sich mit diesen Zwischenrufen hervortun, der Bevölkerung nicht immer ganz deutlich zeigt.
Sie sollten beherzigen, was Rosa Luxemburg — auf sie hat sich die SED oft genug berufen — so formuliert hat: Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, ohne freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt. — Dies wäre eine Stelle, an der auch die Damen und Herren der Union Rosa Luxemburg Beifall geben könnten.
Das heißt: die Forderung nach freien Wahlen ist jetzt die zentrale Forderung. Zu ihrer Verwirklichung sollten sich alle gesellschaftlichen Kräfte der DDR bald an einem runden Tisch zusammensetzen, so wie das in Polen und in Ungarn geschehen ist. Alles, was dahinter zurückbleibt — so erfreulich auch die eine
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13022 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989
Dr. Vogeloder andere Maßnahme und der eine oder andere personelle Wechsel erscheint —, genügt nicht mehr. Wer weniger tut, setzt sich vielmehr dem Verdacht aus, es gehe nur um Zeitgewinn und Machterhalt. Die SED muß zur Kenntnis nehmen: Die Zeit, in der man dem Volk einen fremden Willen aufzwingen konnte, ist vorbei. Für einen politischen Führungsanspruch gibt es nur noch eine Legitimation, nämlich das Ergebnis freier Wahlen, und daraus folgt alles andere.
Für den wirtschaftlichen Bereich bedeutet das durchgreifende Reformen, breite Spielräume für individuelle Initiative und Kreativität im Rahmen eines gemischtwirtschaftlichen Systems und klarer gesellschaftlicher Vorgaben, die nicht von einer Zentrale verordnet, sondern in einem demokratischen Prozeß bestimmt und erarbeitet werden und in diesem Rahmen Selbstverantwortung der Unternehmen und Gewerkschaften, die nicht die Interessen der Staatsführung, sondern die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vertreten.Auf diesen Feldern fällt die Entscheidung. Anderes tritt demgegenüber an Bedeutung zurück, auch die Frage der Staatlichkeit der DDR. So sehen es jedenfalls die reformerischen Kräfte der DDR, auf deren Forderungen wir auch in diesem Punkt achten sollten und nicht selektiv nur jeweils da, wo es dem einen oder anderen gefällt.In dem Aufruf des „Neuen Forums" vom 1. Oktober 1989 heißt es wörtlich — gerade Sie haben sich mit gutem Recht bei jeder Gelegenheit immer wieder genauso wie wir auf das „Neue Forum" berufen —:Für uns ist die Wiedervereinigung kein Thema, da wir von der Zweistaatlichkeit Deutschlands ausgehen und kein kapitalistisches Gesellschaftssystem anstreben.
Wir wollen Veränderungen hier in der DDR. — Bärbel Bohley, Herr Reich, das „Neue Forum".
— Sie sind natürlich klüger als das „Neue Forum" , Herr Rühe, Sie selbstverständlich.
Vielleicht werden Sie auch noch Generalsekretär des „Neuen Forums".
In einem entsprechenden Text — ich werde Ihnen noch weitere interessante Texte zur Kenntnis bringen — des „Demokratischen Aufbruchs" wird gesagt:Das besondere Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland, begründet in der Einheit deutscher Geschichte und Kultur, wird durch den „Demokratischen Aufbruch" hoch bewertet. Auch stellt der „Demokratische Aufbruch" die freundschaftliche und familiäre Bindung von Millionen von Bürgern über die Grenze hinweg in Rechnung. Dennoch geht der „Demokratische Aufbruch"von der deutschen Zweistaatlichkeit aus. Die langfristige politische Lösung der damit zusammenhängenden Fragen kann nur im Rahmen einer europäischen Friedensordnung erfolgen.
— Ich trage Ihnen doch nur vor, was die treibenden politischen Kräfte der Reform zu dieser Frage sagen. Daß Sie mir nicht gern zuhören, kann ich noch verstehen. Aber daß Sie noch nicht einmal den Menschen zuhören, die jetzt in der DDR am aktivsten für Veränderungen eintreten, das wirft auf Sie ein schlechtes Licht.
In den Grundpositionen der SPD, der Sozialdemokratischen Partei in der DDR, zu einem Parteiprogramm ist wörtlich ausgeführt:Anerkennung der derzeitigen Zweistaatlichkeit Deutschlands als Folge der schuldhaften Vergangenheit. Mögliche Veränderungen im Rahmen einer europäischen Friedensordnung sollen damit nicht ausgeschlossen werden.Auch bei den großen Demonstrationen war bisher kein einziges Transparent zu sehen und keine Rede zu hören, die etwas davon Abweichendes verlangt hätte.
Im Einklang damit sage ich: Wer jetzt territoriale Fragen aufwirft und Diskussionen über die Grenzen von 1937 anfacht, der fördert die Reformprozesse nicht, sondern der stört und behindert die aktivsten Kräfte der Reform.
Es ist schlimm genug, daß sich die sogenannten Republikaner auf diesem Feld tummeln. Die demokratischen Kräfte dieses Landes sollten es nicht tun und sollten sich dafür zu schade sein.
Das alles, Herr Bundeskanzler, gilt auch für die polnische Westgrenze. Herr Genscher hat dazu vor der UNO-Vollversammlung eine Aussage formuliert — zudem auf sehr persönliche Weise eindrucksvoll an den Außenminister des, wie er wörtlich sagte, neuen Polen gerichtet — , die in dieser Frage jeden Zweifel ausräumt.
Sie, Herr Bundeskanzler — das sage ich jetzt in Anbetracht der Empfindlichkeit und der Bedeutung des Themas als Bitte — , sollten sich diese Formulierung uneingeschränkt zu eigen machen.
Der Antrag gibt dazu Gelegenheit. Wenn Sie aber in Warschau das wiederholen, was Sie dazu zuletzt vor dem Bund der Vertriebenen und leider, wenig abgewandelt, auch soeben gesagt haben,
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989 13023
Dr. Vogeldann wird auf Ihren Besuch, dem auch wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im Sinne der deutsch-polnischen Verständigung vollen Erfolg wünschen,
ein schwerer Schatten fallen. In Polen erwartet man nämlich zu Recht keine verfassungsrechtlichen Deduktionen, sondern die verbindliche politische Aussage, daß die Deutschen die polnische Westgrenze ein für allemal als endgültig betrachten.
Ich erinnere mich an ein geschätztes Mitglied dieses Hohen Hauses, das diese Auffassung von dieser Stelle aus auch einmal vertreten und dann in einer Wahlkapitulation als irrig zurückgenommen hat. Ich sage: Auch das Verfassungsgerichtsurteil hindert Sie in keiner Weise daran, den politischen Willen, diese Grenze ein für allemal anzuerkennen, zum Ausdruck zu bringen.Im übrigen zu den Vorbehalten: Wenn am Ende dieses Jahrhunderts in Europa in Sachen Grenzen etwas vorzubehalten oder etwas zu verhandeln ist, dann die Aufhebung von Grenzen, nicht aber ihre Verschiebung auf diesem Kontinent!
Unsere Position in der Frage der deutschen Einheit ist unverändert. Sie beruht auf der uneingeschränkten Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts. Das Selbstbestimmungsrecht ist die zentrale Antwort auf die deutsche Frage. Deshalb ist es zunächst einmal Sache der Deutschen in der DDR, dann, wenn sie dazu imstande sind — wir hoffen, bald — , darüber zu befinden, für welche Form des Zusammenlebens mit uns sie sich entscheiden wollen.
Für die deutsche Sozialdemokratie sage ich: Wie immer sich die Deutschen dort entscheiden werden, wir werden die Entscheidung respektieren.
Mit den Reformkräften in der DDR sind wir dafür, daß diese Entscheidung so getroffen wird, daß sie den europäischen Einigungsprozeß nicht hemmt, sondern fördert. Unser Ziel bleibt es, die Einheit der Deutschen gemeinsam mit der Einheit Europas zu vollenden.
Gerade deshalb ist die weitere europäische Entwicklung für uns wichtiger denn je. Diese Entwicklung muß sich an zwei Zielen orientieren, nämlich daran, daß der Integrationsprozeß der EG in Richtung auf die Europäische Union unvermindert voranschreitet, und daran, daß die EG gleichzeitig für die Zusammenarbeit mit den EFTA-Staaten und den Staaten Osteuropas und des östlichen Mitteleuropa offenbleibt, ja, sich für diese Zusammenarbeit noch weiteröffnet. In dieser historischen Situation könnte die Aufnahme Österreichs in die EG gerade jetzt ein ganz wichtiges Signal in die richtige Richtung geben.
Ein konkreter Schritt hin zur Einheit sollte sofort getan werden. Und das ist die Beseitigung von Stacheldraht und Sperranlagen an der deutsch-deutschen Grenze und die vollständige Öffnung der Mauer.
Sie waren stets inhuman und deshalb zu Recht Gegenstand weltweiter Kritik. Jetzt sind sie vollends sinn- und funktionslos. Darum sage ich: Ein liberales Reisegesetz allein genügt nicht; vielmehr muß die deutsch-deutsche Grenze in den gleichen Zustand versetzt werden wie die ungarisch-österreichische Grenze, und das bald.
Die DDR würde sich damit auch immense Kosten ersparen und ihrer Wirtschaft voranhelfen.Das gleiche wäre übrigens auch der Fall, wenn, wie Christa Wolf das ausgedrückt hat, die Heerscharen des Staatssicherheitsdienstes so schnell wie möglich demobilisiert würden.
Was können, was sollen wir tun? Das heißt zugleich: Was müssen wir unterlassen? Daß wir die Frage der Staatlichkeit nicht in den Vordergrund rücken sollten, habe ich schon gesagt. Es gibt aber auch keinen Anlaß zu vordergründigem Triumph in dem Sinne, daß wir in diesen Tagen unsere eigene gesellschaftliche Realität heiligsprechen. Diejenigen, die meinen, die neuen politischen Kräfte in der DDR wollten einfach die gesellschaftliche Realität der Bundesrepublik übernehmen, täuschen sich gründlich. Natürlich sieht man dort die Vorzüge unserer Ordnung; man sieht aber auch die Nachteile und Gefahren.
Wer sich auf diese neuen Kräfte, wer sich auf das „Neue Forum", den „Demokratischen Aufbruch" oder die SDP beruft, der beruft sich auf Kräfte, deren gesellschaftliche Vorstellungen und Forderungen auf einen ökologisch orientierten freiheitlichen und demokratischen Sozialismus, keinesfalls aber auf Gesellschaftsmodelle neokonservativer Prägung hinauslaufen.
Deshalb ist dort wohl das Ende eines verknöcherten Systems eingeläutet, das sich zu Unrecht als sozialistisch bezeichnet,
nicht aber, wie manche hier meinen oder auch hoffen,das Ende der Sozialdemokratie, des demokratischen13024 Deutscher Bundestag 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989Dr. VogelSozialismus. Der erlebt dort, in der DDR, und in ganz Osteuropa jetzt, in diesen Monaten, seine Wiedergeburt, und das strahlt auf ganz Westeuropa aus.
— Ich hoffe, Sie finden sich wieder. Mir gefällt immer wieder der Vergleich zwischen der Schläfrigkeit dieser Herren und Damen bei Reden des Bundeskanzlers und ihrer lebhaften Aufregung jetzt.
Offenbar gehen die anregenden politischen Gedanken eher von meiner Rede aus. Zu diesem Ergebnis muß man kommen.Im übrigen: Der Herr Bundeskanzler hat ja etwas sehr Zustimmenswertes gesagt. Er hat gesagt: Wir sollten die Menschen in der DDR und auch die Menschen in den anderen osteuropäischen Ländern nicht bevormunden. Es steht in krassem Widerspruch dazu, wenn Sie mit überheblicher Heiterkeit reagieren, wenn ich zitiere, was die gesellschaftlich aktivsten Kräfte drüben als ihren Willen ausgeben.
Nachdem diese Debatte hier auch die Menschen in der DDR verfolgen und dies alles mit anhören, werden sie jetzt ein bißchen besser und illusionsloser über Ihre Einstellung zu denen, die die Volksbewegung drüben vorangebracht haben, Bescheid wissen.
Was können wir tun? Zunächst einmal die Gesprächskontakte gerade jetzt intakt halten, und zwar nach allen Seiten, auch zu denen, die offizielle Funktionen innehaben. Ich begrüße ausdrücklich, daß in einer kritischen Zeit Herr Kollege Mischnick mit einer großen Delegation der FDP drüben war und mit dem neuen Generalsekretär gesprochen hat. Wenn da und dort aus Ihren Reihen Kritik laut wurde: Wir halten diese Reise, wir halten dieses Gespräch für nützlich und unterstützen es.
Notwendig ist die Vertiefung der schon existierenden Zusammenarbeit auf kulturellem, ökologischem und wirtschaftlichem Gebiet, nicht im Sinne einer Belohnung oder gar eines Abkaufens von Reformmaßnahmen, sondern damit neue und zusätzliche Möglichkeiten, die sich aus dem wirtschaftlichen und politischen Umbruch ergeben — ergeben können, muß man sagen — rasch genutzt werden. Hier sind auch größte Anstrengungen gerechtfertigt.In den Bereich des Realisierbaren rücken jetzt auch institutionelle Fragen, etwa die nach einer europäischen Umwelt- oder Abrüstungsbehörde in Berlin. Oder sogar nach einzelnen, deutsch-deutschen Institutionen, beispielsweise wiederum auf dem Feld des Umweltschutzes, auf dem des Bank- und Kreditwesens, der Drogen- oder der AIDS-Bekämpfung. Vieles, was kürzlich noch utopisch erschien, sollte zumindestangesprochen und im voraus sorgfältig bedacht werden.Das alles könnte zu einer neuen Qualität des deutsch-deutschen Verhältnisses führen, bei der das Miteinander, ja ein Zusammenwachsen mehr und mehr an die Stelle des Nebeneinander tritt. Das könnte auch in Ergänzung und Weiterführung des Grundlagenvertrages zu zusätzlichen Vereinbarungen führen. Hingegen sehen wir zu Änderungen der rechtlichen Gegebenheiten oder praktischen Handhabung hinsichtlich der Staatsangehörigkeit nach wie vor keine Veranlassung. Die SPD als Fraktion und als Partei haben dies auch zu keinem Zeitpunkt verlangt oder vorgeschlagen.
Vordringlich ist die Bewältigung der Probleme, die sich mit der Einführung der vollen Reisefreiheit — sie wird kommen — ergeben. Die Menschen, die aus der DDR in die Bundesrepublik reisen wollen, müssen in den Stand gesetzt werden, bestimmte Beträge ihres eigenen Geldes in D-Mark umzutauschen. Als ersten Schritt schlagen wir vor — zu meiner Freude hat das drüben bereits ein positives Echo gefunden —, dafür die D-Mark-Guthaben zu verwenden, die sich aus dem Zwangsumtausch bei Reisen in die umgekehrte Richtung ansammeln, und dafür — das muß man dann aber hinzusagen — , die Forderung auf Aufhebung des Zwangsumtausches für längere Zeit zurückzustellen. Beides miteinander ist logisch unvereinbar.Ergänzend sollten wir das Volumen, das jetzt für das sogenannte Begrüßungsgeld aufgewendet wird, ebenfalls für den Umtausch verfügbar machen. Eine gemeinsame deutsch-deutsche Bank könnte hierfür und für die Verbesserung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit gute Dienste leisten.
Nicht minder aktuell ist die Bewältigung des Übersiedlerstroms. Daß er bislang bewältigt werden konnte, ist das Verdienst vieler Helferinnen und Helfer. Ich nenne nur das Rote Kreuz, die anderen Wohlfahrtsverbände, den Bundesgrenzschutz, die Polizei und die Bundeswehr, aber auch die Mitarbeiter unserer Botschaften, insbesondere der Botschaft in Prag, die zum Teil Übermenschliches geleistet haben. Ihnen allen gilt unser aufrichtiger Dank.
Bis der Übersiedlerstrom versiegt, wird selbst im günstigsten Fall noch einige Zeit vergehen. Nach Einführung der Reisefreiheit — da sollten wir uns keine Illusionen machen — wird er sogar noch einmal steigen. Das wird die Probleme, mit denen wir es heute schon zu tun haben, zusätzlich verstärken. Es wäre unredlich, das zu verschweigen. Noch unredlicher wäre es, den Zuwanderern nicht von vornherein zu sagen, daß es infolge der Wohnungsnot, die in der Bundesrepublik nicht erst heute herrscht, länger, wenn nicht lange dauern wird, bis sie aus Sammel- und Behelfsunterkünften in endgültige Wohnungen umziehen können. Wer einen anderen Anschein er-
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Dr. Vogelweckt, täuscht diese Menschen und hilft ihnen nicht.
Das ist unsere Position in dieser Frage:
Erstens. Die Übersiedler machen von einem Recht Gebrauch, das ihnen das Grundgesetz einräumt. Wir bitten sie zwar — ich tue das auch von dieser Stelle —, zu prüfen, ob es nicht jetzt schon ausreichende Gründe gibt, sich in der DDR für Veränderungen zu engagieren und deshalb dortzubleiben. Aber wir respektieren ihre Entscheidungen, und wir haben auch kein Recht, sie zu kritisieren. Keiner von uns wüßte, wie er sich in der gleichen Situation entscheiden würde. Das gehört immer dazu.
Sie sind und bleiben willkommen. Und sie haben einen Anspruch darauf, ebenso, d. h. nicht schlechter, aber auch nicht besser als diejenigen behandelt zu werden, die in unserer Mitte in vergleichbarer Weise der Hilfe und Unterstützung bedürfen, also beispielsweise wie diejenigen, die hier schon lange auf eine Wohnung oder auf einen Arbeitsplatz warten.Meinen Respekt vor denen, die bleiben, die ihr Gemeinwesen in Freiheit erneuern wollen, habe ich vorhin schon zum Ausdruck gebracht. Ich wiederhole ihn an dieser Stelle. Hohen Respekt äußere ich übrigens auch vor denen, die einfach deswegen in der DDR bleiben, weil Kranke, Hilfsbedürftige oder andere Mitmenschen in schwere Bedrängnis kämen, wenn sie gehen würden. Auch dieser menschliche Gesichtspunkt verdient Anerkennung; das unterstreiche ich.
Zweitens. Die Lösung der sich daraus ergebenden Fragen kann nicht allein den Ländern und Gemeinden überlassen bleiben.
Der Bund muß seinen vollen Beitrag leisten.
Das hat er bisher nicht im notwendigen Umfang getan.
Zu diesem Zweck bedarf es eines Gesamtkonzeptes, das außer den Übersiedlern auch alle anderen Kategorien von Zuwanderern umfaßt. Dieses Konzept muß u. a. klären — ich sage ausdrücklich: klären —, von welcher Zuwandererzahl — bei aller Schwierigkeit der Prognose — mittelfristig ausgegangen werden muß;
ob angesichts des Übersiedlerstromes — auch dasmuß geklärt werden — auch diejenigen Zuwandererweiter unbeschränkt in der Bundesrepublik aufgenommen oder hier belassen werden können, die darauf keinen verfassungsrechtlichen oder durch internationale Verträge gesicherten Anspruch haben;
ob und in welchem Umfang Leistungen gewährt werden sollen, die sich von Leistungen unterscheiden, die den hier Ansässigen zustehen,
und wie die Wohnungsversorgung sichergestellt werden soll und welche beschäftigungspolitischen Maßnahmen ergriffen werden müssen.
Drittens. Zur Lösung dieser Probleme, zur Verstärkung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der DDR und auch zur Förderung der Reformprozesse in Polen und anderen Staaten des Warschauer Paktes sind — bei aller Unterstützung des Gedankens, daß auch die Europäische Gemeinschaft hier eine wichtige Aufgabe hat — öffentliche Mittel in einem Ausmaß erforderlich, das uns allen noch nicht genügend deutlich vor Augen steht. Allein die Behebung der Wohnungsnot, die sich schon in einem Zeitpunkt sichtbar verschärfte, in dem die Zuwanderung noch keine Rolle gespielt hat, erfordert wesentlich mehr Milliarden D-Mark, als Sie in Ihren schrittweisen Programmen — zuletzt gestern — veranschlagt haben.
Herr Bundeskanzler, jetzt rächt sich doppelt, daß eine sozial ungerechte Steuerreform die öffentlichen Finanzen so geschwächt hat,
daß die Deckungsmittel für das dringend Notwendige fehlen.
Wahrscheinlich ist es jetzt zu spät, die am 1. Januar 1990 wirksam werdenden Steuersenkungen für Hochverdienende wenigstens noch auszusetzen. Aber für die neu angekündigten Steuersenkungsprogramme ist jetzt mit Sicherheit kein Raum mehr.
Im Gegenteil: Es sind zusätzliche Leistungen erforderlich, die von den Starken und nicht von den Schwachen erbracht werden müssen, und zwar bald.
Auch das darf nicht verschwiegen, auch das muß unserem Volk deutlich, klar und ehrlich gesagt werden.
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13026 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989
Dr. VogelWas hier auf dem Spiele steht, geht weit über das hinaus, was uns sonst Tag für Tag beschäftigt.
Es geht um die Bewahrung des sozialen Friedens in der Bundesrepublik, und es geht darum, daß wir tun, was in unseren Kräften steht, um den Demokratisierungs- und Reformprozessen zum Erfolg zu verhelfen. Wir — und übrigens auch der ganze Westen — müßten uns die bittersten Vorwürfe machen, wenn diese Prozesse scheitern, wenn es zu Chaos oder zu chinesischen Antworten käme, weil wir das uns Mögliche an Leistungen und Unterstützungen versäumt haben.
Auch hier, auch in diesem Zusammenhang gilt derGorbatschowsche Satz: „Wer zu spät kommt,"— nein: wer zu spät hilft — „den straft das Leben."
Deshalb sind wir als Opposition bereit, an der Erarbeitung eines solchen Gesamtkonzeptes mitzuwirken— und zwar sofort, zusammen mit allen anderen gesellschaftlichen Kräften unseres Landes. Sie, Herr Bundeskanzler, sollten nach Ihrer Rückkehr aus Polen unverzüglich dazu die Initiative ergreifen.Kooperation, die hiermit für dieses wichtige Feld angeboten ist, ist mehr denn je ein Gebot in allen Fragen, die Berlin betreffen. Die Bedeutung dieser Stadt ist vor dem Hintergrund der jüngsten Entwicklungen noch gewachsen. Darin liegen für die Zukunft große Chancen. Aber zunächst muß Berlin hinsichtlich der Aufnahme von Übersiedlern und anderen Zuwanderern besondere Leistungen erbringen, die es aus eigener Kraft auf Dauer nicht bewältigen kann.Gleiches gilt übrigens für den Zustrom von polnischen Besuchern, die überwiegend ja nicht aus Mutwillen oder Geschäftssinn, sondern aus Not Habseligkeiten aller Art in Berlin verkaufen, um mit den erlösten D-Mark-Beträgen in ihrer Heimat einige Wochen und Monate halbwegs erträglich leben zu können. Das ist übrigens auch eine Folge der Maßnahmen, die gegen die Einreise von Polen nach Westdeutschland getroffen worden sind und die wegen des besonderen Status von Berlin dort nicht wirksam werden können und die — das füge ich für Menschen hinzu, für die Solidarität und Nächstenliebe keine Fremdwörter sind — aus Gründen der Mitmenschlichkeit wohl auch nicht wirksam werden sollten.
Eine zusätzliche Probe steht der Stadt bevor, sobald die Reisefreiheit in Kraft tritt. Schätzungen rechnen mit bis zu 200 000 Besuchern aus der DDR, von denen nicht ganz wenige in der Stadt bleiben werden. Berlin, meine sehr verehrten Damen und Herren, braucht deshalb dringender denn je die Hilfe des Bundes. Alle früheren Versprechungen und auch die heutige sind keinen Schuß Pulver wert, wenn sie in diesen Tagen und Wochen gegenüber der Stadt Berlin nicht eingelöst werden.
Ich appelliere deshalb an Sie, Herr Bundeskanzler, Ihren Groll über das Berliner Wahlergebnis zu vergessen und Berlin so zur Seite zu stehen, wie es der Regierende Bürgermeister und die Berliner Bevölkerung von Ihnen und der Bundesregierung zu Recht erwarten, ja fordern.
Die Lage der Nation im geteilten Europa und in dem mit ihm geteilten Deutschland war lange Gegenstand der Sorge, ja in den Zeiten des Kalten Krieges Gegenstand von Befürchtungen und Ängsten. Nach Jahren, in denen eine realistische Politik diese Lage zunächst stabilisiert und durch eine Vielzahl kleiner Schritte dem Zerfall der Nation entgegengewirkt hat, ist sie heute Gegenstand der Hoffnung und wachsender Zuversicht.Ob sich diese Hoffnung verwirklicht, ob es bald ebenso einfach sein wird, von Ost-Berlin nach Bonn wie von Budapest nach Wien oder von Köln nach Brüssel zu gelangen, ob Recht und Freiheit allen Deutschen in gleichem Maß zuteil werden, ob die Einigkeit oder gar Einheit der Deutschen in einem einigen und geeinten Europa endgültig an die Stelle der Trennung tritt, ob damit auch die Nachkriegszeit endgültig abgeschlossen wird, das liegt nicht nur in unserer Hand.Aber wir müssen dazu unseren vollen Beitrag leisten. Mit heißem Herzen und zugleich mit kühlem Verstand. Wo notwendig im Streit und wo möglich gemeinsam. Die deutsche Sozialdemokratie ist dazu bereit.
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Dr. Dregger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir alle sind Zeugen eines friedlichen Aufbruchs in Ost- und Ostmitteleuropa, der uns mit Zuversicht und Hoffnung erfüllt. Dazu haben viele beigetragen. Ich nenne die Reformkommunisten in der Sowjetunion und in Ungarn, die den Mut hatten, die erstarrten Strukturen ihrer Länder aufzubrechen. Ich nenne die Reform- und Demokratiebewegung, die in nahezu allen sozialistischen Ländern tätig ist, die in Polen den Wandel von unten her erzwungen hat und jetzt auch in der DDR immer mehr an Stärke gewinnt.Dieser Entwicklung liegen tiefere Ursachen zugrunde. Den Wettbewerb der Systeme hat der Sozialismus 72 Jahre nach der Oktoberrevolution eindeutig verloren.
Er war zwar in der Lage, eine gewaltige Militärmacht und Polizeiapparate grausamer Natur aufzubauen, aber Freiheit, Glück und eine nur angemessene Versorgung der Menschen konnte er nicht ermöglichen. Mir hat ein hoher Funktionär der Sowjetunion das treffend wie folgt beschrieben: „In unserem System ist es leichter, 800 Panzer in Auftrag zu geben, als eine
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Dr. DreggerStadt von 8 000 Einwohnern mit zivilen Gütern angemessen zu versorgen. " Das ist der Fall.Der zweite Grund für den Aufbruch ist die Erkenntnis: Die Nationen sind stärker als aufgezwungene Gesellschaftssysteme. Das zeigt sich zur Zeit vor allem in der Sowjetunion, das zeigt sich aber auch bei uns. Alle Versuche der SED, die DDR zu einer sozialistischen Teilnation zu machen, sind total gescheitert.
Es gibt weder eine westdeutsche noch eine ostdeutsche, weder eine sozialistische noch eine kapitalistische Nation. Es gibt nur eine — und ich füge hinzu: unteilbare — deutsche Nation.
Der Massenexodus überwiegend junger Menschen aus der DDR und die Art ihrer Aufnahme bei uns haben das aller Welt gezeigt; ich hoffe, auch Ihnen, meine Damen und Herren, die Sie immer noch daran zweifeln, daß es nur eine deutsche Nation gibt, die ihre staatliche Einheit wiederfinden will.
Nicht weniger wichtig für die Gesamtentwicklung in Europa waren die Grundentscheidungen, die in der Bundesrepublik Deutschland sehr frühzeitig getroffen wurden. Ich nenne zunächst die Entscheidung für den Westen, für die Nordatlantische Allianz, die mit der Aufstellung der Bundeswehr verbunden war. Ohne die Bundeswehr hätte die Hegemonie der Sowjetunion über Europa nicht verhindert werden können. Ohne die Bundeswehr könnten wir jetzt nicht auf der Grundlage gesicherter Freiheit auch mit den Staaten Ost- und Ostmitteleuropas zusammenarbeiten, die ihre Misere, eine Folge des kommunistischen Systems, mit unserer Hilfe überwinden wollen.Für den Beitrag der Bundeswehr zu der gesicherten Friedensordnung gebührt unseren Soldaten unser Dank, den ich auch in dieser Debatte aussprechen möchte.
Das zweite, was die Entwicklung Gesamteuropas geprägt hat, war unsere Entscheidung für die Soziale Marktwirtschaft, die am Beispiel des geteilten Deutschlands gezeigt hat, wie sehr eine freiheitliche und soziale Ordnung allen Plan- und Zwangssystemen überlegen ist.
Das dritte war die frühe Entscheidung für den europäischen Zusammenschluß in den Europäischen Gemeinschaften. Dieses faszinierende Modell, das aus ehemaligen Feinden Freunde und Verbündete gemacht hat, hat seine Anziehungskraft auf die Völker Mittel- und Osteuropas nicht verfehlt.Keine dieser von der CDU/CSU und der FDP getroffenen Entscheidungen war damals selbstverständlich. Sie stießen sämtlich auf den erbitterten Widerstand der SPD, wobei ich an der Lauterkeit der Motive ihrerdamaligen Vertreter keinen Zweifel aufkommen lassen möchte.
Die Entscheidung für den Westen erschien manchem als ein Verrat an der Einheit der Nation. Heute wissen wir, daß sie das Gegenteil davon war.Adenauer wußte, daß der Platz in der Mitte, den wir nun einmal haben, der Platz zwischen den Stühlen ist, wenn nicht die Mitte wesentlich stärker ist als die Peripherie. Daß die deutsche Mitte nicht stärker ist als ihre Umgebung, das haben wir in zwei Weltkriegen erfahren müssen.
Wir haben uns auch deshalb für eine der beiden Seiten entschieden; wir haben uns für den Westen entschieden. Hätten wir uns nicht für den Westen entschieden, dann hätten wir heute, Frau Vollmer, weder Verbündete im Westen noch Optionen im Osten.
Hätten wir uns nicht so entschieden, dann wären wir jetzt von einem Ring von Mißtrauischen umgeben. Hätten wir uns nicht so entschieden, dann wäre es nicht zu den Veränderungen gekommen, die wir jetzt in Osteuropa erleben, wie der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung mit Recht festgestellt hat.
Jetzt suchen wir als Teil des Westens den Ausgleich mit dem Osten, und an dieser unserer Position wird sich nichts ändern.Ebenso problematisch erschien nicht wenigen damals die Entscheidung für die Soziale Marktwirtschaft, die Aufhebung aller Bewirtschaftungsvorschriften, die Freisetzung der Initiative des einzelnen in einem Land, das zerstört, von Hunger geplagt und zunächst mit Demontagen der Siegermächte überzogen war. Auch hier hat der Erfolg Ludwig Erhard und denen recht gegeben, die ihn unterstützt haben.
Mit Konrad Adenauer und Ludwig Erhard haben wir, die CDU/CSU, zusammen mit unseren damaligen Koalitionspartnern, insbesondere der FDP, die richtigen Grundentscheidungen getroffen. Auch jetzt kommt es auf die Bundesrepublik Deutschland an, und auch jetzt werden wir wieder gemeinsam die richtigen Entscheidungen treffen.Meine Damen und Herren, der politische und wirtschaftliche Wandel in Mittel- und Osteuropa knüpft an geschichtlich gewachsene europäische Traditionen an, an ein Erbe, das allen europäischen Völkern gemeinsam ist. Dieses Erbe heißt Freiheit.Der Wandel eröffnet deshalb eine historische Chance für Europa und damit auch für Deutschland, die Chance, daß überall in Europa die Menschenrechte verwirklicht werden, die Chance, daß alle europäischen Völker, auch das deutsche Volk, ihr Recht auf freie Selbstbestimmung ausüben können. Deshalb müssen die Möglichkeiten eines friedlichen Wandels zur Freiheit und Einheit Deutschlands und Europas
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13028 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989
Dr. Dreggeraktiv genutzt werden. Deshalb müssen wir uns dazu bekennen und müssen sie in die Diskussion einbringen.
Meine Damen und Herren, die Initiative haben, soweit es Deutschland angeht, die Menschen in der DDR ergriffen. Sie gehen zu Hunderttausenden auf die Straßen und fordern Freiheit, Demokratie und Menschenrechte. Sie werden damit Erfolg haben, denn die Menschenrechte gelten für alle, auch für sie.In Ost-Berlin ging eine Million Menschen auf die Straße. Niemandem wurde bei dieser Massendemonstration ein Haar gekrümmt; niemand wurde verletzt. Ich glaube, wir alle können stolz darauf sein, einem Volk anzugehören, das seinen Friedens- und seinen Freiheitswillen in dieser Weise in Ost-Berlin bekundet hat.
Ich möchte die Feststellung hinzufügen, daß unsere Landsleute in Mitteldeutschland auch technisch und ökonomisch nicht hinter uns zurückstehen. Wenn sie nur frei sind und ihre eigene Initiative entfalten können, dann werden sie bald den Rückstand aufgeholt haben
und werden dann mit uns gemeinsam die Wettbewerbsfähigkeit unserer Nation erhalten.Herr Vogel, die Menschenrechte schließen das Recht auf nationale Selbstbestimmung ein. Mit der Freiheitsfrage stellt sich in dieser geschichtlichen Stunde für die Deutschen daher auch die Einheitsfrage.
Ein Staat kann auf Dauer nur existieren, wenn er Legitimität und wenn seine Bevölkerung Identität besitzen. Dem anderen Staat in Deutschland fehlt es an beidem. Die SED-Herrschaft beruht auf gefälschten Wahlergebnissen und einer Scheinverfassung, die niemals Staatspraxis geworden ist. Die DDR kann sich auch nicht auf eine eigene Nation stützen. Der Versuch, eine sozialistische Teilnation zu gründen — ich sagte das schon — ist gescheitert. Das ist offenbar auch die Meinung der SED selbst. Deren Chefideologe Reinhold hat gemeint, ohne Sozialismus verliere die DDR ihre Daseinsberechtigung. Dem kann ich nicht widersprechen. Dem möchte ich ausdrücklich zustimmen.
Aber Sozialismus rechtfertigt es nicht, die Teilung Deutschlands und Europas aufrechtzuerhalten. Denn Sozialismus bedeutet im Ergebnis immer: Diktatur, Armut und Unterdrückung.
Herr Vogel, wenn Sie vom Sozialismus reden und sichdarauf beschränken, zu sagen, in der DDR sei es derfalsche Sozialismus gewesen, dann frage ich: Wo gibt es den richtigen?
Es gibt ihn doch allenfalls in der Phantasie einiger Intellektueller.
— Schweden ist demokratisch und nicht Sozialismus.
Unsere Aufgabe kann es daher nicht sein, das von der Bevölkerung abgelehnte Zwangssystem der DDR zu stabilisieren. Unsere Aufgabe ist es, den friedlichen Wandel in der DDR zu fördern.Was sagen unsere Nachbarn zum Selbstbestimmungsrecht der Deutschen? Die zum Teil besorgten Kommentare nicht von seiten westlicher Regierungen, aber von seiten westlicher Medien beruhen auf der in der Tat heute bedeutenden Wirtschaftsleistung der Bundesrepublik Deutschland, im übrigen aber auf ganz anderen Erinnerungen an die erste Hälfte unseres Jahrhunderts. Inzwischen hat sich das Denken der Menschen verändert. Faschismus und Nationalsozialismus sind tot. Das System des Marxismus-Leninismus löst sich auf. Dort, wo die Europäer frei sind, im Westen, haben sie sich zusammengeschlossen. Niemand hat unter diesen Umständen Anlaß, sich vor einem vereinigten Deutschland zu fürchten.Das vereinigte Deutschland wird sicherlich eine wirtschaftliche Großmacht sein. Das ist auch schon die Bundesrepublik Deutschland. Aber wir sind Gliedstaat der Europäischen Gemeinschaft. Das wird auch für das vereinigte Deutschland gelten. In der Europäischen Gemeinschaft und der künftigen Europäischen Union werden wesentliche Teile der Souveränitätsrechte auf die Gemeinschaft übertragen. Die wirtschaftliche Kraft Deutschlands kommt allen Europäern zugute. Ohne diese wären auch die Unterstützungen zugunsten Osteuropas wie auch der Dritten Welt, die von uns erwartet werden, nicht zu finanzieren.Auch ein vereintes Deutschland wird eine demokratische Verfassung nach dem Beispiel des Grundgesetzes haben. Etwas anderes kommt für uns überhaupt nicht in Frage. Wenn schon Ungarn und Polen dabei sind, demokratische Mehrparteiensysteme und marktwirtschaftliche Ordnungen aufzubauen, dann ist es doch völlig unvorstellbar, daß ein vereinigtes Deutschland die demokratischen Errungenschaften der Bundesrepublik Deutschland preisgeben würde.
Was sagen unsere Nachbarn im Osten zum Selbstbestimmungsrecht der Deutschen? Die neuen Regierungen in Polen und Ungarn stimmen dem Selbstbestimmungsrecht der Deutschen prinzipiell zu. Und die Sowjetunion? In der gemeinsamen Erklärung Kohl/ Gorbatschow vom 13. Juni hier in Bonn ist von Selbstbestimmungsrecht der Völker und Staaten die Rede. Die Völker oder die Staaten, was geht vor? Schon die Reihenfolge „Völker und Staaten", nicht umgekehrt, aber auch das in derselben Erklärung enthaltene Be-
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Dr. Dreggerkenntnis zur Würde des Menschen und zur Demokratie lassen keinen Zweifel zu, daß das Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht durch diktatorische Staatsführungen außer Kraft gesetzt werden kann, die gegen den Willen des Volkes regieren.
Ich möchte dazu, meine Damen und Herren, eine Äußerung zitieren, die Professor Dašičev, der als wichtiger deutschlandpolitischer Berater Gorbatschows gilt, vor kurzem in Weikersheim gemacht hat — ich beziehe mich auf die „Stuttgarter Zeitung" vom 16. Oktober — : In Freiheit und Einheit soll das deutsche Volk sein Schicksal selbst bestimmen. Das brauche Zeit. Allein im gesamteuropäischen Ansatz könne die deutsche Frage gelöst werden. Eine Neutralisierung Deutschlands, wie früher vorgeschlagen, verliere ihren Sinn, wenn es keine Konfrontation mehr gebe.
Ich finde, dieser Äußerung können wir zustimmen.Bauen wir vor allem die militärische Konfrontation ab. Die konventionellen Abrüstungsverhandlungen in Wien verlaufen zur Zeit zügig und konstruktiv, was wir beiden Weltmächten verdanken und was von deutscher Seite energisch unterstützt wird.Und wie stehen unsere westlichen Verbündeten zum Selbstbestimmungsrecht der Deutschen? Es war Konrad Adenauers historische Leistung, die ungelöste deutsche Frage zu einer Sache des gesamten Westens zu machen. Der Art. 7 des Deutschland-Vertrages von 1952, der nach wie vor gilt, enthält die gemeinsame Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Verbündeten Frankreich, Großbritannien und Vereinigte Staaten — ich zitiere — :Ein wiedervereinigtes Deutschland , das eine freiheitlich-demokratische Verfassung, ähnlich wie die Bundesrepublik, besitzt und das in die europäische Gemeinschaft integriert ist.So diese völkerrechtlich verbindliche Verpflichtung unserer wichtigsten Alliierten in Art. 7 des Deutschland-Vertrages. Meine Damen und Herren, darauf können wir uns berufen, darauf müssen wir uns berufen, und darauf werden wir uns berufen.
Die deutsche Frage — und das muß auch einmal gesagt werden, insbesondere nach diesem Plädoyer von Herrn Vogel, das ja manches Richtige enthielt,
dem auch wir Beifall gezollt haben, aber vieles, vieles, was die Geschichte etwas verfälscht hat, hatte ich den Eindruck — —
— Die SPD hat mehrfach versucht, die deutsche Einheit in Freiheit als lästiges und unrealistisch erscheinendes Ziel aufzugeben. SPD-Repräsentanten haben dafür plädiert, die Präambel des Grundgesetzes zu ändern. SPD-Repräsentanten haben die Anerkennung einer eigenen Staatsbürgerschaft für die Deutschen in der DDR gefordert.
Wir, die Union, sind standfest geblieben. Wir haben an der staatlichen Einheit der deutschen Nation, ausgedrückt in der gemeinsamen Staatsbürgerschaft, festgehalten. Hätten wir nachgegeben, dann hätten die Botschaften in Budapest, in Prag und in Warschau den Flüchtlingen aus der DDR nicht helfen können, wie sie es getan haben.
Und deswegen wiederhole ich nur einen bekannten Tatbestand, wenn ich sage: Wir, die Union, stehen zum Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes und zur staatlichen Wiedervereinigung der Deutschen.
Die nächste Frage: Wie wird das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen ausgeübt, die jetzt in zwei Staaten leben, soweit sie in zwei Staaten leben? Im Grundgesetz, Art. 23, steht, das Grundgesetz gelte zunächst im Gebiet der Länder, die damals beitreten konnten. Sie sind alphabetisch in der Reihenfolge aufgezählt: „Baden, Bayern ...". Und dann heißt es in Art. 23 des Grundgesetzes — ich zitiere —:In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen.Von „Beitritt" ist hier die Rede, nicht von „Anschluß". Den Willen zum Beitritt kann nur das Volk erklären, das Volk in den „anderen Teilen", das beitreten will. Es geht also auch in dieser Grundfrage der nationalen Existenz des deutschen Volkes um freie Wahlen und freie Abstimmungen, das einzige Instrument, das eines freien Volkes würdig ist.
Eine frei gewählte Regierung der DDR wäre der Partner, mit dem wir gemeinsam die deutsche Frage lösen und die Modalitäten des Beitritts aushandeln könnten.Die letzte Frage: Wie soll die gesamteuropäische Friedensordnung aussehen, in deren Rahmen das deutsche Volk sein Recht auf Selbstbestimmung verwirklicht?Die Völker Europas allein können sie nicht schaffen. Wir leben nicht mehr in einem europäischen, sondern in einem Weltmächtesystem, in dem die USA und die Sowjetunion dominieren. Beide Weltmächte sind Staatenunionen, wenn auch ganz unterschiedlichen Charakters. Beide sind notwendige Partner einer gesamteuropäischen Friedensordnung — beide: die Sowjetunion wie die Vereinigten Staaten.Der dritte und wichtigste Partner sollte das vereinte Europa sein, das zwischen den USA und der Sowjetunion liegt, d. h. das Europa von Polen bis Portugal. Es wird ein Europa der Nationalstaaten sein, die ihre nationalen Kulturen nicht aufgeben und damit die Vielfalt Europas — und das ist sein Reichtum — erhalten. Dieses vereinte Europa wird aber auch schon deshalb nicht zentralistisch, sondern dezentral organisiert sein. Das bedeutet, daß es nicht angriffsfähig, sondern nur defensivfähig sein kann.
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13030 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989
Dr. DreggerDieses Europa würde zur friedenerhaltenden Mitte zwischen den Weltmächten werden. Es würde diesen ersparen, mitten in Europa, d. h. in Deutschland, einander hochgerüstet gegenüberzustehen. Es würde dadurch diese Weltmächte von Lasten befreien, die für sie immer größer werden.Bei dem Entwicklungsprozeß, der uns vorschwebt, kommt der Sowjetunion eine besonders wichtige Rolle zu. Die innere Entwicklung der Sowjetunion ist natürlich auch für ihre Außenbeziehungen von größter Bedeutung, und umgekehrt. Je mehr die Sowjetunion das Selbstbestimmungsrecht ihrer eigenen Völker und ihrer Nachbarvölker, z. B. das Selbstbestimmungsrecht der Polen, anerkennt, um so enger kann und muß unsere und des ganzen Westens Zusammenarbeit mit der Sowjetunion werden. Schon jetzt tun wir alles, um den Reformprozeß in der Sowjetunion durch technisch-ökonomische und auch abrüstungspolitische Zusammenarbeit zu unterstützen.Im Zeichen der Einheit und Freiheit Europas werden auch Polen und Deutsche zueinander finden, wie nach dem Krieg Franzosen und Deutsche zueinander gefunden haben. Was den Ausgleich im Osten schwieriger als den im Westen macht, ist die Tatsache, daß im Osten nicht nur Herrschaftsgrenzen verändert, sondern auch Millionen Menschen aus ihrer seit Jahrhunderten angestammten Heimat vertrieben wurden. Hier wurde schweres Unrecht, das vorausgegangen war, mit schwerem Unrecht vergolten. Es traf auf beiden Seiten Millionen Unschuldiger.Polen und Deutsche müssen die Schwierigkeiten, die sich aus dieser geschichtlichen Last ergeben, gemeinsam meistern. Das kann nicht einseitig, es kann nur auf der Grundlage der geschichtlichen Wahrheit, zu der auch die Massenvertreibung gehört, und auf der Grundlage des Rechts und in dem Bewußtsein geschehen, daß Polen und Deutsche nur gemeinsam eine gute Zukunft haben können.Der Bundeskanzler beginnt morgen seine Gespräche in Warschau. Unsere besten Wünsche begleiten ihn.
Wir hoffen, daß er dort Gesprächspartner trifft, die unseren Wunsch nach Verständigung und Zusammenarbeit teilen. Nach seiner Rückkehr wird er eine Regierungserklärung abgeben, die uns Gelegenheit zu einer ausgiebigen Debatte über die deutsch-polnischen Beziehungen gibt. Heute möchte ich nur folgendes sagen. Das, was als Aufgabe vor uns steht, vor Polen, Deutschen, Russen, vor Europäern und Amerikanern, ist so groß, daß unsere Partner und wir es ohne die Kräfte des Herzens, des Geistes und des Glaubens nicht erreichen können. Es geht ja um nicht weniger als um eine gemeinsame friedliche Zukunft, um eine Zukunft ohne Haß, ohne Angst, ohne Willkür, ohne Gewalt, um ein versöhntes, einiges und freies Europa, das mit beiden Weltmächten zusammenarbeitet, und in der Mitte Europas um ein freies und auch staatlich geeintes Deutschland.Meine Damen und Herren, die Staatspräsidenten der beiden Weltmächte werden sich in Kürze auf ihren Schiffen im Mittelmeer treffen. Sie werden die deutsche Frage nicht aussparen können. Wir erwarten von unserem amerikanischen Verbündeten, Präsident Bush, daß er entsprechend dem Deutschland-Vertrag für die Freiheit und Einheit der Deutschen eintreten wird, und nach seinen öffentlichen Äußerungen kann daran auch gar kein Zweifel bestehen. Wir hoffen auch auf die Bereitschaft des sowjetischen Staatspräsidenten, zu einer Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas beizutragen. Die Zukunft der Welt hängt davon ab, daß die Sowjetunion im Osten, die Vereinigten Staaten von Amerika im Westen und das Vereinigte Europa in der Mitte, von Polen bis Portugal, eine gesamteuropäische Friedensordnung vereinbaren, die auf den Menschenrechten und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker beruht.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Vollmer.
: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle Oktoberrevolutionen finden im November statt. Mao Zedong hat einmal gesagt: „Die Haupttendenz in der heutigen Welt ist Revolution" , und er meinte damit das alte Modell, eine mit Gewalt ausgetragene Oktoberrevolution, die auch im November stattfand. Dieser Satz, der einmal eine Utopie von Teilen der politischen Linken gewesen ist, stimmt heute nicht mehr. Die Haupttendenz in der heutigen Welt ist Demokratie. Eine solche gewaltfreie demokratische Revolution erleben wir gerade in diesen Tagen und gerade in diesen Stunden.
Ist Ost-Berlin steht das Volk auf der Tribüne, und die Regierung defiliert vorbei, und die Regierung tritt ab, und soeben ist auch das Politbüro zurückgetreten.
Auch die Mauer ist schon gefallen. Das, was da noch in Berlin in der Gegend herumsteht, ist nur noch ein Symbol, das niemand mehr schreckt und niemand mehr hält. Es ist ein Symbol für eine alte Zeit der Blockkonfrontation, die auch nicht mehr stimmt.Ich bin in diesen Tagen oft in Ost-Berlin gewesen. Ich habe Stunden unter den Menschen vor dem Roten Rathaus gestanden, wo von 10 bis 15 Uhr die Repräsentanten des Alten Rede und Antwort stehen mußten, und wie sie das mußten. Nichts wurde ihnen geschenkt, nichts wurde vergessen; aber sie gingen auch nicht in populistischen Pfeifkonzerten und in Schimpfkanonaden unter. Das Niveau dieses Dialogs war von einer solchen Art, daß es sich die Menschen selbst nicht verziehen hätten, wenn sie zu billig, zu taub die Herrschenden einfach niedergemacht hätten.
Vergessen wurde in diesen Dialogen auch niemals die Scham über die eigene Mittäterschaft in den letzten 40 Jahren durch Feigheit, mangelnden Mut und mangelnde Aufrichtigkeit. In diesen Debatten fand auch mancher alte Kommunist seine Würde wieder. Christoph Hein hat das auf der Demonstration so ausge-
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Frau Dr. Vollmerdrückt, indem er an den alten und nun sicher sehr einsamen Honecker erinnerte, der für seinen Traum einer anderen Gesellschaft Jahre im Zuchthaus verbracht hat und ihn in der Wirklichkeit, die er gestaltet hat, dann doch so tragisch verfehlt hat. Er hat an diesen Traum erinnert, um die Millionen auf dem Alexanderplatz daran zu erinnern, daß ihr Traum von Demokratie und Freiheit auch scheitern würde, wenn er diese Lehren außer acht ließe. — Und wie dicht war er daran, zu scheitern, wenn ich daran denke, daß an dem 9. Oktober die chinesische Lösung um Minuten vor der Hand gelegen hat.Mit so wenig Demagogie, mit so wenig falscher Rhetorik sind noch nie Revolutionen gemacht worden.
Ich habe beim Zuhören immer wieder gedacht: Welcher unserer Politiker ist je einer solchen Diskussion ausgesetzt gewesen? Wo hat sich Helmut Kohl oder auch Helmut Schmidt je einer solchen Debatte ausgesetzt! Das ist etwas anderes als auf den Parteitagen mit den erlesenen Redelisten und auch etwas anderes als auf den Wahlkampfveranstaltungen.
Die phrasenhafte und gönnerhafte Sprache unserer Politiker — wie hohl klingt sie dagegen! Die schläfrige Geduld, mit der wir leere Worte allabendlich über uns ergehen lassen,
erscheint als kindliches Demokratieverhalten gegenüber dem, was es an demokratischem Selbstbewußtsein jetzt in der DDR gibt. Wo haben die öffentlichen Giganten unserer Medien je eine Demonstration drei Stunden lang mit all ihren Reden übertragen?
Ist Ihnen aufgefallen, daß um die Volkskammer keine Bannmeile ist, sondern daß die Plakate „Freie Wahlen" direkt an der Wand geklebt haben?
Wenn ich es richtig sehe, sind wir es jetzt, die im Medienloch sitzen, wenn wir das DDR-Fernsehen nicht in unserem Kanal haben.Noch etwas ist mir durch den Kopf gegangen: Nur schlecht kann das Leben im Sozialismus nicht gewesen sein, wenn es so viel waches Bewußtsein, wenn es eine solche Sprache, so viel Witz und eine so sanfte Radikalität auszubilden geholfen hat.
Das Alltagsleben in der DDR hatte immer ein Doppelgesicht. Nach außen war es dumpf, miefig, angepaßt, ordentlich und deutsch. Aber daneben stand immer eine ehrliche Bilanz der eigenen Lage, eine menschliche Solidarität, die sich jetzt millionenfach auf der Straße vergewissert. Mit offenen Augen haben die Leute ihre Lage bilanziert und jetzt eine Rechnungvorgelegt, und die heißt: So wie es ist, bleibt es nicht.Was da in der DDR entsteht — und ich hoffe, wir begreifen das — , das ist die erste selbsterkämpfte Demokratie auf deutschem Boden, die uns nicht der Krieg und auch nicht die Siegermächte beschert haben.
Alle wissen dies gleichzeitig, sie brauchen keine Führer mehr, sie brauchen keine brillanten Redner. Es reicht, leise zu sprechen, was alle schon wissen. Sie brauchen nicht einmal einen straffen Verein, sie brauchen auch keine führende Partei mehr. Die Gesellschaft organisiert sich auf die leiseste und unumkehrbare Weise von selbst und schafft etwas Neues, eine gewaltfreie Demokratie.Dieser „Bericht zur Lage der Nation" ist auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989 vorgelegt worden.
Wenden wir uns nun dem anderen Teil der Nation zu! Auch hier, diesseits der Mauer, wird viel geredet. Helmut Kohl sagt, daß unsere Landsleute nun die Freiheit wollen, und er meint damit, daß sie uns ähnlich werden wollen und daß sie nichts Eiligeres zu tun hätten. Vom Sieg der westlichen Werte ist die Rede, die sich nun ungehemmt bis an den Ural fortsetzen würden. Wer so redet, hat das System von Yalta im Kopf und ist unfähig, etwas Neues, Drittes zu denken;
er will recht behalten und will vom Gegner, von der anderen Seite nichts übrig lassen. Aus solchen Worten spricht ein neuer, ein bundesdeutscher Nationalismus, ein bundesdeutscher Wohlstandschauvinismus. Er vermutet das Hauptmotiv des östlichen Freiheitsstrebens in dem Wunsch nach dem Anschluß an die westlichen Teleketten und in dem Wunsch nach der freien Fahrt auf deutschen Autobahnen. Auf die Geschichte bezogen, verbindet sich diese Haltung, die vor nichts halt macht, mit dem unaufhaltsamen Versöhnungsimperialismus Helmut Kohls. Dieser tobt sich vorzugsweise auf Soldatenfriedhöfen und ehemaligen Schlachtfeldern aus, in Verdun, in Bitburg, versuchsweise auf dem Annaberg. Man darf gespannt sein, welchen Ort Helmut Kohl jetzt für die Versöhnung mit unseren Brüdern und Schwestern plant: wahrscheinlich das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig.
Dabei ist die Rede von der Wiedervereinigung — das ist mir jetzt sehr wichtig — historisch überholter denn je.
Solange es drüben ein totalitäres Regime gab, hattedie Nichtanerkennung der DDR und ihrer Staatsbürgerschaft eine scheindemokratische Rechtfertigung:
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13032 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989
Frau Dr. Vollmerkeine Anerkennung für ein Regime, das seiner Bevölkerung elementare Grundrechte verweigert. Tatsächlich hatte es die SED nicht geschafft, eine eigene Vorstellung vom guten Leben zu entwickeln, die sich von der westlichen unterschieden hätte.Jetzt aber gibt es eine Reformbewegung, die vehement auf ihrem Eigensinn, ihrer Eigenständigkeit und ihrer eigenen Geschichte beharrt und die ihren eigenen Raum dafür braucht. Zum erstenmal entsteht hier eine eigene DDR-Identität. Jetzt, ausgerechnet in dieser Lage, von Wiedervereinigung zu sprechen, heißt, das Scheitern der Reformbewegung zu postulieren und vorauszusetzen.
In dieser Lage ist die Forderung nach Wiedervereinigung eine Metapher für Resignation, dafür, daß es nicht klappt, eine Metapher dafür, daß dieser eigene Weg gerade nicht gelingt.Wenn aber die demokratische Reform in der DDR gelingt, dann kann die Mauer weg, und dann kann die DDR bleiben und ihren eigenen Weg zum europäischen Haus suchen.
— Es wird jetzt soviel von der Opposition geredet. Sie haben auch die Zitate gehört. Ich finde, Sie sollten dann auch hören, worüber die Opposition sprechen will.
Wenn wir ehrlich darauf eingehen würden, müßten wir auf unsere nationalstaatlichen Omnipotenzphantasien verzichten. Wir könnten trotzdem eine ganze Menge tun. Auf das meiste des praktisch Notwendigen ist die bundesdeutsche Politik überhaupt nicht vorbereitet. Ich frage mich, was die Ministerien eigentlich all diese Jahre gemacht haben, in denen wir ideologisch immer wieder die Wiedervereinigung vertreten haben. Es gibt keine Antwort unsererseits auf eine praktikable Devisenregelung für die jetzt kommenden Reisenden aus der DDR. Es gibt bisher nur einen Gesetzentwurf der GRÜNEN, der eine doppelte Staatsbürgerschaft fordert. Es gibt keine Hilfsangebote für das notleidende Gesundheitswesen in der DDR, obwohl wir doch so viele Mediziner haben. Wo sind da Ihre Pläne? Es gibt keine Angebote für den Wiederaufbau der Städte, die doch auch zu den Kulturen, die uns wichtig sind, gehören. Es gibt keinen Beitrag der beiden deutschen Staaten zur Entmilitarisierung in Mitteleuropa. Es gibt kein Angebot, das lautet: Jetzt entlasten wir euch wenigstens von unserem Giftmüll, der immer noch nach Schönberg kommt.
Kurz und gut: Die politische Klasse in der Bundesrepublik hat den Fall, der jetzt eingetreten ist, in der praktischen Politik überhaupt nicht vorgesehen gehabt. Das gilt leider auch für den klügsten Mann in der Regierung, für Hans-Dietrich Genscher. Ihre Beteiligung, Herr Außenminister, an der Aktion der Ausreise der DDR-Flüchtlinge in der Prager Botschaft erschien noch vor wenigen Wochen als etwas Krisenlösendes und Entspannendes. Jetzt darf man das hoffentlich kritisieren, ohne gleich geköpft zu werden: Ich halte es nämlich für den einzigen, allerdings schwerwiegenden Fehler, den Sie in den letzten Wochen und Monaten gemacht haben. Genau gesehen war Ihr Auftreten ein eklatanter Verstoß gegen den Geist des Genscherismus. Es hat die Lage der Zurückgebliebenen dramatisch und hochgefährlich zugespitzt — übrigens auch die Lage der SED — und es hat meines Erachtens ein falsches Signal über die Aufnahmebereitschaft hier gegeben und somit eine Sogwirkung verstärkt.
Ich glaube Ihnen wohl, was Sie damals bewegt hat. Ich weiß — das hat man auch gemerkt —, es sollte eine große symbolische Geste sein, den dort Eingeschlossenen den Weg in die Freiheit zu bahnen. Die Szene verband sich mit allen, die Menschen sehr anrührenden Befreiungsbildern, mit dem Bild des Zugangs zur letzten rettenden Arche. Sie standen als Noah auf dem Balkon.
Aber: Dieses Bild wird doch nicht das wichtigste Bild dieses Jahres sein. Wir werden es nämlich wieder vergessen durch andere, wichtigere Bilder, denn der Weg über die Prager Botschaft bleibt doch ein Weg der Resignation, ein Weg der Mutlosigkeit und des Nichtvertrauens auf die emanzipatorische Kraft in der DDR. Deswegen gehörte dieses Bild mit in die alte Zeit.Es gibt ja ein großes Bedürfnis nach solchen symbolischen Gesten, aber die Wahrheit ist: Es gibt nur eine symbolische Geste dieser Generation deutscher Politiker, zu der Sie und andere gehören, und die wurde nicht von Prager Balkonen verkündet: Die Geste von Willy Brandt vor dem Warschauer Getto ist nicht zu übertreffen, und dabei sollte es auch einmal bleiben. Ich sage das auch dem Kanzler zur Warnung, wenn er jetzt nach Polen geht und wieder Gesten machen will. Dieser einzigen Geste, die wir in Erinnerung behalten werden, ist auch in diesem Bericht zur Lage der Nation nichts hinzuzufügen.Womit ich bei der SPD und einer kritischen Anmerkung wäre. Die SPD ist in ihrer Ost- und Deutschlandpolitik merkwürdig ratlos und ein bißchen übereifrig, finde ich. Jahrzehntelang hat sie eine Politik gemacht, die die Stabilität erhalten sollte und auch erhalten hat. Sie hat sich dabei angewöhnt, auf den Wandel von oben zu setzen, hat die Geschwindigkeit der Veränderung kleinmütig unterschätzt, wir übrigens auch.
Sie hat zuviel mit denen oben gemacht und zu wenig mit denen unten geredet.
Das gemeinsame SPD/SED-Papier sehen wir in diesem Zusammenhang als ein Schlußdokument von ho-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989 13033
Frau Dr. Vollmerher Qualität, aber als ein Schlußdokument der alten Ostpolitik an.
Ein Dokument für die neue Politik aber fehlt, und das ist auch der Hauptgrund dafür, warum Sie nicht für eine neue Regierungspolitik antreten.
Jetzt, da in der innergesellschaftlichen Entwicklung in Polen und in der DDR alles ins Rutschen kommt, rutscht die SPD mannhaft vorneweg. Aber wohin rutscht sie denn?
Zu eilfertig erscheint das Bemühen, jetzt ganz schnell zu dokumentieren, daß es doch auch eigene Kontakte zur Opposition gibt.
Die Gründung der SDP, noch im August mit großer Distanz behandelt, wird nun zum zentralen Oppositionsereignis in der DDR. Einen längeren roten Teppich als der zufällig bei einem Besuch seiner Großmutter hier anwesende Steffen Reiche, der von der Bundespressekonferenz über Willy Brandt und den Presseclub gleich bis zur Sozialistischen Internationale hochgehievt wurde, hat kaum jemand bekommen.
— Ich will es gerade auszudrücken versuchen. — Die SDP ist aber ein sehr kleiner, ein sehr bescheidener Organisationsversuch unter vielen anderen in der DDR. Es ist nicht gut, ihn gleich zu der zentralen Parteiorganisation hochzuloben, die wiederum nichts Eiligeres zu tun hätte, als die Führung in der neuen Oppositionskultur in der DDR zu übernehmen.
Das Modell dieser gewaltfreien demokratischen Revolution in der DDR ist gerade eines, was auf Führungsansprüche verzichtet. Darin liegt auch das ökologische Talent dieser Bewegung. Warten wir doch erst einmal ab, was sich da drüben formt. Zerstören wir nicht durch vorschnelle Vereinnahmung die Versuche zur Selbstorganisation und zur politischen Klärung.
— Herr Rühe, Sie haben in dieser Frage nun wirklich keinerlei Ratschläge zu erteilen, ganz und gar nicht!
Sie sind genau an derselben Tür gewesen und wollten gleich das Blitzlicht dabei haben.
Welche Gruppierung, welches politische Konzept,welches Reformkonzept sich dort durchsetzen wird,steht Gott sei Dank nicht in unserem Belieben und auch nicht in unserer Macht.Eine Perspektive zum Schluß.
— Vielleicht kann man mir jetzt doch noch einmal zuhören. Ich nehme jetzt einen anderen Gedanken auf. — Selbst wenn sich die Reformer und die Reformen in der DDR durchsetzen, was wir alle von Herzen hoffen: Die realistische Perspektive wird trotz alledem sein, daß weiterhin Zehntausende von DDR-Bürgern in dieses Land kommen, selbst wenn es dort freie Wahlen gibt. Je durchlässiger die Grenzen zu Osteuropa werden, desto stärker wird dieser Strom sein. Das Wohlstandsgefälle der überreichen Bundesrepublik bewirkt es, daß immer mehr Menschen auf den einfachen und durchaus berechtigten Wunsch kommen werden, von diesem Wohlstand ein bißchen mit abzubekommen. Wer kann es eigentlich dem DDR-Bürger und dem Polen verdenken, daß er fragt: Wieso habt eigentlich nur ihr den Krieg gewonnen?Je weniger unsere Politik bereit ist, einen ehrlichen Ausgleich für diesen ungeheuren und ungerechten Wohlstand bei uns anzubieten,
um so mehr werden sich die Menschen ihren Anteil an unserem Wohlstand zu Fuß hier bei uns abholen. Das ist auch richtig so. — Ungerecht? Ungerecht ist es, daß faktisch der Westen den letzten Krieg gewonnen hat, selbst wenn wir zu den Verlierern gehört haben, und daß der Osten den Krieg verloren hat, selbst wenn er eigentlich zu den Siegern gehört hat. Dieses Ergebnis allerdings ist historisch sehr ungerecht. Von daher ist dieser Ausgleich richtig.Wenn die Menschen dann kommen, wenn wir ihnen diesen Anteil nicht geben, und wenn sie sich ihn hier bei uns zu Fuß holen, dann wird das eine der großen innenpolitischen Herausforderungen der nächsten Jahre sein. Es wird dann die Frage sein, ob wir es sind, die eine goldene Mauer bauen, um das zu verhindern, und ob wir bereit sind, etwas von dem zu teilen, was sich in der Nachkriegszeit bei uns zu Unrecht angehäuft hat.Bisher hatten uns vor dieser Probe aufs Exempel, vor dieser Probe mitmenschlicher Solidarität, die Mauer, sowie das totalitäre Regime in vielen osteuropäischen Staaten gerettet.
Jetzt aber, wo die Mauer fällt, stehen die Bevölkerung und die Politik der Bundesrepublik vor einem ideologischen Offenbarungseid.Wir sind gewarnt. Die Wähler der Republikaner fordern schon jetzt, daß wir einschränkende Gesetze erlassen und daß wir unsere Solidarität nur auf das Notwendigste und auf die Deutschstämmigen beschränken sollen. Diesem sozialen, innenpolitischen Druck nicht nachzugeben, das wird die Nagelprobe auf die Haltbarkeit unserer, der bundesdeutschen, Demokratie sein.
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13034 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989
Frau Dr. VollmerDie Bundesrepublik sucht einen Anschluß: Sie sucht einen Anschluß an den demokratischen Aufbruch, der zur Zeit im Osten stattfindet.In diesem Zusammenhang möchte ich etwas über den kleinen Aufbruchversuch gestern in der FDP sagen: Das war eine sehr kleine versuchte, gescheiterte November-Revolution. Angesichts des Aufbruchs im Osten wäre das Mindeste, was ein deutscher Bundeskanzler nach Polen mitnehmen müßte, eine definitive Zusage, daß es von uns keinerlei Gebietsansprüche gibt und daß die Oder-Neiße-Linie die Westgrenze Polens ist.Was sagt die FDP in ihrem Antrag jetzt? Sie sagt ein klares Ja und ein klares Nein zugleich. Das ist eine Zusammenstoppel-Koalition. Das ist nicht das, was wir an demokratischem Mut vom Westen jetzt brauchen. Sie haben nicht einmal dieses geringe Stückchen Mut, endlich eine eindeutige Antwort darauf zu geben. So kann ich nur sagen: Demokratisch gesehen ist das, was Sie gestern gemacht haben, ein memmenhaftes Verhalten. Aber vielleicht war es ein Üben, das, was Sie im nächsten Jahr vorhaben, mit mehr Entschiedenheit zu tun.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Mischnick.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir haben viele Berichte zur Lage der Nation gehört und darüber diskutiert. Niemals war die Situation so interessant und vielleicht auch so brisant wie in diesen Tagen. Ich gestehe offen: Es fällt nicht leicht, bei einer solchen Debatte persönliche Empfindungen in den Hintergrund zu stellen. Aber es kommt darauf an, klug zu handeln.Lassen Sie uns angesichts der Ereignisse in der DDR erkennen, daß Deutschlandpolitik heute nicht mit einem Glaubenskrieg verwechselt werden darf, sondern daß es jetzt um die Lösung höchst irdischer Probleme gehen muß, um nichts anderes.
Ich spreche das aus Sorge vor falschen Ratgebern und falschen Ratschlägen aus. Glaubwürdigkeit und Berechenbarkeit sind jetzt gefragt. Dabei muß es bleiben, sowohl für unsere Verbündeten im Westen wie auch für unsere Vertragspartner im Warschauer Pakt.Notwendig ist das tagtägliche Bemühen darum, die beiderseitigen Interessen, wo immer es für beide Seiten sinnvoll ist, miteinander so zu verflechten und mit Substanz zu füllen, daß damit den Menschen geholfen wird. Das ist das Entscheidende, was wir uns vorzunehmen haben.
Heute geht es nicht um Schlagzeilen. Es geht um hartes und mühsames gemeinsames Arbeiten, Tag für Tag.Deutschlandpolitik war in den letzten Jahrzehnten von dem Bemühen geprägt, die Grenzen in Europa, inDeutschland, in Berlin, wo sie teilen, durchlässiger, erträglicher zu machen. Der Reformprozeß, der insbesondere in Polen und Ungarn, aber auch in der Sowjetunion zu grundlegenden gesellschaftlichen und politischen Veränderungen führt, hat jetzt — endlich — auch die DDR erfaßt. Wichtig ist, daß die im Dialog hörbar gewordenen Sehnsüchte der Menschen aufgenommen und in praktisches politisches Handeln umgesetzt werden. Darum geht es jetzt in der DDR!
Erfreulicherweise kann ich feststellen, daß manches von dem, was mir in meinen Gesprächen an Veränderungen angekündigt worden ist, inzwischen verwirklicht wird. Heute ist, wie wir eben hören konnten, auch das Politbüro zurückgetreten. Es wird also weitere Veränderungen geben.Die DDR hat eine Amnestie für — wie es heißt — Straftaten gegen die staatliche und öffentliche Ordnung im Zusammenhang mit demonstrativen Auseinandersetzungen erlassen. Generalsekretär Krenz hat Härten, die es bei einigen Demonstrationen gegeben hat, bedauert. Dies reicht nicht. Wenn die DDR-Führung das Vertrauen der Bevölkerung erwerben will, dann müssen derartige Vorkommnisse untersucht und für die Zukunft verhindert werden. Das ist Voraussetzung für neues Vertrauen!
Der DDR-Staatsrat hat weiterhin eine Amnestie für Verstöße gegen § 213 des Strafgesetzbuches der DDR, also Republikflucht, erlassen. Dies ist gut und muß weiter ausgebaut werden, um Mißtrauen abzubauen.Meine Damen und Herren, außenpolitisch haben wir zusammen mit unseren Freunden und Partnern alle Anstrengungen unternommen, die sicherheits- und außenpolitischen Rahmenbedingungen in Europa so zu verändern, daß ein Zusammenwachsen aller Teile Europas im Interesse der Beteiligten möglich wird. Die KSZE ist dafür genauso eine Voraussetzung gewesen wie das Durchhalten des Doppelbeschlusses.
Mit diesen Voraussetzungen haben wir heute die entsprechenden Chancen, auch bei den konventionellen Waffen weiterzukommen. Deshalb werden wir Freien Demokraten die Bemühungen um Verständigung mit Geduld und Nüchternheit fortsetzen.Der sowjetische Außenminister hat das Bild geprägt, der eiserne Vorhang habe begonnen zu rosten. Ich möchte dieses Bild ergänzen. Der Untergrund, auf dem die Berliner Mauer steht, ist brüchig geworden. Eigentlich steht sie nur noch als kaltes Symbol einer Vergangenheit werdenden Zeit. Sie ist überholt!
Der Vorsitzende der LDPD und stellvertretende Staatsratsvorsitzende Professor Gerlach spricht von einer Wende in der DDR, die unumkehrbar sei. Als ich von meinen Gesprächen zurückkehrte und dies sagte,
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Mischnickstieß ich noch auf sehr viel Skepsis, ob sich überhaupt etwas bewegt. Heute wundern sich manche über das Tempo, das inzwischen eingetreten ist. Wir haben uns erlaubt, das, was Gerlach in seinen Reden seit Juni dieses Jahres — hier zum Teil überhaupt nicht beachtet — gesagt hat, auch allen Interessierten hier zur Verfügung zu stellen.Meine Damen und Herren, die Menschen in der DDR können hoffen, daß nicht nur die Reisemöglichkeiten weiter gefaßt werden, als es bisher im Gesetzentwurf steht. Erstmalig ist ein Gesetz zur Diskussion gestellt. Das kann doch nur einen Sinn haben, nämlich den, Erweiterungs- und Verbesserungswünsche zu berücksichtigen. Dies bedeutet, daß eine solche Diskussion nicht auf dieses Gesetz beschränkt werden darf, sondern auf andere ausgeweitet werden muß.Ich füge allerdings hinzu: Ich erwarte, daß auch Erleichterungen der Reisen von hier in die DDR in der neuen Gesetzgebung berücksichtigt werden.
Die DDR-Führung sollte auch im eigenen Interesse — auch im eigenen finanziellen Interesse — Erleichterungen der Reisen von hier nach drüben ermöglichen.Meine Damen und Herren, die sich abzeichnende Wende in der DDR geht nicht auf die Initiative der Führung der DDR zurück. Sie ist auch nicht unser Verdienst; lassen Sie mich das genauso offen sagen. Sie ist ein Erfolg der Bürger in der DDR, die nach Jahrzehnten der Unterdrückung und Entmündigung ihre Bürgerrechte einfordern. Sie taten und sie tun dies mit erheblichen Risiken für ihre Person, für die Familie und für ihr berufliches Fortkommen.Sie überwinden ihre Angst vor der Staatsgewalt, weil sie erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg eine Chance sehen, ihre Regierung zu echten Reformen zu bringen. Und das tun sie alle unvermummt. Das sollen unsere Demonstranten hier endlich einmal sehen, und sie sollten den Mut haben, sich genauso offen hinzustellen und für etwas einzutreten, auch in Gefahrensituationen, nicht nur dort, wo man sich des freiheitlichen Rechtsstaats gewiß sein kann.
— Wissen Sie, das, was Sie hier Berufsverbot nennen, und das, was an Risiken jeder einzelne dort zu Beginn dieser Demonstrationen auf sich genommen hat, ist überhaupt nicht vergleichbar. Und wenn Sie das vergleichen, dann wissen Sie nicht, was drüben wirklich los ist.
Aber ich will zur Nüchternheit zurückkommen. Die Überwindung der Angst erfordert viel Mut. Sie schafft aber auch Selbstvertrauen, mit dem die Führung der DDR zu rechnen hat, mit dem aber auch wir zu rechnen haben.Von der Frau Kollegin Vollmer ist davon gesprochen worden, sie wünschte sich, daß man sich hier einmal Diskussionen so stellt wie drüben. Ich habe mich vielen Diskussionen in öffentlichen Kundgebungen mit Hunderten, ich habe mich Straßendiskussionen über Jahre und Jahrzehnte gestellt. Das ist für uns nichts Neues. Ich bin froh, daß drüben jetzt möglich ist, was bei uns eine Selbstverständlichkeit war und ist.
Meine Damen und Herren, wer mit der Bevölkerung in der DDR spricht, weiß, daß nicht nur ein umfassender und engagierter Diskussionsprozeß über die künftige gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung der DDR in Gang gekommen ist; im Kern geht es den Menschen darum, an allen Entscheidungen des Staats und ihrer Gesellschaft in demokratischer Weise beteiligt zu werden. Es werden grundlegende Reformen erwartet, und zwar sehr bald.Die Führung der DDR wird das Vertrauen der Bevölkerung nur gewinnen, wenn sie nicht nur einen umfassenden Dialog mit der Bevölkerung über die ganze Breite des Reformprozesses führt, sondern auch zügig und kontinuierlich Reformen durchführt. Freie Wahlen sind die logische Schlußfolgerung aus allen Forderungen, die wir in diesen Tagen hören. Dies können wir auch von uns aus immer wieder mit Berufung auf die KSZE zum Ausdruck bringen, ohne daß wir uns dabei in innere Angelegenheiten einmischen.
Meine Damen und Herren, insbesondere eine Wirtschaftsreform ist notwendig, die, wir mir Krenz sagte, zur Praktizierung des Leistungsprinzips führen soll. Dazu habe ich schon manches an Kritik bei uns hier gehört.Lassen Sie mich hier folgendes persönlich einfügen. Ich habe Herrn Krenz ausdrücklich gefragt — manche bezweifeln ja, was man in solchen Gesprächen sagt oder nicht sagt — : Heißt das, Herr Krenz, daß der Traktorfahrer als Facharbeiter, der bereit war, drei Jahre zur Armee zu gehen, damit der Betrieb ihn zum Studium schickt, dann, wenn er nach dem Studium als Gartenbauingenieur in seinem Betrieb rückfragt, was er denn nun verdienen werde, zukünftig nicht mehr erfahren muß, daß er als Gartenbauingenieur weniger verdient als ein Traktorfahrer? Diese Frage ist klar mit Ja beantwortet worden.Dies zeigt, daß der wahre innere Reformierungsprozeß dort ansetzen muß, wo den Menschen die Chance gegeben wird, die eigene Leistung zu erbringen und dafür auch leistungsgerecht entlohnt zu werden. Das ist die Voraussetzung dafür, daß die Wirtschaftsreformen drüben überhaupt vorangehen können.
Aus den vielfältigen Gesprächen mit Reformkreisen in der DDR weiß ich, daß Besucher aus dem Westen begehrte Gesprächs- und Diskussionspartner sind, solange sie sich den erhobenen Zeigefinger verkneifen können. Wenn sie den erheben, friert die Gesprächsbereitschaft ein; denn man will den großen Bruder von der einen Seite nicht durch den großen
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13036 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989
MischnickBruder von der anderen Seite, wie es wörtlich gesagt wurde, eintauschen.Die Reformer in der DDR wissen, daß sie vielfältige Informationen und Anregungen für ihre Zielsetzung brauchen, Ermutigung durch die Kirchen, die Stiftungen, die Gewerkschaften und sonstige Organisationen. Hier sollten wir die Kontakte zu den Partnern gerade jetzt vertiefen. Wir sollten uns auch darüber im klaren sein: Wenn dazu finanzielle Mittel fehlen, müssen sie bereitgestellt werden.Ich füge allerdings auch hinzu: Ich halte es für wichtig, daß auch der Deutsche Bundestag endlich umfassende Kontakte mit der Volkskammer aufnimmt. Wenn dort der Rechts- und Verfassungsausschuß sagt, sie wollten das Reisegesetz so nicht, sondern anders haben, dann zeigt das, daß auch dort eine Bewegung in Gange ist, die wir nicht nur zur Kenntnis nehmen sollten, sondern nutzen sollten, um unsere Möglichkeiten der Beziehungen auszubauen.
Meine Damen und Herren, die Überwindung der Spaltung Deutschlands als ein Teil der Spaltung Europas ist nicht nur eine Aufgabe der Deutschen, dies ist ein Problem für alle Europäer, für alle Teilnehmerstaaten der KSZE. Ermutigen wir unsere Freunde im Westen, unsere Partner im Osten, den Dialog mit der sich jetzt verändernden DDR-Führung zu intensivieren! Ich begrüße, daß jetzt das Treffen zwischen Präsident Bush und Generalsekretär Gorbatschow zustande kommt. Eines der zentralen Themen muß dabei die Entwicklung in der DDR sein.Der KSZE-Prozeß hat Menschen- und Bürgerrecht zu einem legitimen Thema des West-Ost-Dialogs gemacht, das nicht mehr unter Berufung auf das Nichteinmischungsprinzip vom Tisch gewischt werden kann. Mit der Verabschiedung des Abschlußdokuments des Wiener Folgetreffens haben alle Partnerstaaten weiteren Fortschritten im Bereich der Menschenrechte und der zwischenmenschlichen Kontakte in ihren Ländern zugestimmt. Die DDR hat vollen Anteil am gesamten KSZE-Prozeß. Sie muß sich deshalb auch die Fragen aller Teilnehmerstaaten dieses Prozesses nach der Umsetzung dieser Beschlüsse in der DDR gefallen lassen. Dieser Dialog der KSZE-Teilnehmerstaaten mit der DDR-Führung ist auch eine wirksame Hilfe für alle oppositionellen Gruppen in der DDR, die heute die Menschenrechte einfordern.Ich habe schon darauf hingewiesen, daß die Reformen in der Wirtschaft umfassend sein müssen. Die Erkenntnis, daß die sozialistische Planwirtschaft als wirtschaftliches Ordnungssystem nicht leistungsfähig ist, setzt sich auch in der DDR durch. Die Bevölkerung der DDR stellt sich schon lange die Frage, wieso ihre Anstrengungen im Vergleich zu westeuropäischen Ländern zu derart kümmerlichen Ergebnissen führen,
denn sie sind nicht weniger leistungsfähig als Arbeiter, Angestellte und Mitarbeiter, Ingenieure bei uns.
Die DDR hat von allen RGW-Staaten nach meiner Überzeugung die besten Voraussetzungen, den systembedingten wirtschaftlichen Rückstand rasch aufzuholen, wenn marktwirtschaftliche Ordnungsformen eingeführt werden. Eine DDR, die sich in ihrer politischen, wirtschaftlichen Organisation den Grundvorstellungen und den Grundwerten westeuropäischer Staaten, insbesondere der in der EG integrierten Staaten, nähert, wird für diese Staaten ein wichtiger und attraktiver Partner werden. Ich begrüße es deshalb, daß EG-Kommissar Martin Bangemann die DDR in der vergangenen Woche besucht hat. Ich halte es für notwendig, daß sich die Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft intensiv dafür einsetzt, die finanziellen, wirtschaftlichen und technologischen Ressourcen der Gemeinschaft für eine Intensivierung der Zusammenarbeit mit der DDR zu nutzen, soweit das gewünscht wird. Aber aus der Erklärung von Krenz gegenüber Bangemann geht hervor, daß man es wünscht.Natürlich hängen die Reformen in der DDR wesentlich von den Erfolgen der in den übrigen RGW-Staaten eingeleiteten Reformprozesse ab. Die energischen Bemühungen in Polen und Ungarn sind von uns gewürdigt worden, wir unterstützen sie, und sie sind nicht ohne Einfluß auf die Entwicklung in den letzten Wochen in der DDR geblieben. Ich möchte auch hier den Dank an Ungarn und Polen, an Österreich dafür wiederholen, was sie für die Menschen getan haben, die auf dem Weg zu uns durch diese Länder gegangen sind.
Erfolge in diesen Staaten sind gleichzeitig auch ein Beitrag zur Absicherung und Beschleunigung des Reformprozesses in der DDR. Ich füge allerdings auch eines hinzu: Wer Zweifel am Erfolg der Reformen sät, muß wissen, daß er die Fluchtbereitschaft erhöht und damit die Chance, Reformen umzusetzen, verringert, weil viele, die reformieren könnten, dann beim Reformieren nicht mehr dabei sind.Meine Damen und Herren, welche Perspektive ergibt sich aus dem Reformprozeß in der DDR für die Überwindung der Teilung Europas und damit der Teilung Deutschlands? In diesem Zusammenhang ist gerade der Besuch des Herrn Bundeskanzlers in diesen Tagen in Polen von ganz besonderer Wichtigkeit und Bedeutung. Lassen Sie mich hier noch einmal ganz offen wiederholen, was ich mehrfach gesagt habe: Ich war — und bin es noch — mit der Terminierung der Kanzlerreise voll einverstanden. Es war richtig und notwendig, Entwicklungen in Polen abzuwarten, bevor man über Verhandlungen und dann über mögliche Ergebnisse dieser Verhandlungen zu einem gemeinsamen Vorgehen kommen konnte. Es war richtig, diesen Weg so zu gehen — im Gegensatz zu vielen Drängern und Mahnern.
Meine Damen und Herren, zu der Entschließung wird ja noch etwas gesagt werden. Für mich gelten Verträge; es bedarf eigentlich nicht dauernd neuer Entschließungen dazu — nach meiner Überzeugung. Aber die ist in diesem Haus sehr vereinzelt, wie ich weiß.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989 13037
MischnickIch möchte allerdings einem Punkt noch etwas hinzufügen: Herr Bundeskanzler, daß es jetzt möglich wird, in Kreisau sichtbar zu machen, daß wir uns seit mehr als einem Jahrzehnt darum bemüht haben, Kreisau auch zu einem Symbol deutsch-polnischer Verständigung zu machen und sichtbar zu machen, daß dort ein Zentrum des deutschen Widerstandes war, freut mich ganz besonders. Als ich vor 30 Jahren zum Tag des Kriegsausbruches mit einer Delegation in Warschau war — es war viel schwieriger als anläßlich des 50. Jahrestages — , haben wir schon über solche Überlegungen gesprochen. Daß wir mehr als ein Jahrzehnt gebraucht haben, um dies nun sichtbar zu machen, zeigt, wie schwierig es ist. Ich bin sehr froh darüber, daß das jetzt gelingt.Meine Damen und Herren, was können wir von diesem Prozeß für die Überwindung der Teilung Europas und damit der Teilung Deutschlands erwarten? Wir müssen uns über eines im klaren sein: daß diese Frage für die Bürger der DDR nicht im Mittelpunkt ihrer Sorgen und Bemühungen steht. Das habe ich bei meinen Gesprächen immer wieder festgestellt. Das heißt aber doch nicht, daß sie gegen eine Einheit wären. Aber es steht nicht im Mittelpunkt ihrer Sorgen und Bemühungen in diesen Tagen. Sie kämpfen um die Rechte, die uns nach dem Zweiten Weltkrieg ohne Anstrengungen zugefallen sind, die uns seither selbstverständlich geworden sind. Ein Reformprozeß in der DDR, der sich an besten europäischen Traditionen, Demokratie, Pluralismus, Menschenrechten und individueller Freiheit orientiert, ist jedoch auch ein Schritt zur Überwindung der Teilung. Dies kann nur im Rahmen einer europäischen Friedensordnung gefunden werden, in der die Bürger der DDR das Recht haben, in freier Selbstbestimmung nicht nur über ihr politisches und wirtschaftliches System selbst zu entscheiden, sondern auch über den staatlichen Verband, in dem sie leben wollen.Diese Entscheidung haben wir zu respektieren, und wir wollen sie respektieren. Ich persönlich glaube mit meiner Ahnung, wie sie ausfallen wird, nicht falsch zu liegen. Ich füge aber hinzu: Unser Streben nach Einheit ist keine verstaubte, rückwärtsgewandte Reichsromantik. Die Einheit ist ein in die Zukunft gerichtetes europäisches Friedensziel, nichts anderes!
Wir trachten nach der Einheit, um — ich zitiere — „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen". So steht es in der Präambel des Grundgesetzes. Aus diesen Worten wird deutlich, daß der eifersüchtig über seine Souveränitätsrechte wachende Nationalstaat alter Prägung nicht das Ziel unseres Einheitsstrebens sein kann.
In welcher Form dieses einige Deutschland dem Frieden dienen wird, darüber zu streiten, scheint mir heute müßig zu sein.Bis dahin sollten wir uns an die realistische Weisheit des schottischen Schriftstellers und Politikers Thomas Carlyle orientieren, der sagte:Unsere Hauptaufgabe ist nicht, zu sehen, was unklar in der Ferne ist, sondern zu tun, was unmittelbar klar vor uns liegt.Handeln wir danach!
Ich erteile das Wort dem Herrn Regierenden Bürgermeister von Berlin.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Von der Lage der Nation ist kein anderer Ort in Deutschland so abhängig wie Berlin. Nirgendwo in Deutschland zeigen sich die Auswirkungen von Veränderungen so schnell und so massiv wie in dieser Stadt. Das ist so seit den Tagen Ernst Reuters.Unter Ernst Reuter hat die Stadt die Freiheit bewahrt und sich gegenüber dem Zugriff und der Blokkade einer Besatzungsmacht behauptet. Unter Willy Brandt ging es 1961 um das Überleben der abgeschnürten Stadt. Heute stellt sich eine positive Perspektive.Es geht um die Überwindung der Mauer. Es geht darum, die Abschnürung wieder aufzuheben. Es geht darum, Berlin als eine Stadt zu denken, die in ihr natürliches Umland eingebettet ist und die auch aus ihrem natürlichen Hinterland lebt. Und es geht darum, daß Berlin wieder die natürlichen Vorteile seiner geographischen Lage in der Mitte Europas
als ein Ort auf halbem Wege zwischen Paris und Moskau und Helsinki und Wien nutzen kann.Diese Perspektive bürdet uns große Probleme auf; das wissen wir wohl. Aber die Zukunft der Stadt neu zu bestimmen, ist auch eine historische Chance, die sich durch den Prozeß der Erneuerung und der Demokratisierung in Osteuropa jetzt bietet. Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion, in Ungarn und in Polen haben die DDR in den Sog der Entwicklung gezogen, und die Bürgerinnen und Bürger der DDR haben den Prozeß von innen her in Bewegung gesetzt.Es war absehbar, daß bei Wegfall des äußeren Zwanges, der das Regime des bürokratischen Sozialismus stabilisierte, sehr bald auch die Machtstrukturen ins Wanken geraten mußten. In dem Moment, in dem Ungarn seine Grenze öffnete und die Zäune niederriß, verlor die Mauer ihre Funktion der Machtsicherung nach innen. In diesem Moment verlor die SED-Führung die Kontrolle über die Menschen. So wurden die DDR-Urlauber in Ungarn zum Auslöser einer deutschen Perestroika.Die Flucht der vielen zehntausend Menschen brachte bei den Zurückgebliebenen in der DDR die Unzufriedenheit auf einen Siedepunkt und setzte die Energie frei, den Protest auf die Straße zu tragen. Es ist bewundernswert, wie bewußt und wie diszipliniert die Menschen das tun.
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13038 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989
Regierender Bürgermeister Momper
Wir empfinden Hochachtung für den Mut, für die Besonnenheit und für die Disziplin, mit der die Menschen für ihre Freiheit und für die Erneuerung der DDR-Gesellschaft eintreten.Es gibt keinen Staat mehr, der der DDR den Rücken für eine repressive Politik stärken will. Nicht Ungarn, nicht Polen und auch nicht die CSSR wollen die Flüchtlingsströme aufhalten. So wurden die Botschaften der Bundesrepublik in Budapest und Prag zu Schicksalsorten der DDR.Die Zeiten der Unterdrückung und der BreschnewDoktrin sind vorbei. Wer auch immer jetzt in der DDR die Verantwortung trägt, muß eine Politik betreiben und eine Gesellschaft gestalten, mit der sich die Menschen freiwillig identifizieren. Diese Aufgabe hat außerordentliche Kräfte in allen Schichten der Bevölkerung, in allen Parteien und in allen Gruppen freigesetzt.Der 4. November 1989 wird in die Geschichte als der Tag eingehen, an dem das Volk der DDR seine Geschicke sichtbar selber in die Hand genommen hat. Mit der größten freien Demonstration in ihrer 40jährigen Geschichte haben die DDR-Bürger unmißverständlich unter Beweis gestellt, wie ernst sie es mit dem politischen Umbau ihrer Gesellschaft meinen. Gegen oder ohne diese Bewegung kann schon jetzt niemand in der DDR regieren.Doch der Dialog mit den politisch Verantwortlichen ist nur die „Vorspeise und nicht das Hauptgericht", wie es auf dem Alexanderplatz hieß. Was das Hauptgericht ist, brachten Hunderttausende zum Ausdruck: Schluß mit der Bevormundung durch den Staat. Das Volk lernt den aufrechten Gang. Es will über sich selbst bestimmen.Informations- und Meinungsfreiheit, Pluralismus und Reisefreiheit und demokratische Wahlen in der DDR — das sind die Forderungen. Das Volk der DDR will Demokratie, Selbstbestimmung und eine soziale Gesellschaftsordnung. Die Schriftstellerin Christa Wolf brachte es auf die griffige Formel: „Stell' dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg."Der nun begonnene Reformprozeß in der DDR ist unumkehrbar wie in der Sowjetunion, wie in Polen und wie auch in Ungarn. Freiheit läßt sich nicht in eine Strategie einbinden, sondern sie nimmt sich selbst, was sie braucht. Die SED hat A gesagt, und sie wird auch B sagen müssen. Ihr Anspruch auf das Machtmonopol im Staate zerbröckelt. Der geschlossene Rücktritt des Politbüros ist nur ein logischer Schritt dieser Entwicklung und Eingeständnis der Einsicht in diese Situation.Die SED ist nicht das ganze Volk.
Sie ist ein Teil des Volkes. Deshalb wird sie die Ausübung der Staatsgewalt mit anderen teilen müssen.
Wie dieser Übergang in Pluralismus und Demokratie ausgestaltet wird, ist die Schlüsselfrage der inneren Entwicklung in der DDR in den kommenden Tagen. Dabei darf man eins nicht vergessen: Wie man jetzt auch den öffentlichen Diskussionen entnehmen kann,gibt es in der SED-Mitgliedschaft eine Vielfalt von Meinungen und Strömungen. Es wäre töricht, mit dieser Partei nicht im Gespräch bleiben zu wollen.
Die SED hat allerdings die Zeit schlecht genutzt. Sie hat bisher die Chance vertan, den Prozeß der Umgestaltung und Erneuerung politisch führen und steuern zu können. Reformen wurden zu spät eingeleitet. Mutige Entscheidungen wurden durch halbherzige Maßnahmen konterkariert. Der Wille zur Erneuerung mag wohl dasein, aber eine entschlossene Umsetzung ist nicht zu erkennen. So wird die SED selbst zum Objekt der gesellschaftlichen Entwicklung. Scheibchenweise wird ihr abgerungen, was sie selbst hätte einleiten müssen.Ein richtiges Signal war die Amnestie für die wegen Republikflucht einsitzenden DDR-Bürger. Angekündigt ist, daß der Straftatbestand der Republikflucht aufgehoben wird. Das ist eine historische Veränderung. Wir sollten bei der Gelegenheit all jener gedenken, die seit dem Mauerbau am 13. August 1961 erschossen wurden oder elend gestorben sind, nur weil sie das Land verlassen wollten.
Die Tage der Mauer sind erkennbar gezählt. Den Zweck, für den sie einmal gebaut wurde, nämlich die Menschen davon abzuhalten, die DDR zu verlassen, erfüllt sie nicht mehr. Jeder kann die DDR über Polen, über Ungarn oder über die CSSR verlassen.Als Antwort auf den Massenexodus ihrer Bürger hat die DDR-Führung jetzt ein Reisegesetz vorgelegt, das schon überholt war, als es veröffentlicht wurde. Das Gesetz bringt nicht die ersehnte Reisefreiheit. Reisefreiheit heißt: Freiheit zu reisen ohne staatliche Reglementierung und Bürokratie.
Es war ein fataler Fehler der SED, erneut den Eindruck von Bevormundung und staatlicher Gängelung zu erzeugen. Mit diesem Gesetz wird das Mißtrauen in die neue Führung nicht abgebaut, sondern verstärkt. Ein Staat, der seinen Bürgern nicht vertraut, darf sich nicht wundern, wenn die Bürger auch dem Staat nicht trauen und ihm den Rücken kehren.
Jetzt ist die Stunde, in der das Volk der DDR selbst bestimmen will. Bei aller notwendigen Besinnung auf unsere eigenen politischen Ziele und Werte sollten wir genau hinhören, was dort gefordert wird. Diese Forderungen sollten wir unterstützen. Jetzt kommt es auf Frieden und Freiheit an, so wie es die Bürgerinnen und Bürger in der DDR selbst wollen.Und die Frage der Einheit? Wir können der Geschichte kein Korsett anlegen. Es wäre unhistorisch, ein Zusammengehen beider deutscher Staaten auszuschließen. Aber das ist nicht die Frage, die die Bürger der DDR jetzt bewegt. Von den kritischen und oppositionellen Gruppen in der DDR und bei den Demonstrationen wird nicht die Kopie der bundesdeutschen
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989 13039
Regierender Bürgermeister Momper
Gesellschaftsordnung gefordert, sondern die Bürger der DDR wollen einen eigenen Weg gehen.
— Das kann man, wenn man hinhört und hinschaut, sehr gut erfahren. Auch das DDR-Fernsehen ist ein guter Mittler dafür. Sie sollten sich das öfter einmal anhören.
— Herr Kollege, gerade die Aktuelle Kamera. Aber da Sie sie hier in Bonn nicht empfangen können, können Sie das nicht wissen. Aber Sie können es mir glauben.
— Von der DDR verstehen wir Berliner immer noch etwas mehr als die CDU.
Meine Damen und Herren, im Westen werden jetzt viele kleinmütig vor der Größe der Probleme. Allerdings ist wahr, daß die Lasten, die auf uns zukommen, gewaltig sind. Die Veränderungen in Osteuropa und in der DDR wirken sich in ganz besonderem Maße in Berlin aus.Eine große Zahl von Aus- und Übersiedlern strömt in die Stadt, weil sie sich dort ihrer alten Heimat näher fühlen. Allein 1988 hat Berlin 40 000 zusätzliche Einwohner bekommen, und 1989 hat Berlin bis jetzt schon 45 000 zusätzliche Einwohner gewonnen. 23 000 Neuberliner leben schon jetzt in Heimen und Lagern. Wir brauchen noch mehr Heimplätze, weil die Stadt bereits in den letzten fünf Jahren 143 000 zusätzliche Einwohner aufgenommen hat.Der Wohnungsmarkt ist zu. Es gibt keine verfügbaren Wohnungen mehr. Wir bringen die Menschen in Fabrikhallen, in Flughangars und Messehallen unter. Der Bau von Wohnungen, Schulen und Kindertagesstätten allein für 50 000 Neuberliner und deren Eingliederung in das Leben der Stadt kosten Jahr für Jahr 500 Millionen DM.
Berlin mit seinen 2 Millionen Einwohnern macht knapp 3 % der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland aus. Aber wir nehmen 9 % der Aus- und Übersiedler auf.Um die erheblichen finanziellen Folgen des Zuzugs zu bewältigen, benötigen wir von der Bundesregierung eine schnelle und eine wirksame Hilfe.
Diese Hilfe, meine Damen und Herren, ist aus unserer Sicht eine nationale Aufgabe. Berlin darf mit dieser Situation nicht alleingelassen werden. Es hat immer am stärksten an der Teilung Europas getragen. Auch jetzt wird Berlin über Gebühr belastet.Meine Damen und Herren, es ist wahr: Die Herausforderung für Berlin ist riesig. Aber ich weiß, die Berlinerinnen und Berliner werden die Herausforderung annehmen. Wir haben nicht 40 Jahre Freiheit für die Deutschen in der DDR gefordert, um vor der Größe der Aufgabe zu verzagen, die sich uns jetzt stellt.
Denn Reisefreiheit und Selbstbestimmung für die Menschen in der DDR und in Osteuropa und das Wohlstandsgefälle zwischen Ost und West bürden uns nicht nur Lasten auf, sondern geben Berlin eine neue, eine große Perspektive in Europa. Berlin wird der Ort des Austausches zwischen Ost und West werden. Selbst wenn man von der Zweistaatlichkeit auf deutschem Boden ausgeht, so verlieren doch die Grenzen ihren trennenden Charakter; so werden Konfrontation und Gegensätze durch Kooperation und gute Nachbarschaft abgelöst werden.Eingebunden in die Europäische Gemeinschaft, als Teil der Bundesrepublik Deutschland, an der Nahtstelle zwischen West- und Osteuropa hat Berlin die Chance, beide Teile Europas wie ein Scharnier miteinander zu verbinden. Die Völker Osteuropas wollen engere Bindungen zu den Völkern Westeuropas, und Berlin ist der Ort der kurzen Wege.Mittel unserer Politik ist die Fortsetzung des KSZE-Prozesses; Ziel ist die europäische Friedensordnung, und Voraussetzung dafür ist die Einigung und die Selbstbehauptung Europas.Die Veränderungen in Europa erfordern auch bei uns ein neues Denken. Die DDR hat den Wehrkundeunterricht gestrichen. Streichen wir das Blockdenken aus unseren Köpfen.
Denn es gibt den Ostblock, wie wir ihn bisher kannten, nicht mehr. Ihnen ist das vielleicht noch nicht bekannt. Aber auch Sie können es ja jetzt erfahren.
Streichen wir den Rüstungswettlauf und die alten Sicherheitsphilosophien der Abschreckung. Denn die Bedrohung schwindet. Streichen wir die Feindbilder. Denn Ungarn und Polen sind keine kommunistischen Länder mehr, und die DDR wird es auch nicht mehr lange bleiben.
Auch die Sowjetunion ist dabei, sich von den Fesseln des Dogmatismus zu befreien.Wir wollen mit unseren Nachbarn das gemeinsame europäische Haus bauen und bewohnen. Jeder soll darin eine Wohnung haben, die seinen Bedürfnissen entspricht. Dazu gehört natürlich auch ein Berliner Zimmer mit Türen nach vielen Seiten.
Schon jetzt ist Berlin für Polen die offene Tür nach Westen. Wöchentlich kommen 70 000 Touristen aus
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13040 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989
Regierender Bürgermeister Momper
Polen nach Berlin. Bald wird sich die Tür zur DDR mehr öffnen. Die Sowjetunion wird Anfang des Jahres ihren Bürgern weitgehende Reisemöglichkeiten einräumen. Berlin allein wird es nicht schaffen, die Aufgabe zu bewältigen, die durch die Umwälzungen in der DDR und in den Staaten Osteuropas auf uns zukommt.Wir brauchen dabei die solidarische Unterstützung und die Hilfe der ganzen Bundesrepublik Deutschland. Vierzig Jahre lang hat Berlin immer die Hilfe vom Westen her bekommen, die wir brauchten. Während der Blockade, während des Berlin-Ultimatums, nach dem Bau der Mauer und auch für das Viermächteabkommen konnten wir uns auf die Hilfe und Unterstützung der westalliierten Schutzmächte, der Bundesregierung und der Länder der Bundesrepublik Deutschland verlassen. Voraussetzung dafür, daß wir die Zukunft Deutschlands und Berlins neu bestimmen können, ist der Erfolg der Erneuerung und der Demokratisierung der DDR. Wir dürfen dabei nicht nur Zuschauer sein.Die Verwirklichung der Reisefreiheit für die Bürger der DDR bedeutet, daß noch in diesem Jahr mehrere hunderttausend als Gäste zu uns kommen werden. Dabei erweisen sich die Reisefinanzen als ein besonderes Problem. Wie es zu lösen ist, darüber müssen wir uns über die Parteigrenzen hinweg ganz schnell verständigen. Ich bin dem Herrn Bundeskanzler dankbar dafür, daß er das ebenso wie die notwendige Hilfe für Berlin hier in Aussicht gestellt hat.Meine Damen und Herren, die Ereignisse in der DDR spitzen sich zu. Die Risiken wachsen nicht nur für die DDR, sondern auch für uns. Keiner ist mehr von den Entwicklungen in dem einen oder in dem anderen Land nicht betroffen. Die DDR wird ihren runden Tisch brauchen. Einen runden Tisch brauchen wir aber auch für die Fragen, die die beiden deutschen Staaten nur gemeinsam, nämlich miteinander lösen können. Ich schlage vor, sich an diesem runden Tisch in Berlin zusammenzufinden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bötsch.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die deutsche Frage ist offen. Das ist das herausragende Merkmal der Lage der Nation im noch geteilten Deutschland. Die deutsche Frage ist offen, und sie steht auf der Tagesordnung der Weltpolitik. Das wurde zunächst dadurch ausgelöst, daß zehntausend vorwiegend junge Menschen ihre Verwandten, ihre Bekannten, ihr Hab und Gut zurückgelassen haben, um in Freiheit zu leben. Die deutsche Frage steht auf der Tagesordnung der Weltpolitik, weil die Deutschen im Westen ihre Landsleute aus der DDR mit offenen, hilfsbereiten Armen empfangen haben und empfangen. Die Art und Weise der Aufnahme der Flüchtlinge bei uns zeigt der ganzen Welt: die deutsche Einheit lebt.Für mich sind manch abwertende Äußerungen von SPD-Politikern über die Behandlung von DDR-Flüchtlingen nicht verständlich.
— Ja, die gibt es. Zum Beispiel „verhätscheln" ist in Ihren Reihen gefallen. — Offensichtlich gefällt es Teilen der SPD nicht, daß die Solidarität der Bundesbürger vorhanden ist.
Da treten Ressentiments der SPD gegen jene Deutschen zutage, die dem Sozialismus den Rücken kehren, wie Fritz Ullrich Fack am 1. November 1989 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" schrieb.
Ich will ausdrücklich konstatieren, daß Ihr Fraktionsvorsitzender Dr. Vogel heute der Versuchung widerstanden hat, in diese Ressentiments einzutreten, sondern meines Erachtens das Problem auch in unserem Sinne behandelt hat. Er hat allerdings, Frau Kollegin Däubler-Gmelin, an anderer Stelle dem bei ihm ausgeprägten Hang zur Polemik dann doch nicht widerstehen können.
Meine Damen und Herren, wir alle sollten zur Kenntnis nehmen: Das Experiment des Sozialismus ist gescheitert.
Dem Sozialismus marxistisch-leninistischer Prägung laufen die Leute weg. Und die Deutschen sind eine Nation, die wie andere Nationen in Freiheit leben will.
Sie lassen sich weder durch Ideologien noch durch Gewaltherrschaften auf Dauer teilen.Und die DDR, Frau Kollegin Vollmer, hat keine eigene Identität. Ich bin überzeugt, diese Identität, die sie bisher allein aus dem Machtmonopol der SED zu schöpfen suchte, wird sie auch in Zukunft nicht gewinnen. Heute mutet es doch geradezu lächerlich an, wie die SED versucht hat, eine eigene deutsche Teilnation mit sozialistischer Prägung zu schaffen und gegen die Außenwelt abzugrenzen.Daß sie in diesem Bestreben von den GRÜNEN immer noch und jedenfalls von Teilen der SPD in der Vergangenheit unterstützt wurde — Forderung nach einer DDR-Staatsbürgerschaft etwa ist ein Stichwort — , ist eine der bedauernswerten Tatsachen der deutschen Zeitgeschichte.Auch hier hat Vogel heute klargestellt, daß für die SPD nur eine einheitliche Staatsbürgerschaft in Frage kommt. Wir nehmen das zur Kenntnis, wir begrüßen, daß dies in der Form hier klargestellt worden ist. Aber
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Dr. BötschFrau Vollmer hat ja ihre Position gegenteiliger Art nochmals unterstrichen.
Meine Damen und Herren, die Bürger Mitteldeutschlands wollen nicht eine Variante des Sozialismus, sondern ihre Alternative heißt: Weg vom Sozialismus. Und die zahlreichen Rücktritte von SED-Funktionären, der Rücktritt der gesamten Regierung gestern, der Rücktritt des Politbüros heute, die Öffnung der Medien
— darauf komme ich noch, Herr Kollege — und anderes sind ein begrüßenswerter, notwendiger Anfang. Es kann aber nur der Anfang sein.
Ich glaube, jeder Versuch, die Bevölkerung in der DDR mit Scheinreformen zu besänftigen, wird sich als Fehlspekulation erweisen. Die Menschen in der DDR wollen einen gesellschaftlichen Befreiungsprozeß. Sie wollen — und sie tun es — das Machtmonopol der SED in Frage stellen. Sie wollen wählen, sie wollen auswählen, sie wollen abwählen, meine sehr verehrten Damen und Herren. Das ist das, was die Menschen in der DDR wollen.
Besser als viele Worte bringt die Sehnsucht der Menschen jenes Foto, das dieser Tage durch die Presse ging, zum Ausdruck, auf dem ein Transparent mit der Aufschrift „Wir fordern freie Wahlen" am Gebäude der Volkskammer über dem dort angebrachten Schriftzug „Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik" zu sehen war.Meine Damen und Herren, alle diejenigen, die in der Vergangenheit sehr laut Kontakte zur Volkskammer gefordert haben, müssen sich heute überlegen, ob sie mit diesen Forderungen nicht etwas frühzeitig dran waren.
Ist es nicht absurd, daß die DDR der UNO ein Polizeikontingent zur Verfügung stellt, das die Aufgabe hat, in Namibia die Durchführung freier Wahlen sicherzustellen,
während solche den eigenen Bürgern bisher vorenthalten worden sind?
Meine Damen und Herren, die SED wird eines Tages — hoffentlich bald — freie Wahlen zulassen müssen. Darauf hat Golo Mann in einem Gespräch mit der „Welt" am 6. November mit Recht hingewiesen. Ein wirklicher Umwandlungsprozeß erfordert Demokratie , erfordert Pluralismus, erfordert Parteienvielfalt, erfordert freie Wahlen.
Noch zeigt sich Egon Krenz nicht bereit, auf den ungerechtfertigten Führungsanspruch der SED zuverzichten. Er wird ja heute in den vor wenigen Minuten eingegangenen Meldungen als der wirklich starke Mann beschrieben, der jetzt völlig freie Hand hat. Solange aber hier keine wirklichen Reformen kommen, wird weiterhin Trabi um Trabi über die Straßen der Tschechoslowakei und Ungarns in den Westen, in die Freiheit rollen.Diese Kolonnen haben natürlich die Demonstrationen mit ausgelöst, von denen wir Tag für Tag aus Dresden, aus Leipzig, aus Schwerin, aus Ost-Berlin, aus Erfurt und fast allen mittleren und größeren Städten der DDR hören. Die Willensbekundung der Menschen ist jedesmal eindeutig. Sie zeigen der ganzen Welt, wie ungerechtfertigt das SED-Machtmonopol ist.Den Menschen, die dafür auf die Straße gehen, gehören unsere uneingeschränkte Sympathie und Solidarität.
Mangels eines frei gewählten Parlaments ist die Straße im Augenblick zum alleinigen Forum der Bekundung des wahren Willens der DDR-Bevölkerung geworden.
Doch wir müssen genau zuhören, wer sich wie zu Wort meldet.
Es ist manchmal erstaunlich, welche Persönlichkeiten sich da zu Wort melden.In der DDR macht derzeit das geflügelte Wort vom „Wendehals" die Runde, eine Bezeichnung für Menschen, die ihre Fahne in den Wind hängen.Nicht jeder Redner, auch nicht jeder der Redner, die am vorigen Samstag in Ost-Berlin auftraten, können für sich in Anspruch nehmen, für das Volk zu sprechen.
Hier wird den Deutschen drüben ein Sondierungsprozeß nicht erspart bleiben — auch uns nicht, auch nicht dem Fraktionsvorsitzenden der SPD.Es gibt weiter über den Fortgang des Prozesses Ungewißheiten. Aber sie dürfen uns nicht veranlassen, die Hände in den Schoß zu legen. Wir müssen uns auf Eventualitäten gründlich vorbereiten. Und wir müssen auch mit unseren westlichen Verbündeten in ein intensives Gespräch eintreten. Die westlichen Verbündeten müssen an unserer Seite stehen, wenn wir für unsere Landsleute in der DDR die Selbstbestimmung einfordern.Ich habe allerdings manchmal den Eindruck, als wollten einige Deutsche selber die Besorgnis im westlichen Lager vor einem vereinigten Deutschland noch höher stilisieren, als sie tatsächlich ist. Sicher, es gibt noch solche Vorbehalte, die vor einem wiedervereinigten Deutschland warnen, weil es angeblich eine
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Dr. BötschGefahr für die Stabilität in Europa wäre. An uns ist es, diesen Vorbehalten entgegenzutreten. Ich glaube, Präsident Mitterrand und Präsident Bush sind beispielhaft für das, was wir auch von den westlichen Verbündeten für uns verlangen.Ich freue mich, daß auch das Europäische Parlament nicht geschwiegen hat. Es hält es „für das legitime Recht der Bevölkerung in der DDR, ihr Wirtschaftssystem, ihre Regierungsform und über die Zukunft des Landes selbst zu bestimmen".Wir, CDU und CSU, stehen zu dem Auftrag des Grundgesetzes, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden".
In der Gemeinsamen Erklärung, die Generalsekretär Gorbatschow und Bundeskanzler Kohl am 13. Juni in Bonn unterzeichnet haben, heißt es unter anderem:Der Mensch mit seiner Würde und mit seinen Rechten und die Sorge für das Überleben der Menschheit müssen im Mittelpunkt der Politik stehen.
Dann heißt es an anderer Stelle:Das Selbstbestimmungsrecht der Völker muß beachtet, die Menschenrechte müssen verwirklicht werden.Darum geht es. Ich freue mich, daß mir Frau DäublerGmelin hier zunickt.
Meine Damen und Herren, ein wiedervereinigtes Deutschland würde die Stabilität in Europa nicht gefährden. Ein wiedervereinigtes Deutschland würde im Gegenteil zum Kernelement einer europäischen Friedensordnung werden. In einem einigen Europa ist kein Platz mehr für den Eisernen Vorhang, und es ist kein Platz mehr für die Mauer.
So ist Deutschlandpolitik natürlich auch West- und Europapolitik und hat ihren Platz selbstverständlich auch im Rahmen der Ostpolitik. Das Offensein der deutschen Frage behindert den Aufbau fruchtbarer gegenseitiger Beziehungen mit östlichen Staaten nicht. Dies war schon immer die Auffassung der Union, und sie hat sich jetzt wieder bestätigt. Das Offensein der deutschen Frage entspricht den Entwicklungen, wie wir sie jetzt in Polen und in Ungarn feststellen können, denn auch den Polen und den Ungarn geht es um nichts anderes als um ihr Selbstbestimmungsrecht. Wir müssen ihnen für ihren Mut dankbar sein, denn ihre Reformen haben auch den wesentlichen Anstoß zur Kurswende in der DDR gegeben; das dürfen wir nicht übersehen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als 18jähriger habe ich mit Entsetzen, mit Bedauern und stiller Wut die Rundfunkmeldungengehört und die Bilder gesehen, die zeigten, wie russische Panzer in Budapest einfuhren und den Volksaufstand 1956 niederwalzten. Mit innerer Bewegung habe ich die Fernsehbilder gesehen, wie vor einigen Monaten 300 000 Menschen auf dem Heldenplatz in Budapest den damaligen Anführer des Aufstandes, Imre Nagy ehrten. Wir alle haben sicherlich noch in Erinnerung, wie am 23. Oktober 1989, jetzt vor wenigen Tagen genau 33 Jahre nach dem ungarischen Volksaufstand, das ungarische Volk nach westlichem Vorbild die Republik ausgerufen hat. Dabei stand auf einem Spruchband „Ungarn kehrt heim nach Europa". Ich habe die Vision, daß einmal auf dem Alexanderplatz in Ost-Berlin Hunderttausende Seite an Seite mit einer vor ihr frei gewählten Regierung stehen werden und der Opfer des 17. Juni 1953 und der Toten an der Mauer gedenken.
Handeln wir so, daß diese Vision kein Traum bleibt, sondern erlebte Wirklichkeit werden kann!
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Büchler .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe mich über die Rede des Kollegen Bötsch heute gefreut. Ich dachte, er würde polemischer werden. Er hat versucht, mit dem Sozialismus und mit dem demokratischen Sozialismus so ein bißchen in Richtung SPD zu zielen. Ich weiß, das ist die unterschwellige Art, die uns aber, Herr Bötsch, nicht weiterbringt.
Ich will Ihnen folgendes sagen. Es gibt eine Umfrage in der DDR aus den letzten Tagen: CDU Ost und CDU West bringen es zusammen auf 13 %, und die Sozialdemokraten Ost und West bringen es auf 35 %. Das ist die Realität.
Die DDR-Bürger sind also sehr wohl mit dem demokratischen Sozialismus einverstanden.Wir tun das Richtige, Herr Bötsch, wenn wir die Forderungen der Menschen in der DDR respektieren und unterstützen. Aufgefallen ist mir persönlich in der Erlöser-Kirche, daß kein einziger der Anwesenden nach der Wiedervereinigung verlangte, und daß Millionen, die durch ihre Protestkundgebungen auf den Straßen waren, dies ebenfalls nicht verlangt haben. Sie haben das Wort „Wiedervereinigung" vermieden, und wir sollten dies auch berücksichtigen.
Aber wer mit den Bürgerinnen und Bürgern, mit jung und alt drüben in der DDR oder wie ich in der ErlöserKirche mit diesen emotional aufgewühlten Menschen spricht — man wird ja selber aufgewühlt; wer sich
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Büchler
davon nicht anpacken läßt, der hat, glaube ich, kein Herz — , der weiß, daß sie zuerst einmal ihren eigenen Weg finden wollen, daß sie zuerst einmal ihre Probleme selber in die Hand nehmen und dann später mit uns über das Zusammenleben sprechen wollen. Dies sollten wir, meine sehr verehrten Damen und Herren, respektieren.
Es ist ein neues, starkes Selbstwertgefühl bei den DDR-Bürgern entstanden. Sie sind stolz darauf, die eigenen Angelegenheiten selbst in die Hand genommen zu haben. Wir sollten diesen für uns Deutsche historischen Vorgang mit Hochachtung und Freude zur Kenntnis nehmen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Wir verlangen von den Menschen in der DDR nichts, was sie nicht selbst zu tun bereit sind. Wir sind nicht ihr Vormund.
Wir sollten auch nicht dieses Forum hier im Bundestag dazu benützen. Wir sollten nicht durch leichtsinniges Gerede die Nähe, die sich jetzt immer mehr zu uns herausbildet, selbst kaputtmachen und auseinandertreiben.Die SPD ist die Partei der Menschenrechte. Der Kern unserer Deutschlandpolitik ist die Freiheit und die Selbstbestimmung, wie es in unserem Antrag, der Ihnen vorliegt, heißt. Nach Lage der Dinge sieht beides für die Menschen in der DDR so aus, daß dies alles ansteht. Wenn wir deren Rechte auf Selbstbestimmung ernst nehmen, dürfen wir das Ergebnis auch nicht vorwegnehmen. Anders gesagt, wir müssen gegebenenfalls nach einer Entscheidung für die Fortexistenz der DDR dies auch respektieren. Ein neuer deutscher Nationalstaat kann rein logisch nicht ein Bismarckreich von einst sein — wie könnte das auch sein!
Nicht nur daß das Territorium nur aus der Bundesrepublik und aus der DDR und eben aus Berlin bestehen kann; nach diesem Antrag, der Ihnen vorliegt, auch bezüglich der Westgrenze Polens, ist eben dieses Deutschland heute nicht mehr als Nationalstaat des vorigen Jahrhunderts oder zu Beginn des Jahrhunderts zu begreifen. Das ist ein Staat, der in die EG eingebunden ist, der mit der KSZE zusammenarbeitet und der die überregionale Zusammenarbeit bei der Abrüstung braucht, der in Sachzwängen internationaler Zusammenarbeit eingebunden ist. Deswegen, glaube ich, nützt uns der Weg zurück nichts. Vergangenes wie das Bismarckreich, wie das Reich in den Grenzen von 1937, wie der Vielvölkerstaat, ist für die zukünftige Lösung der deutschen Frage wenig hilfreich.Ich bin für eine neue oder neuartige deutsche Einheit, die sich aus den Ergebnissen dieser Tage entwikkeln wird. Die Form der Staatlichkeit wird dabei fast zu einer Frage der Zweckmäßigkeit und nachgeordneten Wichtigkeit. Der entscheidende Punkt wird dasZusammenleben und Zusammenarbeiten der Deutschen in Europa in Zukunft sein. Ich glaube, daß die Bundesbürger mehrheitlich für diese neuartige deutsche Einheit sind, daß sie aber in Wahrnehmung ihres Selbstbestimmungsrechts weder auf ihre Wirtschaftsordnung noch auf die Integration in der EG verzichten wollen. Das sollten die Bürgerinnen und Bürger in der DDR wissen, wenn sie — hoffentlich bald — ihr Selbstbestimmungsrecht tatsächlich anwenden können und wollen.
Es war ein langer Weg von maßgeblichen Politikern in unserer Republik, daß das Recht der freien Selbstbestimmung als Schlüssel der deutschen Frage anerkannt worden ist. Es war nie ein Problem in meiner Fraktion.
Das führt nicht weg von der Präambel des Grundgesetzes, sondern ist der zeitgerechte Auftrag. Zögernd hat sich auch der Bundeskanzler zu dieser Position bekannt und letzten Endes auch der CSU-Vorsitzende Waigel, dem wohl mit der Zeit gedämmert hat, was er mit seiner unglückseligen Diskussion über die Grenzen von 1937 in der westlichen Welt und in der östlichen Welt angerichtet hat.
Wenn sich der gesamte Deutsche Bundestag auf diese Formel einigt, meine sehr verehrten Damen und Herren, glaube ich, daß wir zusammen neue Perspektiven in der Deutschlandpolitik entwickeln können.Wir haben eine neue Lage in Europa. Gorbatschow, der die Kerngedanken der KSZE ernst nimmt, hat einen Teil der Voraussetzungen dafür geschaffen. Den anderen Teil schaffen sich die Menschen in den Warschauer-Vertragsstaaten selbst. Sie nehmen sich die Freiheit selber, die ihnen 40 Jahre verweigert worden ist. Unsere Ost- und Deutschlandpolitik wollte diese Verweigerung der Freiheit durch Schritte, die jeweils machtpolitisch möglich waren, aufweichen und mildern. Es war richtig, daß wir diesen Weg gegangen sind. Jetzt erleben wir, daß für die Sowjetunion die politische Verfassung ihrer Bündnispartner in Europa nicht mehr so wichtig ist. Aber für die Ungarn, die Polen und die Deutschen in der DDR ist diese demokratische Verfassung wichtig. Sie wollen schlicht und einfach Demokratie verwirklichen. Ich bin sicher, daß bei dem Treffen zwischen Bush und Gorbatschow bereits die neue Lage mitdiskutiert wird, daß ihr Rechnung getragen wird. Wir haben hier in der Bundesrepublik Deutschland dann natürlich auch entsprechend zu reagieren.Wer weiß, vielleicht brauchen wir in kurzer Zeit schon keine Ostpolitik mehr, weil sich der Gegensatz der Systeme, der Gegensatz von Freiheit und Diktatur, wirklich erledigt. Das ist unsere Hoffnung. An seine Stelle treten Systemunterschiede und ein europäischer Wettbewerb um die besten Lösungen. Nichts
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13044 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989
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würde die Bedingungen für die gesamteuropäische Zusammenarbeit mehr verbessern als diese Entwicklung hin zu einer europäischen Innenpolitik. Das, glaube ich, müßte unser aller Ziel sein.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Zeit drängt, und ich möchte heute ohne Pathos schließen, obwohl man sich natürlich in dieser spannenden Zeit, in der wir leben, leicht dazu verleiten lassen könnte. Doch wir werden wohl miteinander erleben, daß uns in den nächsten Wochen und Monaten und auch im kommenden Jahr harte Arbeit bevorsteht. In diesem Sinne enthält unser Antrag auf der Drucksache 11/5587 viel Grundsätzliches aber auch praktische Vorschläge, die die Bundesregierung zur Kenntnis nehmen sollte, nachdem sie in der Deutschlandpolitik in der Vergangenheit weiß Gott genug Fehler gemacht hat. Ich hoffe sehr, daß es nach der Überweisung dieses Antrages und auch des Antrages, den Sie gestellt haben, zu einer sachlichen Diskussion im Ausschuß kommt und wir mit den Anträgen mit einem geschlossenen Konzept in diesen Bundestag zurückkehren, das für die Menschen in beiden Teilen Deutschlands das Beste will und auch unserem Auftrag gerecht wird.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort der Frau Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die bewegenden und sicher auch historisch zu nennenden Ereignisse dieses Herbstes in Deutschland führen uns nachdrücklich vor Augen, daß sich die Freiheit durch die Teilung unseres Vaterlandes, die zugleich die Teilung Euorpas ist, nicht aufhalten läßt. Freiheit führt zusammen, die Deutschen und mit ihnen die Europäer.Ziel unserer Deutschlandpolitik war und ist es, Freiheit und Selbstbestimmung für alle Deutschen zu erreichen. Denn nur auf diesem Fundament wird es eine tragfähige Lösung für die nationale und staatliche Einheit Deutschlands geben. Wie weise und weitblikkend sind in der Präambel unseres Grundgesetzes die Begriffe Einheit und Selbstbestimmung, Freiheit und Europa miteinander verflochten und als politische Ziele uns aufgegeben! Wir erkennen dies, glaube ich, heute besser denn je. Wie gut, daß diese Koalition, diese Bundesregierung, nie mit dem Gedanken einer Streichung oder einer Revision dieser Präambel unseres Grundgesetzes gespielt hat!Meine Damen und Herren, es geht uns auch allen menschlich sehr nahe, wenn wir jetzt im Fernsehen die gelösten Gesichter der Männer und Frauen und Kinder in Ost-Berlin, in Leipzig oder in Schwerin vor uns sehen, die endlich öffentlich aussprechen können, was sie jahrzehntelang beschwert hat und was sie sich für ihr Leben in ihrer Heimat erhoffen, wie sie den aufrechten Gang üben. Darum möchte ich all unseren Landsleuten hier vom Deutschen Bundestag aus zurufen, daß wir uns mit ihnen verbunden fühlen und daß wir großen Anteil an den von ihnen gewollten Veränderungen nehmen.
Was wir in den letzten Tagen und Wochen an machtvollen und doch zugleich friedlichen und disziplinierten Freiheitsdemonstrationen erlebt haben, das verlangt uns hohen Respekt ab. Die Menschen in der DDR zeigen unmißverständlich, daß sie sich mit dem Übertünchen der politischen Fassade und mit Schönheitsreparaturen nicht mehr zufriedengeben. Sie verlangen nach grundlegenden Veränderungen an den Fundamenten der DDR. Sie wollen Demokratisierung. Sie wollen unabhängige politische Parteien. Sie wollen freie Wahlen. So lesen und so hören wir es bei ihren Demonstrationen. Sie verweisen darauf, wie die politischen Prozesse in Polen und Ungarn verlaufen, und sie möchten es ihnen gleichtun. Wir hören ihre Forderungen, und sie treffen sich mit unseren Vorstellungen.Wir stehen deshalb an der Seite unserer Landsleute. 40 Jahre Bundesrepublik Deutschland haben uns den Wert der Freiheit schätzen gelehrt. Die Freiheit ist der Kern der deutschen Frage; wie oft haben wir diesen Satz gesprochen. Dies schließt ausdrücklich das Recht unserer Landsleute in der DDR ein, über sich und ihre Zukunft frei zu entscheiden. Auch wir wollen sie nicht bevormunden. Aber dies führt — davon bin ich überzeugt — letztendlich auch zur Wiedervereinigung in Freiheit in einem neuen Europa.
Auch unsere euorpäischen Nachbarn und unsere Freunde in Europa müssen heute mehr denn je zur Kenntnis nehmen, daß Freiheit und Einheit allen Deutschen in Europa zukommen.Die Menschen in der DDR waren lange zum Schweigen verurteilt. Was sie wollen und was sie brauchen, sagen sie jetzt: Meinungsfreiheit, Informations-, Versammlungs-, Vereinigungsfreiheit, politischen Pluralismus.Die Bundesregierung begrüßt daher die von der neuen DDR-Führung verkündete Amnestie. Was jetzt aber dringend erforderlich ist, ist die Beseitigung des politischen Strafrechts.Wir begrüßen die offizielle Genehmigung von öffentlichen Demonstrationen und die neue Offenheit in den DDR-Medien. Was die Menschen jetzt aber erwarten, sind die offizielle Zulassung von Reformgruppen, in jeder Hinsicht eigenständige politische Parteien, freie politische Betätigung und vor allem freie Wahlen.Wir begrüßen die Erkenntnis auch aus den Reihen der SED, daß der bisherige Weg der Wirtschaftspolitik nicht fortgesetzt werden kann. Dringend geboten ist jetzt der Anschluß der DDR-Wirtschaft an die Entwicklung des Weltmarkts.Die Menschen in der DDR wollen endlich frei reisen. Sie wollen entsprechend großzügige Gesetze. Selbst die FDJ und ein Ausschuß der Volkskammer haben bereits die Ablehnung eines ersten Gesetzentwurfes über die Reisefreiheit signalisiert. Man wird in der DDR jetzt also neu konzipieren müssen, um der
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Bundesminister Frau Dr. Wilmsnach wie vor bestehenden Skepsis der Menschen in der DDR zu begegnen.Die Menschen fordern jetzt die ganze Öffnung der Grenzen. Meine Damen und Herren, damit sind Mauer und Stacheldraht überflüssiger denn je.
Wir fordern auch die freie Reisemöglichkeit für alle Deutschen von West nach Ost, auch für diejenigen, die schon vor Jahren aus der DDR zu uns gekommen sind.Öffnung der DDR bedeutet aber auch, daß die verschiedenen innerdeutschen Begegnungsmöglichkeiten eine neue Qualität bekommen und von den Bürgerinnen und Bürgern voll genutzt werden können. Ich denke an den Jugendaustausch, an die Städtepartnerschaften, die Kultur- und Sportbeziehungen, die sich jetzt ohne staatlich-zentralistische Restriktionen offen und voll entwickeln können sollten.Ein besonderes Problem des Reisens und des schon Makulatur gewordenen ersten Entwurfs eines Reisegesetzes war und ist der fehlende Anspruch auf Reisedevisen.
Viele Menschen in der DDR sehen sich dadurch außerstande, in den Westen reisen zu können. Sie erwarten eine vernünftige Antwort ihrer Führung, zumindest aber konkrete Perspektiven in der Devisenfrage. Auch die FDJ hat dies klar zum Ausdruck gebracht.Die Antwort auf diese und auf viele andere Fragen muß in der DDR selbst gefunden werden. Professor Reinhold sagte jetzt, im Zusammenhang mit den Reisedevisen müsse über eine Wirtschaftsreform gesprochen werden. Wie wahr!Es ist jetzt an der DDR, deutlich zu machen, wie sie den Reiseverkehr regeln, wie sie die auch bei ihr vorhandenen Devisen für den Reiseverkehr zur Verfügung stellen will und auf welchem Wege sie ihre Wirtschaft so umgestalten wird, daß künftig Devisenknappheit auch bei ihr der Vergangenheit angehört.
Tiefgreifende wirtschaftliche Reformen in Richtung auf mehr Markt und internationale Verflechtungen werden letztlich unabdingbar sein. Wichtig ist mir am Ende dieses Prozesses die Konvertierbarkeit der Mark der DDR — eine Reform, die auch in Ungarn beginnt.Die DDR muß sich ändern. Sie muß sich reformieren und an neue Entwicklungen anpassen, unabhängig davon, was wir dazutun oder wie wir dabei behilflich sind. Die DDR-Führung muß den Weg ihrer politischen und wirtschaftlichen Reformen klar definieren und beschreiten. Es kann dann darum gehen, daß das, was sie ohnehin an Veränderungen auf den Weg setzen muß, auch von uns zu begleiten und zu erleichtern ist.Dazu ist die Bundesregierung bereit. Der Bundeskanzler hat dies mehrfach, auch heute wieder, zum Ausdruck gebracht. Aber ich füge noch einmal hinzu:Erst muß die DDR, und zwar verbindlich, ihre Wege und Vorhaben der Reform fixieren.
Ich bin sicher, daß diejenigen bei uns in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Gewerkschaften, die Verantwortung empfinden, sich nicht verschließen. Sie werden mit anpacken. Finanzielle Vorleistungen unsererseits sind angesichts der derzeit noch fehlenden Reformanstrengungen aber noch nicht angebracht.Ich denke, auch die Menschen bei uns haben ein hochentwickeltes Gefühl für das politisch und ökonomisch Sinnvolle. Deshalb muß Hilfe, wenn wir sie leisten wollen, plausibel sein und die Gewähr bieten, daß sie der Reform hilft und nicht der Verlängerung von Mißständen.
Mit dem Auswechseln von Personen in der DDR — und sei es der gesamte Ministerrat oder das gesamte Politbüro — allein ist es nicht getan.
Die Inhalte der Politik müssen geändert werden. Anders kann die Vertrauenskrise in der DDR nicht behoben werden.Für uns ist die Nachkriegszeit schon lange zu Ende. Für unsere Landsleute in der DDR, ob sie nun bleiben oder hier hinkommen, ist dies anders. Viele kommen hierher, weil sie nicht mehr an eine wirkliche Wende in der DDR glauben können. Andere — das sind die meisten — bleiben dort. Viele von diesen in der DDR sind von der Hoffnung erfüllt, daß sich die Dinge bei ihnen zu Hause nun endlich zum Besseren wenden, und sie haben den Willen, daran mitzuwirken. Beiden, den Übersiedlern wie denjenigen Landsleuten, die in der DDR bleiben, sollten wir mit Respekt, mit Verständnis und mit Solidarität begegnen.
Jeder hat für seine individuelle Entscheidung Gründe, die wir zu respektieren haben, über die wir auf keinen Fall richten dürfen.Wir sind Zeugen von Ereignissen, denen historische Bedeutung zukommt. Die Größe der Aufgaben, die Chancen wie die Risiken verlangen von uns Nüchternheit und Klugheit, Glaubwürdigkeit und Berechenbarkeit sowie auch Verantwortungsbewußtsein.Aber wir sind uns auch der Bedeutung der vor uns stehenden Aufgaben bewußt. Wir wissen, daß auch von uns Opfer, materielle Leistungen und vielfach ein Umdenken, verlangt werden, weil wir in diese Entwicklungen in Europa eingebunden sind. Reformen in der DDR und die Übersiedler und Aussiedler hier bei uns verlangen auch uns einiges ab. Wichtig ist, daß wir Deutschen unser gemeinsames Schicksal sehen und daß wir deutlicher denn je erkennen, daß auch unser Schicksal mit dem Schicksal Europas fest verbunden ist.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Knabe.
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13046 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Spannung: Die Lage der Nation ist spannend. Sie war in den 40 Jahren seit der Gründung der beiden deutschen Staaten noch nie so spannend wie jetzt, und zwar spannend in doppelter Bedeutung. Zum einen spannend im Blick auf das, was geschieht: Der Vorsitzende Erich Honecker ist zurückgetreten. Die Regierung ist zurückgetreten, jetzt das Politbüro. Was wird das nächste sein?
Bärbel Bohley sagt: die Anerkennung des „Forums". Der übernächste Schritt wäre dann freie Wahlen, in denen die Leute die Wahl zwischen wirklich verschiedenen Parteien haben.
Aber die Menschen denken auch angespannt darüber nach, was sie selber als nächstes tun sollen: bleiben oder gehen? Werden wir hier im Westen die Spannung aushalten, wenn Hunderttausende kommen, und werden die anderen Deutschen in der DDR es aushalten, wenn so viele gehen? Viele können das nicht mehr, packen ihre Sachen, haben plötzlich erkannt, wie viele Jahre sie vergeblich für ein besseres Leben und mehr Mitbestimmung im eigenen Lande gekämpft haben. Sie wollen nicht länger warten, sie eilen heraus und lassen ihre Habe, Freunde und frühere Arbeit zurück.Ich selbst habe dies gut zwei Jahre vor dem Mauerbau auch getan. Uns bedrückte die Aussichtslosigkeit. Wir hatten Angst vor der Schule, wo die Indoktrination erfolgte, aus der die Kinder nach Hause kamen und sagten: Mensch, wir haben einen prima Lehrer; der redet ganz anders, als er denkt. Das wollten wir nicht!Aber wir hatten auch Sorge wegen der Mauer. Wir hatten die Ankündigung Chruschtschows ernstgenommen, daß die Berlin-Frage in einem halben Jahr gelöst sein sollte, und wir waren verbittert über das Wiedervereinigungsgerede aus dem Westen, das in krassem Gegensatz zur vollzogenen Westintegration und natürlich auch zum Verhalten am 17. Juni stand.Die Mauer wurde gebaut, und noch heute fliehen viele Menschen, weil diese Mauer eben noch steht und weil sie nicht sicher sind, ob die inzwischen geschaffenen Schlupflöcher über Nacht geschlossen und die gewährten Erleichterungen abrupt wieder aufgehoben werden. Das bedeutet: Die Mauer ist auch materiell zu beseitigen.Aber die Beseitigung der Mauer genügt bei weitem nicht. Entscheidend ist und bleibt, daß die Menschen in der DDR die Demokratisierung ihres Landes unumkehrbar machen und daß die Wirtschaft Zeit und Raum für eine Stabilisierung hat, daß das enorme Gefälle zwischen West und Ost ausgeglichen wird. Diese Stabilisierung braucht Zeit, die richtigen Führungskräfte und die Mitarbeit aller; aber diese wiederum ist nur zu erreichen, wenn das Vertrauen in eine Regierung hergestellt ist, und das geht nicht ohne freie Wahlen.Ein Gedanke ist in der politischen Diskussion noch nicht ausgesprochen worden: Kann das Gefälle zwischen Ost und West nur durch Anheben des materiellen Wohlstandes in der DDR beseitigt werden? Kann man dies nicht auch durch Absenken des materiellen Verbrauchs im Westen tun?
Könnte dieser Ausgleich des wirtschaftlichen Gefälles zwischen den beiden deutschen Staaten nicht auch ein Vorläufer des notwendigen Ausgleichs zwischen Nord und Süd sein?
Wir alle wissen, daß der jetzige Lebensstandard für acht Milliarden Menschen, die wir in Kürze haben werden, für die Erde tödlich wäre. Warum dann nicht jetzt bei denen anfangen, die genug haben? Wir haben auch genug andere, auch bei uns.Die Menschen in der DDR, meine Freunde, mit denen ich gesprochen habe, stehen vor einer schwierigen Aufgabe. Sie haben gleich drei Gefahren abzuwehren: die Rückkehr des Stalinismus, den Ausverkauf an den Westen und einen Zusammenbruch der Wirtschaft wie in Polen. Nein, sie wollen erst einmal ihre eigene Identität verwirklichen, eigene Wege suchen und uns nicht alles nachmachen. Wir sollten sehr aufmerksam zuhören, was uns das „Neue Forum", der „Aufbruch" oder die sich formierende grüne Partei der DDR zu sagen haben. Ich zitiere aus deren Gründungsaufruf:Für eine Erneuerung unserer Gesellschaft hat die Umgestaltung unserer zerstörten Umwelt entscheidende Bedeutung. Aber nicht nur unsere Umwelt ist bereits verseucht, sondern in noch viel größerem Maße unser Bewußtsein, nämlich durch die Utopie, daß ständig wachsender Wohlstand und — als seine Bedingung — permanentes wirtschaftliches Wachstum zum Ziel der gesellschaftlichen Entwicklung gemacht werden kann. Diese Art von Utopie suggeriert uns, der Mensch könne sich willkürlich im Lebenssystem der Erde bewegen. Sie versteigt sich sogar zu der militanten Behauptung, er könne sich die Erde unterwerfen.
— Das war auch in Stalins Plan für die Umgestaltung der Natur der Fall. —Damit verbunden ist die Vorstellung, daß Leistung und ihre Belohnung zentraler Maßstab der Bewertung menschlichen Seins wären. Diese Annahme, in ihrer Arroganz, verdrängt die Schwachen an den Rand ihrer möglichen Existenz. Ja, sie kippt sie zunehmend über diesen Rand ab...Wir handeln also nur aus Selbsterhaltungstrieb, wenn wir als Mitverantwortliche diesem Prozeß und Bewußtsein Einhalt gebieten. Daher werden wir mit der Grünen Partei unserer ökologischen Weltsicht in der Gesellschaft der DDR politische Kraft verleihen, indem wir sie kompromißlos zum Ausgangspunkt aller unserer Bestrebungen machen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989 13047
Dr. KnabeJa, wir sollten genau zuhören.
— Das sind keine armen Menschen. Wenn wir die Eingangsworte „Für eine Erneuerung unserer Gesellschaft ..." ersetzen durch „Für das Überleben auch der Bundesrepublik hat die Umgestaltung unserer zerstörten Umwelt entscheidende Bedeutung", merken wir, daß wir der eigenen Wirklichkeit sehr nahe sind.
Wie politisch aktuell die Aussagen der Grünen Partei in der DDR sind, ersieht man aus einer ihrer Kernaussagen:Wir wollen vor allem verhindern, daß die gegenwärtige Erneuerungsbewegung in unserem Land unter dem Druck unvernünftigen, kurzsichtigen, materiellen Nachholbedarfs eine Gesellschaft der Ellenbogenfreiheit, der Verschwendung und Wegwerfmentalität entstehen läßt.Haben sie sagen wollen: eine Gesellschaft westlicher Prägung, die Vance Packard schon 1964 als „waste-makers" bezeichnete? Sollte dort das Projekt gelingen, kirchliche Umweltgruppen, umweltengagierte Schriftsteller und auch Vertreter der offiziellen Gesellschaft für Natur und Umwelt zu einem Projekt zusammenzuspannen, wäre dies für den nötigen Auf- und Umbau der Gesellschaft ein großer Erfolg.Von seiten der CDU und der SPD wird heute sehr viel über Kontakte zu den neuen Bewegungen in der DDR gesprochen. Wir GRÜNEN haben diesen Kontakt über ein Jahrzehnt lang gehalten, wenn auch mit bescheidenen Kräften und oft diskriminiert. Die großen Parteien unterhielten sich dagegen lieber mit den Regierungen, die SPD mit der staatstragenden Partei. Als ich zum x-tenmal an der Grenze keine Einreisegenehmigung in die DDR erhielt, gab mir Egon Bahr den Rat: Wenn Sie Beziehungen zur DDR suchen, so müssen Sie zunächst die Kontakte mit den Initiativen einstellen; dann wird die SED Ihnen glauben, daß Sie mit ihr sprechen wollen.Wir haben das nicht gemacht, sondern dringend benötigte Fachliteratur und anderes herübergebracht und unsere Freunde besucht, die heute beim „Neuen Forum" , dem „Demokratischen Aufbruch", der „Neuen Linken" oder der „Grünen Partei" sind.Unsere Aufgaben hier: Die Aufgabe der Bundesbürger liegt im Westen. Wir bleiben nicht ungeschoren bei den Verwerfungen und Veränderungen in Europa, waren es doch alle Deutschen — nicht nur die im Osten —, die den letzten Krieg begonnen und verloren haben. Auch wir müssen etwas tun. Die Menschen strömen über die Grenze, stehen vor den Lagern oder vor unserer Haustür und begehren Einlaß. Auch das kann nur einer empfinden, der schon einmal geflüchtet ist.Wir GRÜNEN haben deutlich willkommen gesagt zu den Neuankömmlingen, aber hinzugefügt: Eure Freunde, eure Arbeitskollegen, eure Verwandten werden euch vermissen und ihr auch sie.Die Luft hier ist kälter, die Solidarität geringer, weil der allmächtige Staat als Gegner fehlt; die Herrschaftsinstrumente hier sind weicher und weniger sichtbar. Sie ermöglichen den einzelnen einen größeren Freiheitsspielraum und größeren materiellen Wohlstand.Trotzdem möchte ich auf Bitten mancher DDR-Bürger den noch unentschlossenen Ärzten und Krankenschwestern sagen: Laßt eure Patienten nicht im Stich!
Das ist nicht vom hohen Roß oder aus dem sicheren Lehnstuhl oder Bundestagssessel aus gesprochen, sondern einfach die Ausführung eines Wunsches, der mehrfach an mich herangetragen wurde: Hilf, daß nicht noch mehr Ärzte weglaufen.In der augenblicklichen Diskussion der Unterbringung der Übersiedler und Flüchtlinge gehen die Alternativen von Zelten, Kasernen, Hotels und Schnellfertigbauten hin und her. Die hiesigen Wohnungssuchenden und die Neuankömmlinge erwarten dringend eine Lösung, während gleichzeitig Naturschützer mit Sorge der weiteren Versiegelung und Überbauung der Landschaft entgegensehen. Wir sollten eines nicht tun, neuen Schund an Wohnungen hinstellen, sondern versuchen, bei dieser angespannten Versorgungslage etwas vom ökologischen Bauen zu verwirklichen. Der Bedarf ist da, und die Mittel dafür müssen freigemacht werden.
Wir haben die frohgemuten Übersiedler in den Fernsehschauen gesehen, aber auch erfahren, daß 61 000 Übersiedler bei uns arbeitslos sind. Das ist eine große Zahl. Ich kann nur an Unternehmer und Städte appellieren, hier etwas zu tun, Phantasie und Kreativität zu entwickeln, neue sinnvolle Arbeitsplätze zu schaffen. Aber wir einzelnen dürfen das nicht nur anderen überlassen. Ich weiß, wie schwer es ist, aus der Fülle der Geschäfte auszusteigen und uns Zeit zu nehmen für eine Familie oder einen oder eine einzelne, die in unserer Gemeinde aufgetaucht sind. Versucht, ein Stück zu helfen, neue Brücken zu bauen! Aus eigener Erfahrung weiß ich, daß man oft mehr zurückbekommt — nicht im materiellen Sinne — , als man selbst gegeben hat.Ein anderes Thema wurde bisher nur angerissen: die Frage der Abrüstung. Wir müssen dies anschneiden, denn das ist eng mit dem Geschehen im Osten verknüpft: die Abrüstung, die Reduzierung unserer Bundeswehr, die Erleichterung des Zivildienstes und die Gleichbehandlung von Soldaten und Zivildienstleistenden. Im gegenwärtigen Zustand hat die Bedrohung abgenommen, und wir sollten die Folgerungen daraus ziehen.Die Hunderttausende, die in den letzten Tagen auf den Straßen von Leipzig, Dresden, Plauen, Gera und Erfurt demonstrierten, wären im Falle eines Krieges Opfer atomarer Stoppschläge gegen feindliche Angriffsarmeen geworden und umgekehrt natürlich auch wir. Das muß man sich noch einmal vergegenwärtigen: Unsere Stabschefs hätten die jungen Männer, die heute als Flüchtlinge herüberkommen oder mutig demonstrieren, als Mitglieder der Volksarmee
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13048 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989
Dr. Knabekaltblütig geopfert, vielleicht auch Skrupel dabei gehabt, aber eben doch auf den entscheidenden Knopf gedrückt. Das geht jetzt nicht mehr. Politiker gaben den Soldaten diesen Verteidigungsauftrag, Politiker haben das neu zu bedenken. Abrüstung ist das mindeste, was wir in der Bundesrepublik für ein Gelingen der Demokratisierung in der DDR und Osteuropas tun können.
Noch ein Wort zu dem europäischen Haus. Uns allen ist der Wunsch sehr nahe, daß dieses Haus Wirklichkeit werden soll. Wir hoffen, daß die Völker ganz Europas friedlich zusammenleben können, so friedlich, wie es Franzosen und Deutsche heute tun. Wir sind froh, daß Erzfeindschaften zwischen Franzosen und Deutschen vergessen und vorbei sind. Wir wünschen, daß das Verhältnis mit Polen genauso wird, mit den Völkern der Sowjetunion, mit Ungarn, mit denen uns viele kulturelle und andere Bande verbinden, denen wir auch für das dankbar sind, was sie unseren deutschen Landsleuten getan haben, aber auch mit Rumänien, das heute noch unter einer staatspolitischen, stalinistischen Fuchtel steht, daß auch die Rumänen teilhaben können, die Bulgaren und Balten, daß alle diese Völker in dem Haus zusammenleben können. Das braucht — das hatte ich vorhin anzudeuten versucht — von unserer Seite ein ganz klares Bekenntnis zur Abrüstung, eine Unterstützung der Reform und nicht ein Hoffen darauf, daß das vielleicht scheitern könnte.Hier hat Herr Außenminister Genscher manches Positive getan und gesagt. Wir unterstützen das. Wir wollen, daß dieses Haus entsteht, und wir wollen, daß die Deutschen in der Bundesrepublik und die Deutschen in der DDR ihren gemeinsamen Beitrag leisten. In welcher Form, das werden die einzelnen Gruppen und Menschen entscheiden müssen. Wir sind heute nicht dazu da, diese Form festzulegen. Wir wollen, daß etwas Positives für den Frieden, für dieses europäische Haus geschieht.
Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Niemals zuvor hat die Aussprache zur Lage der Nation in einer Zeit solcher Dramatik und solcher historischen Perspektive stattgefunden wie in diesem Jahr 1989. Unsere Gedanken, unsere Wünsche und unsere Solidarität sind bei unseren deutschen Mitbürgern in der DDR. Die Menschen in Mittel- und Osteuropa gestalten europäische Freiheitsgeschichte. Die Deutschen in der DDR haben dabei eine entscheidende Rolle übernommen. Das ehrt unsere ganze Nation.
In der Bundesrepublik Deutschland haben die Deutschen bei der Gestaltung unserer freiheitlichenDemokratie ihren Freiheitswillen und ihre Demokratiefähigkeit unter Beweis gestellt.
Das friedliche Ringen um Freiheit, um Menschenrechte und um Demokratisierung in der DDR bezeugt den Freiheitswillen und die Demokratiefähigkeit der Menschen dort. Die Umstände, unter denen unsere Mitbürger dort handeln müssen, und die Würde und die Besonnenheit, mit der sie es tun, machen dieses Freiheitszeugnis nur noch eindrucksvoller.Mit dem Wort „Stolz" ist in unserer Geschichte oft Schindluder getrieben worden. Beim Blick auf das, was in der DDR geschieht, ist es angebracht.
„Wir sind das Volk! " — das ist ein stolzes Bürgerwort. Wann je hat es nach dem Zweiten Weltkrieg eine Zeit gegeben, die die Deutschen in West und Ost so bewegt hat wie diese? Arbeiter und Ingenieure, Bauern, Akademiker, Intellektuelle, Christen und Atheisten, Menschen aller Altersgruppen — die jungen Menschen zu allererst — setzen das Schicksal der Deutschen auf die Tagesordnung der internationalen Politik. Ich bekenne freimütig, daß es mich mit Stolz erfüllt, daß in meiner Heimat Menschen dabei sind, wenn es um Freiheit, Demokratie und Menschenrechte in Europa geht.Was eindrucksvoll am 8. und 9. Oktober in Leipzig begann, was sich an vielen Orten wiederholte, was am 4. November in Berlin geschah und was sich nun täglich fortsetzt, bezeugt: Der Teil unserer Nation, der seit 1945 die schwerere Last unserer Geschichte zu tragen hat, ist von dieser Last nicht erdrückt worden.
Der Freiheitswille der Deutschen in der DDR ist ungebrochen und stark. Sie wissen, was die Freiheit bedeutet, für die sie streiten. Freiheit muß wahrlich niemand lernen. Freiheitswille als Ausdruck unveräußerlicher Menschenwürde kann lange Zeit unterdrückt, aber er kann den Menschen nicht genommen werden.In diesen Tagen erweist sich, was uns als Nation verbindet: Das ist die gemeinsame Geschichte, die gemeinsame Sprache, die gemeinsame Kultur, die gemeinsame Verantwortung, aber ist genauso der Wille zur Freiheit, Demokratie und Menschenrechten.40 Jahre der Trennung haben aus dem einen Europa nicht zwei und aus der einen deutschen Nation nicht zwei gemacht.
Es gibt weder eine kapitalistische noch eine sozialistische deutsche Nation. Nationen gründen sich nichtauf Ideologien. Die Deutschen in der DDR schreiben
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989 13049
Bundesminister Genscherein neues Kapitel deutscher und europäischer Geschichte.
Nach dem, was jetzt in der DDR geschieht, wird nichts mehr so sein, wie es vorher war: nicht dort, auch nicht bei uns und nirgendwo in Europa. Wer das auf unserer Seite verkennt, könnte sehr schnell — wenn auch in anderer Weise — in Gegensatz geraten zu der Entwicklung in Europa, wie das der DDR-Führung geschehen ist.Dieses neue Kapitel europäischer Freiheitsgeschichte wird genauso gestaltet in der Sowjetunion, in Polen, in Ungarn und — früher oder später — auch in den anderen Staaten des Warschauer Pakts. Es ist ein Prozeß europäischer Selbstbesinnung. Kein Land und keine Führung werden sich dieser unumkehrbaren Entwicklung entziehen können.Unsere Verantwortung wird es sein, daß wir dieser historischen Entwicklung gerecht werden, daß wir dieselbe Reife wie die Menschen in Berlin, Leipzig und Halle zeigen, die nach Freiheit und nach freien und gerechten Wahlen rufen. Der Respekt vor dem Freiheitswillen der Deutschen der DDR gebietet es, daß wir nicht vorwegnehmen, was sie wollen, wie sie es wollen und wann sie es wollen.
Wir wollen die eine Bevormundung nicht durch eine andere ersetzen.
Aber es ist unsere Verantwortung, daß wir als Unterzeichnerstaat der Schlußakte von Helsinki mit allen Möglichkeiten, die wir haben, dafür sorgen, daß die Menschen in der DDR ihren Willen frei äußern und zur Geltung bringen können.
Sie allein haben zu entscheiden, wie ihre politische, ihre gesellschaftliche und ihre soziale Ordnung in Zukunft auszusehen hat. Sie allein haben die Tagesordnung ihrer Entscheidungen zu bestimmen. Sie allein haben auch zu entscheiden, wie sie ihr Verhältnis zu uns bestimmen werden, und auch darüber, wie und wo sie ihren Platz im gemeinsamen Haus Europa einzunehmen haben.Wir haben die Verantwortung, daß wir ihnen den Weg zu uns offenhalten und nicht versperren. Das schließt sowohl eine Änderung der Staatsbürgerschaft wie eine Streichung der Präambel unseres Grundgesetzes aus.
Die Präambel unseres Grundgesetzes in ihrer nationalen und europäischen Friedensverantwortung ist Verpflichtung für uns, und sie ist ein Angebot an die Deutschen in der DDR.Den gleichen Respekt zollen wir der freien Entscheidung derjenigen, die für immer zu uns kommenwollen. Das ist gewiß keine leichte Entscheidung, und die materiellen Gründe stehen bestimmt nicht obenan. Wir tun nichts, um die Deutschen in der DDR zu ermutigen, ihre Heimat zu verlassen. Aber wir werden das Tor nicht schließen.
Nein, Frau Kollegin Vollmer, vielleicht darf ich Sie als die klügste Abgeordnete der GRÜNEN anreden und auf eine Intervention sagen, die Sie vorhin gemacht haben: Der Herr Kollege Seiters und ich sind nicht nach Prag gegangen, um dort eine Geste zu machen. Wir sind nach Prag gegangen, um die Menschen, die dort in der Botschaft waren, die jedes Vertrauen in den Staat verloren hatten, den sie verlassen hatten, davon zu überzeugen, daß sie auf dem Weg zu uns noch einmal durch das Territorium der DDR fahren mußten. Für ihre Sicherheit haben wir unsere persönliche Garantie gegeben. Das war der Anlaß unserer Anwesenheit.
Frau Vollmer, ich möchte ohne Unterbrechung sprechen.Meine Damen und Herren, wir appellieren an die Führung der DDR, den ersten Schritten grundlegende Reformen folgen zu lassen, die den Erwartungen der Menschen in der DDR entsprechen. Möge die Führung der DDR, die in diesen Stunden vor schwerwiegenden Entscheidungen steht, die Einsicht und die Kraft finden, das zu tun, was die Bürger so eindrucksvoll fordern. Das ist mehr als die Reise-, und es ist mehr als die Ausreisefreiheit. Es ist die Freiheit, die es allen möglich machen soll, dort zu bleiben, und zwar gerne. Die Beseitigung von Mauer und Stacheldraht wird außer der Abhaltung freier Wahlen der Glaubwürdigkeitstest sein. Auch in diesem Sinne ist Freiheit unteilbar.Die Führung der DDR trägt in diesen Tagen eine schwere Verantwortung. Es ist unser aufrichtiger Wunsch, daß sie dieser Verantwortung gerecht werden möge. Unsere Bereitschaft zu Dialog und Zusammenarbeit mit allen politischen Kräften in der DDR und der Respekt vor der unabhängigen Entscheidung der Deutschen dort sind Ausdruck unserer Verantwortung. Auch in der Führung der DDR hat die Einsicht an Boden gewonnen, daß nicht Abwerbungen aus dem Westen, sondern die Bevormundung mündiger Bürger und das Fehlen von Perspektiven die Ursachen für den massenhaften Auszug sind. Die Ursachen liegen allein in der DDR; nur dort können sie beseitigt werden.Wir wollen nicht destabilisieren; aber Reformverweigerung kann zu Instabilität führen. Unsere Sympathie für den Freiheitswillen unserer Mitbürger ist alles andere als Einmischung.Wir dürfen keine Zweifel daran aufkommen lassen, daß das Wort von der Nation und ihrer Einheit keine Leerformel ist, das nur gilt, solange die DDR die Tür geschlossen hält. Auch angesichts großer Probleme sollte niemand den Eindruck erwecken, daß die For-
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13050 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989
Bundesminister Genscherderung nach Freizügigkeit nur so lange gegolten hat, solange die DDR die Freizügigkeit verweigerte.Die Einheit und die Solidarität der Nation — ob wir in zwei Staaten leben oder staatlich auch wieder zueinander finden — umfaßt die gemeinsame Verantwortung für die Vergangenheit, für die Gegenwart und für die Zukunft. In der Aufnahme der Deutschen aus der DDR bei uns muß sich diese Solidarität erweisen. Sie darf nicht nur in materiellen Leistungen bestehen. Sie muß auch in der menschlichen Zuwendung ihren Ausdruck finden.Diese Solidarität wird sich auch erweisen müssen, wenn sich — was hoffentlich recht bald geschieht — die DDR auf den Weg durchgreifender Reformen begibt. Hier müssen unseren Worten von gestern und heute die Taten von morgen folgen. Wir können und wollen Reformen nicht kaufen, aber wir werden der Solidarität der Nation nur gerecht, wenn wir den Erfolg wirklicher Reformen durch umfassende Zusammenarbeit erleichtern.
Wir wollen unseren Bürgern in der Bundesrepublik Deutschland schon heute sagen: Das wird von uns große . Leistungen erfordern. Diese Leistungen sind nicht Opfer, sie sind Investitionen in eine freiheitliche und friedliche Zukunft der Deutschen und der Europäer dort und hier.
Sie sind Ausdruck unserer europäischen und unserer nationalen Solidarität.Unsere Verbündeten und Partner im Westen genauso wie unsere Nachbarn im Osten stellen die Frage nach der Zukunft der Deutschen. Sie fragen, was die Deutschen wollen, was die deutsche Zukunft für sie bedeutet. Nach allem, was war, kann man eine solche Frage verstehen, ja, man muß sie verstehen.Es geht zuallererst um Freiheit und Frieden. Jede unserer Entscheidungen in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wurde auf dieser Grundlage getroffen: die Entscheidung für das Grundrecht, für die freiheitlichste Verfassung unserer Geschichte; die Entscheidung für die Bewahrung unserer Freiheit in Frieden durch den Beitritt zum Bündnis der westlichen Demokratien; die Entscheidung für ein Europa der Freiheit durch unsere Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft; die Entscheidung für die friedens- und freiheitsbildende Schlußakte von Helsinki, die das Kursbuch für Freiheit, Menschenrechte und Zusammenabeit in ganz Europa ist und die nur durch die Ostverträge möglich wurde.Kein anderes Volk mußte einen dieser Schritte, die wir in der Bundesrepublik Deutschland getan haben, fürchten. Und kein anderes Volk muß heute etwas fürchten, wenn die Deutschen der DDR die Freiheitsfrage stellen, wenn sie ihre Freiheit einfordern. Alle unsere Nachbarn sollten erkennen, daß von Deutschen in Freiheit noch nie eine Gefahr für sie ausgegangen ist.
Das wird gewiß auch dann nicht geschehen, wenn diese Freiheit die Deutschen zueinanderführt und dann auch das Trennende zwischen den Europäern überwindet.Wir danken Präsident Bush und Präsident Mitterrand für ihre klaren Worte zur deutschen Einheit. Das gilt auch für die herzlichen Worte, die mein französischer Kollege und Freund Dumas gestern im französischen Parlament gesprochen hat.Das Schicksal der deutschen Nation, eingebettet in ein Europa der Freiheit, ist für niemanden eine Gefahr. Anlaß zur Sorge wäre ein nationaler Alleingang. Er wäre nicht nur Anlaß zur Sorge für unsere Nachbarn, es wäre auch Anlaß zur Sorge für uns selbst.
Neutralistische Alleingänge wären ein Rückfall in die Vergangenheit. Sie würden neue Instabilitäten in Europa schaffen. Sie würden den Prozeß der West-OstAnnäherung ernsthaft gefährden. Sie würden damit auch den nationalen Interessen der Deutschen, die heute mit den europäischen Interessen identisch sind, schaden.Unser Standort in dieser Zeit des Wandels ist klar: Die Bundesrepublik Deutschland gehört zur westlichen Werte- und Staatengemeinschaft der europäischen und nordamerikanischen Demokratien als Gründungsmitglied und engagierter Baumeister der Europäischen Gemeinschaft, als engster Partner Frankreichs.Gerade in dieser dynamischen Phase der europäischen Politik ist es bedeutsam, sich Gewißheit über das Verhältnis unserer nationalen und unserer europäischen Interessen zu verschaffen. Diese Interessen sind identisch. Der folgenschwerste Fehler deutscher Politik würde es sein, die deutschen Interessen in einen Gegensatz zu unseren europäischen Interessen und zu unserer europäischen Friedenspolitik zu bringen, d. h. zu unserer Mitgliedschaft in der Europäische Gemeinschaft und zu unserer Politik der Zusammenarbeit mit den Staaten Mittel- und Osteuropas.Die Gleise für die Perspektiven, die wir heute erkennen, sind gelegt worden mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft; sie wurden gelegt mit der deutschen Vertragspolitik nach Osten und mit der Schlußakte von Helsinki. Wir stehen zu diesen Verträgen nach Buchstaben und Sinn ohne Wenn und ohne Aber. Das sind europäische Gleise; sie führen zusammen. Deshalb müssen sie gefestigt und verlängert werden. Wer diese Gleise verläßt, wird in einer Sackgasse, in der Isolierung der Deutschen enden.Der Beitrag, den wir Deutschen in dieser bewegenden Zeit leisten können, ist ganz gewiß nicht nur materieller Art. Der Beitrag liegt in unserer Entscheidung für Verantwortungspolitik an Stelle von Machtpolitik. Zusammen mit unseren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft und im westlichen Bündnis müssen wir stabile Rahmenbedingungen schaffen, in denen sich die Reformen in Mittel- und Osteuropa ohne Belastung von außen vollziehen können. Das bedeutet, wir müssen in der Europäischen Gemeinschaft konsequent weitergehen auf dem Weg zur europäischen Union. Die Faszination dieses Einigungsprozesses,
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989 13051
Bundesminister Genscherder ein Stück schon verwirklichter europäischer Friedensordnung bedeutet, ist Ermutigung für die Reformer östlich von uns, und sie ist die Hoffnung der Menschen dort.Diese Europäische Gemeinschaft muß für vielfältige Formen der Zusammenarbeit mit den Reformstaaten Mittel- und Osteuropas, die das wollen, offen sein. Das ist die gesamteuropäische Aufgabe und Verantwortung der Europäischen Gemeinschaft.Als Partner des Atlantischen Bündnisses mit den USA und Kanada müssen wir auf der Grundlage des Harmel-Berichts weiterarbeiten für das große Ziel einer europäischen Friedensordnung vom Atlantik bis zum Ural, an der die USA ebenso teilnehmen wie die Sowjetunion.Die Schlußakte von Helsinki ist die Kursbestimmung für den Weg und für die innere Ausgestaltung der europäischen Friedensordnung oder des gemeinsamen europäischen Hauses, von dem Gorbatschow spricht.Wir müssen entschlossen vorangehen bei der Abrüstung in allen Bereichen. Die Abrüstung muß mit der politischen Entwicklung Schritt halten. Je umfassender die Strukturen kooperativer Sicherheit, je geringer damit auch die militärischen Elemente des WestOst-Verhältnisses werden, um so weniger werden sicherheitspolitische Erwägungen die Reformentwicklung in Mittel- und Osteuropa bestimmen.Wir wissen sehr genau, welche Probleme und Schwierigkeiten der von Gorbatschow in Gang gesetzte Prozeß der Umgestaltung mit sich bringt. Die Sowjetunion und alle anderen Staaten des Warschauer Paktes sollen wissen: Wir, der Westen, werden nichts tun, um diese Lage für uns auszunutzen. Wir werden sie nicht ausnutzen, um uns einseitige Vorteile zu verschaffen. Wir wollen den Erfolg dieses Weges, der Gorbatschow heute schon zu einer Persönlichkeit von historischem Rang gemacht hat.
Wir wissen, daß mehr Freiheit und Demokratie östlich von uns auch mehr Sicherheit für uns bedeuten und daß sie den Weg zu einer dauerhaften und gerechten Friedensordnung öffnen.Die Geschichte wiederholt ihre Angebote nicht. Deshalb wollen wir durch umfassende Zusammenarbeit zum Erfolg dieser Reformen entschlossen beitragen. Wir Deutschen werden in dieser Zeit der großen Entwicklungen Kurs halten in unserer Politik. Wir sind uns dabei bewußt, daß das Bekenntnis zu Buchstaben und Geist der von uns geschlossenen Verträge, des Moskauer Vertrages, des Warschauer Vertrages, des Vertrages mit der ČSSR und des Grundlagenvertrages mit der DDR, unser wichtiger Beitrag zu diesen stabilen Rahmenbedingungen ist.Wir wissen, was das gerade im Blick auf das polnische Volk bedeutet. Es entspricht Buchstaben und Geist des Warschauer Vertrages, daß wir die Erfüllung der polnischen Erwartungen, in sicheren Grenzen leben zu können, nicht der DDR und auch nicht derAnwesenheit der Roten Armee in Mitteleuropa überlassen dürfen.
Daran Zweifel aufkommen zu lassen läßt uns nichts gewinnen. Aber es setzt vieles aufs Spiel.
Deshalb soll das polnische Volk, so wie es auch in der Entschließung der Koalition heißt, wissen, daß sein Recht, in sicheren Grenzen zu leben, von uns Deutschen weder jetzt noch in Zukunft durch Gebietsansprüche in Frage gestellt wird.
Bestand hat, was der Bundeskanzler und der damalige Staatsratsvorsitzende der DDR am 12. März 1985 erklärt haben: Die Unverletzlichkeit der Grenzen und die Achtung der territorialen Integrität und der Souveränität aller Staaten in Europa in ihren gegenwärtigen Grenzen sind eine grundlegende Bedingung für den Frieden. Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg, von deutschem Boden muß Frieden ausgehen.
Das ist die Verantwortung der Deutschen in West und Ost. Dieser Verantwortung müssen wir uns bewußt sein, wenn wir unser Schicksal hier in der Bundesrepublik Deutschland und drüben in der DDR gestalten.Die deutsch-sowjetische Erklärung vom 13. Juni dieses Jahres, die auf dem Moskauer Vertrag aufbaut, nennt Prinzipien und Ziele für eine friedliche Zukunft Europas. Meine Damen und Herren, nichts können wir erreichen ohne oder gar gegen unsere europäischen Nachbarn in West und Ost. Aber alles können wir erreichen mit Europa. Wir haben unser Schicksal untrennbar mit dem des ganzen Europas verbunden. Wir dürfen deshalb unsere Politik nicht enteuropäisieren. Es bleibt dabei: Europa ist unser Schicksal und ist unsere Chance. Es ist die einzige, die wir haben. Wir haben keine andere.Das bedeutet: Unsere Politik ist um so nationaler, je europäischer sie ist. Die Erfahrung der Geschichte lehrt: Nur als gute Europäer können wir auch gute Deutsche sein.
Herr Minister, habe ich vorhin richtig verstanden, daß Sie der Kollegin Dr. Vollmer eine Frage zugesagt haben?
Nein, ich hatte gebeten auf eine Frage verzichten zu dürfen. Ich hatte keine Frage zugelassen.
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13052 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989
Herr Minister, dann war es aber nicht sehr nett von Ihnen, die Abgeordnete am Mikrophon stehen zu lassen.
Dann bitte ich um Nachsicht, wenn ich mich mißverständlich ausgedrückt habe.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Ehmke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie die Debatte zeigt, halten uns die Reformprozesse in Osteuropa und die Demokratiebewegung in der DDR in Atem. Dieser grundlegende Wandel ist nicht zuletzt ein Resultat der Ostpolitik Willy Brandts und des Helsinki-Prozesses.
Es ist ganz offensichtlich: Gorbatschow ist zu einer Neuordnung der Verhältnisse in Europa bereit. Das eröffnet Europa und uns Deutschen eine große Chance. Um sie wahrzunehmen, brauchen wir Klarheit, weitmöglichste Einigkeit und politische Umsicht.
Ich freue mich daher, daß die heutige Debatte im wesentlichen von polemischen Tönen freigeblieben ist.
Die Bundesregierung hat ja auch die sozialliberale Entspannungspolitik, die Sie in der Opposition so verbiestert bekämpft haben,
in der Regierung im wesentlichen fortgesetzt. Wir Sozialdemokraten haben unser Versprechen wahrgemacht. Wir haben die Regierung, soweit sie das getan hat, politisch unterstützt.
Herr Bundesaußenminister, anders als die Kollegin Vollmer sind wir von dem Koalitionsantrag, den Sie heute zur Frage der polnischen Westgrenze eingebracht haben, eher positiv überrascht. Denn der Inhalt dieses Antrags ist eindeutig. In seinem ersten Teil — Seite 1, überlaufend auf Seite 2 — wird die juristische Bindungswirkung des Warschauer Vertrages für die Bundesrepublik dargestellt. In den zwei letzten Absätzen, die die Erklärung wiedergeben, die der Außenminister vor der UNO abgegeben hat, wird die politische Bindungswirkung für uns Deutsche in der Bundesrepublik dargestellt. Sie haben also unseren Antrag aufgenommen. Wir werden daher Ihrem Antrag in namentlicher Abstimmung zustimmen.
Wir freuen uns, daß einen Tag vor der mit vielen Unklarheiten versehenen Reise des Bundeskanzlersnach Warschau dieser Schritt vorwärts gemacht werden konnte. Er ist ein notwendiges Element der Aussöhnung zwischen unseren beiden Völkern.
Inzwischen besteht auch kein Streit mehr darüber, daß die Entspannungspolitik den Frieden in der Welt gestärkt hat.Aber lassen Sie mich auch ein Wort zu den ideologischen Fragen sagen: Ich erinnere mich noch daran, wie zu Beginn der sozialliberalen Koalition Franz Josef Strauß mir in einem ausführlichen Gespräch seine Sorgen darlegte, daß wir mit unserer Ostpolitik den Kommunismus ins Land holen könnten. Das war damals eine allgemeine Sorge der Konservativen. Ich habe ihm geantwortet, daß Demokraten nicht kleingläubig sein sollten und daß jedenfalls wir Sozialdemokraten davon überzeugt seien, daß das ideologische Risiko der Entspannungspolitik ganz und gar auf seiten des Kommunismus liege.
Franz Josef Strauß war offen genug, mir später, viele Jahre später, zuzugeben, daß wir jedenfalls in diesem Punkte recht behalten hätten.
Darum zeugt es nicht nur von einem kurzen Gedächtnis, sondern von einer bedenklichen Wahrnehmungsstörung, wenn wir heute aus den Reihen der Union hören, unsere Politik der kleinen Schritte und des Wandels durch Annäherung sei gescheitert. Wann hat denn je eine Politik in nur 20 Jahren in der Welt größeren Wandel herbeigeführt?
Die Grenzen in Europa sind heute offen. Der demokratische Sozialismus hat bei den Staatsparteien des Ostens seine Wirkung entfaltet. Er prägt die gesellschaftlichen Reformkräfte, die sich in der ersten Phase der Entspannungspolitik entwickeln konnten, entscheidend mit. Es wurde klar, daß der sogenannte Sozialismus in Osteuropa das schmückende Beiwort „real existierend" überhaupt nur erhalten hat, weil er kein Sozialismus ist.
Die Reformziele in den osteuropäischen Staaten zeigen heute: Der von den Stalinisten gefürchtete und beschimpfte „Sozialdemokratismus" ist im Zuge der Entspannungspolitik und des KSZE-Prozesses in Osteuropa voll ausgebrochen. Dies gilt nun auch und im besonderen Maße für die DDR; denn nicht nur die dort neu gegründete Sozialdemokratische Partei, sondern auch die anderen Reformgruppen, die schnell Zustimmung gewinnen, bewegen sich im Ideenkreis des demokratischen Sozialismus.Anders gesinnte politische Kräfte mögen sich um die bisherigen Blockparteien der Ost-CDU und der Ost-Liberalen sammeln, wenn diese Parteien einen konsequenten Demokratisierungsprozeß durchma-
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Dr. Ehmke
chen, worum sich die FDP, anders als die CDU, energisch bemüht.
Die Dramatik der Ereignisse in der DDR ist heute allen klar. Die Massenflucht aus der DDR, in der eine Fluchtwelle die andere nach sich zieht, droht die DDR politisch und ökonomisch zu unterspülen. Aber auch für uns stellt diese Fluchtwelle, auch wenn sie mittelfristig wirtschaftlich positive Effekte hat, unglaublich schwierige Integrationsaufgaben.Der Bundeskanzler hat daher recht: Die Frage des Zusammenlebens von uns Deutschen kann nicht allein auf dem Boden der Bundesrepublik und in Europa auch nicht allein von uns Deutschen beantwortet werden. Den Hauptbeitrag zur Vermeidung schwerer Gefahren muß die DDR selbst leisten. Sie muß Verhältnisse schaffen, in denen die Menschen neue Hoffnung schöpfen, für sich und ihre Kinder eine Lebensperspektive in der ihnen angestammten Heimat sehen können. Und — das sei dem in Ost-Berlin tagenden ZK der SED gesagt — : Die DDR hat zu einer grundlegenden Wende nur noch sehr wenig Zeit.
Wohin die Weichen gestellt werden müssen, das haben die Menschen in der DDR über alle Zweifel hinaus klargemacht: in Richtung auf Demokratie, und das heißt, in Richtung auf Abschaffung des Machtmonopols der SED und ihres Anspruchs, im Besitz der ewigen Wahrheit zu sein.Zu der Nüchternheit der Reformbewegung in der DDR gehört die Einsicht, daß sie für die Umwandlung des SED-Systems in eine Demokratie auf die Zusammenarbeit mit den Reformern im alten Partei- und Staatsapparat angewiesen ist. Das bestätigen ja auch die Erfahrungen in Polen und in Ungarn.Aber den Reformern in der SED sei noch einmal gesagt: Es reicht nicht aus, der Reformbewegung, die die Initiative übernommen hat, nachzulaufen. Sie müssen das Steuer herumreißen, und zwar jetzt. Sie müssen sich mit den Reformgruppen an einen Tisch setzen, um den Übergang zur Demokratie unter Bewahrung politischer Handlungsfähigkeit zu ermöglichen, hin zu freien Wahlen, die allein politische Legitimation geben können.
Das gilt nicht nur für das Politbüro und die DDR-Regierung, die gerade zurückgetreten sind.Mit den Freien Demokraten und mit vielen Kollegen der Union teilen wir Sozialdemokraten die Überzeugung, daß in der DDR jetzt nicht die Einheitsfrage, sondern die Freiheitsfrage auf der Tagesordnung steht.
Erst müssen die Bürgerinnen und Bürger der DDR ihr Selbstbestimmungsrecht erkämpft haben, bevor über die Frage des künftigen Zusammenlebens der Deutschen in einer europäischen Friedensordnung entschieden werden kann. Wir dürfen die Landsleute inder DDR in der Frage unseres zukünftigen Zusammenlebens weder bevormunden noch majorisieren.
Wenn sie einmal ihr Selbstbestimmungsrecht erlangt haben, dann müssen sie diese Frage für sich entscheiden, wie wir es dann auch für uns tun müssen.Diejenigen, verehrte Kollegen der Union, die jetzt die Platte der Wiedervereinigung drehen, erschweren diesen Reformprozeß doch nur. Für uns Deutsche kann es doch auch nicht darum gehen, etwas Vergangenes zu restaurieren. Es geht darum — und darin stimmen wir mit den Rednern der FDP völlig überein —, in und mit Europa etwas Neues zu bauen.Daß die Reformer in der DDR heute als erstes politische Demokratie fordern, obwohl doch auch die ökonomischen Gründe für den Zusammenbruch des Kommunismus auf der Hand liegen, ist jedenfalls für uns Sozialdemokraten kein Zufall. Denn auch für uns setzt die Demokratie den Rahmen für die Ordnung der Wirtschaft und der Unternehmen, und nicht etwa umgekehrt.
Deswegen ist der Wandel der Wirtschaftsordnung für die DDR nicht weniger wichtig. Denn nicht nur diejenigen, die weglaufen, auch diejenigen, die in der DDR bleiben, wollen nicht um die privaten und die gesellschaftlichen Früchte harter und qualifizierter Arbeit gebracht werden.
Daß die Reformkräfte in der DDR in den Wertanschauungen der Demokratie mit uns übereinstimmen, bedeutet nicht, daß sie unsere Wirtschaftsordnung unbesehen übernehmen wollen. Sie sind der Meinung, gerade an den demokratischen Wertmaßstäben des Westens gemessen, müsse es Lösungen geben, die besser sind als die kapitalistische Lösung. Sie verweisen dabei auf die großen Defizite auch westlicher Gesellschaften. Die Versuche, eine besser gemischte Wirtschaftsordnung zu entwerfen — von der Umsetzung noch gar nicht zu sprechen —, stehen bei den Reformkräften noch in den Anfängen. Was die Reformer im Apparat in den Schubladen haben, ob sie überhaupt etwas in den Schubladen haben, wird sich spätestens am runden Tisch zeigen.Ich stimme aber mit dem Kollegen Biedenkopf darin überein, daß diese Diskussion in der DDR auch für den Westen von nicht geringer Bedeutung ist. Denn auch wir verfügen nicht über Patentrezepte. Das gilt auch für die Frage, wie wir einen ökonomischen und ökologischen Umbau in der DDR unterstützen können. Mit „wir" meine ich nicht nur Regierung und Parlament, sondern vielleicht sogar in erster Linie die Wissenschaftler, die Unternehmer, die Gewerkschaftler und überhaupt alle gesellschaftlichen Kräfte in ihrem jeweiligen Bereich.Daß eine solche Politik von uns Westdeutschen Opfer verlangt, liegt auf der Hand. Aber wird es nicht unserem politischen Selbstverständnis dienen, wenn wir uns dieser großen nationalen und europäischen Aufgabe stellen? Und wird es unseren geistigen und politischen Blutkreislauf nicht eher fördern, wenn wir dabei etwas Speck verlieren?
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Die Hauptleistung muß allerdings auch insoweit von der DDR erbracht werden, von ihren Menschen, von ihrer Regierung. Das kann ganz einfach anfangen. Es muß z. B. Schluß sein mit dem Ausbürgerungs-Unsinn. Wenn dort jeder gebraucht wird, wie sie jetzt alle drüben sagen, muß auch jedem das Recht gegeben werden, als vollwertiger Bürger in die DDR zurückzukehren, wenn er das will.
Wir nehmen keinen in Anspruch, der das nicht will. Wir halten niemanden fest.Damit bin ich bei den Übersiedlern. Wir heißen sie als Neubürger hier willkommen. Wir respektieren ihre persönliche Entscheidung auch dann, wenn wir der Meinung sind, daß sie gesellschaftlich drüben mehr gebraucht werden.Auch bei uns werden sie im übrigen die gesamtdeutschen Lasten mitzutragen haben. Aber das ist nicht das eigentliche Problem der Integration.Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, haben durch eine Politik der Zweidrittelgesellschaft die sozial schwächeren Schichten in unserem Land systematisch benachteiligt:
in der Sozialpolitik, in der Wohnungspolitik, in der Gesundheitspolitik, in der Hochschulpolitik. In diese bestehende soziale Not kommen nun Hunderttausende von Zuwanderern, die die Lage verschärfen.
Sie rümpfen die Nase darüber, wenn den Zuwanderern deshalb mancherorts mit Angst und mit einer Abwehrhaltung begegnet wird. Ich bin der Meinung, Sie sollten sich an die eigene Nase fassen; denn, meine Damen und Herren, die Last dieser Fluchtbewegung tragen bisher allein die Schichten unserer Gesellschaft, die Sie benachteiligt haben. Nur dort wird mit Über- und Aussiedlern um Arbeitsplätze, um Wohnungen, um Sozialleistungen konkurriert.
Die „oberen" zwei Drittel unserer Gesellschaft, einschließlich aller hier Anwesenden, erhalten im nächsten Jahr statt dessen durch die Steuerreform noch einmal ein ordentliches Stück Geld in die Tasche gesteckt.
Wir Sozialdemokraten sagen dagegen: Eine Lösung dieser Integrationsaufgabe ist ohne einen Solidarbeitrag der Besserverdienenden gar nicht möglich.
Es muß endlich Schluß sein mit der unsozialen Politik, die diese Koalition seit 1982 betrieben hat.
Lassen Sie mich zum Schluß ein Wort zu Europa sagen. Die Fluchtbewegungen, die wir heute erleben, sind nur Vorboten dessen, was passieren würde, wenn die Reformpolitik scheitern und Osteuropa im Chaos versinken würde. Wir leben in einem Kontinent. Nichts, was im Osten passiert, kann Westeuropa unberührt lassen. Bei der Unterstützung der Reformpolitik in Osteuropa geht es also nicht um milde Gaben, sondern um unsere eigenen Lebensinteressen. Die Unterstützung des Reformprozesses ist für ganz Europa eine politische Notwendigkeit. Darum darf die westliche Politik gegenüber der Entwicklung in Osteuropa einschließlich der DDR auch nicht auf uns Deutsche abgeschoben werden. Wir können aus nationaler Zusammengehörigkeit, aus Geschichte und Geographie einen besonderen Beitrag leisten. Wir können dabei aber den Westen und auch nur Westeuropa nicht vertreten. Darum müssen wir auch bei dieser Gelegenheit noch einmal sagen: Die Politik zur Aufhebung der Teilung Europas muß weiter vom ganzen Westen getragen werden.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Hoppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die brisante Aufbruchstimmung im anderen Teil Deutschlands ist es, die unsere Aussprache zur Lage der Nation so aktuell macht und ihr den Resonanzboden gibt, den wir jahrelang so nicht hatten. Aber Heiterkeit verbreitet, wer die Wiedergeburt des Sozialismus in der DDR feiert, während die Menschen dem Sozialismus in Massen den Rücken kehren.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wer die notwendigen Wirtschaftsreformen erreichen will, der muß die politischen Strukturen verändern.
Ein Pozsgay fehlt noch in der DDR.
Vor einem Monat haben sich die Machthaber in Ost-Berlin als sozialistische Musterknaben auf die Bühne gestellt, die kritischen Meinungsäußerungen wurden brutal unterdrückt. Das Maß war damit wirklich übervoll, und der Wille des Volkes hat jetzt viele Veränderungen in der DDR bewirkt, bis hin zum Rücktritt des Ministerrates und des Politbüros. Aber die DDR-Bürger werden auch Egon Krenz beim Wort nehmen, der nach seiner Begegnung mit Generalsekretär Gorbatschow zu Protokoll gab, die DDR werde die positiven Erfahrungen aus dem revolutionären Umbau der sowjetischen Gesellschaft für die Lösung neuer Aufgaben nutzen. Wie ernst es Krenz mit der Wende ist, wird aber an seinen künftigen Taten gemessen. Was wirklich zu tun ist, mahnt die Bevölkerung in der DDR mit nicht zu überbietender Klarheit und Deutlichkeit an.Der eingeleitete Dialog darf deshalb nicht als Rauchvorhang dafür dienen, den Monopolanspruch der SED auf Macht und Wahrheit zu festigen und den
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Hoppeweiteren Ausbau des Sozialismus marxistisch-leninistischer Prägung zu legitimieren. Die DDR-Führung wird das Vertrauen ihrer Bürger nur gewinnen, wenn sie die Erwartungen nicht noch einmal enttäuscht. Das bedeutet vor allem die Zulassung demokratischer Parteien und die Bereitschaft zu freien Wahlen. Nur grundlegende Reformen werden die Menschen in der DDR veranlassen, sich auch in ihrer Heimat zu engagieren. Die DDR-Führung muß endlich begreifen, warum die Menschen die DDR verlassen.Ich möchte aus einem der vielen Briefe zitieren, die ich erhalten habe. Darin steht: „Alle sind froh, der Enge, Trostlosigkeit und Perspektivlosigkeit entronnen zu sein; froh, für die Zukunft planen und schaffen zu können; froh, sich auf den nächsten Tag freuen zu können. " Meine Damen und Herren, in diesen Zeilen spiegelt sich die Freud- und Hoffnungslosigkeit wider, in der die DDR-Bürger über 40 Jahre leben mußten.Der Reformprozeß in der UdSSR, in Polen, in Ungarn gibt den Bürgern in der DDR den Mut und die Entschlossenheit, jetzt die selbstverständlichen Bürger- und Menschenrechte einzufordern. Sie wissen, daß die Sowjetunion solche Reformen nicht mehr verhindert, sondern sie sogar anmahnt, weil sie erkannt hat, daß auch in der DDR Reformen unumgänglich sind.Wenn nun allerdings Generalsekretär Krenz in Moskau über die Berliner Mauer sagt, sie stelle einen Schutzwall zwischen zwei Gesellschaftssystemen und Militärblöcken dar, läßt dies befürchten, daß auch die neuen Alten an überholten Klischeevorstellungen festhalten. Dies ist vielleicht auch der Grund dafür, daß die Bevölkerung den Namen Egon so buchstabiert: Er geht ooch noch.Meine Damen und Herren, wenn die von der Fluchtwelle geschockten Marxisten die Forderung der Massen nach demokratischem Pluralismus als bedrückend empfinden, dann könnten sie unter Umständen Nachhilfe bei Karl Marx nehmen, der in der Anleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie einmal so formulierte : „Man muß den wirklichen Druck noch drückender machen, indem man ihm das Bewußtsein des Druckes hinzufügt. — Man muß die versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen bringen, daß man ihnen die eigene Melodie vorspielt."Meine Damen und Herren, die Erörterung der Lage der Nation bedeutet immer auch Nachdenken über die langfristigen Perspektiven einer Überwindung der Teilung Deutschlands und Berlins. Wir Liberalen haben immer gesagt, daß die Lösung dieser Frage nur in einer europäischen Friedensordnung und im Einvernehmen mit unseren Nachbarn lösbar ist. Die Fortschritte auf dem Weg zu einer europäischen Friedensordnung sind unübersehbar. In einer solchen Friedensordnung werden die Deutschen in Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechts ihre Einheit wiedererlangen, weil die Teilung Deutschlands in Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik wider den Sinn der Geschichte ist.
Meine Damen und Herren, wir befinden uns in einer historischen Stunde der europäischen Nachkriegspolitik. Wir, die frei gewählten Vertreter des deutschen Volkes, sind aufgerufen, an dieser Neugestaltung Deutschlands und Europas mit allen verfügbaren Kräften mitzuwirken. Deshalb ist dies nicht die Zeit für kleinkarierte Streitereien und für ängstliches Beharren auf überkommenen Denkmodellen. Es ist die Zeit mutiger Entscheidungen im Osten, aber auch im Westen Deutschlands.Dem Deutschen Bundestag liegen heute zwei Entschließungsanträge vor. Der Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen sollte alle Anstrengungen unternehmen, dem Deutschen Bundestag auf der Basis unserer heutigen Aussprache und der hier anklingenden Gemeinsamkeit auch eine gemeinsame Entschließung vorzulegen.
Gehen wir dazu gemeinsam an die Arbeit!
Das Wort hat der Abgeordnete Gansel.
Ich habe hier einen Streit zwischen Geschäftsführern. Darf ich fragen, weil ich vorhin nicht im Amt war, ob es eine Vereinbarung zwischen den Geschäftsführern gegeben hat, die diese Rednerreihenfolge bestimmte und die ein früherer Präsident akzeptiert hat?
— Dann richte ich mich danach. Das Wort hat dann der Abgeordnete Reddemann.
Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! Die Angst des Herrn Kollegen Gansel, vor mir zu sprechen, nehme ich mit Vergnügen zur Kenntnis.Der Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen hat vor vier Jahren versucht, eine gemeinsame Entschließung der demokratischen Parteien in diesem Hause herbeizuführen. Wir sind damals daran gescheitert, Herr Kollege Vogel, daß Ihre Fraktion eine Grenzregelung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR in diese Entschließung einbauen wollte, die eine Verschärfung der Grenze, die eine Internationalisierung der Grenze vorgesehen hätte. Heute haben wir zwei Entwürfe vorliegen, von der Koalition auf der einen und der SPD auf der anderen Seite, und ich gebe zu, daß ich diesen Entwürfen mit größerer Freude entgegensehe als dem, der vor vier Jahren vorgelegt worden ist. Ich sage mit aller Deutlichkeit, Herr Kollege Hoppe: Ich hoffe, es wird uns wirklich gelingen, diesmal wieder eine gemeinsame Entschließung zu erarbeiten, und ich sage Ihnen die volle Unterstützung meiner Fraktion dafür zu.Ich gehe sogar noch ein Stück weiter und sage: Ich bedanke mich ausdrücklich für vieles, was der Herr Kollege Vogel als Vorsitzender seiner Fraktion heute zur Situation im geteilten Deutschland gesagt hat.
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ReddemannAber ich füge ebenso hinzu: Hätte der Herr Kollege Vogel dies alles vor ein paar Jahren schon gesagt,
dann wäre vieles von dem, was an Auseinandersetzungen im Deutschen Bundestag und in der deutschen Öffentlichkeit stattfand, nie passiert. Dann hätten wir eine Gemeinsamkeit der Demokraten gehabt.
Und hätten Sie, Herr Kollege Ehmke, sich nicht so lange an die marode SED-Führung geklammert, dann hätten die Herren Honecker, Krenz und wie sie alle heißen nicht so lange hoffen können, politisch überleben zu dürfen.
Wenn — das sage ich noch einmal mit Nachdruck — , der Herr Kollege Vogel, der gerade herausgegangen ist, heute morgen Unmut aus meiner Fraktion zu spüren bekommen hat, wenn ihm der Unmut entgegenschlug, dann war das wegen seines wirklich atemberaubenden Saltos in der Deutschlandpolitik. Ich habe selten einen Fraktions- und Parteivorsitzenden erlebt, der sich von Mai dieses Jahres bis heute in einer solchen Art gewendet hätte, daß ich den Begriff Wendehals nähme, wenn er nicht im Augenblick in der DDR anderweitig verbraucht wäre.
Ich sage dem Herrn Kollegen Vogel auch mit allem Nachdruck, er sollte, wenn er so blitzartig seine Vorstellungen wendet, wenigstens seinen Kollegen Bescheid sagen. Denn als der Bundeskanzler heute morgen freie Wahlen forderte, rief jemand in der fünften Reihe von hinten — ich kannte den Herrn leider nicht — laut und deutlich: „Stahlhelm!" Er hat das nicht wieder gerufen, als der Herr Kollege Vogel die gleiche Forderung erhoben hat. Aber ich meine, es trüge sicher zur Streitkultur — diesen Begriff haben Sie ja so gerne — bei, wenn Ihre Partei wenigstens vor der Sitzung wüßte, was der Parteivorsitzende während der Sitzung verkünden will.
Ich nehme Ihnen das alles nicht übel; ich nehme es vielmehr nur zur Kenntnis, weil es sozusagen handelsüblich ist. Aber was ich Ihnen übelgenommen habe — das möchte ich hier auch deutlich sagen — , war der Versuch, die Protestbewegungen in der DDR parteipolitisch zu mißbrauchen.
Verehrter Herr Kollege Vogel, wenn Sie sich, weil in meiner Fraktion gelacht wurde, hier hinstellen und sagen, wir hätten über die Forderungen der Protestbewegungen gelacht, während wir in Wirklichkeit darüber gelacht haben, daß Sie in Ihrer Selbstherrlichkeit behaupteten, nun sei der demokratische Sozialismus in Osteuropa ausgebrochen, kann ich nur in aller Ruhe sagen: Dies ist ein Mißbrauch der vielen Menschen, die derzeit versuchen, aus der DDR einen demokratischen Staat zu machen.
Der Herr Kollege Vogel hat sich lange bei dem Begriff der Wiedervereinigung aufgehalten. Das fand ich durchaus akzeptabel. In einer Partei, deren ostpolitischer Vordenker Egon Bahr noch vor wenigen Wochen sagte, Wiedervereinigung sei Quatsch, und deren Ehrenvorsitzender in seinen jüngst erschienenen Memoiren geschrieben hat, Wiedervereinigung sei die Lebenslüge der Bundesrepublik Deutschland, ist es wirklich notwendig, darüber zu sprechen. Nur, meine verehrten Damen, meine Herren, Gott sei Dank gibt es in der SPD auch Menschen, die andere Meinungen haben. Ich glaube, zum erstenmal, seitdem ich mich mit Erhard Eppler auseinandersetze, muß ich ihm durchaus zustimmen, wenn er sagt, ob sich eine Wiedervereinigung Deutschlands, eine Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands vollziehe, werde letztlich von der Bevölkerung in der DDR abhängen. Dem kann ich hier nur zustimmen. Das entspricht völlig meiner Meinung.Ich muß hinzufügen: Ich bin durchaus auch dankbar dafür, daß im Entschließungsantrag der SPD wörtlich steht — ich zitiere — : „Von uns kann nicht vorweggenommen werden, für welche Formen des Zusammenlebens sich die Deutschen in der DDR bei der Wahrnehmung ihres Selbstbestimmungsrechts entscheiden werden. " — Dies ist seit Jahr und Tag unsere Auffassung. Nur, meine Damen, meine Herren, wenn Sie in allen Reden heute vormittag praktisch immer wieder betont haben, daß man drüben eigentlich gar keine Wiedervereinigung wolle und daß, wie Herr Gansel gestern Abend in einer Fernsehdiskussion sagte, die Wiedervereinigung eine Art von Bevormundung gegenüber den Menschen in der DDR sei, dann stelle ich mir doch die Frage: Wie ernst muß ich die Formulierung Ihres Resolutionsentwurfs denn nehmen? Denn eine Wiedervereinigung der Menschen in Deutschland kann doch wohl nur dann stattfinden, wenn beide Seiten zustimmen. Wenn Sie gegenüber den Bestrebungen im anderen Teil Deutschlands, die ebenfalls eine Wiedervereinigung wollen, bereits eine abwehrende Haltung einnehmen, dann stelle ich mir die Frage, wie dieser Satz Ihrer Erklärung Realität werden soll.Trotzdem — ich sage das noch einmal mit allem Nachdruck — sollten wir versuchen, eine Gemeinsamkeit zu schaffen, eine Gemeinsamkeit jedoch, die eben nicht jene Gemeinsamkeit in bezug auf frühere ostpolitische Erklärungen ist, bei denen man alles aus der Sache herauslesen kann, so wie der Herr Kollege Ehmke soeben versuchte, aus unserem Vorschlag, über den gleich abgestimmt wird, schon wieder etwas herauszulesen, was in dieser Erklärung nicht steht.Der Herr Kollege Vogel hat gesagt: Wir wollen das Votum der Menschen in der DDR akzeptieren. Ich stimme ihm noch einmal nachdrücklich zu. Ich halte dies für einen wichtigen Teil der Gemeinsamkeit in diesem Hause, und ich wäre dankbar, wenn wir im innerdeutschen Ausschuß eine gemeinsame Entschließung ausarbeiten könnten, in der gerade dies deutlich herausgestellt wird. Nur, meine verehrten
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ReddemannDamen und Herren von der SPD, ich bitte um Verständnis, wenn ich noch eine Frage dazu stelle, nämlich folgende Frage: Sie haben in Ihrem Entschließungsentwurf formuliert, die Wiedervereinigung Deutschlands könne nur dann erfolgen, wenn zugleich die Vereinigung Europas erfolge. Sie haben nicht gesagt, welche Art von Europa vereinigt werden soll.
— Aha! Sie haben also gesagt: Wir müssen warten, bis auch Herr Ceausescu in Rumänien so weit ist, daß er einem gemeinsamen Europa zustimmt. Denn sonst ist doch das, was Sie eben dazwischengerufen haben, Herr Kollege Voigt, überhaupt nicht erklärbar.Das heißt, ich habe die Sorge, daß Sie in der Tat die Wiedervereinigung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben wollen und daß Sie nicht die Absicht haben, die Wiedervereinigung jetzt in die konkreten Überlegungen einzubeziehen.Auch folgendes möchte ich eindeutig sagen: Für uns ist die Frage der Wiedervereinigung nicht das Primäre. Das Primäre ist die Möglichkeit der Menschen in der DDR, diese DDR in einen freien, in einen demokratischen Staat umzuwandeln, die Menschenrechte in dem Staat zu garantieren und auf diese Weise dazu beizutragen, ein weiteres Stück unserer Welt der Demokratie und den Menschenrechten näherzubringen.Ich füge hinzu: Wer die Realität in der DDR kennt, der weiß auch, daß der Freiheitsprozeß dort nicht so schnell und auf jeden Fall nicht in den nächsten Wochen und Monaten in eine Wiedervereinigung einmünden kann. Dies alles wissen wir. Wir haben erlebt, wie seit 1952 systematisch die Einheit Deutschlands durch die SED zerschlagen worden ist. Wir wissen, daß dort ein System entstanden ist, das man nicht von heute auf morgen mit unserem System zusammenbringen kann.Aber — damit möchte ich schließen — wir machen das Angebot an die Menschen in der DDR nicht halbherzig. Wir sagen nicht: Wir werden nur das akzeptieren, was uns Spaß macht. Vielmehr sagen wir: Wir werden das akzeptieren, was sie in freier Selbstbestimmung bei freien Wahlen für sich selber und für uns alle beschließen. Das sollte, meine ich, die Möglichkeit schaffen, daß wir zu einer Gemeinsamkeit auch in der Entschließung des Deutschen Bundestages kommen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gansel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bericht zur Lage der Nation. — Wir sind hier nicht einfach Berichterstatter, sondern wir sind Verantwortliche. Dieser Verantwortung werden wir vor der Geschichte und der Zukunft der Nation nur dann gerecht, wenn wir uns um Gemeinsamkeit bemühen.
Ich frage Sie alle, meine Damen und Herren, ich frage uns alle: Gibt es im Deutschen Bundestag die Chance zu der Gemeinsamkeit, die die Menschen der Bundesrepublik von uns erwarten und die den Hoffnungen und den Interessen der Menschen in der DDR entspricht? Gelingt es uns gemeinsam, auf die Bedingungen konstruktiv einzuwirken, unter denen sich in den Staaten des Warschauer Pakts die Chance der Freiheit eröffnet hat?Können wir gemeinsam im Bundestag und gemeinsam mit unseren Verbündeten im Westen und unseren Partnern im Osten die historische Chance nutzen, daß das erste Mal in der Nachkriegsgeschichte Europas der Frieden auf die freie Zustimmung der Menschen in West und Ost gegründet werden kann,
daß wir von Rüstung zu Rüstungskontrolle und zu Abrüstung kommen können, daß wir die drängenden ökologischen und ökonomischen Probleme im gemeinsamen Haus Europa auch gemeinsam lösen können?Können wir es gemeinsam schaffen, daß die Menschen, die aus der DDR, aus Osteuropa, aus der Sowjetunion zu uns gekommen sind, weil sie als Deutsche in der Bundesrepublik leben wollen, bei uns so aufgenommen werden, daß wir ihnen gerecht werden und nicht gegenüber denen ungerecht sind, die bei uns unter dem Mangel an Arbeitsplätzen und Wohnungen leiden?
Noch wichtiger: Schaffen wir es gemeinsam, dabei zu helfen, daß die, die noch zu uns kommen wollen, in ihrer gegenwärtigen Heimat eine Perspektive zum Bleiben erhalten?Ich meine, daß alle diese Fragen mit einem Ja beantwortet werden können. Der Versuch zur Gemeinsamkeit muß von uns unternommen werden, und im Namen der SPD-Fraktion hat unser Vorsitzender Ihnen dafür ein Angebot gemacht. Wir haben Ihnen in unserem Entschließungsantrag gemeinsame Arbeitsgruppen angeboten. Bei allem Streit, der in der Demokratie produktiv und deshalb notwendig ist: Es gibt für ein solches Angebot bereits einen Bestand an Gemeinsamkeit. Der Bundeskanzler hat aus der „Gemeinsamen Entschließung" aller Fraktionen des Bundestages vom 17. Mai 1972 zitiert, und vor einer Woche haben die Gremien meiner Partei erneut beschlossen: „Die Bürger der DDR müssen von ihrem Recht auf Selbstbestimmung Gebrauch machen können; wir werden ihre Entscheidung respektieren, wie immer sie ausfällt."
Auch Vertreter der Regierungskoalition haben erklärt, daß sich das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen auch dadurch verwirklichen kann, daß sich die Bürgerinnen und Bürger der DDR frei für einen eigenen Staat entscheiden. Wir werden diese Entscheidung so zu respektieren haben wie eine Entscheidung für die Vollendung der deutschen Einheit in einem Europa der Vereinigten Staaten oder für eine Wiederoder Neuvereinigung der beiden deutschen Staaten
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Ganselin welcher staatsrechtlichen Konstruktion auch immer.
Wie immer die Geschichte die deutsche Frage auch beantworten wird, wir haben heute das gemeinsame aktuelle Interesse, daß die DDR unter den gegebenen Bedingungen durch die Welle der Ausreisen in die Bundesrepublik nicht wirtschaftlich zusammenbricht und gewissermaßen ausblutet. Wir alle stimmen darin überein, daß die Vereinigung von Deutschen mit Deutschen (Ost) auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland nach einer jahrelangen Fluchtbewegung die schlechteste Form der Wiedervereinigung wäre.
Die Ereignisse der vergangenen Tage und Nächte, die dramatisch angestiegene Zahl von Ausreisenden und Übersiedlern haben bewiesen, daß die bisherigen Maßnahmen und Ankündigungen der in der DDR Verantwortlichen nicht ausreichen. Die Bürgerinnen und Bürger der DDR haben weder ein ausreichendes Vertrauen in die Unumkehrbarkeit des Demokratisierungsprozesses in der DDR, noch haben sie heute ausreichende Hoffnung darauf, daß sich ihr Lebensstandard in absehbarer Zeit fühlbar verbessern wird.Was können wir tun? Im Grundlagenvertrag, den wir ausgehandelt haben und den Sie auch einhalten wollen, haben sich die Bundesrepublik und die DDR verpflichtet, die Unabhängigkeit und Selbständigkeit jedes der beiden Staaten in seinen inneren und äußeren Angelegenheiten zu respektieren. Wir setzen die DDR nicht von außen unter Druck. Wir machen keine Politik auf ihrem Territorium. Aber wir bieten der DDR an, ihr mit allen unseren Möglichkeiten bei der Verbesserung der Lebensbedingungen und bei der Reform ihrer Wirtschaft zu helfen.
Dazu sind umfassende Vereinbarungen zwischen den Regierungen erforderlich. Die Bundesregierung braucht auf seiten der DDR eine Regierung, die ein zuverlässiger und berechenbarer Partner ist.
Das ist jetzt nur noch möglich, wenn sie sich auf freie Wahlen stützt.
Unser Angebot für eine wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der DDR, die eine neue Qualität haben muß, setzt darum auch eine neue Qualität der Vertretungsmacht, nämlich demokratische Legitimation auf der anderen Seite voraus. Es ist Aufgabe der DDR, dafür zu sorgen, daß noch 1990 freie und geheime Wahlen stattfinden können. Die SED muß ihr Machtmonopol, das in der Verfassung festgeschrieben ist, aufgeben. Die Zeit drängt, weil die Menschen drängen.
Es ist Aufgabe der Bundesrepublik, die Reisefreiheit für DDR-Bürger, die Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen und ökonomische Reformen in der DDR nach Kräften zu unterstützen. Es ist unsere Aufgabe, zu helfen — mit Taten, nicht mit Worten, nicht mit besserwisserischen Ratschlägen, sondern mit Geld und Devisen. Die Chance, daß Bürger der DDR in der DDR eine Perspektive zum Bleiben gewinnen, darf nicht an vordergründigen finanziellen Argumenten scheitern.
Wer dabei heute seine Hilfe versagt, versagt vor der dringlichsten und wichtigsten Aufgabe im wahrsten und besten Sinne nationaler Politik.Meine Damen und Herren, es ist gut, daß heute niemand versucht hat, für unsere gemeinsame Aufgabe Patentrezepte zu liefern. Also machen wir uns gemeinsam an die Arbeit. Unser Angebot steht.Wir werden jetzt eine Abstimmung über einen Antrag zur polnischen Westgrenze, der durch die Vorgeschichte des Besuchs des Herrn Bundeskanzlers notwendig geworden ist, durchführen. Es ist ein langer Antrag. Entscheidend sind die Worte von der Unverletzlichkeit der Grenzen.
Entscheidend ist der Satz, den jeder in Polen und jeder in Europa hören muß: Das Rad der Geschichte wird nicht zurückgedreht werden, erst recht nicht durch einen Friedensvertrag.
Wir wollen mit unserer Abstimmung zeigen, daß sich die Bundesrepublik ihrer Verantwortung für Frieden und Sicherheit in Europa stellt. Der Bundestag kann bei der Abstimmung auch ein Zeichen dafür setzen, daß er sich gemeinsam bemüht, seinen Teil der Verantwortung zu tragen für Freiheit und Wohlfahrt, für soziale Gerechtigkeit und für Solidarität aller Deutschen.
In welcher staatlichen Form sich die Deutschen in Zukunft in freier Selbstbestimmung auch immer organisieren werden: Diese Verantwortung bestimmt die Lage der Nation.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Vor der Abstimmung gibt es noch zwei Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung. Ich kann Ihnen mitteilen, daß mir schriftliche Erklärungen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag auf Drucksache 11/5589, die zu Protokoll genommen werden, von dem Abgeordneten Sauer — zugleich für weitere 16 Mitglieder des Hauses — und von dem Abgeordneten Dr. Kappes vorliegen. *)*) Anlagen 2 und 3
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Vizepräsident WestphalJetzt hat zunächst nach § 31 der Geschäftsordnung der Abgeordnete Lippelt das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum Abstimmungsverhalten meiner Fraktion möchte ich erklären: Wir werden uns bei der Abstimmung über den Antrag der Regierungskoalition, der jetzt von der SPD unterstützt wird, der Stimme enthalten. Wir werden unseren eigenen Antrag aufrechterhalten.
Es ist ja nicht so, wie Herr Kollege Ehmke eben hier sagte, daß man in dem Antrag der Regierungskoalition von der Bindungswirkung des Warschauer Vertrags — diese wird gleich zu Beginn angesprochen — auf direktem Weg zu den sehr unterstützenswerten Passagen des Herrn Außenministers kommt, sondern dazwischen steht als Scharnier nach wie vor der Friedensvertragsvorbehalt. Wir haben eben gehört, welche Auswirkungen das vielleicht bei einzelnen Kollegen hat.
Wir haben heute wieder in zwei Reden aus der CDU erlebt, wie schnell aus einer noch mitgeschleppten formaljuristischen Hülse, aus einem noch mitgeschleppten Vorbehalt wieder ein mentaler Vorbehalt werden kann.
Genau das wollen wir nicht. Gerade diese Passage ist ja für Interpretationen offen. Sie ist damit auch für Rückfälle offen. Wir wollen keine Rückfälle, wir wollen keine Interpretationsrückfälle; wir wollen eindeutige Texte. Der Text ist uns in der Addition noch nicht eindeutig genug. Die Addition bringt vielleicht einen Schritt vorwärts, aber sie hält nicht von zwei Schritten rückwärts in entsprechenden Situationen frei.
Herr Abgeordneter, Sie müssen sich an den Inhalt einer Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung halten.
Herr Präsident, wenn ich das noch sagen darf: Wir hoffen, daß wir in der Zukunft vielleicht auch zu ganz eindeutigen Texten kommen. Unser Text ist eindeutig, dem stimmen wir zu. Bei der Abstimmung über Ihren Antrag enthalten wir uns der Stimme.
Das Wort zu einer Erklärung zur Abstimmung nach § 31 hat der Abgeordnete Jahn .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen auf Drucksache 11/5589 endet mit den folgenden Sätzen:
Für die Bundesrepublik Deutschland gilt:
Das polnische Volk ist vor 50 Jahren das erste Opfer des von Hitler-Deutschland vom Zaune gebrochenen Krieges geworden. Es soll wissen, daß sein Recht, in sicheren Grenzen zu leben, von uns Deutschen weder jetzt noch in Zukunft durch Gebietsansprüche in Frage gestellt wird.
Das Rad der Geschichte wird nicht zurückgedreht. Wir wollen mit Polen für ein besseres Europa der Zukunft arbeiten. Die Unverletzlichkeit der Grenzen ist Grundlage des friedlichen Zusammenlebens in Europa.
Mit diesen Sätzen entspricht der Antrag der Koalition in vollem Umfang unserem eigenen Antrag. Wir werden ihm deshalb zustimmen.
Wir bedauern, daß sich die Fraktion der GRÜNEN bei dieser Abstimmung der Stimme enthalten wird und damit nicht an einer einhelligen Aussage teilhat, die dem Deutschen Bundestag gerade in dieser Frage und am heutigen Tage gut anstünde.
Zur Frage, auf die es ankommt, nämlich zur Grenzfrage, hat demgegenüber der eigene Antrag der GRÜNEN keine Funktion. Wir werden uns deshalb bei der Abstimmung über diesen Antrag der Stimme enthalten.
Meine Damen und Herren, zunächst ist mir von dem Abgeordneten Sauer mitgeteilt worden, daß es nicht 16, sondern inzwischen mit ihm zusammen 26 Mitglieder sind, die eine schriftliche Erklärung abgegeben haben, die sich mit dem Thema befaßt, das gerade eben auch in den Erläuterungen der beiden Redner nach § 31 eine Bedeutung gehabt hat. *)Wir kommen nun zu den Abstimmungen. Ich möchte Ihnen zunächst sagen, worüber wir abzustimmen haben. Zur Erklärung der Bundesregierung zur Lage der Nation im geteilten Deutschland liegen fünf Entschließungsanträge vor, und zwar auf den Drucksachen 11/5586 und 11/5587 zwei Entschließungsanträge der Fraktion der SPD, auf den Drucksachen 11/5589 und 11/5590 zwei Entschließungsanträge der Fraktionen der CDU/CSU und FDP sowie auf Drucksache 11/5591 ein Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN. Bezüglich der Anträge auf den Drucksachen 11/5586, 11/5589 und 11/5591 ist namentliche Abstimmung verlangt. Wir werden zunächst zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 11/5589 kommen, dessen Absätze 6 und 7 mit dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/5586 wortgleich sind.Wir stimmen über diesen Entschließungsantrag insgesamt namentlich ab. Die Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/5586 wird also zurückgestellt, bis das Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entschließungsantrag auf Drucksache 11/5589 vorliegt. Das ist die Logik dieser Sache.Wir stimmen also zunächst über den Entschließungsantrag 11/5589 ab. Ich muß Ihnen mitteilen, daß uns heute nur drei Urnen hier vorn zur Verfügung*) Anlage 2
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13060 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989
Vizepräsident Westphalstehen, hinten keine. Das hat etwas mit Krankheiten bei unserem Personal zu tun.Ich eröffne die namentliche Abstimmung. Das Verfahren ist Ihnen bekannt.Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, anschließend hierzubleiben. Es folgen weitere namentliche Abstimmungen.Meine Damen und Herren, darf ich noch einmal um Ihre Aufmerksamkeit bitten: Hier vorne gibt es so etwas wie Stau. Diejenigen, die abgestimmt haben, werden gebeten, den Innenraum zu verlassen, damit die Kollegen nachrücken und abstimmen können. Dann geht das schneller.Meine Damen und Herren, ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? Dann bitte ich, der Möglichkeit des Abstimmens schnellstens nachzukommen.Kann ich jetzt davon ausgehen, daß alle von ihrem Recht auf Abstimmung Gebrauch gemacht haben? — Dann schließe ich diese Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. * )Meine Damen und Herren, sind Sie damit einverstanden, daß wir während der Auszählung einige weitere Abstimmungen vornehmen? — Ich sehe dazu keinen Widerspruch; dann wird so verfahren. Ich bitte, Platz zu nehmen; wir kommen zur Abstimmung.Wir kommen jetzt zum Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/5587. Diese soll an den Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Wir kommen jetzt zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 11/5590. Diese soll ebenfalls an den Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen überwiesen werden. Gibt es dazu andere, weitergehende Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist auch diese Überweisung beschlossen.Meine Damen und Herren, über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/5591 können wir erst nach Vorliegen des Ergebnisses der ersten namentlichen Abstimmung befinden. Da ich das noch nicht vorliegen habe, sind Sie sicher einverstanden, daß ich einen anderen Punkt vorziehe und dazu schon eine Reihe von Abstimmungen vornehme, die mit diesem Tagesordnungspunkt nichts zu tun haben, die aber ohne Aussprache sind. — Ich stelle Ihr Einvernehmen fest.Ich rufe also Tagesordnungspunkt 5 auf: Beratungen ohne Aussprachea) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Unterrichtung durch die BundesregierungZweiter Jahresbericht der Kommission überdie Durchführung der Richtlinie des Rates*) Ergebnis Seite 13061Büber Grenzwerte und Leitwerte der Luftqualität für Schwefeldioxid und Schwebestaub— Drucksachen 11/2266 Nr. 2.25, 11/4810 —Berichterstatter:Abgeordnete Schmidbauer Frau Dr. HartensteinDr. Knabeb) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinien 81/602/EWG und 88/146/EWG hinsichtlich des Verbots von bestimmten Stoffen mit hormonaler Wirkung und von Stoffen mit thyreostatischer Wirkung— Drucksachen 11/4534 Nr. 2.18, 11/5305 —Berichterstatterin: Abgeordnete Frau Walzc) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über aktive implantierbare elektromedizinische Geräte— Drucksachen 11/4161 Nr. 2.18, 11/5445 —Berichterstatter:Abgeordneter Dr. Becker
d) Beratung der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses
Übersicht 14 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht— Drucksache 11/5482 —Berichterstatter: Abgeordneter HelmrichEs handelt sich um die Beratung einer Reihe von Vorlagen ohne Aussprache, über die abgestimmt werden muß.Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 5 a, und zwar zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 11/4810. Wer für die Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltung? — Dann ist diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen worden.Wir stimmen nun über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit auf Drucksache 11/5305 — Tagesordnungspunkt 5 b — ab. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Auch diese Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989 13061
Vizepräsident WestphalWir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung auf Drucksache 11/5445; das ist Tagesordnungspunkt 5 c. Es geht um eine Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über aktive implantierbare elektromedizinische Geräte. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Auch diese Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen worden.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht — Übersicht 14 — auf Drucksache 11/5481; das ist Tagesordnungspunkt 5 d. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist bei Stimmenthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden.Ich muß die Sitzung für einen Moment unterbrechen, weil das Ergebnis der Abstimmung noch nicht vorliegt.
Meine Damen und Herren, wir setzen die kurz unterbrochene Sitzung fort.Der Präsident erlaubt sich eine Beurteilung der Lage, obwohl ihm das Ergebnis der Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP noch nicht vorliegt. Auf Grund der Tatsache, daß zwei große Fraktionen die Zustimmung zu dem Antrag vorher öffentlich kundgetan haben und die Zahl derjenigen, die diesen Antrag ablehnen, geringer ist — ich habe auf die ablehnenden Erklärungen hingewiesen, die mir vorgelegt worden sind — , weiß ich, wie die Mehrheit aussehen wird. — Da wird mir das Ergebnis schon gebracht, so daß ich keine weitere Übung zu machen brauche.
Meine Vermutung hat sich bestätigt. Das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 11/5589 zum Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland lautet: 437 Stimmen sind abgegeben worden. Es hat keine ungültigen Stimmen gegeben. Mit Ja haben 400 Abgeordnete abgestimmt, mit Nein 4. Es hat 33 Enthaltungen gegeben.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen 437; davonja: 400nein: 4enthalten: 33JaCDU/CSUAustermannBauer BayhaDr. Becker BiehleDr. BlankDr. Blens Dr. Blüm Dr. Bötsch BohlBohlsen Borchert BreuerCarstens
Carstensen
ClemensDr. Daniels DawekeFrau DempwolfDeresDörflinger DossDr. DreggerEchternachEhrbarEigenDr. FaltlhauserFeilckeDr. Fell FellnerFrau FischerFischer Francke (Hamburg)Dr. FriedmannDr. FriedrichFuchtelGanz
Frau GeigerDr. von Geldern GersteinGerster
GlosDr. GöhnerDr. Götz GröblDr. Grünewald GüntherDr. Häfele Harries HaungsHauser Hauser (Krefeld) HedrichDr. HennigHerkenrathHinrichs Hinsken Höpfinger Dr. HoffackerFrau Hoffmann Dr. HornhuesFrau Hürland-Büning Graf HuynJägerDr. Jahn
Dr. JenningerDr. Jobst Jung
KalbKalischFrau KarwatzkiKiechle KittelmannKlein
Dr. Köhler Dr. KohlKolbKossendeyKrausKreyKroll-SchlüterDr. KronenbergDr. Kunz LamersDr. LammertDr. LangnerLattmann Dr. Laufs Lenzer Frau LimbachLink
Dr. Lippold LouvenLummer MaaßFrau MännleMaginDr. MahloDr. Meyer zu Bentrup MichelsDr. MöllerDr. MüllerMüller Müller (Wesseling)NelleNeumann
Dr. Olderog OswaldPeschPetersenPfeffermann PfeiferDr. PfennigDr. PingerDr. Pohlmeier Dr. ProbstRauenRaweReddemann Regenspurger RepnikDr. Riedl
Dr. RiesenhuberFrau Rönsch Frau Roitzsch (Quickborn) Dr. RoseFrau Rost Roth (Gießen) RüheDr. Rüttgers RufSauer Sauer (Stuttgart) Sauter (Epfendorf)Frau Schätzle Dr. Schäuble Scharrenbroich Schartz SchemkenSchmidbauerFrau Schmidt Schmitz (Baesweiler)von SchmudeDr. Schneider Freiherr von Schorlemer SchreiberDr. Schroeder SchulhoffDr. Schulte
Schwarz
Dr. Schwarz-SchillingDr. Schwörer SeehoferSeesingSeitersSpilkerDr. SprungDr. Stavenhagen Dr. SterckenDr. Stoltenberg StraßmeirStrubeFrau Dr. SüssmuthSussetDr. Todenhöfer Dr. UelhoffUldallDr. UnlandFrau VerhülsdonkVogel
Vogt
Dr. Voigt
Dr. VossDr. WaffenschmidtDr. WaigelGraf von Waldburg-Zeil WeirichWerner Frau Will-Feld Frau Dr. Wilms
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13062 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989
Vizepräsident WestphalWilzWimmer WindelenFrau Dr. Wisniewski WissmannDr. WittmannWürzbach Dr. Wulff Zeitlmann Dr. ZimmermannZinkSPDFrau Adler AmlingAndresBahrBambergBecker
Frau Becker-Inglau BernrathBindigDr. Böhme Börnsen (Ritterhude) BrückBüchler
Dr. von BülowFrau BulmahnBuschfort CatenhusenFrau ConradConradiFrau Dr. Däubler-Gmelin DaubertshäuserDr. Diederich DillerDreßlerDuveEgertDr. Ehmke
Dr. EhrenbergDr. EmmerlichErlerEstersEwenFrau FaßeFischer
Frau Fuchs
Frau Fuchs
Frau GanseforthGanselDr. Gautier Gerster
GilgesFrau Dr. GötteGrafGroßmann GrunenbergDr. Haack Haack
HaarFrau HämmerleFrau Dr. Hartenstein HasenfratzDr. HauchlerHeimann HeistermannHeyennHiller
Dr. Holtz HornHuonkerJahn
Jaunich Dr. JensJung Jungmann (Wittmoldt) Frau KastnerKastning KiehmKirschner Kißlinger KloseKolbowKoltzschKoschnick Kretkowski Dr. Kübler Kuhlwein Lambinus Leidinger Lennartz Leonhart Lohmann
LutzFrau Matthäus-MaierDr. Mertens MeyerMüller Müller (Pleisweiler) Müller (Schweinfurt) MünteferingNagelNehmFrau Dr. NiehuisDr. Niese Niggemeier Dr. NöbelFrau Odendahl Oesinghaus Oostergetelo OpelDr. Osswald PaternaPauliDr. Penner Peter
PfuhlPorznerPurpsRappe ReimannFrau Renger ReschkeReuterRixeRothSchäfer
Dr. Scheer ScherrerSchluckebierFrau Schmidt Schmidt (Salzgitter)Dr. SchöfbergerSchreinerSchröer
Frau Schulte SeidenthalFrau Seuster SielaffSieler
Frau Dr. Skarpelis-Sperk Dr. SoellFrau Dr. Sonntag-Wolgast Dr. SperlingStahl
Frau SteinhauerStobbeDr. Struck Frau Terborg TietjenUrbaniakDr. VogelVoigt
VosenWaltemathe WaltherWartenberg
Frau Dr. Wegner WeiermannFrau Weiler Weisskirchen Dr. WernitzWestphalFrau Weyel Dr. WieczorekWieczorek
Frau Wieczorek-Zeul WiefelspützWimmer WischnewskiWittichWürtzZanderZeitlerZumkleyFDPFrau Dr. Adam-Schwaetzer BaumBredehornCronenberg Eimer (Fürth)EngelhardDr. FeldmannFrau Folz-Steinacker FunkeGallusGattermann Genscher GriesGrünbeck GrünerFrau Dr. Hamm-Brücher Dr. HaussmannHeinrich Dr. HirschDr. Hitschler HoppeDr. Hoyer KohnDr.-Ing. LaermannDr. Graf LambsdorffLüderMischnick Möllemann Neuhausen NoltingRichterRindRonneburgerSchäfer
Frau Dr. SegallFrau Seiler-AlbringDr. Sohns Dr. Thomae TimmFrau WalzDr. Weng Wolfgramm (Göttingen) Frau WürfelZywietzDIE GRÜNENDr. MechtersheimerFraktionslos Frau UnruhNeinCDU/CSUDr. KappesDIE GRÜNENFrau Beer EichFrau FrießEnthaltenCDU/CSUDr. Abelein Dr. CzajaNiegelRossmanith ScheuDIE GRÜNENFrau Beck-Oberdorf BrauerDr. BriefsDr. Daniels Frau FlinnerFrau GarbeFrau Hensel Frau Hillerich HossHüserKleinert
Dr. KnabeFrau Kottwitz KreuzederDr. Lippelt Meneses VoglFrau Oesterle-Schwerin Frau SaiboldFrau Schilling Frau Schoppe StratmannSuchFrau Teubner Frau Vennegerts Frau Dr. Vollmer Weiss Frau Wilms-KegelFrau WollnyDamit ist der Antrag angenommen.
Damit ist auch dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/5586 entsprochen worden, der mit den Absätzen 6 und 7 des soeben angenommenen Entschließungsantrages auf Drucksache 11/5589 identisch ist.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989 13063
Vizepräsident Westphal— Ihm ist entsprochen worden; sie sind identisch.
Wir kommen deshalb nicht zu einer Abstimmung über den SPD-Antrag, sondern kommen nunmehr zur namentlichen Abstimmung fiber den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/5591. Das Verfahren ist Ihnen bekannt. Ich eröffne die namentliche AbstimmungMeine Damen und Herren, ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? — Heißt das, daß ich die Abstimmung schließen kann? — Es ist möglich, die Abstimmung jetzt zu schließen. Ich schließe sie und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. *)Meine Damen und Herren, mir liegt eine Wortmeldung des Abgeordneten Dr. Ehmke vor, der nach § 31 der Geschäftsordnung zur Abstimmung sprechen möchte. Ich bitte um Aufmerksamkeit.Bitte, Herr Ehmke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion hat dem Koalitionsantrag zur Westgrenze Polens, Drucksache 11/5589, zugestimmt, weil er unserem eigenen Antrag auf Drucksache 11/5586 entspricht. Wir haben inzwischen die Erklärung lesen können, die der Kollege Sauer nach Mitteilung des Präsidenten für 26 weitere CDU-Abgeordnete abgegeben hat. Darin heißt es unter anderem:
Es gibt kein völkerrechtlich wirksames Dokument zur Abtrennung von 108 000 Quadratkilometern von Deutschland... .
... Die Beachtung aller gemeinsamen eindeutigen Willensbekundungen verpflichtet uns, Gebietsansprüche an Polen, die über den weiterhin unveränderten Gebietsstand von 1937 hinausgehen, nicht zu erheben,
aber auch Polen, keine Grenzanerkennungsansprüche und Ansprüche auf Anerkennung von Gebietsübertragung vor friedensvertraglichen Verhandlungen uns gegenüber — zum Schaden Deutschlands — zu stellen.
Ich stelle fest, daß diese Erklärung der 26 Kollegen in direktem Widerspruch zu dem klaren Inhalt des Antrags steht, dem 400 Mitglieder dieses Hauses zugestimmt haben.
Herr Kollege Sauer, Sie haben sich gemeldet. Aber Sie müssen mir sagen, wozu. Es gibt jetzt keine Aussprache. Sie können natürlich nur eine Erklärung zu etwas abgeben. — Es ist keine Wortmeldung.
') Ergebnis Seite 13064 C
Dann liegt mir eine Wortmeldung von Herrn Dr. Haack vor. Sie haben das Wort nach § 31 der Geschäftsordnung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich erkläre, daß ich den Antrag der GRÜNEN abgelehnt habe, nicht wegen des Tenors, sondern wegen der Begründung, in der ich ein Zerrbild über die Situation in der Bundesrepublik Deutschland sehe.
Meine Damen und Herren, ich habe zu dem Tagesordnungspunkt, den wir gerade behandeln, nämlich zum Bericht zur Lage der Nation, noch einen nicht abgestimmten Antrag. Das müssen wir jetzt noch vollziehen. Es ist keine namentliche Abstimmung. Sind Sie einverstanden, daß wir jetzt, auch während der Auszählung der namentlichen Abstimmung über den Antrag der Fraktion der GRÜNEN, abstimmen? Es handelt sich um den Antrag zu Punkt 4 b der Tagesordnung.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag der Fraktion der GRÜNEN auf Drucksache 11/5275 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Kann ich darüber Einverständnis feststellen? — Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Jetzt habe ich keine weiteren Vorhaben zu diesem oder anderen Tagesordnungspunkten vor Beginn der Fragestunde. Wir haben das Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Antrag der Fraktion der GRÜNEN noch nicht. Sind Sie damit einverstanden, daß wir das im Rahmen der Fragestunde mitteilen und in unserer Arbeit fortfahren? — Ich sehe dazu keinen Widerspruch.
Dann rufe ich den Punkt 1 der Tagesordnung auf: Fragestunde
— Drucksache 11/5528 —
Es beginnt mit dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr. Die beiden Fragen 1 und 2 des Abg. Dr. Weng sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich komme deshalb zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Der Parlamentarische Staatssekretär Herr Grüner steht zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Ist der Abgeordnete Dr. Kübler im Saal? — Dann bitte ich den Staatssekretär auf die Frage 3 zu antworten:
Wird die Bundesregierung bei ihren Gesprächen mit der Autoindustrie zur Verringerung des Benzinverbrauchs feste Zielvorgaben für „Flottenverbrauchswerte" machen, und zwar sowohl zur Höhe des Benzinverbrauchs als auch zum Zeitpunkt der Einführung der entsprechenden Flottenverbrauchswerte, und wird die Bundesregierung dies ordnungspolitisch durchsetzen?
Bitte schön.
Herr Kollege Dr. Kübler, die Bundesregierung hat be-
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13064 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989
Parl. Staatssekretär Grünerschlossen, durch eine emissionsbezogene Kraftfahrzeugsteuer gezielte Anreize für die Entwicklung umweltfreundlicher Kraftfahrzeuge zu schaffen. Neben anderen Schadstoffen soll auch das klimarelevante CO2, das im Zusammenhang mit dem Kraftstoffverbrauch steht, in geeigneter Weise in die Bemessungsgrundlage der Kraftfahrzeugsteuer einbezogen werden. Darüber hinaus prüft die Bundesregierung weitere Maßnahmen zur Senkung der Flottenverbrauchswerte. Als Teil des zu entwickelnden Gesamtkonzeptes sind auch Gespräche mit der deutschen Automobilindustrie über eine Zusage zur Verringerung der Durchschnittsverbräuche aufgenommen worden. Eine gegenüber dem Bundeswirtschaftsministerium gegebene entsprechende freiwillige Zusage hat im Zeitraum von 1978 bis 1985 zu einer — nach Marktanteilen gewichteten — Absenkung des Kraftstoffverbrauchs der in der Bundesrepublik Deutschland hergestellten und abgesetzten Personenkraftwagen und Kombifahrzeuge um durchschnittlich 22,7 % geführt.
Herr Dr. Kübler, zu einer Zusatzfrage, bitte schön.
Herr Staatssekretär, ich habe den Eindruck, daß die Frage nicht vollständig beantwortet worden ist. Ich darf deshalb noch einmal präzisieren: Mir geht es um die Frage, ob die Bundesregierung insofern ein Konzept hat, als sie die Einbeziehung der Flottenverbrauchswerte der Linie nach ordnungspolitisch angehen will. Mich interessiert also, ob sie das ordnungspolitisch oder rein marktwirtschaftlich angehen will.
Grüner, Parl. Staatssekretär: Das ist in die von mir angekündigte Prüfung mit einbezogen. Es gibt kein abschließendes Ergebnis dieser Prüfung. Und deshalb läßt sich auch noch keine verbindliche Aussage machen, wie das Ergebnis dieser Prüfung sein wird, die wir, einmal natürlich im Gespräch mit der Automobilindustrie, zum anderen aber auch im Gespräch mit der Europäischen Gemeinschaft, werden durchführen müssen.
Bitte, zweite Frage.
Herr Staatssekretär, ich darf noch eine zweite Frage stellen: Sie sprachen selbst die EG-Problematik an: Wie weit sind Sie bei Ihren Überlegungen, ob gegebenenfalls auch ein nationales Vorgehen, was die Einführung von Flottenverbrauchswerten angeht, möglich ist?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Es ist sehr schwer vorauszusagen, ob das möglich wäre. Es liegt auf der Hand, daß etwa eine ordnungspolitisch abgesicherte Regelung des Flottenverbrauchs Marktzugangsbeschränkungen einschließen könnte. Ohne einer abschließenden Prüfung vorzugreifen, möchte ich sagen, daß ich meine, daß wir, wenn wir zu solchen Flottenverbrauchsregelungen mit ordnungsrechtlichem Charakter kämen, ein intensives Gespräch mit unseren europäischen Partnern darüber führen müßten.
Die Frage 4 des Abgeordneten Dr. Daniels soll schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Damit sind wir schon am Ende der Fragen aus diesem Geschäftsbereich.Ich unterbreche hier die Fragestunde, um das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/5591 zum Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland mitzuteilen:Es sind 432 Stimmen abgegeben worden. Es war keine ungültig. Mit Ja haben 39 Abgeordnete gestimmt, mit Nein 246, und es hat 147 Enthaltungen gegeben.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen 432; davonja: 39nein: 246enthalten: 147JaSPDFrau Bulmahn CatenhusenConradiFrau Fuchs HeimannMüller Frau Wieczorek-ZeulDIE GRÜNENFrau Beck-Oberdorf Frau BeerBrauerDr. BriefsDr. Daniels EichFrau Flinner Frau Frieß Frau Garbe Frau Hensel Frau HillerichHossHüserKleinert
Dr. Knabe Frau KottwitzKreuzederDr. Lippelt Dr. Mechtersheimer Meneses VoglFrau Oesterle-Schwerin Frau SaiboldFrau SchillingFrau SchoppeStratmann SuchFrau TeubnerFrau VennegertsFrau Dr. VollmerWeiss
Frau Wilms-KegelFrau WollnyNeinCDU/CSUDr. Abelein AustermannBauerBayhaDr. Becker
BiehleDr. Blank Dr. Blens Dr. Blüm Dr. Bötsch BohlBohlsen Borchert BreuerCarstens Carstensen (Nordstrand) ClemensDr. CzajaDr. Daniels
DawekeFrau DempwolfDeresDörflinger DossDr. DreggerEchternachEhrbarEigenDr. FaltlhauserFeilckeDr. Fell FellnerFrau FischerFischer
Francke
Dr. FriedmannDr. FriedrichFuchtelGanz
Frau GeigerDr. von GeldernGerstein Gerster
GlosDr. GöhnerDr. Götz GröblDr. GrünewaldGünther Dr. Häfele HarriesHaungsHauser
Hauser
HedrichDr. Hennig
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989 13065
Vizepräsident WestphalHerkenrath HinrichsHinskenHöpfingerDr. HoffackerFrau Hoffmann Dr. HornhuesFrau Hürland-BüningGraf Huyn JägerDr. Jahn
Dr. JenningerDr. JobstJung
KalbKalischDr. Kappes Frau KarwatzkiKiechleKittelmannKlein
Dr. Köhler KolbKossendey KrausKreyKroll-SchlüterDr. KronenbergDr. Kunz LamersDr. Lammert Dr. Langner LattmannDr. Laufs LenzerFrau LimbachLink
Dr. Lippold LouvenLummerMaaßFrau Männle MaginDr. MahloDr. Meyer zu Bentrup MichelsDr. Möller Dr. Müller Müller
Müller
NelleNeumann NiegelDr. Olderog OswaldPeschPetersen Pfeffermann PfeiferDr. Pfennig Dr. Pinger Dr. PohlmeierDr. Probst RauenRaweReddemann RegenspurgerRepnikDr. Riedl
Dr. RiesenhuberFrau Rönsch Frau Roitzsch (Quickborn) Dr. RoseRossmanithFrau Rost
Roth
RüheDr. Rüttgers RufSauer
Sauer
Sauter
Frau Schätzle Dr. Schäuble Scharrenbroich Schartz SchemkenScheuSchmidbauerFrau Schmidt Schmitz (Baesweiler)von SchmudeDr. Schneider Freiherr von Schorlemer SchreiberDr. Schroeder SchulhoffDr. Schulte SchwarzDr. Schwarz-SchillingDr. Schwörer SeehoferSeesingSeitersSpilkerDr. SprungDr. StavenhagenDr. Stercken Dr. Stoltenberg StraßmeirStrubeFrau Dr. SüssmuthSussetDr. Todenhöfer Dr. Uelhoff UldallDr. UnlandFrau VerhülsdonkVogel
Vogt
Dr. Voigt
Dr. VossDr. WaffenschmidtDr. WaigelGraf von Waldburg-Zeil WeirichWerner Frau Will-Feld Frau Dr. Wilms WilzWimmer
WindelenFrau Dr. Wisniewski WissmannDr. Wittmann WürzbachDr. WulffZeitlmannDr. ZimmermannZinkSPDDr. HaackNagelPorznerFrau Renger Frau Terborg TietjenDr. WernitzFDPFrau Dr. Adam-Schwaetzer BaumBredehornCronenberg Eimer (Fürth) EngelhardDr. FeldmannFrau Folz-SteinackerFunke Gallus GattermannGenscherGriesGrünbeckGrünerDr. HaussmannHeinrichDr. HirschDr. HitschlerHoppeDr. HoyerKohnDr.-Ing. LaermannDr. Graf Lambsdorff LüderMischnickMöllemannNeuhausenNolting Richter RindRonneburgerSchäfer
Frau Dr. SegallFrau Seiler-AlbringDr. SolmsDr. ThomaeTimmFrau WalzDr. Weng Wolfgramm (Göttingen) Frau WürfelZywietzEnthaltenSPDFrau AdlerAmling Andres BahrBambergBecker BemrathBindigDr. Böhme Börnsen (Ritterhude) BrückBüchler
Dr. von BülowBuschfortFrau ConradFrau Dr. Däubler-Gmelin DaubertshäuserDr. Diederich DillerDreßler Duve EgertDr. Ehmke
Dr. EhrenbergDr. EmmerlichErlerEsters Ewen Frau FaßeFischer
Frau Fuchs
Frau GanseforthGanselDr. GautierGerster
GilgesFrau Dr. GötteGrafGroßmannGrunenbergHaack
HaarFrau HämmerleFrau Dr. Hartenstein HasenfratzDr. HauchlerHeistermannHeyennHiller
Dr. Holtz HornHuonkerJahn
Jaunich Dr. Jens Jung
Jungmann
Frau KastnerKastning KiehmKirschner Kißlinger KloseKolbowKoltzsch Koschnick KretkowskiDr. Kübler Kuhlwein Lambinus Leidinger Lennartz Leonhart Lohmann
LutzFrau Matthäus-MaierDr. Mertens
MeyerMüller
Müller MünteferingNehmFrau Dr. NiehuisDr. Niese NiggemeierDr. NöbelFrau OdendahlOesinghausOostergeteloOpelDr. OsswaldPaterna PauliDr. Penner Peter
PfuhlPurpsRappe ReimannReschke ReuterRixeRothDr. Scheer Scherrer SchluckebierFrau Schmidt Schmidt (Salzgitter)Dr. SchöfbergerSchreinerFrau Schulte SeidenthalFrau SeusterSielaffSieler
Frau Dr. Skarpelis-SperkDr. SoellFrau Dr. Sonntag-Wolgast Dr. SperlingStahl
Frau SteinhauerStobbe
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13066 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989
Vizepräsident WestphalDr. Struck UrbaniakDr. VogelVoigt
VosenWaltemathe WaltherWartenberg Frau Dr. Wegner WeiermannFrau Weiler Weisskirchen WestphalFrau Weyel Wieczorek WiefelspützWimmer
WischnewskiWittich Würtz Zander Zeitler ZumkleyFDPFrau Dr. Hamm-BrücherFraktionslosFrau UnruhDer Antrag ist damit abgelehnt.Ich fahre nun in der Behandlung unseres Tagesordnungspunktes „Fragestunde " fort:Wegen entsprechender Wünsche der Abgeordneten nach schriftlicher Beantwortung brauche ich nicht aufzurufen: den Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau — Frage 5 des Abgeordneten Dr. Daniels — , den Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung und Technologie — Frage 6 der Abgeordneten Frau Walz —, den Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz — Frage 7 des Abgeordneten Stiegler — und den Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft — Frage 8 des Abgeordneten Dr. Jens. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Wir kommen also zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit. Herr Parlamentarischer Staatssekretär Pfeifer steht zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.Frau Würfel, Sie haben schriftliche Beantwortung der Frage 10 gefordert, und Sie bleiben dabei?
— Wir nehmen das zur Kenntnis.Die Frage wird schriftlich beantwortet und die Antwort als Anlage abgedruckt.Ich rufe die Frage 11 von Herrn Kirschner auf:Welche konkreten Auswirkungen wird der Gemeinsame Europäische Markt ab 1993 auf dem Arzneimittelsektor nach Auffassung der Bundesregierung mit sich bringen?Bitte schön, Herr Staatssekretär, zur Antwort.
Herr Präsident! Herr Kollege Kirschner, eine wichtige Voraussetzung für das Funktionieren des gemeinsamen europäischen Binnenmarktes auf dem Arzneimittelsektor ist die Vereinheitlichung der Arzneimittelzulassung. Die Vorbereitungen hierfür sind im Gange. Zwar ist die Rechtsvereinheitlichung für den Arzneimittelverkehr auch im Zulassungsbereich weitgehend vollzogen, es existiert jedoch noch kein Regelungssystem, das die nationale Zulassungsentscheidung für Importarzneimittel aus dem Bereich der Europäischen Gemeinschaften entbehrlich machen würde.
Die EG-Kommission hat im Frühjahr 1988 ein Diskussionspapier vorgelegt, in dem zum Ausdruck kommt, daß sie vor allem für technologisch hochwertige, aber auch für andere neuartige Arzneimittel die zentrale Zulassungsentscheidung einer europäischen Zulassungsbehörde bevorzugt.
Die Bundesregierung strebt in Übereinstimmung mit früheren Entschließungen des Deutschen Bundestages eine Lösung an, die auf die gegenseitige Anerkennung der Arzneimittelzulassungen in den Mitgliedstaaten hinausläuft. Die Bundesregierung hat für ihre Auffassung in dieser Frage in der 4. Novelle zum Arzneimittelgesetz ein Zeichen gesetzt, wonach auf der Grundlage einer Zulassungsentscheidung in einem EG-Mitgliedstaat das Bundesgesundheitsamt eine Zulassung erteilen soll. Das gilt jedoch nicht, wenn ein Versagungsgrund nach dem deutschen Arzneimittelrecht vorliegt. In diesem Fall muß das Bundesgesundheitsamt die zuständigen Ausschüsse der EG-Kommission befassen.
Die Diskussion über eine gemeinschaftliche Zulassungsregelung wird zur Zeit im Pharmazeutischen Ausschuß der EG-Kommission geführt. Die Kommission wird in Kürze einen Richtlinienentwurf vorlegen, der dann auch im Deutschen Bundestag und im Bundesrat beraten werden kann.
Herr Kirschner, bitte schön. Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie haben darauf hingewiesen, daß die Bundesregierung ein Verfahren der gegenseitigen Anerkennung bevorzugt. Meine Frage: Werden einheitliche Sicherheits- und Qualitätsstandards auf europäischer Ebene festgelegt? Wenn ja: Auf welchem Sicherheits- und Qualitätsstandardsniveau soll dies konkret erfolgen: nach dem in einem der EG-Mitgliedstaaten höchsten, oder nach dem niedrigsten, oder nach einem mittleren? Was ist da die Auffassung der Bundesregierung?
Pfeifer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das ist eine Frage des materiellen Rechts, nicht mehr des Zulassungsrechts. Hier ist es so, daß die Bundesregierung Wert darauf legt, daß stets ein hoher wissenschaftlicher Standard der Maßstab für die Arzneimittelzulassung ist.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage. Bitte schön, Herr Kirschner.
Herr Staatssekretär, Sie haben darauf hingewiesen, daß es in der Frage, wie dies umgesetzt werden soll, unterschiedliche Auffassungen gibt. Die Bundesregierung bevorzugt den nationalen Weg. Auf europäischer Ebene gibt es wohl Vorstellungen, dies auf eine europäische Zulassungsbehörde zu übertragen. Wenn sich die Bundesregierung durchsetzt, ist ja wohl davon auszugehen, daß es zu sehr viel mehr Zulassungen kommen wird. Ist dann
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Kirschnerdas Bundesgesundheitsamt 1993 und in den folgenden Jahren nach heutiger Sicht in der Lage, dies entsprechend zu bewältigen? Oder ist zu erwarten, daß ein sehr großer Antragsstau die Folge sein wird? Wie sieht die Bundesregierung das?Pfeifer, Pari. Staatssekretär: Herr Kollege, Sie wissen, daß wir hier bereits jetzt im Bundesgesundheitsamt ein Problem haben. Nicht zuletzt deswegen dient die 4. Arzneimittelnovelle, auf die ich in meiner Antwort Bezug genommen habe, auch dem Ziel, zu einer Beschleunigung des Zulassungsverfahrens zu kommen. Im übrigen ist es so, daß dann dieses Zulassungsverfahren auch im Rahmen der gegenseitigen Anerkennung in der EG die Grundlage für die Zulassung im gesamten Binnenmarkt bedeuten würde.
Ich rufe die Frage 12 des Abgeordneten Kirschner auf:
Gibt es Bestrebungen nach einer Harmonisierung des Arzneimittelrechts auf europäischer Ebene?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Pfeifer, Parl. Staatssekretär: Die Harmonisierung des Arzneimittelrechts auf europäischer Ebene findet seit langem schrittweise statt. Folgende pharmazeutische Grundrichtlinien sind erlassen: Richtlinie des Rates vom 26. Januar 1965 über Arzneispezialitäten, Richtlinie des Rates vom 20. Mai 1975 über die analytischen, toxikologisch-pharmakologischen und ärztlichen oder klinischen Vorschriften und Nachweise über Versuche mit Arzneispezialitäten, Richtlinie des Rates vom 20. Mai 1975 über Arzneispezialitäten.
Diese Richtlinien enthalten die Grundlagen, nach denen das Deutsche Arzneimittelgesetz von 1976 geformt worden ist. Die Richtlinien sind wiederholt geändert oder ergänzt worden. Für eine weitere Harmonisierung zu Fragen der Verschreibungspflicht, der Patienten- und Arztinformation, der Werbung und des Vertriebssystems liegt ein Memorandum der EG-Kommission vor, das zur Zeit im Pharmazeutischen Ausschuß der EG-Kommission erörtert wird. Auch zu diesen Themenkomplexen sind in Kürze Richtlinienentwürfe der Kommission zu erwarten.
Zusatzfrage, Herr Kirschner.
Herr Staatssekretär, ich habe in diesem Zusammenhang die Frage nach den Preissetzungsverfahren. Sie wissen, daß es in Europa unterschiedliche Preisfestsetzungsverfahren gibt. Ich denke an die Bundesrepublik, wo der Preis in erster Linie vorn Hersteller festgesetzt wird; in anderen Staaten gibt es Zuschläge oder wird staatlicherseits festgesetzt. Wie sieht dies nach dem heutigen Kenntnisstand der Bundesregierung für die Zeit ab 1993 aus, wenn der Europäische Markt in Kraft getreten ist?
Pfeifer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich habe Ihnen eben gesagt, daß wir in Kürze weitere Richtlinienentwürfe erwarten. Ich gehe davon aus, daß diese weiteren Richtlinienentwürfe auch hier im Bundestag zur Beratung vorliegen werden; das ist ein Verfahren, das wir immer anwenden. Ich denke, daß die von Ihnen aufgeworfene Frage in diesen Beratungen sehr
sorgfältig erörtert werden muß; das ist ein Punkt, auf den auch die Bundesregierung Wert legt.
Im übrigen ist es aber so, daß die Bundesregierung bei der Öffnung des europäischen Binnenmarktes auch auf die Kräfte des Marktes setzt und durch den europäischen Binnenmarkt sowohl der Wettbewerb als auch der Preisdruck eher erhöht sein wird.
Sie haben noch eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich möchte Ihr Stichwort von den Kräften des Marktes aufgreifen. Das GRG ist am 1. Januar dieses Jahres in Kraft getreten, und ab 1. September gilt für einen Teil der Arzneimittel das Festbetragskonzept; die Bundesregierung sagt, dies ist das Herzstück der Reform. Herr Staatssekretär Seehofer nickt schon bestätigend. Mich würde einmal interessieren: Wie läßt sich diese Festbetragskonzeption in die europäischen Harmonisierungsbestrebungen einordnen?
Pfeifer, Parl. Staatssekretär: Das genau ist auch eine der Fragen, die wir diskutieren sollten, wenn wir die weiteren Richtlinienentwürfe auf dem Tisch haben. Eines ist aber sicher: daß diese Festbetragsregelungen nun in der Tat dazu beigetragen haben, daß bei uns die Preise gepurzelt sind.
Schönen Dank, Herr Staatssekretär. Damit ist dieser Geschäftsbereich beendet.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern auf. Herr Parlamentarischer Staatssekretär Spranger steht zur Beantwortung zur Verfügung.
Ich rufe Frage 17 des Herrn Abgeordneten Steiner auf:
Ist die Bundesregierung bereit, das Bundesbesoldungsgesetz dahin gehend zu ändern, daß, wie schon einmal gehabt, eine Regelung geschaffen wird, wonach Beamten, die ein höherwertiges Amt mehr als ein Jahr wahrnehmen, danach eine ruhegehaltsfähige Zulage in Höhe des Unterschiedsbetrages zwischen dem verliehenen Amt und dem ausgeübten Amt zu zahlen ist?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Steiner, die Bundesregierung beabsichtigt dies nicht. Nach den Bewertungsgrundsätzen des Laufbahn- und Besoldungsrechtes soll ein Dienstposten, der einem höher bewerteten Amt zugeordnet ist, nur nach entsprechender Eignungsauslese unter den Bewerbern und mit dem Ziel der Übertragung des Amtes, also Beförderung, übertragen werden. Grundsätzlich hat der Beamte seine Eignung in einer Erprobungszeit nachzuweisen, die bis zu einem Jahr dauern und ausnahmsweise verlängert werden kann. Es wäre nicht bewertungsgerecht, die Erprobungszeit als Bewährungszeit, die von einem noch notwendigen Hinzugewinn von Kenntnissen und Erfahrungen mitgeprägt ist, mit einer Stellenzulage zu honorieren. Die Wahrnehmung des höherwertigen Dienstpostens ist vielmehr als Vorstufe und
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Parl. Staatssekretär SprangerChance zur Beförderung zu sehen. Sie wird im Regelfall mit der Beförderung selbst status- und besoldungsrechtlich gewürdigt.Eine Praxis, die darauf hinauslaufen würde, die Planstellen- und Besoldungsstrukturen durch eine anderweitige Dauerübertragung von höherwertigen Dienstposten zu umgehen und dies auch noch durch Stellenzulagen zu festigen, wäre mit den Grundsätzen der §§ 18 und 19 des Bundesbesoldungsgesetzes, die zugleich der Objektivierung und Transparenz des Besoldungssystems dienen, nicht im Einklang.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen der Zusammenhang meiner Frage mit der unzumutbaren Beförderungsschlange der Beamten der Bundeswehrverwaltung bekannt, die, obwohl sie nicht nur auf einen höherwertigen Dienstposten versetzt sind, sondern auch die laufbahnmäßigen Voraussetzungen dazu erfüllt haben, mangels Planstellen ungerechterweise bis zu zwei Jahre auf die ihnen zustehende Beförderung warten müssen?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Naturgemäß kann der Innenminister über die Situation bei der Bundeswehr keine Auskunft geben. Da müßten Sie die entsprechende Frage an den Kollegen des Verteidigungsressorts richten. Ich habe die Antwort auf Grund der allgemeinen beamtenrechtlichen Bewertung dieses Problems gegeben. Sie wissen, daß 1967 eine ihren Intentionen entsprechende Bestimmung wegen Unpraktikabilität abgeschafft wurde. Die Argumente, die damals dafür sprachen, gelten auch heute noch.
Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Ich hatte ja — dies vielleicht als kurze Vorbemerkung — diese Frage im Zusammenhang mit weiteren Fragen gestellt, die dann von dem BMVg beantwortet werden. Ich war auch überrascht, daß diese Frage aus dem Zusammenhang heraus genommen worden ist und jetzt von Ihnen beantwortet wird. Allerdings habe ich noch eine Frage an Sie, weil ja das Innenministerium damit befaßt ist. Wenn dieses Problem jetzt besteht, von dem ich gerade gesprochen habe, wie will das Innenministerium denn auf die Tatsache reagieren, daß im Bereich der Bundeswehrverwaltung nur 95 % des gesetzlichen Planstellenkegels zur Zeit ausgeschöpft sind? Würde man nämlich die restlichen 5 % bewilligen und sich dafür einsetzen, könnte man das Problem auf diese Art und Weise sicherlich lösen.
Spranger, Parl. Staatssekretär: Nicht daß ich den Eindruck hätte, daß der Kollege Wimmer, der zwei Meter links von Ihnen sitzt, hier in der Fragestunde mir warnend signalisieren wollte, ich solle mich zum Thema Bundeswehrverwaltung nicht äußern; aber ich muß darauf bestehen: wir haben hier keine Möglichkeit und Zuständigkeit der Bewertung. Vielleicht können Sie sich jetzt gleich mit dem Kollegen Wimmer kurzschließen und das direkt mit ihm klären. Wie ich ihn kenne, ist er gerne dazu bereit.
Die Frage 18 wird auf Wunsch der Fragestellerin, der Abgeordneten Frau Dr. Däubler-Gmelin, schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe Frage 19 auf. Der Abgeordnete Herr Graf ist nicht anwesend. Es wird nach der Geschäftsordnung verfahren.
Die Fragen 20 und 21 des Herrn Abgeordneten Duve werden auf seinen Wunsch schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 22 des Herrn Abgeordneten Dr. Wulff auf:
Kann die Bundesregierung Auskunft darüber geben, wann mit der Aufhebung der Visumpflicht für Staatsangehörige der Republik Ungarn für eine Einreise in die Bundesrepublik Deutschland zu rechnen ist und welche etwaigen Hindernisse noch entgegenstehen?
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär.
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Wulff, die Frage, ob und gegebenenfalls wann mit einer über bereits bestehende Sichtvermerkserleichterungen hinausgehenden generellen Aufhebung der Sichtvermerkspflicht zu rechnen ist, kann zur Zeit nicht beantwortet werden.
Wie Sie wissen, kann die Bundesregierung ohne vorherige Konsultationen der Schengener Vertragspartner und ohne Information der übrigen EG-Mitgliedstaaten die Sichtvermerkspflicht für ungarische Staatsangehörige aus Solidaritätsgründen nicht einseitig aufheben.
Dem Deutschen Bundestag liegt zur Zeit allerdings ein Entschließungsantrag des Auswärtigen Ausschusses vom 27. September 1989 vor, dem sich der Innenausschuß am 25. Oktober angeschlossen hat. Danach wird die Bundesregierung aufgefordert, „eine auch für den allgemeinen Reiseverkehr verbindliche generelle Aufhebung des Visumzwangs zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Ungarn anzustreben und zu diesem Zweck unverzügliche Verhandlungen mit den Schengener Vertragsstaaten aufzunehmen".
Es ist beabsichtigt, das Thema auf der noch im November 1989 stattfindenden Ministersitzung der Schengener Vertragsstaaten in diesem Sinne zur Sprache zu bringen.
Zusatzfrage, Herr Dr. Wulff.
Herr Staatssekretär, wird die Bundesregierung in besonderer Weise bei den Schengener Vertragspartnern darauf drängen, diese Visumpflicht möglichst bald aufzuheben, weil die Bundesrepublik Deutschland der Republik Ungarn unendlich viel in den letzten Monaten zu verdanken hat? Die Partner des Schengener Abkommens müßten das aus meiner Sicht einsehen.Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Wulff, ich weiß nun nicht, wie Sie den Begriff „in besonderer Weise" interpretiert haben möchten. Aber nach meinem Kenntnisstand hat die Bundesregierung bereits in der Vergangenheit dieses Anliegen in Ge-
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Parl. Staatssekretär Sprangersprächen und Verhandlungen mit den Vertragspartnern massiv und deutlich vorgetragen. In gleicher Weise haben allerdings auch die Partner gewisse Bedenken vorgetragen, so daß noch ein Patt besteht. Ich hoffe, daß die politische Entwicklung der letzten Wochen und Monate hier im Sinne Ihres Petitums wirkt.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß im Auswärtigen Ausschuß eine sehr breite Mehrheit dafür vorhanden ist, wenn die Verhandlungen mit den Partnern des Schengener Abkommens nicht bald zu einer Lösung führen, die Bundesregierung dann aufzufordern, diese Visumpflicht allein aufzuheben?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich hielte es nicht für gut, wenn man geschlossene Völkerrechtsverträge in dieser Form in Frage stellen würde. Ich bin der Meinung, man muß hier verhandeln. Das geschieht, und es ist überhaupt nicht gesagt, daß man nicht zu einem Ergebnis kommt. Nur mit Drohungen in der jetzigen Phase zu kommen, hielte ich nicht für gut.
Es gibt keine weiteren Fragen mehr. Ich danke Ihnen schön, Herr Staatssekretär.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen auf. Herr Parlamentarischer Staatssekretär Carstens steht zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 23 des Herrn Abgeordneten Dr. Wulff auf:
Werden durch die Bundesvermögensverwaltung auf dem Grundeigentum der Bundesrepublik Deutschland Jagdrechte vergeben, wenn ja, an welche Personen?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Dr. Wulff, die Forstliegenschaften der Bundesrepublik Deutschland unterliegen mit geringen Ausnahmen bestimmten Zweckbindungen zur Erfüllung von Bundesaufgaben und Aufgaben der alliierten Streitkräfte, z. B. Übungsplätze, militärische Flugplätze, Munitionsniederlagen etc.
Soweit die Zweckbindung, z. B. bei militärischer Nutzung, nicht entgegensteht, werden die Jagdrechte durch Verpachtung vergeben. Die Jagdverpachtung wird ausgeschrieben. Der Bieter muß jagdpachtfähig sein.
Liegenschaften, die nicht die Größe eines Eigenjagdbezirkes besitzen, werden im Rahmen des jeweiligen gemeinschaftlichen Jagdbezirks verpachtet. Auf nicht verpachteten, insbesondere militärisch genutzten Liegenschaften werden Abschüsse von Trophäenträgern auch an dritte Personen vergeben. Diese Personengruppen müssen einen Jagdbetriebskostenbeitrag zahlen.
Zusatzfrage, Herr Dr. Wulff.
Herr Staatssekretär, Sie haben eben zu diesem definierten Grundeigentum auch die Truppenübungsplätze gezählt. Darauf bezieht sich meine Frage: Ich möchte gerne wissen, nach welchen Kriterien auf Truppenübungsplätzen Jagdrechte vergeben werden und an welche Personen solche Jagdrechte bisher vergeben worden sind.
Carstens, Parl. Staatssekretär: Ich habe die Möglichkeit, hierauf zu antworten, indem ich in etwa sachlich und fachlich zufriedenstellend auf die Beteiligung der Personengruppen hinweise. Vielleicht befriedigt das schon Ihren Wissensdurst, Herr Kollege Dr. Wulff: Jagdmöglichkeiten auf rund ein Drittel der Trophäenträger werden an Jäger der Bundeswehr und der Stationierungsstreitkräfte auf Grund abgeschlossener Jagdabkommen vergeben. Die Auswahl der Jäger erfolgt zumeist durch Losverfahren bei den Streitkräften. Das ist der eine Teil. Jagdmöglichkeiten auf rund 50 % der Trophäenträger werden an zivile Jagdinteressenten vergeben. Hierfür bestehen Wartelisten entsprechend dem zeitlichen Eingang der Anträge bei den Forstinspektionen an den Oberfinanzdirektionen Hannover und Nürnberg. Die Wartezeit beträgt z. B. in der Forstinspektion Süd derzeit fünf Jahre. Das restliche ein Sechstel der Trophäenträger verbleibt der Bundesforstverwaltung für Fallwild und eigene Abschüsse.
Es gibt keine weiteren Zusatzfragen.
Die Frage 24 des Abgeordneten Stiegler soll auf Wunsch schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 25 des Abgeordneten Dr. Kübler auf:
Wie hoch sind die Manöverschäden, die durch die Bundeswehr und die NATO-Verbündeten im Bundesgebiet von 1976 bis 1988 verursacht worden sind, und zwar aufgeschlüsselt nach Jahren?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Carstens, Parl. Staatssekretär: Angaben über die in den jeweiligen Kalenderjahren verursachten Schäden — danach hatten Sie ja gefragt — stehen der Bundesregierung nicht zur Verfügung. Jedoch werden von den zuständigen Behörden die während des Kalenderjahres abgewickelten Manöverschadensfälle statistisch erfaßt. Diese Zahlen stimmen mit den in dem betreffenden Kalenderjahr verursachten Schäden nicht überein, weil die Behörden, insbesondere zu Beginn eines Kalenderjahres, auch Schäden regulieren, die in einem vorhergegangenen Kalenderjahr verursacht wurden. Aber das wird ja wohl keine große Rolle in bezug auf Ihre Fragestellung spielen. Ich habe die Angaben für Sie vorbereitet, Herr Kollege Dr. Kübler. Das Material ist sehr umfangreich, darf ich sagen. Ich müßte insgesamt 51 Zahlenangaben verlesen.
Parl. Staatssekretär Carstens
Frau Präsidentin, ich wäre Ihnen deshalb dankbar, wenn Sie damit einverstanden wären, wenn ich die Tabelle zu Protokoll geben dürfte. *)
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Dr. Kübler.
Herr Staatssekretär, ist sich die Bundesregierung der Tatsache bewußt, daß die Zahlen über die jährlichen Manöverschäden - selbst wenn man zuverlässige Zahlen bekommt - nur, wie Sie auch gesagt haben, angemeldete Fälle umfassen, daß aber z. B. Schäden genereller Art - ich nenne Luftverschmutzung, Vergiftung des Bodens, Wasserverschmutzung - überwiegend gar nicht erfaßt werden?
Carstens, Parl. Staatssekretär: Ich habe Ihnen in der Tat nur über die abgewickelten Schadensfälle Auskunft geben können. Insoweit werde ich auch nur in bezug auf diese Angaben eine schriftliche Antwort zu Protokoll geben können.
Sie haben noch eine Zusatzfrage, Herr Kollege.
Können Sie - ohne konkrete Zahlen zu nennen - aus Ihren Erfahrungen heraus sagen, ob der Anteil der nicht erfaßten Schäden wesentlich höher ist als der Anteil der Schäden, die erfaßt sind und abgerechnet werden?
Carstens, Parl. Staatssekretär: Darauf könnte ich hier höchstens meine persönliche Meinung zu Protokoll geben, aber Sie fragen ja nach der Meinung der Bundesregierung. Auf diese Frage kann ich beim besten Willen keine Auskunft geben.
Findet das Eingang in die von Ihnen angekündigte schriftliche Beantwortung?
*)
Manöverschäden darin enthaltener Manöverschäden
Alliierte Anteil Bundeswehr
in Millionen DM in Millionen DM
1976 66,5 nicht bekannt 18,2
1977 68,9 5,0 18,2
1978 81,4 5,6 23,9
1979 133,0 11,8 28,3
1980 122,0 4,5 27,7
1981 125,9 3,2 39,6
1982 176,6 7,8 31,3
1983 138,7 6,6 37,7
1984 132,3 11,6 37,2
1985 160,3 3,5 41,3
1986 126,3 2,7 41,9
1987 106,8 9,5 45,1
1988 95,4 3,6 46,0
Carstens, Parl. Staatssekretär: Auf die letzte Frage kann man so oder so keine Auskunft geben. Aber ich will auf eine weitere schriftliche Frage hin natürlich gern Auskunft erteilen.
Danke sehr, Herr Staatssekretär.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf. Herr Parlamentarischer Staatssekretär Gallus steht zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Ich rufe Frage 26 des Herrn Abgeordneten Dr. Knabe auf:
Inwieweit trifft es zu, daß die Bundesregierung bei der Bekanntgabe der diesjährigen Waldschadenserhebung - voraussichtlich am 9. November 1989 - die bisherige Schadstufe 1 nur noch als Vorwarnstufe gelten lassen und nicht mehr mit den Schadstufen 2 bis 4 zusammenfassen will, und aus welchem Grund will die Bundesregierung die bisherige Schadstufe 1 nicht mehr in die Kategorie geschädigter Bäume aufnehmen?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Dr. Knabe, es trifft zu, daß im Vordergrund des Berichts die Schadstufen 2 bis 4, also die mittleren und starken Schäden, stehen. Dies entspricht einer Empfehlung des Forschungsbeirats „Waldschäden/Luftverunreinigungen" des Bundes und der Länder.
Der Forschungsbeirat hat ausgeführt, daß bei der Verwendung des Nadel/Blatt-Verlustes als Kriterium für den Gesundheitszustand der Bäume die natürlichen Schwankungen dieses Merkmals nicht außer acht gelassen werden dürfen. Wichtige Erkenntnis ist dabei, daß diese Schwankungen in die Schadstufe 1-
11 bis 25 % Nadel/Blatt-Verlust - hineinreichen.
Der Forschungsbeirat hat deshalb vorgeschlagen, die Schadstufe 1 als Warnstufe oder Übergangsstufe zu den eindeutigen Schäden der Schadstufe 2 - 25 bis 60 % Nadel/Blatt-Verlust - zu interpretieren. Dieser Empfehlung des Forschungsbeirates hat die Bundesregierung 1989 Rechnung getragen. Wichtig ist jedoch, daß die Aufnahmekriterien unverändert beibehalten bleiben. Neben den Schadstufen 2 bis 4 werden im Waldzustandsbericht auch die Schadstufen 0 und 1 dargestellt.
Zusatzfrage, Herr Dr. Knabe.
Darf ich zunächst um die Beantwortung der zweiten von mir eingereichten Frage bitten, um im Anschluß daran meine Zusatzfragen stellen zu können?
Dann rufe ich auch Frage 27 des Herrn Abgeordneten Dr. Knabe auf:Kann die Bundesregierung bestätigen, daß der bundesdeutsche Wald 1989 nicht zu 53 % - wie nach bisheriger Berechnungsgrundlage -, sondern nur noch zu 15,9 % geschädigt sein wird, und findet danach das Waldsterben ab 1989 nicht mehr statt?Bitte, Herr Staatssekretär.Gallus, Parl. Staatssekretär: Ich beantworte Frage 27 wie folgt: Herr Kollege Knabe, die in der Frage genannten 53 % geschädigter Waldfläche setzen sich aus den Schäden der Schadstufen 2 bis 4
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Parl. Staatssekretär Gallus— 15,9 % — und der Schadstufe 1, der Warnstufe —37 % —, zusammen.Von einer Beschönigung der Waldschadensstatistik kann auf keinen Fall gesprochen werden. Der Waldzustandsbericht konzentriert sich auf die eigentlichen Problembereiche in der Forstwirtschaft auf Grund der neuartigen Waldschäden. Das Ergebnis der Waldschadenserhebung zeigt in aller Deutlichkeit, daß nahezu jeder sechste Baum in der Bundesrepublik Deutschland ernsthafte Schäden aufweist, daß die Wälder in den Hauptschadensgebieten der Mittelgebirge und der Alpen in einem besorgniserregenden Zustand sind und daß insgesamt weniger als die Hälfte aller Bäume frei von Schadmerkmalen ist. Dieser Schädigungsgrad ist unakzeptabel hoch.Die Bundesregierung wird daher ihre konsequente Politik zur Bekämpfung der Ursachen der Waldschäden, wie sie in der vom Kabinett am 9. August 1989 beschlossenen dritten Fortschreibung des Aktionsprogramms „Rettet den Wald" niedergelegt ist, mit allem Nachdruck fortsetzen.
Sie haben jetzt vier Zusatzfragen. Bitte schön.
: Herr Staatssekretär, wird durch die Trennung der Schadstufe 1 von den Schadstufen 2 und 4 in der Öffentlichkeit nicht doch der Eindruck erweckt, die Waldschäden hätten abgenommen, weil die Summe, die als Bedrohung empfunden würde, nicht mehr erscheint, während demgegenüber die Einzelangabe von 16 % als nahezu bedeutungslos erscheint?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Knabe, das ist nicht die Absicht der Bundesregierung. Dieser Eindruck würde auch nicht entstehen, wenn nicht diese Dinge bei einer Pressekonferenz kürzlich von Ihrer Seite, ich würde fast sagen: wider besseres Wissen so dargestellt worden wären.
Wir sprechen heute nicht zum erstenmal über diese Frage. In der letzten Woche waren wir zusammen in einer Diskussion im Radio. Dort waren zwei Wissenschaftler vertreten, zum einen Professor Dr. Robert Guderian. Er kommt vom Institut für Angewandte Botanik in Essen; er ist ein Bio- und Geowissenschaftler. Der zweite war Herr Dr. Florian Scholz; er ist ein Forstgenetiker. Ein weiterer Teilnehmer war der Herr Landesforstmeister a. D. Fröhlich, und dann waren noch Sie und ich beteiligt. Wir haben uns eine Stunde lang über diese Frage eingehend unterhalten. Diese Forstleute, diese Wissenschaftler haben Ihnen eindeutig gesagt, daß niemals daran gedacht war, irgend etwas zu beschönigen. Niemand kann den Eindruck haben, daß die Bundesregierung diese Absicht hat. Jedermann kann doch zusammenzählen, daß 15,9 und 37,1 % zusammen 53 % ergeben. Wir beschönigen doch überhaupt nichts. Das Ganze ist auch deshalb gemacht worden, weil in den internationalen Zusammenhängen sämtliche Forstleute Europas darauf gedrängt haben, diese Dinge so zu handhaben.
Zweite Frage.
Da ich auf die Radio-Runde hier nicht im einzelnen eingehen kann und Ihnen in dieser Minute nicht widerlegen kann, was Sie jetzt unrichtig gesagt haben, möchte ich mich auf die Frage konzentrieren, die Sie im Zusammenhang mit dem Rettungsprogramm für den Wald gestellt haben: Welche Maßnahmen zur Eindämmung des Waldsterbens wird die Bundesregierung durchführen, und in welchem Zeitraum wird das geschehen? Sie haben sie in dem Bericht des Umweltbundesamtes mit dem Titel „Maßnahmen zur Minderung der Stickoxidemissionen in der Bundesrepublik Deutschland 1985 bis 1988" aufgeführt und von der Umweltministerkonferenz bereits billigen lassen.
Gallus, Parl. Staatssekretär: Entschuldigung, diese Zusatzfrage entspricht zwar nicht dem, was Sie gefragt haben — das muß ich einmal sagen — , aber ich bin trotzdem in der Lage, darauf etwas zu sagen.
Sie haben recht: Das geht weit über die Fragestellung hinaus.
Gallus, Parl. Staatssekretär: Frau Präsidentin, aber ich bin gerne bereit, dazu etwas zu sagen.
Herr Knabe, wir befinden uns — auch das ist längst öffentlich diskutiert — bei der Beseitigung der Ursachen der Waldschäden in bezug auf die Beseitigung der Entschwefelung der Großkraftwerke an der Spitze der Welt. Noch nicht so weit wie die Japaner sind wir bei der Frage der Autos in bezug auf die Katalysatoren. Das hat seinen Grund aber nicht in der Verhaltensweise der Bundesrepublik Deutschland, sondern einzig und allein in der Tatsache, daß die EG uns die Dinge nicht so schnell hat entwickeln lassen — auch mit entsprechenden Auflagen —, wie wir es wollten.
Dies ist jetzt aber insoweit geklärt, als ab 1992 kein Kraftfahrzeug ohne Katalysator mehr zugelassen wird, in der Zwischenzeit die Dinge verstärkt vorangetrieben werden und bisher schon jeder, der aus privaten Gründen den Mut dazu hatte, das mit finanzieller Unterstützung der Bundesregierung tun konnte.
Herr Kollege Knabe, die nächste Zusatzfrage aber bitte im Rahmen Ihrer beiden Fragen.
Gut. — Kommen wir noch einmal zu diesen Schadstufen zurück: Sind Sie sich eigentlich über die Tragweite klar, daß man mit den äußeren Schäden, die man dort erfaßt, längst nicht die gesamten Waldschäden, die sich in den Beständen ereignen, darstellen kann und daß Sie mit der Abtrennung der Schadstufe 1 einen unwiederbringlichen Verlust an Information für die Öffentlichkeit bewirken? Denn das Zusammenzählen ist eine Sache; das Wissen, das die Dinge zusammengehören, ist eine andere, und dieses Wissen enthalten Sie vor.Gallus, Parl. Staatssekretär: Nein, Herr Kollege, ganz und gar nicht. In der Zwischenzeit ist eine große Diskussion in Gang gekommen. Der Forstschadenskongreß vor einigen Wochen in Friedrichshafen, der mit unserer Initiative zustande gekommen ist, hat bewiesen, daß natürlich das gesamte Spektrum gesehen werden muß, insbesondere die ökologischen Zusammenhänge im Wald, vor allen Dingen die Waldböden
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13072 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989
Parl. Staatssekretär Gallusbis hin zur Belastung des Grundwassers und der Trinkwasserreserven. Das alles ist zur Zeit in der Diskussion; es wird nichts beschönigt.Ich kann Ihnen hier nur eines sagen: Es wird Ihnen nicht gelingen, Herr Kollege Knabe, so zu tun, als ob wir in der Bundesrepublik Deutschland Wesentliches versäumt hätten, seit die maßgeblichen Wissenschaftler überhaupt die Erkenntnis akzeptiert haben, daß es sich hier um Waldschäden handelt. Bevor sich die Wissenschaftler in bezug auf das, was hier auf uns zukommt, überhaupt einig waren, hat die Bundesregierung gehandelt! Darüber hinaus, Herr Knabe — das müssen Sie als Forstmann bestätigen, und da sollte man die Dinge nicht falsch darstellen — , haben wir dafür gesorgt, daß in den übrigen Staaten Europas die Forstleute überhaupt durch entsprechende Kurse geschult worden sind, so daß sie in ihren eigenen Wäldern die Situation erkennen konnten. Erst daraufhin, auf unsere Initiativen hin, sind in anderen Ländern Europas entsprechende Maßnahmen erfolgt.
Die letzte Zusatzfrage, Herr Dr. Knabe.
Daß die Bundesregierung hinsichtlich der Waldschadenserfassung in anderen Ländern positiv gewirkt hat, habe ich nicht bestritten. Nachbohren möchte ich aber bezüglich der Empfehlung der Großforschungseinrichtungen, die Sie jetzt zitieren. Herr Kloose, der Vorsitzende des Forschungsbeirates, vertritt eben eine Politik der Großforschungseinrichtungen, nicht eine Politik, wie unabhängige Forscher sie vertreten würden. Mit anderen Worten, ich möchte fragen, ob hier nicht eine Manipulation der wissenschaftlichen Meinungen stattfindet. Wird die Unsicherheit des Wissenschaftlers, wenn es darum geht, eine genaue Grenze zwischen 10 und 11 % zu ziehen, nicht für einen politischen Zweck mißbraucht?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Knabe, das bestreite ich hier zum wiederholten Male. Daß ein wissenschaftliches Mitglied des Forschungsbeirates angeblich auch Beziehungen zur Industrie hat — woran Sie Anstoß nehmen —, ist, finde ich, durchaus legitim. Es gibt andere Mitglieder des Beirates, die nur der Wissenschaft dienen und keine solchen Beziehungen haben. Ich frage mich, warum solche Wissenschaftler, die auch Beziehungen zur Industrie haben, in unseren Beiräten nicht auch zu Wort kommen sollen, denn letzten Endes sind wir eine Industrienation und müssen, wenn wir unseren Lebensstandard aufrechterhalten wollen, zusehen, daß die Zusammenhänge gewahrt werden und daß von der Politik dementsprechend gehandelt wird. Das ist nichts Illegitimes.
Drei weitere Fragesteller haben sich gemeldet. Ich bitte jetzt aber wirklich, kurze Fragen zu stellen, sie also nicht auf eine nicht ganz erlaubte Weise auszuweiten.
Herr Kreuzeder, Sie haben sich zuerst gemeldet. Bitte.
Herr Staatssekretär, Sie sagten eben, daß die Bundesregierung praktisch vor den
Wissenschaftlern reagiert hat. Ist Ihnen bekannt, daß die Bayerische Staatsregierung Staatsangestellten Wissenschaftlern verboten hat, vom Waldsterben zu sprechen, und angeordnet hat, von neuartigen Waldschäden zu reden?
Und wie ist es mit der Statistik? Werden die Bäume, die dem Waldsterben bereits zum Opfer gefallen sind, ebenfalls noch aufgeführt, oder sind sie aus den Statistiken der Waldschadenserhebung herausgenommen?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kreuzeder, zunächst einmal habe ich nicht, wie Sie es in bezug auf die Wissenschaftler dargelegt haben, gesagt, wir hätten uns hier gewissermaßen falsch verhalten. Ich habe nur gesagt: Wir haben gehandelt, bevor sich die Wissenschaftler einig waren.
Es hat nämlich in den Reihen der Wissenschaft über Jahre hinweg sehr unterschiedliche Auffassungen gegeben, bis dann eine einheitliche Auffassung zustande kam. Die Bundesregierung hat nicht abgewartet, bis diese Einigkeit zustande kam, sondern hat gehandelt. Das, was Sie anmahnen, war wesentlicher Gegenstand dieser Rundfunkdiskussion, die wir in der letzten Woche im Kreise der vier Persönlichkeiten, die ich genannt habe, gehabt haben.
Zur Frage „Waldsterben oder neuartige Waldschäden?" : Tatsache ist, daß man sich heute wissenschaftlich vollkommen darüber einig ist, daß der Begriff „neuartige Waldschäden" die Situation weit eher trifft als das Wort „Waldsterben". Es sind ja von den neuartigen Waldschäden nicht nur die Bäume betroffen, sondern auch das ganze Ökosystem, vor allem der Boden. Auch sterben im Wald, auch wenn er ganz normal ist, praktisch immer Bäume; es gibt immer Abgänge von Bäumen usw. Von einem großflächigen Waldsterben kann man praktisch nur in den höheren Lagen einiger Gebirge sprechen, insbesondere in der Tschechoslowakei, aber auch bei uns, etwa im Harz, wo ganze Waldgebiete abgestorben sind. Das sind aber bei uns, in Relation zum gesamten Bestand gesehen, kleine Flächen.
Frau Kollegin Flinner!
Welche neueren Ergebnisse über die schleichende Versauerung unserer Gewässer liegen der Bundesregierung vor? Inwieweit drohen dadurch langfristig auch Gefahren für unser Trinkwasser?Gallus, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, es liegen natürlich eine ganze Reihe wissenschaftlicher Erkenntnisse vor, die ich jetzt nicht aus dem Stegreif darlegen kann. Ich habe kürzlich Professor Ulrich aus Göttingen besucht und war mit ihm zusammen bei seinen Forschungsstätten im Harz. Ich bin dort über das hinaus, was schriftlich bereits vorliegt, informiert worden. Daraus ergab sich, daß wir uns heute in der Situation befinden, daß wir sehr aufpassen müssen, daß die Versauerung der Waldböden nicht nach unten
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989 13073
Parl. Staatssekretär Gallusweitergeht und letzten Endes auf die Trinkwasserreserven in diesen Waldgebieten durchschlägt.Zur Zeit untersucht man, was man tun kann, beispielsweise ob man mit der Düngung etwas aufhalten kann. Es geht ja nicht darum — ich sage das, damit ich nicht gleich wieder angegriffen werde — , die Düngung allgemein anzuwenden, z. B. die Kalkung. Aber man kann heute in bestimmten Fällen mit der Düngung manches erreichen.
Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Saibold.
Herr Gallus, Sie haben vorhin den besorgniserregenden Zustand der Wälder in den Alpen angesprochen. Deswegen möchte ich Sie fragen: Warum unterstützt die Bundesregierung nicht das Nachtfahrverbot für Lkw, das Österreich verhängt hat, sondern übt im Gegenteil Druck auf die Osterreicher aus? Es wäre doch eine kleine Maßnahme, speziell in diesem Gebiet, derartige Belastungen abzubauen.
Es ist nach Statistiken gefragt worden. Ich bitte wirklich, sich an die zwei Fragen zu halten. Wir diskutieren schon eine ganze Weile, und der Herr Staatssekretär hat sehr ausführlich Auskunft gegeben. Es ist etwas schwierig, hier noch einen Zusammenhang mit den gestellten Fragen zu sehen.
Aber Sie haben noch eine Frage.
Frau Präsidentin, Herr Gallus hat genau das Problem in den Alpen angesprochen. Ich frage ihn dazu. Das muß ja wohl möglich sein. Ich habe dann noch eine zweite Frage.
Es ist nur das möglich, was im Zusammenhang mit den Fragen steht. Wir haben weitgehend alles zugelassen. Herr Staatssekretär, haben Sie dazu noch Ausführungen zu machen?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich möchte fast mit einer Gegenfrage antworten: Glauben Sie denn, verehrte Frau Kollegin, daß es weniger Emissionen gibt, wenn die Lastwagen nicht bei Nacht, sondern nur am Tag fahren? Das ist überhaupt nicht das Problem. Wenn ich dieses Problem lösen will, dann muß ich auch hier das Übel an der Wurzel anpacken. Ich glaube, da sind sich die Politiker in ganz Europa einig, daß ein Teil des Schwerlastverkehrs auf die Schiene muß.
Nur: Der Durchstich durch die Alpen ist nicht von heute auf morgen möglich. Das ist allerdings die große Aufgabe, vor der wir stehen. Sie wird im europäischen Rahmen wahrscheinlich zig Milliarden kosten.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Gallus, da schon einige Zeit vergangen ist, in der nichts geschah, obwohl die Probleme bekannt sind, frage ich Sie: Was gedenkt die Bundesregierung denn zu tun, um den Schutz der Bevölkerung in den Alpen zu sichern, auch
den Lebensstandard, den Sie gerade angesprochen haben, der allgemein gehalten werden muß? Wie wollen Sie das für die Alpenbevölkerung sicherstellen, da dort doch bereits über 8 % der Wälder kaputt sind?
Es tut mir leid; auch dieses geht weit über die beiden Fragen hinaus. Herr Staatssekretär, ich bitte, das jetzt nicht zu beantworten. Ich bitte, sich im Rahmen der beiden Fragestellungen zu bewegen.
Es hat noch einmal das Wort der Abgeordnete Oostergetelo.
Herr Staatssekretär, Sie haben in Beantwortung der Fragen gesagt, daß man bei der Addition auf 53 % kommt. Sie haben auch gesagt, die Bundesregierung habe noch eher als die Wissenschaft gehandelt. Sind Sie wirklich der Meinung, daß genug getan worden ist, wenn man diese Addition von 53 zugrunde legt?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich kann Ihre Frage nur so verstehen, daß Sie wissen möchten, ob das, was wir getan haben, schon ausreicht. Da kann ich nur sagen: natürlich nicht. Wir müssen hier weitere große Maßnahmen ergreifen. Da sind wir uns einig.
Ich sage nur: Unter Zugrundelegung dessen, was in dieser kurzen Zeit möglich war, hat die Bundesrepublik Deutschland mehr getan als jeder andere Staat in Europa.
Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Wollny.
Herr Staatssekretär, ich wiederhole die Frage, die Sie Herrn Kreuzeder nicht beantwortet haben: Wie erscheinen bereits abgeholzte Flächen im Waldschadensbericht?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Abgeholzte Flächen sind praktisch tote Bäume, und sobald die geschädigten Bäume weggenommen sind, spielen sie bei der Gegenüberstellung der Zahlen hier keine Rolle mehr. Das muß man sehen.
Es wachsen Bäume nach, und andere kommen in dieses Stadium hinein. Das ist eine sehr knifflige Frage, wo auch die Wissenschaftler bisher zu keiner anderen Auffassung gekommen sind, als die Dinge so zu handhaben.
Eine zweite Frage, Frau Kollegin.
Würden Sie mir denn bestätigen, daß es das beste Mittel sein würde, um das Waldsterben auf Null zu bringen, den Wald erst einmal ganz sterben zu lassen?Gallus, Parl. Staatssekretär: Niemand kann sich wünschen, daß der Wald stirbt. Umgekehrt wird sich niemand eine Gesellschaft wie vor tausend Jahren wünschen, wo es praktisch kein Waldsterben geben konnte, weil die Welt noch in Ordnung gewesen ist.
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13074 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989
Parl. Staatssekretär GallusDann müßte man unsere ganze Industriegesellschaft auflösen. Wir müssen einen Weg finden, wie wir diese Industriegesellschaft gestalten, damit kein Waldsterben mehr stattfindet, und das haben wir erst lernen müssen. Jetzt sind wir dabei. Ich kann nicht sagen, daß wir alles erreicht haben, aber wir sind auf dem besten Wege, das Menschenmögliche zu tun.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Brauer.
Ich möchte auf die beiden Ausgangsfragen eingehen und Sie, Herr Staatssekretär Gallus, fragen, welcher semantische Trick oder welche semantische Begründung dahintersteckt, zukünftig nicht mehr vom „Waldschadensbericht" , sondern nur noch vom „Waldzustandsbericht" zu sprechen.
Gallus, Parl. Staatssekretär: Insgesamt wird dargestellt, in welchem Zustand sich der Wald befindet. Ich glaube sogar, daß die Bezeichnung „Waldzustandsbericht" besser und treffender ist als „Waldschadensbericht".
Noch eine weitere Frage, bitte.
Würde das zur Konsequenz haben, daß Sie sprachlich demnächst formulieren können, daß praktisch 84,9 % der Wälder gesund sind, wenn Sie von dem Begriff „Waldzustandsbericht" ausgehen?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, hier in diesem Hohen Hause sollten Sie mir wenigstens zubilligen, daß ich genau vor einer Viertelstunde gesagt habe, daß sich praktisch jeder zweite Baum in einer schwierigen Situation befindet. Ich habe hier deutlich gesagt: Wir haben 37,1 % in der ersten Warnstufe und 15,9 % in den Schadstufen 2 bis 4. Jetzt fangen Sie wieder von vorn an und wollen mir das nicht abnehmen. Ich kann nur immer wiederholen: Sie können das politisch nicht umdrehen, als ob wir etwas bagatellisieren wollten.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Hüser.
Ich will noch einmal auf die Ausgangsfrage zur Waldschadensstatistik zurückkommen, weil ich glaube, daß Sie die Frage vorhin nicht beantwortet haben, oder ich habe das überhört. Sind die Bäume, die auf Grund der Waldschädigung schon abgestorben und abgeholzt sind, noch in der Statistik erfaßt, sind sie irgendwo erfaßt, tauchen die also bei der Waldzustandsberichterstattung, wie Sie sie nennen, nochmal irgendwo auf?
Die Frage ist schon beantwortet, Herr Hüser. Das müssen wir doch nicht wiederholen.
Gallus, Parl. Staatssekretär: Ich habe es praktisch gesagt.
— Doch. Ich habe gesagt: Natürlich kann man die Flächen großflächigen Absterbens feststellen, z. B. im Harz. Das sind einige wenige Flächen, die wir in der Bundesrepublik haben. Alle anderen schadhaften Bäume werden individuell aus dem Wald herausgenommen, wobei es sich meistens nicht um Abholzungen größeren Ausmaßes handelt. Andere Bäume wachsen nach. Die abgeholzten Bäume spielen in bezug auf die Erhebung der noch vorhandenen keine Rolle mehr.
Noch eine weitere Zusatzfrage.
Also sind die Bäume, die krank geworden und gefällt worden sind, in der Waldschadensstatistik nicht drin?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Es werden alle aufgenommen, die bei der Erhebung sichtbar vorhanden sind.
Das wird auch insofern schwierig, weil wir nach den neuesten forstwirtschaftlichen Grundsätzen keine großflächigen Abholzungen mehr haben, sondern auch gesunde Bäume werden, wenn sie alt und groß genug sind, mitten aus dem Wald herausgenommen, und die sind dann auch weg. Nun müßten Sie wieder eine Statistik darüber aufstellen, in welchem Verhältnis die normal gefällten Bäume zu denen stehen, die wegen Krankheit gefällt worden sind. Wir beschließen hier in diesem Parlament dauernd, die Bürokratie nicht zu übertreiben. An diesem Punkt muß man sich bestimmt sagen: Wir gehen sehr weit, aber was Sie hier auch noch gemacht haben wollen, können wir nicht machen.
Ich lasse noch eine letzte Zusatzfrage zu, Frau Hensel.
Wie — und mit welchen Zahlen — beurteilt die Bundesregierung eigentlich die dramatische Verschlechterung der älteren Waldbestände, also der Bestände, die älter als 60 Jahre sind?Gallus, Parl. Staatssekretär: Das weiß ich jetzt nicht auswendig. Die Angaben dazu stehen im Waldzustandsbericht. Ich kann nur sagen, daß sich die Begründung natürlich auch aus folgendem ergibt: Je älter der Baum wird und je länger er diesem Streß ausgesetzt ist, desto eher weist er entsprechende Anzeichen der Schädigung auf. Von Bedeutung ist natürlich weiterhin, in welcher Höhenlage die Emissionen auf die Bäume treffen. All das spielt dabei eine ganz große Rolle.Aber ich darf Ihnen hier auch einmal sagen: Es ist ja interessant, daß wir gerade auf Grund der Differenziertheit unserer Erhebung festgestellt haben, daß es auch Gebiete gibt — gerade in der Vorwarnstufe, bis zu 25 % Nadelverlust — , in denen wir Besserungen feststellen; Gott sei Dank!
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989 13075
So. Herr Staatssekretär, das Beste wäre, wenn Sie auf alle diese gesammelten Fragen vielleicht noch einmal eine schriftliche Antwort geben können, damit sich das — auch in der nächsten Fragestunde — nicht immer wiederholt.
Gallus, Parl. Staatssekretär: Frau Präsidentin, das ist im Waldzustandsbericht alles nachzulesen.
Na ja, vielleicht kann man es — für diejenigen, die den nicht lesen — noch ein bißchen besser machen.
Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften eine Erhöhung der Reports für Getreide durchzusetzen, da durch die Anhebung des Diskontsatzes die Kosten für die Lagerung bei weitem nicht mehr gedeckt werden?
Bitte schön.
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Eigen, nach Art. 6 Abs. 2 der Getreidemarktordnung setzt der Rat auf Vorschlag der Kommission mit qualifizierter Mehrheit jährlich vor Beginn des Wirtschaftsjahres die Anzahl und die Höhe der monatlichen Zuschläge, die sogenannten Reports, sowie die Aufteilung während des Wirtschaftsjahres fest. Im Rahmen der von ihr verfolgten restriktiven Getreidepreispolitik ist es erklärtes Ziel der EG-Kommission, die Intervention weniger attraktiv zu gestalten. Dabei strebt sie auch eine nachhaltige Kürzung der monatlichen Zuschläge an.
Die Bundesregierung hat sich diesem Ansinnen energisch widersetzt und erreicht, daß die vorgeschlagenen Kürzungen bisher weniger drastisch ausgefallen sind. Es ist nicht zu erwarten, daß die EG-Kommission im Rahmen der Preisvorschläge für 1990/91 eine Erhöhung der monatlichen Zuschläge vorschlagen wird. Nach Auffassung der EG-Kommission haben die Zuschläge ihre Bedeutung als Absatzregulatoren mit der Verkürzung des Interventionszeitraumes zunehmend eingebüßt. Die Rolle der Reports müsse mehr und mehr von den Marktmechanismen übernommen werden.
Die EG-Kommission strebt an, die Zahl und die Höhe der monatlichen Zuschläge weiterhin schrittweise zu reduzieren. Es ist nicht auszuschließen, daß sie für 1990/91 einen weiteren Abbauschritt vorschlagen wird. Dem wird sich die Bundesregierung widersetzen. Die Marktordnung geht nicht davon aus, daß die Lagerungs- und Finanzierungskosten durch die Reports vollständig abgedeckt werden müssen. Bei weiterhin unterschiedlichen Zins- und Kostenentwicklungen in den meisten Mitgliedstaaten wäre dies mit EG-einheitlichen Zuschlägen auch nicht zu erreichen.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Eigen.
Herr Staatssekretär, bei der ersten Senkung der Reports vor drei Jahren war eine
Begründung der Kommission, die Zinsen für die Lagerhaltung seien so viel niedriger geworden, daß die Reports nicht mehr zu den tatsächlichen Kosten paßten.
Wenn man das nun mit Blick auf heute, wo die Reports leider gesenkt sind, und zwar zweimal nacheinander, nachvollzieht, dann könnte man ja genausogut sagen: Jetzt passen die Reports nicht mehr zu den neuen Zinshöhen. Also wäre es doch logisch, daß die Bundesregierung bei der Kommission jetzt einen Antrag stellt bzw. im Ministerrat vorschlägt, daß die Reports den heutigen Kosten entsprechend angehoben werden. Könnte die Bundesregierung das möglicherweise tun?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, in bezug auf Ihre Vermutungen und Gründe, die die EG vor drei Jahren angegeben hat, als die Reports zum erstenmal zurückgeführt worden sind, kann ich mit Blick auf den heutigen Stand nur sagen, daß die wahre Absicht der EG jetzt erst deutlich geworden ist. Ich glaube, da sind wir einig.
Zum zweiten habe ich Ihnen hier in Beantwortung der Frage deutlich gemacht, daß wir schon alle Mühe haben werden, die Reports überhaupt in ihrer jetzigen Höhe zu halten.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Eigen.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung mit mir einig, daß die Kommission mit dieser Verhaltensweise die Marktordnung für Getreide in Wirklichkeit verteuert, weil der Handel dann, wenn die Reports von den tatsächlichen Kosten so weit abweichen, gezwungen wird, die Ware zur Intervention bereitzustellen, womit die Kosten für die Kommission automatisch ansteigen?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich habe Ihnen hier den Standpunkt der Bundesregierung dargelegt, daß wir das alles für eine negative Entwicklung halten und daß wir uns dagegen gesträubt haben. Unsere Auffassung liegt näher bei der Ihrigen als bei der der Kommission. Aber letzten Endes müssen wir uns mit unserer Auffassung auch durchsetzen können. In diesen Fragen stehen wir jedoch weitgehend allein.
Hier wird eine Zusatzfrage gewünscht. Bitte schön, Herr Oostergetelo.
Herr Staatssekretär, können Sie uns sagen, welche Einkommensverluste die von der EG-Kommission festgestellten 160,5 Millionen t und die von Herrn Eigen in der Frage der Reportskürzungen angesprochene Menge für Getreidebauern de facto bedeuten?Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich bitte um Entschuldigung. Ich kann Ihnen das schriftlich mitteilen; aber ich kann das hier nicht aus dem Kopf beantworten. Das bedingt entsprechende Berechnungen, aber das ist durchaus zu machen. Ich bin bereit, das im Haus berechnen zu lassen.
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13076 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989
Ich rufe die Frage 29 des Herrn Abgeordneten Eigen auf:
Welche Agrarprodukte werden beim Import in die USA behindert und mit welchen Maßnahmen?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Eigen, die USA schützen den heimischen Agrarmarkt bei Milchprodukten, insbesondere bei Käse, Baumwolle, Erdnüssen, Zucker und Zuckerwaren, durch Einfuhrkontigente. Sie rechtfertigen diese mit einer ihnen im Rahmen des GATT im Jahre 1955 bedingt erteilten unbefristeten Ausnahmegenehmigung.
Bei Fleisch praktizieren die USA ein System, wonach bei Erreichen bestimmter Einfuhrmengen Selbstbeschränkungsabkommen mit den Lieferländern vereinbart oder Einfuhrkontigente verhängt werden, die aber nicht umgesetzt werden müssen. Für den deutschen Export von Fleisch und Fleischwaren wirken sich zudem bestimmte Veterinärvorschriften der USA praktisch prohibitiv aus.
Zusatzfrage, Herr Eigen.
Wird von der Bundesregierung auf Grund der von Ihnen korrekt dargestellten Situation der Kommission immer wieder nahegelegt, daß sie bei den GATT-Verhandlungen diese Tatsachen berücksichtigt? Denn wir wissen ja, daß die USA einen voll liberalisierten Welthandel nur bei den Produkten verlangen, bei denen sie Überschüsse haben, diesen liberalen Welthandel aber nicht bei den Produkten wollen, wie das soeben von Ihnen dargestellt worden ist, bei denen sie ihre Farmer schützen.
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das ist einer der Gründe, weshalb wir dem Verlangen der Amerikaner in diesen Fragen natürlich nicht ohne weiteres nachgeben können. Die EG-Kommission, die ja die Verhandlungen führt, wird von uns immer wieder auf diese Tatsache hingewiesen. Wir wissen, daß die Amerikaner praktisch eine gespaltene Politik betreiben: einerseits bei den Massenprodukten Getreide und Soja, die 60 % ihres Exports ausmachen, und andererseits bei den höherwertigen Agrargütern, wo sie eine andere Auffassung vertreten.
Zusatzfrage, bitte, Herr Eigen.
In welcher Weise werden veterinär-hygienische Schutzbestimmungen im GATT verhandelt?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Ich bin jetzt überfragt, ob das bei den nächsten GATT-Runden eine Rolle spielt. Ich bin aber bereit, auch diese Frage schriftlich zu beantworten.
Ich rufe noch die Frage 30 des Herrn Abgeordneten Oostergetelo auf:
Wie stellt sich die Bundesregierung die Umsetzung der Verordnung zur Einführung vorübergehender landwirtschaftlicher Einkommensbeihilfen in der Bundesrepublik Deutschland vor, und wieviel Bundesmittel hat sie hierfür eingeplant, nachdem die längst überfälligen Durchführungsbestimmungen nunmehr in Brüssel verabschiedet werden sollen?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Oostergetelo, die Bundesregierung beabsichtigt gegenwärtig nicht, nach der Verordnung 768/89 vorübergehende Einkommensbeihilfen für die landwirtschaftlichen Betriebe einzuführen. Hierbei weise ich darauf hin, daß die genannte Verordnung lediglich eine Ermächtigung zur Einführung derartiger Maßnahmen beinhaltet.
In der Bundesrepublik Deutschland sind nach der Finanzverfassung grundsätzlich die Länder für Einkommensbeihilfen zuständig. Von der Bundesregierung ist in jüngster Zeit eine Reihe von Maßnahmen zur direkten Einkommensstabilisierung und -Verbesserung ergriffen worden. Ich möchte dafür stellvertretend nur das Gesetz zur Förderung der bäuerlichen Landwirtschaft nennen. Zugleich erinnere ich an ein Ziel unserer Agrarpolitik, daß die Landwirte in die Lage versetzt werden sollen, ihr Einkommen im wesentlichen aus den Verkaufserlösen zu sichern.
Alle Bestrebungen der Bundesregierung gehen deshalb dahin, das Marktgleichgewicht zu stabilisieren und eine einkommensorientierte Preispolitik zu ermöglichen, die derartige Einkommensbeihilfen überflüssig macht. Bei der Frage direkter Beihilfen kann die tatsächliche Einkommenssituation der landwirtschaftlichen Betriebe nicht unberücksichtigt bleiben.
Das abgelaufene Wirtschaftsjahr 1988/89 dürfte einen kräftigen Anstieg der Gewinne gebracht haben. Im Durchschnitt aller Vollerwerbsbetriebe erreichten die Einkommen das bisher höchste Niveau. Für 1989/90 zeichnet sich ebenfalls eine positive Einkommensentwicklung ab. Dies bestätigt die Bundesregierung in ihrer Auffassung, daß die Ordnung der Märkte die beste Preis- und Einkommenspolitik für die Landwirtschaft darstellt.
Zusatzfrage, bitte, Herr Abgeordneter Oostergetelo.
Herr Staatssekretär, ich frage Sie: Warum hat dann die Bundesregierung zugestimmt? Wenn sie jetzt nur mit Durchschnittswerten hantiert, ist es doch klar, daß die im unteren Bereich das zum Überleben sehr nötig hätten.Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich glaube, ich brauche meiner Antwort nichts hinzuzufügen. Im übrigen haben die Bundesländer die Möglichkeit, von zusätzlichen Hilfen Gebrauch zu machen. Zwei Länder der Bundesrepublik Deutschland, nämlich Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg, zahlen Existenzstützungsgelder bis zu einer Höhe von 5 000 DM pro Betrieb. In Baden-Württemberg ist damit vor zwei Jahren begonnen worden. Das ist im Rahmen dieser Verordnung, die die EG jetzt erlassen hat, zulässig. Es kann also weiter gezahlt werden. Ich kann die Bundesländer daher nur auffordern, den Ländern Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz nachzueifern.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989 13077
Die Fragestunde ist beendet.
— Ich sagte es bereits. Ich gab schon ein Signal, Herr Kollege. Ab und zu sagt der Präsident auch, wann Schluß ist.
Herr Kollege Oostergetelo hat noch eine Zusatzfrage. Dann ist die Fragestunde leider Gottes beendet. Es tut mir leid, Frau Weyel.
Herr Staatssekretär, glaubt die Bundesregierung, ihre ablehnende Haltung gegenüber den in Bedrängnis geratenen kleineren Betrieben durchhalten zu können, wenn man hört, daß z. B. in anderen Ländern wie in den Niederlanden solche Beihilfen zügig eingeführt werden sollen?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wir beobachten die Einkommensentwicklung sehr wohl. In der Zwischenzeit ist die Situation, die Sie ansprechen, dadurch wesentlich verbessert worden, daß wir wie kein anderes Land in Europa die benachteiligten Gebiete auf 53 % der Fläche ausgedehnt haben und entsprechende Ausgleichsbeträge zahlen. Die anderen Länder in Europa haben bei weitem nicht so viele benachteiligte Gebiete ausgewiesen und zahlen auch in dem Ausmaße keine Einkommenshilfen, die in der Bundesrepublik Deutschland in der Zwischenzeit auf 700 Millionen DM angestiegen sind und gemeinsam von Bund und Ländern aufgebracht werden.
Die Fragen 31 der Abgeordneten Frau Schmidt , 32 des Abgeordneten Dr. Müller und 33 der Abgeordneten Frau Walz aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Das gleiche gilt für die Fragen 34 und 35 des Abgeordneten Heistermann, 36 des Abgeordneten Steiner sowie 37 und 38 der Abgeordneten Frau Vennegerts aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe Zusatzpunkt 3 der Tagesordnung auf: Aktuelle Stunde
Die Haltung der Bundesregierung zur gerichtlichen Feststellung über die Unzulässigkeit des Betriebs der Atomanlage in Hanau
Die Fraktion DIE GRÜNEN hat gemäß unserer Geschäftsordnung diese Aktuelle Stunde verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Kleinert .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der letzten Woche hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof eine denkwürdige Entscheidung getroffen. Er hat entschieden, daß wesentliche Teile von Betrieb und Fertigung bei der
Hanauer Nuklearfabrik Alkem — heute Siemens Brennelemente — illegal waren und illegal sind. Damit haben jene Kläger Recht bekommen, die wie wir seit Jahren auf den Tatbestand der Illegalität des Betriebes bei Alkem hingewiesen haben.
Diese Entscheidung ist weit mehr als eine neue Etappe in dem langen politischen und juristischen Streit um die Hanauer Nuklearfabriken. Die Richter haben mit dieser Entscheidung den Genehmigungsbehörden das denkbar schlechteste Zeugnis ausgestellt. Sie haben den atomrechtlichen Genehmigungsbehörden — ich zitiere — „eine fehlerhafte Beurteilung der Rechtslage" bescheinigt. Sie haben den Genehmigungsbescheid des hessischen Umweltministers als rechtsfehlerhaft bezeichnet, d. h. im Klartext: Das oberste hessische Verwaltungsgericht hat die atomrechtlichen Genehmigungsbehörden der Rechtsbeugung überführt.
Es steht fest, daß es vorab nie Zustimmung und Teilgenehmigungen bei Alkem hätte geben dürfen.
— Halten Sie doch einmal die Klappe.
— Halten Sie wirklich einmal die Klappe. Sie tragen die Verantwortung für diese skandalöse Entwicklung und machen solche Zwischenrufe.
Herr Kollege, ich bitte Sie wirklich! Das ist doch kein Stil in diesem Hause, Herr Kleinert.
Ihr Verhalten ist unmöglich.
— Er hat überhaupt nichts mitgetragen. Vizepräsidentin Renger: Ich bitte jetzt um Ruhe. Bitte, Herr Kleinert.
Es steht fest, daß diejenigen, die diese Genehmigungen erteilt haben, und daß diejenigen, die dieses Verfahren als Aufsichtsbehörde mitgetragen haben, gegen geltendes Recht verstoßen haben. Herr Weimar in Hessen hat gegen geltendes Recht verstoßen, und Herr Töpfer als Bundesaufsichtsbehörde hat ebenfalls gegen geltendes Recht verstoßen.
Die ganze Sache ist noch schlimmer: Es ist nicht nur ein fehlerhafter Bescheid ergangen; die Rechtsbeugung, um die es hier geht, erfolgte mit Absicht.
Sie haben es in voller Kenntnis der Tatsache getan, daß damit gegen das Atomrecht verstoßen würde. Sie wußten, Herr Töpfer, was Sie da in trauter Komplizenschaft mitgetragen und unterstützt haben. Sie haben es getan, weil eines unter keinen Umständen eintre-
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Kleinert
ten sollte, nämlich eine Stillegung bei der Hanauer Brennelementefabrikation.
Mochte diese Stillegung rechtlich noch so zwingend geboten sein, unter allen Umständen sollte sie vermieden und sollte sie verhindert werden. Das Recht war Ihnen gleichgültig.Die Sachlage war doch so: Mit der Entscheidung der Hanauer Umweltkammer vom Dezember 1987 war richterlich festgestellt: Die Betreiber von Alkem betreiben objektiv eine illegale Anlage. Sie wurden damals nur deshalb freigesprochen, weil ihnen ein Verbotsirrtum zuerkannt worden war. Damit war aber für Töpfer und für Weimar eine Situation entstanden, in der verzweifelt ein Ausweg gesucht wurde. Entweder mußte sofort stillgelegt werden, was sie nicht wollten, da die Brennelementeproduktion weiterlaufen sollte, oder aber Minister Weimar oder sogar Töpfer riskierten selbst Anklagen.Was haben Sie jetzt gemacht? In dieser Lage wurde der Ausweg in herbeimanipulierten Rechtskonstruktionen gesucht. Da wurden illegale Vorabzustimmungen zu Teilgenehmigungen umdefiniert, für die ebenfalls die gesetzlichen Voraussetzungen erkennbar nicht vorlagen.Im Klartext: Statt spätestens nach 1987 die einzig möglichen rechtsstaatlichen Konsequenzen zu ziehen, wurde gezielt der Weg der Rechtsbeugung und der Rechtsmanipulation beschritten. Das geht nicht nur Hessen an; Herr Töpfer als atomrechtlich zuständiger Minister hat das alles gewußt, und er hat es gebilligt. Erst gestern hat der hessische Umweltminister im Landtag darauf hingewiesen, daß die Teilgenehmigung vom April 1989 in enger Abstimmung mit dem Bundesumweltminister erfolgt sei.
Wenn Weimar in Wiesbaden die Wahrheit gesagt hat, dann muß sich hier die Frage stellen: Kann ein Bundesumweltminister noch tragbar sein, der eine solche Rechtsbeugung billigend in Kauf nimmt,
durch Komplizenschaft unterstützt und jedenfalls nichts zu ihrer Verhinderung unternimmt?
Kann ein Umweltminister noch tragbar sein, der die Öffentlichkeit bewußt dem Sicherheitsrisiko einer nach Atomrecht gar nicht genehmigungsfähigen Anlage aussetzt, bloß damit die Brennelemente weiter produziert werden können? Wie weit wird die Verantwortungslosigkeit von öffentlichen Aufsichts- und Genehmigungsbehörden überhaupt gehen, wenn ein Kernstück der bundesdeutschen Atomindustrie betroffen ist?Meine Damen und Herren, es ist ein ungeheuerlicher Vorgang,
mit dem wir es hier zu tun haben. Wenn das zutrifft, was Herr Weimar erklärt hat, wenn zutrifft, daß das alles in enger Abstimmung mit Töpfer erfolgt ist, wenn Weimar auf Anweisung aus Bonn gehandelt hat, dann muß das hier auch Konsequenzen haben; dann muß sich Herr Töpfer dazu erklären. Ich glaube, Herr Töpfer ist, wenn das zutrifft, als Umweltminister nicht mehr tragbar.
Das Wort hat der Abgeordnete Schmidbauer.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Kleinert, Ihre Sprache verrät Sie natürlich. Dies ist nicht ein ungeheurer Vorgang, sondern es ist ungeheuerlich, welche sprachlichen Methoden Sie hier verwenden und daß Sie von Rechtsbeugung reden, ohne daß eine Begründung des Urteils vorliegt. Ich weiß jetzt genau, welchen Zweck diese Aktuelle Stunde hatte. Ich dachte ursprünglich, vielleicht wollen die GRÜNEN so langsam eine Aufklärung über die eigentlichen Vorgänge haben. Ihre Sprache hat Sie völlig verraten. Wir tun Ihnen nicht den Gefallen, in dieser Weise hier zu antworten.
Ich darf Sie einmal auf einige Punkte aufmerksam machen. In seiner Ausgabe vom 18. April 1989 hat der „Spiegel" zu der Umwandlung der Vorabzustimmungen in Teilgenehmigungen für die Firma Alkem geschrieben, daß dieser Maßnahme eine jahrelange juristisch komplizierte Auseinandersetzung, auf welcher rechtlichen Grundlage die Hanauer Firma eigentlich arbeitet, vorausgegangen ist. Die Auffassung des „Spiegels" — es gibt auch andere Stimmen — belebt, wo bei Alkem das eigentliche Problem liegt. Hier geht es nicht um Fragen der Sicherheit, sondern um höchst komplizierte juristische Fragen. Diese Problematik hat ihren Grund in der juristisch defizitären Novellierung des Atomgesetzes von 1975, Herr Kollege Schäfer.Da bisher eine höchstrichterliche Entscheidung zu dem Fragenkomplex aussteht, herrscht in diesem Bereich eine gewaltige Rechtsunsicherheit. Für diese Rechtsunsicherheit ist jedenfalls nicht die derzeitige hessische Landesregierung verantwortlich. Im Gegenteil: Die insoweit unzureichende vierte Novellierung des Atomgesetzes geht auf das Konto der damaligen SPD-geführten Bundesregierung. Wenn Sie es noch schlimmer haben wollen: Bis 1987 hat die ehemalige hessische SPD-Landesregierung an dem unbefriedigenden Rechtszustand keinerlei Anstoß genommen. Erst der neue Umweltminister Weimar hat die Klärung in Hanau mit festen Terminplänen in Angriff genommen.
Die Entscheidung des Hanauer Landgerichts von Ende 1987
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989 13079
Schmidbauer— ich gehe gerade darauf ein — hat nicht zur Beseitigung der Rechtsunsicherheit beigetragen. Das Gericht war der Auffassung, daß die Vorabzustimmungen rechtswidrig seien. Diese Vorabzustimmungen sind, was heute die Opposition nicht mehr wahrhaben will, von der früheren SPD-geführten hessischen Landesregierung erteilt worden. Das müssen sie zur Kenntnis nehmen. Diese Auffassung des Hanauer Landgerichts wurde weder vom hessischen Umweltminister noch vom Bundesumweltminister geteilt. Beide haben gleich gehandelt. Deshalb hat die hessische Landesregierung die Konsequenzen aus der Entscheidung des Landgerichts Hanau gezogen, und zwar bereits ein Vierteiljahr nach diesem Richterspruch.
Die Vorabzustimmungen wurden in Teilgenehmigungen für die Altanlage der Firma Alkem umgewandelt. Damit hat die hessische Landesregierung einen Beitrag dazu geleistet, den von der früheren rot/grünen Koalition in Hessen verursachten und geduldeten Zustand auf eine saubere rechtliche Grundlage zu stellen.
Die Tatsache, daß bei der nunmehrigen Entscheidung der hessische Verwaltungsgerichtshof eine andere Auffassung vertreten hat, gehört, so meine ich, zum Alltag unseres Rechtsstaates. Niemand, auch nicht die Opposition bzw. die von ihr bestellten Gutachter, können heute sagen, wie die höchstrichterliche Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zu dieser Frage aussehen wird. Wir haben in dieser Frage ein schwebendes Verfahren, an dessen Ende unter Umständen die Bestätigung für das Vorgehen der hessischen Landesregierung steht.
Erst dann werden alle Beteiligten eine klare Vorgabe haben, und die juristischen Unsicherheiten werden beseitigt sein.Dieser Auffassung war auch der hessische Verwaltungsgerichtshof, den Sie hier zitiert haben. In seiner Presseerklärung heißt es — ich darf zitieren — :Eine endgültige Klärung der Rechtslage ist möglicherweise erst nach einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zu erwarten, da der Verwaltungsgerichtshof die Revision gegen die in den Klageverfahren ergangenen Urteile zugelassen hat.
Ich finde, es ist rechtsstaatliche Gepflogenheit, die Entscheidungen der Gerichte zu akzeptieren. Wer will am Ende dem mit seiner Rechtsauffassung Unterlegenen einen Vorwurf daraus machen, daß er andere Rechtsauffassung als das Bundesverwaltungsgericht vertreten hat?Die von den GRÜNEN beantragte Aktuelle Stunde ist in diesem Zusammenhang weniger aktuell und weniger hilfreich. Wohl aber wird der Versuch gemacht,eine Verantwortung, die zu dem damaligen Zeitpunkt bei Ihnen lag,
auf heute Verantwortliche zu übertragen. Dieser Versuch ist an sich strafbar, Herr Kollege Kleinert.
Das Wort hat der Abgeordnete Reuter.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der gravierende Unterschied zwischen Ihnen, Herr Kollege Schmidbauer, und uns ist der, daß wir in den zurückliegenden fünfzehn Jahren im wesentlichen dazugelernt haben, aber Sie auf Positionen beharren, die nicht haltbar sind.
Der hessische Verwaltungsgerichtshof hat die 1988 vom hessischen Umweltminister erlassenen Teilgenehmigungen für die Produktion von plutoniumhaltigen Brennelementen bei der früheren Alkem in Hanau für offensichtlich rechtswidrig erklärt und den Sofortvollzug für diese Genehmigungen aufgehoben. Diese Entscheidung, meine Damen und Herren, ist nicht nur eine schallende Ohrfeige für den von einem Fettnäpfchen ins andere tretenden hessischen Atomminister Karlheinz Weimar, sondern auch für den die Aufsicht führenden Bundesatomminister Töpfer. Herr Bundesminister Töpfer, Ihr Verhalten bei diesem offensichtlich rechtswidrigen Verwaltungsakt wirft einige Fragen auf, auf deren Beantwortung wir sehr gespannt sind.Wie hat sich z. B. Ihre Rolle als Bundesaufsicht seit dem Wechsel von einer sozial-ökologischen Koalition in Hessen im Frühjahr 1987 zu der Regierung Ihres Amtsvorgängers Wallmann geändert? Ich erinnere daran, daß Ihr unmittelbarer Amtsvorgänger Wallmann die Bundesaufsicht gegenüber der hessischen Verwaltung mehr als exzessiv wahrgenommen hat. Ich erinnere daran, daß Bundesatomminister Wallmann im Frühjahr 1987 mit weitgehenden Weisungen in das Alkem-Genehmigungsverfahren hineinregiert und die von der hessischen Landesregierung beabsichtigten Einschränkungen der Alkem-Produktion verworfen hat. Ihr Haus, Herr Töpfer, war es schließlich, das die Erhöhung der Plutoniumsumgangsmenge von 460 kg auf 2,5 t mit Weisung vom 10. März 1987 erzwungen hat, einen Monat vor der hessischen Landtagswahl.Ihr Amtskollege Weimar hat Sie mit Bericht vom 17. März 1988 detailliert über seine Absichten hinsichtlich der Alkem-Genehmigungen aufgeklärt. „Weiteres Vorgehen hinsichtlich der Firma Alkem nach dem Urteil des Landgerichts Hanau" stand über diesem Bericht, mit dem der Erlaß der jetzt offensichtlich als rechtswidrig beurteilten Teilgenehmigungen vorbereitet wurde. Sie, Herr Minister Töpfer, haben diese Vorgehensweise akzeptiert. Sie haben keine Weisung erlassen, um Ihren CDU-Amtskollegen zu rechtmäßigem Handeln zu veranlassen.
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13080 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989
ReuterWas haben eigentlich Ihre Beamten, Herr Töpfer, zu dem juristischen Taschenspielertrick mit der Teilgenehmigung gesagt? Hat niemand bei Ihnen im Hause Bedenken gegen diesen abenteuerlichen Weg geäußert, die Schließung von Alkem durch diese Teilgenehmigungen doch noch zu verhindern? Ich kann mir nicht vorstellen, daß Ihre Beamten, Herr Minister Töpfer, weniger klug sind, als die Juristen im hessischen Justizministerium, die dringend vor diesem Irrweg gewarnt haben.
Ist es nicht vielmehr so, daß Sie aus politischen Gründen, auch wegen Ihres Amtsvorgängers Wallmann, Ihre Pflicht vernachlässigt haben, rechtmäßiges Verhalten des hessischen Atomministers zu erzwingen?Sie haben im Frühjahr 1988 vor dem Atom-Untersuchungsausschuß gesagt, daß Sie die vom Hanauer Landgericht für illegal erklärten Vorabzustimmungen weiterhin als rechtmäßig ansehen würden. Was sagen Sie, Herr Minister Töpfer, jetzt zur Bewertung des höchsten hessischen Verwaltungsgerichts? Bleiben Sie bei Ihrer 1988 erteilten Zustimmung zu den Teilgenehmigungen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie messen mit zweierlei Maß. Sie und Ihr Haus üben die Atomaufsicht nach politischem Gutdünken aus. Ihr Amtskollege in Hessen ist nach dem eklatanten Scheitern seiner Atomgenehmigungspolitik als Minister nicht mehr tragbar. Gehalten wird er nur noch von einem Ministerpräsidenten Wallmann, der in seine eigene Vergangenheit als oberster Atomaufseher verstrickt ist. Und wenn Sie, Herr Minister Töpfer, nicht die Konsequenzen aus diesem Urteil ziehen, dann werden die Folgen aus dem Hanauer Scherbenhaufen auch vor Ihrer Person nicht haltmachen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Segall.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Wir debattieren hier über ein Gerichtsurteil, ehe die schriftliche Begründung vorliegt. Ob das eine sinnvolle Veranstaltung ist?In dem seit geraumer Zeit andauernden politischen und rechtlichen Streit um die Hanauer Brennelementefabriken hat der Verwaltungsgerichtshof in Kassel zu wichtigen und schwierigen rechtlichen Fragen eine Entscheidung gefällt.Es geht hier um die Klärung juristischer Fragen, um die Interpretation geltenden Rechts. Hierüber gibt es unterschiedliche Meinungen. Diese werden auf dem dafür vorgesehenen Weg, nämlich durch Anrufung und Entscheidungen der Gerichte, geklärt. Es ist ja gerade einer der großen Vorzüge einer demokratischen Verfassung, daß — durch die Teilung der Gewalten — unabhängige Gerichte Verwaltungshandeln und auch den Gesetzgeber kontrollieren können.Es geht also nicht um die Sicherheitstechnik, nicht um die Sicherheitsanforderungen im Rahmen der friedlichen Nutzung der Kernenergie. Sicherheitsstandards so hoch wie möglich sind für uns heute wiekünftig unabdingbare Voraussetzungen für die Kernenergienutzung. Der nun zunächst nicht mehr vollziehbare Teilgenehmigungsbescheid sah sicherheitserhöhende Maßnahmen vor. Daher ist auch zu bedauern, daß mit der Nichtvollziehbarkeit der Teilgenehmigung auch diese sicherheitserhöhenden Maßnahmen nicht mehr zulässig sind.Der Rechtsstreit, um den es hier geht, spielt sich in einer ausgesprochen schwierigen rechtlichen Lage ab:Die Übergangsregelung in der Atomrechtsnovelle von 1975 weist insofern Defizite auf — auf diese hat bereits auch Herr Schmidbauer hingewiesen — , als dort zwar das Ziel, aber nicht der Weg beschrieben wird, wie der bisherige Betrieb der Brennelementefabriken auf die Genehmigungsgrundlage nach § 7 Atomgesetz zu überführen ist. Denn der Gesetzgeber hat seinerzeit den Verfahrensweg nicht im einzelnen festgelegt.Die Vorabzustimmung, die die Vorgängerregierung der jetzigen CDU/FDP-Landesregierung in Hessen erteilt hat, ist unter diesen Umständen nur eine juristische Hilfskonstruktion. Jeder Versuch, Korrekturen durchzuführen, ist natürlich mit Risiken verbunden, aber auf keinen Fall eine Rechtsbeugung, weder durch den hessischen Minister Weimar noch durch den Bundesminister Töpfer. Natürlich wird die Zulässigkeit einer solchen Hilfskonstruktion unterschiedlich beurteilt. Und damit ist immer auch ein Prozeßrisiko verbunden. Dies gilt auch dann, wenn durch eine Vorabzustimmung die Sicherheit einer Anlage verbessert werden soll.Die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs hat nun allerdings unmittelbare Konsequenzen: Die Umwandlung der zwei Vorabzustimmungen in Zustimmungen zum Konversionsverfahren und zur Brennstablinie 1 sind als rechtswidrig aufgehoben worden. Die aufschiebende Wirkung der Klagen ist wiederhergestellt worden. Damit werden die vom Gericht beanstandeten Verarbeitungsschritte in der Herstellung stillgelegt. Soweit also die mündliche Urteilsbegründung Anhaltspunkte für notwendiges sofortiges Handeln ergeben hat, ist dieses bereits erfolgt.Welche weiteren Konsequenzen sich aus dem Urteil im Hinblick auf Alkem und andere Brennelementeverarbeitungen ergeben, muß anhand der Urteilsbegründung sorgfältig geprüft werden.Der Verwaltungsgerichtshof hat die Revision vor dem Bundesverwaltungsgericht zugelassen. Auch dies zeigt Bedeutung und Kompliziertheit der Materie. Eine endgültige Klärung der juristischen Fragen durch das Bundesverwaltungsgericht bleibt also abzuwarten. Der Verwaltungsgerichtshof weist darauf in seiner Presseerklärung ausdrücklich hin. Es ist zu begrüßen, daß die vorhandenen unterschiedlichen Rechtsmeinungen höchstrichterlich und damit endgültig entschieden werden.Für uns ist selbstverständlich, daß atomrechtliche Genehmigungsverfahren nach Recht und Gesetz durchgeführt werden müssen. Notwendig und wünschenswert sind natürlich möglichst gerichtsfeste Verwaltungsentscheidungen. Allerdings können in komplizierten Rechtsmaterien Verfahren sicher nicht stets
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Frau Dr. Segallso wasserdicht gemacht werden, wie dies z. B. in einem Pressekommentar zu dem Urteil des Kasseler Gerichts gefordert wurde.Ich verstehe sehr gut, daß man gerade bei so sensiblen Vorhaben wie in diesem Fall dem Umgang mit nuklearem Material ein Höchstmaß an Perfektion — auch bei dem Erstellen und Bewerten von Genehmigungsunterlagen — fordert.Im Interesse einer größeren Akzeptanz gerade der Nuklearenergie wäre dies sicher wünschenswert. Juristische Formulierungen sind aber immer auslegungsfähig, auslegungsanfällig.Der Grad der Sicherheit der technischen Anlagen kann damit aber in keinem Fall verglichen werden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Daniels .
: Herr Kollege Schmidbauer, ich möchte hier noch einmal klarstellen, daß im Zusammenhang mit den Genehmigungen in Hessen nicht die GRÜNEN und auch nicht der Herr Fischer zuständig waren, sondern daß das in die alleinige Verantwortung von dem Herrn Steger fiel. Insoweit, nämlich in bezug auf das, was Sie uns soeben vorgeworfen haben, war auch Ihr Beitrag nicht gerade sachlich.
Aber ich möchte noch einmal deutlich machen, um was es hier tatsächlich geht. Es geht darum, daß Vorabgenehmigungen in Teilgenehmigungen umgewandelt wurden, daß man es hier seit Jahren mit dem Betrieb einer illegalen Anlage zu tun hat und daß diese Anlage, wenn es nach dem Atomgesetz ginge, niemals genehmigungsfähig wäre. Das wissen alle. Und deswegen finden diese Tricksereien hier statt.
Man muß sich auf der anderen Seite vor Augen halten, wie es in dieser Anlage aussieht. In der Firma Alkem gibt es ein Dach, das 8 mm dick ist. Die Fertigungslinien sind noch nicht einmal gegen Flugzeugwrackteile oder kleine Meteoriten geschützt. Das wäre heute alles nicht mehr genehmigungsfähig. Das wissen Sie sehr genau. Deswegen laufen diese Tricks weiter, um eine Stillegung dieser Anlage zu verhindern. Bis 1975 — hat das Gericht festgestellt — waren diese Genehmigungen noch rechtskräftig. Deswegen hat es eine Teilstillegung gegeben. Diese Anlage, die jetzt nach dem OKOM-Verfahren 1980 genehmigt wurde, müßte rechtlich gesehen jetzt genauso sofort stillgelegt werden, weil diese Genehmigung erst 1980 erteilt wurde. Ich frage auch den Umweltminister, wie er dazu steht. Denn wenn man dieses Urteil richtig interpretiert, müßte es zur Folge haben, daß sofort die ganze Anlage stillgelegt wird.
Es läßt sich hier also feststellen, daß der Betrieb der Anlage seit Jahren durch verschiedene politische Tricks durchgehalten wird
und daß dieser Zustand endlich beendet werden muß. Die GRÜNEN haben seit Jahren darauf aufmerksam gemacht. Sie werden sehen, daß wir auch auf der juristischen Ebene unsere Meinung in diesem Punkt eindeutig bestätigt bekommen werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Harries.
Frau Präsidentin! Meine Herren! Der Betrieb Alkem in Hanau ist seit einiger Zeit wieder im Gespräch, längst nicht bei allen, aber doch bei denen, die politisches Kapital aus einer schwierigen Rechtsfrage ziehen wollen. Das Ziel ist wieder einmal, die Bevölkerung bei uns zu verunsichern. Ein Anlaß für eine Aktuelle Stunde liegt überhaupt nicht vor; das ergibt schon die sehr überschaubare Zahl von vier anwesenden Kollegen aus der Fraktion der GRÜNEN, die den Antrag gestellt haben.
Daß kein Anlaß für eine Aktuelle Stunde vorliegt, ergibt sich insbesondere daraus, daß wir überhaupt noch kein rechtskräftiges Urteil haben, daß wir die Urteilsgründe des Gerichtshofs in Hessen nicht kennen. Das bleibt abzuwarten.Im hessischen Landtag wurde vor kurzem in der Debatte bereits massiv von „Etikettenschwindel" , von „Rechtsbruch" gesprochen. Dieser Stil ist hier heute von Ihnen, Herr Kleinert, in, wie ich meine, ganz schlimmer Weise fortgesetzt worden, indem Sie von „Rechtsbeugung" sprechen, ohne — das möchte ich Ihnen unterstellen; ich weiß nicht, ob ich damit richtig liege — daß Sie wissen, daß Rechtsbeugung im juristischen Sinne ein vorsätzliches Handeln gegen Bestimmungen überhaupt bedeutet.
Der Sachverhalt, um den es hier geht, ist kompliziert genug; ich will darauf nicht eingehen. Der Hessische Verwaltungsgerichtshof hat, wie hier schon einige Male gesagt wurde, eine Teilgenehmigung, die der hessische Umweltminister 1988 erteilt hat, aufgehoben, aber nun nicht etwa wegen Unzulässigkeit oder Nichtigkeit, sondern wegen Rechtswidrigkeit. Jeder Jurist weiß, daß das ein eklatanter und ganz wesentlicher und wichtiger Unterschied ist. Die Aufhebung des Urteils erfolgte aus formellen Gründen.Meine Damen und Herren, wenn man von Skandal spricht — das ist hier geschehen — , dann liegt ein Skandal allenfalls in dem, was in Hessen unter einer Regierung über Jahre geschehen ist, in der die GRÜNEN mit vertreten waren und in der sie gemeinsam
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HarriesVerantwortung getragen haben, ohne sich damals in dieser Frage zu wehren oder dazu nein zu sagen.
Der Skandal liegt in keiner Weise in dem, was der hessische CDU-Umweltminister 1988 eingeleitet hat, indem er damals Schritte unternommen hat, um die Brennelementeproduktion der Hanauer Firma Alkem wieder auf eine rechtlich einwandfreie Grundlage zu stellen. Dies war erforderlich, weil das Hanauer Landgericht 1987 mehrere erteilte Vorabzustimmungen für rechtswidrig erklärt hat. Dann ist ein neuer Weg auf Grund einer schwierigen Rechtslage beschritten worden.
Der hessische Umweltminister hat die Genehmigung — zwar ohne nochmaliges Anhörungsverfahren—durch eine Teilgenehmigung zu retten versucht,
in enger Abstimmung mit dem Bundesumweltminister. Meine Damen und Herren, hier hat man sich um eine Lösung eines schwierigen Problems bemüht. Man hat sich abgesprochen. Es bleibt abzuwarten, wie das Bundesverwaltungsgericht endgültig und letztlich entscheiden wird.Eines kann heute schon gesagt werden, und da kann man Gewichte, die in der Debatte von Ihnen sehr durcheinander gewürfelt sind, bereits wieder zurechtrücken: Ein politischer Skandal liegt weder beim Bundesumweltminister noch beim hessischen Umweltminister vor. Zugegebenermaßen sind schwierige Rechtsfragen zu klären. Das Bundesverwaltungsgericht ist nun aufgerufen, eine endgültige Entscheidung zu treffen. Die erste Instanz hat — das besagt für Kenner auch etwas — ausdrücklich die Revision zugelassen. Die Haltung der Bundesregierung und insbesondere des Bundesumweltministers war in jeder Phase des Verfahrens korrekt. Man hat sich abgestimmt und hat das gedeckt.Sicherheitsprobleme, meine Damen und Herren — auf diese Aussage hat die Bevölkerung einen Anspruch — hat es zu keinem Zeitpunkt gegeben. Es liegt jetzt ein Schaden vor — den hat die Firma Siemens zu tragen, den haben die Arbeitnehmer zu tragen — , denn mit einer jahrelangen Verzögerung muß gerechnet werden.
Letzte Bemerkung von mir: In diesem Hause — wir haben das alle miterlebt — wurde aus Anlaß der Debatte zur Lage der Nation von Gemeinsamkeit geredet. Ich bedauere — ich glaube, das tun mehrere —, daß es in der wichtigen Frage der Energiepolitik und der Energieversorgung keine Gemeinsamkeit gibt. Ich bin nicht naiv genug, anzunehmen, daß man hier mit einer Gemeinsamkeit rechnen kann. Nur, meine Damen und Herren, eines müßte möglich sein — und da appelliere ich wieder an Sie und appelliere wieder an die Opposition — : daß gerade wegen der ganzschwierigen Fragen der Kernenergie, ihrer Zukunft, ihrer Problematik und ihrer Bedeutung — ich brauche das jetzt nicht zu vertiefen — , zumindest in sachlicher Weise diskutiert und nicht mit Verleumdung gearbeitet wird. Das wäre mein Appell an Sie in dieser Aktuellen Stunde.
Das Wort hat der Abgeordnete Stahl.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das am 1. November gefällte Urteil des Verwaltungsgerichtshofs in Kassel ist zwar ziemlich taufrisch, Herr Kleinert, die Begründung des Gerichts liegt uns aber noch nicht vor. Der Vorgang und die Zusammenhänge des Streitgegenstandes, der Vorabgenehmigung der neuen Technologien zur Brennelementherstellung, sind aber nicht neu. Das wissen Sie auch. Das wußte auch Ihr damaliger Umweltminister. Deshalb sollte man, verehrter Herr Kleinert und die Kollegen von den GRÜNEN, künftig ernsthaft überlegen, ob eine Aktuelle Stunde des Parlaments der richtige Weg ist, ohne genaue Kenntnis der Urteilsbegründung diese komplizierte technische und juristische Materie in einer Aktuellen Stunde zu erörtern.
Dabei scheint mir die Unterrichtung im Ausschuß der bessere Weg zu sein. Aber ich bin sicher, daß Sie das nicht wollen.Aber ich sage auch den Regierungsparteien: Meine Damen und Herren, wenn ich mir Ihr Verhalten in der letzten Aktuellen Stunde bezüglich des Frankfurter Urteils ansehe, bezogen auf die Soldaten, dann fehlt mir aber tatsächlich auch das Verständnis für das, was hier im Plenum des öfteren an Sinnigkeiten und Unsinnigkeiten insgesamt auch von seiten der Regierungsparteien gesagt wird. Damit zeigt es sich, daß die spektakulären Sachen, die Sie politisch aufnehmen wollen, um draußen Effekte zu erzielen, wesentlich größer sind, als hier eine aktuelle Aufklärung zu erhalten. Diese Entwicklung scheint mir, Frau Geschäftsführerin, einmal ernsthaft im Ältestenrat besprochen werden zu sollen.Aber zur Sache: In einem Urteil in einem Strafprozeß gegen Beamte und führende Personen der Wirtschaft entschied das Landgericht, daß die Vorweggenehmigung zur Veränderung von Produktionsprozessen rechtlich wohl nicht haltbar ist. Die damit wohl zu recht sich stellenden Fragen der Genehmigungspraxis des hessischen Umwelt- und Reaktorsicherheitsministers wurden im folgenden Rechtsstreit vor dem Verwaltungsgericht eingebracht. Dies, meine Damen und Herren, ist, unabhängig vom Standpunkt der Zustimmung oder Ablehnung der Nutzung der Kernenergie, eine Frage, deren Verfolgung auch im Interesse der Rechtssicherheit, in der Auslegung des § 9 des Atomgesetzes und deren eindeutige Klärung für
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Vizepräsidentin Rengerdie wirtschaftliche Betätigung der Industrie und für die Belegschaften in den Betrieben notwendig ist.Durch das Urteil selbst sind nur Teile des Betriebs betroffen, der hier in Diskussion steht. Tatsache ist, daß die Erweiterung der technischen Kapazität des Anlageinventars von 460 Kilo PU nicht verändert wurde, Herr Kleinert.Nun bin ich kein Jurist — vielleicht sind Sie einer, ich weiß nicht — , der sich in der Auslegung der juristischen Spitzfindigkeiten auskennt. Aber Fragen und Anstöße, Herr Bundesminister, sind durchaus vernünftig, auch wenn man den Text der Begründung nicht kennt, sie sind auch hilfreich und meines Erachtens auch notwendig, auch wenn der Verwaltungsgerichtshof, worauf Sie ja hier schon verwiesen haben, die Revision ausdrücklich zugelassen hat.Mir scheint der von den GRÜNEN erhobene Vorwurf der Rechtsbeugung nicht gerechtfertigt. Wer die Stellungnahme von Minister Weimar vom 2. November liest, stellt fest, daß er dort sagt, es wäre ein gesetzgeberisches Vakuum vorhanden, das den Verfahrensweg der Vorabstimmung in einer Teilgenehmigung betrifft. Er sagt weiter, es wäre nach bestem Wissen und Gewissen mit Zustimmung der Bundesaufsicht entschieden worden. Dies will ich nicht in Frage stellen; aber es ist doch die Frage zu stellen, wenn zu Recht auf die Vorgängerregierung abgehoben wird, obwohl das Landgericht in Hanau diese Praxis der Vorausgenehmigung nach Änderung des Atomgesetzes als rechtlich nicht haltbar erklärt hatte, warum hier in der Bundesregierung in dieser Zeit, verehrter Herr Töpfer, nichts geschehen ist. Deshalb folgende Fragen an Sie von seiten der SPD-Fraktion:Erstens. Hatte Ihr Haus den Spruch des Landgerichts Hanau und seine Auswirkungen auch auf Verwaltungsvorgänge nicht ernsthaft überprüft?Zweitens. Haben Sie, Herr Minister, nachdem die Hessen Ihnen den Vorgang der aufsichtlichen Zustimmung vorgelegt hatten, auch die von Weimar angesprochene Übergangsregelung, die ja nicht wasserfest war, mit den notwendigen Gutachten neu überprüfen lassen?Drittens. Welche rechtlichen Überprüfungen, in welcher Art des Prüfvorganges, haben nach dem Landgerichtsurteil in Ihrem Hause — nachdem von zwölf Vorabstimmungen fünf strittig waren, zwei zurückgezogen wurden und dann drei in die Teilgenehmigung TN einflossen — stattgefunden, und trifft es zu, daß Ihr Haus in dieser Angelegenheit — als Hessen Ihnen den Vorgang zur Prüfung überstellte — die Genehmigung nur als formal ansah und als absolut notwendig und angemessen erachtete, um einer Weisung auszuweichen?Ich meine, Herr Minister, diese Fragen bedürfen einer Beantwortung, auch wenn höchstrichterlich hier noch keine Entscheidung getroffen worden ist.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Baum.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Argumentationslage ist klar. Ich habe eben noch einmal die Presseerklärung des Gerichts durchgelesen. Das ist ja doch eine sehr nachdenkliche und nüchterne Presseerklärung. Sie haben einen Rechtsstandpunkt. Sie haben gesagt, das Verfahren ist so nicht in Ordnung. Sie haben gesagt, eine endgültige Klärung ist das, was wir gemacht haben, nicht. Sie haben gesagt, die Entscheidungen der Aufsichtsbehörden sind rechtsfehlerhaft. In einer unklaren, nicht besonders durch das Gesetz vorgezeichneten Rechtslage, hat das Gericht einen anderen Rechtsstandpunkt als die Exekutive eingenommen. Das kann passieren. Es ist überhaupt nicht zu sehen, daß sich die entscheidenden Behörden hier vorsätzlich über das Recht hinweggesetzt hätten.
Nur das, Herr Kollege Kleinert, wäre Rechtsbeugung. Das wissen Sie doch.
Sie haben das zu einem politischen Kampfbegriff gemacht. Ihre Gegnerschaft zur Atomenergie ist ja bekannt.
— Nein, sie ist so nicht begründet. Lassen Sie uns doch hier nicht einen Rechtsstreit über Verfahrensfragen
zu einer Staatsaktion dergestalt dramatisieren, daß man den Rücktritt des zuständigen Ministers fordert! Wenn Sie sich einmal in Ruhe über diese Sache Gedanken machen, werden Sie sehen, daß Sie aus einer Mücke einen Elefanten gemacht haben. Ich möchte auch eine Klärung der Rechtslage. Ich möchte, daß das geklärt wird.
Wenn das Urteil uns Anlaß gibt, die Rechtslage zu überdenken, werden wir das tun. Die Konsequenzen aus dem Urteil, was die Anlage angeht, sind ja gezogen worden. Ich muß auch noch einmal sagen: Was die Sicherheitstechnik angeht, so ist ja gar kein Defizit eingetreten, denn die Anordnungen, die getroffen worden sind, hatten eine Erhöhung der Sicherheit zum Ziel. Das kann nicht bestritten werden.Meine Damen und Herren, ich meine, daß wir besser daran getan hätten, uns in aller Ruhe mit der Urteilsbegründung im Ausschuß zu befassen. Wenn wir es tun, sind Sie, Herr Kleinert, herzlich eingeladen, dann zu uns zu stoßen. Wir sollten dann gemeinsam beraten, insbesondere wenn die Revisionsentscheidung vorliegt. Ich nehme an, daß das Ministerium an seiner Rechtsauffassung zunächst einmal überhaupt festhält. Das wäre ja die Voraussetzung für eine Revision. Sie haben eine andere Rechtsauffassung, die jetzt endgültig zur Klärung in einem Revisionsverfahren ansteht. Hier ist nichts geschehen, was die Bürger beunruhigen könnte. Hier hat kein Minister bewußt das Recht verletzt, sondern hier wird gestritten, wie es
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Baumin einem Rechtsstaat üblich ist. Es wird gestritten, ob die Art des Verfahrens richtig ist oder nicht.
— Warum macht Sie eigentlich Ihre Gegnerschaft zur Atomenergie für selbstverständliche Fragen des Rechtsstaats so blind?Eben ist gesagt worden — ich übersetze das einmal —, der Bundestag diskutiert jetzt dauernd über Urteile der Gerichte. Das tut er nicht unbedingt immer sehr klug und sehr geschickt. Das ist auch meine Meinung. Aber warum muß das unbedingt in der Weise fortgesetzt werden, wie Sie das heute hier von uns verlangen? Ich schließe mich der Beurteilung an, wie sie hier in aller Nüchternheit von einigen Sprechern— auch von Herrn Stahl — vorgenommen worden ist. Ich bin der Meinung, daß der Bundesregierung und auch der hessischen Landesregierung kein Vorwurf zu machen ist.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Kübler.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es war sicherlich vorauszusehen, daß die Koalition versucht, dieses Thema auf die rein juristische Argumentationsebene zu heben. Aber ich sage gleichwohl etwas zur juristischen Argumentationsebene.Seit 1975 existiert ja eine Neuregelung. Seitdem gibt es zwei Urteile. Das Landgericht Hanau und jetzt der VGH Kassel haben entgegen der von Ihnen vertretenen Rechtsauffassung entschieden. Dies ist ein Faktum. Jetzt hoffen Sie, daß vielleicht das dritte Gericht anders entscheidet. Daß eine Revision zugelassen wurde, ist juristisch sicherlich eine ganz normale Sache.Ich möchte zu Beginn sagen: Herr Minister Töpfer, mich würde interessieren, welche sachliche Meinung Sie eigentlich haben, selbst wenn Sie der Auffassung wären, die juristische Regelung ließe beides zu. Es geht ja — dies muß man noch einmal deutlich sagen — um die Frage der Beteiligung der Öffentlichkeit, um einen Sachgrund. Die Beteiligung der Öffentlichkeit bedeutet ja wohl eine höhere Qualifizierung des Verfahrens. Deshalb würde mich bei dieser Frage— selbst wenn ich unterstelle, sie wäre juristisch strittig; ich stehe nicht auf dem Standpunkt — interessieren, warum Sie nicht die bürgerfreundlichere Interpretation dieser Vorschriften zugrunde legen. Sie gehen gerade von der nicht bürgerfreundlichen und damit, was höhere Sicherheitsanforderungen angeht, ungünstigeren Interpretation aus. Dies ist ein Politikum. Man kann sich eben nicht allein mit einer juristischen Argumentation, die sowieso sehr fragwürdig ist, herausreden,
sondern man muß diese Diskussion auch auf der politischen Ebene führen, und für die Politik sind sie mitverantwortlich.In der Ausgabe der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 2. November, die der Kernenergie prinzipiell ja nicht negativ gegenübersteht, steht: Der zentrale Punkt, über den die Richter zu entscheiden hatten, waren die Bedeutung der öffentlichen Beteiligung an den Genehmigungsverfahren und die Umgehung der Öffentlichkeit. — Dies ist ja wohl ein wesentlicher Punkt. — Es heißt, die Umgehung der Öffentlichkeit bei wesentlichen Änderungen der Produktion— so die Strafrichter in diesem Verfahren — stelle einen außerordentlich schweren Verfahrensverstoß dar.Ich spreche hier nicht von Rechtsbeugung. Ich spreche im Moment aus dem Grunde nicht davon, weil uns im einzelnen noch keine Gründe vorliegen, aber ich mache Ihnen dies politisch zum Vorwurf.Lassen Sie mich eine andere, ganz neutrale Zeitung aus dem südhessischen Raum — aber dieser ist sehr betroffen — zitieren. In dieser Zeitung wird kommentiert, warum die für die Bürger ungünstigere Interpretation der Rechtsvorschriften gewählt wurde. Dort wird formuliert:Nicht unwesentlicher Hintergrund aber ist, daß im Lauf der nächsten Jahre in Hanau eine neue Produktionsanlage in Betrieb gehen soll. Weimars Rechtskonstruktion war also wohl nicht mehr und nicht weniger als der Versuch, Siemens— das ist die Betreiberfirma —die Zeit bis zur Inbetriebnahme der neuen Anlagen überbrücken zu helfen. Die Interessen der Industrie rangieren klar vor denen der betroffenen Bevölkerung.Dies muß man hier doch deutlich herausstellen.Ich möchte insofern den Fragen beitreten, die mein Kollege Stahl gestellt hat. Ich glaube, Sie sollten diese Fragen hier beantworten. Es waren mehrere Fragen. Die erste Frage ist: In welcher Form und zu welchem Zeitpunkt waren Sie an dem Verfahren beteiligt, und welche Rechtsmeinung haben Sie im Rahmen dieser Beteiligung vertreten? Ich möchte ferner die Frage stellen: Hätten Sie, wenn Sie nicht beteiligt worden wären, nicht von sich aus Anlaß gesehen, sich einzuschalten? Ich erinnere an die Diskussion, die wir kürzlich über Brunsbüttel geführt haben. Sie haben im Rahmen dieser Diskussion ausdrücklich zum Ausdruck gebracht, Sie bäten vorher um Abstimmung. Aber selbst wenn Sie auch dort nicht von sich aus tätig geworden wären, muß ich Ihnen den Vorwurf machen, daß Sie hätten tätig werden müssen. Die Frage ist juristisch so umstritten, daß es das mindeste gewesen wäre, diese Frage ausführlich zu diskutieren.Ich wiederhole zum Schluß: Ich möchte deshalb von Ihnen sehr gern eine sachliche und eindeutige Antwort dazu haben, warum Sie im Rahmen eines Ermessensspielraums, der hier ganz zweifellos mindestens vorliegt, nicht die bürgerfreundlichere und damit sicherheitstechnisch richtigere Lösung, also die Beteiligung der Öffentlichkeit, gewählt haben.Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Friedrich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich halte es wie auch einige Redner der Opposition wirklich nicht für sinnvoll — deshalb verzichte ich auf den ersten Teil meiner Rede —, hier in eine politische Bewertung der Genehmigungspraxis einer Behörde einzusteigen, solange wir die Urteile nicht kennen.
Das, was hier vom Kollegen Reuter vorgetragen worden ist — „offensichtlich rechtswidrig" —, ist in sich unlogisch, weil dann das Gericht zu dem Ergebnis hätte kommen müssen, daß diese Genehmigung nichtig ist. Genau das Gegenteil hat das Gericht festgestellt. Herr Kollege Reuter, mit „offensichtlich rechtswidrig" läßt sich natürlich auch nicht die zweifelnde Bemerkung in der Presseerklärung verstehen, daß das Gericht selber sagt: Endgültig wird diese schwierige Lage wohl erst das Bundesverwaltungsgericht klären können. Es gibt so viele Widersprüche, daß man solche Endurteile — ich meine politische hier in diesem Hause — erst dann abgeben sollte, wenn man Urteilsbegründungen und nicht nur Presseerklärungen vor sich liegen hat.
Wir alle sind über die Rechtsunsicherheit nicht glücklich, die bei diesen Hanauer Anlagen zweifelsfrei festzustellen ist. Es ist sicher auch berechtigt, an die jetzige hessische Regierung Fragen zu stellen. Aber ich möchte in aller Deutlichkeit noch einmal feststellen, daß diese Rechtsunsicherheit vor allem zwei Ursachen hat, und dafür tragen Sie die Verantwortung, meine Kolleginnen und Kollegen von der Opposition.
Sie tragen erstens die Verantwortung als Vertreter einer früheren SPD-Bundesregierung, daß in Ihr Atomgesetz in der Fassung von 1975 eine völlig verunglückte Übergangsbestimmung hineingeschrieben wurde. Juristisch kann man das hier so kurz nicht erläutern; ich kann es nur kurz kennzeichnen: Ausgerechnet dort, wo sich Wissenschaft und Technik besonders schnell fortentwickeln, hat ein Anlagenbetreiber rechtlich dann kein Risiko, wenn er eine einmal errichtete Anlage ohne Veränderung fortbetreibt. Er verhält sich unter Sicherheitsgesichtspunkten eigentlich unverantwortlich, und das ist ihm juristisch mit Ihren Stimmen belohnt worden.
— Ja, freilich; das ist ein von der SPD
und auch von meinen Kollegen, die damals schon dabei waren, gebilligtes Gesetz.
Jetzt komme ich zu dem zweiten Vorwurf, den ich erhebe: Man kann aus einem schlechten Gesetz mit einem guten Vollzug noch etwas machen. Die Bayern haben gezeigt, wie das geht. Sie haben bei der Anlage in Karlstein sehr schnell dafür gesorgt, daß man von dieser Übergangsregelung nicht mehr Gebrauch machen muß. Sie haben sehr schnell eine neue Genehmigung nach § 7 des Atomgesetzes in der Fassung von 1975 erteilt. Das Ganze ist völlig aus der Diskussion.
Was haben die hessischen Sozialdemokraten in den Ministerien gemacht? Sie haben von 1975 bis 1980 Grundsatzfragen debattiert. Sie haben dann Grundkonzeptionen festgelegt, und sie haben nicht einmal 1982 noch eine Anhörung durchführen können.
Jetzt sage ich Ihnen einmal mit einem etwas makabren Vergleich, was ich von Ihrem Verhalten halte: Sie verhalten sich — das ist makaber, ich gebe es zu, aber es trifft Ihr Verhalten — wie ein Friedhofswärter, der seinem Nachfolger einige Leichen hinterläßt, die jahrelang nicht bestattet wurden. Im Ruhestand wirft dann dieser Friedhofswärter seinem Nachfolger vor, daß er diese Leichen nicht in dem ortsüblichen Verfahren beerdigt hat.
Das ist im Grunde genommen das, was Sie machen. Sie haben also — jetzt formuliere ich es etwas anders — im hessischen Ministerium einige juristische Leichen hinterlassen, und jetzt höhnen Sie, wenn der neue Umweltminister, der, glaube ich, 1987 ins Amt gekommen ist,
Schwierigkeiten damit hat, Ihre Leichen ordnungsgemäß unter die Erde zu bekommen.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Bundesminister Dr. Töpfer.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zwei Vorbemerkungen machen.
Erstens, Herr Abgeordneter Kleinert: Es ist ganz sicher richtig, daß die Demokratie intensiver und harter Auseinandersetzungen bedarf. Wer aber — wie viele der GRÜNEN — in vielen kirchlichen Akademien mit über politische Kultur und Streitkultur diskutiert, sollte uns einen solchen Stil der Auseinandersetzung, wie Sie ihn hier heute gewählt haben, nicht zumuten.
Es ist meiner Ansicht nach nun wirklich jenseits jeglicher demokratischen Auseinandersetzung, hier von Komplizenschaften, Manipulationen und Rechtsbeugungen zu sprechen. Was eigentlich wollen Sie damit anderes bezwecken als eine Herabminderung der beteiligten Personen? Eine Auseinandersetzung in der Sache ist das nicht, und deswegen halte ich das für außerordentlich schädlich für die Demokratie insgesamt.Lassen Sie mich eine zweite Vorbemerkung machen. Herr Abgeordneter Kübler, hier ging es über-
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Bundesminister Dr. Töpferhaupt nicht um die Frage, ob die Öffentlichkeit ausgeschaltet wird oder nicht. Wenn Sie sich mit dem Verfahren etwas intensiver auseinandersetzen, werden Sie sehen, daß natürlich zu der neuen Anlage der Alkem auch ein öffentliches Verfahren durchgeführt worden ist und daß die Meinung vertreten worden ist, daß die alten Anlagenteile dort mit eingebracht werden; die waren also mit Gegenstand der öffentlichen Anhörung. Der Unterschied besteht darin, daß das Gericht jetzt die Meinung vertritt, hier sei eine Trennung vorzunehmen, die neue Anlage sei also getrennt von der alten Anlage öffentlich zu erörtern. Aber daß hier niemand Informationen unterdrückt oder der Öffentlichkeit verschwiegen hat, sollte man dazu ganz deutlich gesagt haben.
Der Herr Abgeordnete Stahl ist jetzt nicht da, aber lassen Sie mich ergänzend folgendes sagen. Ich schlage wirklich vor, daß wir seine Fragen, die auch mir bedeutsam erscheinen, im Ausschuß weiter erörtern.
— Herr Abgeordneter Schäfer, Sie werden es nicht glauben, aber es gibt nicht immer eine Prämie für den, der aus der Hüfte schießt. Eine Prämie bekommt hier der, der sich mit diesen Dingen — und die sind rechtlich wirklich schwierig zu beurteilen — sauber auseinandersetzt. Lassen Sie uns die Urteilsgründe zur Kenntnis nehmen. Dann werden wir in jeder Form, auch in diesem Hohen Hause, in jeder Detailliertheit dazu Stellung nehmen. Das ist unsere klare Position.Nun wird hier einiges durcheinandergebracht. Das Hanauer Landgericht hat etwas zur Rechtmäßigkeit der Vorabzustimmung gesagt, aber natürlich nicht zur Rechtmäßigkeit der Teilgenehmigung. Dazu konnte es gar nichts sagen, weil es sie damals noch gar nicht gab. Wenn das hier nun in einer Aktuellen Stunde durcheinandergebracht wird, stimme ich, ohne irgend jemandem etwas vorwerfen zu wollen, dem Abgeordneten Stahl zu. Er hat recht damit, daß man so etwas nicht in einer Aktuellen Stunde, sondern in einer sauberen Diskussion im Ausschuß zu erörtern und daraus dann Konsequenzen zu ziehen hat.Lassen Sie mich zur Sache weiter dies sagen: Das Urteil des Verwaltungsgerichtshofes in Kassel ist zu einer außerordentlich komplizierten Materie ergangen. Daß die Materie kompliziert ist, haben sicherlich viele mitzuverantworten. Da will ich gar nicht rechten. Aber darüber, daß das, was 1975 als Überleitungsregelung gemacht worden ist, etwas unklar und mißraten erscheint — und das ist eine euphemistische Beschreibung —, sind sich doch wohl alle im klaren. Daß diese Situation dadurch nicht besser geworden ist, daß man von 1975 bis 1987 nicht die Konsequenzen aus dem, was man 1975 beschlossen hatte, gezogen hat, kann man doch wohl auch nicht übersehen.
Deswegen nehme ich gerne — bei aller sonst nicht gerade naheliegenden Vergleichbarkeit — den Hinweis auf die Leichen, die übernommen worden sind, auf. Es ist natürlich eine schwierige Sache, wenn man hinterher bei Aufräumungsarbeiten, wie sie in einer formaljuristisch so schwierigen Situation von der hessischen Genehmigungs- und Aufsichtsbehörde durchgeführt worden sind, nicht ohne Prozeßrisiko dasteht. Da greife ich das auf, was der Herr Abgeordnete Baum gesagt hat. Ist denn wirklich, Herr Abgeordneter Kleinert, von einer Rechtsbeugung zu sprechen, wenn ein Gericht einmal zu einer anderen Entscheidung kommt als zu der, die eine Behörde vorher getroffen hatte?
Wir haben doch Verwaltungsgerichte, damit die das überprüfen! Es wäre doch schlimm, wenn wir daraus genau diese Konsequenz ziehen könnten. Das kann doch mit Anstand niemand mehr behaupten.Die nüchterne Analyse der Sach- und Rechtslage ergibt folgendes. Das hessische Umweltministerium als zuständige atomrechtliche Genehmigungsbehörde hatte mit Teilgenehmigungsbescheid vom 27. April 1988 zwei Vorabzustimmungen aus den Jahren 1982 und 1983 zu den Betriebsschritten Konversion und Fertigung in der Brennstablinie 1 durch die Genehmigung nach § 7 des Atomgesetzes ersetzt und damit den Nachrüstungsauftrag des Gesetzgebers in der dritten Atomrechtsnovelle aus dem Jahre 1975 insoweit erfüllt.Dieses Vorgehen war mit dem Bundesumweltministerium abgestimmt. Diese zweite Teilerrichtungsgenehmigung hat uns vorgelegen. Wir haben sie entsprechend durchgearbeitet, und wir haben ihr zugestimmt. Es gab für eine Weisung überhaupt keine Veranlassung, Herr Abgeordneter Kleinert.Kurioserweise erhoben genau diejenigen, die zunächst die Vorabzustimmung für rechtswidrig und strafbar gehalten und statt dessen die Genehmigung nach § 7 des Atomgesetzes gefordert hatten, hiergegen nun schwerste Vorwürfe. In Hessen wurde dazu ein zweiter Untersuchungsausschuß eingesetzt.Der Hessische Verwaltungsgerichtshof in Kassel hat auf Klagen von zwei Bürgern sowie des MainKinzig-Kreises und auf einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung am 1. November 1989 die Teilgenehmigung aufgehoben und die aufschiebende Wirkung wiederhergestellt. Der Gerichtshof hat die Revision gegen die Urteile zugelassen und in seiner Presseerklärung vom gleichen Tag bemerkt — ich zitiere — , daß eine endgültige Klärung der Rechtslage möglicherweise erst nach einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zu erwarten ist.Ich wiederhole das. Ich frage nur: Wenn das so ist und der Gerichtshof das selbst sagt, wo liegt dann wohl die offensichtliche Rechtswidrigkeit? Er sagt doch selbst: Wahrscheinlich wird die Angelegenheit erst höchstrichterlich abschließend zu bewältigen sein. Aber hier wird bereits von Rechtsbeugung gesprochen — unglaublich, meine ich, jedenfalls in der Zusammenfassung dieser Wertung.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989 13087
Bundesminister Dr. TöpferZur Begründung dieser Entscheidung hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner Presseerklärung rechtsformale Gründe angeführt, insbesondere — ich zitiere — , daß entgegen der Auffassung der Genehmigungsbehörde auch der sogenannte Altbestand an Produktionseinrichtungen in das Verfahren mit einbezogen werden müsse. Die Genehmigungsbehörde habe es unterlassen, ihre Genehmigungsentscheidung mit einer vorläufigen Beurteilung der Frage zu verbinden, ob die als Produktionsstätte vorgesehenen alten Gebäude im Rahmen der Nutzung der gesamten Betriebsanlage überhaupt als Fertigungsräume für die genehmigten Herstellungsprozesse in Betracht kommen.Nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs hätte es überdies der Beteiligung der Öffentlichkeit getrennt bedurft. Das ist deutlich zu unterscheiden. Das sollte man bei der Wertung nicht übersehen.Lassen Sie mich ganz deutlich machen, weil der Abgeordnete Daniels auch darauf aufmerksam gemacht hat — wie ich meine: völlig zu Unrecht — : Die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs betrifft auschließlich formalrechtliche Aspekte und beinhaltet keinen Bezug zur aktuellen sicherheitstechnischen Fragestellung. Das war hierbei überhaupt keine Fragestellung.Selbstverständlich hat die Firma Siemens unverzüglich nach der Entscheidung die beiden genehmigten Betriebsschritte in der Konversion und in der Brennstablinie 1 eingestellt. Hiervon hat sich die zuständige hessische Aufsichtsbehörde am 3. November 1989 vor Ort überzeugt.Da die vom Verwaltungsgerichtshof aufgehobenen Genehmigungsschritte im Betrieb nicht mehr durchgeführt werden, liegt somit ganz sicherlich auch kein rechtswidriger Betrieb vor, wie das hier in die Begründung hineingebracht wird. Damit wird auch kein rechtswidriger Betrieb von einer zuständigen atomrechtlichen Behörde des Landes oder des Bundes hingenommen.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ganz deutlich und klar festhalten: Dieser Vorgang ist sicherlich geeignet, intensiv darüber nachzudenken, welche Lücken an welcher Stelle zu schließen sind. Dieser Vorgang ist aber sicherlich überhaupt nicht dazu geeignet, ihn zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung über das Für oder Wider der Kernenergie zu machen.Ich kann nachvollziehen, Herr Abgeordneter Daniels, daß Sie anderer Überzeugung bezüglich der Nutzung der Kernenergie sind. Das sollte man dann politisch austragen. Aber man sollte es nicht auf der Grundlage eines solchen Urteils in einer außerordentlich schwierigen Rechtslage tun. Damit tut man dem Rechtsstaat sicherlich nicht Genüge.Ich danke Ihnen sehr herzlich.
Das Wort hat der Abgeordnete Schäfer .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zur juristischen Debatte nur einige wenige Bemerkungen. Ich denke, es ist Aufgabe des Parlaments, den Vorgang politisch zu bewerten und einzuordnen.Tatsache ist, daß im Jahre 1975 aus den Reihen des Parlaments, durch Initiative von Sozialdemokraten und Freidemokraten, das Atomgesetz dergestalt geändert worden ist, daß auch bei der Genehmigung von Brennelementfabriken die Bürgerbeteiligung gesetzlich zwingend vorgeschrieben ist, weil wir der Auffassug waren, daß dieses Risiko, das auch mit der Genehmigung der Brennelementfabriken verbunden ist, dem Bürger nicht übergestülpt werden darf, sondern daß Bürgerbeteiligung unverzichtbar notwendig ist. Von 1975 bis heute ist in einer engen Verzahnung einer nuklearen Community von Verwaltung, Politik und Wissenschaft der Wille des Deutschen Bundestages nicht vollzogen worden.Es sind Krokodilstränen, Herr Töpfer, die Sie hier vergießen, wenn Sie auf die unklare Übergangsregelung hinweisen, was ich nicht in Abrede stellen will. Seit 1982 haben Sie hier in der Regierungsverantwortung die Möglichkeit gehabt, diese Unklarheit zu beseitigen.
Sie haben die Gelegenheit und Möglichkeit gehabt, sich für ein bürgerfreundliches Genehmigungsverfahren unter Einbeziehung der Bürger, unter Einbeziehung der Öffentlichkeit oder für ein Genehmigungsverfahren ohne Bürgerbeteiligung zu entscheiden. Sie sind den zweiten Weg gegangen, weil Sie das wache und skeptische Urteil der Bürger gerade in dieser Frage scheuen.
Dies ist der politische Hintergrund, aus dem Sie sich nicht mit juristischen Überlegungen herausstehlen können.Ich will diesen Vorgang in das gesamte Entsorgungskonzept einordnen, Herr Töpfer. Es ist ein Baustein mehr, der deutlich macht, daß das integrierte Entsorgungskonzept, das Sie noch immer vertreten — ich frage noch: wie lange — gescheitert ist. Mit der Aufgabe der nationalen Wiederaufarbeitungskonzeption in Wackersdorf ist das erste Element des nationalen Entsorgungskonzeptes gescheitert. Wir haben vor vierzehn Tagen aus Ihrem Mund erstmals — leider nicht öffentlich, sondern nur im Ausschuß — vernommen, daß die Bundesregierung seit Jahren der deutschen Öffentlichkeit eine Wiederaufarbeitungslüge aufgetischt hat. Die Wiederaufarbeitung wurde als unverzichtbar dargestellt, weil so der wiederaufgearbeitete Brennstoff einer neuen Verwertung zugeführt werde.Tatsache ist — Sie, Herr Töpfer, haben es erstmals bestätigt — , daß bislang von 100 % wiederaufgearbeitetem Material lediglich 143/0 wieder in MOX-Brennelementen einer Verwertung zugeführt wurde. 98 % nicht wiederaufgearbeitetes Uran liegt auf Halde; von Wiederverwertung kann nicht die Rede sein.
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13088 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. November 1989
Schäfer
— Ich will Ihnen sagen, was das damit zu tun hat.
Es ist typisch, Herr Göhner, daß Sie das nicht begreifen. Vielleicht wollen Sie es begreifen, aber Sie begreifen es nicht, weil Sie ideologisch auf die Wiederaufarbeitung fixiert sind. Sie haben jetzt die Chance, die vorübergehende Stillegung von Alkem zur Herstellung von MOX-Brennelementen in eine endgültige Stillegung umzuwandeln. Es gibt keinen ökonomischen und keinen ökologischen Sinn mehr, an der Wiederaufarbeitung festzuhalten.
— Diese Chance hat Herr Töpfer,
wenn er seinen Einfluß in der Fraktion geltend macht, entsprechende Initiativen zu entwickeln.
Sie haben die Chance ebenfalls. Unser Gesetzentwurf liegt vor, lieber Kollege Göhner.
Wir rufen Ihnen erneut zu: Nehmen Sie zumindest von dem Unsinn der Wiederaufarbeitung Abschied! Sie ist ökologisch nicht vertretbar, sie ist ökonomisch hirnrissig. Sie verschleudern und vergeuden wirtschaftliche Mittel, die wir, die Bundesrepublik Deutschland, in anderen Bereichen, zur Förderung erneuerbarer Energiequellen, zur rationellen Energieverwendung, zur Markteinführungshilfe für Solar-, Wind- und Wasserenergie, besser gebrauchen könnten.Schlußbemerkung: Herr Töpfer und meine Herren vor allem von der Union — die FDP ist in der Frage weitgehend mit uns einig —, es wird in diesem Hause und draußen oft der Verlust der politischen Glaubwürdigkeit beklagt, nicht immer zu Recht, aber mitunter zutreffend.
Bei Wackersdorf ging die Wirtschaft voran; die Richtlinienkompetenz des Kanzlers war vorübergehend auf die Wirtschaft übergegangen. Und Sie, die Sie die Wiederaufarbeitung seit Jahrzehnten als unverzichtbar angesehen haben,
sind über Nacht von diesem Pfad abgerückt.
Sie haben jetzt die Chance, mit uns gemeinsam den Weg der direkten Endlagerung zu gehen.
Er ist ökologisch vernünftig, er ist ökonomisch sinnvoll. Das Urteil sollte Ihnen dazu eine politische Handreichung geben.
Letzter Redner ist Herr Abgeordneter Dr. Lippold.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Beitrag des Abgeordneten Schäfer hat wiederum deutlich gemacht, daß es sich hier nicht um eine Aktuelle Stunde handelt, sondern daß die SPD dies in Ermangelung von Fakten zum Anlaß nimmt, noch einmal eine Generaldebatte zu führen, und in dieser Generaldebatte grundsätzlich vergißt, daß vor dem Hintergrund weltweiter Problematiken auch die SPD nicht umhin kommt, die CO2-Problematik neu zu überdenken und ihre Haltung zur Kernenergie in diesen Prozeß mit einzubeziehen.Aber, Herr Schäfer, warum stehen Sie denn so negativ da? — Nein, ich habe zuwenig Zeit, Zwischenfragen zu beantworten.
Auf der gestrigen öffentlichen Sonderausschußsitzung im Hessischen Landtag ist es doch deutlich geworden. Da hat Ihr Kollege, Herr Landtagsabgeordneter Klemm, wie es in einer Zeitung heißt, gesagt, es komme heute auch nicht darauf an, was frühere Regierungen in Sachen Alkem getan oder unterlassen hätten. Klemm versuchte damit — so die Zeitung — den Vorwurf zu entkräften, die heutigen Probleme mit den Hanauer Betrieben seien von den Vorgängerregierungen zu verantworten. — Recht hat die Zeitung. Und da Sie ganz einfach mit im Boot sitzen — und genauso wie Sie der grüne Kleinert mit seinem damaligen Kollegen Fischer, der Mitverantwortung getragen hat —,
muß man ganz deutlich sagen: Sie haben die Weichenstellungen damals in der Hand gehabt. Heute muß das aufgearbeitet werden, was Sie damals an Weichenstellungen falsch gemacht haben, und zwar sowohl die Sozialdemokraten in Hessen als auch die GRÜNEN in Hessen.Herr Kübler — Herr Kübler ist nicht mehr anwesend; wir haben so langsam eine Auszugssymphonie — wie Herr Schäfer haben die Öffentlichkeitsbeteiligung angesprochen. Da muß man doch ganz klar sagen: Der Regelungsgegenstand der Teilgenehmigung A 1 bis N war der Öffentlichkeit in der erforderlichen Tiefe aus den ausgelegten Unterlagen bekannt. Die Tatsache, daß die bestehenden Fertigungslinien nach Erteilung der ersten Teilgenehmigung weiterbetrieben werden sollten, ergibt sich aus dem Kapitel 6 des Sicherheitsberichts. Ich weise darauf hin, daß diese Unterlagen, Herr Schäfer, sämtlich unter der Verantwortung früherer SPD-geführter Landesregierungen erstellt und von diesen als ausreichend beurteilt wurden. So. Und jetzt stellen Sie sich heute hin
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Dr. Lippold
und sagen: Die Öffentlichkeitsbeteiligung war nicht ausreichend. Jetzt nehme ich das einmal an: Ihre Regierung kritisieren Sie, nicht die unsere!
Das ist der Punkt.
Auch nach einer erneuten Prüfung durch die Behörden waren keine zusätzlichen Unterlagen oder Antragsschreiben für die Öffentlichkeitsbeteiligung zur Teilgenehmigung A 1 bis N erforderlich. Die Öffentlichkeitsbeteiligung ist erfolgt.Jetzt gehen wir noch auf einen zweiten Punkt ein. Das war ja das, was den Herrn Kollegen Klemm so verunsichert hat.
Ich zitiere einmal aus dem Vermerk vom 20. Dezember 1984, der mir vorliegt. Darin steht:Die Erteilung einer ersten Teilgenehmigung ist möglich, weil auf Grund der bisherigen Prüfung des Konzeptes für Errichtung und Betrieb der Gesamtanlage das vorläufige positive Gesamturteil vorliegt und ein berechtigtes Interesse an der beantragten Erteilung einer Teilgenehmigung besteht. Der Antrag der Firma Alkem auf Erteilung einer Genehmigung nach § 7 Atomgesetz ist also grundsätzlich genehmigungsfähig. Hierüber ist der Öffentlichkeit während der vergangenen Wochen auch bereits Mitteilung gemacht worden. Inhalt der ersten Teilgenehmigung wird nach den Planungen des Fachreferats das vorläufige positive Gesamturteil und die Errichtung der wesentlichen Bauwerke sein.
So, und jetzt gehen wir weiter:
Auf Grund des Standes der Unterlagenlieferung durch die Firma Alkem und deren Begutachtung durch die Gutachter ist beabsichtigt, in den Entwurf der ersten Teilgenehmigung Errichtungsschritte aufzunehmen,
wogegen die Genehmigung von Betriebsvorgängen sowie die Genehmigung des Umgangs mit Plutonium hier noch nicht möglich ist. Es ist beabsichtigt, eine Betriebsgenehmigung für diejenigen Teile der Alkem, die derzeit bereits betrieben werden und für die Prüfungen dann mit positivem Ergebnis abgeschlossen sein werden, in eine zweite Teilgenehmigung aufzunehmen.So, das alles unter Ihrer Regentschaft,
unter Beteiligung Ihres grünen Ministers Fischer,
der das Ganze, wie Sie so schön zu sagen pflegen, mit gedeckt hat. Ich müßte heute sagen, wenn ich in Ihre Wortwahl verfallen würde: in unverantwortlicher Weise mit gedeckt hat.
Und jetzt gehen Sie einmal ganz bescheiden in sich, die Schäfers und Küblers und Kleinerts, tun Sie reuig Buße und arbeiten mit daran, daß das, was Sie in zwölfeinhalb Jahren nicht angefangen haben, jetzt vernünftig aufgearbeitet werden kann!
Das Präsidium hat soeben überlegt, ob der Informationswert nicht noch gesteigert werden könnte, indem wir die Aktuelle Stunde verlängern. Aber dies ist laut Geschäftsordnung leider nicht möglich.
Deswegen sind wir am Ende der Aktuellen Stunde und damit auch unserer heutigen Sitzung angelangt.
Meine Damen und Herren, ich berufe den Deutschen Bundestag zur nächsten Sitzung am Donnerstag, dem 9. November 1989, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.