Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, die Fraktionen der CDU/CSU und FDP haben fristgerecht beantragt, die heutige Tagesordnung um die erste Beratung einiger von der Bundesregierung eingebrachter Sicherheitsgesetze zu erweitern. Dieser Antrag wird im Anschluß an die Aktuelle Stunde, also kurz nach 9 Uhr, behandelt.
Ich rufe nun den Zusatztagesordnungspunkt 2 auf:
Aktuelle Stunde
Die Auswirkungen der Steuererhöhungsforderung von Dr. Farthmann und aus der SPD auf die Entwicklung der öffentlichen Haushalte, der Kapitalmärkte und des Zinsniveaus in der Bundesrepublik Deutschland
Die Fraktion der FDP hat gemäß Nr. 1 c der Anlage 5 unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu dem genannten Thema beantragt. Ich eröffne die Aussprache.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Solms.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Erfolge der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Koalition der Mitte sind unübersehbar; Stichworte: Geldwertstabilität, Wirtschaftswachstum, aktive Leistungsbilanz und steigende Beschäftigung.
Sie wurden durch eine Verbesserung der Angebotsbedingungen für Bürger und Unternehmen erzielt, und zwar durch niedrige Zinsen, geringe Steuern und Abgaben und durch eine stark reduzierte Staatsquote.Was haben die Sozialdemokraten aus dieser Erfolgsstory gelernt?
Offensichtlich gar nichts. In einer heillosen Verwirrung ringen sie um ein gemeinsames Wirtschaftsprogramm ohne Konzeption und sichtlich auch ohne Führung. Wo sind die Zeiten nach Godesberggeblieben, wo zeigen sich glaubwürdige Repräsentanten wie seinerzeit Karl Schiller, Alex Möller oder auch Helmut Schmidt?
Doch seit die Sozialdemokraten Helmut Schmidt 1982 die Gefolgschaft aufgesagt haben, geht es mit dem Schnellzug zurück in die sozialistischen Traumvorstellungen des 19. Jahrhunderts.
Wo bleibt Johannes Rau mit seinem Führungsanspruch für die Sozialdemokraten? Er sagt nichts, er weiß nichts, er tut nichts, aber das alles, zugegeben, mit Anstand.
Übereinstimmung scheint es nur in einem Punkt zu geben: Die Steuern müssen herauf,
die Staatsquote soll erhöht werden, die Funktionärsbürokratie soll ausgebaut werden. Die SPD zeigt ihren wahren Charakter: die Steuerpartei Deutschlands.
Die Sozialdemokraten wollen — ich werde Sie bei Ihren eigenen Worten nehmen — die Sparer durch Einführung einer Quellensteuer ausplündern und die Kapitalflucht anheizen. Auch eine Boris-BeckerSteuer wird da nichts helfen, Herr Spöri.
Die Sozialdemokraten wollen die Ölimporte besteuern und damit den Autofahrern beim Kraftstoff und den Hausbesitzern beim Heizöl die Kaufkraftvorteile nehmen.
Die Sozialdemokraten wollen die Verbraucher mitzusätzlichen Sondersteuern und Abgaben auf
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Dr. So1msStrom, Benzin, chemische Grundstoffe und vieles andere mehr belasten.
Die Sozialdemokraten wollen die Besteuerung des Grundvermögens durch eine drastische Anhebung der Einheitswerte erhöhen. Die Leidtragenden sind die Masse der Mieter und der Eigenheimbesitzer.
Die Sozialdemokraten wollen die Unternehmen durch höhere Steuern zusätzlich belasten, obwohl diese schon heute mit 70 % viel zu hoch besteuert werden, und denken an Erhöhung der Gewerbesteuer und Anhebung der Vermögensteuer. Sie wollen schließlich die Selbstständigen zur Kasse bitten, indem sie sie der Gewerbesteuer unterwerfen wollen. Schließlich will Herr Professor Farthmann die Autonomie der Bundesbank aufheben. Er will die Notenpresse also den Sozialdemokraten unterstellen, damit auf diese Weise die Schuldenpolitik finanziert werden kann.
Das Interessanteste an den Plänen der sozialdemokratischen Steuerpolitik sind die Vorstellungen zu einem sogenannten sozial gerechten Tarif. Dem Bund der Steuerzahler ist zu danken, daß er in einer Analyse die Steuerpläne der Parteien untersucht und die wahren Absichten der SPD aufgedeckt hat. Bereits bei einem Monatseinkommen von rund 3 000 DM — ich wiederhole: von rund 3 000 DM — wollen die Sozialdemokraten die Steuerbelastung der Arbeitnehmer anheben.
Damit würden gerade die Arbeitnehmer zur Kasse gebeten, auf die es in der Wirtschaft im wesentlichen ankommt,
die die Wirtschaft am Laufen halten.
Die Sozialdemokraten sind anscheinend der Meinung, daß Facharbeiter heute zuwenig besteuert werden.
Sie sind anscheinend der Meinung, daß die Ingenieure, die Angestellten, die Werkmeister, die Monteure im Außendienst, die Servicetechniker, die Vertriebsbeauftragten, die Fernfahrer, daß alle diese Leute, die unsere Wirtschaft am Laufen halten, heute zuwenig besteuert werden.
Ich hoffe, daß viele Fernfahrer dies jetzt am Radio hören,
daß sie hören, daß die sozialdemokratische Partei, die alte Arbeitnehmerpartei,
ihnen zusätzliche Steuerlasten aufbürden will.
Was wären denn dann die Folgen? Leistungsverweigerung, Schwarzarbeit, weniger Investitionen, mehr Arbeitslose,
gesteigerte Inflation, zerrüttete Staatsfinanzen. Dazu darf es nicht kommen. Dafür werden wir sorgen. Wir werden dem Bürger sagen, was die Sozialdemokraten wirklich beabsichtigen.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Apel.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Solms, in der Steuerpolitik hat es keinen Zweck, nach der Melodie „Haltet den Dieb!" zu debattieren. In der Steuerpolitik wirken Zahlen. Und diese Zahlen — es sind übrigens die Zahlen des Finanzministers — weisen aus, daß Sie in dramatischer, in unfairer, in gefährlicher Weise den Weg in den Lohnsteuer- und Abgabenstaat bereits gegangen sind.
Unter Ihrer Stabführung haben die Sozialabgaben um 20 % zugenommen.
Sie haben neue Rekordhöhen erklommen. Das hat nicht nur das Arbeitnehmereinkommen geschwächt. Das trifft auch die Unternehmen. Denn schließlich erhöhen sich so die Lohnnebenkosten. Die Steuerquote ist zwar in den Jahren Ihrer Regierungsverantwortung in etwa konstant geblieben. Dahinter verbergen sich aber dramatische Umschichtungen. Sie haben die Steuern für die Unternehmen jährlich um 10 Milliarden gesenkt, ohne daß das im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit irgend etwas bewegt hat.
Gleichzeitig haben Sie die Lohnsteuerzahler in die Progression gejagt, und sie haben die Mehrwertsteuer erhöht.
Sie gehen den Weg in den Lohnsteuer- und Abgabenstaat.
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Dr. ApelDie Zahlen — die Zahlen des Finanzministers! — weisen das doch auch aus.
1981 wurden von allen Löhnen und Gehältern 15% Lohnsteuer abgenommen. 1989 werden es, obwohl Sie dann zweimal die Steuern gesenkt haben werden, bereits 18 % sein.
Und nehmen wir doch die Zahlen von allen Steuern und Abgaben zusammen. Da mußte 1981 der Durchschnittsverdiener von jeder verdienten Mark 39 Pfennige an Steuern und Abgaben bezahlen. Dank Ihrer famosen Politik, dieser Wendepolitik auch in der Steuerpolitik, werden es 1989 44 Pfennige sein.
Und dann wagen Sie, hier solche unwahren Reden zu halten. Ich bitte Sie: Halten Sie doch die Wähler nicht für dümmer, als Sie sind.
Nun zu unserer Steuerpolitik. Erstens. Wir werden genauso wie Sie diese fast 20 Milliarden DM Steuern zurückgeben,
nur anders als Sie. Unsere Steuerpläne weisen aus,
daß bis zu einem monatlichen Familieneinkommen von etwa 8 000 DM bei uns die Lohnsteuern wesentlich stärker gesenkt werden werden, bei Ihnen sehr viel geringer.
Mit anderen Worten, wir konzentrieren unsere Steuersenkungen auf die, die von Ihrer unsozialen Politik getroffen sind.
Zweitens. Unsere Forderungen nach einer steuerfreien Investitionsrücklage für die kleinen und mittleren Betriebe beginnen beim Handwerk und beim Mittelstand zu wirken. Da fragt man Sie von der FDP, warum Sie eigentlich dagegen sind: weil Sie nämlich die Interessen der Großindustrie in der Steuerpolitik vertreten, und nichts anderes.
Wir werden die heimlichen Steuererhöhungen zurückgeben. Aber eines erkläre ich hier mit allem Nachdruck:
Ihren inzwischen ja sehr offen geäußerten Plänen, unter dem Vorwand der Steuerharmonisierung in der EG die Mehrwertsteuer massiv anzuheben,
um daraus dann u. a. die Spitzensteuersätze zu senken, werden wir widerstreben, weil dies ein erneuter Weg in die steuerliche Ungerechtigkeit ist.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. von Wartenberg.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Apel, ich denke, mich tritt ein Pferd. Zum heutigen 75. Geburtstag Ihres Wirtschafts- und Finanzpolitikers Professor Karl Schiller gratulieren Sie mit der Überreichung planwirtschaftlicher, steuerpolitisch neuer Konzeptionen von Herrn Farthmann. Verehrter Herr Professor Schiller, was ist aus Ihrer Sozialdemokratischen Partei geworden? Sind die vorliegenden Thesen von Herrn Farthmann auch die Thesen von Herrn Rau? Sind die Vorstellungen von Herrn Farthmann die Vorstellungen eines Außenseiters oder die der SPD? Sind die Vorstellungen von Herrn Farthmann und von Herrn Rau nicht genau jene Thesen, die Professor Schiller vor Bad Godesberg in der SPD bekämpft hat? Verfällt die SPD nicht wieder in die uralten, längst widerlegten dirigistischen Planvorstellungen?Meine Damen und Herren, Herr Farthmann fordert — das ist der Gegenstand unserer Diskussion — mehr Staat, höhere Steuern, maßlose Schulden, Sozialneid als einziges finanzpolitisches Instrument. Hat die Verwirklichung dieser Vorschläge nicht nach dem Rücktritt von Professor Karl Schiller zum ruhmlosen Ende der SPD-Regierungszeit beigetragen,
mit hoher Inflation, mit zwei Millionen Arbeitslosen, mit sinkenden Realeinkommen, mit Trittbrettfahrermentalität eines Versorgungsstaates unmündiger Bürger?
Sind das die Vorschläge von Herrn Farthmann, des Vordenkers ohne nachzudenken, oder sind das die Vorschläge der SPD-Politiker?
Wenn das stimmt, lautet das SPD-Steuerprogramm heute wie folgt. Herr Farthmann sagt unwidersprochen, die Finanzierungsinstrumente des Staates, die Steuern, sind nicht nur Finanzierungsquellen, sondern Instrumente einer bewußten Lenkung und Steuerung des Gemeinwesens, Instrumente einer dirigistischen Planwirtschaft, was dann auch für Ihre Vorschläge zur steuerstundenden Investitionsrücklage gilt. Herr Farthmann empfiehlt die Rücknahme der von uns seit 1983 be-
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Dr. von Wartenbergschlossenen Steuersenkungsmaßnahmen, d. h. Rücknahme der massiven steuerlichen Entlastung für Familien mit Kindern, d. h. Rücknahme der Erhöhung des Grundfreibetrages, den Sie an anderer Stelle wieder fordern, d. h. die Rücknahme der Erhöhung der Ausbildungsfreibeträge und damit eine Verteuerung der Ausbildung, die die Eltern zu tragen haben, d. h. Rücknahme der Erhöhung der Haushaltsfreibeträge, also eine Verschärfung der Besteuerung für Alleinerziehende, denen Sie in den Festtagsreden so nachlaufen, d. h. eine massive schärfere Besteuerung der Landwirtschaft, deren Probleme Sie ignorieren, d. h. die Streichung des Kinderfreibetrages für arbeitslose Kinder, das bedeutet eine Anhebung der Gewerbesteuer, das bedeutet eine Verschlechterung der Abschreibungen auf Wirtschaftsgebäude. Meine Damen und Herren, insgesamt bedeutet dies die Rücknahme von vielen Steuersenkungen, die erst die Rahmenbedingungen für den Aufschwung geschaffen haben, in dem wir uns zur Zeit befinden.
Herr Farthmann schlägt die Erhebung einer Ergänzungsabgabe auf die Einkommen der sogenannten Besserverdienenden vor,
wobei die SPD darüber entscheidet, wer besser verdient, unabhängig davon, ob er es verdient. Herr Farthmann fordert die Anhebung der Mineralölsteuer. Das heißt, die SPD nimmt den Bürgern die soziale Wohltat stabiler Preise, zu denen auch die Ölpreissenkungen beigetragen haben.
Herr Farthmann fordert eine stärkere Progression des Steuertarifs. Das bedeutet eine deutliche Anhebung des Grenzsteuersatzes für den Durchschnittseinkommensbezieher. Herr Farthmann fordert die Durchsetzung der Quellensteuer auf hohe Zinsgewinne, das heißt in Wahrheit die Sparbuchsteuer für den kleinen Sparer und für den Rentner.
Welch Widerspruch, meine Damen und Herren! Seit vielen Jahren bleibt dank der Preisstabilität real etwas vom Sparzins übrig. Das Geld auf dem Sparbuch wird nicht weniger, sondern erstmals wieder mehr. Das wollen Herr Farthmann und Genossen durch eine Steuer wieder wegnehmen. Welch sozialer Neid spricht aus diesem Vorschlag!
Welches Mißtrauen gegenüber dem Sparer, der angeblich unehrlich ist, kommt damit zum Ausdruck!
Welche Unkenntnis der Zusammenhänge, meine Damen und Herren, beweisen diese Vorschläge! Sie sollten nicht nur aus Anlaß des 75. Geburtstages von Professor Schiller sich von diesem Papier des Herrn Farthmann schleunigst distanzieren.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Müller .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Aktuelle Stunde dient doch offensichtlich der liberalen Profilierung dergestalt, daß man versucht, mit dem Ruf nach Steuersenkung Wähler zu fangen, und auf diese Art und Weise an den Problemen vorbeiredet, die gerade eine Regierungspolitik geschaffen hat, mit der wir heute konfrontiert sind. Diese Regierung und alle anderen vorher, an denen die FDP beteiligt war, behandelten den Bürger als steuerzahlende Wollmilchsau, der von der Wiege bis zur Bahre mit Gesetzen, meist Sicherheitsgesetzen, Notstandsgesetzen, eingepfercht werden muß. Ihr derzeitiger Ruf nach Steuersenkung ist nichts anderes als der Versuch, Wählerstimmen zu fangen, um genau dieses Geschäft weiter betreiben zu können.
Die Farthmann-Vorschläge reagieren doch auf einen Zustand, den Sie mit herbeigeführt haben.Es ist doch nicht zu leugnen: Wenn wir zwei entscheidende Probleme beheben wollen, nämlich die ökologische Krise und die soziale Ungerechtigkeit, die durch hohe Arbeitslosigkeit in diesem Lande entstanden ist, so wird dies sehr teuer. Das Geld dafür, um dieses zu beheben, ist auf zwei Möglichkeiten zu bekommen. Entweder gibt es mehr Einnahmen, oder es gibt mehr Sparsamkeit innerhalb der Haushalte. Andere Möglichkeiten gibt es nicht.
Wenn das aber so ist, um beispielsweise ökologische Reformen durchführen zu können, ist es doch notwendig, Geld zu erheben oder sonst irgendwoher zu bekommen. Das bedeutet, daß wir versuchen müssen, mit Hilfe der Steuern — und da geht uns der Farthmann-Vorschlag nicht weit genug — auch wirklich etwas zu steuern,
nämlich dergestalt, daß wir sagen: Lassen Sie uns doch endlich einmal das von Ihnen so geschätzte Verursacherprinzip auch wirksam werden!
Lassen Sie das doch einmal wirksam werden. Alle Welt ruft, wenn es um Umweltschutz geht, nach dem Verursacherprinzip. Doch wo wird es angewandt?
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Dr. Müller
Warum werden Schadstoffabgaben nicht wesentlich höhergeschraubt? Warum wird nicht dadurch der Anreiz geschaffen, ökologisch sinnvolle Investitionen vorzunehmen?
Das ist doch noch nicht einmal ein Instrument, das jetzt die freie Wirtschaft völlig strangulieren würde; das ist es noch nicht einmal. Das heißt, wer wirklich, meine Damen und Herren von SPD, im ökologischen Sinne Steuern erheben will, also wirklich vom Staat her steuern will, weil es notwendig ist, der sollte Umweltabgaben erhöhen. Ich bedaure es sehr, daß die Gesetzentwürfe, die wir hier in Richtung Abgabenerhöhung eingebracht haben, von der Sozialdemokratie deswegen nicht mitgetragen werden, weil das angeblich möglicherweise der Wirtschaft schaden könnte.So geht es nicht. So geht es deswegen nicht, weil ein Gedanke immer wieder zu kurz kommt, nämlich der, daß es der Wirtschaft, insbesondere aber den Menschen, schadet, wenn weiterhin in gleichem Ausmaße Umweltgifte, in gleichem Ausmaße Schadstoffe abgegeben werden können und wir nicht die Steuerschraube dazu verwenden, um hier regulierend einzugreifen.Das gleiche gilt natürlich für die gesamte Frage des Sozialstaates. Wenn eine Politik, wie Sie sie von der Regierung gemacht haben, zu einer zunehmenden Dauerarbeitslosigkeit führt, dann wird das selbstverständlich zusehends Sozialkosten mit sich bringen. Sie haben sich doch von seiten der Regierung verkalkuliert. 500 Millionen DM mehr müssen Sie ausgeben, als Sie für Arbeitslosenhilfe veranschlagt haben, 500 Millionen DM mehr für Dauerarbeitslose. Da können Sie mir nicht erzählen, daß dieses Problem mit Hilfe von Steuersenkungen zu lösen ist, und da können Sie mir auch nicht erzählen, daß es darauf ankäme, durch Steuersenkungen die Wirtschaft anzukurbeln und dergleichen. Das Gegenteil ist doch immer der Fall. Die Arbeitslosigkeit ist nicht beseitigt. Insofern käme es darauf an, auch mit Hilfe der Steuer und Steuerzahler die sozialen Grundlagen zu schaffen, damit überhaupt in einer anständigen Art und Weise gelebt werden kann, und das ist genau das, was Sie nicht wollen.Danke schön.
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen, Dr. Voss.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Herr Kollege Apel, wenn Sie eben gesagt haben, Sie wollen Zahlen auf sich wirken lassen, und andere auffordern, Zahlen auf sich wirken zu lassen, dann bitte ich Sie, sich — erstens — einmal zu überlegen, daß bei der Steuersenkung, die die Bundesregierung vorgesehen und bereits mit dem ersten Schritt 1986 in einem Gesamtvolumen von rund 20 Milliarden DM durchgeführt hat, die Entlastung der Familien mit Kindern bei weitem überproportional ist; denn obwohl diese Gruppe nur 38,4 v. H. der Steuerzahler ausmacht, erhält sie ein Entlastungsvolumen von 58,9 %.
Zweitens. Die größte durchschnittliche Entlastung in Höhe von 10,4 v. H. der Steuerschuld erhalten die Steuerpflichtigen mit einem Jahreseinkommen von bis zu 18 000 DM bei Ledigen und 36 000 DM bei Verheirateten.Drittens. Steuerpflichtige mit einem zu versteuernden Einkommen von 130 000 bzw. 260 000 DM, also die obere Gruppe, erhalten nur eine Entlastung von 2,1 v. H. der Steuerschuld. Wenn Sie diese drei Fakten einmal auf sich wirken lassen, Herr Kollege Apel, dann ist Ihr Vorwurf der Umverteilung von unten nach oben durch diese Steuerreform absurd und durch Fakten in keiner Weise zu halten.
Im übrigen schlage ich Ihnen, Herr Kollege Apel, und Ihnen, meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD vor, daß Sie die Programme, die Sie nach dem Motto auf den Markt bringen, vieles zu bringen, um vielleicht jedem etwas zu bringen, einmal etwas zu koordinieren versuchen. Sie, Herr Apel, haben ein Papier auf den Markt gebracht, das in Ihrer Fraktion, soweit ich orientiert bin, noch nicht einmal debattiert und verabschiedet worden ist. Nun haben wir das Papier von Herrn Farthmann auf dem Tisch. Ich will das gar nicht qualifizieren, sondern ich will mich darauf beschränken, darauf zu verweisen, was Kollegen aus Ihrer Fraktion dazu gesagt haben. Herr Kollege Roth hat schlicht und einfach erklärt: „Das ist Käse!" Herr Krupp, der ja als Wirtschaftsminister bei Herrn Rau vorgesehen ist, hat erklärt: „Herr Farthmann hat nicht zu Ende gedacht." Er habe eine Analyse gemacht, „die manchem, der sich nicht mit wirtschaftlichen Problemen beschäftigt, plausibel klingen mag, die aber in vielen Punkten schlicht falsch ist". Diesem Urteil ist nichts hinzuzufügen, meine Damen und Herren.Die Kritiker haben im übrigen recht: Das Thesenpapier ist nichts anderes als eine Neuauflage der finanz- und wirtschaftspolitischen Fehler der SPD der 70er Jahre. Herr Farthmann will, wie wir bereits gehört haben, massive Eingriffe des Staates in die Wirtschaft statt Wachstum, und um damit Beschäftigung zu fördern, setzt er auf ein gewaltiges Umverteilungsprogramm. Insgesamt stellt er grundsätzlich das marktwirtschaftliche System in Frage.Lassen Sie mich noch ein Wort dazu sagen, was der Kanzlerkandidat Rau mit seiner Ankündigung anbietet, daß die Arbeitnehmerfamilie mit zwei Kindern bis zu 2 500 DM Monatseinkommen unter Einbeziehung des Kindergeldes nicht mehr steuerpflichtig sein soll. Das ist gar nichts Neues, meine Damen und Herren, das haben wir bereits heute. Wenn Sie das Kindergeld einbeziehen und die Finanzamtslösung wählen, haben Sie bereits heute eine Steuerfreiheit dieser Steuerzahlergruppe bis 2 450 DM. Sie brauchen also lediglich 50 DM drauf-
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Parl. Staatssekretär Dr. Vosszulegen. Das ist Augenwischerei, meine Damen und Herren!
Im übrigen beweist sich mit diesem Programm und auch mit den anderen Programmen, die auf dem Tisch liegen, die SPD wieder als Steuererhöhungspartei:
Rücknahme von Steuersenkungen, Erhebung von Ergänzungsabgaben, Anhebung der Mineralölsteuer. Es kommt gerade einmal vor, daß der Markt es zuläßt, Herr Spöri, daß der Verbraucher einmal etwas entlastet wird, und schon schreien Sie nach Steuererhöhungen.
Quellensteuer, die Besteuerung des kleinen Sparers, wobei Sie, meine Damen und Herren von der SPD, sich bezüglich des Freibetrages etwas vormachen, denn Sie glauben doch nicht, daß ein Freibetrag in dieser Größenordnung realistisch ist.
— Herr Vogel, wenn Sie zuhören würden, würden Sie etwas lernen —, Abschaffung der Kinderfreibeträge, Kappung des Splittings, Erhöhung der Vermögensteuer — meine Damen und Herren, das alles unter dem Schwindeletikett zusammengefaßt, den kleinen Mann begünstigen zu wollen, kann man Ihnen, glaube ich, nicht abnehmen.
Sie sind von dem Ziel der Umverteilung besessen. Sie wissen, daß das letztlich nur auf zweierlei Art zu finanzieren ist: entweder durch eine höhere Staatsverschuldung oder durch eine höhere Steuerbelastung. Letzterem scheinen Sie den Vorzug zu geben.
Dagegen war innerhalb kurzer Zeit die Politik der Bundesregierung sehr erfolgreich. Die Inflationsrate ist heute auf einem Niveau, das wir seit über 20 Jahren nicht mehr hatten. Das Zinsniveau auf dem Kapitalmarkt ist auf den tiefsten Stand seit sieben Jahren gesunken. 1986 wird voraussichtlich die stärkste Zunahme der Zahl der Beschäftigten seit 17 Jahren zu verzeichnen sein, nämlich in einer Größenordnung zwischen 350 000 und 400 000.Das Finanzierungsdefizit des öffentlichen Gesamthaushalts, Herr Kollege Apel, ist auf dem niedrigsten Stand seit acht Jahren.
Diese erfolgreiche Politik Herr Kollege Apel, muß fortgeführt werden. Leere Versprechungen lehnen wir ab. Sie können in der Steuerpolitik erst dann wieder mitreden, wenn es Ihnen gelingen sollte, ein Paket, wie es diese Bundesregierung auf den Tisch gelegt hat, selbst einmal nachzuvollziehen.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Spöri.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Solms, Ihre steuerpolitische Attacke auf die SPD heute morgen ist ja voll in die eigene Hose gegangen. Sie wollten hier die SPD als Steuer- und Abgabenpartei anprangern. An Ihrer Stelle wäre ich beim Thema Abgaben ganz schön vorsichtig und voller Demut.
Schließlich hat Ihre Koalition versprochen, die Steuer- und Abgabenlast der Bürger in diesem Lande zu senken. Gehalten haben Sie dieses Versprechen aber nur bei einer Bevölkerungsgruppe, nämlich bei den Beziehern gehobener Einkommen. Da haben Sie dieses Versprechen gehalten.
Ihr eigener Steuerbelastungsbericht zeigt statistisch schwarz auf weiß, daß Sie steuerpolitisch den Staat als Umverteilungsinstrument mißbraucht haben, meine Damen und Herren.
„Reichtum muß sich wieder lohnen" ist das Leitmotiv Ihrer Steuerpolitik.
Ich sage Ihnen: Bleiben Sie hier bei der Wahrheit, Herr Solms und Herr von Wartenberg. Sie haben gesagt, wir würden die Steuersenkungen von 1986 und 1988 wieder einkassieren. Dies ist die nackte Unwahrheit. Wir würden Ihre ungerechte Steuerentlastung gerechter verteilen, damit auch der kleine Mann etwas bekommt. Das war unsere Aussage.
Zusätzlich sagen Sie die Unwahrheit, wenn Sie behaupten, wir wollten den Kleinsparer belasten. Herr von Wartenberg, wir haben die Verzehnfachung der Freibeträge gefordert. Es ist eine bewußte Lüge in diesem Hause, wenn Sie behaupten, wir wollten den Kleinsparer belasten. Sie wollen nur den großen Hinterzieher Steuern auf hohe Kapitaleinkommen schützen.
Hier zählen Fakten, nicht ein Papierchen eines Fraktionsvorsitzenden.
Schauen Sie sich einmal die Umfragen zu den Fakten an, meine Damen und Herren. Die Bürger
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16305
Dr. Spörifühlen sich jetzt, wenn sie in ihren Geldbeutel schauen, unheimlich enttäuscht über Ihr weihnachtliches Frohlocken über das Steuersenkungsgesetz.
Im letzten Dezember haben Sie in einer Annonce noch frohlockt „Darauf können sich alle Bürger freuen". Sie meinten damit die Steuersenkung.
Nach einer Umfrage im März sagen 57 % aller Bürger, sie hätten heute genausoviel in der Tasche wie vor Ihrer großartigen Steuerreform. 7 % haben per saldo sogar weniger in der Tasche. Nur 20% Gutbetuchte haben heute mehr in der Tasche. Das sind die Fakten.
Ich sage Ihnen: Für die Mehrheit der Bürger in diesem Land sind Sie, die Sie hier sitzen, die Abgabenkoalition, weil in diesem Land die Abgaben noch niemals so hoch waren wie heute mit 43 %. Das sind die Fakten.
Meine Damen und Herren, weil Sie ganz genau wissen, daß Ihre ganze ungerechte Steuersenkungspolitik beim Bürger nicht ankommt, machen Sie jetzt wieder neue Steuersenkungsversprechen für die herrlicheren Zeiten nach der nächsten Bundestagswahl. Das sind Ihre goldigen Visionen. Kern dieser bunten Palette an Vorschlägen ist die Senkung des Spitzensteuersatzes. Durch diese Senkung des Spitzensteuersatzes
wird der Schwerpunkt der von Ihnen versprochenen Tarifreform automatisch im oberen Progressionsbereich des Tarifs gesetzt, d. h. bei über 70 000 DM Jahreseinkommen.
— Herr Schwörer, dort sitzen für Sie die Leistungsträger. Die Millionen von Facharbeitern, Technikern, Meistern und Ingenieuren, die im unteren Progressionsbereich sitzen, werden bei Ihren Vorstellungen wieder mit einem Trinkgeld abgespeist.
Der Gipfel — meine Damen und Herren von der Koalition, regen Sie sich ruhig auf — ist dann noch, daß nach der Bundestagswahl 1987 diese Millionen wahrer Leistungsträger ihre kümmerliche Steuerentlastung selber zahlen sollen, nämlich durch die von Ihnen schon längst klammheimlich vorbereitete Erhöhung der Umsatzsteuer und der Verbrauchsteuern.
— Herr Schwörer, sehen Sie sich doch einmal das Papier des Finanzministeriums zur Steuerharmonisierung an. Da steht doch alles schwarz auf weiß drin, von der Erhöhung der Umsatzsteuer über die Erhöhung der Branntweinsteuer, der Mineralölsteuer und der Biersteuer bis zur Einführung einer neuen Weinsteuer.
Dann kam noch der Kollege Friedmann aus Ihrer Fraktion und will die Sonntags- und Nachtarbeitszuschläge besteuern.
Die Gesundheitspolitiker Ihrer Fraktion, z. B. ein Herr Dr. Becker, will eine „Säufersteuer" und die Erhöhung der Tabaksteuer. Das sind die Fakten. Sie sind doch die „Steuererhöhungs-Koalition".
Meine Damen und Herren, zum Schluß sage ich, wenn es, Herr Solms, wirklich einen gewichtigen Anlaß gegeben hätte, heute morgen zu einer Aktuellen Stunde aufzustehen, dann wäre es diese großangelegte Wählertäuschung gewesen, die Sie hier betreiben, dieser großangelegte Wählerbetrug.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Superreform des Herrn Stoltenberg ist für die Mehrheit der Bürger ein Superschwindel.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Stommel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Dr. Spöri, Sie werden sicher verstehen, daß ich mich im Sinne dieser Aktuellen Stunde doch noch einmal mit dem „Papierchen" Ihres Kollegen „Farthmännchen" beschäftigen möchte.
Meine Damen und Herren, mit dem FarthmannPapier ist in der SPD eine neue Runde des parteiinternen wirtschaftspolitischen Palavers eingeleitet worden. Dabei ist allen Beiträgen bisher gemeinsam, daß bei der Finanzierung alles in der Luft hängt. Wieder sind Steuern, und zwar höhere Steuern und Abgaben in der Form der verschiedenen Pfennige
sowie die Fortsetzung der maßlosen Verschuldung Kernpunkte Ihrer Politik.
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StommelHerr Vogel, die SPD hätte aber durch die verlorenen Wahlen lernen müssen, daß es Grenzen für die Plünderung der Taschen der Bürger gibt. Immer stärkere Inanspruchnahme der Kapitalmärkte durch den Staat, hohe Zinsen, hohe Inflationsraten waren unausweichliche Konsequenzen.
Geradezu erschreckend sind die Ausführungen im Farthmann-Programm zur Aufhebung der Autonomie, der Bundesbank. Was will Herr Farthmann eigentlich? Die Crux ist doch: Farthmann verordnet neue, d. h. staatliche oder staatlich induzierte Arbeitsplätze, für die wir alle noch mehr Steuern, noch mehr Sozialabgaben aufbringen müssen als bisher, Herr Dr. Spöri. Um die Sache unverdächtig einzuleiten, muß natürlich erst einmal ein Kredit her. Und da gibt es nun einmal Grenzen von seiten unseres Währungshüters, der Deutschen Bundesbank.
Die logische Konsequenz bei Herrn Farthmann lautet: Die Autonomie der Bundesbank muß weg, die Notenpresse muß unter staatlichen Zugriff. Dabei will Farthmann im Grunde nichts anderes als eine Wiederauflage der unseligen Investitions- und Beschäftigungsprogramme der 70er Jahre.
Und da es für diese Programme heute im Haushalt keine Mittel mehr geben kann, muß er eben pumpen. Meine Damen und Herren, wir aber werden alles tun, um den Zugriff auf die Bundesbank zu verhindern, um zu vermeiden, daß unser Land wieder in Inflation und eine staatliche Schuldenkrise zurückrutscht.
Eine auf Wachstum, Stabilität und Wiedergewinnung der Vollbeschäftigung angelegte Wirtschafts- und Finanzpolitik muß dafür sorgen, daß sich der Staat überall dort zurückzieht, wo private Initiativen — das sind nämlich die Marktkräfte — behindert werden.Und nun, Herr Kollege Apel, haben Sie von Zahlen gesprochen, die Sie gerne hören wollen. In der Zeit der sozialliberalen Koalition von 1969 bis 1982 haben wir einen explosionsartigen Anstieg der Staatsquote erlebt. Von 39 % beim Start war man am Ende 1982 bei 50 % des Bruttosozialprodukts angelangt.
Die Bundesrepublik Deutschland zählte damit zu den Ländern mit dem höchsten Staatsanteil. Parallel hierzu verlief der Effizienzverlust unserer Volkswirtschaft. Die Folge war der Verlust von ca. zwei Millionen Arbeitsplätzen. Bei einem Blick über die Grenzen hätte Herr Farthmann ohne Mühe erkennen können, daß staatliche Gängelung nicht mehr Wohlstand, sondern weniger Wohlstand für den einzelnen bringt. In den wirtschaftlich besonders erfolgreichen Ländern, wie etwa die USA, Japan oderdie Schweiz, haben wir eine Staatsquote zwischen 30 und 35 %.Eine Wiederausweitung des Staatsanteils am Bruttosozialprodukt müßte zu einem neuen Anschnellen der staatlichen Verschuldung führen mit der Folge von Zinstreiberei und der Verdrängung bisher rentabler Investitionen mit natürlich den entsprechenden Konsequenzen auf dem Arbeitsmarkt. Herr Farthmann behauptet, das Bankensystem übe eine Investitionskontrolle, eine Investitionslenkung aus. Dabei ist er offensichtlich einem Mißverständnis aufgesessen. Rentabilität bedeutet nämlich gerade nicht Investitionslenkung, sondern Einsatz des stets knappen Kapitals in seiner besten volkswirtschaftlichen Verwendung.
Herr Farthmann ist auch in das Fahrwasser von gewerkschaftlichen Sozialutopien geraten. Dieser Rückschritt hinter das Godesberger Programm kostet die SPD wirtschaftspolitisches Profil. Die Frage muß erlaubt sein, welche Stimme nun gilt, die von Herrn Roth, die von Herrn Vogel, die von Herrn Farthmann. Oder haben diese Leute wirtschaftspolitisch nichts zu vermelden?
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich komme zum Schluß.
Herr Farthmann macht sich große bundespolitische Sorgen. Er will uns im Ernst ein Modell, das Modell Nordrhein-Westfalen empfehlen. Hat er vergessen, daß erst vor kurzem sein Finanzminister wegen dramatisch steigender Zinslasten im Haushalt —
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Ich bitte abzuschließen.
Vergleiche zu Brasilien anstellen mußte, um bei der SPD Gehör zu finden?
Nein, das geht nicht, Herr Abgeordneter. Wir sind in einer Aktuellen Stunde und halten das sehr genau ein. Ich bitte Sie deshalb — —
Ich bedaure sehr, meine Damen und Herren, daß ich dazu nicht noch etwas sagen kann.
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft, Herr Grüner.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Das Jahr 1986 wird aller Voraussicht nach eines der erfolgreichsten in der
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16307
Parl. Staatssekretär GrünerWirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland sein.
Das gilt für das wirtschaftliche Wachstum, für die Preise, für den Außenhandel, und auch auf dem Arbeitsmarkt werden Erfolge sichtbar. Vor allem, meine Damen und Herren, ist eine Wende an der Beschäftigungsfront erreicht, auch wenn sich das noch nicht in den Arbeitslosenzahlen niedergeschlagen hat.
Darüber gibt es keinen ernstlichen Streit, nicht einmal zwischen der Bundesregierung und der Bonner Opposition. Das wird auch vom Wirtschaftswissenschaftlichen Institut der Gewerkschaften in seiner jüngsten Veröffentlichung so gesehen.Aber ganz offensichtlich haben führende Sozialdemokraten jeglichen Kontakt zur Realität, jegliche Einsicht in wirtschaftliche Zusammenhänge verloren.
Was sich der führende SPD-Politiker Friedhelm Farthmann, seines Zeichens Vorsitzender der sozialdemokratischen Fraktion in Nordrhein-Westfalen und enger Vertrauter von Herrn Rau, jetzt an fast gemeingefährlichem wirtschaftspolitischen Unsinn geleistet hat,
ist ein beredtes Zeichen für eine solche wirtschafts- und gesellschaftspolitische Ignoranz.
Meine Damen und Herren, ich bin sehr froh darüber, daß von ebenfalls führenden sozialdemokratischen Politikern diese Vorstellungen von Herrn Farthmann entschieden zurückgewiesen worden sind. Das gehört mit ins Bild — aber Herr Farthmann ist ja nicht irgendwer. Er prägt sozialdemokratische Politik entscheidend mit, und man machte es sich zu einfach, wenn man solche Thesen nur als die Ideen eines Abweichlers ansehen wollte. Sie sind vielmehr darauf abgestellt, eine breite Mehrheit in der sozialdemokratischen Politik zu finden, um den Eindruck in der Öffentlichkeit zu erwecken, es gebe Patentrezepte, die die kleinen Leute reicher machen und trotzdem das Ziel der Vollbeschäftigung erreichen. Wenn man sich diese Vorschläge ansieht, so ist dafür, wie er sagt, folgendes erforderlich: Eine merkliche Erhöhung der Staatsquote und gerade nicht ihr Abbau durch Steuersenkungen, zweitens ein aus Steuern finanziertes öffentliches Beschäftigungsprogramm, die Rücknahme der seit 1983 erfolgten Steuersenkungen, Erhebung einer Ergänzungsabgabe und nicht zuletzt die Beseitigung der Autonomie der Bundesbank.
Während unterschiedliche Aussagen von Farthmann, Roth, Apel oder Krupp zur Wirtschaftspolitik zeigen, daß die wirtschaftspolitische Linie der SPD in diesen unterschiedlichen Auffassungen völlig diffus ist, arbeitet die Regierungskoalition intensiv an einem weiteren und größeren steuerpolitischen Reformschritt für die nächste Legislaturperiode im Interesse der Sicherung der Beschäftigung.In dieses steuerpolitisch diffuse Bild der Sozialdemokraten paßt ja, daß der Finanzminister von Nordrhein-Westfalen — auch nicht irgendwer —, nämlich Herr Posser, sich gegen jede Steuersenkung ausgesprochen hat.
Bei dieser Linie wird ein entscheidender Faktor völlig übersehen, nämlich der unmittelbare Zusammenhang zwischen der Ertragsverbesserung der Unternehmen und der Chance für mehr Beschäftigung.
Es ist leider ein gemeinsamer Fehler der sozialdemokratischen Finanzpolitiker, daß auch in den Steuervorschlägen von Herrn Spöri und anderen die Bedeutung dieses Zusammenhangs und damit die Notwendigkeit zu direkten Steuersenkungen dort, wo sie Beschäftigungswirkung haben, übersehen wird. Die Bundesregierung hat immer wieder betont, daß eine Politik für mehr Arbeitsplätze nur über mehr Investitionen und daß mehr Investitionen nur über bessere Unternehmenserträge erwirtschaftet werden können.
Wer eine Ergänzungsabgabe für Besserverdienende fordert, greift unmittelbar in den Bereich hinein, der ja gerade notwendig ist, um mehr Arbeitsplätze zu schaffen.
Die Deutsche Bundesbank hat die von uns immer wieder herausgestellten Zusammenhänge — Verbesserung der Erträge für mehr Beschäftigung, für mehr Investitionen — in ihrem jüngsten Monatsbericht anhand der Jahresabschlüsse von 14 000 Unternehmen empirisch dargestellt. Ich zitiere aus diesem Bundesbankbericht:Ertragsverhältnisse und Beschäftigung können gleichsam als die Enden einer Wirkungskette angesehen werden, zwischen denen die Eigenmittel und die Investitionen als Verbindungsglieder stehen.Damit weist die Bundesbank auf die Folgen eines zu engen Selbstfinanzierungsspielraums in Form von höherer Verschuldung, zusätzlicher Kostenbelastung und schließlich verringerter Investitionsbereitschaft hin.Wer eine Ergänzungsabgabe für Besserverdienende fordert und eine direkte Steuersenkung auf diesem Wege massiv bekämpft, leistet einen Beitrag für weniger Beschäftigung und stellt sich unserer erfolgreichen Politik für mehr Beschäftigung entgegen. Das ist der gemeinsame Grundfehler der
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16308 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
Parl. Staatssekretär Grünersozialdemokratischen Vorstellungen in der Finanzpolitik.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Jens.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für uns Sozialdemokraten — das darf ich hier feststellen — gilt nach wie vor der Satz von Karl Schiller „Wettbewerb so weit wie möglich, Planung dort, wo unbedingt nötig".
Karl Schiller würde diese Debatte heute als Schattenboxen der Regierungsparteien bezeichnen, wo sie sich selbst k. o. schlagen. Ich darf feststellen: Der Markt ist ein sinnvolles und wichtiges Koordinierungsinstrument für individuelle, private Bedürfnisse.
Aber es gibt öffentliche Güter, öffentliche Verpflichtungen,
wie z. B. Umweltschutz,
Wettbewerb, Vollbeschäftigung. Für diese öffentlichen Güter tut diese Regierung so gut wie überhaupt nichts.
Sie haben in Ihrer Politik nur die Interessen der Individuen, nur
die einzelwirtschaftlichen Interessen im Kopf und mißachten sträflich die gesamtwirtschaftlichen Notwendigkeiten.
Wir Sozialdemokraten sind für die Autonomie der Bundesbank. Wir wissen aus historischer Erfahrung, wie wichtig das ist.
Aber es gibt Situationen, wo auch die Bundesbankpolitik nicht nur ausschließlich die Geldwertstabilität im Auge haben darf,
sondern auch auf die Ziele des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes achten muß.Meine Damen und Herren, ich finde es wirklich lustig, daß die Regierung hier wagt, uns als Steuererhöhungspartei hinzustellen, wo Sie nachweisbar
die Steuerlast, die Lohnsteuerquote, die Abgabenquote kräftig erhöht haben.
Jetzt gibt es Millionen von Bürgern, die zur Zeit einen Bescheid über die Erhöhung der Kraftfahrzeugsteuer bekommen. Auch ich habe mich vor kurzem kräftig darüber geärgert.
Wenn Sie hinbekommen hätten, was Sie selbst angekündigt haben, daß ab 1. Januar 1986 zwingend ein Katalysator zur Verbesserung der Umweltsituation vorgeschrieben wird, dann hätten wir auf diese Erhöhung der Kraftfahrzeugsteuer verzichten können.
Aber auf diesem Gebiet haben Sie völlig versagt.
Meine Damen und Herren, es ist nachweisbar. Sie sind angetreten und wollten die Subventionen kürzen. Nachweisbar sind die -Steuersubventionen von 1982 bis 1985 um 40 % gestiegen.
Sagen Sie das doch auch mal den Bürgern. Nachweisbar ist die Lohnsteuerquote von 16,1 % im Jahre 1982 auf 17,8 % im Jahre 1985 gestiegen, und sie wird weiter steigen: trotz der groß gepriesenen Steuerreform bis 1988 auf 18,3 %. Das ist die Politik dieser Regierung.
Nein, meine Damen und Herren, ich stelle fest: der Diskont, der Zins könnte noch ein wenig niedriger sein. Er ist bereits relativ niedrig, auch im internationalen Vergleich.
Aber entscheidend ist ja nicht der Nominalzins. Entscheidend für die Investitionstätigkeit ist der Realzins. Der Realzins ist in unserer Gesellschaft, in unserer Wirtschaft leider noch immer viel zu hoch, damit es zu kräftiger Belebung der Investitionen kommt.
Ich sage Ihnen, Finanzminister Baker der Vereinigten Staaten hat recht. Er hat vor kurzem festgestellt, es gibt in der Bundesrepublik ungenutzte
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16309
Dr. JensWachstumspotentiale, die diese Regierung nicht ausnutzt. Deshalb tragen Sie mit dazu bei, daß die Arbeitslosigkeit so hoch bleibt, wie sie ist.Sie wollen mit dieser Aktuellen Stunde nur von Ihren eigenen Problemen ablenken,
aber das lassen wir nicht zu.
Das Wort hat der Abgeordnete Niegel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Farthmann-Papier zeigt die verwirrende innere Lage der SPD, trotz der Dialektik des Herrn Spöri und trotz der Ablenkungsmanöver von Herrn Jens und Herrn Apel. Die wirtschaftspolitischen Thesen eines Herrn Farthmann sind die Vorbereitung eines rot-grünen Bündnisses
für die Linie der SPD-Fraktion in diesem Hause. Das hat sich heute in diesem Haus wieder gezeigt.
Durch das ebenfalls falsche Roth-Papier können Sie sich nicht exkulpieren.
Farthmann entdeckt sich offenbar selbst als einen modernen Marx, getauft und gehalten vom SPD-Kanzlerkandidaten Johannes dem Täuscher.
Herr Abgeordneter, ich muß Sie unterbrechen. Das ist eine Beleidigung eines Regierungschefs eines Landes, der gewählt worden ist. Ich rüge Sie dafür.
Aber ich habe nicht den Regierungschef gemeint, sondern den Kanzlerkandidaten.
Farthmanns Wirtschaftspapier entlarvt den neuen Ungeist im wirtschafts- und finanzpolitischen Denken der SPD. Dirigismus und Planwirtschaft sind aus der SPD eben nicht auslöschbar.
Sozialdemokraten können in der Marktwirtschaft ideologisch nicht bestehen, aber praktisch auch nicht, wie die DGB/SPD-Firma Neue Heimat zeigt.
Aber auch bei der SPD-eigenen Zeitungskonzentration hat sie j a ihre Pleite erlebt. Die letzten zwei SPD-Zeitungen „Frankenpost" in Hof und „Neue Presse" in Coburg mußte sie an die „Süddeutsche Zeitung" mit großen Verlusten verkaufen.
Der Inhalt des Farthmann-Papiers ist nicht nur unrealistisch, sondern auch menschenfeindlich.
Das auch deshalb, weil dem Staatskapitalismus mit all seinem bürokratischen Unverstand und mit Überverwaltung die Türe geöffnet werden soll.
Die Thesen von mehr Gerechtigkeit und mehr sozialem Denken in Wirtschaft und Gesellschaft sind j a nur die Bikinis und Feigenblätter für die rotgrüne Planung, die Marktwirtschaft auszuhöhlen. Damit soll der totale Wirtschaftsstaat, der seelenlose Planungsstaat als Heilslehre angeboten und eingeführt werden.
Die Visionen Farthmanns zeigen auch, wie die SPD fleißige Leute durch immer mehr Staat, durch konfiskatorische Maßnahmen lähmen und systematisch kalt enteignen will.
Das zu erkennen bedarf es weder einer akademischen noch einer politischen Diskussion. Die SPD versteht es leider immer noch — das hat sie heute wieder gezeigt —, mit dem Neidkomplex Politik zu machen.
Auch das Papier von Wolfgang Roth will nur vordergründig die freie Marktwirtschaft. Worte und Taten divergieren ständig. Alles läuft auf salbungsvolle, verhängnisvolle und wohlfahrtsstaatliche Normen hinaus.
Unsere Marktwirtschaft bedarf keiner Erneuerung durch linke Experimente. Sie bedarf der störungsfreien Anfeuerung, nicht zuletzt durch Steuersenkungen.
Das ist nicht zu erreichen durch abschreckende Steuererhöhungen oder durch eine Erhöhung der Staatsquote. Je weniger Staat, desto besser ist das Wirtschaftsklima.
Das Farthmann-Papier hat gegenüber den wirtschafts- und finanzpolitischen Zusammenhängen die gleiche Treffergenauigkeit wie der Griff zur Axt, um sich damit die Fingernägel zu schneiden. Die Fingernägel sind ab, aber die Hand ebenfalls.
Wenn der wirtschaftspolitische Sprecher der SPD Wolfgang Roth die Thesen von Herrn Farthmann als Käse bezeichnet hat, so darf uns das nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich die gesamte SPD in ihren wirtschaftspolitischen Vorstellungen nur graduell von den Farthmann-Thesen unterscheidet. Farthmänner sind überall in der SPD.
Das Wort hat der Abgeordnete Schwörer.
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16310 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das FarthmannPapier spekuliert auf die Vergeßlichkeit der Bürger.
Farthmann will suggerieren, daß er mit seinen Ideen besser in der Lage wäre, die noch bestehenden Probleme zu lösen.Da müssen wir zunächst einmal fragen: Woher kommen eigentlich die Probleme, die er lösen will?
Die kommen doch von Ihrer Politik, meine Damen und Herren von der SPD.
Es war doch Ihre Polittik,
es war doch Ihr Kanzler, der für diese Politik verantwortlich war.
Im Winter 1982/83 waren es 2,3 Millionen Arbeitslose und 1,2 Millionen Kurzarbeiter mit gefährlich steigender Tendenz. Das wissen Sie. Oder die Schulden, Herr Kollege Apel: 310 Milliarden DM Schulden und 30 Milliarden DM jährliche Zinslast haben wir von Ihnen übernommen.
Das kommt doch von Ihnen — wenn Sie die Schulden beklagen. Auch die Abgabenbelastung kommt doch nur aus Ihrer Zeit, vor allem auch durch diese von Ihnen verursachte Arbeitslosigkeit.
Oder die verheerende Lage des Mittelstandes, die Sie, Herr Kollege Vogel, so mit Krokodilstränen beklagt haben, die Pleiten, das kommt doch nur daher, daß in Ihrer Zeit die Eigenkapitalquote derartig abgesunken ist.
Und nun weigern Sie sich sogar die Erfolge dieser Regierung zur Kenntnis zu nehmen. Sie kamen zustande, weil wieder eine andere, eine marktwirtschaftliche Politik gemacht wurde, weil Wirtschaft und Verbraucher entlastet und ermutigt wurden, weil die Bürger angesichts dieser Politik wieder an die Zukunft glauben, Vertrauen gefaßt haben. Durch diese erfolgreiche Politik schaffen wir 700 000 neue Arbeitsplätze bis Ende dieses Jahres,
drücken wir die Bundesschulden auf ein Drittel Ihrer Zeit herab.
Und ich sage noch einmal: Hätten wir diese Zinsen nicht zu zahlen, brauchten wir überhaupt keine neuen Schulden zu machen, Herr Kollege Vogel.
Wir haben die höchste Steigerungsrate bei den privaten Investitionen.
Wir haben die niedrigsten Zinsen. Wir haben diehöchste Steuersenkung für Familien durchgeführt.— Da können Sie noch so viel schreien. Das sind Wahrheiten. Das wollen Sie bloß nicht zur Kenntnis nehmen.
Das zeigt, daß eine Politik der Marktwirtschaft Erfolg hat. Erstmalig gibt es auch wieder reale Zuwächse bei den Einkommen der Arbeitnehmer. Seit 1979 haben die Arbeitnehmer doch nur noch Minus gehabt.
— Meine Damen und Herren, ich weiß, daß Ihnen das weh tut, aber es ist die Wahrheit.
Noch sind nicht alle Frage gelöst. Aber was Sie in 13 Jahren kaputtgemacht haben, können wir nicht in drei Jahren in Ordnung bringen. Auch das weiß jeder.
Aber wir sind auf dem richtigen Weg, meine Damen und Herren.
Es könnte nichts Schlimmeres passieren, als daß die Ideen des Herrn Farthmann verwirklicht würden. Sie gehen ja weit über die sozialistischen Ideen der 70er Jahre in Ihrer Partei hinaus. Und Sie sagen ja gar nichts dazu. Es ist doch das Interessante, daß Sie den Namen Farthmann so verschweigen. Die Verwirklichung dieser Ideen würde noch viel schlimmere Wirkungen haben als die der Politik, deren Erbschaft wir 1982 übernehmen mußten.Meine lieben Kollegen von der SPD, ich möchte auch die Marktwirtschaftler bei Ihnen ansprechen. Wenn man die unternehmerische Initiative ersetzen will durch den Staat, durch eine gigantische Bürokratie
— das steht drin, Herr Kollege Jens —, wird man damit die Probleme der Zukunft ganz bestimmt
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16311
Dr. Schwörernicht lösen. Es ist geradezu eine Horrorversion, was uns Herr Farthmann hier vorführt.Wir werden das mittelständische Element stärken, bei Unternehmern, bei Arbeitnehmern. Sie müssen von Steuern und Abgaben entlastet werden. Die Selbständigkeit muß jedem wieder ermöglicht werden. Die Unselbständigen müssen in ihren wichtigen Funktionen als Angestellte, Arbeiter oder Beamte steuermäßig, abgabenmäßig entlastet werden, entlastet, nicht belastet, Sie müssen ermutigt und belohnt werden für Leistung und die Übernahme von Verantwortung. Das ist es, was wir in der Zukunft erreichen müssen.
Nur wenn sich für alle Mitarbeiter der Betriebe die Leistung wieder persönlich lohnt, werden wir die Probleme der Zukunft lösen, die heißen: neue Produkte, neue Verfahren, neue Märkte und damit neue Arbeitsplätze.
Das geht sicher nicht mit dem Plan von Herrn Farthmann. Das ist ganz bestimmt richtig. Das geht nicht mit einem kräftig erhöhten Staatsanteil, wie er es will. Wir sind froh, daß wir dieses Papier bekommen haben, das Sie so schön verschweigen; denn angesichts dieses Papiers wird manchem, vor allem auch manchem Arbeitnehmer, die Entscheidung, wen er 1987 zu wählen hat, sehr viel leichter fallen.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Mischnick.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Vogel, im Gegensatz zu vielen aus Ihren Reihen, die vieles, was sie mit uns entschieden haben, heute nicht mehr wahrhaben wollen, habe ich mich nie gescheut, zu dem zu stehen, was wir gemeinsam entschieden haben.
Das unterscheidet uns in vielen Dingen.
Nun zu den Sachfragen, die hier zur Diskussion stehen: Herr Kollege Apel, Sie haben davon gesprochen, daß die Steuersenkungen, die wir durchgeführt haben, im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit nichts bewegten.
Das ist eine absolut falsche Behauptung;
denn die Tatsache, daß wir heute über 300 000 mehrBeschäftigte als noch vor zwei Jahren haben, beweist, daß wir im Kampf gegen die Arbeitslosigkeitdamit einen Erfolg haben. Wir haben heute mehr Beschäftigte als 1969. Nehmen Sie das endlich einmal zur Kenntnis. Das sind Erfolge!
Zweiter Punkt. Ich habe mit Interesse gehört, daß zumindest unterschiedliche Meinungen über die Frage der Autonomie der Bundesbank bei Ihnen bestehen. Ich möchte hier in aller Klarheit sagen: Wer die Autonomie der Bundesbank antastet, weiß nicht, was er tut, und das ist schlimm. Oder er weiß, was er tut, und das ist noch viel, viel schlimmer, wegen der Gefahren, die daraus entstehen.
Wenn die Reichsbank in der Weimarer Zeit die Position gehabt hätte, die heute die Deutsche Bundesbank hat, wäre manches, was dann zu den Ereignissen danach geführt hat, vermieden worden. Das sollte jeder im Gedächtnis behalten, der dann und wann einmal über Entscheidungen der Bundesbank nicht begeistert ist. Die Bundesbank war aber mit ihrer Haltung, mit ihren Entscheidungen die Voraussetzung dafür, daß die Bundesrepublik Deutschland heute eines der stabilsten, in vielen Dingen das stabilste Land innerhalb der gesamten Weltwirtschaft ist.
Natürlich muß das durch eine Regierungspolitik, durch eine entsprechende Entscheidung im Parlament abgestützt werden; aber die Bundesbank unangetastet zu lassen, sollte für jeden eine Selbstverständlichkeit sein, der weiß, daß Stabilität der wichtigste soziale Faktor ist, den wir in unserem Lande haben.
Denn alles, was mit Preissteigerung, was mit Inflation zusammenhängt, ist immer am schlimmsten und am negativsten für die Armsten in der Bevölkerung. Sie haben am meisten darunter zu leiden.
Es ist doch unbestreitbar, daß es durch unsere Entscheidungen gelungen ist, die Stabilität wiederherzustellen.Wenn mit Recht davon gesprochen worden ist, daß Entscheidungen in der Vergangenheit zu Belastungen für heute geführt haben, dann sehen wir ganz klar, daß z. B. Arbeitsbeschaffungsprogramme Mitte der 70er Jahre eben nicht die Wirkung gehabt haben, die Sie erwartet haben.
Sie haben ein Strohfeuer verursacht, das zwar langfristig Belastungen durch Tilgung und Zins mit sich gebracht, aber nur kurzfristig eine Entlastung am Arbeitsmarkt gebracht hat.
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16312 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
MischnickDiese Fehler wollen und werden wir nicht wiederholen. Deshalb sind wir für die Politik, die wir jetzt durchführen, deshalb sind wir für die Steuerpolitik, die wir für richtig halten.
Nun noch eine Bemerkung zur Wählertäuschung oder zum Wählerfang. Ich sage Ihnen in allem Freimut: Ich habe es für falsch gehalten, daß die Steuerentlastung in zwei Etappen durchgeführt wird. Es kann doch wohl nicht wahr sein, es als Dummenfang, als Wählerfang zu bezeichnen, wenn ein Teil der Steuerreform erst ein Jahr nach der Bundestagswahl in Kraft tritt.
Da können Sie sagen, das war ein taktischer Fehler; aber zu behaupten, diese Steuerreform sei ein Wählerbetrug, das ist genau das Gegenteil von dem, was wahr ist, nämlich der Versuch, Stabilität und Steuerentlastung miteinander in Einklang zu bringen. Dies haben wir getan.
Das Wort hat der Abgeordnete Roth.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mich heute früh sehr gefreut, daß jenseits von Polemik ein paar von Ihnen Sozialdemokraten auch sehr gelobt haben. Einer von Ihnen hat — das ist am heutigen Tag richtig — Professor Karl Schiller erwähnt. Ich will ihm auch von diesem Platz aus gratulieren und ihm danken, daß er nach einer Wirrung Mitte der 70er Jahre in die SPD zurückgefunden hat und daß er uns bei dem neuen Wirtschaftsprogramm als kritischer Berater zur Verfügung stand. Dafür gebührt ihm Dank.
Ich habe mich natürlich besonders gefreut, daß einer Ihrer Redner meinen engsten wirtschaftspolitischen Freund Professor Krupp hier so ausführlich gewürdigt hat. Die Linie, die Herr Professor Krupp im „Spiegel" in Antwort auf das Papier von Herrn Farthmann formuliert hat, ist in der Tat die Linie unseres Wirtschaftsprogramms, und das wird auf dem Parteitag der SPD das Programm der sozialdemokratischen Partei für die Bundestagswahl 1987.
Gerade in der Erinnerung an Karl Schiller sage ich: Wenn ich hier Ihre bombastischen Sprüche zur Marktwirtschaft und zur Wettbewerbswirtschaft höre und sie Ihrer wettbewerbs- und wirtschaftspolitischen und Ihrer marktwirtschaftlichen Praxis gegenüberstelle dann graut's mir vor Ihnen. Wer hat denn hier in diesem Bundestag etwas zu diesen neuen marktfeindlichen Elefantenhochzeiten in der Marktwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland gesagt, die zur Vermachtung und zur Abschaffung von Marktwirtschaft in Sektoren führen?
Oder, meine Damen und Herren Gralshüter des Marktes aus der FDP, wer hat denn etwas zu der neuen Machtzusammenballung in der Bankwelt in der Bundesrepublik Deutschland gesagt? Die Deutsche Bank allein kontrolliert 147 Aufsichtsräte in der Großwirtschaft, und 25 % des deutschen Außenhandels gehen über die Konten der Deutschen Bank. Wo sind denn da die Wahrer der Marktwirtschaft und des Wettbewerbs auf Ihrer Seite? Stillschweigen und Angst vor dem großen Geld!
Oder wo ist das Thema Verdrängungswettbewerb, brutaler, rücksichtsloser Verdrängungswettbewerb im Einzelhandel, so daß eines Tages nur noch Großkonzerne das Sagen haben? Wo ist denn da eine effektive Marktkontrolle?
Auf dieser Ebene werden wir nicht miteinander diskutieren.Und jetzt Ihr unglückseliges Gegeneinanderausspielen von Staat und Markt. Bei Ihnen ist das ja sehr differenziert, was den Staat betrifft.
Sie sind für einen starken Staat, wenn es um Polizei und Überwachung der Bürger geht, und für einen schwachen Staat, wenn es um wirtschaftliche Macht geht. Das ist die Wahrheit.
Wir sind der Auffassung: Was Arbeitsplätze und was die Sicherung unserer ökonomischen und ökologischen Grundlagen betrifft, gehören ein starker Staat und starker Wettbewerb zusammen.
Lassen Sie mich zum Schluß ein paar Bemerkungen zu dem machen, was klargestellt sein muß.
Es gibt auf dem Parteitag der SPD keine Mehrheit zur Beseitigung der Autonomie der Deutschen Bundesbank. Wir sind der Meinung, daß eine unabhängige Bundesbank, die allerdings alle Ziele der Wirtschaftspolitik berücksichtigt — nicht nur die Stabilität,
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16313
Rothsondern auch die Beschäftigungsfrage —,
in unsere Wirtschaftsordnung eingebunden ist.Zweitens. Wir haben keinen Bedarf an einer abstrakten Staatsquotendiskussion, weil wir viel zuviel Abgaben- und Steuererhöhung auf Ihrer Seite haben.
Was wir brauchen, sind funktionstüchtige Steuern, die die richtigen Themen anpacken.
Ohne einen aktiven in der Wirtschaftspolitik gestaltenden Staat, der die Massenarbeitslosigkeit angeht und für eine ökologische Erneuerung eintritt, wird es keine Erneuerung unserer Volkswirtschaft geben.
Das ist unser Konsens. Und den werden wir auf unserem Parteitag durchsetzen.
Das Wort hat der Abgeordnete Wissmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eines hat diese Aktuelle Stunde gezeigt: die Unklarheit in der SPD über ihren wirklichen wirtschaftspolitischen Kurs.
Da gibt es Wolfgang Roth mit seinem „Sondervermögen Arbeit und Umwelt", mit seinem Programmentwurf. Der Programmentwurf ist vom Parteivorstand nicht verabschiedet, sondern zu einer weiteren intensiven Überarbeitung in eine Kommission überwiesen worden. Da gibt es Uwe Jens, der zum „Sondervermögen Arbeit und Umwelt" von Roth sagt, die Finanzierungsvorschläge seien fragwürdig. Da gibt es die südhessische SPD mit einem sogenannten Konzept zur volkswirtschaftlichen Lenkung vom März — also vor wenigen Wochen —, das sich weitgehend an Farthmann anlehnt. Da gibt es Professor Krupp. Dann ist die Frage: Wo steht eigentlich Johannes Rau?
Johannes Rau hat gestern in einer Pressekonferenz von 35 Minuten auch in dieser Frage einen Slalom anzusetzen versucht. Er meinte, indem er darauf hinweise, daß die Analyse von Farthmann Richtiges für sich habe, man aber über die Therapie streiten könne, könne er sich aus der Verantwortung stehlen. Ich finde, die beste Antwort auf Herrn Rau hatProfessor Krupp, der Wirtschaftsberater von Vogel, gegeben. Er hat folgendes gesagt:Am Anfang der Farthmannschen Thesen steht eine Analyse, die zwar manchem, der sich nicht mit wirtschaftlichen Problemen beschäftigt— ich frage: Hat er damit Rau gemeint? —,plausibel klingen mag, die aber in vielen Punkten schlicht falsch ist.Herr Vogel, Herr Rau, Herr Roth, die SPD muß sich endlich entscheiden, was sie in der Wirtschaftspolitik will.
Sie steht heute ohne ein klares Konzept da.
Zwischen Markt und Murks, meine Damen und Herren, ist der Kurs der SPD heute angelegt.
Es ist heute kein klares Wort gefallen, was mit den steuerpolitischen Vorschlägen von Farthmann passieren soll: Erhöhung der Energiesteuer, Erhöhung der Mineralölsteuer, Einführung einer Chemiesteuer, Einführung eines 10%igen Zuschlags auf alle Einkommen — das fordert Farthmann an anderer Stelle. Es ist ein ganzer Katalog von Steuererhöhungsforderungen. Wir haben einmal zusammengezählt. Die Forderungen von Herrn Farthmann belaufen sich auf 50 Milliarden DM. Deswegen wäre es gut gewesen, Herr Vogel wäre hergekommen und hätte gesagt, daß er diese Vorschläge ablehnt.
Ich schließe aus der Tatsache, daß er hier nicht gesprochen hat, daß die Unklarheit auch in der SPD-Fraktion über den Kurs in der Steuer- und Wirtschaftspolitik bis heute groß geblieben ist.
Es gibt keine klare Antwort zu diesen Fragen, meine Damen und Herren.Farthmanns Konzept heißt im Kern: mehr Staat, Erhöhung der Staatsquote. Es heißt im Kern: mehr Steuern und Abgaben für Millionen Arbeiter, Angestellte und Selbständige. Meine Damen und Herren, solange es keine klare Antwort gibt, solange Sie mit vielen Papieren hantieren, aber ohne klares wirtschaftspolitisches Konzept sind, werden wir Sie immer wieder zu diesem Thema stellen. Dann nützt auch der zaghafte marktwirtschaftliche Ansatz von Herrn Roth nichts, wenn er nicht für die gesamte SPD spricht, sondern nur für Teile der SPD-Fraktion. Entscheidend ist endlich eine klare Antwort.Wir fordern Herrn Rau auf, von seinen Slalomlinien von gestern abzugehen und klar zu sagen, mit welchem Konzept er in die bevorstehende Bundestagswahl gehen will.
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16314 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich habe noch einige amtliche Mitteilungen zu machen. Die erste ist eine schöne. Der Abgeordnete Buschbom feiert heute seinen 65. Geburtstag. Ich gratuliere ihm herzlich.
Zweitens. Der Herr Abgeordnete Eickmeyer legt sein Amt als Schriftführer nieder. Die Fraktion der SPD schlägt als Nachfolger für das Amt des Schriftführers Frau Abgeordnete Terborg vor. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch.
Damit ist die Abgeordnete Frau Terborg zum neuen Schriftführer gewählt.
Drittens. Interfraktionell ist vereinbart worden, den mit der Agrardebatte verbundenen Punkt 11 i der Tagesordnung abzusetzen. Ich gehe davon aus, daß Sie damit einverstanden sind.
Meine Damen und Herren, wie bereits heute morgen mitgeteilt, ist von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP fristgerecht beantragt worden, die heutige Tagesordnung um folgende Punkte zu erweitern:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Militärischen Abschirmdienst
— Drucksache 10/5342 —
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesdatenschutzgesetzes, des Verwaltungsverfahrensgesetzes, des Bundesverfassungsschutzgesetzes und des Straßenverkehrsgesetzes
— Drucksache 10/5343 —
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die informationelle Zusammenarbeit der Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Staats- und Verfassungsschutzes und nachrichtendienstlicher Tätigkeit
— Drucksache 10/5344 —
Diese Vorlagen sollen heute nach Punkt 3 der Tagesordnung zur Beratung in verbundener Debatte aufgerufen werden. Die Dauer der Aussprache wäre noch zu beschließen.
Wird das Wort zur Geschäftsordnung gewünscht? — Herr Seiters, bitte schön.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nur ganz wenige Sätze zu einem eigentlich überflüssigen Geschäftsordnungsstreit. Von den fünf Gesetzentwürfen, deren erste Lesung die GRÜNEN heute verweigern, befinden sich vier bereits in den Ausschußberatungen dieses Hauses: Datenschutzgesetz, Verfassungsschutzgesetz, Artikelgesetz ZEVIS, gesetzliche Reglung des Militärischen Abschirmdienstes, und zwar als Entwürfe der Koalitionsfraktionen, die wir ja am 31. Januar beraten haben. Etwas merkwürdig ist es schon, daß die GRÜNEN es ablehnen, die gleichlautenden Gesetzentwürde der Bundesregierung, zu denen sich der Bundesrat zwischenzeitlich geäußert hat, heute ebenfalls in die Ausschüsse zu überweisen, um sie in die parlamentarische Beratung mit einzubeziehen. Das hat natürlich mit vernünftiger parlamentarischer Arbeit wenig zu tun.
Die Bundesregierung hat am 29. Januar als fünften Gesetzentwurf gleichzeitig das sogeannte Zusammenarbeitsgesetz beschlossen.
Diese fünf Gesetze gehören inhaltlich zusammen. Das möchte ich jedenfalls für die Unionsfraktionen noch einmal an dieser Stelle nachdrücklich erklären. Wir wollen mit diesen Gesetzentwürfen beitragen zur Fortentwicklung des Datenschutzgesetzes und der Informationsarbeit im Sicherheitsbereich
— ich will das nur mit einem Satz ansprechen —,
weil die GRÜNEN sicherlich versuchen werden, die gesetzgeberische Absicht der Bundesregierung verzerrt darzustellen.
Wir wollen gesetzliche Lösungen verwirklichen, die auf der einen Seite eine wirksame Bekämpfung von Terrorismus, Kriminalität, Spionage und Extremismus gewährleisten und dabei gleichzeitig das Persönlichkeitsrecht der Bürger in vollem Umfang respektieren und garantieren.
Es ist das gute Recht einer jeden Fraktion, jedes Abgeordneten, solche Gesetze im Parlament abzulehnen; aber es stößt doch auf Unverständnis, daß Sie bereits dem Beginn der parlamentarischen Beratung widersprechen.
Eine kurze Bemerkung zur SPD, die der Aufsetzung nicht widersprochen hat, die eine längere Beratungszeit wünscht. Wir würden uns diesem Begehren nicht widersetzen.
— Nein, nicht um Mitternacht, Herr Vogel, aber heute nachmittag oder heute abend. Wir haben jedenfalls nicht die Absicht, die wichtige arbeitsmarktpolitische Debatte, die gleich folgen wird, zeitlich einzuschränken. Deswegen möchten wir darauf bestehen und beantragen, daß wir, wie unser Vorschlag lautet, im Anschluß an die dreistündige arbeitsmarktpolitische Debatte dann 60 Minuten in erster Lesung über die von uns vorgeschlagenen Gesetzentwürfe beraten.
Das Wort hat der Abgeordnete Vogel .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Namens meiner Fraktion DIE GRÜNEN lehne ich die Aufsetzung des ZAG und der übrigen Überwachungsge-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16315
Vogel
setze auf die heutige Tagesordnung entschieden ab.
Der Kollege Seiters sprach an, was wohl in den Hirnen von vielen hier auf der rechten Seite so durchlaufen wird:
Warum behindern die GRÜNEN eigentlich mit ihren Geschäftsordnungsbeiträgen hier die Gesetzesproduktion, die ja in Ihren Augen wohl auch mit Demokratieproduktion gleichzusetzen ist? — Wir lehnen die Aufsetzung deshalb ab, weil wir hier nicht Öl im Getriebe einer Gesetzesmaschinerie sein wollen, die von einer Ideologie angetrieben wird, die besagt, daß alles das, was nach formal korrektem Ablauf Gesetz wird, auch Recht ist.
Es ist nämlich nicht gewährleistet, daß das, was nach erster, zweiter und dritter Beratung, Verkündigung und Ausfertigung Gesetz wird, auch Recht ist. Es kann am Ende genauso auch Unrecht sein.
Das wissen Sie selber auch ganz genau. Da brauchen Sie gar nicht zu widersprechen. Ich erinnere Sie an das Volkszählungsgesetz, das hier natürlich auch korrekt abgelaufen ist und am Ende dann vom Bundesverfassungsgericht einkassiert wurde. Aber diese Auffanglinie kann ja versagen, die Auffanglinie Bundesverfassungsgericht, und dann kommt lediglich noch in den Minderheitsvoten einzelner Richter zum Ausdruck, was eigentlich materiell Recht ist, ohne daß das dann noch irgendwelche parktische Relevanz hat. Ich erinnere hier auch an das Zivildienstgesetz: Obwohl im Grundgesetz steht, daß Zivildienst und Wehrdienst genau gleichlang sein sollen, ist beim Bundesverfassungsgericht durchgegangen, daß die Dauer des Zivildienstes länger als die Dauer des Grundwehrdienstes sein kann.Wir lehnen die Aufsetzung ab, weil diese Gesetze unserer Meinung nach ans Mark des materiellen Rechtsstaates gehen, an das gehen, was unsere Verfassungsväter und -mütter als den Inhalt, als das Bedeutende unseres Grundgesetzes verstanden haben.
Ich ziehe hier — ich sage das ausdrücklich — keinen Vergleich mit dem Ermächtigungsgesetz. Das sage ich ausdrücklich.
Die Geschichte wiederholt sich nämlich nicht in gleicher Weise. Ich sehe heute keine Gefahr, daß wieder ein Kanzler mit einem einzigen Gesetz die absolute Macht an sich reißt. Diese Gefahr ist, glaube ich, nicht gegeben. Das Problem — und das kommt hier zum Ausdruck — ist doch viel eher dieständige schleichende Entmachtung des Parlaments zugunsten der Exekutive,
die ständige Aushöhlung des Grundgesetzes.
Das ist in diesem Fall die Entmachtung des Parlaments zugunsten der „Organe der inneren Sicherheit". Diese Entmachtung schreitet manchmal in Trippelschritten voran, manchmal im Laufschritt, in letzter Zeit allerdings mit Siebenmeilenstiefel.
Unserer Meinung nach sind dies keine Gesetze, die im normalen gesetzgeberischen Ablauf hier verabschiedet werden können.
Wir sind der Meinung, daß von uns Parlamentariern an dieser Stelle und bei diesen Gesetzen nicht der Eindruck erweckt werden darf, am Ende des formalrechtlich einwandfreien Verfahrens stünde demokratisches Recht. Natürlich werden am Ende Gesetze stehen, die demokratisch legitimiert sind. Demokratisch sind sie allerdings nicht.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Porzner.
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung hat diese Gesetzentwürfe, die heute auf Antrag der Koalitionsfraktionen auf die Tagesordnung gesetzt werden sollen, vor Monaten beschlossen, dem Bundesrat zugeleitet. Der Bundesrat hat sie erörtert, und dann sind diese Gesetzentwürfe auf ordnungsgemäßem Weg dem Bundestag zugeleitet worden.Herr Vogel von den Grünen, es ist ein schlechter parlamentarischer Stil, die Beratung von Gesetzentwürfen an sich zu verweigern.
Wenn die Mehrheit im Bundestag bei Gesetzentwürfen der GRÜNEN mit dem gleichen Maßstab handelte, den Sie an diese Gesetzentwürfe anlegen, dann müßten Sie ertragen, daß Ihre Gesetzentwürfe größtenteils gar nicht auf die Tagesordnung gesetzt würden.
Das will ich nicht. Deswegen geht es hier um das Verfahren, und deswegen kann und will ich nicht über die Sache sprechen. Verfahrensfragen sind wichtige demokratische und parlamentarische Fragen.
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16316 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
PorznerNiemand gießt Öl ins Getriebe des Parlaments, wenn er auch Gesetze debattiert, mit denen er am Ende nach der Beratung nicht übereinstimmt und sie dann mit sachlicher Begründung ablehnt.
Die erste Lesung hat die Aufgabe, grundsätzliche Fragen solcher Gesetzentwürfe zu erörtern und vor allem die Differenzen zwischen der Opposition und der Koalition herauszustellen. Heute, meine verehrten Damen und Herren von der Koalition, steht allerdings auch zur Debatte, was es an schwerwiegenden Differenzen innerhalb des Regierungs-, des Koalitionslagers gegeben hat.Im Kabinett ist bei Anwesenheit der Minister der FDP zugestimmmt worden. Kurz danach hat der Generalsekretär der CSU die inzwischen durch den FDP-Bundesvorstand erfolgte Ablehnung der Gesetzentwürfe als unverantwortlich gegeißelt. Der FDP-Vorstand hat dann Stoibers Angriffe wiederum als „unsinnige Störung der Regierungsarbeit" zurückgewiesen. Kanzler und Fraktionsführungen mußten Krisensitzungen abhalten. Der Außenminister mußte eine Botschafterkonferenz in Afrika kurzfristig absagen, weil er zu Hause unabkömmlich ist. Dieses Durcheinander, meine Damen und Herren, zeigt den desolaten Zustand der Regierung und die Handlungunsfähigkeit der Koalition in vielen, vielen Fragen, nicht nur in diesem Fall.
Der Kommentator der „Süddeutschen Zeitung" hat heute in anderem Zusammenhang geschrieben:Sie— also die Koaltion —hat eine beklemmende Neigung entwickelt, ein und das dasselbe Problem immer von neuem umzuwenden und selbst dann, wenn sie zu Ergebnissen kommt, diese wieder in Frage zu stellen. Politiker— die der Koaliton sind gemeint —sind nicht einmal imstande, die Regierungsgeschäfte handwerklich sauber abzuwickeln.So ein neutraler Kommentator.Meine Damen und Herren, die öffentlich geführten heftigen Auseinandersetzungen im Regierungslager zwingen uns dazu, den Antrag zu stellen, daß hier nicht nur kurz eine Stunde debattiert wird, sondern daß wir für diesen beantragten Tagesordnungspunkt zwei Stunden Debattenzeit erhalten.
Das beantrage ich hiermit.
Damit wir diese Zeit bekommen, beantrage ich zugleich, daß die Debattenzeit für den Tagesordnungspunkt 2 von drei aunf zwei Stunden verkürzt wird.
Nachmittags haben wir nämlich wiederum ein anderes wichtiges Thema zu erörtern, und zwar dieAgrarpolitik, bei dem wir alle miteinander die Debattenzeit nicht verkürzen wollen. Weil wir aus dem Tag nicht mehr als 14 Stunden Beratungszeit machen können, müssen wir es innerhalb der Zeit schaffen, die uns zur Verfügung steht.Danke schön.
Wird weiter das Wort zur Geschäftsordnung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Dann kommen wir zur Abstimmung. Es ist wohl logisch, wenn ich zuerst über den Antrag der SPD abstimmen lasse, ob wir eine einstündige oder eine zweistündige Debatte führen.
Wer für den Antrag der SPD ist, den bitte ich um Zustimmung. — Wer stimmt dagegen? — Das ist die Mehrheit. Dann ist dieser Antrag abgelehnt.
Wer stimmt dem Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP zu, die vorhin von mir verlesenen Gesetzentwürfe der Bundesregierung auf den entsprechenden Drucksachen neu auf die Tagesordnung zu setzen? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Dann ist dieser Antrag bezüglich der Aufsetzung auf die Tagesordnung bei einer großen Anzahl von Stimmenthaltungen mit Mehrheit angenommen worden.
Ich rufe nun Punkt 2 der Tagesordnung auf:
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zur Entwicklung von Wirtschaft und Arbeitsmarkt
Hierzu ist ein Entschließungsantrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache 10/ 5389 angekündigt. Er liegt noch nicht vor.
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Altestenrat sind für die Aussprache drei Stunden vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren. Die Koalition aus CDU, CSU und FDP ist noch nicht vier Jahre im Amt.
Wir stehen vor der Schlußrunde der Legislaturperiode. Das ist eine gute Gelegenheit, vor dieser Schlußrunde in einer Besinnungspause Rückblick und Ausschau zu halten.1982 schrumpfende Wirtschaft, 1986 wachsende Wirtschaft; 1982 Rückgang des Bruttosozialprodukts, minus 1 %, 1986 Anstieg des Bruttosozialprodukts um über 3%; 1982 Arbeitsplatzabbau, Beschäftigungsrückgang, 1986 Arbeitsplatzgewinn, Beschäftigungszuwachs; 1982 Beschäftigtenzahlen minus 400 000, 1986 Beschäftigtenzahlen plus 300 000.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16317
Bundesminister Dr. BlümIn den beiden letzten Jahren der Regierung Schmidt ging die Zahl der Erwerbstätigen um 820 000 zurück.Meine Damen und Herren, Aufbau ist immer schwerer als Abbau. Das weiß jeder Maurer. Mit dem Bulldozer haben Sie ein Haus schnell abgerissen, aber der Aufbau ist schwierig. Wir müssen gutmachen, was der Beschäftigungsverlust der achtziger Jahre für die deutsche Volkswirtschaft bedeutet hat.
Ich komme zu den Preisen. 1982 Kaufkraftverlust durch Preisanstieg um 5,3%; 1986 Preisstabilität; die Inflationsrate bewegt sich im Jahresdurchschnitt um 0,5%.Realeinkommen: 1982 Rückgang, minus 2,2 %; 1986 ein Plus, Anstieg der Realeinkommen um 4 %.Soziale Sicherheit: 1982 Milliardendefizite und Einsturzgefahren, 1986 Finanzstabilität; 1982 allein in der Bundesanstalt ein erwartetes Defizit von 14,2 Milliarden DM für 1983, 1986 wieder Handlungsspielraum für aktive Arbeitsmarktpolitik.Rentenversicherung: 1982 auf dem Wege in die Zahlungsunfähigkeit, 1986 wachsen zum erstenmal seit 13 Jahren wieder die Rücklagen in der Rentenversicherung. Die Finanzen der Rentenversicherung kannten in 13 Jahren nur eine Bewegung, auf der Rutschbahn nach unten. Wir bauen die Rücklage wieder auf.
Diese wenigen Punkte zeigen: Das ist das Kontrastprogramm zweier Regierungszeiten. Die Zeitpunkte des Vergleichs liegen nicht 20 Jahre auseinander, sondern knapp dreieinhalb Jahre. Das politische Gedächtnis ist kurzlebig. Deshalb muß ihm nachgeholfen werden. Diese Regierungserklärung soll eine Gedächtnisstütze sein.
Vor vier Jahren machte sich in der Bundesrepublik eine Resignation breit. Eine Frustrations-Schickeria bestimmte die öffentliche Meinung. Man begann, sich im Untergang heimisch einzurichten. Vier Jahre später ist Zuversicht wieder gesellschaftsfähig, und Selbstvertrauen gilt nicht als psychischer Defekt.
Das ist eine Wende der politischen Mentalitäten. Anders als in autoritären Befehlswirtschaften sind eine Soziale Marktwirtschaft und eine demokratische Gesellschaft auf das Selbstvertrauen ihrer Bürger angewiesen. Nicht die da oben und nicht die anderen lösen die Probleme, sondern wir, wir alle oder niemand. Das ist die Gesinnung einer demokratischen Gesellschaft.
Das ist die Mentalität der Sozialen Marktwirtschaft.Nicht mit Wehleidigkeit und Egoismus, sondern mit Zusammenhalten und Zuversicht wurden Schutt und Trümmer im Nachkriegsdeutschland beiseite geräumt. Die Nachkriegsdeutschen hatten die Nase voll von Bürokratie, Behörden und Bezugsscheinen. Sie hatten erlebt, wohin politischer Fanatismus führt. Demokratie und soziale Marktwirtschaft, das war die Antwort auf Hitler und Elend.
Selbstvertrauen und Solidarität, Zusammenhalten und Zuversicht, das sind die Wegweiser unserer Politik.
Die Zeiten ändern sich. Andere Bewährungen, andere Herausforderungen sind unserer Zeit gestellt. Aber es bleibt bei der grundlegenden Erfahrung: Ohne Vertrauen zu sich selbst, ohne Anstrengung wird keine Not beseitigt, kein Hindernis überwunden und kein Problem gelöst.Die nachindustrielle Gesellschaft wird uns möglicherweise aus manch harten Zwängen der industriellen Epoche entlassen. Aber auch sie wird kein Schlaraffenland bieten. Ich wünsche es uns auch nicht, weil ohne Arbeit, Anstrengung und Bewährung die Menschen nicht zu sich selber finden und es keine Zufriedenheit gibt.
Die Arbeit ändert sich — das stimmt —, aber der Wille zur Anstrengung, zur Leistung muß erhalten bleiben. Eine alternative Leistungsverweigerung ist nur durch die Schaffenskraft „der anderen" lebensfähig.
Die Arbeiterschaft als Wirtstier alternativer Ausbeutung, das ist nicht unser Programm.
Wir machen Politik für die, die arbeiten wollen, und für die, die arbeiten wollen, aber nicht können; aber wir machen keine Politik für die, welche arbeiten können, aber nicht wollen.
Hinter der Verachtung der Leistung versteckt sich häufig eine kindliche Sehnsucht nach Betreuung und Vormundschaft. Das sind die Verbündeten einer neuen Unterdrückung, die sich in das Wohlwollen der Bürger mit dem Versprechen einschmeichelt, ihnen alle Probleme abzunehmen, aber als Preis die Entwöhnung von Selbstverantwortung und Freiheit verlangt.Selbstverantwortung darf keine Selbstbespiegelung sein, in der der einzelne möglicherweise zur Überheblichkeit verleitet wird. Nach unserem Verständnis geht in das Selbstvertrauen Solidarität ein, die Notwendigkeit, den Schwachen zu helfen. Zusammenhalten und Zuversicht, Selbstvertrauen und Solidarität. Die Hilfe bleibt zuerst und vor allem Hilfe zur Selbsthilfe. Deshalb ist die Arbeitslosigkeit, meine Damen und Herren, die größte Gefahr
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16318 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
Bundesminister Dr. Blümfür die Politik der Selbsthilfe. Kampf für Vollbeschäftigung ist Kampf für die Möglichkeit, daß jeder sich selbst helfen kann, daß er mit seiner Hände Arbeit seinen Lebensunterhalt und den der Seinen verdient. Keine noch so hohe Unterstützung macht dieses elementare Recht der Menschen vergessen.
Wir brauchen unsere Ergebnisse nicht zu verstecken. Grund zur Selbstzufriedenheit, die Hände gar in den Schoß zu legen, gibt es nicht angesicht der Arbeitslosigkeit. Wir rufen auf zur Anstrengung, zur Zusammenarbeit aller, der Tarifpartner, der Regierung. Unsere Maxime bleibt Initiative, Innovation, Investition. Das ist das Dreigespann wirtschaftlicher und sozialer Besserung.5 % Inflation sind besser als 5 % Arbeitslosigkeit, war die Maxime von Helmut Schmidt. Aber was als Alternative gedacht war, war am Schluß ein Doppeldesaster. Wir hatten beides, mehr Inflation als 5 % und mehr Arbeitslosigkeit als 5 %. Heute haben wir eine Traumkonstellation von Wachstum und Preisstabilität. Wir liegen entgegen der gestrigen Darstellung der Opposition auch im europäischen Vergleich an der Spitze von Preisstabilität und Wachstum, und alle bestätigen uns gute Aussichten. Zitat: „Die Bundesrepublik Deutschland, Europas größter Wirtschaftsbereich, hat Aussicht auf ihr kräftigstes Wachstum seit 1979", schreibt Newsweek am 17. Februar 1986. Und „Financial Times" spricht sogar von einem dritten deutschen Wirtschaftswunder. 1982 lagen wir im Wachstum 0,7 % hinter dem europäischen Durchschnitt der OECDLänder, heute liegen wir mit 0,5 % vorn.Unsere Wirtschaft befindet sich im Wandel. Aber es gibt genügend Bedürfnisse, und weil es genügend Bedürfnisse gibt, weil wir nicht in einer satten befriedigten Welt leben, muß es auch genug Arbeit für alle geben. Wir folgen nicht einem Fatalismus, als müßte man sich mit der Arbeitslosigkeit abfinden.Auch im internationalen Vergleich zeigen sich weitere Entwicklungschancen bei uns. Wir hinken im Dienstleistungsbereich hinterher, einem Bereich mit großen Zukunftschancen. Ich sehe in der Dienstleistung auch neue Chancen für Beschäftigung. Das Wirtschaftswachstum wird durch seine Verlagerung in den Dienstleistungsbereich beschäftigungsintensiver. Nicht jede Dienstleistung läßt sich maschinisieren. Die Nachfrage nach menschlicher Zuwendung wird von keiner Maschine ersetzt. Die Dienstleistung für den Menschen, die Zuwendung zum Menschen braucht ein neues Image in unserer Gesellschaft. Es ist ja verräterisch, es geht uns leicht von den Lippen, zu sagen, wir bedienen Maschinen. Menschen zu bedienen gilt fast als diskriminierend. Das ist eine Irrationalität unserer Gesellschaft.
Ich fordere findige Unternehmer auf, die Marktlücken zu entdecken, in denen auch neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Unternehmer als Spurenleser neuer Bedürfnisse, das sind die Unternehmer der Zukunft. Ich bin ganz sicher, daß sie sich nicht nur in den Großkolossen der deutschen Wirtschaft finden, daß die kleinen, die mittleren, die Handwerker aufgerufen sind. Von ihnen erwarten wir uns ein Potential von Innovation und Initiative.
Ich sehe auch so manches schnelle Vorurteil. Im Dienstleistungsbereich werden keineswegs die unqualifizierten Arbeitskräfte bevorzugt, wie mancherorts vorschnell behauptet wird. Ein Blick in die Entwicklung in den Vereinigten Staaten zeigt, daß der Zuwachs gerade im gewerblichen Dienstleistungsbereich überproportional stark war, in Daten- und Beratungsdiensten, und daß dort bevorzugt qualifizierte Arbeitnehmer beschäftigt werden.Investitionen, das zweite Stichwort: Ohne Investitionen gibt es keine Arbeitsplätze. Investitionen fallen nicht vom Himmel; sie brauchen Auslöser. Der Zuwachs an Realeinkommen schafft eine solide fundierte Nachfrage, und ein stabiler Geldwert schützt vor strukturellen Fehlinvestitionen. Niedrige Zinsen verstärken die Investitionsneigung. Um viereinhalb Prozentpunkte sind die Zinsen für die Unternehmen seit 1982 gesunken. Das bedeutet einen zusätzlichen Investitionsspielraum von 35 Milliarden DM. Mehr als Ihre ganzen staatlichen Beschäftigungsprogramme haben wir durch Zinssenkung erreicht.
Zinssenkung ist ein lautloses Beschäftigungsprogramm. Zinssenkung ist ein Investitionsprogramm ohne Formulare, Planungsräte und Genehmigungsbehörden.
Sinkendes Zinsniveau wurde durch Sparen in den öffentlichen Haushalten angetrieben. Die Früchte des Sparens reifen in steigenden Investitionen: Die realen Ausrüstungsinvestitionen hatten von 1980 bis 1982 um 14 Milliarden DM abgenommen, von 1983 bis 1985 nahmen sie um 11 Milliarden DM zu, 1986 werden sie real wahrscheinlich um 12 Milliarden DM erhöht. Sie sehen immer das gleiche Beispiel: Bei der SPD ein Minus, bei uns Plus.
— Wenn es bezweifelt wird, kann ich es gern wiederholen: minus 14 Milliarden DM Investitionen zwischen 1980 und 1982, 1983 bis 1985 plus 11 Milliarden DM!Wir wollen die Investitionen mit Eigentum in Arbeitnehmerhand verbinden; wir wollen das wirtschaftspolitisch Notwendige mit dem sozial Erwünschten verbinden. Deshalb nutze ich die Gelegenheit, auch die zweite Stufe der Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand noch für diese Legislaturperiode anzukündigen. Wir wollen den Arbeitnehmer als Miteigentümer, wir wollen nicht das Bonzeneigentum, wir wollen das Arbeitnehmereigentum.
Investitionen müssen mit Modernisierung verbunden sein. Arbeitsplatzverluste haben nicht in
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Bundesminister Dr. Blümden hochmodernen Branchen stattgefunden, sondern eher dort, wo man die alten Klamotten mit Ruhekissen verwechselt hat. An der Spitze der Investitionsnachfrage standen 1985 die Aufträge für EDV-Geräte mit einem Plus von 22 %. Diese technisch hochentwickelten Erzeugnisse gehen vielfach in mikroelektronisch veredelte Erzeugnisse des Maschinenbaus und der elektronischen Industrie ein.Wir wollen den Wandel, der damit bedingt ist, auch die Umstellung von der alten in die neue Industrie nicht wie eine Naturkatastrophe erleiden, sondern sozial verantwortlich gestalten. Unser Programm heißt nicht einfach „Marktwirtschaft", es heißt „Soziale Marktwirtschaft".
Deswegen haben wir den Bau nicht im Stich gelassen. Ein Dringlichkeitsprogramm von 2,5 Milliarden DM hat ein Bauvolumen von rund 100 000 Wohnungen ausgelöst. Wir haben die Bundesmittel für Städtebauförderung verdreifacht und der mittelständischen Bauwirtschaft durch Kreditprogramme von über 4 Milliarden DM unter die Arme gegriffen. Wir haben Abschreibungen erleichtert. Kohle und Stahl wurden nicht im Stich gelassen. Die Stahlindustrie erhielt 3 Milliarden DM. Selbst Lafontaine überwindet seine Stahlschwierigkeiten mit Unterstützung der Bundesregierung.
Wir haben den Steinkohlenbergbau durch die Finanzierung von Anpassungsschichten davor bewahrt, daß Umstellung mit Entlassung verbunden wurde. Wir haben die Werftindustrie unterstützt. Das Schiffahrtsförderungsprogramm beträgt 250 Millionen DM — nicht um Strukturen zu erhalten, sondern um den Übergang sanft, sozial erträglich zu gestalten. Wir brauchen nicht nur wirtschaftliche, wir brauchen auch soziale Innovation.Unsere Umweltschutzpolitik ist arbeitsplatzwirksam. Die Großfeuerungsanlagen-Verordnung löst ein Milliardenprogramm von Investitionen aus. Mit unserer Umweltpolitik sichern wir rund 400 000 Arbeitsplätze. Wir haben die ERP-Programme für Umweltschutz 1986/87 um 1,6 Milliarden DM erhöht.Meine Damen und Herren, ich nenne das alles so ausführlich auch mit Zahlen, weil ich fürchte, am 1. Mai werden diese Zahlen vom DGB als Staatsgeheimnis behandelt werden.
Der Arbeitsmarkt ist in Bewegung geraten. 2,6 Millionen Arbeitslose haben im letzten Jahr wieder Arbeit gefunden. Wir haben die höchste Wiederbeschäftigungsquote seit Jahren. 1985 gab es bei den Arbeitsämtern 500 000 — eine halbe Million! — mehr Vermittlungen als 1982. Im ersten Vierteljahr dieses Jahres ist die Zahl der neuen Arbeitslosen, die zuvor Erwerbsarbeit ausübten, um 5 % niedriger als im Vorj ahr, dagegen die Zahl der neuen Arbeitslosen, die vorher gar nicht beschäftigt waren, um 3 % höher als im letzten Jahr.Mit anderen Worten, die Zahl der Entlassungen hat abgenommen, die Zahl der Arbeitslosen, die zum erstenmal nach Arbeit nachfragen, hat zugenommen. Das hängt mit vielen Gründen zusammen, auch mit den geburtenstarken Jahrgängen.
Es kommen mehr Jugendliche auf den Arbeitsmarkt, als Ältere ausscheiden. Belastungen des Arbeitsmarktes ergeben sich auch aus verändertem, von mir nicht kritisiertem Erwerbsverhalten der Frauen. Wir nehmen auch diese Herausforderung an.Wir brauchen Modernisierung der Wirtschaft, wir brauchen Strukturwandel, wir brauchen unternehmerische Initiative, Investitionen. Wenn ich von Modernisierung der Wirtschaft spreche, denke ich nicht nur an die Erneuerung des Maschinenparks. Nur qualifizierte Arbeitnehmer werden die modernen Arbeitsplätze beherrschen. Nur qualifizierte Arbeitnehmer schaffen auf modernen Arbeitsplätzen intelligente Produkte. Intelligente Produkte, das ist auch unsere weltwirtschaftliche Chance. Unser wichtigster Produktionsfaktor — wichtiger als jeder Rohstoff, wichtiger als jede Maschine — sind die Arbeitnehmer, sind qualifizierte Arbeitnehmer, mit denen wir unseren Wohlstand sichern, mit denen wir auch unseren Sozialstaat finanzieren.
Die Qualifizierung beginnt bei der Lehrlingsausbildung. In drei Jahren hintereinander sind Ausbildungsrekorde geschafft worden. Herr Vogel, wie kamen Sie eigentlich gestern dazu, in einer Litanei die Nachkriegsrekorde aneinanderzureihen? Sie scheinen Plus mit Minus verwechselt zu haben.
Er spricht von Negativrekorden. Ist das ein Negativrekord, daß wir in drei Jahren hintereinander mehr Lehrplätze als je zuvor geschaffen haben?
Herr Vogel, wenn ich noch etwas von Mathematik verstehe: Ist es ein Negativrekord, daß wir 1985 66 000 Lehrverträge mehr hatten als 1982, Herr Vogel?Das Hauptverdienst — das will ich hier gestehen — tragen jene Mitbürger, Unternehmer, Handwerker, Betriebsräte, Gewerkschafter, die mehr getan haben, als es ihre Pflicht gewesen wäre, mehr als normal. Die haben für die junge Generation mehr getan als alle Ideologen zusammen.
Die Bundesregierung hat sich dabei nicht auf die Zuschauerbank gesetzt. Auch wir haben mitgewirkt. Die Berufsausbildungsbeihilfen wurden verbessert. — Herr Vogel, ich bitte um Ihre geschätzte Aufmerksamkeit.
Die Zahl der Teilnehmer im Benachteiligtenprogramm ist innerhalb von vier Jahren vervierfacht worden.
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16320 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
Bundesminister Dr. BlümHerr Vogel, ist das Nachkriegsrekord? Ist das negativ oder positiv?
Noch einmal: im Benachteiligtenprogramm vervierfacht in vier Jahren! 1984/85 75 000 junge Arbeitnehmer in Berufsvorbereitenden Maßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit! Das sind 58 % mehr als 1981/82. Ist das Negativrekord? Ist das Negativrekord, Herr Vogel?
— Das ist ja auch peinlich. — 120 000 junge Arbeitnehmer unter 25 Jahren haben 1985 an Maßnahmen der beruflichen Fortbildung, Umschulung und betrieblichen Einarbeitung teilgenommen. Das sind 59 % mehr als 1982.
Im Durchschnitt des vergangenen Jahres waren 30 000 junge Arbeitnehmer in Arbeitsbeschaffungsprogrammen. Das ist gegenüber 1982 eine Steigerung von 275 %.
Ich reihe aneinander: Lehrlingszahl 66 000 mehr als 1982. Benachteiligtenprogramm vervierfacht, berufsvorbereitende Maßnahmen um 58 %, ABM für Jugendliche um 275 %. Wir brauchen die Zahlen nicht zu verheimlichen. Wir brauchen unsere Politik nicht zu verstecken. Wir haben den Arbeitslosen geholfen, nicht mit Worten, Programmen, sondern mit Taten.
Wie kommt denn der Herr Vogel dazu, zu sagen, wir hätten nichts gemacht, wenn er weniger gemacht hat? Das kommt mir so vor, als wenn einer ein Fußballspiel 5:0 verliert und anschließend den anderen das Toreschießen lehren will. So ähnlich ist das.
Weniger gemacht als wir und uns dann vorwerfen, wir hätten nichts gemacht!Wir haben in der siebten Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz ein Bündel weiterer Maßnahmen für die Ausbildung und Fortbildung junger Arbeitnehmer angeboten; auch unkonventionelle: Teilzeitarbeit mit Teilzeitbildung. Wir haben die soziale Lage der jungen Arbeitslosen verbessert. Wir haben die jungen Arbeitslosen wieder in die Krankenversicherung, wieder ins Kindergeld hineingenommen, aus denen sie von unseren Vorgängern herausgeschmissen worden waren.
Die werfen heraus, wir holen herein, und Sie werfen uns Sozialabbau vor. Wo bin ich denn? Bal paradoxe.
Die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen unter 20 Jahren ging in den letzten zwei Jahren deutlich zurück. Trotzdem schreibt die SPD: Die Berufsnot unserer Jugendlichen wächst. In demselben Bericht über den Arbeitsmarkt gibt sie dann selber die Zahlen bekannt: unter 20 Jahren minus 1 % gegenüber dem Vorjahr, von 20 bis 24 Jahren minus 4 %.Berufliche Bildung darf sich allerdings nicht allein auf Erstausbildung und Jugendliche konzentrieren. Berufliche Weiterbildung, Fortbildung wird zum Normalfall des Arbeitslebens. Fachleute schätzen z. B., daß schon in fünf Jahren 70 % aller Beschäftigten zumindest Grundkenntnisse auf dem Gebiet der Informationstechnik haben müssen. Der gegenwärtige Kenntnisstand beträgt schätzungsweise 5 %. Sie sehen, wir schaffen es gar nicht über Erstausbildung. Wir brauchen die Weiterbildung, auch die berufliche Weiterbildung der erwachsenen Arbeitnehmer. So erfolgreich, wie unser duales System in der Lehrlingsausbildung war, so erfolgreich muß auch die Weiterbildung der Arbeitnehmer sein.Die Klage vieler Unternehmer über Facharbeitermangel bringt mich zu der Frage, was denn die Unternehmer tun, diesen Facharbeitermangel zu beseitigen oder ihn gar nicht erst entstehen zu lassen.
Facharbeiter fallen nicht vom Himmel. Sie müssen in den Betrieben aus- und weitergebildet werden. Wir wollen nicht die absolute Verschulung aller Weiterbildungssysteme, wir wollen nicht die absolute Verstaatlichung. Wenn wir das nicht wollen, fällt den Betrieben die Hauptaufgabe der Weiter- und Fortbildung zu.
Auch hier sitzen wir nicht auf der Zuschauerbank. Wir wollen diese betrieblichen Anstrengungen unterstützen. Wir haben unser Angebot der Unterstützung erweitert.Auch hier noch einmal Zahlen für die gesamte Arbeitsmarktpolitik: Wir geben in diesem Jahr 11,5 Milliarden DM für aktive Arbeitsmarktpolitik aus; 1982, Herr Vogel, 6,8 Milliarden DM. Wir geben 70 % mehr aus als 1982.Ich frage mich eigentlich, wie der Johannes Rau das machen will. Er will alle Einsparungen zurücknehmen. Wenn er alle Einsparungen zurücknimmt, muß er auch diese Verbesserungen zurücknehmen, es sei denn, er hätte eine himmlische Geldquelle.
Diese Verbesserung und Erweiterung unserer Arbeitsmarktpolitik ist nämlich auch aus den Früchten des Sparens finanziert. Wir machen keine kopflose Politik.
Ich komme auch mit der Mengenlehre von Herrn Vogel nicht zurecht. Einerseits wirft er uns gestern vor, daß die Abgaben der Arbeitnehmer zu hoch seien. Andererseits wirft er uns vor, daß wir zuviel gespart hätten. Ein Vorwurf kommt dem anderen
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16321
Bundesminister Dr. Blümins Gehege. Sie stolpern über die eigenen Beine Ihrer Vorwürfe.
Ich komme zurück auf die Zahlen. 1982 waren 265 000 Arbeitnehmer in Maßnahmen der beruflichen Fortbildung und Umschulung, 1985 waren es 409 000. Steigerung — wieder ein Plus, Herr Vogel — 54 %.In den ersten drei Monaten dieses Jahres liegen wir mit 113 000 Neueintritten in berufliche Umschulung und Fortbildung um 80 % über dem Stand des vergleichbaren Zeitraums 1982.
— Ich will Ihnen Zahlen nennen, damit wir uns auf dem Boden von Tatsachen bewegen.1982 29 200 Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, 1985 waren es 87 000. In diesem Jahr werden es im Jahresdurchschnitt 100 000 Mitbürger sein, die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Anspruch nehmen. Das ist eine Verdreifachung des Standes, den ich 1982 übernommen habe.
Die SPD hat 1982 für berufliche Bildung und Rehabilitation Kürzungen in Höhe von 1,6 Milliarden DM vorgenommen. Wir haben in der Siebten AFGNovelle einige dieser Kürzungen wieder zurückgenommen. Wir haben sparen müssen. Sie erinnern sich daran, daß wir das Arbeitslosengeld für Arbeitslose ohne Kinder um 5 % absenken mußten, auch die Arbeitslosenhilfe. Das hat ein Sparvolumen von 1 Milliarde DM ausgemacht. Die Verlängerung des Arbeitslosengeldes für ältere Arbeitslose, für diejenigen, die von der Arbeitslosigkeit besonders hart — durch Dauer — getroffen wurden, hat uns 2 Milliarden DM gekostet. Mit anderen Worten: Das Sparvolumen auf Grund der Kürzung des Arbeitslosengeldes ist geringer als die Ausweitung der Hilfe, die wir insbesondere in der Siebten AFGNovelle beschlossen haben.Sie sehen: Statt 6,8 Milliarden DM 11,5 Milliarden DM, ABM verdreifacht, Benachteiligtenprogramm vervierfacht, Fortbildung erhöht, Umschulung erhöht. Wir bleiben bei unserer Politik: Es muß gespart werden. Aber dem, der in Not ist, muß geholfen werden, und die wichtigste Hilfe ist, ihm die Chance zur Arbeit zu geben.Wir haben den Vorruhestand eingeführt und damit auch einen Beitrag zur Arbeitszeitdiskussion geleistet. Mit dem Rückkehrförderungsgesetz haben wir unseren ausländischen Mitbürgern und uns selbst geholfen. Wir haben das Kurzarbeitergeld verlängert, den Ehegattenfreibetrag in der Arbeitslosenhilfe verdoppelt.Meine Damen und Herren, es kommt nicht nur auf materielle Hilfe an, sondern auch auf einen Sozialstaat, der seine Schutzeinrichtungen immer wieder darauf überprüft, ob sie dem Gewollten, dem Zweck dienen. Das ist auch ein Teil unserer Intentionen im Beschäftigungsförderungsgesetz. Schutz darf nicht Sperre sein. Deshalb bieten wir in ungewöhnlichen Zeiten auch ungewöhnliche Instrumente an, auch den befristeten Arbeitsvertrag. — Unternehmer, stellt vorzeitig ein! Ihr habt die Chance, mit dem befristeten Arbeitsvertrag auch über unsichere Zeiten zu kommen. — Es ist besser, befristet Arbeit zu haben, als unbefristet arbeitslos zu sein.
Wir rücken der Schwarzarbeit und der illegalen Beschäftigung auf den Leib. Wir haben die Strafen für illegale Beschäftigung verschärft, nicht Geldstrafen, sondern Freiheitsstrafen. Wir rücken den Schwarzarbeitern mit 29 Stützpunktarbeitsämtern mit 350 besonders geschulten Mitarbeitern auf den Leib; denn der schönste Paragraph, das beste Gesetz nützen nichts, wenn sie nicht angewandt werden.Wir haben neuen Formen der Arbeitszeit zum erstenmal sozialen Schutz verschafft, Teilzeitarbeit gesetzlich gegen Benachteiligungen geschützt, Job-Sharing, dieses Zweierverhältnis, davor bewahrt, daß es wie siamesische Zwillinge funktionieren muß, daß der eine unauflöslich an den anderen gekettet ist. Wir haben der sogenannten kapazitätsorientierten Arbeitszeit die Giftzähne gebrochen, Ankündigungsfristen eingeführt, Mindestarbeitszeiten eingeführt. Wir haben im Konkursrecht festgelegt, daß im Konkursfall der Sozialplan wieder an Stelle 1 behandelt wird und nicht an Stelle 6 und die Arbeitnehmer leer ausgehen.Wir brauchen unsere Politik nicht zu verstecken. Wir haben den Arbeitnehmern geholfen.
Wir haben die Rückkehrmöglichkeiten der Frauen, die vorübergehend aus dem Erwerbsleben ausgeschieden waren, verbessert, indem wir ihnen auch nach längerer Zeit der Abwesenheit aus der Erwerbsarbeit wegen Kindererziehung Wiedereingliederungshilfen anbieten. Wir wollen die Rückkehr der Frauen ins Erwerbsleben auch dadurch erleichtern, daß Teilzeitarbeit mit Teilzeitbildung verbunden bleibt. Frauen, die zur Sicherung des Lebensstandards eine Arbeit aufnehmen müssen, etwa nach der Ehescheidung, können bei der Teilnahme an einer Maßnahme der beruflichen Bildung ein Unterhaltsgeld bekommen, das sie bisher nicht bekamen. Im vergangenen Jahr konnten 137 000 Frauen an Maßnahmen der beruflichen Bildung der Arbeitsämter teilnehmen. Das sind 52 000 mehr als 1982. Wir garantieren dem Elternteil, der das Erziehungsgeld in Anspruch nimmt, seinen Arbeitsplatz. Frauen sind im übrigen überproportional am Beschäftigungszuwachs beteiligt. 59 % des Zuwachses ging an Frauen.Wir haben die höchste Frauenerwerbsquote. Nie gab es mehr beschäftigte Frauen. Das heißt nicht, daß wir uns nicht um die Frauen kümmern, die um Arbeit nachsuchen. Ich mache nur darauf aufmerksam, daß uns Fortschritte gelungen sind, daß die Frauenerwerbsquote heute bei 38,1 % angekommen ist.
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16322 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
Bundesminister Dr. BlümIch will Ihre Aufmerksamkeit, unsere Aufmerksamkeit auf die besonders benachteiligte Gruppe der schwerbehinderten Arbeitnehmer lenken. Es sind vielfach Arbeitnehmer, die zuerst von der Krise in Mitleidenschaft gezogen wurden und die in Gefahr stehen, die letzten zu sein, die am Aufschwung partizipieren. Deshalb auch hier mein Appell an die Unternehmer: Der Leistungswille, die Leistungsfähigkeit vieler behinderter Mitbürger steht keinen Deut hinter dem der nicht behinderten Mitbürger zurück, und auch wer in seinen Möglichkeiten beschränkt ist, hat ein Recht, ein Bedürfnis mitzumachen, mitzuarbeiten. Auch hier gilt: Keine noch so hohe Unterstützung, auch nicht die Zahlung einer Ausgleichsabgabe kann wettmachen, daß der einzelne mitarbeiten will. Deshalb mein Appell hier auch von diesem Pult: Stellt schwerbehinderte Arbeitnehmer ein!
Wir wollen in der Novelle zum Schwerbehindertengesetz die Einstellungschancen verbessern, auch die Ausgleichsabgabe erhöhen. Im übrigen liegt im März 1986 die Zahl der arbeitslosen Schwerbehinderten um rund 10 000 unter der Vorjahreszahl.Meine Damen und Herren, wir sind am Ende einer Epoche angelangt, in der Gleichheit aller Regelungen das höchste Ziel war. Differenzierung ist das Gebot der Stunde. Wir dürfen nicht nur nach Maßnahmen Ausschau halten, die überall gelten können, die überall wirken. Laßt uns auch zu Teillösungen greifen! Was nicht überall geht, macht es dort, wo es geht! Was in einer Region hilft, aber in der anderen nicht, macht es in der Region, in der es hilft! Was in einer Branche hilfreich ist, in der anderen nicht, macht es in der Branche, in der es hilfreich ist! Das Alles-oder-nichts-Prinzip ist ein schlechter Ratgeber; gesucht wird nach mehr Einfallsreichtum von Arbeitgebern und Betriebsräten.Auch die Arbeitszeit muß aus dem Korsett starrer Einheitsregelungen. Der technische Fortschritt bietet uns zum erstenmal die Möglichkeiten, aus den Marschkolonnen des Arbeitszeitgleichschrittes herauszutreten, der technische Fortschritt bietet die Möglichkeit der Individualisierung, Leben und Arbeit wieder miteinander zu versöhnen, die Übergänge von der Erwerbsarbeit in den Ruhestand sachter zu gestalten, das zeitweise Austreten aus der Erwerbsarbeit, beispielsweise zugunsten der Kindererziehung, mit der Chance zu verbinden, später wieder zurückzukehren. Um dies zu erleichtern, laßt uns Abschied nehmen von den grauen Modellen des Kollektivismus und der Nivellierung!
Die Zukunft liegt bei der Vielfalt, bei verbesserten Wahlmöglichkeiten der Lebensgestaltung für den einzelnen, für die Arbeitnehmer.
Ich appelliere auch an die Arbeitsverwaltungen, nicht auf dem erreichten Stand sitzenzubleiben, sondern wie Spürhunde auf der Suche nach neuen Arbeitsplätzen zu sein. Da wird nicht alle Hilfe nur in der Zentrale zu suchen sein, sondern auch dieSelbstverwaltung vor Ort, ihr Potential an Engagement, Einfallsreichtum und Mitarbeiterwillen ist zu stärken.Meine Damen und Herren, ich will diesen Überblick mit dem aus meiner Sicht größten sozialen Erfolg dieser Legislaturperiode schließen. Der größte soziale Erfolg ist die Preisstabilität. „Westdeutschland ist Weltmeister in Inflationsbekämpfung", schreibt die „Washington Post".
Auch hier stimmt der internationale Vergleich, den Sie gestern beschrieben haben, nicht. 1982 waren wir bei der Preissteigerung um 2,5 % schlechter als die OECD-Länder, heute sind wir um 3,5 % besser. Wir haben Preisstabilität und im Nahrungsmittelbereich stellenweise sogar Preisrückgänge. Preisstabilität ist der größte Erfolg für soziale Politik; denn eine Umverteilung, die den Bürgern durch Inflation mehr aus der Tasche zieht, als sie ihnen durch Sozialpolitik zuvor gegeben hat, ist eine betrügerische Politik.
Preisstabilität ist solide Politik. Inflation sind die Potemkinschen Dörfer der Sozialpolitik, nichts als nur Fassaden, aber nichts zum Wohnen. Was haben die Rentner von ihrer Rentenerhöhung zu SPD-Zeiten gehabt, wenn die Preissteigerungsraten noch höher waren? Was haben die Arbeitnehmer von einer Lohnpolitik gehabt, wenn die Lohnerhöhungen durch Inflation aufgefressen wurden?Preisstabilität — das ist ihr politischer Wettbewerbsnachteil — ist eine stille Politik. Preisstabilität ist Sozialpolitik auf leisen Sohlen. Die Umverteiler haben es leichter. Sie holen klammheimlich den Leuten das Geld aus der Tasche und geben mit großem Spektakel zurück, was sie vorher genommen haben.
Wir sagen: Preisstabilität, vernünftige Steuerpolitik ist die beste Politik der Verteilung. Laßt den Leuten das Geld! Die wissen mit dem Geld besser umzugehen, als diese ganzen Umverteilungsakrobaten glauben.
Hätten wir noch eine Inflationsrate von 5 %, dann wären auch die Steuereinnahmen höher, und zwar ohne daß ein Paragraph verändert worden wäre. Das ist die lautlose Steuerreform nach oben. Wir hätten, wenn wir noch 5 % Inflationsrate hätten, eine Steuermehreinnahme von 12 Milliarden DM.
Statt dessen geben wir in der ersten Stufe der Steuerreform bei Preisstabilität, bei Sparen 11 Milliarden DM an die Bürger zurück.
12 Milliarden DM hätten sie mehr zahlen müssen: ohne jede Gesetzesänderung, allein durch Inflation. Wir haben Preisstabilität erreicht, haben sparen müssen und können dennoch den Bürgern 11 Milli-
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Bundesminister Dr. Blümarden DM in der ersten Stufe zurückgeben. Die Hauptnutznießer werden diejenigen sein, die es am meisten brauchen: die Familien.
Das ist das Erkennungszeichen unserer Politik.
Die Preisstabilität läßt die Realeinkommen der Arbeitnehmer zum erstenmal wieder wachsen, zum erstenmal seit vielen, vielen Jahren. Die Arbeitnehmer haben dadurch einen Stabilitätsgewinn von 20 Milliarden DM mehr an Kaufkraft, die Rentner einen Kaufkraftgewinn von 8 Milliarden DM.Das ist alles so volkswirtschaftliches Latein, daß ich fürchte: Unsere Mitbürger können sich die großen Zahlen gar nicht vorstellen. Das ist ein Kaufkraftgewinn für einen durchschnittlichen Rentner- und Pensionärshaushalt gegenüber 1982 von jährlich 1 100 DM. Das ist so ähnlich, als hätten wir ihnen 1 100 DM
mehr gegeben. Das ist so ähnlich wie drei durchschnittliche Monatsmieten. Stellen Sie sich vor, diese Bundesregierung, dieser Arbeitsminister hätte verkündet, die Rentner bekommen drei Monatsmieten von uns gezahlt: Die Begeisterung würde keine Grenzen kennen. Unsere Politik der Preisstabilität hat dasselbe erreicht. Deshalb müssen wir für die Verbreitung dieses Erfolgs sorgen.
Denn ich fürchte: Die Opposition wird ihn streng vertraulich behandeln.
Wir haben gespart — das ist richtig — und das Sozialsystem dadurch stabilisiert. Wir haben Schulden abgebaut und dadurch Zinsen gesenkt und Voraussetzungen für Investitionen und Arbeitsplätze geschaffen. Wir haben Schulden abgebaut und damit Voraussetzungen für Preisstabilität und für mehr Beschäftigung geschaffen.Wir brauchen das Ergebnis unserer Politik nicht unter den Scheffel zu stellen. Doch wir haben auch keinen Grund, in der Anstrengung nachzulassen. Alle sind in der Pflicht. Nicht Bunkermentalität, Tabukataloge sind gefragt, sondern beschäftigungswirksames Handeln. Und diese Handlungsmöglichkeiten, diese Chancen sind größer, als die öffentliche Diskussion erkennen läßt. Die Chancen sind größer, als die Krisenideologen der Gesellschaft einzureden versuchen. Die Praxis ist besser, als die Pessimisten glauben machen wollen.Ich fordere deshalb mit großem Nachdruck alle Verantwortlichen in Industrie, Handel, Handwerk und im Dienstleistungsbereich, öffentliche und private Arbeitgeber, Gewerkschaften und Betriebsräte zu einer großen beschäftigungspolitischen Koalition auf: Nutzen Sie die verbesserten ökonomischen Rahmenbedingungen für Mehreinstellungen! Erschließen Sie durch bessere Verbindung von Arbeitszeitwünschen der Arbeitnehmer und neuenChancen der Arbeitsorganisation auch neue Beschäftigungsmöglichkeiten! Geben Sie der Neueinstellung die Vorfahrt vor den Überstunden! Erweitern Sie das Angebot an Teilzeitarbeitsplätzen! Schaffen Sie Qualifizierung und Weiterbildung! Qualifizieren ist besser, als über Facharbeitermangel klagen. Nutzen Sie die neuen Möglichkeiten des Arbeitsförderungsgesetzes und des Beschäftigungsförderungsgesetzes! Geben Sie den benachteiligten Gruppen des Arbeitsmarktes eine faire Chance!Arbeit für alle verlangt die Anstrengung aller. Das Ja zur sozialen Marktwirtschaft fordert einen uneingeschränkten Einsatz für die Arbeitslosen und für Beschäftigung für alle. Arbeit für alle! Das ist das Gebot der Stunde.
Das Wort hat der Abgeordnete Lutz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundesarbeitsminister, Sie hatten Order gegeben, Ihnen eine polemische Rede aufzusetzen. Das ist geschehen. Sie hätten die Order geben sollen, auch eine überzeugende Rede aufzusetzen. Das ist unterblieben.
Es war zu erwarten gewesen, Herr Blüm, daß Sie sich der Zunahme der Zahl der Beschäftigungsverhältnisse berühmen würden. Es ist erstaunlich, daß Sie nicht gleich von einem Beschäftigungswunder gesprochen haben. Das wäre Ihrem Temperament angemessen. Aber wieder sind Sie bei der halben Wahrheit steckengeblieben, und damit ist es keine.Die Verbesserungen auf dem Beschäftigungssektor haben es nicht vermocht, den tiefen Einbruch der Jahre 1983/84 auszugleichen.
Außerdem sind in Ihrer Statistik alle Arbeitsverhältnisse enthalten. Die Tatsache, daß die Verbesserungen hauptsächlich auf die Zunahme von Teilzeitarbeit zurückzuführen sind, haben Sie nicht ausgewiesen.
Nichts haben Sie dazu gesagt, wie die Bedingungen dieser Teilzeitarbeit ausschauen. Auch ein Arbeitsverhältnis unterhalb der Sozialversicherungsschwelle ist ein Arbeitsverhältnis im Sinne der Statistik.
Sehen Sie sich lieber die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden an, und Sie werden zugeben, daß es nicht mehr Arbeit gibt, sondern daß nur ein Teil der Arbeit anders verteilt wurde.
In Zahlen liest sich das so. 1982 betrug das Arbeitsvolumen 45 147 Millionen Arbeitsstunden. 1985 waren es 43 390 Millionen Arbeitsstunden. 1986 wer-
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16324 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
Lutzden es, wenn Ihre optimistischen Erwartungen stimmen, Herr Kolb — lassen Sie sich das in Nürnberg sagen —, 43 466 Millionen Arbeitsstunden sein. Eine Milliarde müssen Sie noch aufholen, um unseren Rekord zu erreichen.
Herr Blüm, Sie gleichen dem Wunderdoktor, der am Bett des Patienten Arbeitsmarkt steht
und diagnostiziert, der Patient wackele schon wieder mit den Ohren, deshalb könne man die Schwindsucht, die er noch habe, eigentlich vernachlässigen.
Wenn man Sie und die anderen Mitglieder des Kabinetts so reden hört, dann kommt man aus dem Staunen nicht heraus. Was sind das für Erfolge, die Sie aufzuweisen haben:
628 000 Arbeitslose mehr als vor der Wende!
Legen wir es auf Ihre Regierungszeit um, dann hat uns jedes Jahr Ihrer Tätigkeit 200 000 Arbeitslose mehr beschert.
Die Dauerarbeitslosigkeit stieg in jedem Jahr Ihres Wirkens um einen Monat an. Die Zahl der Dauerarbeitslosen nahm um rund 80 000 alljährlich zu und die Arbeitslosigkeit der 55- bis 59jährigen um über 30 000 Jahr für Jahr, seit Sie regieren. Die Hoffnungslosigkeit, Herr Blüm, ist in Ihrer Regierungszeit zu einer Rechengröße geworden. Und da klopfen Sie sich selbstgefällig permanent auf die Schulter und lassen sich von Ihrem Kanzler als den erfolgreichsten Arbeitsminister aller Zeiten feiern.
Sie lassen sich als Hoffnungsträger verkaufen, Herr Blüm. Aber die Jugendlichen, die keine Lehrstelle bekommen, verdrängen Sie aus Ihrem Bewußtsein. Die jungen Menschen, die nach der Ausbildung in die Arbeitslosigkeit entlassen werden, interessieren Sie nicht. Im September 1982 waren 551 000 junge Menschen ohne Beschäftigung. Drei Jahre später waren es 30 000 junge Menschen mehr. 1984 war jeder siebte Jugendliche nach abgeschlossener Berufsausbildung ohne Job. Diese Zahl ist seitdem kontinuierlich weiter gestiegen.Die Zahl der arbeitslosen Frauen stieg in Ihrer Regierungszeit beängstigend, und zwar um weit über 300 000.
Ich frage mich, ob Sie das eigentlich ruhig schlafenläßt. Wird Ihnen bewußt, daß sich bei den jungenMenschen, daß sich bei den Frauen, daß sich bei den älteren Arbeitnehmern und daß sich bei den Schwerbehinderten die Risiken des Arbeitsmarktes auf beängstigende Weise potenzieren und daß unter ihnen auch die Mehrzahl der 790 000 registrierten Arbeitslosen sind, die überhaupt keine Leistungen des Arbeitsamtes mehr erhalten, so viele wie noch nie seit Bestehen der Bundesrepublik?
In Ihrem Selbstlob, Herr Blüm, scheuen Sie sich nicht den Bürgern vorzugaukeln
— gerade haben Sie es als Schlußapotheose in Ihre Rede eingebaut —, daß die geringen Preissteigerungsraten des letzten Jahres und in diesem Jahr die wahre Einkommensumverteilung zugunsten der sozial Schwachen seien. Haben Sie den traurigen Mut und vertreten Sie das einmal vor den Arbeitslosen, die vor der „Wende" noch ein durchschnittliches Arbeitslosengeld von 975 DM im Monat hatten und heute ein solches von 951 DM bekommen,
die vor der „Wende" eine durchschnittliche Arbeitslosenhilfe von knapp 800 DM bekamen und heute nicht höher liegen, und das alles bei Steigerung des Lebenshaltungskostenindex
1983 um 3,2 %, 1984 um 2,5 % und 1985 um 2 %. Das Arbeitslosengeld hätte also, wenn man wenigstens den Kaufkraftverlust hätte ausgleichen wollen, 1983 von 975 auf 1 006 Mark, das Jahr darauf auf 1 031 Mark und 1985 auf 1 051 Mark im Monat steigen müssen.
Die Arbeitslosenhilfe müßte auf 863 Mark angehoben werden. Dann wäre das immer noch nackte Armut. Aber noch nicht einmal das haben Sie in Ihrer Politik garantiert. Tatsächlich, Herr Blüm, hat es keine Nullrunden gegeben, sondern ausgesprochene Minusrunden für die Schwächsten in unserer Gesellschaft.
Die Umverteilung, die Sie als positiv beschwören, schlug bei den Arbeitslosen nicht positiv zu Buche. Sie bedachte die Rentner nicht mit einem verbesserten Alterseinkommen.
Sie machte einen Bogen um die Sozialhilfeempfänger und ließ generell die Bezieher niedriger Einkommen völlig außen vor.
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Lutz
Seit Sie regieren, hat die Armut wieder eine sehr reale Bedeutung in der Bundesrepublik, einem der reichsten Länder der Welt. Schämen Sie sich!Und auch der Reichtum wird wieder neu buchstabiert. In Ihrer Einkommensetage, Herr Blüm — auch in unserer — lebt es sich komfortabel; aber die Kellerkinder, die Sie vergessen haben, werden Jahr für Jahr zahlreicher. Sprüche haben Sie für die Menschen auf Lager, für die Sie nach Ihrem Amtseid zuallererst zu sorgen verpflichtet wären.Alle Jahre wieder haben wir Sie gedrängt, mit Sofortprogrammen die Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen. Ihre Antwort — auch die Ihres Kollegen Bangemann — war alle Jahre wieder ein stupides Nein. Wir haben Sie beschworen, die finanziellen Mittel des Bundes da beschäftigungswirksam einzusetzen, wo der Markt aus sich heraus keine zusätzlichen Arbeitsplätze schaffen mag und auch nicht kann. Ihre Antwort sowie die Ihres Kollegen Bangemann war Hohn und Spott und selbstgefällige Phrasendrescherei. Ich habe es Ihnen schon einmal gesagt, Herr Blüm, und wiederhole es heute wieder: Es ist zu einem haarsträubenden finanziellen Abenteuer geworden, Sie weiter in Bonn Däumchen drehen zu lassen.
Durch Nichtstun werfen Sie Jahr für Jahr 56 000 Millionen Mark zum Fenster hinaus.
So viel kostet es nämlich, Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe an die Arbeitslosen zahlen zu müssen und von ihnen keine Steuern und keine Sozialabgaben zu bekommen. 56 000 Millionen DM mal drei — das ist der Preis für Ihre beschäftigungspolitische Untätigkeit, die wir alle, Frau für Frau und Mann für Mann, berappen müssen.
Dabei ist der volkswirtschaftliche Verlust, der dadurch entsteht, daß Arbeitslose keine Werte schaffen können, noch gar nicht eingerechnet, und vom menschlichen Verlust haben wir überhaupt noch nicht gesprochen. Es langt auch so schon, möchte man meinen. Unser ganzes soziales Sicherungssystem ist durch Ihre beschäftigungspolitische Untätigkeit ins Schleudern geraten. Sie haben die Renten kürzen müssen, Sie haben BAföG gestrichen, Sie haben das Mutterschaftsgeld gekürzt.
Sie haben die Schwerbehinderten und die Sozialhilfeempfänger zur Ader gelassen. Sie haben sich bei den Arbeitnehmern durch Erhöhung der Abgabenlast schadlos gehalten, und Sie sind nicht einmal davor zurückgeschreckt, den Kranken in die Tasche zu langen. Und da stellen Sie sich hin — Herr Kolb, Sie auch, weil Sie es nicht besser wissen; der Minister wüßte es besser — und behaupten, Ihrem Verfassungsauftrag nachgekommen zu sein.
Meine Herren, wir werden Ihnen die Negativtatsachen solange um die Ohren schlagen, bis Ihnen Ihre selbstgefälligen Mienen einfrieren, bis Sie zur Einsicht fähig sind, in einer der wichtigsten Fragen unserer Zeit, der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit versagt zu haben.
Dabei hätten Sie gerade auf diesem Felde unser aller Unterstützung gehabt.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kolb?
Nein, danke!
Wir hätten uns nicht unserer besseren Einsichten gerühmt, und wir wären nicht rechthaberisch in die politische Arena getreten.
— Also wissen Sie, das verdient er nicht! —Um so emsiger, Herr Blüm, tummeln Sie sich auf einem Gebiet, von dem Sie wirklich etwas verstehen: Sie werfen die Windmaschinen der Propaganda an. „Eines ist sicher: die Renten", tönen Sie gerade und liefern damit ein besonders eindrucksvolles Beispiel von dem, was Sie unter „sachlicher Informationspolitik der Bundesregierung" verstehen. Es kümmert Sie einen Kehricht, daß sich der Sozialbeirat darüber den Kopf zerbricht, wie wohl die Belastungen der nächsten Jahre und Jahrzehnte, die unausweichlich auf die Rentenversicherung zukommen, abgefangen werden können. Sie schweigen darüber, Herr Blüm, daß in Ihrem eigenen Haus Überlegungen angestellt werden, ob man nicht in den 90er Jahren den Eintritt in das Rentenalter aus finanziellen Gründen hinausschieben muß. Sie versuchen vergessen zu machen, daß erstmals in Ihrer Regierungszeit die Rente auf Pump gezahlt werden mußte und daß auch heute noch die finanzielle Sicherung ein riskantes Spiel darstellt, das nur aufgehen kann, wenn die wirtschaftliche Konjunktur anhält.
„Die Renten sind sicher",
tönen Sie. Wahrlich, Herr Blüm, die Wahrheit gehört nicht zu Ihren Dauerfreundinnen.Ihr so häufig gepriesener Instinkt läßt Sie immer dann im Stich, wenn es um Arbeitnehmerfragen geht. Sie haben sich als „Gewerkschaftsbeschimpfungsminister" einen Namen gemacht, und darin sind Sie allerdings mit allen Ihren Vorgängern nicht zu vergleichen.
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16326 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
LutzSie haben als Don Quichotte, gemeinsam mit Ihrem Kanzler, der ein etwas lang geratener Sancho Pansa ist, gegen die Verkürzung der Wochenarbeitszeit gekämpft. Dabei bescheinigt Ihnen heute sogar Ihr Parteifreund Biedenkopf, daß ohne Arbeitszeitverkürzung die strukturellen Probleme gar nicht zu bewältigen sind.
Sie haben die arbeitenden Menschen nicht nur allein gelassen. Sie haben Ihren Ehrgeiz daran gesetzt, ihnen den rechtlichen Schutz den sie gemeinsam mit ihren Gewerkschaften in Jahrzehnten erkämpft haben, auch noch zu rauben. Ihr sogenanntes Beschäftigungsförderungsgesetz war eine einzige Zumutung für die Arbeitnehmer.
Ihr Jugendarbeitsschutzgesetz war und ist ein Tritt gegen das Schienbein der jungen Werktätigen.
Ihr Gesetz zur Sicherung der Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit war und ist die Kriegserklärung gegen die Arbeitnehmerorganisationen.
Ihr Schwerbehindertengesetz wird die Gehandicapten rechtloser machen, so wie Ihre Zulassung befristeter Arbeitsverträge bis zu 18 Monaten den Mutterschutz zur wertlosen Deklaration verkommen ließ.Bei Ihnen, Herr Blüm, liegen die Leichen nicht im Keller, sie pflastern Ihre politische Wegstrecke, und Monat für Monat werden es mehr.
Manchmal bekommen selbst Ihre Parteifreunde kalte Füße und mahnen, nicht alle Schweinereien in einer Legislaturperiode zu machen. Wir erleben das zur Zeit mit der beabsichtigten Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes, die selbst den Arbeitgeberverbänden zu weit geht.
Ich fürchte, Sie werden auch das nicht begreifen, was vorgebracht wird. Sie werden selbstgefällig Ihren Weg weitergehen. Ich sage Ihnen: Kommen Sie zurück auf die Erde, und machen Sie Ihre politischen Hausaufgaben! Arbeiten Sie mit an einer vernünftigen Beschäftigungspolitik,
an einer zukunftsweisenden Renten- und Gesundheitspolitik, am Ausbau der Arbeitnehmerrechte!Folgen Sie Ihrem Amtseid und nicht Ihren karnevalistischen Neigungen!
Das Wort hat der Abgeordnete Jagoda.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Lutz, nachdem ich Ihre Ausführungen gehört habe, frage ich mich, warum Sie eigentlich die Regierungsverantwortung abgeben mußten, wenn Ihre Leistungen und Ihre Ansprüche so groß waren.
Ich meine, die Wirklichkeit war 1982 anders, als sie der Kollege Lutz hier beschrieben hat. Die Hinterlassenschaft, die wir im Oktober 1982 vorfanden,
war auf dem Gebiete des Arbeitsmarkts so, wie es der Bericht der Bundesanstalt für Arbeit im Oktober 1982 auswies. Wir hatten in der Bundesrepublik Deutschland eine saisonbereinigte Arbeitslosenzahl von 2 040 000. Die Schallgrenze von zwei Millionen wurde bereits im September 1981 durchbrochen.Die Hinterlassenschaft, die Sie 1969 übernommen haben, sah völlig anders aus. Die Statistik besagt, daß wir in der Bundesrepublik im Jahre 1969 ungefähr 150 000 bis 180 000 Arbeitslose hatten. Die Regierungserklärung, die Bundeskanzler Willy Brandt damals vorgelesen hat, war sehr gut. Der Ghostwriter war in Ordnung;
er hat sich nur in der Stärke dieses Bundeskanzlers verschätzt. Dieser Bundeskanzler war nämlich nicht stark genug, das umzusetzen, was in der Regierungserklärung stand.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Arbeitslosigkeit ist in den 13 Jahren Ihrer Regierungsverantwortung in der Bundesrepublik Deutschland um über 1 000 % gestiegen. Das ist die bittere Bilanz.
Es fehlen 1,87 Millionen Arbeitsplätze, die während Ihrer Regierungszeit verlorengingen.
Da muß man doch fragen: Haben Sie alles richtig gemacht, wenn das die Ergebnisse sind? Ich glaube: mit Sicherheit nicht.
Wir erkennen aus Ihren Beiträgen als Oppositionspartei, daß Sie aus dieser Zeit nichts gelernt
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16327
Jagodahaben, sondern Sie empfehlen uns, mit denselben Instrumenten wie damals eine falsche Politik zu betreiben. Das werden wir nicht tun.
Das Bedrückende an der Situation im Herbst 1982 war j a nicht nur, daß in der Bundesrepublik Deutschland über 2 Millionen Menschen ohne Brot und Arbeit dastanden, sondern das Bedrückende war auch, daß die Arbeitslosigkeit in einer explosionsartigen Zunahme begriffen war, als wir die Verantwortung übernahmen. Unsere erste Aufgabe war es, die Rahmenbedingungen für die Wirtschafts- und Sozialpolitik dahingehend positiv zu verändern, daß die Mitbürger in unserer Wirtschaft und in den Betrieben wieder Hoffnung schöpfen und gute Leistungen erbringen konnten. Das ist uns gelungen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Stimmungsbarometer fiel im Herbst 1982 auf Hoffnungslosigkeit.
Die semantischen Beschönigungen der damaligen Regierung halfen nichts mehr. Sie war am Ende. Das ist die Wahrheit des Herbstes 1982.Wir gingen an die Arbeit. Unsere politischen Entscheidungen führten zu verbesserten Rahmenbedingungen und bewirkten eine Trendwende in der Entwicklung am Arbeitsmarkt. Während die Steigerungsraten der Arbeitslosigkeit von 1980 auf 1981 noch 43 % und von 1981 bis 1982 noch 44 % betrugen, gelang es uns bereits im Jahre 1983, das einzuleiten, was man eine Trendwende nennt. Denn wir haben nur noch eine Steigerungsrate von etwas über 20 % und 1984 von 0,3 % gehabt. Am Ende des Jahres 1984 hatten wir bemerkbar und spürbar eine zusätzliche Beschäftigung in Deutschland.Meine Damen und Herren, mit dem Ergebnis können wir nicht zufrieden sein. Bei diesem Problem geht es nicht um Statistik, sondern es geht um Menschen. Unsere Zielrichtung in der Politik ist es, allen Mitbürgern in unserer Bundesrepublik Deutschland wieder einen Arbeitsplatz zu beschaffen, also den vierten Punkt des Stabilitätsgesetzes, die Vollbeschäftigung, genauso zu erfüllen wie die anderen drei Punkte, die wir bisher erfüllt haben, nämlich Stabilität des Preisniveaus, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und angemessenes Wirtschaftswachstum.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will die Prognosen nicht überbewerten, die die Bundesbank und die Institute in Deutschland veröffentlicht haben.
Wir erwarten im Jahre 1986 300 000 neue Arbeitsplätze. Es gibt einige, die sprechen von 400 000. Aber bleiben wir einmal bei 300 000 neuen Arbeitsplätzen. Im Verhältnis zu der Ausgangsposition, die wir vorgefunden haben, ist das eine gewaltige Entwicklung.Meine sehr verehrten Damen und Herren, am Ende Ihrer Regierungszeit haben Sie auch die Instrumente des Arbeitsförderungsgesetzes genutzt. Ich sage und stelle heute fest, daß wir diese Instrumente intensiver nutzen. Wir gehen bis an die äußerste Grenze. Das Instrumentarium der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wurde bei Ihnen im September 1982 für 27 000 Arbeitnehmer wirksam. Wir kommen jetzt im zweiten Jahr fast an 100 000 heran. Das ist eine Vervierfachung bei diesem Instrument. Das bedeutet für 100 000 Menschen, daß sie nicht am Arbeitsamt stehen, sondern daß sie eine Beschäftigung haben, Einkommen erzielen, ihre Rentenversicherungsbeiträge zahlen und mit zum Bruttosozialprodukt beitragen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, daß wir — und zwar alle demokratischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland — vor einem großen Problem stehen. Das heißt: Wir müssen darüber nachdenken, wie wir die Qualifizierungschancen der Arbeitnehmer entscheidend verbessern. In der Vergangenheit war es so, daß derjenige Arbeitnehmer das Bundesverdienstkreuz bekam, der 40 Jahre lang bei einem Arbeitgeber immer treu arbeitete. Ich wage vorauszusagen, daß im Jahr 2000 und später derjenige das Bundesverdienstkreuz bekommt, der mehrere Berufe erlernt hat, ohne arbeitslos geworden zu sein. Das kann er nur nicht alleine, dabei müssen wir ihm helfen.Wir haben durch die Siebte Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes Verbesserungen erreicht. Aber ich sage einmal in aller Offenheit: Allein die Bundesanstalt für Arbeit kann diese Frage nicht lösen, sondern hier müssen die Interessen in den Betrieben mitberücksichtigt werden. Wir können es doch nicht als gegeben hinnehmen, daß uns Unternehmer sagen: ich finde keinen qualifizierten Arbeitnehmer, und wir haben eine Menge Arbeitslose, die eine Arbeit suchen. Hier müssen wir den Unternehmen sagen: wer nicht qualifiziert, wer nicht genügend ausbildet, kann sich zum Schluß nicht beschweren, daß er keine Facharbeiter hat. Die Industrie soll sich einmal ein Beispiel am deutschen Handwerk nehmen, das auf diesem Gebiet Hervorragendes geleistet hat.
Es steht fest, daß in den Betrieben auch in Zeiten, in denen die Wirtschaftslage nicht gut war, Entscheidendes für die Qualifizierung getan worden ist. Deshalb appelliere ich an die deutsche Wirtschaft, in Zeiten, in denen die Gewinne höher sind als in jenen schlechten Zeiten, mehr für die Qualifizierung von Arbeitnehmern zu tun. Ich möchte den verantwortlichen Leuten zurufen: Macht aus dem ungelernten Arbeiter einen Facharbeiter und stellt für den ungelernten Arbeiter einen Arbeitslosen ein, wenn der Betrieb dazu die Möglichkeit gibt.Wir haben durch das Vorruhestandsgesetz, das Rückkehrförderungsgesetz eine spürbare Entlastung gebracht. Da können Sie natürlich sagen, das ist alles nicht genug. Ich hätte es auch liebend gern, wenn das Vorruhestandsgesetz mehr als 30 000 Arbeitslose in Brot und Arbeit gebracht hätte. Aber
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16328 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
Jagodadas bedeutet für 30 000 das Glück, eine Beschäftigung gefunden zu haben. Deswegen war das Gesetz richtig. Und wenn ich dazunehme, daß der Chemietarifvertrag in 1986 wirken wird, werden sich die Zahlen entscheidend erhöhen.Das Beschäftigungsförderungsgesetz 1985, das wir angeboten haben, ist dafür gedacht, Überstunden abzubauen, Leute auch zeitweilig zu beschäftigen, wenn kein vollständiger Arbeitsplatz zur Verfügung steht. Ich wiederhole hier den Bundesarbeitsminister: der Union ist es lieber, die Betriebe beschäftigen auf Zeit, als wenn die Leute arbeitslos vor den Türen der Betriebe bleiben.Auch die Jugendarbeitslosigkeit macht uns Sorgen. Wir wollen die Sache nicht beschönigen. Nur, meine sehr verehrten Damen und Herren, spüren wir auch hier eine Entlastung. Die Zahl der jugendlichen Arbeitslosen unter 20 ist rückläufig.
— Ja, wissen Sie, Herr Kollege Dr. Müller, wenn wir Ihre Rezepte angewandt hätten, hätten wir mehr Arbeitslose und nicht weniger.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Reimann?
Wenn es nicht angerechnet wird, gerne.
Natürlich nicht.
Herr Kollege Jagoda, ich habe jetzt gelesen, daß es 2,8 Millionen registrierte Leistungsbezieher in der Sozialhilfe gibt. Von diesen 2,8 Millionen sind 50 %, also fast 1,5 Millionen junge Menschen unter 25 Jahren. Kommen die eigentlich noch zu Ihrer genannten Arbeitslosenstatistik dazu oder nicht?
Also erstens sind sie in der Statistik mit drin. Zweitens bitte ich Sie ganz herzlich, das Sozialhilfegesetz nicht als Arme-Leute-Gesetz darzustellen. Das ist uns allen nicht gelungen, daß wir das mal klargemacht haben. Wir — und die Länder als Träger — haben die Regelsätze der Sozialhilfe um 8 % erhöht. Gott sei Dank, sage ich. Das bedeutet natürlich, daß mehr Leute unter den Kreis der Berechtigten fallen. Das ist die Situation.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch zu den Schwerbehinderten im Arbeitsleben sprechen. Ich bin davon überzeugt, daß es eine gemeinsame Initiative wert wäre, eine gemeinsame Offensive von allen, die dies verbessern wollen. Das können Sie nicht mit diesem Schwerbehindertengesetz allein, wenn es nicht zum Herzensanliegen aller Personalräte und Betriebsräte wird. Solange diejenigen, die die Entscheidungen in den Betrieben fällen, nicht zuerst daran denken und prüfen, ob ein Arbeitsplatz für einen Schwerbehinderten geeignet ist, ob sie einen Schwerbehinderten einstellen können, werden wir dieses Problem nicht lösen. Das ist des Schweißes der Edlen wert. Ich will Ihnen mal etwas sagen — das sage ich gar nicht hämisch, sondern unabhängig davon, wer wo regiert —, und zwar auch an den öffentlichen Dienst gerichtet: auch hier könnte mehr gemacht werden, in den Ländern, in den Kommunen. Ich glaube, daß hier noch eine große Möglichkeit drin ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, wir können sagen, daß wir auf dem richtigen Weg sind. Wir haben den vierten Punkt des Stabilitätsgesetzes, die Vollbeschäftigung, bei weitem nicht erfüllt. Wir brauchen noch eine Menge von Maßnahmen. Wir werden aber auf diesem Weg fortfahren und wir werden uns nicht irritieren lassen von Schalmeienrufen nach neuen Plänen oder nach neuen Aktionen. Meine Damen und Herren, ich rufe Ihnen das Wort von Bert Brecht zu, der einmal gesagt hat: „Ja, mach nur einen Plan, sei ein großer Wicht, und mach noch einen zweiten Plan, gehen tun sie beide nicht." Wir brauchen keine Pläne, wir brauchen Maßnahmen. Wir müssen die Kräfte in Wirtschaft und Verwaltung mobilisieren, und wir müssen fortfahren, das, was wir begonnen haben, zum Wohle der Bevölkerung weiter auszubauen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Auhagen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn Sie Ihre Kräfte mobilisieren würden, die Sie zur Verfügung haben, dann wären wir in diesem Land auch schon wesentlich weiter.Ernsthafte Konzepte unterscheiden sich von Ideologien dadurch, daß sie sich an ihren faktischen Ergebnissen überprüfen lassen. 1983 haben Sie von der Koalition auch viele Stimmen von Arbeitnehmern und Arbeitslosen durch das Versprechen bekommen, zwar nicht über Nacht, aber nach 1000 Nächten die Arbeitslosenzahlen durchgreifend zu senken. Mit diesem Versprechen haben Sie soziale Leistungen drastisch beschnitten, erfolgreich Lohnverzicht propagiert und die Gewinneinkommen entlastet. Und tatsächlich haben Sie einen Aufschwung erreicht — aber nicht infolge Ihrer Politik, sondern weil Sie von der größten Staatsverschuldung der Welt profitiert haben: Reagans Aufrüstungs-Keynesianismus hat den Dollar hochgepowert und so der bundesdeutschen Wirtschaft den größten Exportboom der Nachkriegszeit und exorbitante Gewinnsteigerungen in einigen Branchen beschert.
Dieser Exportkonjunkturberg hat gekreißt und eine beschäftigungspolitische Maus geboren.Die Kümmerlichkeit von 160 000 zusätzlichen Arbeitsplätzen — mehr sind es nämlich nicht nach einer DiW-Studie — steht in keinem Verhältnis zu
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Auhagenden Arbeitslosenzahlen und läßt Schlimmes erahnen, wenn der unvermeidliche Konjunkturabschwung kommen wird.
Wer angesichts dieser Ergebnisse immer noch die Marktkräfte als allein selig machendes Wunderheilmittel preist, verbreitet ideologischen Nebel aus durchsichtigen Motiven.
Angesichts der Tatsache, daß heute nach 31/2 Jahren immer noch mehr Menschen arbeitslos sind als bei Ihrer Regierungsübernahme, sprechen Sie am liebsten von der Geldwertstabilität als der besten Sozialpolitik;
so der Bundeskanzler. Undifferenziert und unseriös behaupten Sie, Herr Kohl, Herr Stoltenberg und wohl auch Herr Blüm, eine niedrige Inflationsrate, also ein hoher Wert der Mark sei an sich schon eine Verbesserung der sozialen Lage.
Wenn Sie dies tatsächlich ernst meinen, müssen Sie konsequentermaßen auch der Meinung sein, daß die Periode, in der der Wert der Mark nicht nur stabil blieb, sondern gar um 20 % gestiegen ist, eine Periode besonderen Wohlstands gewesen ist. Sie, Herr Kohl — er ist nicht mehr da — und Herr Stoltenberg mit Ihren Geschichtsstudien als Berufsausbildung frage ich,
ob Sie mit dieser These von der geringen Inflationsrate als soziale Leistung an sich behaupten wollen, daß in den Jahren 1930 bis 1932, in denen der Wert der Mark um 20% gestiegen ist, eine besondere soziale Wohlstandssituation vorhanden gewesen ist.
Wenn Sie das tatsächlich ernst meinen, möchte ich gerne wissen, wie Stoltenberg und Kohl ihre Geschichtsexamen geschafft haben.Nein, meine Damen und Herren, wer seriös argumentieren will, muß natürlich Inflationsrate und Veränderung der nominalen Einkommen zueinander in Bezug setzen, um festzustellen, ob die Einkommen per Saldo gestiegen oder gesunken sind. Wenn man die konkreten Fakten anguckt, dann ist 1985 und in den vorherigen Jahren per Saldo bei den Renten und Lohneinkommen ein Minus zu verzeichnen. In all Ihren Regierungsjahren ist trotz sinkender Inflation die Inflationsrate immer noch höher gewesen als die Lohn- und Rentensteigerung. Das gleiche gilt für die Arbeitslosenhilfe und das Arbeitslosengeld.Kommen wir zur Situation der Erwerbslosen! Am Wochenende hat der Bundeskanzler erklärt, die Arbeitslosenstatistik sei verfälscht, weil viele Aussteiger nicht arbeiten, sondern sich frech bereichern wollten.
Um vom Nichteinhalten des Wahlversprechens abzulenken, diffamiert Herr Kohl zum wiederholten Male die Arbeitslosen — wider besseres Wissen! — als Schmarotzer. Sie, Herr Blüm, wissen es vielleicht auch besser. Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Ihr Herr Franke,
wird von Ihnen für unkompetent gehalten, wenn das richtig ist, was Herr Kohl sagt. Herr Franke hat immer wieder nachgewiesen, daß die Zahl der Arbeitsunwilligen mit einem Prozent der Arbeitslosen verschwindend gering ist. Solch ein berechnetes Anheizen von Stammtischvorurteilen gegen die Schwächsten dieser Gesellschaft ist schäbig.
— Informieren Sie sich lieber einmal über die Fakten.Arbeitslosigkeit ist mehr als ein Problem der 3,5 Millionen registrierten Arbeitslosen. Zum Teil ist es tatsächlich das Problem skandalöser, bitterer Armut, an der Sie nichts geändert haben.
Für noch viel mehr Menschen aber ist Arbeitslosigkeit das Problem einer tiefen Existenzunsicherheit. Sie betrifft hunderttausende von Auszubildenden, von Erwerbstätigen in ihren ungesicherten Beschäftigungsverhältnissen, von Leuten, die sich kurzzeitig — das trifft viele Akademiker — mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser halten, aber auf Dauer keine Perspektive haben und von Zukunftsangst, von Existenzangst geprägt sind. Diese Gesellschaft weist mehr Existenzangst auf als jemals zuvor in der Geschichte dieser Bundesrepublik.
Arbeitslosigkeit heißt ständige Demütigung, von der Sie gar keine Ahnung haben und die Sie genießen, habe ich manchmal den Eindruck.
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16330 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
Auhagen— Genauso wie Sie, lieber Freund! Hunderte von Bewerbungen — —
— Ich würde mich gerne einmal über Ihre Schmarotzertätigkeiten unterhalten, wenn ich einmal in das Bundestagshandbuch schaue und von Ihren Nebeneinkünften, Ihren Aufsichtsratstandiemen lese.
Gratisarbeit von Jugendlichen, die versuchen, mit Billigpraktika irgendwann noch eine Lehrstelle zu bekommen, das ist die Realität der Arbeitslosen.
Arbeitslosigkeit, die sich im Verhältnis von 20 gesuchten zu einer offenen Stelle ausdrückt, ist Ohnmacht, stilles Leiden und Verzweiflung für die Betroffenen. Von der Stille dieses Leidens profitieren Sie.Herr Blüm, Sie sprechen von notwendigen Anstrengungen. Was sind denn Ihre Anstrengungen gewesen, die Arbeitslosigkeit zu überwinden?
Die 35-Stunden-Woche haben Sie mit der Aussicht auf den goldenen Königsweg des Vorruhestandes hintertrieben, von dem Sie nicht mehr sprechen wollen, weil es ein kümmerliches Ergebnis ist.
Sie fordern mehr menschliche Dienstleistungen.
Das ist richtig. Aber welche Partei hat im Bundestag mit der FDP zusammen immer die Kürzung der Staatshaushalte — letztlich heute morgen — gefordert und damit die Schaffung von sinnvollen Arbeitsplätzen im Sozialsektor verhindert.
Bis 1980 hat der öffentliche Sozialsektor die Wegrationalisierung im privatwirtschaftlichen Bereich aufgefangen. Dann haben Sie mit Erfolg — leider — Ihre Staatsquotenpolemik durchgesetzt. Heute fordert Ihre Partei in Nordrhein-Westfalen die Schaffung von 1 500 Lehrerstellen. Gleichzeitig sorgen Sie mit Ihrer Steuerreform in der ersten Etappe, der zweiten Etappe und der 40-Milliarden-Etappe danach, daß es überhaupt keine Perspektiven gibt, diese Forderungen durchzusetzen. Wenn Sie handeln wollen, dann ist der erste Schritt: Verzichten Sie auf die Steuerreform!
Wer angesichts von 3,5 Millionen Arbeitslosen keindringlicheres Ziel sieht, als die Bezieher von Einkommen über 70 000 DM vorrangig zu entlasten,hat kein ernsthaftes Interesse, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.
Ihre Pläne für die nächste Legislaturperiode sind eine Kriegserklärung. Ich mache die Öffentlichkeit, die Arbeitslosen darauf aufmerksam, das zu registrieren, daß es jetzt darauf ankommt, in diesem Wahlkampf nicht einen ruhigen, harmonischen Rosa-Luftballon-Wahlkampf der CDU und FDP anzurühren, sondern aktiv einzugreifen. Es geht um die Existenz dieser betroffenen Bevölkerungsgruppen, für die Sie nichts, aber auch gar nichts machen wollen.
— Ich schreibe meine Reden selbst, im Gegensatz zu Ihnen.
Gut, damit ist die Rede zu Ende.
Die Redezeit war sowieso zu Ende.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. AdamSchwaetzer.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe eben im Bundestagshandbuch nachgesehen. Herr Auhagen ist selbst Angehöriger des öffentlichen Dienstes, also von Fragen der Arbeitslosigkeit persönlich sicherlich nicht betroffen. Er hat außerdem angegeben, daß er in einer Arbeitsloseninitiative mitarbeite.
— Ich weiß nicht, das würde ich so nicht sagen. Demjenigen, der sich in diesen Initiativen mit den Problemen der Arbeitslosigkeit beschäftigt, gestehe ich wirklich zu, daß er Betroffenheit zeigt. Nur, seine Rede hat ja auch ein paar Dinge ganz deutlich gemacht. Er braucht z. B. sehr komplizierte Rechnungen, um darzustellen, daß — wie er das sagt — die Politik dieser Bundesregierung nicht erfolgreich gewesen wäre. Die Bürger sehen das anders. Ich denke, die Bürger haben auch recht.
Der Optimismus in der Bundesrepublik ist in den letzten Monaten sehr viel deutlicher geworden, als das zu Beginn der 80er Jahre der Fall war. Zu Beginn der 80er Jahre haben die Bürger nicht so viel Zutrauen in ihre eigene Zukunft gehabt, wie es sich in den letzten Monaten entwickelt hat. Das halte ich für ein unglaublich positives Zeichen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16331
Frau Dr. Adam-SchwaetzerDas spricht dafür, daß die Politik der Bundesregierung erfolgreich gewesen ist.Man kann das auch an ganz handfesten Fakten deutlich machen. Vor ein paar Tagen ist veröffentlicht worden, daß z. B. die Reisebüros sehr, sehr zufrieden sind mit der positiven Entwicklung der Buchungen von Urlaubsreisen.
Wer wird zusätzliche Urlaubsreisen buchen, wenn er nicht glaubt, daß er sich das wirklich leisten kann? Das heißt, die Bürger spüren die Auswirkungen der Steuerreform. Die Bürger spüren die Auswirkungen der Politik der Haushaltsstabilität, die zu einer hohen Preisstabilität geführt hat. Seit 14 Jahren waren die Inflationsraten nicht mehr so niedrig. Eine niedrige Inflation bedeutet eben wirklich mehr Geld zur freien Verfügung der Bürger.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Müntefering?
Wenn ich am Schluß noch Zeit habe, gerne. Im Moment nicht.
Frau Abgeordnete, bitte fahren Sie fort. Sie haben das Recht, Zwischenfragen nicht zuzulassen.
Ich will nicht verschweigen, daß uns natürlich die niedrigen Ölpreise bei der sehr niedrigen Inflationsrate geholfen haben. Aber ausschlaggebend ist in erster Linie sicherlich die Politik der Haushaltskonsolidierung gewesen, die Sie, Herr Auhagen und auch Herr Lutz, so vehement angegriffen haben.
Ohne diese Politik der Haushaltskonsolidierung müßten die Bürger heute auch auf Grund der Inflation mehr Geld für die Dinge ausgeben. Ich denke, daß die Politik so sozialer ist, als wenn über Steuern und Abgaben mehr in den Staatskreislauf flösse und die Bürger weniger Entscheidungsfreiheit hätten.Ich will die Probleme, die wir am Arbeitsmarkt haben, nicht kleinreden. Aber wir müssen natürlich auch feststellen, daß im Zusammenhang mit der Strukturkrise der Wirtschaft die Arbeitsmarktprobleme ganz andere Dimensionen angenommen haben als in anderen konjunkturell schwachen Zeiten, die es in der Nachkriegszeit durchaus schon gegeben hat. Die Strukturveränderungen der Wirtschaft haben Strukturprobleme bei der Qualifikation der Erwerbspersonen mit sich gebracht. Außerdem sind Schwierigkeiten dadurch entstanden, daß die geburtenstarken Jahrgänge auf den Arbeitsmarkt drängen und natürlich nicht nur Ausbildungsplätze, sondern auch Arbeitsplätze nachfragen.Obwohl wir sehr viel mehr Erwerbspersonen haben, die um einen Arbeitsplatz nachgesucht haben, ist die Zahl der Beschäftigungsverhältnisse 1984 und 1985 kontinuierlich gestiegen. Und seit 1983 ist eben auch die Arbeitslosenquote insgesamt konstant geblieben. 1985 200 000 zusätzliche Arbeitsplätze, 1986 300 000 zusätzliche Arbeitsplätze. Das sind Arbeitsplätze, wo die Menschen wirklich neue Arbeit finden können, und zwar oberhalb des Beschäftigungsniveaus, das 1983 bei uns existiert hat.Auf Grund der Strukturveränderungen der Wirtschaft werden sich noch viele Menschen fragen, ob sie ihren Arbeitsplatz über eine lange Zeit werden behalten können.
Arbeitsplätze in alten Industrien sind nach wie vor gefährdet. Auch die Entwicklung am Bau ist rückläufig, was sicherlich darauf zurückzuführen ist, daß hier eine gewisse Sättigung erreicht ist. Die Menschen, die hier ihren Arbeitsplatz verlieren, werden von uns erwarten, daß sie die Chance bekommen, nicht nur woanders neue Arbeitsplätze zu finden, sondern sich auch auf andere Arbeitsplätze in anderen Branchen vorzubereiten.Neue Arbeitsplätze entstehen vorwiegend dort, wo der Einsatz neuer Technologien nicht behindert wird, sondern, im Gegenteil, wo der Einsatz neuer Technologien gefördert wird. Das, meine Damen und Herren, macht es doch auch aus, daß wir in der Arbeitslosigkeit so deutliche regionale Unterschiede haben. Wer sich einmal den Arbeitsmarkt in der Region von Stuttgart, in der Region von München ansieht, der wird feststellen, daß es dort Berufe gibt, wo der Arbeitskräftebedarf nicht befriedigt werden kann, während es vor allen Dingen in norddeutschen Ländern nach wie vor sehr viele strukturelle Schwierigkeiten, auch unter der Arbeitnehmerschaft, auch innerhalb der Arbeitslosen, gibt.Das muß uns doch dazu bringen, im Interesse der Arbeitnehmer alles zu tun, was den Strukturwandel der Wirtschaft fördert, und alles zu unterlassen, was den Strukturwandel der Wirtschaft behindern würde.
— Deshalb, meine Damen und Herren, sind die Vorschläge, die jetzt auch Frau Fuchs hier gerade durch einen Zwischenruf eingebracht hat, nicht geeignet,
mehr Chancen für Arbeitslose auf neue Arbeitsplätze zu schaffen.Wer wie Sozialdemokraten Mitbestimmungsrechte bei der Einführung neuer Technologien verlangt, die auf ein Veto des Betriebsrates hinauslaufen,
der kann nicht erwarten, daß der Strukturwandel der Wirtschaft gefördert wird, der kann nicht erwarten, daß langfristig und dauerhaft sichere Arbeitsplätze neu entstehen, sondern er wird die Wett-
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16332 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
Frau Dr. Adam-Schwaetzerbewerbsfähigkeit der Wirtschaft behindern, die Schaffung neuer, zukunftsicherer Arbeitsplätze verhindern.Noch etwas, meine Damen und Herren: Wer heute danach ruft, Gesetze zum Abbau von Überstunden zu machen, wird dauerhaft nicht dazu beitragen, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Alle Forschungen, alle Untersuchungen legen nahe und machen deutlich, daß es keinen direkten Zusammenhang zwischen dem Abbau von Überstunden und der Schaffung neuer Arbeitsplätze gibt.
'Präsident Dr. Jenninger: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Wolfram, Frau Abgeordnete Adam-Schwaetzer?
Am Schluß meiner Rede werde ich auch Zwischenfragen gestatten. Aber lassen Sie mich dies bitte noch im Zusammenhang vortragen.
Alle Untersuchungen machen deutlich, daß es keinen direkten Zusammenhang zwischen dem Abbau von Überstunden und dem Schaffen neuer Arbeitsplätze gibt. Das zeigen uns doch auch die Erfahrungen. Überall, wo wir selber ein bißchen in die betriebliche Wirklichkeit hineingehen können, stellen wir fest, daß nicht in einem direkten Zusammenhang Überstunden abgebaut werden können.Auch wir sind der Meinung, daß vor allen Dingen Dauerüberstunden in unserer Wirtschaft keinen Platz haben sollten. Auch wir sind der Meinung, daß die Betriebe aufgefordert sind, Dauerüberstunden, die häufig genug auch auf Wunsch des Betriebsrates zustande kommen, keinen Platz einzuräumen, sondern sie einvernehmlich abzubauen. Aber Gesetze helfen uns dabei nicht weiter. Gesetze machen das gesamte System zunehmend starr. Sie verhindern die Flexibilität der Betriebe. Gesetze verhindern, daß sich Betriebe auf kurzfristig eingegangene und kurzfristig auszuliefernde Aufträge einstellen können. Sie müßten diese Aufträge ablehnen, weil sie nicht in der Lage wären, sie in der Zeit, in der sie das eigentlich müßten, auszuführen. Deshalb, meine Damen und Herren: Ein gesetzliches Verbot von Überstunden fördert die Arbeit nicht, sondern sie behindert sie.Die Strukturveränderung, vor der wir stehen, die Umstellung vieler Arbeitsplätze auf die Nutzung neuer Technologien stellen hohe Anforderungen an die Arbeitnehmer. Deshalb ist es so wichtig, daß wir auch den heute 40jährigen klarmachen, daß sie sich nicht darauf ausruhen dürfen, was sie einmal in ihrer betrieblichen und ihrer schulischen Ausbildung gelernt haben, sondern auch die 40jährigen müssen lernen, müssen begreifen, daß sie nur dann, wenn sie die Bereitschaft haben, sich ein Leben lang um ihre eigene Fort- und Weiterbildung zu kümmern, sicheren und dauerhaften Erfolg auf einem Arbeitsplatz haben können.
Frau Fuchs, es gibt sicherlich sehr viele, die das tun; aber ich kenne auch sehr viele, die davor Angst haben, mit 40 Jahren noch einmal in den Lernprozeß einzusteigen, und ich halte das für verständlich. Nur müssen wir diese Angst überwinden, wir müssen dafür sorgen, daß auch die 40jährigen an dem teilnehmen, was inzwischen überall — landauf, landab und besonders von dieser Bundesregierung — gefördert wird, nämlich das lebenslange Lernen.Wir haben mit der siebten Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz die Rahmenbedingungen dafür verbessert, daß lebenslanges Lernen möglich wird. Wir haben Teilzeitweiterbildung eingeführt, wir haben Einarbeitungszuschüsse für befristete Arbeitsverhältnisse gegeben, wir haben die Zuschüsse für Umschulungen und für Qualifizierungsmaßnahmen verbessert. Wir haben ein Bündel von Maßnahmen, vor allen Dingen für Berufsrückkehrerinnen, d. h. für die Frauen zur Verfügung gestellt, die nach Zeiten der Kindererziehung in das Berufsleben zurückkehren wollen. Meine Damen und Herren, wir können die Erfolge jetzt noch nicht abschätzen, weil die Maßnahmen erst am 1. Januar 1986 in Kraft getreten sind; aber ich bin davon überzeugt, daß hier der Anreiz dafür gegeben ist, daß sich die Arbeitnehmer selber darum kümmern, ihre Chancen wahrzunehmen, die wir für sie verbessert haben.Lassen Sie mich zum Schluß noch ein Wort an die Tarifvertragspartner sagen, das für mich genausowichtig ist. Arbeitsmarktpolitik ist sicherlich eine Aufgabe der Politik, die hier im Bundestag gemacht wird, der Wirtschaftspolitik, der Sozialpolitik; aber die Verminderung von Arbeitslosigkeit ist genauso eine Aufgabe der Tarifvertragsparteien. Wer sich einmal die Struktur der Arbeitslosen ansieht, wer sieht, daß über 50 % der dauerhaft Arbeitslosen keine oder nur eine geringe Ausbildung haben, der muß auch sagen:
Hier sind die Tarifsvertragspartner gefordert, mit ihrer Tarifpolitik auch für diese Menschen in der Zukunft Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen. Warum sind sie denn arbeitslos geworden? Sie sind aus dem Arbeitsmarkt auch deshalb herausgedrängt worden, weil Arbeitsplätze, für die nur eine geringe oder gar keine Qualifikation erforderlich war, zu teuer geworden sind. Deshalb kann man es gar nicht oft genug wiederholen: In erster Linie haben die Tarifvertragsparteien die Verantwortung in diesem Bereich. Natürlich werden auch wir als Politiker dafür sorgen, daß neue Formen der Arbeit gefördert werden.
— Was hat es mit Klassenkampf zu tun, Herr Roth,wenn wir die Tarifvertragsparteien an ihre Verantwortung für diejenigen Arbeitnehmer erinnern, die
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16333
Frau Dr. Adam-Schwaetzerauf Grund der Struktur der Tarifverträge aus dem Arbeitsmarkt herausgedrängt worden sind?
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es war das Ziel der Bundesregierung, mit ihrer Arbeitsmarktpolitik ein wenig mehr Flexibilität in diesen Arbeitsmarkt hineinzubringen. Wir werden und wir können den Arbeitsmarkt natürlich nicht in einen wirklichen Markt verwandeln. Es gibt Schutzvorschriften für Arbeitnehmer, und die brauchen wir auch. Aber wir brauchen ein wenig mehr Flexibilität, wir müssen Verkrustungen aufbrechen, damit sich die Arbeitnehmer und die Betriebe neuen Gegebenheiten anpassen können, damit sie sich auf die Zukunft einstellen können. Das haben wir mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz, das haben wir mit dem Arbeitsförderungsgesetz getan. Dafür haben wir die Rahmenbedingungen geschaffen. Nun geht es darum, daß Arbeitnehmer, Betriebe und die Politik auf diesem Weg konsequent in die Zukunft weitergehen.Vielen Dank.
Ich erteile dem Herrn Bundesminister für Wirtschaft das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Über den Aufschwung und die damit verbundene Beschäftigungszunahme kann man auf zwei verschiedene Weisen reden, einmal so, wie es die Opposition immer noch tut, und dann so, wie es die Zahlen belegen.Aber ich lasse hier zunächst der Opposition mit einigen Kostproben sozialdemokratischer Konjunkturanalyse den Vortritt. So sagte z. B. Herr Roth in den „Informationen der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion" vom 7. Februar 1983 — wörtliches Zitat —:In Wahrheit hat der Wirtschaftsminister in seiner Jahresprojektion getürkte Zahlen eingesetzt, um werbeträchtig einen Aufschwung anzukündigen, der überhaupt nicht in Sicht ist.
Herr Farthmann, der bekannte Marktwirtschaftsexperte
der sozialdemokratischen Opposition, hat im Deutschlandfunk am 1. Mai 1983 gesagt:Alles, was zur Zeit über die Konjunktur geredet wird, was an optimistischen Prognosen abgesondert wird, findet nach meiner Einschätzung ausschließlich in den Zeitungen und in den Politikerreden statt.
Frau Fuchs — ich zitiere wörtlich; das können Sie nachlesen —
sagte in den „Informationen der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion" vom 4. Juli 1983 — das ist fast drei Jahre her —:
Tatsächlich ist ein in sich selbst tragender Aufschwung nicht in Sicht. Im Gegenteil. Eine Verschärfung der Krise ist erkennbar.
Herr Apel sagte am 7. September 1983 im Deutschen Bundestag — das sind alles Aussagen zur Wirtschaftskonjunktur, Frau Fuchs —:Von einer konjunkturellen Wende kann nicht die Rede sein. Der Alltag hat Sie, die Bundesregierung, eingeholt und nun werden Sie nicht mehr Aufschwünge herbeireden können.
Ich kann das verlängern. Aber ich will es dabei belassen, weil, glaube ich, schon deutlich wird,
welchen Stellenwert und welchen Erkenntniswert die Vorhersagen sozialdemokratischer Wirtschaftsexperten haben.
Zur Arbeitslosigkeit im besonderen, wenn Sie auch dazu ein Zitat haben wollen, Herr Ehrenberg — allerdings habe ich keines von Ihnen jetzt hier, sondern eines von Herrn Roth —, hat Herr Roth in den von mir zitierten Informationen am 1. März 1983 gesagt:Bei Fortführung der derzeitigen Politik werden im Januar 1984 deutlich mehr als 3 Millionen Menschen ohne Arbeit sein.
Ein halbes Jahr später ergänzte Herr Roth seine Prognose in einem Beitrag für die „Frankfurter Rundschau". Dort sagte er voraus, daß bei einem realen Wirtschaftswachstum von 2 bis 21/2%, wie es das Bundeswirtschaftsministerium bis 1987 erwartet hat, die Zahl der Arbeitslosen in diesem Zeitraum auf 3,5 Millionen im Jahresdurchschnitt,
in winterlichen Spitzenzeiten sogar auf weit über 4 Millionen steigen werde.
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16334 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Reimann?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein. Ich möchte im Zusammenhang
meine Vorlesung vortragen, damit die Kollegen aus der sozialdemokratischen Fraktion
am heutigen Tag, an dem ihr früherer wirtschaftspolitischer Fachmann, Herr Schiller, 75 Jahre alt wird, erkennen können, wie weit Sie sich von ihm entfernt haben.Denn wie sehen die Zahlen aus, meine Damen und Herren?
Das Bruttosozialprodukt, das zwischen 1980 und Ende 1982 real um fast 21/2% zurückgegangen war, ist nach dem Regierungswechsel bis heute um 91/2% gestiegen. Ein Rückgang von 21/2% in den letzten beiden Jahren der letzten Regierung und eine Zunahme um 91/2% in dem Zeitraum, in dem diese Regierung Verantwortung trägt!
Die Kapazitätsauslastung der Industrie zwischen Ende 1979 und Herbst 1982 sank um 121/2%. Das heißt, die vorhandenen Anlagen wurden nicht mehr benutzt.
Seit der Wende bis heute ist sie genau um diese 121/2 % wieder gestiegen. Wir haben das wieder ausgeglichen.Die Zahl der Beschäftigten,
seit Ende 1980 bis Ende 1983 um mehr als eine Million zurückgegangen, hat seitdem um 325 000 zugenommen.Die Preissteigerungsrate, die im Durchschnitt des Jahres 1983 noch fast 61/2% betrug, lag Ende 1985 bei 1,8% und ist inzwischen, begünstigt durch gesunkene Ölpreise, auf sage und schreibe 0,1 % zurückgegangen.
Wenn Sie vorhin gesagt haben, das sei kein soziales Datum, dann fragen Sie einmal diejenigen, die mit einem geringen Einkommen auskommen müssen, was es für sie bedeutet, daß der Preisanstieg nur noch 0,1 %, also praktisch 0% beträgt.
Die Kapitalmarktzinsen lagen im Jahresdurchschnitt 1981 bei 10,6%. 1985 sind sie unter 7% gesunken. Sie bewegen sich inzwischen deutlich unter der 6%-Marke. Wir haben mit 31/2% den niedrigsten Diskontsatz der OECD-Länder.
Im Jahre 1980 hatten wir ein Leistungsbilanzdefizit von 30 Milliarden DM.
1985 haben wir einen Überschuß von fast 40 Milliarden DM. — Wenn Sie das auf den Wirtschaftsminister zurückführen wollen, was eine sehr vereinfachte Betrachtungsweise ist: Warum loben Sie dann mich nicht?
Ich behaupte nicht, daß das der Wirtschaftsminister macht. Das ist die Leistung vieler Menschen in unserem Lande.
Dies ist heute wieder möglich geworden, meine Damen und Herren, weil wir eine vernünftige Wirtschafts-, Finanz-, Haushalts- und Steuerpolitik betreiben.
Wir geben diesen Menschen die Möglichkeit, mit der Furcht ihrer Arbeit etwas zu machen, während Sie den Menschen die Frucht ihrer Arbeit wegnehmen wollen, wenn man es bei Licht betrachtet.
Wer will denn dauernd Steuern und Abgaben erhöhen?
Wer erhöht dauernd Steuern und Abgaben?
Ich habe schon gesagt — ich wiederhole es —: Die Wahrheit ist schwer zu ertragen. Das ist das Problem.
1985 haben wir gegenüber dem Leistungsbilanzdefizit von fast 30 Milliarden DM des Jahres 1980 einen Leistungsbilanzüberschuß von fast 40 Milliarden DM. Das ist ein Unterschied von 70 Milliarden DM in der Leistungsbilanz.
Die Neuverschuldung des Staates lag 1981 und 1982 bei jeweils fast 70 Milliarden DM. 1985 hat sie weniger als 40 Milliarden DM betragen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16335
Bundesminister Dr. BangemannMeine Damen und Herren, ich glaube, man braucht nicht viel Phantasie, um zu verstehen, daß es der Opposition angesichts dieser Zahlen schwerfällt, etwas anderes zu behaupten, es sei denn, sie tut es, wie sie es heute hier getan hat und noch weiter tun wird, ohne Grund und in der Absicht, diese Erfolge zu vernebeln.
Das wird ihr aber nicht gelingen.
Die Politik, die diese Ergebnisse zur Folge gehabt hat, ist langfristig angelegt. Sie lehnt es ab, durch kurzfristigen Aktionismus Strohfeuer zu entfachen, an denen man sich nicht wärmen kann.
Eine auf Klarheit, Verläßlichkeit und Kontinuität angelegte Politik ist in der Lage, die Konstitution der Volkswirtschaft zu verbessern. Das zeigt sich auch in all den Vorhersagen und Beurteilungen unserer wirtschaftlichen Situation. Erst vor kurzem war ich bei der Sitzung der OECD-Länder in Paris. Alle diese Industrieländer erkennen an, daß unsere Wirtschaft auf einer soliden Grundlage arbeiten kann und daß das Wirtschaftswachstum deswegen — ohne daß sie uns aufgefordert haben, Konjunkturprogramme aufzulegen oder andere kurzfristige Aktionen zu starten — auch ihnen helfen wird.Wenn wir dieses langfristige spannungsfreie Wachstum durchhalten, meine Damen und Herren, helfen wir nicht nur den Bürgern der Bundesrepublik, sondern auch unseren Nachbarn. Wir haben ihnen schon dadurch geholfen, daß wir dazu beigetragen haben, die Erkenntnis zu verbreiten, daß Wachstum nicht mit Inflation finanziert werden kann. Die berühmte Gleichung „5 % Inflation ist mir lieber als 5 % Arbeitslosigkeit", die von einem bekannten Weltökonomen stammt, glaubt heute in der ganzen Welt niemand mehr.
Das ist gut so. Denn dadurch können wir darauf rechnen, daß unsere gute Politik in den anderen Ländern, mit denen wir diese Politik betreiben müssen, Antwort findet. Diese Klarheit, Verläßlichkeit und Kontinuität ist eine ganz wichtige Größe für die Berechenbarkeit von wirtschaftlichen Investitionen. Auch die Tatsache, daß das Zutrauen und Vertrauen in die Wirtschaft wieder besteht, ist ein Konjunktur- und Wachstumsfaktor und ist eine Garantie für eine weitere gute Entwicklung.Daß damit auch der Freiraum für private Initiative größer geworden ist, beweist, daß richtig ist, was immer wieder gesagt worden ist: Marktwirtschaft ist nicht nur eine besonders wirkungsvolle Politik, eine besonders wirkungsvolle Methode, wirtschaftliches Wachstum zu fördern, sondern ein marktwirtschaftliches System eröffnet auch mehr Freiräume für private Initiative. Sie bedeutet mehrFreiheit im wirtschaftlichen Alltag für den Bürger und paßt deswegen auch zu einer Gesellschaftspolitik, die auf den Gestaltungswillen, auf die Gestaltungsfreiheit des einzelnen setzt. Ich denke, daß uns das befriedigen sollte. Wenn wir sehen, daß mehr Unternehmensgründungen vorgenommen werden, daß wieder mehr Mut besteht, selbständig zu werden, daß in den Unternehmen die Investitionsbereitschaft wächst, dann werden wir erkennen, daß auch durch diese Betonung des Unabhängigkeits- und Freiheitswillens neue Wachstumskräfte freigesetzt worden sind. Nicht dirigistische Maßnahmen mit kurzfristigen Scheinerfolgen, sondern nur die eingeleitete Politik einer marktwirtschaftlichen Erneuerung und einer Verbesserung der gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen bieten dafür Gewähr.
Meine Damen und Herren, die statistisch nachvollziehbaren Erfolge sind uns nicht in den Schoß gefallen. Es ist die größte Gefahr, vor der wir heute vielleicht stehen, daß die Bürger unseres Landes diese Erfolge der Wirtschaftspolitik als Selbstverständlichkeit nehmen, daß sie den Zusammenhang nicht mehr erkennen, daß solche Erfolge nur möglich sind, wenn man gute Politik macht.
Das, meine Damen und Herren, möchte ich einmal an einem aktuellen Beispiel nachweisen, das immer wieder dafür zitiert wird, daß wir jetzt Glück hätten, nämlich an der Entwicklung der Ölpreise. Warum sind die Ölpreise gesunken? Warum ist die Front, das Kartell der erdölproduzierenden Länder zusammengebrochen?
Weil diejenigen, die damals die Verantwortung für die Wirtschaftspolitik trugen, meine Kollegen Friderichs und Lambsdorff, als die beiden ersten Ölschocks stattfanden, den Einflüsterungen derjenigen widerstanden haben, die meinten, nun müsse man den so gestiegenen Preis, der für Verbraucher und für die Industrie unerträglich sei, subventionieren. Sie haben sich dem damals widersetzt
und haben darauf hingewiesen, daß nur dann, wenn man sich den Preis auswirken läßt, wenn also Marktwirtschaft herrscht, Energieeinsparung mit Nachdruck betrieben wird, moderne Technologien entwickelt werden, die dann ebenfalls zur Energieeinsparung beitragen können und die in sich einen Produktionswert darstellen.Diese Position, meine Damen und Herren, hat dazu geführt, daß wir einen Käufermarkt bekommen haben, daß neue Erdölquellen entwickelt worden sind, daß am Schluß der Markt die Politik der erdölproduzierenden Kartelle nicht mehr zugelas-
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16336 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
Bundesminister Dr. Bangemannsen hat. Deswegen sind die Ölpreise zusammengebrochen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage? — Grundsätzlich nicht?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein.
Deswegen, meine Damen und Herren, ist es heute so gefährlich, wenn wir von der Opposition die Ratschläge hören, bei den gesunkenen Erdölpreisen nunmehr diesen Spielraum zu nutzen und den Vorteil für die Verbraucher wieder wegzusteuern. Das ist das Gegenteil von Marktwirtschaftspolitik. Das ist Farthmann pur.
Meine Damen und Herren, wer das will, wer wieder einen Staat haben will, der den Verbrauchern die Vorteile nimmt, die eine Marktwirtschaftspolitik geschaffen hat, der muß in der Tat die SPD wählen.
Aber dazu gibt es jetzt eine klare Alternative, und deswegen sage ich das. Die Bürger, die sich heute mit Recht darüber freuen können, daß es ihnen wirtschaftspolitisch, von den Wirtschaftsdaten her, ganz eindeutig besser geht als zuvor, müssen wissen, daß dies das Ergebnis ihrer Arbeit ist; sie müssen aber auch wissen, daß ihre Arbeit nur dann Ergebnisse haben kann, wenn wir unsere erfolgreiche Wirtschaftspolitik fortführen können.
Die Regeln der Marktwirtschaft sind einfach. Aber weil sie so einfach sind, werden sie immer wieder bewußt mißachtet, oder sie werden abgelehnt, weil man glaubt, daß man durch die eigene Betätigung mehr Befriedigung gewinnt, weil man unmittelbarer durch sein eigenes Handeln die bestimmten Ergebnisse erzielen will und erzielen kann. Dabei übersieht man, daß der Markt selber ein hervorragendes Mittel zum friedlichen Interessenausgleich ist, weil er nicht die Entscheidung anderer erfordert, sondern die eigene Entscheidung über die Verwendung seiner Mittel möglich macht. Deswegen ist dieser Freiheitsspielraum größer, und deswegen ist keine andere Wirtschaftsordnung so wie eine marktwirtschaftliche Ordnung in der Lage, auch das allgemeine Wohl zu befördern. Denken Sie nur an die Länder, die es mit anderen Wirtschaftsordnungen versucht haben. Sie bestehen ja nicht nur in der Theorie, wir haben Sie doch in der Praxis vor uns. Wenn ein Land mit einer dirigistischen zentralen Verwaltungswirtschaft nicht einmal in der Lage ist, seine eigene Bevölkerung zu ernähren, dann braucht man doch keine großen Beweise anführen, daß Marktwirtschaftspolitik richtig, vernünftig und sozial ist.
Deswegen werden wir diese Politik fortsetzen, und deswegen bestehen wir auch den Anpassungsprozeß, den alle Industrieländer durchlaufen müssen, besser als sie. Wir haben einen Anpassungsprozeß, der viel wirkungsvoller und schneller abläuft, als man das heute sieht, weil die Zahlen, mit denen wir diskutieren, alle Salden sind. Auch die Zahlen der Arbeitslosenstatistik sind Salden.
— Die Zahlen der Statistik sind keine Menschen, Herr Roth, sondern Salden. Erst wenn Sie die Statistiken zur Kenntnis nehmen, dann dringen Sie zum Schicksal der Menschen vor. Sie reden nur vom Schicksal der Menschen, aber Sie tun nichts, und Sie haben nichts getan, um das Schicksal der Menschen zu verbessern.
Meine Damen und Herren, es fallen Arbeitsplätze in Industriebereichen fort, die vom Strukturwandel betroffen werden, und es werden neue Arbeitsplätze geschaffen. Die Industriebereiche bei uns, in denen diese Arbeitsplätze wegfallen, haben den Anpassungsprozeß schon weitgehend bewältigt. Das gilt für die Textilindustrie — nicht ganz, aber weitgehend. Das gilt für die Stahlindustrie — nicht ganz, aber weitgehend. Das gilt für den Steinkohlenbergbau ebenfalls weitgehend. Jetzt sind wir in dem Prozeß bei der Wohnungsbau- und bei der Werftindustrie. Wenn wir es schaffen, obwohl dieser Umstrukturierungsprozeß läuft, diese guten Daten zu erzielen, dann zeigt das, wie robust die Wirtschaft bei uns inzwischen geworden ist — auf Grund der Politik, die wir betrieben und die ihr diese Möglichkeiten gegeben haben. Daß dieser Umstrukturierungsprozeß eine Wirkung haben wird, die sich erst in den folgenden Jahren' ausschließlich und eindeutig positiv auch auf dem Arbeitsmarkt zeigen wird, ist jedem klar, der das mit der nötigen Objektivität betrachtet.Deswegen möchte ich die Behauptung aufstellen, daß die Erfolge dieser Wirtschaftspolitik die Grundlage für die zukünftigen Erfolge auf dem Arbeitsmarkt sind. Wer diese Wirtschaftspolitik jetzt ändert, wird mit dem Problem der Arbeitslosigkeit in den nächsten Jahren nicht fertig werden können.
— Wir werden es.
Deswegen muß diese Wirtschaftspolitik eine Ergänzung in der Politik der Tarifparteien finden. Es wäre verhängnisvoll, und wir würden diesen Strukturwandel nicht bestehen, wenn die Tarifparteien zu einer Politik gelangten, die den technischen Fortschritt bei uns unmöglich macht oder auch nur verlangsamt. Wenn wir die Technologie nicht anwenden, die uns heute zur Verfügung steht, werden wir wettbewerbsunfähig. Wenn wir wettbewerbsunfähig sind, verlieren wir Arbeitsplätze. Das heißt, es
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16337
Bundesminister Dr. Bangemannkann keinen Kampf gegen moderne Technologie geben, wenn man sich wirklich um das Schicksal des Arbeitsmarktes Sorgen macht. Wir wollen deswegen diese moderne Technologie nicht verteufeln, sondern im Gegenteil die Angst davor abbauen und dazu beitragen, daß die Menschen in unserem Lande erkennen, welche Möglichkeiten ihnen diese moderne Technologie tatsächlich gibt.Das wird sich im übrigen auch in unserer Stellung in der Weltwirtschaft ausdrücken, wie es sich heute schon andeutet. Wir haben eine hervorragende Außenhandelsbilanz. Wir sind für Freihandel, weil wir wissen, daß mit der Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie diese Entwicklung begünstigt werden kann und daß wir den Strukturwandel gerade international am besten dann bestehen, wenn wir für diesen Freihandel sind. Wer einen Schutzzaun um seine Industrie zieht, wie das viele Länder leider getan haben und immer noch tun, der hält diese Industrie künstlich zurück. Er läßt sie nicht so wachsen, läßt sie sich nicht so entwickeln, wie das in einem internationalen Wettbewerb möglich ist. Deswegen glaube ich, meine Damen und Herren, daß wir in der Tat für diesen Freihandel auch zugunsten des Strukturwandels bei uns eintreten müssen.Ich will davon absehen, alles vorzutragen, was man dazu noch sagen könnte. Ich will eine Stimme zitieren, die — besonders von der Opposition — vielleicht anders betrachtet wird als die Stimme eines Mitglieds der Regierung. Ich möchte eine Stimme aus dem Ausland zitieren, einen Unternehmensberater, der im „Wall Street Journal" vom 11. März folgendes gesagt hat:Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland ist mindestens ebenso eindrucksvoll wie die japanische, nur ist sie solider.Er sagt weiter:Es gibt nur einen, der dem Erfolg der Deutschen im Wege stehen könnte: Das sind die Deutschen selbst mit ihrem Hang, das Negative zu übertreiben.
Deswegen ist es nicht eine bewußte Methode zu sagen: Wir müssen optimistisch sein, um unsere Schwierigkeiten zu überwinden. Vielmehr ist es die Vorbedingung dafür, jede Schwierigkeit überwinden zu können, daß man die Fähigkeit, die man dazu hat, nicht selbst verkleinert und vermindert.Wer das tut und in der Öffentlichkeit den Eindruck erweckt, als seien wir nicht in der Lage, diesen Weg fortzusetzen, wird einen Beitrag dazu leisten, daß dieser Weg unmöglicher wird. Das wollen wir nicht tun.Unser Optimismus ist begründet. Er läßt sich beweisen, er läßt sich an Zahlen nachweisen. Diesen Weg, meine Damen und Herren, müssen wir fortsetzen, weil wir nämlich auf diese Weise das erfüllen können, was die Menschen in unserem Lande von uns zu Recht erwarten: eine Wirtschaftspolitik, die auf der einen Seite das tut, was der Staat tun muß, die aber auf der anderen Seite nicht mehr tut, als der Staat tun muß, die den Staat nicht an die Stelle des einzelnen setzt, die ihm nicht die Entscheidungen abnimmt, durch die er die Kraft gewinnt, seine eigenen Probleme meistern zu können.Das ist der wesentliche Inhalt unserer Politik, und dazu stehen wir.
Das Wort hat der Abgeordnete Roth.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der ganze Ernst dieser Debatte wird dadurch klar, daß man heute die Tagesordnung geändert hat. Plötzlich, nachdem wochenlang vereinbart war, daß wir heute früh über die Agrarpolitik diskutieren würden, hat sich die Bundesregierung am Freitag entschlossen, eine Regierungserklärung zur Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik abzugeben. Sie können dreimal raten, warum. — Natürlich deshalb, weil die Lage in der Landwirtschaft so dramatisch ist, daß man nicht wollte, daß man zur besten Medienzeit in den deutschen Bauernhöfen eine agrarpolitische Debatte sieht. Das ist der einzige Grund für diese Debatte.
Herr Abgeordneter Roth, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Kohl?
Es wäre vermessen, einem Bundeskanzler eine Frage zu verweigern.
Herr Abgeordneter Dr. Kohl, Sie haben das Wort.
Herr Kollege, könnten Sie sich vorstellen, daß der Grund sein könnte, daß der Kollege Kiechle nach allem, was wir vorher wußten, bis zum heutigen Morgen verhandeln mußte, und daß es eine menschlich vernünftige Lösung war, die Debatte für heute mittag anzusetzen?
Verehrter Herr Abgeordneter Kohl — ich wurde darauf hingewiesen, daß ich Sie jetzt nicht als Bundeskanzler anreden darf —, ich hatte den Eindruck, daß die SPD-Fraktion für jede Verhandlung darüber offen gewesen wäre, morgen früh hier im Bundestag einen voll ausgeschlafenen Agrarminister zu hören.
So menschlich sind wir alle gemeinsam: quasi die Große Koalition der Menschlichkeit gegenüber dem vielgeplagten Kiechle.
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16338 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
Gestatten Sie eine weitere Zusatzfrage?
Ja.
Wären Sie nach dieser eben genannten Einsicht bereit, Ihre vorher aufgestellte Behauptung über den Ablauf der Tagesordnung zurückzuziehen?
Nein. Sie wollten morgens — zu einer Zeit, da die Bauern noch ein bißchen Zeit haben und zuhören — keine Agrardebatte im Fernsehen. Sie wollten die Debatte nachmittags, verbunden mit der Hoffnung, daß sie die Medien wegen ihrer Nachmittagsprogramme wegdrücken. Das ist doch völlig klar.
Von der Terminierung her ist diese Wirtschafts- und Arbeitsmarktdebatte sowieso grotesk. Verehrter Herr Arbeitsminister, am nächsten Montagmorgen veröffentlichen die deutschen Wirtschaftsinstitute ihr Gemeinschaftsgutachten. Es wäre richtig gewesen, nach Kenntnisnahme der Prognose für das weitere Jahr eine Wirtschaftsdebatte zu führen.
Ich sage Ihnen auch, warum Sie die Wirtschaftsdebatte heute führen: Meine Damen und Herren, als der Jahreswirtschaftsbericht diskutiert wurde, ist in der Öffentlichkeit völlig klar geworden, daß das zentrale Problem, nämlich die Massenarbeitslosigkeit, in Ihrer Regierungspolitik keine Rolle spielt,
und jetzt wollte der Herr Blüm nachbessern. Das war der Anlaß der Debatte.Sie sprechen von 300 000 Arbeitsplätzen, die in den vergangenen Jahren geschaffen worden seien. Ich frage Sie: Wo sind eigentlich diese zusätzlichen Arbeitsplätze seit der Wende? Die Beschäftigtenzahl liegt heute um 200 000 niedriger als zum Zeitpunkt der Wende.
Meines Erachtens liegt hier der Grund, weshalb Sie nun versuchen, Ihre Bilanz mit anderen Themen zu schönen.Ich will Ihnen Ihre Bilanz vortragen: Erstens. Trotz vierjährigen Konjunktaufschwungs liegt die Arbeitslosenquote auf Nachkriegsrekordniveau. Noch niemals in der Geschichte der Bundesrepublik hatten wir so viele Arbeitslose wie heute. Zu den 2,5 Millionen registrierten kommen noch 1,3 Millionen, die resigniert haben und die sich überhaupt nicht mehr beim Arbeitsamt melden.Ich will nun zurückkommen zu Herrn Bangemanns Zitaten über meine Prognosen. Wo ist er nun, der Herr Bangemann? Ich sehe ihn gar nicht.
— Das ist eine Regierung: Reden abliefern und verschwinden und die Argumente der Opposition nicht mehr anhören.
Zu der Prognose. Herr Blüm, sagen Sie es ihm. Ich hatte 1983 gesagt: Bei Fortführung dieser Politik kommen wir im Winterhalbjahr auf über 4 Millionen Arbeitslose. Exakt das hat der Herr Franke, der j a im weitesten Sinne Ihrem Amt, Ihrem Ministerium, unterstellt ist, in diesem Winter verkündet, nämlich 2,6 Millionen registrierte Arbeitslose und 1,5 Millionen nicht registrierte Arbeitslose. Das sind 4,1 Millionen Arbeitslose in der Bundesrepublik Deutschland in diesem Winter.
Zweitens. Der Herr Bundesminister für Wirtschaft, der ja gerade den Saal verlassen mußte, sagte nichts über die Pleitewelle in unserem Lande. Wir werden im Jahre 1986, dem großen Aufschwungjahr, mehr Pleiten und Konkurse in der Bundesrepublik Deutschland haben als in jedem Jahr zuvor.
Drittens. Noch keine Bundesregierung hat den Arbeitnehmern mit ihren Steuern und Abgaben so tief in die Tasche gegriffen.Viertens. Noch nie sind so viele Menschen auf das Existenzminimum herabgedrückt worden wie unter der Regierung Kohl. Der Aufschwung, den Sie hier hochjubeln, ist ein Aufschwung, der sich vor allem in Gewinnen ohne ausreichend mehr Investitionen und in steigenden Aktienkursen ausdrückt.
Es ist kein Aufschwung für breite Schichten unseres Volkes. Der Durchschnittsverdiener verdient heute soviel wie im Jahre 1979, wie vor sechs, sieben Jahren. Dabei hatte die Bundesregierung
von außen her optimale Voraussetzungen. Seit 1982 steigen die Ölpreise nicht mehr, und seit einigen Monaten sind die Ölpreise auf das Niveau von vor den Ölpreiskrisen der 70er Jahre zurückgefallen. Wer solche Voraussetzungen hat und sie nicht ausnutzen kann, ist unfähig zu einer Politik für mehr Arbeitsplätze.
Bis Mitte 1985 hatte die D-Mark einen Superkurs, was unseren Export anbetrifft. Auch das wurde nicht genutzt. Seit 1981 sanken in allen westlichen Industriestaaten die Inflationsraten. Selbst Frankreich und allmählich auch Italien werden Stabilitätsländer. Auch das wird nicht ausgenutzt. Der Regierung Kohl stehen seit 1983 aus den Bundesbankguthaben, die in unserer Regierungszeit angesammelt wurden, 48 Milliarden DM zur Finanzierung ihrer Haushalte zur Verfügung. Statt dieses
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16339
RothGeld in Investitionen für Arbeitsplätze zu stecken, wird konsolidiert — ohne Rücksicht auf Arbeitsplätze, vor allem auf Kosten der Gemeinden und ihrer Investitionen.
Der Anstieg der Zahl der Personen — weil der Zwischenruf vorher kam — war gar nicht so drastisch. Gerade in den letzten beiden Jahren haben wir im Verhältnis zu den 70er Jahren nur einen sehr geringen Anstieg des Erwerbspotentials in der Bundesrepublik Deutschland zu verzeichnen. Auch von daher hatten wir gute positive Chancen. Mein Urteil lautet, diese Chancen werden und wurden in den letzten Monaten verspielt.Lassen Sie mich ein Wort zu einer Debatte sagen, die eigentlich notwendig ist, nachdem die FDP ihr Grundsatzpapier zur Wirtschaftspolitik vorgelegt hat. Das ist kein Papier einer einzelnen Person, sondern das ist ein Papier, das die Partei, die FDP, dieser Tage veröffentlicht hat.
Meine Damen und Herren, wenn Sie dieses Papier lesen, dann haben Sie den Eindruck, es gebe einen einzigen Faktor, der die Massenarbeitslosigkeit herbeigeführt hat: zu hohe Löhne und Fehlurteile der Tarifpartner. Frau Adam-Schwaetzer hat das ja gerade auch bestätigt. Das Urteil des Papiers lautet, im Grunde sei es am besten, man ginge raus aus der Tarifautonomie, aus der Allgemeinverbindlichkeitserklärung der Löhne und Tarife und zurück in die freie Lohnbildung des 19. Jahrhunderts.
Das heißt, in dem ganzen Papier — ich empfehle Ihnen, das zu studieren, wir werden darüber noch manche Debatte haben — wird vorgeschlagen — meine verehrten Damen und Herren von der CDU, hören Sie genau zu, lesen Sie die Papiere des Koalitionspartners —, man müsse mehr Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt haben, es sollte endlich so sein, daß die Arbeitskraft nach Angebot und Nachfrage entlohnt wird. Wir wissen aus dem 19. Jahrhundert, wir wissen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wir wissen aus der Situation in Amerika, daß das bedeutet, daß Arbeitskräfte schlechter entlohnt werden als bei uns Sozialhilfeempfänger.
Hier gibt es eine Schnittstelle, die wir mit Ihnen von der CDU ausdiskutieren wollen. Denn das ist jetzt die Frage: Bleiben wir bei der deutschen Sozialkultur, die zurückgeht auf viele, auch auf Leute aus Ihrer Partei? Ich denke an den historischen Kompromiß zwischen Böckler auf der einen Seite und Adenauer auf der anderen Seite im Jahre 1952. Halten wir die Tarifautonomie, halten wir starke Partner am Arbeitsmarkt, die miteinander verhandeln, für richtig oder gehen wir den Weg der FDP, des Chaos am Arbeitsmarkt, der Schwächung derGewerkschaften und des Zerstörens einer kollektiven Lohnpolitik?
Meine Damen und Herren, nehmen Sie dieses Thema ernster als in diesem Moment. Die ideologischen Büchsenspanner der FDP und von Teilen Ihres CDU-Wirtschaftsrats, der Kronsberger Kreis, der ideologisch in den letzten Monaten und Jahren viel in dieser Richtung beeinflußt hat, hat offen gesagt: Aufhebung der Tarifautonomie, Beendigung der kollektiven Lohnfindung, individuelle Lohnverträge. Das heißt für mich: Wiederherstellung der Armut auch am Arbeitsmarkt, die wir überwunden hatten, jenseits jeder Sozialpolitik.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gallus?
Ja.
Herr Kollege Roth, glauben Sie nicht auch, daß mit dem, was Sie eben gesagt haben, eigentlich das Kind mit dem Bade ausgeschüttet ist? Und würden Sie mir nicht zustimmen, daß wir tatsächlich erheblich mehr Arbeit in der Bundesrepublik Deutschland hätten, wenn auf der anderen Seite mehr Flexibilität einkehren würde?
Herr Gallus, über Flexibilität kann man seriös diskutieren.
Es tut mir leid, ich habe Ihr Papier gelesen, ich verstehe, daß Sie wegen Ihrer Agrarprobleme die Papiere der eigenen Partei nicht mehr lesen. In diesem Papier ist aber ganz klar gesagt, daß Ausnahmebereiche vom kollektiven Lohnfindungsprozeß vorgesehen werden. Das ist ein Einstieg in amerikanische Lohnfindungsprozesse, und das lehnen wir politisch ab.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Nein, verehrter Herr Präsident, ich bin am Ende meiner Redezeit und ich habe ein paar Kollegen, die zu Recht sagen, sie hätten noch bessere Argumente als ich.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß kommen. Die SPD stellt diesem Konzept des
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RothSpaltens in der Gesellschaft ein Konzept entgegen, das die sozialen Gruppen zusammenführen will.
Heute wird, wie wir schon gehört haben, Karl Schiller 75 Jahre. Ein wesentliches Element seiner marktwirtschaftlich orientierten Politik war die Idee der sozialen Symmetrie. Ich habe von keinem Wirtschaftsminister dieser Koalition, schon gar nicht vom Herrn Bundeskanzler, schon gar nicht vom Herrn Finanzminister, nicht mehr vom Herrn Arbeitsminister — auch da ist es verlorengegangen —, diese Idee gehört, daß eine marktwirtschaftliche Gesellschaft nur dann erträglich und human sei und progressiv, wenn sie eine Politik betreibt, die der sozialen Symmetrie entspricht.
Ihre Politik ist das Gegenteil einer sozialen Symmetrie, nämlich der Versuch des Umverteilens von unten nach oben. Und ich bedaure es, daß man sich auf Ihrer Seite nicht schämt, Karl Schiller für sich in Anspruch zu nehmen.Vielen Dank fürs Zuhören.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wissmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe einmal nachgemessen, welche Schwerpunkte der Kollege Roth auch rein zeitmäßig in seiner Rede gesetzt hat; und da es bemerkenswert ist, will ich es noch mal festhalten. Im ersten Drittel seiner Rede hat er ausschließlich über Termin und Ablauf der Debatte gesprochen.
Im zweiten Drittel hat er nichts anderes gemacht, als die wirtschaftliche Situation schlechter zu zeichnen als sie ist.
Und im dritten Drittel seines Redebeitrags hat er sich nur mit der FDP auseinandergesetzt und zum Schluß einen Satz gesagt — der zudem nicht konkret war — über das, was eigentlich das Konzept der SPD ausmacht.
Meine Damen und Herren, die Redezeitverteilung des Herrn Roth ist der deutlichste Ausdruck für die wirtschaftspolitische Verwirrung in den Reihen der SPD. Deswegen sollte man das auch hier noch einmal festhalten.
— Ich weiß, das trifft; aber es ist halt die Wahrheit!
Dann hat der Kollege Roth am Schluß etwas zur sozialen Symmetrie gesagt.
Ist es nicht die sozialste Tat überhaupt in der wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland, daß wir seit einiger Zeit eine Preisentwicklung mit einer Null vor dem Komma haben? Roth sagte dann, das sei ein Ergebnis der Ölpreissenkung. In Wirklichkeit sind höchstens 1,5 bis 1,7 Prozentpunkte dieser Entwicklung durch Ölpreissenkungen hervorgerufen. Wir hätten auch ohne Ölpreissenkung eine Preisentwicklung von unter 2 %. Die Wirklichkeit kann man auch hier nur durch Vergleich feststellen: Frankreich 3,5 % Preisentwicklung, Großbritannien 5,1 %, Italien 7,6 %, die Bundesrepublik eine Null vor dem Komma! Das ist soziale Symmetrie in der Wirklichkeit außerhalb von wirtschaftspolitischen Reden.
Meine Damen und Herren, wir reden hier vor allem über die Beschäftigungsentwicklung. Zwischen 1980 und 1982/83 haben wir in der Bundesrepublik Deutschland etwa 1 Million Arbeitsplätze verloren. Ein wesentlicher Teil der Entwicklung, die heute noch für viele Menschen schwierige persönliche Lagen schafft, ist damals entstanden. Der Tiefstand der Beschäftigtenzahl war im Jahr 1983 erreicht worden. Seit diesem Tiefstand haben wir bis Dezember 1985 etwa 340 000 zusätzliche Arbeitsplätze.
— Lesen Sie nur mal nach, was zu diesem Punkt Herr Franke, der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, sagt. Sie können alles hinwegreden, aber nicht die wirklichen Zahlen! Wir haben gegenüber damals 340 000 Beschäftigte mehr. In diesem Jahr erwarten alle Experten, alle wirtschaftlichen Forschungsinstitute noch einmal etwa 300 000 bis 350 000 zusätzlich Beschäftigte. Das heißt, wir werden Ende des Jahres 1986 zwischen 600 000 und 700 000 mehr Beschäftigte haben als auf dem Tiefstand der Beschäftigungsentwicklung.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Roth?
Bitte, gern.
Herr Wissmann, wir sind da, wie jeder weiß, in der SPD ein bißchen pedantisch. Ich habe gestern noch einmal beim Statistischen Bundesamt angerufen und nach den neuesten Zahlen ab 1982 und für 1985 gefragt.
Bitte, Herr Abgeordneter, stellen Sie eine Frage.
Ist es zutreffend, verehrter Herr Abgeordneter Wissmann, daß im Jahre 1982 22 436 000 abhängig Beschäftigte tätig waren, im Jahre 1985 im Jahresdurchschnitt 22 237 000 Beschäftigte tätig waren? Ist es dann ferner richtig, daß im Jahre 1985
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Roth200 000 Beschäftigte weniger tätig waren als im Jahre 1982?
Herr Kollege Roth, Sie verwenden wieder denselben Trick, den Sie schon einmal in einer Pressemitteilung vor zwei Monaten verwendet haben. Sie vergleichen Jahresdurchschnittszahlen. Ich habe gesagt, wir haben im Laufe des Jahres 1983 als eine Folge der Entwicklung von 1980 bis 1983
den Tiefstand der Beschäftigungsentwicklung erreicht
und haben zwischen dem Tiefstand der Beschäftigungsentwicklung in der Mitte des Jahres 1983 und dem heutigen Tag 340 000 Beschäftigte mehr. Das läßt sich nicht hinwegreden, meine Damen und Herren. Das ist die Wahrheit, die von allen bestätigt wird.
Meine Damen und Herren, die Beschäftigungsentwicklung ist eine direkte Folge der Investitionsentwicklung. Was wir zwischen 1980 und 1983 gehabt haben, war Ausdruck eines der größten Investitionseinbrüche in der Nachkriegsgeschichte. Experten sind sich einig, daß wir damals etwa 29 Milliarden bis 30 Milliarden DM allein an Investitionseinbruch, unterlassenen, aber möglichen Investitionen, gehabt haben.
Was uns Hoffnungen für die Zukunft gibt — berechtigte Hoffnungen —, ist, daß dieser Trend gewendet ist, daß es wieder einen deutlichen Zuwachs, einen Aufstieg, einen Anstieg der realen Anlageinvestitionen seit 1983 gibt. Daß sich dies im gesamten Investitionsgütersektor auswirkt, ist ein deutliches Zeichen. Darüber hinaus erwarten wir für 1986 neben der Exportkonjunktur eine außerordentlich positive Entwicklung der Verbrauchskonjunktur, etwa im privaten Verbrauch ein Plus von 4 %. Das ist für Millionen Beschäftigte im Handel von großer Bedeutung. Das zeigt, daß die Beschäftigungsentwicklung inzwischen durch einen soliden Aufschwung unterlegt ist, der eben nicht nur, wie Sie, Herr Roth, vor einem Jahr behauptet haben, in erster Linie durch Währungsentwicklungen hervorgerufen worden ist. Der Aufschwung wird heute von einem Fundament Investitionsgüterkonjunktur im Inland und Verbrauchsgüterkonjunktur im Inland getragen. Inzwischen zeigt sich sogar, wie der Präsident des mittelständischen Baugewerbes selbst sagt, ein Licht am Ende des Tunnels und des tiefen Tals unserer Baukonjunktur.
Mit anderen Worten, der Vorsitzende des Sachverständigenrates hat recht,
wenn er sagt, alle Zeichen sprächen dafür, daß sich der Aufschwung nicht nur 1986, sondern auch 1987 fortsetzt, und weil er sich fortsetzt, die Beschäftigungsentwicklung weiter positiv sein wird. Meine Damen und Herren, das ist das wichtigste Ergebnis
einer soliden Wirtschaftspolitik, daß sie sich endlich auch am Arbeitsmarkt positiv auszuwirken beginnt.
Meine Damen und Herren, wir werden diesen Prozeß weiter unterstützen, indem wir an den Grundlinien der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik festhalten, die wir eingeschlagen haben. Es gäbe keine bessere Bestätigung für die Richtigkeit dieser Grundlinie, als daß im letzten französischen Wahlkampf selbst Ihre Parteifreunde, Herr Roth, das deutsche Beispiel als ein Vorbild auch für eine vernünftige französische Wirtschaftsentwicklung gekennzeichnet haben. Sie sollten sich einmal bei Ihren französischen Parteifreunden erkundigen. Dann würden Sie merken,
Sie können im Kern die Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik dieser Regierung nur unterstützen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Ehrenberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir vor den Ausführungen zur Wirtschaftslage eine Bemerkung zur Wahrheitsliebe des Bundesarbeitsministers Blüm.
— Herr Bundesarbeitsminister, Sie haben einleitend u. a. gesagt, daß erstmals seit 1985/86 wieder das Vermögen der Rentenversicherung steige, nachdem es 13 Jahre lang kontinuierlich gesunken sei.
Ich bitte Sie, sich einmal sehr genau folgende Zahlen anzuhören, die in dem von Ihnen herausgegebenen Heft „Arbeits- und Sozialstatistik" — vom BMA herausgegeben, nicht von mir — abgedruckt sind. Die Rentenversicherung hatte 1979 ein Bar- und Anlagevermögen von 20,3 Milliarden DM, 1980 von 22,7 Milliarden DM, 1981 von 25,7 Milliarden DM, 1982 von 24,6 Milliarden DM — damals begannen Sie langsam zu regieren —,
1983 von 19,3 Milliarden DM und 1984 von 14,3 Milliarden DM.
Abgedruckt in den Veröffentlichungen des BMA. Auch bei den 1,5 Milliarden DM, die jetzt hinzukommen, bleiben Sie immer noch um 10 Milliarden DM unter dem Stand von 1981.
Herr Abgeordneter Dr. Ehrenberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Blüm?
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Bitte.
Herr Kollege Ehrenberg, können Sie bestätigen, daß Sie, als Sie die Regierung übernommen haben, neun Monatsausgaben an Rücklagen — das Verhältnis zur Ausgabe — vorgefunden und die Regierung mit zwei Monatsrücklagen abgegeben haben?
Wir haben, Herr Kollege, die Regierung mit zwei Monatsrücklagen abgegeben, und Sie haben das dann in Ihren drei Regierungsjahren bis auf 0,9 Monatsrücklagen abgewirtschaftet, so daß eine Kreditaufnahme erforderlich wurde, um die Renten zahlen zu können.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Blüm?
Auch das.
Habe ich Sie richtig verstanden, daß die Linie von neun auf zwei Monatsrücklagen ganz eindeutig abwärts gerichtet war — das haben Sie bestätigt —, und hätten Sie die Güte zu bestätigen, daß man eine solch abwärts gerichtete Linie nicht kurzerhand stoppen kann? Bestätigen Sie, daß die Rücklage jetzt zum erstenmal wieder einen Aufwärtstrend zeigt?
Nein, es ist doch schlicht falsch, was Sie bestätigt haben wollen. Schauen Sie in Ihr Büchlein, das Sie selbst herausgeben. Die Linie war nicht kontinuierlich. Wir haben Reserven abgebaut, als sie sehr groß waren, aber wir sind niemals unter die vorgeschriebene Mindestrücklage gegangen.
Herr Kollege Blüm, von 1979 bis 1981 sind die Rücklagen — das habe ich Ihnen vorgelesen — um 5 Milliarden DM gestiegen. Sie sind also nicht kontinuierlich gesunken. Folglich haben Sie vorhin die Unwahrheit gesagt.
— Eine dritte Zwischenfrage lasse ich nicht zu; denn ich will zu meinem Thema kommen.
— Schauen Sie sich erst Ihre eigene Statistik an. Wenn Sie das getan haben, reden wir weiter.Herr Bangemann und vor ihm Herr Blüm haben sich viel zugute getan auf die Verbesserung der Beschäftigungslage. Ich will jetzt nicht um 30 000 rauf und runter streiten. Nur, eines sollten Sie doch — wiederum um der Wahrheit, der Fakten willen —
noch einmal festhalten: Die Verstärkung der öffentlichen Investitionen von 1976 bis 1980 hat die Zahlder Arbeitsplätze um 1,1 Millionen auf den Höchststand dieser Republik steigen lassen. 1980 waren es 23 Millionen Beschäftigte. Das nennt Herr Bangemann Strohfeuer: einen Zuwachs von 1,1 Millionen Arbeitsplätzen.
Dann ist die Zahl der Beschäftigten gesunken. Sie ist heute noch um 800 000 niedriger als 1980, als wir den Höchststand hatten.Aber was Sie vor allen Dingen vergessen — ich empfehle Ihnen sehr, gelegentlich — —
— 1982 hatten wir 250 000 Arbeitslose weniger als heute und Beschäftigte auch — Beschäftigte weniger und Arbeitslose weniger.
— Nein, 1982 hatten wir 200 000 mehr. Arbeitslose hatten wir weniger und Beschäftigte mehr — —
Wenn Sie wollen, lese ich Ihnen auch diese Zahlen vor.
— Den Vergleich von Juli und Dezember hat Herr Wissmann gemacht. Das genau geht nicht.Aber was viel wichtiger ist — —
— Sie wollen doch nicht auf diese Fragen eine Antwort haben?Meine Damen und Herren, Ihnen scheinen die Ursachen der Beschäftigungszahlen unangenehm zu sein. Ich empfehle Ihnen, einmal nachzulesen, was zu diesem Thema der Vorsitzende des größten Landesverbandes der CDU, der Herr Biedenkopf, und die Deutsche Bundesbank gesagt haben. Es ist nämlich nicht so, wie Sie, Herr Bangemann, versucht haben, den Leuten klarzumachen, daß die OECD geradezu mit Neid auf die Entwicklung in der Bundesrepublik schaue. Die Wachstumsraten der Bundesrepublik von 1983 bis 1985 haben in jedem Jahr — das haben Sie selber im Jahreswirtschaftsbericht abgedruckt — in der unteren Hälfte der Reihe der Wachstumsraten der 16 dort erfaßten Nationen gelegen. In den 70er Jahren hatten wir im Wachstum im Rahmen der OECD ganz oben gelegen. In der Bundesrepublik Deutschland gab es 1980 eine halb so hohe Arbeitslosenquote wie im Durchschnitt der OECD. 1985 waren wir exakt so schlecht wie der OECD-Durchschnitt. Das haben Sie in drei Jahren erreicht.
Zur Beschäftigung, zu diesem Anstieg um knapp 200 000: Wenn Sie in den Bundesbankbericht vom
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Dr. EhrenbergFebruar 1986 hineinschauen, werden Sie dort finden:Spürbare Personalverstärkungen gibt es vor allem in der elektronischen Industrie,
im Maschinenbau und im Straßenfahrzeugbau.
Und, meine Damen und Herren, das sind genau die Tarifbereiche, für die die IG Metall seit letztem Jahr die 38,5-Stunden-Woche erreicht hat. Dort ist die Ursache der Beschäftigungsverbesserung und nirgendwo anders.
— Wenn Sie mir nicht glauben, verehrter Herr Kollege, lesen Sie bitte die „Zeit" vom 11. April 1986, wo Herr Biedenkopf dazu schreibt:Die Zunahme an Beschäftigung von 1983 bis '85 war nicht eine Folge des Wachstums der Wirtschaft, sondern eine Folge der Verkürzung der Arbeitszeit pro Beschäftigten.
— Wenn Herr Biedenkopf das schreibt und auch die Bundesbank das feststellt,
werden wohl auch diese Bundesregierung und die Regierungsparteien nicht nur von Zufall ausgehen können, wenn es darum geht, daß Tarifbereiche mit Arbeitszeitverkürzung und Bereiche mit Beschäftigungsverbesserungen übereinstimmen.Man kann das, was Herr Biedenkopf schreibt, auch anders ausdrücken: Die erfreuliche Verbesserung der Beschäftigung ist nicht durch die Politik der Bundesregierung entstanden. Die Bundesregierung hat sich alle Mühe gegeben, die Arbeitszeitverkürzung zu verhindern.
Herr Kohl hielt sie damals für dumm und töricht.
Die verantwortungsvolle Politik der Gewerkschaften hat zu dieser Verbesserung der Beschäftigung geführt. Und damit die Gewerkschaften das vielleicht nicht wieder tun können, haben Herr Kohl, Herr Bangemann und Herr Blüm jetzt versucht, ihnen mit dem § 116 AFG die Fähigkeit zu verantwortlichem Handeln zu nehmen.
Wenn Sie Herrn Biedenkopf und die Gewerkschaften für nicht glaubwürdig halten, interessiert Sie vielleicht mehr, was der Präsident der Bauindustrie in einem gemeinsamen Memorandum mit der IG Bau-Steine-Erden am vergangenen Wochenende vorgelegt hat.
Er hat dieses Memorandum in der Staatskanzlei in Bayern zur Weiterbeförderung nach Bonn abgegeben, weil er dem bayerischen Ministerpräsidenten mehr an Aktivität zutraut als der Bundesregierung.
Der Präsident, Senator Brochier, sagt dort:Erstmals in der neueren Wirtschaftsgeschichte steuerte die Bauwirtschaft inmitten eines lebhaften Aufschwungs in eine Rezession.Die Ertragslage ist katastrophal, die Beschäftigung in den letzten fünf Jahren um ein volles Drittel auf weniger als eine Million Arbeitnehmer gesunken.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein. Ich möchte Ihnen das, was die Bauindustrie Ihnen hier ins Stammbuch geschrieben hat, noch etwas deutlicher sagen. Herr Brochier beschreibt dort einen erheblichen Baubedarf, vor allen Dingen im Umweltschutz, bei der Erhaltung vorhandener Bausubstanz, bei der Sanierung und Ergänzung der Infrastruktur, vor allem bei der Entsorgung, beim Nahverkehr und bei der Bundesbahn. Er schreibt zum Schluß — ich bitte, das an Herrn Stoltenberg weiterzugeben —: Wir haben bei der Fülle der vorhandenen Bauaufgaben und der Fülle von nicht gelösten Aufgaben „keinen Bedarfsnotstand, sondern einen Finanzierungsnotstand". Und der ist hervorgerufen durch die Politik dieser Bundesregierung.
Das sollte sich Herr Stoltenberg anhören.
Meine Damen und Herren, es würde sich auch für Herrn Stoltenberg für die nächste Periode sehr lohnen, nicht über weitere Begünstigung der Spitzeneinkommen,
sondern darüber nachzudenken, wie man den finanzschwachen Kommunen helfen kann, damit die rückgestauten Ersatzinvestitionen, die Herr Brochier auf 140 Milliarden DM beziffert, endlich durchgeführt und damit Lebensqualität und Beschäftigung gleichzeitig verbessert werden können.
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16344 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
Dr. EhrenbergDas wäre eine Aufgabe für die Finanzpolitik, und man sollte nicht über die Spitzeneinkommen und ihre Begünstigung nachdenken.
Es trägt auch sehr wenig zur Wahrheitsfindung bei,
wenn alle Ihre Redner ständig isoliert von Preisstabilität reden. Einer hat gesagt: „Preistabilität ist die beste Sozialpolitik."
Ich glaube, das war der Bundeskanzler selbst. Das würde ich voll unterschreiben, wenn während Ihrer Regierungszeit gleichzeitig die Löhne und die Renten mehr als die Preise gestiegen wären; aber genau das ist nicht der Fall.
Seit 1981 sind die Nettolohnsteigerungen in jedem Jahr unterhalb der Preissteigerungsrate geblieben. Auch das können Sie bitte in diesem Buch von Herrn Blüm nachlesen.
— Das gilt auch für das Jahr 1985. Wenn Sie zurückrechnen: Im Jahre 1985 hat das Nettoreallohnniveau des durchschnittlich verdienenden Arbeitnehmers die Zahl von 1977 erreicht. So weit sind die Einkommen der Arbeitnehmer in Ihrer Regierungszeit zurückgefallen.
Um das noch einmal mit anderen Zahlen zu sagen: In Preisen des Jahres 1980 gerechnet, hatte der durchschnittlich verdienende Arbeitnehmer im Jahre 1985 1 200 DM im Jahr weniger als 1980. Und Herr Blüm behauptet, es ginge den Leuten besser, seit er regiert!
Der Arbeitnehmer hat 1985 real und netto 1 200 DM weniger als 1980 gehabt.
Das ist aus den Statistiken von Herrn Blüm herauszurechnen.Meine Damen und Herren, nun prophezeit Herr Blüm hier für 1986 eine Reallohnsteigerung von 4 %. Ich wäre sehr glücklich, Herr Kollege, wenn das kommen würde. Nur habe ich angesichts des Verlaufs der Tarifabschlüsse bis jetzt wenig Hoffnung
daß Ihre Prophezeiung eintreten wird. Wenn sieeintreten sollte, sind die Arbeitnehmer immer nochnicht beim Nettorealniveau von 1980 angekommen.
Meine Damen und Herren, die Preissteigerungsrate ist gut, aber so führt sie zu nichts.Was keiner der Herren Minister hier angesprochen hat, ist die katastrophale Streuung der Arbeitslosigkeit in unserem Land.
Es scheint Ihnen allen nicht bewußt zu sein, daß hinter dem Bundesdurchschnitt von 9,8 % im März in Baden-Württemberg 5,5 %, in Niedersachsen aber 12,9 %
nach zehn Jahren Albrecht-Regierung stehen. Nach zehn Jahren Albrecht-Regierung!
Zehn Jahre! Und der Herr Albrecht hat keine Hemmungen, zum zehnjährigen Jubiläum zu plakatieren: „Uns geht es gut. So soll es bleiben!" Das steht dort auf den Plakaten.
— Wenn Sie jetzt sagen, er hat recht,
dann haben Sie nie darüber nachgedacht, wie es in bestimmten Gegenden aussieht.
— In Nordrhein-Westfalen gibt es keinen Landkreis wie Vechta mit 25 % Arbeitslosigkeit,
wie Leer, wie Wittmund, wie die Nebenstelle Friesoythe mit 35 % Arbeitslosigkeit. Vor dem Hintergrund dieser Zahlen in Niedersachsen zu sagen: „Uns geht es gut. So soll es bleiben!", ist eine zynische,
aber keine verantwortungsvolle Antwort.
— Den Menschen geht es gut? Das behaupten Sie ernsthaft?
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Dr. Ehrenberg— Schämen Sie sich gar nicht,
hier zu sagen, daß es den Menschen in Landkreisen, in denen seit drei Jahren ein Viertel der Arbeitnehmer vergeblich einen Arbeitsplatz sucht,
gutgeht?
— Die Entwicklung eingeleitet? Ach, jetzt wollen Sie die „Erblast" schon zehn Jahre zurückverlagern? So lange regiert Herr Albrecht dort.
Und was macht denn die Landesregierung,
und was macht die Bundesregierung,
um das Gefälle von Baden-Württemberg über Hessen zu Niedersachsen abzubauen?
Zur gleichen Zeit, während Herr Albrecht davon spricht, daß es in Niedersachsen besser geht, ist Frau Breuel mit ihrem Konzept, die stillgelegte Raffinerie in Wilhelmshaven wieder zu beleben, gescheitert. Es war ein Luftei, was dort versucht wurde.
Es hat zu Ihrem Leidwesen nicht bis Juni, bis zu den Landtagswahlen, gehalten. Nur darauf war das angelegt.
Die arbeitslosen Bauarbeiter, die arbeitslosen Werftarbeiter in Niedersachsen warten vergeblich auf eine Antwort der Landesregierung,
die nicht lautet: „Uns geht es gut. So soll es bleiben!"
Die 12 % Arbeitslosen in Niedersachsen — das ist ein volles Achtel aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer — wollen nicht, daß es so bleibt, wie Herr Albrecht ihnen das verspricht.
Diese Arbeitslosen wollen endlich das Recht auf Arbeit für alle verwirklicht haben.
Da ihnen die Bundes- und die Landesregierung keine Antwort auf ihre Probleme geben,
werden die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sich im Juni dieses Jahres und im Januar des nächsten Jahres die Antwort selber mit dem Stimmzettel geben und Sie dahin schicken, wo Sie hingehören: in die Opposition.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Müller .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Entgegen den optimistischen Prognosen und Zustandsbeschreibungen gibt es sehr harte Zahlen. Sie haben sich beim Aufstellen des Haushalts einmal wieder gehörig verschätzt. Sie müssen zusätzlich 500 Millionen DM Arbeitslosenhilfe beantragen. Das ist die Wirklichkeit: 500 Millionen DM mehr Arbeitslosenhilfe aus der Kasse der Bundesregierung.
Das heißt für uns: Es geht hier offensichtlich nicht allein um die Höhe der Arbeitslosigkeit. Der wirtschaftspolitische Skandal dieser Bundesregierung wird erst richtig deutlich, wenn man sich die veränderte Struktur der Arbeitslosigkeit anschaut.Schon seit 1984 müssen wir einen sprunghaften Anstieg der Dauererwerbslosigkeit verzeichnen. Die arbeitsmarktpolitische Untätigkeit der Bundesregierung hat nicht nur die Anzahl der Arbeitslosen— im Augenblick 4,1 Millionen, wenn man die nichtregistrierten mitzählt — in die Höhe getrieben, sondern sie hat auch einen völlig neuen unsozialen Tatbestand in dieser Bundesrepublik geschaffen: die Dauererwerbslosigkeit.
— Es ist keine unseriöse Aussage, wenn man endlich den Skandal zur Sprache bringt,
daß über Dauererwerbslosigkeit nicht mehr gesprochen wird. Was dadurch an sozialem Elend — leider verschwiegenem sozialen Elend — geschaffen worden ist, das sollten Sie endlich einmal in Ihre Reden hineinschreiben.
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Dr. Müller
Der Anteil der Dauererwerbslosigkeit an der Arbeitslosigkeit beträgt zur Zeit ein Drittel. Ein Drittel der Arbeitslosen hat keine Chance mehr und hat zum großen Teil resigniert, überhaupt noch einen Arbeitsplatz zu finden, und das insbesondere in den schon von Herrn Ehrenberg erwähnten strukturschwachen Gebieten Norddeutschlands.
Das sind nicht Menschen — wie Sie immer behaupten — mit niedriger Berufsqualifikation, sondern bei den Dauerarbeitslosen sehen wir ein ganz normales Qualifikationsprofil. Das heißt, es ist nicht mehr eine Frage der Qualifikation, sondern es ist eine Frage der konjunkturellen, strukturellen Situation gewesen.Die Politik der Bundesregierung hat eine völlig neue Schicht geschaffen: die Dauererwerbslosen in den strukturschwachen Gebieten.Bedenken Sie: Während Sie Steuererleichterungen für Großverdiener beschlossen haben, haben Sie diese Schicht im Grunde genommen vergessen machen lassen, Langzeitarbeitslose, die heutzutage ein Nettoeinkommen von weniger als 700 DM im Monat haben. Das ist ein sozialpolitischer Skandal. Darüber gilt es hier zu reden, wenn wir über den Arbeitsmarkt diskutieren.Noch drückender ist die Situation der jugendlichen Erwerbslosen. Die sogenannte Jugenderwerbslosigkeit hat sich schon jetzt in die Altersgruppe derjenigen über zwanzig Jahre verschoben. Das heißt, Sie schleppen dieses Phänomen mit. Bedenken Sie bitte: Die Hälfte aller Sozialhilfeempfänger ist jünger als 25 Jahre.
Hier ist ein Problem geschaffen worden, das mit Arbeitszeitverkürzung zumindest ansatzweise hätte bewältigt werden können.Herr Blüm, angesichts dieser Tatsache ist der Optimismus, den Sie hier zu verbreiten suchen, eigentlich nur als zynisch zu bezeichnen. Ihre Politik hat die Bundesrepublik für viele Bürger zu einem Land der Existenzunsicherheit gemacht. Seit 1974 war bereits jede dritte Erwerbsperson in der Bundesrepublik einmal oder mehrmals erwerbslos. Und da sprechen Sie, Herr Blüm, von einer „satten und zufriedenen Welt". Das kann nicht sein. Diese satte und zufriedene Welt, die Sie eben zitiert haben, Herr Blüm, ist eine Welt der Existenzunsicherheit.
Gegen diesen Tatbestand hat die Bundesregierung nichts unternommen.Das Schlimmste ist natürlich die Dauererwerbslosigkeit in strukturschwachen Gebieten. Dort besteht bei einer Arbeitslosigkeit von über 30 % — zum größten Teil Dauerarbeitslosigkeit — für Jugendliche nicht mehr die Chance, überhaupt in das Erwerbsleben einzusteigen. Bei einer solchen Situation, bei einem Nettoeinkommen von unter 700 DM, kann man doch nicht in den Raum stellen, Herr Blüm, daß Sie das Eigentum in Arbeitnehmerhand wollen. Bevor Sie das sagen, erhöhen Sie bitte schön erst einmal die Sozialhilfe um ein Erhebliches, um Armut in Deutschland zu verhindern.
Für die strukturschwachen Gebiete, insbesondere in Norddeutschland, würde allerdings auch eine drastische Arbeitszeitverkürzung überhaupt nicht mehr ausreichen. Wo eine Politik der Nachindustrialisierung völlig gescheitert ist wie beispielsweise entlang der Weser, der Ems und der Elbe, da fordern wir GRÜNEN Fonds zur regionalen Entwicklung, um in diesen strukturschwachen Gebieten ökologische und soziale Investitionen überhaupt wieder möglich zu machen.
Diese Entwicklungsfonds sollen die Gemeinden mit hoher Arbeitslosigkeit aus der Erpreßbarkeit befreien, in die sie auch durch überproportional hohe Sozialhilfezahlungen hineingeraten sind.Es ist der größte Skandal der Haushaltspolitik der Bundesregierung, daß sie den Haushalt auf Kosten der Gemeinden saniert hat.
Sie haben das Problem nur verschoben. Wenn Sie wüßten, in welcher Situation sich die Gemeinden zur Zeit befinden, in denen die Arbeitslosigkeit, die Dauerarbeitslosigkeit besonders hoch ist, würden Sie nicht diese Art von Zwischenrufen machen.Die Lasten Ihrer Politik der Existenzunsicherheit sind auch regional ungleich verteilt. Es wird in Zukunft darauf ankommen, gerade für die strukturschwachen Gebiete neue Entwicklungschancen zu eröffnen. Wir werden in der Zukunft gezwungen sein, für die strukturschwachen Gebiete Entwicklungsfonds zu schaffen, die sich auch aus Bundesgeldern nähren. Anders sind die Probleme, die wir in diesen Gemeinden haben, nicht mehr zu lösen.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Hinsken.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Über Erfolge muß man reden. Deshalb ist, meine ich, meine Damen und Herren, heute die Debatte zu Recht angesetzt. Ich verstehe sehr wohl, meine Damen und Herren
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16347
Hinskenvon der SPD-Fraktion, daß Sie diese Debatte heute lieber nicht gehabt hätten.
Ich meine, als weiteres feststellen zu können, daß wir keine Chancen in den leztzten Monaten verspielt haben, sondern wir haben jede sich bietende Chance genutzt und auch zum Erfolg gebracht. Es ist schon eigenartig, wenn Sie heute am 75. Geburtstag von Karl Schiller von ihm als großen Propheten sprechen, ihn als solchen apostrophieren, wo Sie ihn, weil Sie nicht bereit waren, ihm zuzuhören, vor Jahren gezwungen haben, die Partei zu verlassen.Meine Damen und Herren, wenn hier über die Inflationsrate debattiert wird, dann sagt Herr Roth, das sei auf den sinkenden Ölpreis zurückzuführen, und dann kommt Herr Ehrenberg hierher, macht den Arbeitsplatzgewinn hier nieder und sagt, das sei nur darauf zurückzuführen, daß wir eine 38,5Stunden-Woche hätten.
Meine Damen und Herren, ich meine, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland eine Ausgangsbasis haben, die sich durchaus sehen läßt. So ist z. B., was die Geldwertstabilität anlangt, heute schon mehrfach gesagt worden, daß wir absolute Spitzenreiter sind.
Wir werden jetzt feststellen, daß im Laufe des Monats April erstmals seit Juni 1959, seit 27 Jahren, die Inflationsrate ein Minus vornedran hat. Wir werden uns des weiteren als Weltmeister bezeichnen können, daß wir gerade auch, was Kapitalmarktzinsen anlangt, Gott sei Dank mit absolute Spitze in der ganzen Welt sind. Auf Grund des hervorragenden Wohlstandes der Bundesrepublik Deutschland kann eine dritte Weltmeisterschaft eingefahren werden: Die Deutschen haben noch nie so viel ins Ausland fahren können wie in den letzten Monaten.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Tatge?
Nein, ich habe nur ganz kurz Zeit; ich möchte mich auf das Wesentliche beschränken.
Es ist meines Erachtens auch sehr, sehr wichtig, gerade hier zu sagen, daß wir in Sachen Jugendarbeitslosigkeit mit unserer niedrigsten Jugendarbeitslosigkeit ebenso Spitzenreiter in der westeuropäischen Wirtschaftsgemeinschaft sind.
Lassen Sie mich zum Schluß der Debatte noch folgendes feststellen. Meine Damen und Herren, ich glaube, wir können alle zusammen stolz darauf sein, Norbert Blüm als den erfolgreichsten Arbeitsminister seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland bezeichnen zu können.
Ich darf zusammenfassen, meine Damen und Herren. Es gibt keinen Zweifel: So gut wie zur Zeit ist es den Deutschen seit vielen, vielen Jahren nicht mehr gegangen,
und das zerstörte Vertrauen der Wirtschaft ist Gott sei Dank wieder da.Ich hatte mich darauf vorbereitet, ein umfangreiches Referat zu halten und vor allem auch die Gegensätze zwischen Nordrhein-Westfalen einerseits und Bayern andererseits darzustellen, dies deshalb, weil der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen von der SPD als Kanzlerkandidat nominiert worden ist. Ich möchte es ganz kurz auf folgende Nenner bringen: Was da geleistet worden ist, ist himmelschreiend, muß als ruinös bezeichnet werden. Das hat das Land Nordrhein-Westfalen, im großen und ganzen gesehen, überhaupt nicht verdient, wie da in den letzen Jahren Wirtschaftspolitik betrieben worden ist.
Wenn hier von verschiedenen Seiten gesagt wird, daß es inzwischen ein Süd-Nord-Gefälle gibt, während früher von einem Nord-Süd-Gefälle gesprochen worden ist, dann waren die stärksten Einbrüche in den sozialdemokratisch regierten Ländern zu verzeichnen, wo die Roten das Sagen haben.
Meine lieben Zuhörer, wer von den Unternehmern ist denn überhaupt bereit, in ein Land zu gehen, wo es zum Beispiel die Verbandsklage gibt, wo in den Lesebüchern, im Schulunterricht gegen den Unternehmer gehetzt wird, wo sich die Wirtschaft nicht so entfalten kann wie in den anderen Bereichen? Kein Wunder, daß man hier vermehrt einen Drang vom Norden, in dem Fall von sozialdemokratisch regierten Ländern, nach dem Süden feststellen muß.
Gerade Energiepreise sind die Grundlage dafür, daß sich eine Wirtschaft entwickeln kann. Auch diese haben sich im Süden phänomenal nach unten entwickelt bzw. sind gleich geblieben, während sie auf Grund einer verfehlten Energie- und Strompreispolitik in Nordrhein-Westfalen und anderen Ländern nach oben gegangen sind.Meine lieben Zuhörer, ich muß leider schon zum Ende kommen.
— Ich kann mir vorstellen, daß Sie das ungernhören. Aber eines sei mir noch gestattet zu sagen,weil Herr Ehrenberg und Herr Roth gesagt haben,
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16348 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
Hinskendaß sich der wirtschaftliche Aufschwung nicht zeigt.Ich komme aus einer strukturschwachen Region, dem Regierungsbezirk Niederbayern. Dort hat sich im Jahre 1983 die Zahl der Arbeitsplätze auf 253 800 belaufen. Bis Juni vergangenen Jahres ist diese Zahl um fast 15 000 gewachsen. Das heißt, der wirtschaftliche Aufschwung, eingeführt, praktiziert und durchgezogen von dieser erfolgreichen Bundesregierung, hat sich nicht nur bundesweit bemerkbar gemacht, sondern ist auch in gewisser Hinsicht in der Fläche Gott sei Dank mit hängen geblieben.Ich meine deshalb, abschließend sagen zu müssen: Was hier geleistet worden ist, kann sich sehen lassen.
Herr Abgeordneter, bitte kommen Sie zum Schluß. Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Wir haben von seiten der CDU/CSU-Fraktion dieser Bundesregierung ein Kompliment auszusprechen. Niemand hätte es besser gemacht als die, die hier auf der Regierungsbank sitzen. Ich hoffe und wünsche nur, daß sie noch lange bleiben. Der Wähler wird dafür sorgen.
Das Wort hat der Abgeordnete Kirschner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich die rosaroten Selbstdarstellungen höre — Herr Kollege Hinsken hat gerade Herrn Blüm als den erfolgreichsten Sozialabbau- und Arbeitslosenminister, wie es nämlich richtig heißen muß, betitelt —, dann frage ich mich: Meine Herren von der Regierungsbank, Herr Blüm und Herr Bangemann, von welchem Land reden Sie eigentlich?
Sie zeigen nur eine Seite der Medaille auf. Die Arbeitslosenseite, die Seite, bei der Millionen Menschen in unserem Land betroffen sind, verkommt bei Ihnen zu einer kleinen Restgröße, sie kommt bei Ihnen überhaupt nicht vor. Sie wollen wieder einmal ablenken von der Wirklichkeit in unserem Land.
Einen Augenblick, Herr Abgeordneter. — Ich bitte die Damen und Herren, Platz zu nehmen.
Sie wollen davon ablenken, was Sie den Arbeitnehmern und ihren Familien in den letzten Jahren zugemutet haben und weiter zumuten. Dabei hat der Bundeskanzler — und daran muß mal erinnert werden — am 13. Oktober 1982 hier sinngemäß verkündet, daß die finanziellen Opfer, die notwendig seien, um mehr Arbeit zu schaffen, nur von den wirtschaftlich Starken abverlangt werden. Das Gegenteil haben Sie in Wirklichkeit praktiziert. Und es wird noch schöner, wenn man sich den Vorschlag der FDP anschaut, der fordert, daß die Arbeitslosen 80 % unter Tariflohn arbeiten sollen. Können Sie sich eigentlich vorstellen, was es bedeutet — das ist ein Tarifvertrag aus der Metallindustrie von Südbaden —, daß beispielsweise jemand, der jetzt 10,96 DM in der Lohngruppe 6 erhält, also nach den Vorstellungen der FDP geht, nun für 9 DM in der Stunde arbeiten muß? Ich glaube, Sie können sich das überhaupt nicht vorstellen.
Es ist zynisch, wenn Sie in einer solchen Situation die Not der Arbeitslosen ausnutzen.Herr Bundesarbeitsminister, Sie haben die Umverteilung von unten nach oben rigoros durchgezogen und dabei so getan, als sei dies zur Verbesserung der Lage auf dem Arbeitsmarkt notwendig. Sie haben den Arbeitnehmern, Mietern, Wohngeldbeziehern, BAföG-Empfängern, Rentnern, den Kriegsopfern, Kranken, Behinderten, den Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern massive finanzielle Daueropfer abverlangt. Für den Arbeitsmarkt hat dies nichts Positives gebracht.
Im Gegenteil: Seit der Wende ist die Zahl der gemeldeten Arbeitslosen um nicht weniger als 628 000 gestiegen.
Und so etwas nennt dann Frau Adam-Schwaetzer eine erfolgreiche Politik!Ich meine, dieser Zynismus ist wirklich nicht mehr zu überbieten. Es entlarvt Sie und zeigt, was Sie entgegen allen Sonntagsreden wirklich davon halten.Herr Kollege Gattermann, Sie brauchen beispielsweise bloß die Zeitungen dieser Woche zu lesen, in denen es heißt: „Die Städte zahlen immer mehr Sozialhilfe, wobei vor allem Langzeitarbeitslose betroffen sind." So der Kölner Stadt-Anzeiger vom 22. April. In der „Frankfurter Rundschau" vom 7. Februar steht: „Die Zahl der Sozialhilfeempfänger ist deutlich gestiegen."
Dies ist das Ergebnis Ihrer Politik.Auch den Abbau von Arbeitnehmerrechten haben Sie als beschäftigungspolitisch notwendig darzustellen versucht. Daß auch dies ein Etikettenschwindel war und ist, hat die Negativentwicklung auf dem Arbeitsmarkt erwiesen. Nein, Sie wollten die Arbeitnehmer treffen, und dies ist Ihnen ja auch gelungen.Der Gesundheits- und Gefahrenschutz Jugendlicher wurde mit der Verschlechterung des Jugendarbeitsschutzes abgebaut. Der Kündigungsschutz wurde durch die beinahe schrankenlose Zulassung befristeter Arbeitsverhältnisse beseitigt. Selbst der besondere Kündigungsschutz der schwangeren, Behinderten und Wehrdienstleistenden ist damit ausgehebelt. Dieses Entlassungserleichterungsgesetz nennen Sie dann fälschlicherweise noch „Beschäftigungsförderungsgesetz".
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16349
KirschnerMit der Änderung des Streikrechtsparagraphen 116 des Arbeitsförderungsgesetzes, mit dem Sie die Gewerkschaften zu knebeln versuchen, sind Sie in Ihrem arbeitnehmerfeindlichen Kurs konsequent fortgeschritten. Sie sind sich treu geblieben. Dies muß ich Ihnen allerdings bestätigen.Das ist noch nicht alles. Sie wollen das Schwerbehindertengesetz verschlechtern, Sie wollen die Minderheitenregelungen in der Betriebsverfassung durchsetzen, um alle möglichen Splittergruppen künstlich aufzuwerten. Sie wollen letzten Endes der Einheitsgewerkschaft den Boden entziehen.
Wenn Sie schon der Meinung sind, Herr Bundesarbeitsminister, daß Ihnen der Arbeitnehmerschutz zu weit geht oder daß das Arbeitslosengeld zu hoch ist, dann sagen Sie dies bitte auch in aller Deutlichkeit, und verstecken Sie sich nicht hinter irreführenden Begriffen.Als neue Meßlatte führen Sie neuerdings immer die Zahl der Beschäftigten an. Ist das Ihr neuer Maßstab, um von der Arbeitlosigkeit abzulenken? Tatsache ist: 1985 lag die Zahl der abhängig Beschäftigten noch um 199 000 niedriger als zum Tiefstpunkt der Rezession 1982.Die Zahl der Arbeitsstunden — auch das ist ein Barometer — war 1985 um 1 Milliarde niedriger als 1982.
Ich wiederhole es: Von der Wende bis heute ist die Zahl der Arbeitslosen um 628 000 gestiegen. Hätten die Gewerkschaften nicht die 38,5-StundenWoche erstreikt, deren Nettoarbeitsgewinn von Professor Mertens, einem Mitglied des Sachverständigenrats der Bundesregierung, auf rund 80 000 Arbeitskräfte beziffert wird, sähe es in Ihrer Arbeitslosenstatistik noch wesentlich schlechter aus.
Da auch Ihnen die tatsächliche Lage auf dem Arbeitsmarkt nicht gefallen kann — nicht wegen des Schicksals der Betroffenen, denn sonst würden Sie anders handeln, sondern weil Ihnen, wie man gesehen hat, Wähler davonlaufen —, manipulieren Sie die Statistik, z. B. bei der Feststellung der Langzeitarbeitslosigkeit. Mit der Änderung der Erfassung der Dauerarbeitslosigkeit wird das wahre Ausmaß in unverantwortlicher Weise verschleiert. Die durchschnittliche Dauer wird künstlich um einen Monat verringert. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen wird um 80 000 bis 90 000 heruntergedrückt. Kurzfristige Unterbrechungen der Arbeitslosigkeit von mehr als drei Tagen oder z. B. wegen Wehrübungen oder wegen der Teilnahme an Kurzlehrgängen führen jetzt zu einer automatischen Beendigung der Arbeitslosigkeit. Nachfolgende Arbeitslosigkeitsperioden werden nicht mehr als Fortsetzung der Langzeitarbeitslosigkeit ausgewiesen. Das ist ein statistischer Trick, eine durchsichtige Manipulation und nichts anderes.
Auch nach der neuen, geschönten Berechnung waren zum Zeitpunkt der letzten Strukturuntersuchung der Bundesanstalt für Arbeit im Jahre 1985 31 % der Arbeitslosen länger als ein Jahr arbeitslos gemeldet. 1981 waren es gerade erst 13 %.
Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, nötigen die älteren Arbeitslosen, sich aus der Statistik herausmanipulieren zu lassen. So wurde Ende letzten Jahres die Arbeitslosenstatistik um 18 000 Fälle „bereinigt". Jetzt dürften es bereits 30 000 sein.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, Platz zu nehmen und die Gespräche einzustellen. Das gilt für alle Mitglieder dieses Hauses. — Herr Abgeordneter, ich unterbreche so lange, bis die Damen und Herren Platz genommen haben. — Bitte fahren Sie mit Ihren Ausführungen fort.
Die betroffenen älteren Arbeitslosen mit 58 Jahren wissen oft nicht, auf was sie sich da einlassen, wenn sie vorzeitig einen Rentenantrag stellen, nämlich daß sie dann künftig Rentenabschläge hinnehmen müssen. In dem Merkblatt der Bundesanstalt war davon mit keinem Wort die Rede.Mit diesem statistischen Trick wollen Sie die Arbeitslosenquote älterer Arbeitnehmer, nämlich derjenigen von 55 bis 59 Jahren, künstlich drücken. Diese Arbeitslosenquote ist j a auch von 1981 bis 1985 von 6,6 auf 11,7 % angestiegen. Herr Bundesarbeitsminister, wenn Sie ein vernünftiges Vorruhestandsgeldgesetz vorgelegt hätten, so wie wir einen Gesetzentwurf eingebracht haben, wären Sie nicht auf den Gedanken der Statistikmanipulation verfallen.
Tatsächlich macht nur ein Bruchteil der von Ihnen großmundig angekündigten 600 000 bisher davon Gebrauch.
Herr Kollege Kolb, lesen Sie doch mal die Broschüre des Herrn Bundesarbeitsministers nach! Hier wird doch von 600 000 geredet. In der Zwischenzeit sind es gerade 25 000, die davon Gebrauch machen. Das sind die von Bangemann nachweisbaren statistischen Erfolge, die er hier vorher so großartig verkündet hat.Auch beim Thema Jugendarbeitslosigkeit reden Sie an dem Problem vorbei. 570 000 Jugendliche und junge Arbeitnehmer sind gegenwärtig arbeitslos gemeldet. Das sind rund 180 000 mehr als vor vier Jahren. Immer mehr Jugendliche — und auch dazu haben Sie kein Wort gesagt, Herr Bundesarbeitsminister — werden nach der Ausbildung nicht übernommen. Die zweite Hürde nach der Ausbildung, um in die Beschäftigung zu kommen, wird immer schwieriger.Ich hätte von Ihnen auch gern ein Wort zum Thema Fachkräftelücke gehört. Denn dieses ist ja nicht so, wie es von der Wirtschaft teilweise dargestellt wird. In den letzten vier Jahren ist der Anteil
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Kirschnerder qualifizierten Arbeitnehmer unter den Arbeitslosen von 37 auf 41,1 % gestiegen. Hier kann man nicht von Fachkräftemangel reden, sondern es wurde teilweise in falschen Berufen oder in bestimmten Bereichen falsch ausgebildet.Lassen Sie mich noch etwas zur durchschnittlichen Dauer der Arbeitslosigkeit sagen. Diese lag 1983 bei 9,2 Monaten, 1984 bei 10,5 Monaten und 1985 bei 11,6 Monaten. Die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter — dazu haben Sie kein Wort gesagt — ist von 1984 auf 1985 von 17,9 auf 20,2 Monate angestiegen. Herr Bundesarbeitsminister, das sind Ihre angeblichen Erfolge.Von den 2 448 000 Arbeitslosen, die gegenwärtig gemeldet sind, erhalten 791 000 überhaupt keine Leistungen, weder Arbeitslosengeld noch Arbeitslosenhilfe. Sie haben die Kosten der Arbeitslosigkeit von der Bundesanstalt für Arbeit und vom Bund, was die Arbeitslosenhilfe angeht, auf die Städte und Gemeinden als Träger der Sozialhilfe abgewälzt.
350 000 Arbeitslose sind in der Zwischenzeit zu Sozialhilfeempfängern geworden, wofür die Gemeinden im vergangenen Jahr mehr als 2,25 Milliarden DM aufwenden mußten, die ihnen andererseits für Investitionen, für arbeitsplatzschaffende Maßnahmen fehlen.1982, Herr Bundesarbeitsminister, lag das durchschnittliche monatliche Arbeitslosengeld noch bei 975,13 DM. Ihr Erfolg ist es, daß es im Jahre 1985 nur noch bei 951,20 DM liegt.
— Bestimmt, Sie können doch die Statistik nachlesen. Anderenfalls würde ich Ihnen sagen, Sie können nicht lesen. — Sie haben zwar den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung geringfügig gesenkt — der Beitrag der Beschäftigten sank dadurch um durchschnittlich sage und schreibe 1,68 DM monatlich —, anstatt die unsozialen Leistungskürzungen beim Arbeitslosengeld und bei der Arbeitslosenhilfe zurückzunehmen.Im übrigen, da es wieder einmal keine Kostendämpfung im Gesundheitswesen gegeben hat, haben die Krankenversicherungen ein Vielfaches der Beitragssatzsenkung in der Arbeitslosenversicherung als eigene Beitragsanhebung abfordern müssen. Auch dies muß hier an dieser Stelle gesagt werden.Meine Damen und Herren von der Koalition, Ihr rosaroter realitätsferner Arbeitsmarktoptimismus ist nicht neu. Am 3. Mai 1983 erklärte Geißler in der „Bild"-Zeitung: „In zwei Jahren eine Million Arbeitslose weniger". Und am 5. Juni 1983 konnte man im „Express" nachlesen: „Stingl und Blüm optimistisch, 1985 eine Million Arbeitslose". Heute wollen Sie nicht mehr daran erinnert werden, daß Sie mit Ihren Prognosen nicht nur haarscharf, sondern völlig daneben lagen.
Im letzten Jahr hat der niedersächsische Ministerpräsident Albrecht seiner Erwartung Ausdruck verliehen, die Arbeitslosigkeit werde bis 1990 überwunden sein. Aus der FDP war Anfang dieses Jahres zu hören, bis 1990 werde die Arbeitslosenzahl unter 1,5 Millionen sinken. Dies sind alles Märchen, wenn Sie mit Ihrer Politik so weitermachen wie bisher.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich feststellen: Ein Abbau der Arbeitslosigkeit ist möglich. Dies hat die Regierung Schmidt von 1976 bis 1981 eindrucksvoll demonstriert.
— Sie können hier lachen, lesen Sie lieber die Zahlen des Statistischen Bundesamtes nach. Dann werden Sie feststellen, daß in dieser Zeit die Zahl der Erwerbstätigen um 1,2 Millionen angestiegen ist, im Gegensatz zu Ihrer Regierungszeit. Daß man die Massenarbeitslosigkeit nicht durch Nichtstun aussitzen kann, haben Sie bewiesen. Trotz konjunktureller Erholung hat die Massenarbeitslosigkeit nicht ab-, sondern zugenommen. Sie haben die Chancen zum Abbau der Massenarbeitslosigkeit verspielt und vertan.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf der Drucksache 10/5389. Wer diesem Entschließungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Entschließungsantrag ist angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:Namentliche Abstimmung zum Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN zur Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Laufs, Fellner, Clemens, Schmidbauer, Dolata, Dr. Lippold, Dr. Blank, Dr. Blens, Broll, Kalisch, Krey, Dr. Warrikoff, Dr. Olderog, Weirich, Weiß, Gerlach , Regenspurger, Austermann, Biehle, Boroffka, Frau Dempwolf, Engelsberger, Dr. Faltlhauser, Gerstein, Glos, Dr. Hoffacker, Hinrichs, Hinsken, Höffkes, Frau Hoffmann (Soltau), Dr. Jobst, Jagoda, Jung (Lörrach), Dr. Kunz (Weiden), Keller, Kraus, Lenzer, Dr. Miltner, Marschewski, Dr. Möller, Dr. Riedl (München), Frau Rönsch, Reddemann, Frau Roitzsch (Quickborn), Roth (Gießen), Schneider (Idar-Oberstein), Freiherr von Schorlemer, Schulhoff, Schulze (Berlin), Seesing und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Baum, Grünbeck, Dr. Hirsch, Beckmann, Kleinert (Hannover), Dr. Feldmann, Dr. Rumpf, Frau Seiler-Albring, Wolfgramm (Göttingen) und der Fraktion der FDPWasserversorgung— Drucksache 10/5353 —
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Präsident Dr. JenningerWir kommen zur Abstimmung. Das Verfahren ist Ihnen bekannt. Ich eröffne die namentliche Abstimmung.Ich bitte die Damen und Herren Schriftführer, ihre Plätze einzunehmen.Meine Damen und Herren, ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat?Meine Damen und Herren, darf ich noch mal die Frage stellen: Ist ein Mitglied im Haus, das seine Stimme nicht abgegeben hat? — Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.Meine Damen und Herren, es ist interfraktionell vereinbart worden, daß wir die Auszählung nicht abwarten, sondern das Ergebnis*) zu einem späteren Zeitpunkt entgegennehmen und jetzt die Beratungen fortsetzen.Heute morgen ist beschlossen worden, noch eine Beratung auf die Tagesordnung zu setzen. Es ist vorgesehen, sie jetzt zu beginnen. Die Beratung soll 60 Minuten dauern. Nach dieser Beratung, also um 13.45 Uhr, soll die Mittagspause beginnen.Ich rufe die Zusatzpunkte 7, 8 und 9 auf:7. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Militärischen Abschirmdienst
— Drucksache 10/5342 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß RechtsausschußVerteidigungsausschußHaushaltsausschuß8. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesdatenschutzgesetzes, des Verwaltungsverfahrensgesetzes, des Bundesverfassungsschutzgesetzes und des Straßenverkehrsgesetzes— Drucksache 10/5343 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß
RechtsausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für VerkehrAusschuß für das Post- und Fernmeldewesen Ausschuß für Forschung und TechnologieAusschuß für Bildung und Wissenschaft Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO9. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die informationelle Zusammenarbeit der Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Staats- und Verfassungsschutzes und*) Ergebnis Seite 16364 B nachrichtendienstlicher Tätigkeit
— Drucksache 10/5344 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß RechtsausschußHaushaltsausschußWie heute morgen beschlossen, ist eine gemeinsame Beratung der soeben genannten Vorlagen und eine Aussprache von 60 Minuten vorgesehen.Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.Ich eröffne die allgemeine Aussprache und erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister des Innern Herrn Spranger.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das heute zu behandelnde Gesetzespaket zur Verbesserung des allgemeinen und bereichsspezifischen Datenschutzes im Sicherheitsbereich wurde mit einer Ausnahme wortgleich bereits im Januar dieses Jahres hier beraten. Ich kann mit Befriedigung feststellen, daß der Bundesrat die von der Bundesregierung vorgelegten drei Entwürfe in seiner Sitzung vom 14. März mehrheitlich begrüßt und lediglich zu Detailfragen Änderungs- und Prüfungsanregungen gegeben hat. Dies zeigt, daß die Länder den vom Bund eingeschlagenen Kurs in der Datenschutzgesetzgebung mehrheitlich befürworten und mittragen.Teilweise wird behauptet, die neuen Datenschutzgesetze würden die Bürger zum gläsernen Menschen machen, in den Überwachungsstaat führen
und ein Dolchstoß gegen die Verfassung sein. Das ist schlichtweg falsch, Herr Ströbele. Wer die Entwürfe ohne derartige Phrasendrescherei ideologisch unvoreingenommen prüft, wozu Sie wohl nicht in der Lage sind,
wird feststellen, daß die Neuregelungen in rechtsstaatlich einwandfreier Weise
die Konsequenzen aus dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichtes ziehen und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung verwirklichen. Sie präzisieren dieses Recht, beachten insbesondere die sogenannte Zweckbindung für personenbezogene Informationen, definieren Ausnahmen von dieser Zweckbindung und sehen gemäß den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes organisatorische und verfahrensmäßige Vorkehrungen für den Schutz personenbezogener Informationen vor.Die für die Arbeit der Nachrichtendienste des Bundes besonders bedeutsamen Gesetze, nämlich das Bundesverfassungsschutzgesetz, das MAD-Gesetz und das Zusammenarbeitsgesetz, bringen die Rechte des Bürgers auf informationelle Selbstbestimmung und auf Schutz durch den Staat entspre-
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Parl. Staatssekretär Sprangerchend den Forderungen des Bundesverfassungsgerichtes so in Einklang, daß beide Rechte mit größtmöglicher Effektivität zur Geltung kommen. Zu diesem Zweck schaffen die Entwürfe in Teilbereichen erstmals überhaupt Rechtsgrundlagen und schränken die Befugnisse der Nachrichtendienste gegenüber den bisher zu einem guten Teil nur in unveröffentlichten Verwaltungsvorschriften enthaltenen Regelungen erheblich ein.
Ich darf dies am Zusammenarbeitsgesetz verdeutlichen. Die informationelle Zusammenarbeit von Nachrichtendiensten, Polizeien und Staatsanwaltschaften beruht bislang auf einer nicht veröffentlichten Verwaltungsrichtlinie von 1970, in der die gesamten Fragen des Informationsaustausches zwischen diesen Behörden in wenigen Bestimmungen generalklauselartig geregelt sind. Demgegenüber enthält das geplante Zusammenarbeitsgesetz eine Fülle von datenschutzfreundlichen Regelungen, die gravierende Einschränkungen der bisherigen Informationspraxis mit sich bringen. So werden im einzelnen die Zulässigkeitsvoraussetzungen für den Austausch personenbezogener Informationen zwischen den Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden gesetzlich festgeschrieben. Die Übermittlung personenbezogener Informationen ohne Ersuchen wird auf die Bereiche Terrorismus und Spionagebekämpfung begrenzt. Gegenüber der Parlamentarischen Kontrollkommission wird eine spezielle Unterrichtungspflicht eingeführt. Die Informationsübermittlung von den Grenzpolizeibehörden an die Nachrichtendienste wird in besonderen Vorschriften detailliert geregelt. Die Pflicht, alle Auskunftsersuchen der Nachrichtendienste in einem gesonderten Verzeichnis zu dokumentieren, schneidet Informationswildwuchs ab und dient der Kontrolle durch die Aufsichtsinstanzen. Diese Aufzählung ließe sich fortsetzen.Wenn, wie das in der Vergangenheit geschehen ist, behauptet wird, das Zusammenarbeitsgesetz hebe die Trennung zwischen Polizeien und Nachrichtendiensten auf und führe zu einer Supergeheimpolizei und zum Schnüffelstaat, dann zeigt das, wie polemisch und auf welche geradezu demagogische Weise die Datenschutzdiskussion geführt wird.
Ich kann klar feststellen: Polizeien und Nachrichtendienste bleiben getrennte Institutionen.
Die Gesetzentwürfe ändern hieran nichts.
Der von mancher Seite geforderte Schutz vor Entdeckung von Rechtsbrechern und von Leuten, die unseren freiheitlich verfaßten Staat beseitigen wollen, durch informationelle Trennung dieser Behörden findet allerdings auch nicht statt.
Wir haben es mit einem seriösen, rechtsstaatlich einwandfreien Gesetzesvorhaben zu tun und nicht mit dem Popanz, den manche Leute mit grellen Farben aufgemalt haben.
Ich bitte darum, daß die Ausschüsse des Bundestages den Entwurf gewissenhaft prüfen und mit kühlen Köpfen beraten. Es gilt, sorgfältige Arbeit zu leisten, die unseren Bürgern mehr nützen wird als hitzige Polemik und Demagogie.
Die Regelungsbereiche von Zusammenarbeitsgesetz, MAD-Gesetz und Artikel-Gesetz sind formell und materiell aufeinander abgestimmt. Um keine Regelungsdiskrepanz entstehen zu lassen, ist eine zeitgleiche Behandlung aller drei Entwürfe notwendig. Ein Abkoppeln einzelner Gesetze aus dem vorliegenden Gesamtpaket kann ich nicht akzeptieren.
Denjenigen, die die Datenschutzgesetze kritisierend ablehnen, sollte bewußt werden, daß das Persönlichkeitsrecht des einzelnen und die Sicherheitsinteressen, die gleichfalls dem Schutz des Bürgers dienen, in einem Spannungsverhältnis stehen. Daher müssen zahlreiche Vorschriften der Gesetzentwürfe zwangsläufig Kompromißcharakter haben. Das bedeutet zugleich, daß die Entwürfe weder die Anforderungen und Vorstellungen der Sicherheitsbehörden noch die der Datenschützer voll zufriedenstellen können.Die Bundesregierung ist strikt dafür, daß dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung Rechnung getragen wird. Das kann und darf allerdings nicht bedeuten, daß Datenschutz auf Kosten der Sicherheit des Bürgers betrieben wird.
Konkret bedeutet das: Wir müssen eine Lösung wählen, die einerseits für den Bürger so viel Datenschutz wie möglich und andererseits so viel Sicherheit wie nötig bringt. Das von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzespaket erfüllt diese Voraussetzungen.Die Regierungsentwürfe stärken den Datenschutz und tragen gleichermaßen zur Bewahrung der inneren Sicherheit bei. Nicht nur der Datenschutz, sondern auch die innere Sicherheit sollte uns allen zentrales Anliegen sein. Die innere Sicherheit ist Grundlage für ein demokratisches Leben in Freiheit. Sie allein erhält dem Bürger die Möglichkeit, alle durch unsere Verfassung gesicherten Freiheitsrechte, also auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, auszuüben, sich frei zu entfalten und sein Leben im Rahmen der geltenden Rechtsordnung nach eigenem Willen und nach eigener Entscheidung zu gestalten. Die Regierungsentwürfe sichern nicht nur das Recht des Bürgers auf informationelle Selbstbestimmung, sondern auch die Pflicht des Staates, seine eigene Integrität und seine Bürger vor Rechtsbrechern, Extremisten und Terroristen zu schützen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16353
Das Wort hat der Abgeordnete Schäfer .
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Spätestens die heutige Debatte und die koalitionsinternen Auseinandersetzungen im Vorfeld dieser Debatte, die auch öffentlich ausgetragen wurden, zeigen: Die Regierung Kohl steht vor einem Scherbenhaufen in der Innenpolitik.
Dieser Scherbenhaufen, meine Damen und Herren, ist selbstverschuldet. Ein schwacher Innenminister und die wechselseitige Blockade von CDU/CSU und FDP führen zur innenpolitischen Handlungsunfähigkeit. Auch die Elefantenrunden von Kohl, Strauß und Bangemann haben in ihrer Ergebnislosigkeit diese Handlungsunfähigkeit letztlich nur unterstrichen.Meine Damen und Herren, was die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag heute vorlegt, ist eine einzige Zumutung,
eine Zumutung sowohl für die Sicherheitsbehörden wie für die Bürger und ihre Freiheitsrechte. Statt Sicherheit zu schaffen, bringen diese Gesetzentwürfe nur Unsicherheit, Unsicherheit für die Sicherheitsbehörden, weil es an klaren, klar erkennbaren und eingegrenzten Vorgaben fehlt, Unsicherheit aber auch für die Bürger, weil ihnen nunmehr eine weitgehende Überwachung durch den Staat droht.
Das notwendige Vertrauensverhältnis zwischen dem Staat, dem Organ der inneren Sicherheit, und den Bürgern wird durch dieses Gesetzespaket zerstört.
Meine Damen und Herren, es müßte auch Sie von der CDU/CSU-Fraktion nachdenklich stimmen, wenn selbst fachkundige Mitglieder Ihrer Fraktion, Ihrer Partei vor der Verabschiedung der sogenannten Sicherheitsgesetze warnen. So spricht beispielsweise der Berliner Staatsrechtler Professor Schwan, CDU-Mitglied, davon — ich zitiere —:Die Gesetzentwürfe der Bundesregierung würden das Ende der Bundesrepublik als liberalen Rechtsstaat bedeuten.Schwan, CDU-Mitglied, führt in einem heute veröffentlichten Interview auf die Frage „Wird die freiheitlich-demokratische Grundordnung ernsthaft durch die Sicherheitsgesetze bedroht?" weiter aus — ich zitiere —:Bei den vorliegenden Gesetzentwürfen ist dies zweifellos der Fall. Dies— so das CDU-Mitglied —ist das Neue, daß uns diesmal die Extremisten und objektiv die Verfassungsfeinde im Gesetzgebungsverfahren begegnen.Selbst wer dem Sprachgebrauch des CDU-Mitgliedes nicht folgen will,
muß festhalten: Nicht nur das Zusammenarbeitsgesetz, Herr Kollege Hirsch, Herr Kollege Baum, auch das Verfassungsschutzgesetz und das MAD-Gesetz gefährden den Rechtsstaat. Sie sind nach unserer Auffassung — und wir stehen damit nicht allein — in der vorgelegten Form schlicht verfassungswidrig.
Die Handlungsunfähigkeit der Koalitionsfraktionen soll durch ein abgekartetes Spiel kaschiert werden. Die FDP beispielsweise, Herr. Kollege Baum, Herr Kollege Hirsch, will sich in ihrem Widerstand gegen das Zusammenarbeitsgesetz als Hüter der Verfassung aufspielen, im Widerstand gegen ein Gesetz, dem Ihre freidemokratischen Kabinettsmitglieder Bangemann, Kohl und Justizminister Engelhard ausdrücklich zugestimmt haben
— Bangemann, Genscher und Engelhard zugestimmt haben —, ein Gesetz, meine Damen und Herren, das in der Tat schlimm ist, weil es das verfassungskarätige Gebot der Trennung zwischen Polizei und Nachrichtendiensten faktisch aufhebt.
Die FDP will mit ihrem Widerstand gegen das ZAG darüber hinwegtäuschen, daß die Gesetzentwürfe zum Verfassungsschutzgesetz und zum MAD-Gesetz keinen Deut besser sind.Meine Damen und Herren, das Gegenteil der Position der FDP ist richtig: Verfassungsschutz- und MAD-Gesetz liefern erst die Grundlagen, Herr Hirsch, für das angeblich besonders schlimme Zusammenarbeitsgesetz. In einem gebe ich dem Parlamentarischen Staatssekretär Spranger recht: Man kann die vorgelegten Gesetzentwürfe in der Tat nur als eine Einheit betrachten. Man muß sie, aus unserer Sicht, als Einheit beraten und dann, wenn es tatsächlich zur Entscheidung kommen sollte, auch als Einheit verabschieden.
Die Koalition nämlich will ja offenkundig einen umfassenden Informations- und Datenaustausch bei allen Sicherheitsbehörden.
Gerade weil dies der Fall ist, muß man auch alle entsprechenden Gesetzentwürfe zusammen betrachten.
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Schäfer
Alle Erhebungsvorschriften müssen deshalb von vornherein unter dem Blickwinkel gesehen werden, daß die Daten später in einem ganz anderen Zusammenhang übermittelt werden sollen, als im einzelnen Gesetz, MAD-Gesetz oder Verfassungsschutzgesetz, geregelt wird.
Ich will, meine Damen und Herren, statt langer allgemeiner Worte an einem Beispiel deutlich machen, welche Gefahren sich für die Freiheitsrechte des Bürgers aus diesem Gesetzesbündel ergeben.
Dieses Beispiel hat den Vorteil, daß Sie es nachher entweder bestätigen oder, wenn Sie das schaffen sollten, widerlegen können.Nach dem Wehrpflichtgesetz, Herr Kollege Hirsch, muß jeder Wehrpflichtige die notwendigen Angaben bei einer Sicherheitsüberprüfung machen. Weigert er sich, wird er mit einem Bußgeld belegt. Es handelt sich bei diesen Angaben eindeutig um eine Zwangserhebung. Bei der Sicherheitsüberprüfung wird der Wehrpflichtige — ich halte dies für in Ordnung — auch nach einer Mitgliedschaft in einer verbotenen oder einer kriminellen Vereinigung befragt. Ich sage noch einmal: Ich halte diese Befragung für in Ordnung. Nun wird nach diesem Gesetz dem Wehrpflichtigen aber ausdrücklich Vertraulichkeit dieser Angaben zugesichert. Genau darauf muß er sich in einem Rechtsstaat verlassen können. Der Staat gibt ihm bei der Zwangserhebung von Daten die Zusage: Du kannst dich auf die Vertraulichkeit deiner Angaben verlassen. Genau diese Zusage wird aber nicht eingehalten, wie ein Blick auf das MAD-Gesetz, wie es von Ihnen vorgelegt wird, zeigt.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hirsch?
Schäfer [SPD]: Nein, ich will das Beispiel im Zusammenhang zu Ende führen. Dann gestatte ich dem Kollegen Hirsch gern eine Zwischenfrage.
Im MAD-Gesetzentwurf wird nämlich ausdrücklich nicht vorgeschrieben, daß die Angaben, die der Betroffene beispielsweise im Rahmen der Sicherheitsüberprüfung gemacht hat — bei Androhung eines Bußgeldes zwangsweise erhoben —, in irgendeiner Weise besonders zu behandeln und zu bearbeiten sind.
Diese Angaben stehen also dem Militärischen Abschirmdienst trotz Zusage der Vertraulichkeit bei der Erhebung bei der Sicherheitsüberprüfung zur freien Verfügung. Mehr noch, meine Damen und
Herren: Wenn es für den Verfassungsschutz von Bedeutung sein könnte,
muß der MAD diese Daten an den Verfassungsschutz weiterleiten. Das steht in § 3 des MAD-Gesetzentwurfes.
Nach den Bestimmungen des Zusammenarbeitsgesetzes muß der MAD die Daten unter bestimmten Voraussetzungen von sich aus an das Bundeskriminalamt, den Bundesgrenzschutz und an die Polizeien der Länder übermitteln.
Auf Ersuchen müssen derartige Informationen an alle Polizeibehörden stets übermittelt werden, wenn ein Staatsschutzdelikt gegeben ist. Die Polizei unterliegt bekanntlich dem Legalitätsprinzip und muß in solchen Fällen Strafverfahren einleiten.
Am Ende hat sich demnach der Betroffene unter Androhung von Bußgeld selbst bezichtigt und die eigene Strafverfolgung in Gang gesetzt.
CDU/CSU und wohl auch die FDP — das zeigen Ihre Zwischenrufe — sagen dazu: Na und, was soll denn daran schlimm sein? Unsere Antwort ist: Man muß sich in diesem Zusammenhang nicht einmal um das Volkszählungsurteil bemühen, wo die Zwangserhebung unter Selbstbezichtigung ausdrücklich untersagt ist, wo ohne Wenn und Aber steht, daß dies nicht zulässig ist, um festzustellen: Diese Bestimmungen, MAD-Gesetz, Verfassungsschutzgesetz, Zusammenarbeitsgesetz, brechen mit einem wichtigen Grundsatz unseres Rechtsstaats, der — meine Damen und Herren, das müßte Ihnen bekannt sein —, wie ein Blick in die Strafprozeßordnung zeigt, schon seit über 100 Jahren ein Pfeiler liberaler Rechtsstaatlichkeit ist, nämlich mit dem Grundsatz, nach dem sich kein Beschuldigter selbst bezichtigen muß.
Diesen Grundsatz hebeln Sie nunmehr auf dem Umweg über feingesponnene Gesetze, MAD-, Verfassungsschutzgesetz und ZAG, aus.
Darf ich Sie noch an Herrn Hirsch erinnern?
Einen Satz noch, Herr Kollege Hirsch.Dies war vielleicht von der CDU/CSU nicht anders zu erwarten. Für Sie von der FDP ist dieser Vorgang eher peinlich. Mit ihrem scheinbaren Widerstand gegen das mit den Stimmen Ihrer Kabinettsmitglieder zustande gekommenen Zusammen-
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Schäfer
arbeitsgesetz wollen Sie davon ablenken, daß MADGesetz und das Verfassungsschutzgesetz, unter rechtsstaatlichen Grundsätzen betrachtet, keinen Deut besser sind; auch diese Gesetze sind schlichtweg verfassungswidrig.
Jetzt, Kollege Hirsch, zu Ihrer Frage.
Verehrter Herr Kollege Schäfer, ich halte Ihr Beispiel zwar für falsch,
aber wenn es so ist, wie Sie sagten, warum haben Sie dann nicht die Beratung des KdV-Gesetzes in der vorigen Woche dazu benutzt, einen Antrag zu stellen, daß die Weitergabe bestimmter Daten beschränkt wird, wie wir es uns übrigens für die nächste Novellierung überlegt haben? Warum haben Sie nicht an der Stelle, wo man das gesetzlich regeln könnte, einen entsprechenden Antrag gestellt?
Das will ich gerne beantworten, lieber Kollege Hirsch. Unter Zusage der Vertraulichkeit — wir sind beim Wehrpflichtgesetz und nicht beim KdV-Gesetz — halte ich die Frage ja für berechtigt. Das habe ich ausdrücklich deutlich gemacht. Mit den jetzt — und das ist neu Herr Kollege Hirsch — von Ihnen vorgelegten Entwürfen für ein MAD-, ein Verfassungsschutz- und ein Zusammenarbeitsgesetz bricht der Staat die zugesagte Vertraulichkeit. Das ist nur ein Beispiel von vielen. Ihre Frage verstehe ich als Ablenkungsmanöver. Sie hat mit dem Wehrpflichtgesetz, dem MAD-Gesetz, dem Verfassungsschutzgesetz und dem Zusammenarbeitsgesetz unmittelbar nichts zu tun.
— Ich bin ja dankbar, wenn Sie das Beispiel dann entkräften können. Ich liefere Ihnen die einzelnen Bestimmungen der jeweiligen Gesetze nach
— Kollege Fellner, im Gegensatz zu Ihnen wäge ich meine Worte und bin bestrebt, das, was ich vor dem Plenum des Deutschen Bundestages und auch sonst ausführe, nicht als unbedachte Äußerung zurücknehmen zu müssen. Und hier geht es um mehr als nur um Effekthascherei und Pluspunkte. Hier geht es darum, ob wir der Tradition unseres Rechtsstaates verpflichtet sind und verpflichtet bleiben und auch in Zukunft bemüht sind, beides zu gewährleisten: innere Sicherheit und die Freiheitsrechte des Staates.
Und ich sage: Mit Ihrem Gesetzesbündel — und nur so verstehe ich ja den hinhaltenden Widerstand der FDP gegen ein einziges Gesetz, gegen das ZAG
— gefährden Sie das notwendige, für einen Rechtsstaat unverzichtbare Vertrauensverhältnis zwischen dem Bürger und den Organen der inneren Sicherheit. Sie verändern mit diesem Gesetz den
Geist und die Tatsächlichkeit unseres Rechtsstaats.
Deswegen werden wir den von Ihnen vorgegebenen Weg nicht mitgehen können.
Herr Kollege Hirsch, ich wäre dankbar, wenn Sie mit dem gleichen Widerstand, mit dem Sie gegen das ZAG in der Öffentlichkeit argumentieren
— das werden wir spätestens am kommenden Montag hören —, die entsprechenden Passagen des MAD-Gesetzes und des Verfassungsschutzgesetzes, die mindestens genauso schlimm sind, bekämpfen würden, wie Sie — füge ich hinzu — scheinbar oder anscheinend — das wird sich noch zeigen — taktischen Hinhaltewiderstand gegen das ZAG mit dem Hinweis geleistet haben, um Schlimmeres zu verhindern, müsse man weniger Schlimmes in Kauf nehmen.
Wir Sozialdemokraten werden diesen Weg nicht mitgehen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Blens.
— Das ist auch nicht geschehen.
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Die Gesetze, um die es heute geht, auch das Zusammenarbeitsgesetz, sind umstritten. Wer es noch nicht gewußt hat, weiß es jetzt nach der Rede des Herrn Schäfer.Aber eines, Herr Schäfer, ist unter denen, die sachverständig sind, nicht umstritten, nämlich daß Informationsaustausch zwischen der Polizei und der Staatsanwaltschaft auf der einen Seite und den Sicherheitsdiensten auf der anderen Seite unerläßlich ist.
Ich zitiere sozialdemokratische Innenminister der Länder aus der Bundesratssitzung am 14. März 1986. Der Innensenator Kröning aus Bremen, hat gesagt:Wir erkennen an, daß es Informationsbeziehungen zwischen den Polizeien und Staatsanwaltschaften einerseits und den Nachrichtendiensten andererseits geben muß und daß diese Beziehungen gesetzlich zu regeln sind.
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Dr. BlensDer sozialdemokratische Innenminister Schnoor von Nordrhein-Westfalen hat bei derselben Veranstaltung gesagt:Ich bestreite nicht die grundsätzliche Notwendigkeit eines Informationsaustauschs zwischen Polizei und Nachrichtendienst.
In der Tat, die Notwendigkeit des Informationsaustauschs zwischen Polizei, Staatsanwaltschaften und Sicherheitsdiensten kann vernünftigerweise von keinem, der auch nur einigermaßen sachverständig ist, bestritten werden. Der Staat würde seine elementare Schutzpflicht gegenüber seinen Bürgern verletzen, wenn etwa der Bundesnachrichtendienst Informationen über einen vom Ausland ausgehenden Terroranschlag gegen ein Kaufhaus oder eine Diskothek in einer Stadt der Bundesrepublik hätte und es ihm aus Gründen des Datenschutzes untersagt wäre, diese Informationen an die örtlich zuständige Polizei weiterzugeben,
um die Polizei dadurch in die Lage zu versetzen, den Anschlag zu verhindern, die Täter dingfest zu machen
und die Bevölkerung wirklich zu schützen.Im übrigen würde ein Verbot des Informationsaustausches zwischen Polizei und Sicherheitsdiensten
auch gegen die aus Art. 35 des Grundgesetzes folgende Pflicht aller Behörden des Bundes und der Länder zur gegenseitigen Amtshilfe verstoßen.
Diese verfassungsrechtliche Pflicht umfaßt auch die Pflicht zum Austausch von Informationen zwischen diesen Behörden. Amtshilfe im Sinne des Art. 35 des Grundgesetzes ist auch Informationshilfe.Aber — das ist unbestritten — diese Pflicht zur Informationshilfe ist nicht unbegrenzt. Sie steht in einem Spannungsverhältnis zu dem vom Bundesverfassungsgericht aus den Art. 1 und 2 des Grundgesetzes entwickelten Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, das nach dem Volkszählungsurteil des Gerichts die Befugnis des einzelnen gewährleistet, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und die Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen. Aber im Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts stehen auch diese Sätze — sie sollten nicht unterschlagen werden —:Dieses Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist nicht schrankenlos gewährleistet. Der einzelne hat nicht ein Recht im Sinne einer absoluten, uneingeschränkten Herrschaft überseine Daten. Grundsätzlich muß der einzelne Einschränkungen seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung im überwiegenden Allgemeininteresse hinnehmen.
Zu diesem überwiegenden Allgemeininteresse, meine Damen und Herren, gehört auch die öffentliche Sicherheit. Welchen Rang die öffentliche Sicherheit hat, hat das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung vom 1. August 1978 ausdrücklich festgestellt. Es heißt dort:Die Sicherheit des Staates als verfaßter Friedens- und Ordnungsmacht und die von ihm zu gewährleistende Sicherheit seiner Bevölkerung sind Verfassungswerte, die mit anderen in gleichem Rang stehen und unverzichtbar sind, weil die Institution Staat von ihnen die eigentliche und letzte Rechtfertigung herleitet.Es geht also bei der Abwägung von informationeller Selbstbestimmung einerseits und Sicherheit andererseits um die Abwägung gleichrangiger Verfassungswerte.Wenn man sich die öffentliche Sicherheit etwas näher ansieht, dann stellt man fest, daß es letztlich um die Abgrenzung von Freiheitswerten gegeneinander geht. Denn was ist Sicherheit anderes als die Freiheit der Bürger von der Bedrohung durch Kriminalität? Was ist Sicherheit anderes als die Freiheit der Bürger von der Gefährdung durch den Terrorismus? Was ist Sicherheit anderes als die Freiheit der Bürger von der Sorge um die Erhaltung unserer freiheitlichen demokratischen Staatsordnung? Sicherheit, meine Damen und Herren, ist nichts anderes als Schutz der Freiheit der Bürger.Jedem, der versucht, das Streben nach Sicherheit als freiheitsfeindlich zu diffamieren, sollte deutlich gesagt werden — ich tue das hier für meine Fraktion mit Nachdruck —: Für uns hat die Freiheit der Bürger von der Bedrohung durch Kriminalität und Terrorismus und der Schutz der freiheitlichen demokratischen Staatsordnung als Bedingung der Freiheit der Bürger einen hohen Rang. Wir wissen uns in diesem Punkt in Übereinstimmung mit der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung der Bundesrepublik.
Von dieser Bewertung der Sicherheit als Schutz der Freiheit der Bürger lassen wir uns leiten, wenn es bei der Beratung des hier anstehenden Zusammenarbeitsgesetzes darum geht, Datenschutz und Sicherheit im Einzelfall zum Ausgleich zu bringen.Der Regierungsentwurf findet im wesentlichen unsere Unterstützung.
Er gibt, wie es das Bundesverfassungsgericht verlangt, der bisherigen Praxis des Informationsaustausches zwischen Polizei, Staatsanwaltschaft und Sicherheitsdiensten eine gesetzliche Grundlage. Der Entwurf schränkt die bisherige Praxis des In-
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Dr. Blensformationsaustausches im Interesse des Datenschutzes ein.
Diese Einschränkungen sind so erheblich, daß sie im Bundesrat schon zu Kritik einiger Innenminister der Länder geführt haben. Herr Schäfer, es ist für mich unerfindlich, wie Sie hier eine .Gefahr an die Wand malen können, durch die Sicherheitsgesetze werde der Rechtsstaat bedroht. Ich frage Sie dann: Wieso besteht denn der Rechtsstaat noch? Denn was hier auf Grund eines Gesetzes zugelassen wird, ist weniger, als was bisher auf Grund von Richtlinien Praxis der Sicherheitsbehörden gewesen ist. Wenn Ihr Argument stimmte, müßten wir längst keinen Rehtsstaat und keine Demokratie in der Bundesrepublik mehr haben.
Meine Damen und Herren, die Gebote der Zweckbindung und der Verhältnismäßigkeit als Voraussetzungen der Datenübermittlung sind beachtet und ausreichend konkretisiert, soweit das möglich ist.
— Herr Ströbele, Sie würden diese Frage nicht gestellt haben, wenn Sie auch nur einen Blick in die Vorschriften des Gesetzes geworfen hätten.
Entgegen anderslautenden Behauptungen läßt der Informationsaustausch die organisatorische Trennung von Polizei und Nachrichtendiensten unberührt. Die Nachrichtendienste erhalten keine polizeilichen Befugnisse. Das ist im übrigen in § 1 Abs. 2 des Gesetzentwurfes ausdrücklich festgelegt.Meine Damen und Herren, zum Schluß noch einige Bemerungen zum Beratungsverfahren, das vor uns liegt. Wir wollen eine gründliche, wir wollen eine sachliche Beratung aller Gesetzentwürfe, auch des Gesetzentwurfes über die Zusammenarbeit. Wir werden Verbesserungsvorschläge ernsthaft prüfen; aber wir wissen auch, daß sachliche und ernsthafte Beratungen zu bestimmten Zeiten schwer möglich sind, und zu diesen Zeiten gehören die Zeiten des heißen Wahlkampfes. Deshalb hat nach meiner Überzeugung die Beratung dieses Gesetzes nur einen Sinn, wenn eine Verabschiedung vor Beginn des Wahlkampfes möglich ist. Sollte das nicht machbar sein,
dann stellt sich die Frage, ob die Verabschiedung der übrigen sogenannten Sicherheitsgesetze noch sinnvoll ist;
denn zwischen dem Zusammenarbeitsgesetz und den übrigen Sicherheitsgesetzen gibt es einen inneren, sachlichen Zusammenhang.
Dieser Zusammenhang ergibt sich zunächst aus dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts.
Dort wird ausdrücklich gesagt, daß es zur Feststellung der persönlichkeitsrechtlichen Bedeutung eines Datums der Kenntnis seines Verwendungszusammenhangs bedarf. Das Gericht sagt wörtlich:Erst wenn Klarheit darüber besteht, zu welchem Zweck Angaben verlangt werden und welche Verknüpfungs- und Verwendungsmöglichkeiten bestehen, läßt sich die Frage einer zulässigen Beschränkung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung beantworten.Das heißt konkret im Ergebnis: Die informationsrechtlichen Regelungen der übrigen Sicherheitsgesetze können erst dann abschließend rechtlich und verfassungsrechtlich beurteilt werden, wenn auf Grund des Zusammenarbeitsgesetzes feststeht, welche Verknüpfungs- und Verwendungsmöglichkeiten für die auf Grund der übrigen Gesetze gewonnenen Daten bestehen.Es gibt einen zweiten sachlichen Zusammenhang zwischen dem Zusammenarbeitsgesetz und den Spezialgesetzen für die einzelnen Dienste. Wenn Informationsaustausch zwischen Polizei und Staatsanwaltschaften einerseits und den Sicherheitsdiensten andererseits notwendig ist und wenn dieser Informationsaustausch einer gesetzlichen Grundlage bedarf, dann gibt es zwei Möglichkeiten, diese gesetzliche Grundlage zu schaffen. Entweder man regelt den Informationsaustausch in einem Querschnittsgesetz wie dem Zusammenarbeitsgesetz
oder regelt ihn gesondert in jedem einzelnen Spezialgesetz. Das sind die beiden Möglichkeiten. Das führt zu der Konsequenz: Kommt das Zusammenarbeitsgesetz als Querschnittsgesetz nicht, dann müssen die Spezialgesetze anders aussehen als die jetzt vorliegenden Gesetzentwürfe.
Dieser Zusammenhang macht es sinnvoll, zu fragen, ob eine Verabschiedung der Spezialgesetze richtig ist, wenn das Zusammenarbeitsgesetz nicht mehr rechtzeitig verabschiedet werden kann. Wir werden versuchen, die vorliegenden Entwürfe im Zusammenhang zu beraten und zu verabschieden, um dadurch dem Votum des Bundesverfassungsgerichts, dem Recht der Bürger auf angemessenen Schutz ihrer Daten und dem Recht der Bürger auf Freiheit von der Bedrohung durch Kriminalität und Terrorismus Rechnung zu tragen. Wir hoffen auf emotionslose, auf sachliche, auf ernsthafte Beratung.Herr Schäfer, Sie haben eben ein Beispiel genannt. Ich kann Ihnen jetzt nicht sagen, ob dieses Beispiel zutreffend ist.
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Dr. BlensAber eines kann ich Ihnen mit Sicherheit sagen: Wenn es zutreffend ist und Sie bringen dieses Beispiel während der Beratungen des Innenausschusses auf den Tisch, dann, kann ich Ihnen zusagen, ist eine Änderung der Entwürfe notwendig in diesem Punkt.
Aber, das sage ich Ihnen dazu, das setzt ernsthafte Beratungen voraus. Wir sind dazu bereit. Bringen Sie Ihre Vorschläge auf den Tisch. Wir werden ernsthaft darüber reden und entsprechend entscheiden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Ströbele.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Man könnte angesichts der Beteiligung hier im Saal den Eindruck haben, man wohnte einer Beerdigung bei, der Beerdigung eines allerdings sehr ungeliebten Geschöpfes.
Dieses ZAG-Zusammenarbeitsgesetz haben Sie ja nun doch noch eingebracht. In der Tat ein nur noch von wenigen, Herr Fellner, geliebtes Gesetz. Selbst der Kollege Hirsch tut alles, hier grundlos und beharrlich die Vaterschaft zu bestreiten.Ich glaube, das ist das erste Ergebnis der öffentlichen Aufmerksamkeit, der Diskussionen in der Bundesrepublik auf verschiedenen Veranstaltungen in der Öffentlichkeit und der ersten Quittung, die Sie durch den Wähler in Schleswig-Holstein bekommen haben, daß Sie nun plötzlich Rückzüge machen. Aber ich glaube noch nicht so ganz an den Beerdigungscharakter und daß das Ganze gegessen ist. Ich bin aus den Erfahrungen des letzten Sommers der Auffassung, daß uns im Juni, kurz vor der Sommerpause, hier vielleicht das doch wieder beschert wird, was Sie im letzten Sommer mit dem Demonstrationsrecht versucht haben. Nachdem keiner mehr davon sprach, war es plötzlich in veränderter Fassung auf der Tagesordnung und wurde in einer Woche durchgepeitscht. Sie haben dann mit einer gewissen Berechtigung auf die Beruhigung in den weiteren Ferienmonaten gehofft.Deshalb werden wir nicht aufhören, uns mit diesem Gesetz und mit diesem Gesetzespaket zu beschäftigen und in der Öffentlichkeit klarzumachen, um was es hier geht.
Ich bin jede Woche auf vielen Veranstaltungen, und dort werde ich vor allen Dingen von älteren Bürgern gefragt, weil das in der Diskussion immer wieder eine Rolle spielt: „Was hat eigentlich dieses Gesetz mit der Gestapo zu tun, mit unserer Vergangenheit, sind wir wieder auf dem Wege dorthin, sind wir vielleicht schon wieder soweit?" Ich sage da immer wieder: In dem ganzen Gesetzespaket kommt nichts von Folter vor. Wir werden nach Verabschiedung dieser Gesetze eine Gestapo im Sinne von 1933 bis 1945 sicher nicht haben.
Aber 1949 haben die Väter und die wenigen Mütter des Grundgesetzes mit ausdrücklicher Berufung auf die Erfahrungen mit der Gestapo versucht, zwei Sicherungen ins Grundgesetz einzubauen, daß so etwas nie wieder geschieht. Die Alliierten haben 1949 in ihrem Genehmigungsschreiben zum Grundgesetz, das Inhalt des Grundgesetzes geworden ist, ausdrücklich eine dieser Beschränkungen, dieser Sicherungen betont. Die erste Sicherung ist die föderalistische Struktur unserer Polizei, daß es also nicht wieder eine große Einheitspolizei gibt. Die zweite Sicherung besteht darin, daß in Zukunft, von 1949 an gesagt, in der Bundesrepublik Deutschland die Polizei, d. h. der Dienst, der exekutiv tätig ist, der in eine Wohnung eindringen darf, der verhaften darf, der den Knüppel gebrauchen darf, der die Pistole gebrauchen darf, von den Diensten streng getrennt sein soll, die mit nachrichtendienstlichen Mitteln arbeiten und die Bevölkerung beobachten.
Diese beiden Sicherungen reißen Sie mit diesem Zusammenarbeitsgesetz ein. Diese reißen Sie ein, auch wenn Sie auf § 1 hinweisen, nicht im organisatorischen, sondern im Wissensbereich, im Bereich der Information.
Sie schaffen faktisch eine einzige Sicherheitsbehörde im Bereich des Wissens. Das Wissen, das die Sicherheitsbehörden über viele Millionen von Bundesbürgern sammeln und erhalten, wird in einem Superhirn, in einer informationellen Superbehörde gepoolt. Dagegen wenden wir uns: gegen die Aufgabe wichtiger Grundrechte, gegen die Aufgabe des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, auf politische Betätigung usw.
Wie versuchen Sie das? Sie versuchen es, indem Sie einfach ein neues Grundrecht kreieren, ein Grundrecht, das überhaupt nicht im Grundgesetz steht, nämlich das Grundrecht der Sicherheit für jeden einzelnen Bürger.
— Herr Fellner, über dieses Grundrecht könnte man vielleicht noch reden. Sie sagen aber gleichzeitig: Die Verfügung über dieses Grundrecht der Sicherheit steht nicht jedem einzelnen Bürger zu —
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Ströbeleder ist gar nicht in der Lage, dieses Grundrecht wahrzunehmen —,
sondern der Staat zieht es praktisch an sich und verwaltet dieses Grundrecht für den Bürger.Indem Sie dieses Grundrecht vor alle anderen Grundrechte stellen, wollen Sie es möglich machen, daß wesentliche Grundrechte aus Art. 1 und 2 des Grundgesetzes dem Bürger in Zukunft vorenthalten und im Rahmen des Unsicherheitspakets, das hier vorgelegt wird, beseitigt werden.
Wir fragen uns: Was kommt auf uns zu, wenn diese Gesetze verabschiedet sind? Die Beispiele dafür, was auf uns zukommt, bekommen wir jede Woche im Geheimdienst-Untersuchungsausschuß. Heute nachmittag haben wir dazu wieder Gelegenheit. Es ist ja eine nicht ungeschickte Inszenierung, daß wir, während wir die Gesetze im Innenausschuß und im Plenum beraten, praktisch in derselben Woche in dem Geheimdienst-Untersuchungsausschuß die Beispiele dafür mitgeliefert bekommen, was da gemacht werden kann.
In diesem Untersuchungsausschuß — nicht nur dort, sondern auch im Innenausschuß — haben wir gelernt und mitbekommen, daß über 200 000 Bundesbürger allein in den Dateien der Abteilung III des Bundesamts für Verfassungsschutz, die für Linksextremismus zuständig ist, gespeichert sind. Wenn das Zusammenarbeitsgesetz verabschiedet wird, wird es auf Grund des Informationspools der Sicherheitsbehörden nicht bei 200 000 Bundesbürgern bleiben, sondern dann werden wir bald 2 Millionen und sehr viel mehr haben.
Wir können uns auch anschauen, warum Personen dort gespeichert werden. Ich will gar nicht das Beispiel bringen, das im Innenausschuß genannt wurde: daß der Vater nur deshalb gespeichert wird, weil er seinem Sohn einmal das Auto gepumpt hat, mit dem dieser zu einer Solidaritätsveranstaltung für Chile gefahren ist. Dieses Beispiel will ich hier gar nicht bemühen.
Es geht mehr um die Frage, wo Sie, Ihre Dienste und Ihr Herr Bloch, der Leiter der Abteilung III des Bundesamtes für Verfassungsschutz, den Extremismus ansiedeln. Es gibt das Beispiel, das inzwischen in der Öffentlichkeit bekannt ist, daß über eine Abgeordnete der GRÜNEN gemeldet, registriert, gespeichert ist und dann in die Öffentlichkeit lanciert wird, daß sie an einer Veranstaltung zu den Berufsverboten mitgewirkt hat, oder daß eine andere Abgeordnete sich für den Verband der Wehrdienstverweigerer engagiert hat. Das ist die Form von Extremismus, die Sie registrieren wollen, die Sie in Zukunft verhindern wollen.
Oder nehmen Sie — Herr Bloch hat zuletzt davon geredet — Jutta Ditfurth. Von Jutta Ditfurth wird behauptet, sie habe extremistische Äußerungen getan, weil sie dazu aufgerufen habe, dieses System zu überwinden, und zwar ausdrücklich auf einem Weg zwischen Reformen und Militanz. Das ist für Sie der Extremismus, den Sie bekämpfen wollen, den Sie registrieren wollen, den Sie beobachten, mit dem Sie umgehen und gegen den Sie diese Dienste einsetzen wollen und eingesetzt haben.
Für Sie geht es nicht darum, dem einzelnen Bürger mehr Sicherheit zu geben, sondern darum, diesen Ihren Staat vor dem Bürger zu schützen, vor der Unruhe durch den Bürger, vor den Fragen des Bürgers, vor der Bewegung des Bürgers, vor dem Anspruch des Bürgers auf mehr Freiheiten. Darum geht es Ihnen. Das ist genau das, was wir nicht mitmachen und was wir im Rahmen unserer Möglichkeiten zu verhindern versuchen werden.
Wir setzen einen Staat, eine Gesellschaftsordnung und, wenn Sie so wollen, auch eine Sicherheit dagegen, die dem Bürger die Sicherheit gibt, daß er sich auch Gedanken machen kann, die weiterreichen als das, was Sie hier im Bundestag diskutieren, die dazu führen, Ungerechtigkeiten in dieser Gesellschaft wirklich zu überwinden,
die dazu führen, eine ökologische Gesellschaft, eine wirtschaftlich gerechte Gesellschaft zu schaffen. Das ist notwendig eine Gesellschaft, die jenseits der Gesellschaft steht, die Sie mit diesen Gesetzen hier schützen und zwangsläufig erhalten wollen.
Wir versuchen, die Bürger in den Veranstaltungen, die vor uns liegen, dazu zu motivieren, das zu tun, was sie bereits in der Volkszählungsboykottkampagne 1983 getan und angekündigt haben, daß sie sich das nicht gefallen lassen, daß sie gegen Ihre Gesetze über den maschinenlesbaren Personalausweis, maschinenlesbare Ausweise und Schleppnetzfahndung aufstehen. Sie sollen in Form des zivilen Ungehorsams dagegen aufstehen, daß das Gesetz wird. Wenn es Gesetz geworden ist oder Gesetz werden sollte, sollen sie sich das nicht gefallen lassen und sich diesen Gesetzen nicht unterwerfen.
Deshalb werden wir — auch im Parlament und auch in den Ausschüssen — mit allen Mitteln gegen diese Gesetze kämpfen. Wir werden die Öffentlichkeit dagegen organisieren. Wir werden versuchen, ein Weiteres zu tun, nämlich Ihnen das Instrument
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Ströbelezu nehmen, das Sie zur Ausführung der Gesetze notwendig brauchen, nämlich das Bundesamt für Verfassungsschutz, den Geheimdienst. Deshalb werden wir uns dafür einsetzen, daß dieser Geheimdienst abgeschafft wird.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hirsch.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Was die Kollegen Schäfer und Ströbele gesagt haben, zwingt mich, etwas von dem abzugehen, was ich sagen wollte. Darum sage ich gleich zu Anfang den Journalisten: es gilt auch das geschriebene Wort.Sie machen es sich beide ja unglaublich einfach. Sie schüren Ängste und bringen — auch in den bisherigen Beratungen — nicht einen einzigen konkreten Vorschlag über die Datenverarbeitung.
Sie gehen über die Regelungen der Gesetze, die ja schon alle — mit Ausnahme des Zusammenarbeitsgesetzes — einmal gelesen worden sind, in der Frage der gesetzlichen Regelung der On-line-Anschlüsse, der verbesserten Auskunftsrechte, der Kontrollrechte hinweg.
— Ich rede jetzt von dem Verfassungsschutzgesetz und von dem Bundesdatenschutzgesetz, in dem wir für die Sicherheitsdienste verstärkte Auskunftsrechte vorgesehen haben, wo wir weiterhin vorgesehen haben, daß die Datenverarbeitung für Minderjährige beschränkt wird, wo wir vorgesehen haben, daß die Daten für Minderjährige unter 16 Jahren nicht mehr ins Ausland geliefert werden, wo wir vorgesehen haben, daß bei der Einrichtung der Dateien die Zustimmung des Ministers erfolgen muß, wo wir vorgesehen haben, daß für die On-line-Anschlüsse die Zustimmung des Ministeriums eingeholt werden muß.
All das gibt es zur Zeit nicht.Sie schüren Ängste, ohne gleichzeitig zu sagen, was wir als Vorlage über die Datenverarbeitung hier eingebracht haben. Herr Ströbele, Sie haben Beispiele gebracht, die wir gemeinsam bei der Beratung des Datenschutzberichtes behandelt und abgelehnt haben. Wo etwas in der Tat nicht in Ordnung gewesen ist, haben wir es abgestellt. Über all das gehen Sie hinweg.Wer sagt, hier werde ein Stahlnetz geworfen, der sollte sich einmal an dem Innenminister orientieren. Der Innenminister hat gesagt — da muß ich Sie berichtigen, Herr Kollege Spranger —, die Sicherheitslage verlangte nicht die Verabschiedung dieser Gesetze. Sie wird dadurch nicht etwa verändert. Es ist vollkommen richtig, daß man die Sicherheitslage von diesen Gesetzen unterscheiden muß. Wir werden keinesfalls von den Diensten oder der Polizei gedrängt, diese Gesetze zu verabschieden. Das ist ein deutliches Zeichen dafür, daß diese Schreckgemälde, die Sie vorbringen, nicht zutreffen.Was uns zwingt, diese Gesetze zu machen, das ist die enorme technische Entwicklung im Bereich der Datenverarbeitung, die die Ursache und der Anlaß des Volkszählungsurteils war. Wir wollen Rechtssicherheit schaffen, für den Bürger ebenso wie für die Dienste, die für uns arbeiten sollen und arbeiten müssen.Wir haben alle Gesetze mit Ausnahme des Zusammenarbeitsgesetzes hier behandelt. Für sie sind Anhörungen vorgesehen. Wir haben immer gesagt, nach der internen Vorbereitung muß eine offene parlamentarische, seriöse Behandlung erfolgen. Deswegen sind die Anhörungen vorgesehen. Wir sind bereit — wie Herr Blens es auch gesagt hat —, aus diesen Anhörungen Konsequenzen und Folgerungen zu ziehen. Nur so kann es gehen, nur so wird es sein.Nun muß ich Ihnen, Herr Kollege Spranger, zum Zusammenarbeitsgesetz sagen; es ist mit uns kein Paket verabredet worden, sondern wir sind der Überzeugung, daß verabschiedet werden kann und soll, was verabschiedungsreif ist, ein Schritt nach dem anderen. Ich kann nicht akzepieren, daß man die Frage meinetwegen der gesetzlichen Regelung des Bundesnachrichtendienstes verknüpft mit den Auskunftsrechten gegenüber Adressenhändlern. Das hat beides nichts miteinander zu tun. Eines steht im Zusammenarbeitsgesetz, das andere im Datenschutzgesetz. Wir wollen das schrittweise machen. Wer eine Verknüpfung nach dem Motto: alles oder nichts schaffen will, übernimmt eine schwere Verantwortung. Sie übernehmen dann die Verantwortung, daß wir in der Tat möglicherweise Gesetze zum Schutze der Privatsphäre bei der Datenverarbeitung im Sicherheitsbereich — und darum geht es —, also solche Gesetze, die auch Rechtssicherheit für die Dienste schaffen sollen, nicht zustande bekommen, was ich bedauern würde.Das Zusammenarbeitsgesetz selber birgt ja Probleme. Wir haben nicht umsonst in unserer Fraktion gesagt: hier muß die Bundesregierung die Initiative übernehmen, weil wir alleine nicht in der Lage sind, diese Probleme wirklich befriedigend zu lösen. Dazu gehört nämlich die Mitwirkung der Länder. Gegen einen Teil des Entwurfs haben wir Bedenken. Die Regelung der Spontanübermittlung, § 6, kann durchaus dazu mißbraucht werden, die einschränkenden Bestimmungen über Informationsermittlung auf Ersuchen zu umgehen. Die Vorstellung, daß Informationen vom BGS an den Bundesnachrichtendienst gehen können, kann zu einer Belastung der innerdeutschen Grenze führen, zu einem Sonderstatus dieser Grenze, den wir nicht wollen.Das schwierigste Problem liegt in dem ausdrücklichen oder stillschweigenden Sichüberschneiden von Tätigkeiten der Polizeien bei der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung mit der Tätigkeit der
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Dr. HirschNachrichtendienste. Diese Gefahr wird um so größer, je mehr die Länder bei Neuformulierung ihres Polizeirechts die Tätigkeit der Polizei außerordentlich weit in den Bereich der sogenannten vorbeugenden Gefahrenabwehr ausdehnen und damit im Bereich der Staatsschutzdelikte in der Tat zu einer inhaltlichen Überschneidung der Tätigkeiten der Polizei auf der einen Seite und der Dienste auf der anderen Seite kommen. Eine Vermischung beider Tätigkeiten kann von der Polizei nicht gewollt werden und wird von der Polizei selbst nicht gewollt. Wir halten die Vorstellung, die hier auch einmal erörtert worden ist, daß die Dienste z. B. der Polizei nicht nur an der Grenze, sondern auch im Inland Aufträge sollten erteilen können, für nicht akzeptabel.Wir müssen also exakt untersuchen, welche Gesetzgebungsvorhaben die Länder bei ihrem Polizeirecht haben. Beim Verfassungsschutzrecht bestreiten die Länder sogar, darüber untereinander zu verhandeln, wie sie ihr eigenes Recht dem Volkszählungsurteil anpassen wollen, da sie sagen, der Bund muß eine Vorreiterrolle übernehmen. Das Land Bayern geht im Bundesrat, Herr Kollege Fellner, sogar so weit, nicht einmal die Informationsbeziehungen zwischen der eigenen Polizei und dem eigenen Verfassungsschutz regeln zu wollen; das sollte der Bund tun. Ein völlig neues föderalistisches Gefühl für Bayern. Andere Bundesländer fragen, ob der Bund verfassungsrechtlich überhaupt zuständig ist, die Informationsbeziehungen zwischen einer Landespolizei auf der einen Seite und dem Verfassungsschutz eines anderes Landes zu regeln. Andere Bundesländer weisen darauf hin, daß eine sachgerechte Regelung nicht möglich ist, wenn man nicht weiß, welche Gesetzgebungsabsichten der Bund beim BGS-Gesetz, beim BKA-Gesetz, im Bereich der Strafverfolgung, bei der Strafprozeßordnung hat. Alles das kann man in den Protokollen des Bundestages nachlesen.Ich möchte einmal wissen, ob die Landtage tatsächlich abdanken wollen, ob sie tatsächlich damit einverstanden wären, wenn der Bundesgesetzgeber sie in ihrem ureigensten Bereich, nämlich im Polizeirecht und im Verfassungsschutzrecht, hoffnungslos überrollen und sie vor vollendete Tatsachen stellen wollte.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Entschuldigung, Herr Kollege. Jetzt nicht.
Ich kann nicht entscheiden, welche Informationen z. B. die Kreispolizeibehörde des Kreises Mettmann dem Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz und auf welchem Dienstweg geben muß, wenn ich nicht weiß, welche Informationen innerhalb des eigenen nordrhein-westfälischen Bundeslandes der dortige Landtag zulassen will. Das kann so nicht gehen. Und umgekehrt ist es natürlich ganz genauso.
Bitte schön.
Herr Kollege Hirsch, würden Sie mir in meiner Beurteilung recht geben, daß nicht nur die Art des Zustandekommens dieser Gesetze — ich will es ganz milde formulieren — Bedenken und Probleme im Bereich des Föderalismus aufwirft, sondern auch das Ergebnis des Zusammenarbeitsgesetzes, wo Anordnungen über die Zusammenarbeit der Länderpolizei mit den verschiedenen Bundesbehörden getroffen werden, die, soweit ich sehe, zwingende Anordnungen sind?
Beide Fragen muß ich verneinen. Zur ersten Frage: Der Bund macht eine Vorleistung. Die Koalitionsfraktionen machen eine Vorleistung, indem sie auf einem Gebiet, das wegen des notwendigen Schutzes der Persönlichkeitssphäre geregelt werden muß, Regelungen vorschlagen. Und welche dieser Regelungen sich bewähren und mit den Ländern in einer Form, über die ich gleich noch sprechen will, zustandekommen können, müssen die Beratungen und Anhörungen zeigen. Sie können das Problem nicht dadurch lösen, indem Sie sich platt auf den Teppich werfen und sagen: Es ist alles so schrecklich — wir machen gar nichts. Und das tun Sie j a bisher. Damit würden wir dem Bürger einen Bärendienst leisten.Es muß eine neue Form der Beratungen zwischen Bund und Ländern geben. Wir haben eine große Vorleistung gemacht, indem wir solche Entwürfe vorlegen und sie parlamentarisch behandeln. Die Länder haben zu meinem großen Bedauern am vorigen Wochenende sich auf ein Musterpolizeirecht nicht einigen können. Es gibt Alternativen. Ich denke, es wäre sinnvoll, daß diese Alternativen nun mit in eine öffentliche Erörterung einbezogen werden, weil zu einem Teil der Vorstellungen wirklich Bedenken bestehen. Und ich denke, daß der Bund auf der anderen Seite wegen des auch von Ihnen, Herr Dr. Blens, geschilderten inneren Zusammenhangs natürlich mal den ganzen Bauplan deutlich machen muß. Natürlich muß ein Referentenentwurf zur Strafprozeßordnung auf den Tisch — und ein Entwurf über BGS und BKA. Wenn wir die Zusammenarbeit gesetzlich regeln wollen, gehört das dazu.Aber die Folge kann nicht sein, daß nun ein Riesenpaket gemacht wird. Das wäre die Abdankung des Gesetzgebers. Die Folge kann nur sein, daß auf Grund eines solchen Bauplans, den wir sehen müssen, der Gesetzgeber entscheidet, was Schritt für Schritt machbar ist. Auch bei den Gesetzen, die uns hier im Bundestag vorliegen, sind Teile machbar: Warum nicht beim Datenschutzgesetz, bei Zevis? Es gibt andere Gesetze, die man in der Tat machen kann und wo wir entschlossen sind, so wie wir das miteinander besprochen haben, sie Schritt für Schritt zu verabschieden, was in dieser Legislaturperiode machbar ist. An dieser Entschlossenheit, die wir uns gegenseitig zugesagt haben, gibt es überhaupt keinen Zweifel. Wir halten daran fest und werden uns nach Kräften bemühen, in diesem Sinne diese Gesetze aus einem entscheidenden wichtigen Grund zu beraten: Weil wir die innere Liberalität unseres Staates durch die Schaffung von
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16362 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
Dr. HirschRechtssicherheit auch in diesem Bereich sichern, bewahren und erhalten wollen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Wernitz.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst eindeutig betonen, daß der Zusammenhang zwischen den verschiedenen hier angesprochenen Gesetzen von der Sache her besteht.
Wer dies bestreitet, schlägt die Argumentation gerade auch der Datenschutzbeauftragten — aber auch vieler anderer Sachverständiger — in den Wind.
— Das bestreite ich ja gar nicht. Das ist ein Beispiel. Das hätte in die StPO-Bereinigung insgesamt gehört.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, daß in der Debatte auch einiges vergessen wurde, und zwar in bezug auf Verfahren und Ergebnis, was Sie hier im Parlament präsentiert haben. Worum geht es? Sie haben sich zweieinviertel Jahre Zeit genommen, bis Sie die Entwürfe vorgelegt haben, und dann haben Sie dem Parlament und seinen Ausschüssen zugemutet, innerhalb weniger Monate dies alles über die Bühne zu ziehen.
Das Ergebnis dieser Beratungen über mehr als zwei Jahre ist keineswegs so überzeugend, wie Sie das hier immer wieder darstellen.
Die Anhörung zum Bundesdatenschutzgesetz hat mit der Diskussion dazu, den Fragen, den Antworten zehn Stunden gedauert. Dazu muß man eindeutig sagen: Was dort passiert ist, war zu einem großen Teil ein Verriß.
Von einem erheblichen Teil der Sachverständigen ist im Grundsatz Kritik geübt worden. Von fast allen Sachverständigen,
und zwar für den öffentlichen wie für den nichtöffentlichen Teil, ist Kritik an konkreten Einzelpunkten gebracht worden, mit der Folge, daß massiver zusätzlicher Beratungsbedarf besteht.
Das gleiche gilt auch für den Gesetzentwurf, den wir am nächsten Montag zur Anhörung auf der Tagesordnung haben, nämlich für den Verfassungsschutzgesetzentwurf. Auch hier haben wir schriftliche Stellungnahmen. Lesen Sie sich das durch. Auch da kommt erhebliche Kritik.
Nun habe ich hier gerne gehört, daß Sie, Herr Blens, auch Sie, Herr Hirsch, von offener Beratung gesprochen haben. Alles in Ordnung! Aber wenn ich mir das Verfahren ansehe, daß z. B. die Vorgaben Ihrer sogenannten Elefantenrunde in den Bundesrat herübergebracht wurden,
wo die A-Länder 90 Änderungsanträge gestellt hatten; Sie haben dies alles abgeblockt, innerhalb weniger Stunden mit 6:5 alles heruntergebügelt.
Kein gutes Zeichen für eine offene, sachbezogene Diskussion!
Ich muß hier eines auch einmal zum Ausdruck bringen. Mich erschreckt und verwundert, daß die Spitzenvertreter Ihrer Koalition so geredet haben, als ob sie von Sachkenntnis, wieviel Beratungszeit im Grundsatz und Detail erforderlich ist, aber auch nicht den Hauch einer Ahnung haben. Da ist schon sehr erschütternd und beklemmend.
— Ich sage Ihnen eines, Herr Hirsch. Wir haben im März 1984 unseren Entwurf zum Datenschutzgesetz vorgelegt. Wir werden die Beratungen und die Ergebnisse der Arbeit aufgreifen, die von den Ländern vorgelegt worden sind.
Sie haben dadurch, daß Sie zwei Jahre Zeit in Anspruch genommen haben, eben wertvolle Beratungszeit vertan.
Ein Jahr wäre in Ordnung gewesen! Aber zwei Jahre waren zu viel. Ich streite mich darüber gar nicht mit Ihnen. Wichtig ist aber, daß man daraus lernt.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16363
Dr. WernitzJetzt könnte man eine Mininovelle beim BDSG machen.
Für eine große Konzeption braucht man aber mehrere Jahre Zeit. Das ist eine praktische Erfahrung.
Das wissen Sie genauso gut wie ich.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Hirsch?
Gerne.
Herr Kollege Wernitz, wir haben den von Ihnen eben erwähnten Gesetzentwurf des Bundesdatenschutzgesetzes — nicht zum Verfassungsschutz, nur Bundesdatenschutzgesetz — im Juni vergangenen Jahres einer ganztägigen Anhörung unterworfen.
Was wir nun am Jahresanfang auf den Tisch gelegt haben, sind unsere Folgerungen aus der Anhörung, die wir gemeinsam im Juni vergangenen Jahres gemacht haben. Wo sind Ihre Folgerungen? Wo sind Ihre Folgerungen aus der Anhörung? Was haben Sie denn in dem Dreivierteljahr getan?
Ja, lieber Herr Hirsch, wir haben zunächst einmal unseren Datenschutzentwurf präsentiert. Nachdem Sie das angekündigt hatten und in Zusammenarbeit mit der Bundesregierung, auch wohl mit einem Teil der Länder im Hin und Her der Koalitionsfraktionen daran gearbeitet haben, haben wir zu den bereichsspezifischen Regelungen auf Ihre Papiere gewartet. Wir haben mit unseren Freunden in den Ländern dafür gesorgt, daß die notwendigen Verbesserungsvorschläge umgesetzt wurden. Auch das ist mit einem entsprechenden Entwurf gemacht worden, und den werden wir auch mit übernehmen.Aber um das alles geht es doch gar nicht.
Sie versuchen jetzt, sich in der Koalition wechselseitig die Schuld zuzuschieben.
daß es, weil Sie es nicht geschafft haben, so im Rest dieser Legislaturperiode nicht mehr geht. Das sind Übungen, wo sich der eine hinter dem anderen verstecken will. Das ist eine neue Dimension von Zivil- und Katastrophenschutz innerhalb der Koalition, wenn man das einmal so sagen darf.
Wie gesagt, die Bewertungen der Entwürfe, wie wir sie für die Anhörungen schriftlich vorliegen haben, sind so, daß Sie den Begriff der deutschen Wertarbeit dafür wahrlich nicht in Anspruch nehmen können. Das Schlimme ist, daß wir die Zeit, die wir für die Detailberatung, für die offene Beratung im Hin und Her, dringend benötigt hätten, weil insoweit das Volkszählungsurteil in der Tat Handlungsbedarf geschaffen hat, leider nicht mehr haben. Wir bräuchten sie dringend. Das kann in der verbleibenden Restzeit der Legislaturperiode nicht mehr geleistet werden.Wenn ich noch einmal kurz auf das ZAG eingehen darf: Wir haben ja heute die erste Lesung. Dieser Entwurf muß mit Sicherheit auch auf den Prüfstand der parlamentarisch-politischen Beratung in Form einer Anhörung.
Bitte, Sie alle, die Sie hier sitzen, kennen die Zeitlage. Soll das im Juni sein, soll das im September oder im Oktober sein? Der September ist mit Anhörungen bereits vollgestopft.Daraus ergibt sich, daß wir einerseits Regelungsbedarf haben. Andererseits aber — das steht fest — genügen die Entwürfe nicht den Anforderungen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts. Wir müssen also überlegen, wie man weiterkommt und welche Schlußfolgerungen man daraus für die nächste Legislaturperiode zieht.
Nach meinem Eindruck ist es so: Nur dann, wenn Sie das Parlament zu einem Windkanal umfunktionieren, ist das noch in der verbleibenden Restzeit machbar.
Mit den Entwürfen, so wie sie vorliegen, ist angesichts der in dem Urteil enthaltenen Maßstäbe, angesichts der Verfassung sowohl im Hinblick auf die Sicherheit als auch im Hinblick auf den Persönlichkeitsschutz im wahrsten Sinne des Wortes kein Staat zu machen.
Ziehen Sie die erforderlichen Konsequenzen. Sie sind mit diesem Projekt aus eigenem Verschulden gescheitert.
Die Verantwortung dafür müssen Sie innerhalb der Koalition und der Bundesregierung ausmachen. Alles andere führt in die Irre.Lernen wir alle miteinander daraus für die Erledigung der Aufgaben in der nächsten Legislaturperiode. Fangen Sie damit zuallererst an. Wir sind gerne mit von der Partie, wenn es um Verfassung, um Sicherheit und um das Recht auf informationelle Selbstbestimmung geht.Herzlichen Dank.
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16364 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
Es war mir nicht möglich, Herr Abgeordneter Mann, Ihren Wunsch vorzubringen.Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Es wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 10/5343 zu überweisen zur federführenden Beratung an den Innenausschuß und zur Mitberatung an den Rechtsausschuß, Ausschuß für Wirtschaft, Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, Ausschuß für Verkehr, Ausschuß für das Post- und Fernmeldewesen, Ausschuß für Forschung und Technologie, Ausschuß für Bildung und Wissenschaft sowie zur Mitberatung und zur Beratung gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß. Gibt es dagegen Widersprüche?
— Dann lasse ich abstimmen. Wer der vorgeschlagenen Überweisung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Gegen einige Stimmen ist die Überweisung so beschlossen.Es wird weiter vorgeschlagen, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 10/5344 zu überweisen zur federführenden Beratung an den Innenausschuß und zur Mitberatung an den Rechtsausschuß und den Haushaltsausschuß. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 10/5342 soll darüber hinaus noch zur Mitberatung an den Verteidigungsausschuß überwiesen werden. Ich lasse darüber abstimmen. Wer diesen Überweisungsvorschlägen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Überweisung ist beschlossen.Ich habe Ihnen noch mitzuteilen, wie das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/5353 lautet.Abgegebene Stimmen: 415. Keine ungültigen Stimmen. Mit Ja haben gestimmt 24 Abgeordnete. Mit Nein haben gestimmt 388 Abgeordnete. Enthalten haben sich 3 Abgeordnete.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen 413; davonja: 23nein: 387enthalten: 3Frau Hönes LangeMannDr. Müller
RuscheSchmidt
Schulte
SenfftStröbeleSuhrTatgeTischerVogel VolmerWerner Werner (Westerland) Frau ZeitlerNeinCDU/CSUAustermannBayhaDr. Becker Frau Berger (Berlin)Dr. BernersBiehleDr. Blank Dr. Blens Dr. Blüm Dr. Bötsch BohlBohlsen Borchert Boroffka BraunBreuerBrollBrunnerBühler
Dr. Bugl BuschbomCarstens Carstensen (Nordstrand) ClemensDr. Czaja Dr. DanielsDawekeFrau DempwolfDeresDörflinger DolataDossDr. DreggerEchternachEhrbarEigenEngelsbergerErhard
Eylmann
FeilckeFellnerFischer
Dr. FriedmannFunkGanz
Frau GeigerDr. GeißlerGerlach GersteinGerster
GlosDr. GöhnerDr. Götz GötzerGünthervon HammersteinHanz
HaungsHauser Freiherr Heeremanvon ZuydtwyckFrau Dr. Hellwig HelmrichDr. HennigHerkenrathHinsken HöffkesHöpfingerDr. HoffackerFrau Hoffmann Dr. HornhuesHornungFrau HürlandDr. Hüsch Dr. Hupka Graf Huyn JagodaDr. Jahn
Dr. JenningerDr. JobstJung
KalischDr.-Ing. KansyFrau KarwatzkiKellerDr. Köhler Dr. Köhler (Wolfsburg) KolbKreyDr. KronenbergDr. Kunz LamersDr. LammertDr. Langner Lattmann Dr. LaufsLink
Link Linsmeier LintnerDr. Lippold LöherLohmann Dr. h. c. LorenzLouvenMaaßFrau MännleMaginMarschewskiDr. Meyer zu Bentrup MichelsDr. Mikat Dr. Miltner MilzDr. MöllerMüller Müller (Wadern)Müller
Frau Dr. Neumeister NiegelDr.-Ing. OldenstädtDr. Olderog PeschPfeffermannDr. Pinger PöpplPohlmann RaweRepnikDr. Riedl Dr. RiesenhuberRode
Frau Rönsch
Frau Roitzsch
Dr. Rose Rossmanith Roth
RüheRufSauer Sauer (Stuttgart) SaurinSauter Sauter (Ichenhausen) Dr. Schäuble ScharrenbroichSchartz
JaDIE GRÜNENAuhagenFrau BorgmannBuebFrau DannFrau Eid Fritsch
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16365
Vizepräsident Frau RengerSchemken ScheuSchlottmannSchmidbauervon SchmudeSchneider
Dr. Schneider Freiherr von Schorlemer SchreiberDr. Schroeder SchulhoffDr. Schulte
Schultz (Wörrstadt) Schulze (Berlin)
Dr. Schwarz-SchillingDr. SchwörerSeehofer SeesingSeitersSpilkerSpranger Dr. Sprung Dr. Stark
Dr. SterckenStockhausenStommel Straßmeir StrubeStücklen StutzerSussetTillmannDr. TodenhöferFrau VerhülsdonkVogel
Dr. Voigt
Dr. VossDr. WaffenschmidtGraf von Waldburg-Zeil Dr. WarrikoffDr. von Wartenberg WeirichWeißWerner
Frau Will-FeldWilzWimmer WindelenFrau Dr. Wisniewski WissmannDr. WittmannWittmann Dr. WörnerWürzbach ZinkSPDAmlingDr. Apel Bachmaier BahrBambergBecker BernrathBindigFrau BlunckBrandtBuckpesch Büchler
Buschfort CatenhusenColletConradiDr. CorterierFrau Dr. Däubler-Gmelin DaubertshäuserDelormeDr. Diederich DreßlerEgertDr. Ehmke
Dr. Ehrenberg EickmeyerDr. EmmerlichEstersEwenFiebigFischer Fischer (Osthofen) Frau Fuchs (Köln) GanselGilgesGlombig Dr. Glotz HaehserHansen HauckDr. Hauff Heimann HeistermannHerterich Hettling HeyennHiller
HornFrau Huber Huonker IbrüggerImmer Jahn (Marburg) JansenJaunichDr. JensJung Junghans Jungmann KastningKiehmKirschner Kisslinger Klein
KloseKolbowKretkowski Dr. Kübler Kühbacher KuhlweinLambinus Lennartz LeonhartFrau Dr. Lepsius LiedtkeLöfflerLohmann LutzFrau Matthäus-Maier MatthöferMeininghausMenzelDr. Mertens Dr. Mitzscherling Müller (Düsseldorf) Müller (Schweinfurt) Dr. Müller-Emmert MünteferingNagelNehmDr. NöbelFrau Odendahl OostergeteloPaterna PauliDr. Penner Peter
Porzner PoßPurpsRankerRapp ReimannFrau Renger Reschke ReuschenbachReuterRohde
RothSanderSchäfer SchanzSchlagaSchluckebierFrau Schmedt
Schmidt Schmitt (Wiesbaden)Dr. SchmudeDr. Schöfberger SchreinerSchröer
Dr. Schwenk SielaffSieler
Frau SimonisFrau Dr. Skarpelis-Sperk Dr. SperlingDr. SpöriStahl
SteinerStieglerStobbeStockleben Dr. Struck Frau-TerborgTietjenFrau Dr. Timm Toetemeyer Frau TraupeUrbaniak Vahlberg Verheugen Dr. Vogel Vogelsang VosenWaltematheWartenberg WeinhoferWeisskirchen Dr. WernitzWestphal Frau WeyelDr. WieczorekWiefelvon der Wiesche Wimmer WischnewskiWitekDr. de WithWürtz Zander Zeitler Frau ZuttFDPFrau Dr. AdamSchwaetzerBaumBeckmann Bredehorn Eimer
GallusGattermann GenscherFrau Dr. Hamm-Brücher Dr. HirschHoppeKleinert KohnDr.-Ing. Laermann Mischnick PaintnerRonneburgerSchäfer
Frau Dr. SegallFrau Seiler-AlbringDr. SolmsDr. Weng Wolfgramm (Göttingen)EnthaltenSPDFrau Fuchs Frau Dr. Hartensteinfraktionslos HandlosDer Antrag ist abgelehnt.Wir beginnen mit den weiteren Beratungen um 14.30 Uhr.Ich unterbreche die Sitzung.
Die unterbrochene Sitzung wird fortgesetzt.Meine Damen und Herren, die Tagesordnungspunkte 4 bis 10, für die eine Aussprache nicht vorgesehen ist, konnten vor der Mittagspause nicht mehr behandelt werden. Ich gehe davon aus, daß Sie damit einverstanden sind, daß diese Punkte heute abend nach Tagesordnungspunkt 11 zur Beratung aufgerufen werden.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:a) Beratung des Agrarberichts 1986 der Bundesregierung— Drucksachen 10/5015, 10/5016 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Haushaltsausschuß
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16366 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
Vizepräsident Stücklenb) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNENAuswirkungen der Milchkontingentierung — Drucksachen 10/2257, 10/3018 —c) Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNENKonzept zur Reduzierung der Getreideüberschüsse durch freiwilligen Verzicht auf den Einsatz von Pestiziden als Alternative zu geplanten Flächenstillegungen— Drucksache 10/3627 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forstend) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNENEinführung von Bestandsobergrenzen zum Schutz der bäuerlichen Landwirtschaft und der Umwelt— Drucksache 10/2822 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Innenausschuße) Beratung des Antrags des Abgeordneten Werner und der Fraktion DIE GRÜNENAbbau der strukturellen Getreideüberschüsse durch Importbeschränkungen für Futtermittel — Eine Alternative zu Flächenstillegungen im Getreidebau— Drucksache 10/3626 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forstenf) Beratung des Antrags des Abgeordneten Werner und der Fraktion DIE GRÜNENFörderung der ökologischen Landbewirtschaftung durch die Gewährung von Umstellungsbeihilfen— Drucksache 10/4577 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Haushaltsausschußg) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu den Entschließungsanträgender Fraktionen der CDU/CSU und FDP zur Beratung des Agrarberichts 1985 der Bundesregierungder Fraktion der SPD zur Beratung des Agrarberichts 1985 der Bundesregierung— Drucksachen 10/3007, 10/3008, 10/4190 — Berichterstatter: Abgeordnete Pfuhl Hornungh) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNENFörderung von Beratung im ökologischen Landbau in Form eines Modells „Bauern helfen Bauern" — Neue Formen eines Modells bäuerlicher Selbsthilfe— Drucksachen 10/1216, 10/3041 — Berichterstatter: Abgeordneter Hornungj) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNENRücknahme der Ablehnung des hessischen Existenzsicherungsprogramms für kleine und mittlere Grünland- und Futterbaubetriebe durch die EG-Kommission— Drucksachen 10/2082, 10/4191 — Berichterstatter: Abgeordneter StockhausenZu Tagesordnungspunkt 11 a liegen Entschließungsanträge der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 10/5373 und 10/5374, der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 10/5379 bis 10/5383 sowie der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 10/5377 vor. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind eine gemeinsame Beratung der Tagesordnungspunkte 11 a bis 11 h und 11j sowie eine Aussprache von vier Stunden vorgesehen. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.Wird das Wort zur Berichterstattung oder zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.Dann eröffne ich die Aussprache und erteile dem Herrn Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor zwei Wochen haben die deutschen Bauern ihre drängenden Sorgen um die wirtschaftliche Sicherheit ihrer Familien und die Zukunft ihrer Höfe durch bundesweite Demonstrationen zum Ausdruck gebracht. Ich teile diese Sorgen schon seit Jahren. Deshalb war und ist die Bundesregierung auch zum Handeln und zur Hilfe bereit, Hilfe im Rahmen nationaler Möglichkeiten, Hilfe auch durch intensive Einflußnahme auf die EG-Agrarpolitik. Jahrelang hat die europäische Agrarpolitik die Landwirte zu sinnloser, weil unverkäuflicher Agrarproduktion getrieben.
Das Ergebnis können Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, im Agrarbericht 1986 nachlesen. 24 828 DM hat eine landwirtschaftliche Familienarbeitskraft im Wirtschaftsjahr 1984/85 verdient.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16367
Bundesminister KiechleDas sind zwar 15,4 % mehr als im Jahr zuvor, aber immer noch rund 400 DM weniger als 1975/76. Wem sonst in unserer Gesellschaft könnte man 1985 das Einkommen von 1975 zumuten? Man sollte das auch den Bauern nicht zumuten. In jedem Fall kann das Ergebnis nicht befriedigen, zumal die Aussichten für das laufende Wirtschaftsjahr leider wieder schlechter sind. Das Einkommen wird nach unseren Vorschätzungen im laufenden Wirtschaftsjahr um rund 6 % zurückgehen, hauptsächlich auf Grund geringerer Ernten, zunächst auch herbeigeredeter schwächerer Getreidepreise und völlig unbefriedigender Fleischpreise.Dabei haben wir schon das Schlimmste verhindert. Ohne den von der SPD bekämpften und gebrandmarkten Mehrwertsteuerausgleich sähe es noch viel schlechter aus.
Die jetzige Bundesregierung hat trotz ihrer erfolgreichen Sparpolitik nach der Haushaltsschlamperei der letzten Jahre keinen Augenblick gezögert, den Bauern berechtigte und einkommenspolitisch unverzichtbare Ausgleichszahlungen zu gewähren. Denn wer nur dann an die Bauern denkt, wenn Wahlkampf ist, der lebt agrarpolitisch von der Hand in den Mund.
Das ist nicht der Stil dieser Bundesregierung, ist auch nicht der Stil der Union.Wir wollen der deutschen Landwirtschaft in schwieriger Lage helfen und notwendige neue Wege angesichts der agrarpolitischen Altlasten aufzeigen.Wir werden unsere begonnene Politik der Entlastung von Kosten, des Ausgleichs für naturgegebene Nachteile und des Kampfes gegen gezielte Preissenkungen fortsetzen und verstärken.
Wir verstehen Hilfe nicht so, wie Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition. SPD-Philosophie für die Bauern ist ja leider immer noch, über Preisdruck die Produktion einzuschränken.
Das ist ein falsche Konzept.
Die SPD hat nichts dazugelernt.
Die Quittung der verfehlten Überschußpolitik wird jetzt dieser Regierung, wird mir als Landwirtschaftsminister serviert, obwohl die Verantwortung dafür eigentlich andere tragen müßten.
Was könnte das Versagen der EG-Agrarpolitik besser kennzeichnen als die explodierenden Agrarmarktkosten und die riesigen unbezahlten und praktisch nicht verkäuflichen Überschüsse bei anhaltend unzureichenden Einkommen der Bauern?Wir haben — leider, muß ich sagen — allzu trauriges Anschauungsmaterial, daß mehr Produktion nicht mehr Einkommen, sondern nur stärkeren Preisdruck bedeutet.
Die SPD — Verzeihung: die EG-Kommission will niedrigere Agrarpreise;
— die SPD leider auch.
„Der Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer", so nannte Goya eines seiner berühmtesten Bilder. Für mich ist das pseudovernünftige Preissenkungsmodell der EG-Kommission, das auch hier immer anklingt, mit nicht durchdachten, nicht finanzierbaren und politisch nicht durchsetzbaren Plänen globaler direkter Einkommensübertragungen ein politisches Ungeheuer, ein Alptraum.Den Befürwortern — darunter die SPD — geht es offensichtlich, wenn man genau hinsieht, nicht viel anders. Sonst hätten sie schon lange einmal anstelle diffuser, unausgegorener Schreibtischtheorien eine Antwort auf die Fragen gefunden, wem, wieviel, wie lange und wofür Einkommenshilfe statt vernünftiger Preise gegeben werden sollen und wer sie bezahlen soll,
vor allem, wenn ein solches System auf die ganze Gemeinschaft ausgedehnt würde.Für uns kommt Preisdruck direkter oder indirekter Art deswegen nicht in Frage, weil er Marktprobleme nicht löst, aber die Einkommensprobleme unserer Bauern verschärft.
Oder glauben Sie, daß wir auch nur einen Doppelzentner Weizen mehr verkaufen könnten, wenn wir z. B., wie dort vorgeschlagen, den Feuchtigkeitsgehalt um 2 Prozentpunkte senken? Mitnichten. Aber für die Bauern bedeutet es umgerechnet ein Preisminus von etwa 4 % und ein entsprechendes Einkommensminus.Die Bundesregierung kämpft für eine mit sozialen Ordnungselementen ausgestattete andere Agrarpolitik. Wir empfinden eine Agrarpolitik die gezielte und massive Preissenkung verfolgt, als Einkommensdiebstahl an den Bauern. Wir wollen unsere agrarpolitische Konzeption nicht auf den Trümmern zerschlagener Marktordnungen aufbauen, sondern auf modifizierten Regelungen.Wir haben z. B. bei der Milch das System mit gutem Erfolg geändert, trotz verständlichen anfänglichen Ärgers. Denn der Markt hatte sein Urteil über das Prinzip garantierter Preise bei unbegrenzten Mengen seit langem gefällt. Es war ein vernichtendes Urteil. Das alte System wird für lange Zeit der Vergangenheit angehören. Das neue wird
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16368 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
Bundesminister Kiechlenach genügender Abschmelzung des Zuviels an vorhandener Garantiemenge flexibler zu gestalten sein.Die Bundesregierung folgt dem Leitmotiv: weniger Menge und höhere Preise. Denn das ist das überlegene Konzept für die Zukunft.
Niemand hier sollte vergessen: Es liegt zum großen Teil in unseren Händen, welche Zukunft die Landwirtschaft hat. Wenig Zukunft sehe ich z. B. bei Getreide — aber nicht nur hier — in einer Politik, die auf zusätzlichen Export setzt. Der Weltmarktpreis darf für die europäische Getreideproduktion kein Maßstab werden,
wenn selbst die amerikanische Landwirtschaft mit ihren günstigeren klimatischen Bedingungen und besseren Betriebsstrukturen von einer ungebrochenen Konkurswelle erfaßt ist, obwohl auch die amerikanischen Agrarpreise deutlich über dem Weltmarktniveau liegen. Deshalb bin ich ein entschiedener Gegner der Weltmarktpreisverfechter.
Sogenannte Weltmarktpreise wären keine Lösung für uns.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müssen aus den eingefahrenen Gleisen der alten, gescheiterten Agrarpolitik heraus. Wohin diese geführt haben, zeigt in trauriger Deutlichkeit die Explosion der Überschußmengen und Marktordnungskosten, ganz abgesehen von dem außenhandelspolitischen Ärger mit traditionellen Exportländern. Eines ist sicher: Die Getreideproduktion wird, wenn nichts Besonderes geschieht, Jahr für Jahr um ca. 1 % bis 2 % weiter steigen. Dann gibt es leider nur eine Schlußfolgerung. In der Gemeinschaft würde sich die Lage auf dem Getreidemarkt in einigen Jahren dramatisch verschärfen, falls Nichtstun die Devise wäre.Deshalb besteht äußerst dringender Handlungsbedarf. Die Politik der Bundesregierung ist darauf gerichtet, die Nachfrage zu erhöhen und das Angebot möglichst zu reduzieren oder zumindest den Zuwachs einzuschränken.Erstens. Eine Alternative, das EG-weite Angebot zu verringern, ist die EG-weite freiwillige Herausnahme von Flächen aus der Nahrungsmittelproduktion, sei es längerfristig im Rahmen eines Marktentlastungsprogramms, sei es über Grünbrache als einer Art moderner Vierfelderwirtschaft. Diese Maßnahme ergänzt sich vorteilhaft mit den zunehmenden ökologischen Ansprüchen der Bevölkerung.Zweitens. Wir müssen Defizitprodukte verstärkt anbauen, z. B. Futtererbsen, Ackerbohnen oder Lupinen. Damit können wir bisher eingeführte Futtermittel zumindest teilweise ersetzen.Drittens. Wir müssen über den traditionellen Bereich der Nahrungsmittelerzeugung hinaus eine neue Produktionslinie eröffnen.
Im Bereich der nachwachsenden Rohstoffe können wir der Landwirtschaft quasi ein neues Produktionsstandbein verschaffen. Stärke, pflanzliche Öle und Fette, Faserpflanzen und auch Energieträger aus pflanzlichen Rohstoffen wie Äthanol nenne ich als Stichworte. Natürlich darf es nicht passieren, daß wir in Europa die Mengen einschränken und andere Lieferländer in die entstandene Lücke stoßen.
Deswegen muß eine Mengenrückführung abgesichert werden, indem wir die Lieferländer für Selbstbeschränkungen beim Export von Futtermitteln in die EG gewinnen.Viertens. Wir müssen Mittel und Wege suchen, um ganz generell — sei es bei Milch, wo wir das schon praktizieren, sei es bei Getreide oder bei Fleisch — das Nicht-Produzieren oder das Weniger-Produzieren an Stelle des Produzierens belohnen. Eine Schiene, das zu tun, wäre, die ökologischen, naturschützenden und landschaftspflegerischen Leistungen, die die Bauern schon heute unentgeltlich erbringen oder auf Wunsch noch erbringen sollen, direkt zu honorieren.
Es ist nicht länger einzusehen, daß man wertvolle Leistungen wie präventive Verbesserung des Grundwassers durch Auflagen und Beschränkungen der Bewirtschaftung, Erhalt und Pflege der Kulturlandschaft oder Artenvielfalt von Pflanze und Tier kostenlos erwartet. Die Bauern werden zwar dafür immer wieder gelobt. Lob ist gut, aber es reicht nicht. Man kann davon nicht leben, kann damit keine Rechnungen bezahlen.
Bisher haben die Bauern, von wenigen Ausnahmen abgesehen, wenig für die Pflege von Natur und Umwelt erhalten. Das muß sich ändern.
Noch weniger wäre es einzusehen, wenn man die Leistungen unter dem Deckmantel einer angeblichen Sozialpflichtigkeit erzwingt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin vor drei Stunden nach dreitägigen, fast pausenlosen, sich über Nacht und Tag hinziehenden Verhandlungen im EG-Agrarministerrat aus Luxemburg zurückgekehrt. Das Vorhaben der Kommission, die Agrarpreise durch die Hintertür zu senken, haben wir von Anfang an als für unsere Bauern unzumutbar abgelehnt.
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Deutscher Bundestag -- 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16369
Bundesminister KiechleIm Laufe der sehr schwierigen Verhandlungen, zu denen ich heute abend nach Luxemburg zurückkehren muß, hat der Ratspräsident bisher zwei Kompromißpapiere vorgelegt, denen wir jedoch unsere Zustimmung nicht geben konnten und können. Gegen die Weigerung, zugunsten Deutschlands Korrekturen vorzunehmen, habe ich mich massiv und vehement zur Wehr gesetzt.
Nach den bisherigen Verhandlungen erwarten wir einige positive Elemente für unsere Landwirte durchsetzen zu können. Zwar wird ein endgültiges Kompromißpapier — oder sagen wir besser, ein vorläufig endgültiges Kompromißpapier — erst heute abend vorgelegt. Es zeichnet sich jedoch ab, daß wir eine Absenkung des Feuchtigkeitsgehalts bei Getreide auf 14 % und die Senkung des Interventionspreises für Butter verhindern können.
Ein weiterer Erfolg ist, daß die Kommission ihr Verfahren gegen uns vor dem Europäischen Gerichtshof wegen des Imitationsverbotes von Milcherzeugnissen ruhen lassen will bzw. die Klage zurücknimmt.
Sie wird — wie auch in den beiden Vorjahren — im Rahmen der Milchgarantiemengenregelung die Saldierung der Unter- und Überlieferungen ermöglichen.Die Kommission hat sogenannte soziostrukturelle Maßnahmen vorgeschlagen, die im Grundsatz unseren Vorstellungen relativ nahekommen, wie z. B. Marktentlastung, finanzielle Berücksichtigung des Umweltschutzes. Sie sollen das Preispaket ergänzen. Zudem hat sie zugesagt, so schnell wie möglich — und dies heißt ganz konkret: in den nächsten Wochen — einen Vorschlag zur Ausweitung unserer benachteiligten Gebiete von vier auf sechs Millionen Hektar dem Rat zur Billigung vorzulegen.
Ich möchte die Situation nicht beschönigen. Dazu ist auch kein Grund vorhanden. Ich habe es auch nie getan. Nicht alle unsere Anliegen konnten angesichts des engen finanziellen Rahmens und der Überschüsse auf den Agararmärkten bis zum jetzigen Stand der Verhandlungen voll durchgesetzt werden. Daran wird sich im Grundsatz wohl auch nichts ändern. Sobald ein endgültiger Kompromißvorschlag vorliegt, werden wir ihn unter Abwägung aller Vor- und Nachteile prüfen und in geeigneter Form dann dazu Stellung nehmen. Wir werden das im Lichte unserer Interessen tun.Diese Interessen heißen nicht Preissenkungen, wie sie schon zur fixen Idee bei der Kommission geworden sind und wie sie bedauerlicherweise auch die SPD auf ihre Fahnen geschrieben hat.
Diese Interessen heißen auch nicht staatlich subventionierter Export mit allen Mitteln und in möglichst hohen Mengen. — Sie brauchen doch gar nicht so aufgeregt zu schreien, Herr Kollege.
Sie haben nachher die Gelegenheit, hier dazu Stellung zu nehmen; im übrigen, ein bißchen weniger Wichtigmacher und mehr Richtigmacher, das wäre schon recht gut.
Unsere Interessen heißen erst recht nicht moderne agrarindustrielle Unternehmen. All diesen falschen Weichenstellungen und Interessen widerspreche ich ganz entschieden. Natürlich ist unsere Verhandlungsposition durch die von Frankreich erzwungene Aufwertung der D-Mark nicht einfach geworden; sie war auch vorher schon schwierig genug. Zwar ändert sich bis zum Abschluß der Preisverhandlungen als Folge der Systemumstellung von 1984 bei Marktordnungsprodukten nichts Gravierendes. Auch die abwertenden Länder erhalten keine Preiszuschläge vor Abschluß der Agrarverhandlungen. Ein entsprechender Antrag Frankreichs wurde bereits abgelehnt. Allerdings haben die abwertenden Länder mehr Manövriermasse, wenn auch um den Preis eines Wertverlustes ihrer Währung. Aber das hatten sie schließlich früher bei allen Abwertungen auch. In jedem Fall brauchen diese Länder die Zustimmung des Rates, um diesen Spielraum in nationale Preiserhöhungen umzusetzen. Wir haben den Vorteil, keine Grenzausgleiche abbauen zu müssen, die bei uns Preissenkungen bedeuten, wie das in den letzten zehn, 15 Jahren der Fall war.Eines ist klar: Wir können Preissenkungen nicht zustimmen. Deshalb werden wir weiterhin mit besonderer Härte verhandeln. Schließlich wollen wir kein Land sein, in dem eine grüne Armut neben dem Wirtschaftswunder steht.
Natürlich wäre die Einkommenslage heute für unsere Bauern viel besser, wenn wir in den letzten zehn Jahren nicht durch das alte Grenzausgleichsystem in D-Mark ein 15 % niedrigeres Preisniveau gehabt hätten, als es in Ecu in dieser Zeit in Brüssel festgelegt wurde. Bei dem von mir durchgesetzten Systemwechsel wurde zwar zum erstenmal ein Abbau des Grenzausgleichs voll ausgeglichen. Aber die 15% aus der SPD-Zeit fehlen natürlich an allen Ecken und Enden.
— Ich kann nichts dafür, wenn Sie das nicht verstehen und außer Lachen darauf nichts zu antworten wissen.
Widerlegen Sie mich, wenn Sie glauben, ich hätte nicht recht. Sie können das hier wirklich tun.
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16370 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
Bundesminister KiechleDiese Bundesregierung lehnt Preis- und Einkommensdruck als Mittel eines staatlich verschärften Strukturwandels entschieden ab. Sie will niemanden vom Hof vertreiben, und wenn die Betriebe zu klein werden, will sie den Landwirten lieber eine zweite Einkommensmöglichkeit außerhalb der Landwirtschaft eröffnen, als sie etwa von ihrem Eigentum zu verdrängen.
Wer — wie einzelne Mitgliedstaaten — sein einziges Heil in einer Industrialisierung der Landwirtschaft sieht, kann in diesem Punkt niemals mit unserer Unterstützung rechnen. Wir sind klar gegen eine sogenannte effiziente Agrarindustrie. Unser Leitbild ist der bäuerliche Familienbetrieb, nicht Agrarkonzerne.
Wir haben gesehen, daß in den letzten zehn Jahren die Zahl der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte um 267 000 und die der Höfe um 184 000 abgenommen hat. Das ist ein Strukturwandel, den man auch akzeptieren kann.
Aber trotzdem ist das Einkommen unzureichend — dies ist das Phänomen —, und zwar deswegen, weil Kostensteigerungen nicht durch Preisanhebungen abgefangen wurden oder abgefangen werden konnten.Meine Damen und Herren, wir wollen möglichst viele Bauern behalten. Ihre Arbeitsplätze sind so wertvoll wie andere auch.
Dies geht aber nur — ich kann das nicht oft genug wiederholen —, wenn die Bauern soviel Einkommen wie nur irgend möglich über die Preise erwirtschaften.
Einkommen aus Preisen kann man nicht ersetzen. Deshalb lautet auch die Linie der Bundesregierung: Nicht Ersatz des Einkommens aus Preisen, sondern nur Zusatz zu einem solchen Einkommen kann den Bauern helfen, wie wir es bereits heute über die Förderung in benachteiligten Gebieten oder über die Sozialpolitik oder Steuerpolitik praktizieren.Aber trotz der ungewöhnlichen Anstrengungen auf diesen Gebieten — im Gegensatz zu dem von der SPD eingeleiteten Sozialabbau, den wir gestoppt und rückgängig gemacht haben — reichen die Hilfsmaßnahmen nicht aus. Wir werden deshalb weitere Mittel bereitstellen.Es wäre sicherlich verfrüht, hier und heute schon Details über unsere Absichten zu diskutieren, weil wir das Ganze noch in eine juristisch praktikable Form gießen müssen und weil wir gehalten sind, die Ausgestaltung EG-konform vorzunehmen.Soviel kann ich allerdings schon sagen: Wir werden im Bereich der Sozialausgaben, die ja besonders für klein- und mittelbäuerliche und einkommensschwache Betriebe drückend sind und die dort prozentual eine unangemessen hohe Belastung bedeuten, noch einmal unsere finanziellen Bemühungen verstärken. Wir werden so rasch wie möglich, nachdem wir uns in Brüssel bei der Ausweitung der benachteiligten Gebiete von vier auf sechs Millionen Hektar durchgesetzt haben, diese Förderung anlaufen lassen.Nur können wir trotz aller Dringlichkeit eines nicht: uns über EG-Recht hinwegsetzen. Insoweit bitte ich um Geduld, bis die Beschlüsse in Brüssel gefaßt sind, die die benachteiligten Gebiete betreffen.Ich kann auch Herrn Agrarkommissar Andriessen beruhigen: Unsere Förderungsmaßnahmen werden nicht gegen EG-Recht verstoßen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wer den Agrarbericht sorgfältig gelesen hat, muß zugeben: Die Bundesregierung hat ungewöhnliche Kraftanstrengungen unternommen, um die unbestritten schwierige Lage in der Landwirtschaft zu erleichtern.
Mit dem Junglandwirteprogramm gibt es eine eigene verbesserte Investitionsförderung.Die Bäuerinnen erhalten erstmals in der deutschen Sozialgeschichte wie alle anderen Beschäftigten Erziehungsgeld, und zwar 600 DM im Monat. Jede Bäuerin, die mindestens ein Kind hat, kann durch Nachzahlung an die Rentenkasse einen eigenen Rentenanspruch erwerben. Wer fünf oder mehr Kinder großgezogen hat, besitzt diesen Rentenanspruch automatisch, ohne Zusatzzahlung.
— Sie sollten nicht soviel schreien, sondern ein bißchen zuhören.Die Fläche der benachteiligten Gebiete haben wir von 1,4 Millionen Hektar auf zunächst 4 Millionen Hektar ausgedehnt, nachdem die Fläche immerhin zehn Jahre gleichgeblieben war. Wir haben gleichzeitig die Förderhöchstbeträge bei der Ausgleichszulage auf maximal 240 DM je Hektar angehoben. Wir planen, wie Sie ja wissen — wir sind dabei auf gutem Wege —, noch einmal 2 Millionen Hektar zusätzlich auszuweisen.Für landwirtschaftliche Arbeitnehmer haben wir die Zusatzversorgung verbessert.Der Zuschuß zur landwirtschaftlichen Unfallhilfe wurde wieder auf 400 Millionen DM aufgestockt — nach dessen Senkung durch die SPD-Bundesregierung unter Herrn Schmidt.
Bei der Altershilfe haben wir den Bundeszuschuß von 75 % auf 80 % aufgestockt und gesetzlich abgesichert.Für klein- und mittelbäuerliche Familienbetriebe wurden bereits jetzt 300 Millionen DM zugelegt, um
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16371
Bundesminister Kiechledie Beitragslasten je Betrieb um 300 DM, 600 DM oder 900 DM je Jahr zu verringern.
Im Steuerbereich ist ein Großteil der längst fälligen notwendigen Korrekturen erfolgt. Insbesondere die erhöhten Freibeträge bei der Veräußerung von Grund und Boden zur Schuldentilgung oder zur Erbabfindung bedeuten wirksame Erleichterungen.
Die Reform des landwirtschaftlichen Pachtrechts wurde nach mehreren vergeblichen Versuchen jetzt endlich zum Abschluß gebracht.Zum Schutz des Waldes hat die Bundesregierung neben anderen Maßnahmen schärfere Vorschriften — ich erwähne die Einführung des Katalysatorautos oder die TA-Luft — erlassen.Für die Hochseefischerei wurde ein zukunftsträchtiges Strukturkonzept erarbeitet und mit einer Start- und Überbrückungshilfe von 35 Millionen DM auf den Weg gebracht. Die Anpassungshilfen für die Kutterfischerei wurden fortgesetzt.Ich möchte mich bei der Aufzählung unserer Anstrengungen auf das Wesentliche beschränken. Ich möchte aber noch eines herausheben. Diese Maßnahmen und jene, die noch hinzukommen, waren und sind unbedingt und schnell erforderlich, damit die Bauern nicht im Sumpf übervoller Märkte und dadurch unzureichender Einkommen versinken.Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der vergangenen Woche hat an diesem Ort die Weindebatte stattgefunden. Die Ereignisse der letzten Monate haben mich mit großer Sorge erfüllt, weil unverantwortliche, kriminelle Elemente Rufschädigung und damit Existenzbedrohung für Winzer und Weinbauern betrieben haben. Es ist erschreckend, unter welchen Aspekten wir gezwungen sind, über den Wein, dieses wahre Gottesgeschenk an die Menschen, zu sprechen. Wir müssen wieder mehr zurückfinden zu den wahren Werten des Weines. Auch die besten Gesetze schaffen dies nur unvollkommen.
— Ach, wissen Sie, von Ihren Sprüchen hat auch niemand etwas.
Der Gesetzgeber muß schützen. Der Gesetzgeber muß Vorschriften machen. Nur: Die Verantwortung, an die ich appelliere, ist das einzige, wirklich durchschlagende Mittel, um zu erreichen, daß wir alle gemeinsam sagen können: Im Wein liegt Wahrheit. Kein Gesetz nimmt dem Menschen die Verantwortung. Das kann auch der Gesetzgeber nicht.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bundesregierung, die Union und die Koalitionsparteien, setzen auf die Zukunft der deutschen Landwirtschaft. Obwohl die Bauern und Bäuerinnen eineschwierige Umstellungsphase durchlaufen, hat niemand von uns das Recht, ihnen die Freude an einem schönen und für kein Volk der Erde verzichtbaren Beruf zu verderben.
Bauern produzieren etwas, was jeder Mensch täglich braucht. „Unser täglich Brot gib uns heute" — es wäre fahrlässig, den Menschen, die uns diese Vaterunser-Bitte erfüllen, ständig Existenzangst zu predigen.
Im Gegenteil, sie brauchen Mut zur Überwindung von Schwierigkeiten; sie brauchen Anerkennung; sie brauchen Hilfe.
Sie brauchen Hilfe über finanzielle Erleichterungen und Hilfe über vernünftige Preise. Das ist es, was fehlt und was wieder auf den Weg gebracht werden muß. Sie brauchen jedoch keinen Raubbau an der Einkommensbasis.
Diese Bauern brauchen den Zusammenhalt und Partnerschaft auch der Voll-, Zu- und Nebenerwerbsbetriebe und nicht die von vielen in der Opposition — nicht von allen, das möchte ich ausdrücklich sagen — betriebene Neid- und Klassenkampfpolitik, die an Stelle von konkreten Verbesserungen schädliche Diskussionen um Klein oder Groß vom Zaune bricht.
Ich möchte an dieser Stelle dem Parlament herzlich danken für die große Unterstützung in schwierigsten Phasen der Agrarpolitik in den letzten Monaten und auch für die Unterstützung, um die ich in diesen Wochen noch bitten muß.Ich möchte an dieser Stelle aber auch den Bäuerinnen und Bauern sowie der jungen Bauerngeneration sehr herzlich danken für ihren nach wie vor vorhandenen und oft auch nicht richtig gewürdigten Leistungswillen, für ihren Einsatz in der Nahrungsmittelproduktion und ihre großen ökologischen Verdienste.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Müller .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte mit dem Dank all meiner Kollegen an diejenigen beginnen, die an der Abfassung des vorliegenden Agrarberichts beteiligt waren. Besonderer Dank gilt auch den Landwirten, die die Daten geliefert haben.
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16372 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
Müller
Dieser Agrarbericht, meine sehr verehrten Damen und Herren, erweckt bei oberflächlicher Betrachtung den Eindruck, den Landwirten gehe es gut. Denn das Reineinkommen je Familienarbeitskraft ist im letzten Wirtschaftsjahr um 15,4 % angestiegen. Aber dieser Eindruck täuscht; denn der Einkommensanstieg ist im wesentlichen auf die 5%ige Vorsteuerpauschale zurückzuführen.
Und wir wissen, schon im laufenden Wirtschaftsjahr wird es einen Einkommenseinbruch geben. Es sind erhebliche Einkommensrückgänge zu erwarten. Dieses Minus wird viele kleine und mittlere Betriebe in noch größere Bedrängnis bringen.
— Schauen Sie in den Agrarbericht hinein. Auf Seite 22 steht das, Herr Kollege.Deshalb klingt zwischen den Zeilen Ihrer Einbringungsrede, Herr Minister Kiechle, überall durch: Ich will ja das Beste für die deutschen Landwirte, aber ich kann nicht, wie ich will, denn da sind Brüssel, die anderen EG-Länder, Herr Andriessen und, wenn es sonst gar nichts mehr gibt, die schon hundertmal beschworene Erblast. Sie wissen, Herr Minister, daß das so nicht stimmt. Denn Sie haben sich aus freien Stücken für eine Agrarpolitik entschieden, von der nicht nur wir versucht haben Sie abzuhalten. Sie haben den Rat und die Warnungen Ihrer eigenen Mitarbeiter in den Wind geschlagen. Sie haben sich bewußt über den Widerstand aus den Bundesländern und auch aus der Koalitionspartei hinweggesetzt und einen Weg gewählt, der die deutschen Landwirte geradewegs ins Unglück führt und ihnen die Zukunft nimmt.
Deshalb, Herr Minister, tragen Sie die Verantwortung, die volle alleinige Verantwortung für die augenblickliche miese Situation in der Landwirtschaft.
Auch die Landwirte sehen das so.
— Ach, seien Sie doch nicht so nervös, Sie haben doch gar keinen Grund dazu. Denken Sie an die Plakate bei der Demonstration am 12. April. Dort hieß es: „Wir Bauern in Not, Kiechle bringt uns den Tod" oder: „Kiechle, der Bauernverräter".
— Das ist ja nicht von uns, sondern die Landwirte bringen das.
Sie haben die Wende geschafft, Herr Kiechle, aber eine Wende mit katastrophalen Auswirkungen für viele bäuerliche Betriebe. Ich füge hinzu, die Landwirte wären froh, wenn es ihnen so ginge wie während der 13 Jahre, in denen wir an der Regierung waren, Herr Kollege.
Selbst Ihr Bundestagskollege, Herr Minister Kiechle, Freiherr von Heereman, der lange sehr zurückhaltend war, greift nun als Präsident des Deutschen Bauernverbandes zu derberen Worten und drohte auf der letzten außerordentlichen Mitgliederversammlung: „Bis hierher und nicht weiter!"
Sehen Sie, Herr Minister, die Situation der deutschen Landwirte wäre heute viel besser, wenn Sie in den vergangenen Jahren mehr Richtigmacher gewesen wären.
Die Kette falscher Weichenstellungen ist lang. Es begann mit der Quotenregelung, die außer einer aufgeblähten und total überforderten Bürokratie außer Rechtsunsicherheiten in weiten Bereichen, außer der Einschränkung der freien unternehmerischen Entscheidung und der Existenznot vieler landwirtschaftlicher Betriebe keinen nennenswerten Beitrag zur Bekämpfung der Milchüberschüsse gebracht hat. 15 Millionen t Milch werden in der EG nach wie vor zuviel produziert, meine Damen und Herren. Die Magermilchvorräte steigen weiter an. In den Kühlhäusern der EG lagert nach wie vor so viel Butter, daß sie zu Schleuderpreisen in die Sowjetunion verkauft werden muß.
Eine Illusion blieb auch die Vorstellung von einem wesentlichen Anstieg des Milchpreises. Warum regen Sie sich denn auf? Herr Kiechle hat doch damals, als er dran war, selber gesagt, da liegen nur ein paar Tonnen Butter, und die SPD spricht von Überschüssen. Also, bitte, kümmern Sie sich erst mal um die Daten, ehe Sie hier etwas sagen.Nur mit Hilfe der fünfprozentigen Vorsteuerpauschale gelang es überhaupt, ein geringes Plus zu erzielen. Wir haben nie gesagt, daß wir die Vorsteuerpauschale nicht wollen, wir waren nur gegen die Art, wie sie verwendet worden ist. Ich komme noch darauf zurück. Damit widerlegt sich aber auch die Behauptung, daß innerhalb des Quotensystems entscheidende Preisanhebungen möglich sein werden. Die katastrophalen Erfahrungen mit der Quotenregelung bestärken uns Sozialdemokraten in der Forderung nach weitestmöglicher Aufhebung dieses Systems. An seine Stelle sollen, wie von uns schon
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16373
Müller
damals vorgeschlagen, differenzierte Erzeugerabgaben, verbunden mit einer Freimenge, treten.
— Sie haben doch keine Ahnung! Entschuldigen Sie, wenn Sie dieses Wort sagen, ist Ihnen wirklich nicht zu helfen.
So könnten die bestehenden Schwierigkeiten wirkungsvoller und gerechter beseitigt werden. Sie wären auch ein besseres Instrument gegen Agrarf abri-ken.Gleichfalls gescheitert, meine Damen und Herren, ist der Minister mit seinem Versuch, die Probleme der Währungsunterschiede in den Mitgliedstaaten in den Griff zu bekommen. In unverantwortlich leichtsinniger Weise hat Herr Kiechle 1984 auf den positiven Grenzausgleich verzichtet und ein neues System des Währungsausgleichs durchgesetzt, das die deutschen Landwirte auf absehbare Zeit von jeder möglichen ECU-Preisanhebung abkoppelt. Wir hatten Sie gewarnt, Herr Minister. Daß wir recht hatten, zeigt sich jetzt mit der Anpassung vom 6. April. Aus dieser Regelung ziehen allein die schwachen Währungsländer, also die meisten in der EG, Vorteile. Ihnen sind Spielräume für nationale Preisanhebungen zugewachsen, die sie nutzen werden. Und Sie stimmen dem j a zu, Herr Minister; denn Sie haben in Ihrer Rede j a auch gesagt, die Manövriermasse sei bei denen besser geworden.
In konkreten Zahlen bedeutet das, daß Frankreich und Italien ihren Bauern um 8 % höhere Preise verschaffen können. Aber die deutschen Landwirte gehen leer aus. — Das habe ich nicht ausgerechnet, das stammt vom Deutschen Raiffeisenverband.
Haben Sie nicht etwas vorschnell, Herr Minister, den neuen französischen Agrarminister als Partner für Ihre Forderungen in Brüssel vereinnahmt? Denn kaum war das Aufwertungspaket beschlossen, hat Frankreich die Abwertung des Grünen Franc gefordert. Hoffen wir, daß die Agrarverhandlungen möglichst schnell zu Ende gehen; denn sonst wird die Gefahr größer. Ich sage das mit allem Ernst.Das Währungsergebnis geht allerdings auf das Konto von Finanzminister Stoltenberg. Er hat bei den Verhandlungen versäumt, als Gegenleistung für seine Zugeständnisse einen Verzicht auf ein Vorprellen der anderen Mitgliedstaaten zu vereinbaren. Ich darf dazu aus einer großen Tageszeitung vom 21. April zitieren:Durch die Währungsverhandlungen, die Finanzminister Stoltenberg für die Bundesrepublik führte, wurden die Bauern an die Wandgestellt. Offenbar hat der Finanzminister an Sie nicht gedacht. Da ist schlecht verhandelt worden.Das hat nicht ein Sozialdemokrat gesagt, sondern Graf Lambsdorff.
Und er sagt weiter:Es muß eine europäische Agrarpolitik entwikkelt werden, die gezielt den Schwachen hilft. Vielen größeren Bauern geht es prima.Er hat recht. So ist es nämlich.Aus diesem Grunde war die Einführung der umsatzbezogenen Vorsteuerpauschale ein ungerechtes und unsoziales Steuergeschenk. Und dagegen haben wir uns gewandt.
Sie hat dazu geführt, daß in dem zur Diskussion stehenden Wirtschaftsjahr 1984/85 die kleinen Betriebe einen Einkommensanstieg von 7,5% verzeichnen konnten. Die mittelgroßen Betriebe brachten es immerhin schon auf 9,3 %. Und die großen konnten sogar 18,7 % zulegen. Das ist doch nicht gerecht, Herr Kiechle. Das obere Viertel der Vollerwerbsbetriebe, meine Damen und Herren — rund 100 000 —, hat im letzten Jahr ein Reineinkommen je Familienarbeitskraft von 54 948 DM.
— Seien Sie doch froh, daß es solche gesunden Betriebe gibt, die so finanzstark sind und sich am Markt behaupten können.
Aber diese Betriebe sind auf zusätzliche Hilfen nicht angewiesen.
Hilfe braucht das untere Viertel, auch etwa 100 000 Betriebe, mit einem Reineinkommen in diesem hier zu besprechenden Wirtschaftsj ahr von ganzen 2 226 DM.
Genau diese Betriebe aber erhalten von pauschalen und umsatzbezogenen Steuervergünstigungen das Wenigste.
Daß wir nicht so unrecht hatten, hat auch der Präsident des Deutschen Bauernverbandes erst vor einigen Wochen gesagt, als er erwähnte, er hätte sich eine andere Verteilung durchaus vorstellen können. Also kann das doch nicht falsch sein, wenn wir es als Sozialdemokraten sagen.
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16374 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
Müller
Wäre es nicht sinnvoller gewesen, die Vorsteuerpauschale auf 2 % bis 3 % zu begrenzen und die restlichen Gelder gezielt
den schwachen Betrieben als direkte, produktionsneutrale Einkommenshilfe zukommen zu lassen.
Das hat doch nichts mit Neid und Klassenpolemik zu tun, so wie es vorgehalten wird. Das hat eindeutig und einzig und allein etwas mit mehr Gerechtigkeit zu tun. Und das wollten wir, meine Damen und Herren.
Aber warum wollen Sie das nicht?
Diese Solidarität hätte man doch von den Landwirten erwarten können. Sie wären sicher auch dazu bereit gewesen.Die Liste der Fehlentscheidungen, Herr Minister, ist noch länger. Ich erinnere nur an das Getreidepreisveto. Damit wollten Sie eine Senkung der Getreidepreise verhindern.
Zum Schluß ging es noch um 0,8 %. Dafür haben Sie sich auf EG-Ebene ins politische Abseits manövriert.
Ergebnis, meine Damen und Herren: Die Getreidepreise sanken um bis zu 15%.
Sie reden jetzt, wir hätten Preissenkungen gewollt. Das haben wir nie gesagt. Aber Sie haben sie bewirkt. Das ist der entscheidende Unterschied.
Es kommt noch hinzu, daß diejenigen, die durch Ihr Verschulden hinnehmen mußten, daß das Milchwirtschaftsjahr verschoben wurde,
auf zusätzliche Millionen verzichten mußten.Auf diese Weise ist Ihr von vornherein unsinniger Versuch, Herr Minister, mit Hilfe des Vetos eine aktive Preispolitik erzielen zu wollen, ins Gegenteil verkehrt worden. Auf europäischer Ebene ist Ihr Vorgehen peinlich, national eine Katastrophe, weil das Schicksal vieler Familien und der Fortbestand eines ganzen Berufsstandes auf dem Spiel steht.Um diese negativen Auswirkungen zu mildern, haben Sie in den Haushalt zusätzliche Mittel eingestellt. Gegen diese Einzelmaßnahmen wäre durchaus nichts einzuwenden,
wohl aber dagegen, daß Sie diese Erhöhungen quasi als Alibi für Ihr schlechtes Verhandeln in Brüssel benutzen.
Sie tun das nach dem Motto: „Wir tun etwas für die Landwirte." Wir sind dagegen, weil Sie, hart ausgedrückt, den Einzelplan 10 als Reparaturwerkstatt für Ihre Fehler in Brüssel umfunktionieren.
Sie geben national zusätzliches Geld aus. Die Einkommenschwachen brauchen auf Grund Ihrer Politik zusätzliche Hilfe. Aber Zukunftsperspektiven für die deutsche Landwirtschaft gibt es dadurch zusätzlich nicht.
Ihre Agrarpolitik beschränkt sich auf momentan wirkende Beruhigungspillen für die Landwirte. Mit einer Kurskorrektur in der Landwirtschaft hat das überhaupt nichts zu tun. Es sind rein wahltaktische Manöver.
Schleswig-Holstein und Niedersachsen lassen grüßen, meine Damen und Herren.
Sie sprachen von Ihrem Konzept, Herr Minister. Die FDP nennt dieses Agrarkonzept der Union einen „verwaschenen Kompromiß", schreibt das „Handelsblatt" am 14. April. Biedenkopf sagt nach der „Westfälischen Rundschau" vom 12. März:Die CDU muß ihr Defizit zu Fragen der Landwirtschaft aufarbeiten.Dazu paßt, daß Sie schon vor der Brüsseler Agrarpreisrunde erklärten, die Entscheidungen durch nationale Hilfsmaßnahmen abmildern zu wollen. Durch diese Erklärung hat die Bundesregierung voreilig ihren Verhandlungsspielraum eingeengt. Gleichzeitig provozieren Sie einen Subventionswettlauf aller Mitgliedstaaten auf nationaler Ebene, fördern die Renationalisierung der EG-Agrarpolitik, anstatt alles zu tun, um nationale Alleingänge zugunsten gemeinsamer europäischer Entscheidungen zu verhindern. Die Bundesregierung spielt hier eine gefährliche Vorreiterrolle. Die anderen Mitgliedstaaten werden sich dem anschließen. Ich kann vor derartigen Entwicklungen nur eindringlich warnen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16375
Müller
Darüber hinaus besteht die Gefahr, daß am Ende der Verhandlungen die Bundesrepublik wie im letzten Jahr als Störenfried dasteht.Seit ihrem Amtsantritt hat die Bundesregierung bei den Landwirten Erwartungen geweckt und Versprechungen gemacht. Aber die Lage der Landwirte wurde von Jahr zu Jahr schlechter. Wie sagte Herr von Heereman auf der erwähnten Mitgliederversammlung? „Gute Worte haben wir genug gehört, jetzt wollen wir Taten sehen."
In den letzten Wochen — nach Schleswig-Holstein — wurde es hektisch. Zusagen und Dementis wechselten rasch. Am 5. März nach Ihrem Fernsehinterview, Herr Minister — Schlagzeile —: Kiechle sagt den Bauern 1 Milliarde DM als Verlustausgleich zu. Einen Tag später: Ich habe nichts versprochen.Das Niedersachsen-Treffen brachte laut Zeitungsberichten nicht den erwarteten Durchbruch. In der Kabinettssitzung am 16. April 1986 sollte alles festgeklopft werden. Ergebnis — Überschrift in den Zeitungen —: Bundeskabinett beschließt nationales Entlastungsprogramm. Einen Tag später: FDP dementiert Einigung über Hilfe für Bauern. Dazu die „Süddeutsche Zeitung" am 17. April 1986: „Das Hilfsprogramm für die deutsche Landwirtschaft ist noch nicht reif für ein Gesetz. Bauern müssen auf zusätzliche Staatsgelder noch etwas warten." Zwar sei Kiechle — so die „Süddeutsche Zeitung" — vom Kabinett das Mandat erteilt worden, die auf eine Nullrunde hinauslaufenden EGAgrarpreisvorschläge abzulehnen. Über Details, wie bäuerliche Einkommenseinbußen ausgeglichen werden könnten, sei aber nicht gesprochen worden. Wenn vorher durch ihn der Eindruck entstanden sei — so die „Süddeutsche Zeitung" —, als sei sich die Koalition schon einig, dann müsse er das korrigieren. Wieder Korrektur!
Eine Nullrunde, Herr Minister, sollten Sie ablehnen. Das heißt aber doch wohl Preiserhöhungen durchsetzen. Preiserhöhungen kosten zusätzliches Geld. Schon jetzt aber klafft im EG-Haushalt eine Lücke von über 6 Milliarden DM.
Und der Finanzminister stellt kein zusätzliches Geld zur Verfügung, wie er gesagt hat. Hier werden doch die Bauern — na, sagen wir es höflich — gelackmeiert.
Herr von Heereman, Sie sind Präsident des Deutschen Bauernverbandes und Bundestagsabgeordneter.
Das wollen, das können Sie vor den Landwirtennoch verantworten? Unverbindliche Ankündigungen, Aussagen, die wieder zurückgenommen werden, widersprüchliche Forderungen — das hat doch nichts mehr mit seriöser Agrarpolitik zu tun.
Sie stehen doch vor dem Scherbenhaufen Ihrer Agrarpolitik.
Brauchbare Alternativen haben Sie nicht anzubieten.
Eine gemeinsame Linie ist nicht erkennbar, geschweige denn ein langfristiges Konzept.Selbst Unions-regierten Bundesländern wird es nun zu bunt. Sie machen jetzt ihre eigenen Programme. Und die Landwirtschaft sieht die Entscheidungsunfähigkeit dieser Bundesregierung mit wachsender Angst und Hoffnungslosigkeit. Niemand weiß, wohin die Reise geht.Die Bundesregierung müßte jetzt handeln, nicht taktieren und lavieren. Sie darf die Dinge nicht so treiben lassen und nur mit einigen Hundert Millionen D-Mark an den Krankheitssymptomen des Patienten herumdoktern.
Gesundbeterei hat noch nie etwas genützt.
Der Patient — die Landwirtschaft — hat Anspruch auf die Wahrheit, auch wenn sie hart ist. Sie will und sie muß wissen, was auf sie zukommt.
Wir Sozialdemokraten haben schlüssige und konsensfähige Reformvorschläge gemacht.
Wir sind bereit, mit der Bundesregierung auf der Grundlage dieser Reformvorstellungen zusammenzuarbeiten
— fragen Sie Herrn Späth, der ist jetzt darauf eingeschwenkt, wir freuen uns darüber; Sie kommen ja aus seinem Bundesland —, um die Landwirtschaft aus der schlimmsten Krise seit Ende des Krieges herauszuführen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Susset.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal herzlichen Dank unserem Minister
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16376 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
Sussetfür die nicht leichte Tätigkeit, die er im Moment für die deutsche Landwirtschaft leistet.
Herr Kollege Müller, Sie wissen, daß Minister Kiechle heute wieder an den Verhandlungstisch zurückgehen wird.
Wenn es Ihnen ernst wäre, der deutschen Landwirtschaft zu helfen, hätten Sie auch als Opposition hier heute erklärt: Herr Minister, wir unterstützen Sie in Luxemburg, wir unterstützen Sie in Brüssel. — Nichts von alledem.
Herr Kollege Müller, es war schade, daß der von einer pädagogisch vorgebildeten Kollegin von Ihnen, abservierte Kollege Schmidt diese Rede nicht halten konnte. Er hätte es sicherlich anders gesagt.Meine Damen und Herren, da ist von Kurskorrektur die Rede, und Herr Kollege Müller redet, als ob er von einem anderen Stern käme,
als ob er nicht gewußt hätte, was 1982 war: Die Produktionsschlachten waren voll im Gange. Die Aufnahmefähigkeit vieler Binnenmärkte war erschöpft. Es wurde doch immer deutlicher, daß auch der Weltmarkt zunehmend als Absatzventil ausfiel. Und trotz der explodierenden Ausgaben der EG ist es nicht gelungen, die Landwirtschaft an die allgemeine Einkommensentwicklung heranzuführen.Die deutschen Landwirte wären vor 14 Tagen sicher lieber auf die Felder gegangen als zu demonstrieren,
als der Bevölkerung klarzumachen, in was für einer schwierigen Situation sie sich befinden.
Meine Damen und Herren, wir können feststellen — das hat die Debatte heute vormittag gezeigt —, daß es dank unserer erfolgreichen Wirtschafts- und Finanzpolitik in anderen Wirtschaftszweigen aufwärts geht.
Erstmals bedeuten Rentenerhöhungen und Lohnerhöhungen wieder realen Zuwachs. — Leider ist dies in der Landwirtschaft anders,
angesichts der verstopften Agrarmärkte, die auf die Einkommen drücken.Nach dem Agrarbericht 1986 konnten die Vollerwerbsbetriebe in der Bundesrepublik Deutschland im abgelaufenen Wirtschaftsjahr 1984/85 ihren Gewinn gegenüber dem Vorjahr, Gott sei Dank, etwas verbessern,
auf im Schnitt etwa 25 000 DM. Aber diese Entwicklung ist das Ergebnis einer außerordentlich guten Getreideernte, niedrigen Futtermittelkosten und auch des von der CDU/CSU/FDP-Koalition gegen den erbitterten Widerstand der SPD — das muß man hier klar sagen — eingeführten Einkommensausgleichs durch die Umsatzsteuer.
Das positive Ergebnis belegt die Wirksamkeit und die Notwendigkeit dieser Maßnahmen. Ohne einen entsprechenden Ausgleich hätte der unvermeidbare Abbau des positiven Währungsausgleichs zu einer weiteren unverantwortlichen Verschärfung der Einkommenssituation in der deutschen Landwirtschaft geführt.Wir konnten damit nur Schlimmeres verhindern, leider keine Kehrtwende einleiten. Dazu sind Maßnahmen erforderlich, die an der Wurzel des Übels der Überschußsituation ansetzen. Trotz den mit der Einführung der Garantiemengenregelung bei Milch verbundenen Härten konnten die Futterbaubetriebe ein günstigeres Einkommen erzielen; aber dieses Ergebnis zeigt, daß eine Mengenbegrenzung unter den Marktbedingungen der Jahre 1983 und 1984 die Maßnahme war,
die zu den vergleichsweise geringsten negativen Einkommenswirkungen führte.
Die Vorschätzungen für das laufende Wirtschaftsjahr 1985/86 werfen einen Schatten auf das Ergebnis des Vorjahres, und nach den jetzt vorliegenden Daten muß erwartet werden, daß der Gewinn in der Landwirtschaft im laufenden Wirtschaftsjahr sinkt.Abgesehen von den oft beträchtlichen Schwankungen ist das Einkommen der Landwirte in der Bundesrepublik Deutschland in den letzten zehn Jahren — ich bitte Sie, Herr Kollege Müller, in den letzten zehn Jahren — unverändert auf dem niedrigen Niveau geblieben, d. h. real mußten in diesen zehn Jahren Einkommensrückgänge verkraftet
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16377
Sussetwerden. Wir sind noch keine zehn Jahre an der Regierung.
Deshalb müssen sich die SPD und auch die FDP zu dem bekennen, was bis 1982 war.
Meine Damen und Herren, wir wissen, daß sich die Schere für die Landwirtschaft weiter öffnet, und dabei ist nicht berücksichtigt, daß die Landwirte eigentlich ein Vielfaches an Kapital benötigen, um ein anderen Berufsgruppen vergleichbares Einkommen zu erzielen. Es ist sicherlich nicht angenehm zu wissen, daß das Durchschnittseinkommen in der Landwirtschaft bei 25 000 DM und im außerlandwirtschaftlichen Bereich etwa bei 35 000 DM liegt. Dieses gute Einkommen im außerlandwirtschaftlichen Bereich mißgönnen wir niemandem. Wir sind daran interessiert, daß dort verdient wird, damit hochwertige Agrargüter zu günstigen Preisen verkauft werden können; aber leider ist dies wegen der Überschüsse zur Zeit nicht möglich.Besondere Probleme bereiten die Landwirte im untersten Viertel der landwirtschaftlichen Vollerwerbsbetriebe. Sie erzielen einen Gewinn von mageren 2 226 DM. Der Rest, der auch bei bescheidenster Lebenshaltung notwendig ist, muß praktisch aus dem Vermögen entnommen werden. Leider ist diese Situation für die Mehrzahl der Betriebe nicht vorübergehend, sondern schon seit mehr als einem Jahrzehnt ein Dauerzustand.
Über die Hälfte bleiben nach dem Agrarbericht beispielsweise in zwei aufeinander folgenden Wirtschaftsjahren in der untersten Klasse, knapp einem Viertel gelang ein Sprung in die nächsthöhere Einkommensgruppe.Aber auch im Bereich der Betriebe mittleren Einkommens ist die längerfristige Existenz der Betriebe, wenn sich die Bedingungen nicht ändern, nicht gesichert.
Fast die Hälfte aller Vollerwerbsbetriebe hat Eigenkapitalverluste hinzunehmen. Das heißt, auch hier reicht der Gewinn vielfach nicht zur Deckung der Lebenshaltungskosten, geschweige denn für eine positive Eigenkapitalbildung aus.Nun, der Herr Kollege Müller hat sich hier an den Betrieben im oberen Viertel gestört: an den Betrieben, die 55 000 DM verdienen. Es hat mich eigentlich gefreut, daß er dazusagte, es sei gar nicht so schlimm, wenn es noch einige Betriebe gebe, die hier so verdienen können. Auch ich meine, das ist sicher keine schlechte Sache. Aber er hat nicht dazugesagt, daß dies schließlich Bruttoeinkommen sind. Hier ist j a immer von den Reichen die Rede.
Es sind Bruttoeinkommen, von denen die Steuern, die soziale Sicherung, eine für die langfristige Existenz notwendige Rücklagenbildung und meist — auch das muß man sagen — noch ein Zuschuß an die Altenteiler abgehen.
Auch in diesen Betrieben sind unter den jetzigen Bedingungen keine Reichtümer zu sammeln.
Lassen Sie mich einen weiteren Aspekt ansprechen, der in der gegenwärtigen Diskussion von Bedeutung ist: die beträchtlichen Aufwendungen der Landwirte für die soziale Sicherung. Wir haben mit dem Dritten Agrarsozialen Ergänzungsgesetz gegengesteuert.
Wir haben gegengesteuert mit der Anhebung der Mittel für die Unfallversicherung. Aber — ich stelle das für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fest — das genügt nicht.
Ein kleinerer landwirtschaftlicher Betrieb mit einem Gewinn von etwas mehr als 15 000 DM bezahlt fast 5 000 DM für die soziale Sicherung. Das ist ein Drittel seines Einkommens. Dies ist deshalb ein zentraler Ansatzpunkt künftiger nationaler Agrarpolitik, weil dieser Zustand, wenn wir die Betriebe erhalten wollen, auf Dauer nicht haltbar ist. Hier müssen wir kurzfristig weiterhelfen. Und wir sind daran. Wir werden helfen.
— Nun, es ist ein Problem der Opposition, daß sie immer erst nachher erfährt, wie wir helfen. Bitte, trauen Sie uns zu,
daß wir es so tun, daß richtige Hilfen dabei entstehen.
Die Bundesregierung hat sofort nach Übernahme der Regierungsverantwortung gehandelt und notwendige Entscheidungen auf nationaler und europäischer Ebene getroffen.
Erstens. Sie hat den Einkommensausgleich über die Umsatzsteuer gegen den erbitterten Widerstand der SPD erreicht.
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16378 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
Susset— Was hier die Finanzpolitiker der SPD alles erklärt haben, das läßt sich doch in den Protokollen des Deutschen Bundestages nachlesen.
Wir haben die Garantiemengenregelung bei Milch eingeführt, Härtefallregelung und Ermessensklausel nicht aus Lust an der Freud geschaffen, sondern als zwingende Notwendigkeit durchgesetzt.Zweitens. Wir haben in der Sozialpolitik und in der Steuerpolitik gegen den Widerstand der SPD Verbesserungen durchgesetzt. Die SPD hat die jeweiligen Haushalte abgelehnt.
Drittens. Wir haben gegen den erbitterten Widerstand der SPD auch im Bundeshaushalt eine bessere Dotierung der benachteiligten Gebiete geschaffen. Wir haben die Junglandwirteförderung und in der Familienpolitik das Erziehungsgeld für die Bäuerin durchgesetzt.
Wir sind mit den Landwirten der Auffassung, daß die beträchtlichen Anstrengungen in Anbetracht der Problemlage noch nicht genügen. Wir sind aber nicht der Meinung, daß man behaupten kann, daß für die Landwirtschaft in ihrer schwierigen Lage nichts getan wird. Es wäre nichts getan worden, wenn die SPD den Bundeskanzler gestellt hätte.
Noch keine Bundesregierung hat es fertiggebracht, in so kurzer Zeit so weitgehende Unterstützungen für die Landwirtschaft zu ergreifen.
Das muß anerkannt werden.
Die SPD will in der gemeinsamen Agrarpolitik weiterhin eine Politik des Preisdrucks. Das scheidet für uns aus. Deshalb hat unser Bundeslandwirtschaftsminister von dieser Fraktion und von seinem Bundeskabinett die Unterstützung, in Brüssel und in Luxemburg hart zu verhandeln.
— Er hat die Unterstützung vom Kabinett, und diesem Kabinett gehören auch FDP-Mitglieder an. Er hat die Unterstützung von der Regierungskoalition. Ich bin fest davon überzeugt, daß dies bei beiden Koalitionsfraktionen so gesehen wird.
Eine verantwortungsvolle Agrarpolitik für die Zukunft muß von folgenden Rahmenbedingungen ausgehen.Erstens. Das Wachstum des europäischen Binnenmarkts für Nahrungsmittel ist begrenzt. Der Absatz auf dem Weltmarkt wird zudem stärker umkämpft und geht auf Grund der zunehmenden Eigenproduktion bisheriger Importländer zurück. Der produktionstechnische Fortschritt wird auch in Zukunft weitergehen. Ich glaube, diese Tendenzen müssen akzeptiert werden. Aber es sind auch positive Entwicklungen erkennbar. Das Bewußtsein der Bevölkerung für Umweltbelange hat zugenommen. Man ist auch bereit, dafür etwas zu bezahlen. Der Bevölkerung ist die Erhaltung und Pflege unserer gewachsenen Kulturlandschaft etwas wert.Zweitens. Der Landwirtschaft werden sich mitttelfristig neue Chancen im Nichtnahrungsmittelbereich eröffnen. Unsere Aufgabe wird es sein, die Weichen zu stellen, damit die Landwirte das Beste aus der zukünftigen Entwicklung machen können. Dabei gibt es kein Patentrezept. Nur mit einem Bündel von Maßnahmen wird es gelingen, die gegenwärtige schwierige Situation zu überstehen.Meine Damen und Herren, unser Konzept zur Überwindung der gegenwärtigen Krise in der Landwirtschaft setzt an vier Punkten an.Erstens. EG-weite Marktentlastung. Die Bundesregierung setzt sich in Brüssel für ein EG-weites Marktentlastungsprogramm auf freiwilliger Basis ein. Dazu sollten ergänzend Maßnahmen zur Teilflächenstillegung und Umwidmung einbezogen werden. Dieses Instrumentarium ist unter den Verhältnissen der EG neu. Man muß daher sorgfältig an diese Maßnahmen herangehen.
Aber marktentlastende Maßnahmen in der EG dürfen natürlich — das muß sichergestellt sein — nicht zu einem Anstieg von Drittlandimporten führen.
Zweitens. Wir unterstützen weiterhin den Vorschlag der EG-Kommission nach Einführung eines europäischen Milchrentenprogramms. Wir unterstützen eine Umlenkung der Produktion: Anbau von Defizitprodukten, verstärkte Verfütterung von Agrarprodukten, Anbau von nachwachsenden Rohstoffen — Stärke, Zucker, Öle, Fette und Bioethanol.Wir wollen -- drittens — die Entlohnung der Leistung der Landwirtschaft im Bereich Umwelt und Landschaftspflege. Das bedeutet eine finanzielle Bewertung der Leistungen über die Nahrungsmittelproduktion hinaus, die bisher selbstverständlich und kostenlos erbracht wurden. Wir haben den Spielraum im EG-Bergbauernprogramm voll genutzt. Die Fläche, die bisher vier Millionen Hektar betrug, wird ausgeweitet.Wir treten dafür ein, daß landwirtschaftliche Betriebe für umweltschutzbedingte Bewirtschaftungsbeschränkungen einen angemessenen Ausgleich er-
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Sussethalten, so daß sie nicht schlechter gestellt werden als vergleichbare Betriebe ohne diese Beschränkungen. Das Wasserhaushaltsgesetz ist hier die Nagelprobe. Wer hier helfen will, meine Kollegen von der SPD-Fraktion, der braucht heute keinen Entschließungsantrag vorzulegen, mit dem man das praktisch von vornherein ablehnt.
Die SPD will bei den Preisen nichts zugestehen und auch nicht bei zusätzlichen Leistungen für die Landwirtschaft. Das heißt, die Landwirtschaft hat von euch nichts zu erwarten.
Viertens. Sicherung der Marktkapazitäten. Es kann keiner einem Landwirt klarmachen, daß Maßnahmen zur Produktionsdrosselung ergriffen werden müssen, wenn auf der anderen Seite die Zügel für die Herstellung von Imitationsprodukten völlig losgelassen werden. Ich bin dem Minister dankbar, daß er hier heute anläßlich der Agrardebatte mitteilen konnte, daß die EG-Kommission in der Zwischenzeit eingesehen hat, daß wir da nicht bereit sind mitzumachen,
und ihre Klage zurückgezogen hat. Herzlichen Dank.
Die Bundesregierung setzt sich zu Recht seit langem in Brüssel für die Beibehaltung des deutschen Reinheitsgebotes bei Milch, Wurst und Bier ein. Diese Frage ist für uns keine Verhandlungsfrage; gegen Imitationsprodukte jeder Art müssen wir uns mit Entschiedenheit wehren.Wem es um die Erhaltung der bäuerlichen Landwirtschaft ernst ist, meine Damen und Herren, der muß natürlich auch alles tun, damit unseren Landwirten die Existenz ermöglicht wird.
Ich glaube, wir haben klare Ziele, saubere Vorschläge zu gangbaren Wegen vorgelegt. Wir werden nicht nur in der Diagnose bleiben, sondern werden auch in der Therapie heilend wirken.
Wir wollen Machbares, Sach- und Zeitgerechtes als politische Lösung anbieten in schwieriger Zeit.
Die deutsche Landwirtschaft kann sich auf die CDU/CSU-Bundestagsfraktion verlassen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Werner .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst auf zwei Dinge eingehen, die Herr Ernährungsminister Kiechle eben gesagt hat, und zwar einmal auf die Bemerkung, das Einkommen müsse über die Preise gesichert werden, zum anderen auf die Erklärung, kleine bäuerliche Betriebe müßten erhalten bleiben. Das sind zwei Dinge, die auch wir natürlich bejahen. Ich frage mich nur, wie das bei den heutigen Rahmenbedingungen erreicht werden soll. Wir haben Rahmenbedingungen, unter denen seit 30 Jahren die Hälfte der kleinen Betriebe herausgefallen ist. Diese Rahmenbedingungen werden zur Zeit eigentlich nicht grundsätzlich geändert. Wenn Sie es über den Preis schaffen wollen, daß die kleinen Betriebe erhalten bleiben, dann müssen Sie irgend etwas am Preis differenzieren, müssen einen gestaffelten Preis einsetzen.
Andernfalls werden wir den Trend, den wir haben, beibehalten, daß die kleinen Betriebe herauskippen und die großen drinbleiben.Das zweite Problem, wo ich Widersprüche sehe, wie Sie eben gesagt haben, ist das Leitmotiv Ihrer Politik: weniger Menge und bessere Preise. Ich meine, auch dazu gibt es von den Regierungsparteien zur Zeit kein schlüssiges Konzept und kein Programm. Ich werde Ihnen in unseren Anträgen zeigen, daß wir eigentlich dazu etwas Wichtiges zu sagen haben, und Ihnen ein schlüssiges Konzept vorlegen.Daß es noch nie so viele existenzbedrohte bäuerliche Betriebe in der Bundesrepublik gegeben hat, dürfte Ihnen allen klar sein. Daß die heutige Landwirtschaft mit Boden und Wasser, mit unserer Artenvielfalt und den ihr anvertrauten Nutztieren oft umgeht, als wären wir die letzte Generation, ruft vielseitige Kritik hervor. Daß in der EG weitere Überschüsse nicht mehr finanzierbar sind, lesen wir jeden Tag in der Zeitung.Auch in diesem Jahr wird Bundesernährungsminister Kiechle den Bauern keine besseren Agrarpreise präsentieren können. Die Agrarpreisverhandlungen des EG-Ministerrates laufen auf die völlige Ablehnung der deutschen Position hinaus. Eine stärkere nationale Eigenständigkeit in der Agrarpolitik und die Regionalisierung der Politik sind unaufschiebbar. Das bleibt als einzige Möglichkeit, den unterschiedlichen Bedingungen in den einzelnen Mitgliedstaaten gerecht zu werden.Was setzt die Bundesregierung dem Problem im Agrarbereich entgegen? Bislang kaum mehr als das Kanzlerwort: „Wir lassen die Bauern nicht im Stich."
Wenn jetzt auf dem sozialen Sektor Hilfen angekündigt werden,
so ist zu fragen: Wem haben die Bauern das zu verdanken. Ich will es Ihnen sagen: nicht dem Bundeskanzler und nicht dem Finanzminister. Nicht ein-
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Werner
mal der Bundesernährungsminister hat das geschafft, sondern die Bauern Schleswig-Holsteins, als sie sich weigerten, Parteien zu wählen, die den Bauern keine Lebenschance lassen.
Doch zurück zu den drei Problemkreisen: erstens Höfesterben, zweitens Landwirtschaft und Umwelt, drittens Überschüsse.Seit 30 Jahren haben die Regierungen der Bundesrepublik der Landwirtschaft Rahmenbedingungen gegeben, welche die kleineren Betriebe den größeren gegenüber benachteiligen. Das Ergebnis ist der Trend zu mehr Fläche und größeren Tiereinheiten je Betrieb und die Vernichtung jedes zweiten bäuerlichen Hofes bis heute. Ohne einen besseren Erzeugerpreis für Bauern, die nur in kleinen Einheiten vermarkten, und ohne Bestandsobergrenzen ist dies eine Schraube ohne Ende.Ziel grüner Agrarpolitik ist die Existenzsicherung der kleinen und mittelbäuerlichen Betriebe, die Erhaltung und Wiederherstellung einer arten- und abwechslungsreichen Kulturlandschaft und der Abbau der Überschüsse in Solidarität mit der Dritten Welt. Im Rahmen dieses Konzeptes stellen wir unsere Anträge vor:Antrag auf flächenbezogene Bestandsobergrenzen. Willensbekundungen zu Bestandsobergrenzen gibt es schon seit langem.
Der erste Gesetzentwurf zum Schutz der bäuerlichen Landwirtschaft wurde 1966 erstellt. Die flächenunabhängige Massentierhaltung aber bedeutet Verdrängung landwirtschaftlicher Existenzen und Arbeitsplätze — über 60 % der landwirtschaftlichen Einkommen stammen aus tierischer Produktion —, Beseitigungsprobleme mit dem fast immer in Form von Dünne anfallenden Dünger, Abhängigkeit von Futtermittelimporten, hohen und vorwiegend prophylaktischen Einsatz von Medikamenten und Antibiotika und Wachstumsförderern, oft auch illegal, Haltungssysteme, die lediglich auf Arbeitskräfteminimierung und Platzeinsparung konzipiert sind, mit artgerechter Tierhaltung aber nichts zu tun haben.Wir GRÜNEN fordern in unserem Antrag flächengebundene Bestandsobergrenzen mit höchstens 21/2 Vieheinheiten je Hektar
und 100 Vieheinheiten als absolute Obergrenze. Betriebe, die auf Grund fehlender Fläche nur kleine Tierbestände halten können, muß durch gestaffelte Preise ein ausreichendes Einkommen ermöglicht werden. Wir GRÜNEN drücken uns nicht, wie alle anderen agrarpolitischen Kräfte, um klare Aussagen herum.
Meine Damen und Herren, die Einführung von Bestandsobergrenzen für die Erhaltung bäuerlicher Landwirtschaft ist zu wichtig, um immer nur zu sagen: Ja, eigentlich sind wir auch dafür. Handeln Sie!
Zu unserem Entschließungsantrag für den Milchmarkt. Mit besonderer Energie hat die Regierung im Bereich der Milchviehhaltung ihre Politik des Strukturwandels vorangetrieben. Nach außen mit dem Etikett der Erhaltung und des Schutzes der klein- und mittelbäuerlichen Betriebe versehen, zielen jedoch alle Maßnahmen darauf hin, kleinere Betriebe aus der Produktion herauszudrängen und herauszukaufen und gleichzeitig die wirtschaftliche Position der Wachstums- und Großbetriebe zu stärken.
Mit staatlichen Geldern geförderte Wachstumsbetriebe werden als Härtefälle eingestuft, die zusätzliche Quoten eingeräumt bekommen, kleinere Betriebe, die aus eigener Finanzkraft ihren Viehbestand um ein oder zwei Kühe aufgestockt haben und die auf ihre Einnahmen aus der Milcherzeugung dringend angewiesen sind, müssen ungerechterweise Kürzungen ihrer Quoten hinnehmen.
Die GRÜNEN wenden sich gegen die Politik der Regierung, die eine Umverteilung der Milchproduktion in Großbetriebe betreibt, aber keinen Beitrag zur Überschußverringerung und zur Erhaltung der traditionellen bäuerlichen Landwirtschaft leisten kann.
Wir fordern Bundestag und Regierung auf, durch die Zustimmung zu einer Erhöhung des Preises für die ersten 50 000 1 Milch pro Betrieb um 12 % und die Kürzung der Quoten von Überschußbetrieben die bäuerlichen Einkommen zu sichern, die ländliche Struktur zu erhalten und die Überschüsse zu verringern. Wenn bei den anderen Parteien ein wirkliches Engagement für bäuerliche Landwirtschaft besteht, dann muß sich dies auch in Beschlüssen zeigen, die die bäuerliche Landwirtschaft stützen und fördern.Ich komme zu unserem Entschließungsantrag zur Mehrwertsteuerpauschale. Nach dem Agrarbericht gibt die Bundesregierung Milliarden aus, die, wenn man ihren Beteuerungen glaubt, der Erhaltung bäuerlicher Familienbetriebe zugute kommen sollen. Doch mit diesen Mitteln werden nicht die kleinen und mittleren Betriebe zur Beibehaltung ihrer Produktion ermutigt; die Regierung gibt diese Summe aus für die Profitmaximierung von Großbetrieben
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und für die Förderung der Stillegung der Produktion kleinerer bäuerlicher Betriebe.
Die Erhöhung der Mehrwertsteuerpauschale bringt für die kleinen Betriebe gerade ein Taschengeld. Umsatzstarke Betriebe verdienen allein an ihr mehr als viele kleine Betriebe insgesamt.Darüber hinaus hat auch der Landhandel die Mehrwertsteuerpauschale als eine weitere lukrative Einnahmequelle entdeckt, wie es das Beispiel der Viehzentrale Südwest in Schwäbisch Hall zeigt. Durch einen weiteren Zwischenschritt bei der Schweinemast macht diese Vereinigung allein eine halbe Million D-Mark mehr Gewinn.Die Einkommensverteilung von unten nach oben hat in der Politik der Regierung System. Genauso gezielt bringt sie kleine Betriebe zur Aufgabe der Produktion: entweder durch direkten Druck — wie z. B. Quoten — oder durch wirtschaftliche Anreize — wie Milchrente, Betriebsaufgabe oder sogenannte Flächenstillegung.Zu unserem Entschließungsantrag zum sozialökologischen Sofortprogramm: Industrialisierte Agrarfabriken können nur naturzerstörend sein. Eine naturgemäße Landbewirtschaftung ist dagegen nur mit vielseitigen kleinen Betrieben in reich gegliederten Landschaften möglich. Wir fordern deshalb als Programm für die Existenzsicherung der kleinen und mittelbäuerlichen Betriebe ein sozialökologisches Sofortprogramm. Dieses Programm ist durch die Streichung der erhöhten Mehrwertsteuerpauschale zu finanzieren.Es fordert Mittel für Betriebe, die eine flächengerechte Tierhaltung haben — keine Massentierhaltung — und die im Einkommen unter dem dreij ährigen Durchschnitt liegen.
Es fordert ein Entschuldungsprogramm für Betriebe, die ohne eigene Schuld in Not geraten sind, und Mittel zur Förderung einer ökologisch verträglichen Landbewirtschaftung und zur ökologischen Beratung der Landwirte.
Wir haben einen Entschließungsantrag zur einkommensgerechten Staffelung der Sozialabgaben vorgelegt. Die Beiträge zur landwirtschaftlichen Sozialversicherung sind entsprechend dem tatsächlichen Einkommen zu staffeln. Betriebe mit einem Einkommen von unter 1 000 DM pro Vollerwerbskraft im Monat sind von den Abgaben praktisch zu befreien.Gemäß den Forderungen der Landfrauenverbände ist eine eigenständige Alterssicherung für Frauen einzurichten, die die gleichen Leistungsansprüche wie die des Betriebsleiters umfaßt.
Die Dringlichkeit einer durchgreifenden Reform wird aus der Tatsache ersichtlich, daß kleinere Betriebe fast 40 % ihres Gewinns für Sozialabgaben aufwenden müssen, daß die Vollerwerbsbetriebe im Durchschnitt fast 25 % für die agrarsoziale Sicherung ausgeben müssen und daß kleine Betriebe sogar von ihrer Substanz leben.Der Agrarbericht zeigt deutlich den „Erfolg" einer Agrarpolitik, die noch immer mit dem Grundsatz „Wachse oder weiche" arbeitet. Die Zahl der Betriebe ist dank der Agrarpolitik der Regierung weiter zurückgegangen, und zwar im Vergleich zum Vorjahr um 11 675. Dieser relativ geringe Rückgang, der eine Vernichtung von über 17 000 Arbeitsplätzen bedeutet, hat sich daraus ergeben, daß es im ländlichen Raum keine Einkommens- und Beschäftigungsalternativen mehr gibt. Die Politik des Strukturwandels hat innerhalb der letzten 15 Jahre über 400 000 Arbeitsplätze auf dem Lande vernichtet.Innerhalb der EG ist das Durchschnittserzeugerpreisniveau um ca. 3 % pro Jahr gestiegen. In der Bundesrepublik ist es jedoch schon seit drei Jahren laufend zurückgegangen.Der Preisdruck auf die bäuerliche Landwirtschaft setzt sich weiter fort. Der Gewinn je Familienarbeitskraft wird nach Schätzung des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten in diesem Jahr im Durchschnitt um 6 % sinken. Dabei wird Futterbaubetrieben als einziger Sparte eine leichte Gewinnerhöhung von 3 % prophezeit. Für Marktfruchtbetriebe, Veredelungsbetriebe und Dauerkulturbetriebe stehen Verluste von 18-20 % ins Haus, für Gemischtbetriebe Verluste von 12 %.
44 % der Betriebe haben im vergangenen Jahr Eigenkapitalverluste erlitten. Sie mußten also von der Substanz leben.Bei diesen agrarpolitisch gesetzten Rahmenbedingungen sind für strukturell oder regional benachteiligte kleinere Betriebe kaum Überlebensmöglichkeiten gegeben. Ist das die Art und Weise, in der die Bundesrepublik das immer wieder beschworene Ziel ihrer Agrarpolitik, Verbesserung der Lebensverhältnisse im ländlichen Raum sowie Teilnahme der in Land- und Forstwirtschaft sowie in der Fischerei Beschäftigten an der allgemeinen Wohlstands- und Einkommensentwicklung durchsetzen will? Wenn dem so ist, können die Wachstumsbetriebe relativ zufrieden sein. Die Inhaber kleinerer Betriebe werden sich bald um den Weiterbestand ihres Betriebes keine Sorgen mehr machen müssen. Sie sind dann dank dieser Politik entweder verkauft oder pleite.Zum zweiten Problemkreis: Landwirtschaft und Umwelt. Sie haben hoffentlich einmal gelesen, was das Sondergutachten des Sachverständigenrates zu dem gleichlautenden Thema zu sagen hat. Minister Kiechle äußerte sich bei der Entgegennahme des Gutachtens vor gut einem Jahr wie folgt: „Ich will dazu noch einmal ausdrücklich betonen, daß ich mehr Umweltschutz, auch in der Landwirtschaft, für unverzichtbar halte." Heute fordert der Minister immer wieder, man müsse die ökologischen Leistungen der Bauern honorieren. Das haben wir
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auch heute gehört. Dann könnte diese widersprüchliche Aussage trotzdem ihren Sinn haben, aber nur, wenn auch konkret wird, was damit gemeint ist. Der heutigen agrarindustriellen Landwirtschaft kann man doch wohl nicht allgemein ökologische Leistungen gutschreiben. Dann müßte man doch schon über bäuerliche Landwirtschaft, ökologischen Landbau und die Reduzierung der Bewirtschaftungsintensität auf der Gesamtfläche sprechen.
Wir stellen unser Konzept der Erhaltung der Umwelt durch die bäuerliche Landwirtschaft an Hand der folgenden Anträge dar:Antrag auf Förderung der ökologischen Landbewirtschaftung durch die Gewährung von Umstellungsbeihilfen. Die von den GRÜNEN geforderten Beihilfen sollen im ersten Jahr der Umstellung 500 DM je ha, höchstens jedoch 5 000 DM je Betrieb betragen. Die folgenden vier Jahresraten verringern sich jeweils um 20 % gegenüber der Anfangsrate. Daraus ergibt sich eine Gesamtbeihilfe von 1 500 DM je ha bzw. maximal 15 000 DM pro Betrieb. Wir meinen, daß das eine bescheidene Forderung ist, die bei den Pionierleistungen, die der ökologische Landbau vollbringt, mehr als gerechtfertigt ist.
Eine ähnliche Gewichtung hat auch unser Antrag „Bauern helfen Bauern" zur Förderung der Beratung im ökologischen Landbau in Form eines bäuerlichen Selbsthilfemodells. Dieser Antrag würde Kosten in Höhe von 1 Million DM verursachen. Er ist bereits im Ausschuß abgelehnt worden. Es scheint, als würde man sich für ökologische Belange im Landbau nicht stark machen bzw. nur über Reden stark machen.
Weiterhin liegt ein Antrag von uns auf freiwilligen Verzicht auf Pestizide vor. Dieser Antrag zur Reduzierung der Getreideüberschüsse durch freiwilligen Verzicht auf den Einsatz von Pestiziden als Alternative zur geplanten Flächenstillegung gehört zwar hauptsächlich zu dem Punkt 3, Abbau von Überschüssen, er hat aber auch — eben durch den Verzicht auf Pestizide — größte ökologische Bedeutung. Dieses Konzept beinhaltet die einzige sinnvolle Art, Überschüsse abzubauen. Auf freiwilliger Basis bringt es, ohne Arbeitsplätze zu vernichten, wesentliche ökologische Vorteile, eine Verringerung des Energieaufwandes, keine Einkommensminderung für die Bauern und — bei Einrechnung der Kosten der Überschüsse — keine zusätzlichen Ausgaben für Staat oder EG.Zu unserem dritten Punkt, Überschüsse. Antrag auf Beschränkung der Futtermittelimporte und Beimischungszwang. Zum Abbau der Überschüsse auf dem Getreidesektor fordern die GRÜNEN die sofortige Beschränkung der Futtermittelimporte, den Zwang zu 50%iger Beimischung von Getreide bei der Mischfütterung, die Förderung des Leguminosenanbaus und der Ganzpflanzensilage. Wir setzen uns aus marktordnungspolitischen, entwicklungspolitischen und ökologischen Gründen für den Stopp der Futtermittelimporte ein.
Ferner haben wir einen Entschließungsantrag für eine Stickstoffabgabe gestellt. Um Überschüsse der Pflanzenproduktion gezielt abzubauen, bedarf es eines verringerten Einsatzes ertragssteigender Mittel. Wir halten eine Stickstoffabgabe, wie sie der Sachverständigenrat für Umweltfragen fordert, für sinnvoll. Die Einschränkung der Verwendung von mineralischem Stickstoff wird bessere Fruchtfolgen mit hohem Leguminosenanteil und eine bessere Ausnutzung des organischen Düngers mit sich bringen. Pflanzenschutzmittel können eingespart werden, die Grundwasserbelastung durch die Landwirtschaft geht zurück, das Verhältnis der Landwirtschaft zur Umwelt würde sich generell verbessern.Ich fasse zusammen. Die drei Krisenpunkte, Höfesterben, Landwirtschaft und Umwelt und Überschüsse, haben sich bedrohlich verschärft. Die Bundesregierung hat kein Konzept. Ihre Lösungsansätze für einzelne Teilprobleme haben in anderen Bereichen negative Auswirkungen. Ein Beispiel: Das soziale Marktentlastungsprogramm baut, wenn überhaupt, Überschüsse nur geringfügig ab, verstärkt das Höfesterben und die Arbeitsplatzvernichtung. Beispiel zwei: Bioethanol soll Überschüsse abbauen, verschärft aber die Umweltprobleme und bedarf höchster Subventionen.Die Anträge der GRÜNEN dienen dem Erhalt aller Höfe und Arbeitsplätze. Die Umweltbelastung und Überschußproduktion soll durch eine Verringerung des Einsatzes produktionssteigernder Mittel wirkungsvoll eingeschränkt werden. In diese Richtung wirken auch die Anträge zur Unterstützung der Ausweitung des ökologischen Landbaus. Ziel grüner Agrarpolitik ist die Erhaltung und Wiederherstellung einer artenreichen und abwechslungsreichen Kulturlandschaft. Den Bauern muß wieder die Möglichkeit gegeben werden, im Einklang mit der Natur zu wirtschaften, ohne dadurch die wirtschaftliche Existenz ihrer Betriebe zu gefährden.
Die Lösung der Probleme der Landwirtschaft ist nur durch eine ökologisch angepaßte bäuerliche Bewirtschaftung zu erreichen. Durch industrielle Bewirtschaftung mit Massentierhaltung und Agrochemikalieneinsatz können weder die Umweltprobleme noch die sozialen Probleme gelöst werden.Ich möchte meine Rede mit einer Feststellung der Katholischen Landjugendbewegung schließen: „Es fehlt für eine Erneuerung der bäuerlichen Landwirtschaft nicht an finanziellen Mitteln, den notwendigen Fähigkeiten und technischen Möglichkeiten, es fehlt vielmehr am politischen Willen, sicherzustellen, daß die Landwirtschaft ihren Zielen und Aufgaben gerecht wird."Ich danke Ihnen.
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Meine Damen und Herren, bevor ich dem nächsten Redner das Wort gebe, möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, daß wir Gäste haben. Auf der Ehrentribüne hat eine Delegation der Gesetzgebungskommission des Ständigen Ausschusses des Nationalen Volkskongresses der Volksrepublik China unter der Leitung des stellvertretenden Vorsitzenden Herrn Xiang Chunyi, Platz genommen.
Ich habe die Freude, Sie hier bei uns im Deutschen Bundestag zu begrüßen. Wir wünschen Ihnen noch einen angenehmen Aufenthalt und interessante Gespräche auf Ihrer weiteren Reise durch die Bundesrepublik Deutschland.
Der nächste Redner ist der Abgeordnete Paintner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat uns mit dem Agrarbericht 1986 wiederum eine agrarpolitische Jahresbilanz vorgelegt. Ich halte diesen Bericht für ein ausgezeichnetes Dokument sauberer agrarpolitischer Buchführung, für die die Regierung und die Beamten Dank und Anerkennung verdienen.
Allerdings gibt einiges, was die Bundesregierung anführt, auch zu denken.Um es auf einen kurzen Nenner zu bringen: Die derzeitige Einkommenssituation der deutschen Landwirtschaft ist miserabel.
Der Agrarbericht weist für das Berichtsjahr 1984/85 einen Anstieg des Gewinns je Familienarbeitskraft von 15,4% gegenüber dem Vorjahr aus. Dabei ist zu bedenken, daß diese Aufwärtsbewegung Einkommensverluste des Vorjahres von 18,2% nicht auszugleichen vermochte. Noch mehr trübt sich die Freude an dem Einkommensanstieg des vergangenen Wirtschaftsjahrs, wenn man die aktuelle Situation betrachtet. Es ist zu befürchten, daß der Agrarbericht mit seiner Einkommensvorausschätzung recht behalten wird: Es wird ein Rückgang des Gewinns je Familienarbeitskraft um zwischen 8 und 10% erwartet. Wer die geradezu deprimierenden Preise für Schlachtkühe, Mastbullen, Schlachtschweine, Eier und Kartoffeln jetzt und in den letzten Monaten betrachtet, wird nicht daran zweifeln, daß es leider wiederum zu einem Einkommensrückgang kommen wird.
Dabei ist das Niveau der Agrareinkommen keineswegs so, daß solche Rückschläge zu verkraften oder gar zumutbar wären. Die rund 24 000 DM Gewinn je Familienarbeitskraft liegen um rund 10 000 DM unter dem durchschnittlichen Arbeitnehmereinkommen in der Bundesrepublik. Der Abstand zum gewerblichen Vergleichslohn beträgt inzwischen über 10 000 DM pro Jahr.Sehr aufschlußreich ist der Vergleich der Haushaltseinkommen, den der Agrarbericht ausweist. Da die landwirtschaftlichen Haushalte durchweg mehr Personen umfassen als die im gewerblichen Bereich, schneidet die Landwirtschaft bei einem Vergleich der Einkommen je Haushaltsmitglied ebenfalls nicht gut ab. Während die sonstigen Selbständigen ein verfügbares Einkommen von über 40 000 DM im Haushaltsjahr je Familienmitglied erwirtschaften, bleibt es bei den Landwirten bei rund 10 000 DM. Das ist weniger als ein Viertel. Die Landwirte liegen noch deutlich unter dem verfügbaren Einkommen der Arbeitnehmerhaushalte.Erschreckend ist besonders auch ein Blick auf die langfristige Einkommensentwicklung. Während in der ersten Hälfte der 70er Jahre die Agrareinkommen mit der Entwicklung des gewerblichen Vergleichslohns mitgehalten haben, stagnieren sie seitdem. Der Einkommensabstand vergrößert sich zunehmend. Die Jahre 1970 bis 1976 werden wohl als die goldenen 70er Jahre in die Geschichte der Agrarpolitik eingehen. Sie werden untrennbar mit dem Namen Josef Ertl verbunden sein,
der seine ganze Kraft für das Wohl der deutschen Landwirtschaft eingesetzt hat. Hier möchte ich eines betonen: Jeder, der mich kennt, weiß, daß ich ein Anhänger dieser Koalition bin und überall demonstriere, wie gut diese Koalition ist und daß es keine Alternative gibt.
Aber trotzdem muß Wahrheit und Klarheit bestehen! Was ich heute von der Situation in den zehn Jahren unter Ertl und bezüglich des Grenzausgleiches gehört habe, das reizt uns Liberale wie — in Bayern würde man sagen — den Stier das rote Tuch. Ich sage Ihnen: Wir sind Gott sei Dank der Hoffnung, daß auch wir als Liberale diese Agrarprobleme lösen, und zwar mit dieser Bundesregierung! Wir hängen nicht an der Geschichte; aber ich möchte betonen, daß wir als erste Partei mit unserem Gallus-Papier in die Öffentlichkeit gegangen sind und Zukunftsperspektiven aufgezeigt haben. Unsere Partei war mit unserem Bundesvorsitzenden Bangemann, mit Mischnick und Genscher und Gallus im besonderen die erste Partei, die auch gesagt hat, daß das mehr Geld kosten wird.
— Sie dürfen da ganz ruhig sein, was Sie bieten, haben wir schon längst vergessen.
Meine Damen und Herren, wir werden nicht mehr Spielraum in der Agrarpolitik bekommen,
bis wir von den leidigen Überschüssen weg sind. Die ganze Anstrengung der Bundesregierung und der Regierungen unserer Partnerländer, alle Agrarpolitik muß sich hierauf richten.
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PaintnerMit schuld an der nachteiligen Einkommensentwicklung im Einkommensbereich in der zweiten Hälfte der 70er Jahre und in den 80er Jahren war auch die nachteilige Situation auf dem Arbeitsmarkt. Niemand kann heute bestreiten, daß sich auch der Strukturwandel der ersten Hälfte der 70er Jahre günstig auf die Einkommen ausgewirkt hat. Wissen Sie, die FDP hat sich schon immer zu einem behutsamen Strukturwandel bekannt.
Sie hat jedoch stets darauf gedrungen, daß er von sozialen Maßnahmen flankiert wird, damit für die Beteiligten erst gar keine Härten auftreten können.
Es kann keine zusätzliche Einkommensgarantie und ebenso keine Existenzgarantie für jeden einzelnen Betrieb geben. Ich teile hier die Auffassung der Bundesregierung, die in ihrem Agrarbericht schreibt: Wie in der Vergangenheit werden auch zukünftig Betriebe aus der landwirtschaftlichen Produktion ausscheiden,
insbesondere wenn sie keinen Hofnachfolger haben.
— Jetzt haben Sie es schon gehört. — Damit der landwirtschaftliche Betriebsleiter nicht in die Arbeitslosigkeit entlassen oder zur Weiterbewirtschaftung bis zu seinem 65. Lebensjahr auch dann gezwungen wird, wenn dies mit großen Härten für ihn verbunden ist, hat die FDP schon rechtzeitig vorgeschlagen, staatliche Prämien zu gewähren, damit solche Betriebe stillgelegt werden können. Diese Vorschläge sind inzwischen unter dem Begriff soziales Marktentlastungsprogramm ausreichend bekannt.
Welche bedeutende soziale Funktion ein solches Programm haben würde, erkennt man daran, daß es viele Betriebe gibt, die unzureichende Einkommen erwirtschaften und ohne Hofnachfolger sind. Da wäre es doch für den Betriebsleiter eine große Hilfe, wenn er die Landbewirtschaftung ohne Einkommensverzicht einstellen könnte.Wie dringlich eine solche Maßnahme mit dem vorrangigen Ziel, den Markt zu entlasten, ist, zeigt auch die Einkommenssituation in einer Reihe unserer Betriebe. 37 % unserer landwirtschaftlichen Betriebe haben im Berichtsjahr nur ein Standardbetriebseinkommen von 18 500 DM. Eine große Anzahl dieser Betriebe mußte Eigenkapitalverluste hinnehmen.
In der Regel wurde überdurchschnittlich viel Fremdkapital aufgenommen. Die Entwicklung kann, wie ich meine, so nicht weitergehen.Hier muß zweifach geholfen werden. Zum einen appelliere ich an die Bundesregierung, kurzfristige Hilfen bereitzustellen. Diese Betriebe befinden sich zum Teil in besorgniserregenden Liquiditätsengpässen. Es sollten rasch die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, daß über eine Reduzierung der Kosten der Sozialversicherung, die in diesen Betrieben oft bis zu 50 % des Einkommens ausmachen, eine rasche und wirksame Hilfe geleistet wird.
Die FDP wird sich einer solchen Hilfe nicht verschließen. Ich hebe dies ausdrücklich noch einmal hervor, weil allzugerne draußen im Lande die Parole ausgegeben wird, die FDP bremse solche Überlegungen. Ich wiederhole noch einmal: Wir sind zu diesen Hilfen gerne bereit, ganz einfach weil sie erforderlich sind. Eine längerfristige Hilfe für viele dieser Betriebe, insbesondere soweit sie keinen Hofnachfolger haben, muß das soziale Marktentlastungsprogramm sein. Diese Betriebe dürfen nicht in den Ruin, sie müssen in eine sozial gesicherte Zukunft entlassen werden.
In den Dienst der Einkommensverbesserung muß auch noch stärker als schon bisher die Ausgleichszulage in den benachteiligten Gebieten gestellt werden. Gerade in diesen Regionen sind die Betriebe zu finden, die unserer besonderen Hilfe bedürfen. Auch hier werden die Bundesregierung und die Länder auf die FDP vertrauen können.
Sie wird die geplanten Gebietsausweitungen von 4 Millionen ha auf 6 Millionen ha mittragen und auch gerne bereit sein, über eine Erhöhung des Höchstbetrages zu reden.Gleichzeitig sollten allerdings Überlegungen angestellt werden, wie man die Bergbauernförderung noch stärker zu einem Instrument der extensiveren Produktion und der Produktionsrückführung entwickeln und umgestalten kann. Dieser Prüfung müssen alle agrarpolitischen Instrumente unterzogen werden.Ich möchte auch sagen — ich wiederhole das —: Eine alte FDP-Forderung ist, Schluß zu machen mit den kapazitätsausweitenden Förderungen im Agrarbereich in der ganzen Europäischen Gemeinschaft.
Ich fordere die Bundesregierung auf, den Widerständen, die in Brüssel noch vorhanden sein mögen, mit aller Energie entgegenzutreten. Wer jetzt noch Schweineställe fördert, schreibt den unerträglich niedrigen Schweinepreis, den unsere Landwirte heute erzielen, auf Jahre hinaus fest.
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PaintnerDie Bundesregierung ist zu Recht der Auffassung, daß Senkungen der Marktordnungspreise im Hinblick auf unsere Landwirte nicht zu verantworten wären. Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß bei sinkenden Erzeugerpreisen eine Reihe von Betrieben in größte Schwierigkeiten kommen. Daß Betriebe schon heute in Schwierigkeiten sind, ist doch nichts Neues. Das kann agrarpolitisch nicht hingenommen werden. Die FDP unterstützt deshalb Bundesminister Kiechle, wenn er bei den laufenden Preisverhandlungen in Brüssel versucht, Preissenkungen zu vermeiden.In einer unternehmerisch orientierten Landwirtschaft müssen die Verkaufserlöse auch weiterhin das Rückgrat der Einkommensentstehung sein.
Das heißt nicht, daß nicht direkte Einkommenshilfen gewährt werden sollen. Ich wiederhole, daß sich die FDP sowohl kurz- als auch mittelfristig wirksamen, gezielten direkten Einkommenshilfen nicht verschließt. Die Einkommensanalyse des Agrarberichts und die aktuelle Preissituation liefern Gründe genug dafür, daß wir damit nicht so lange warten sollten.
Ich halte es für vernünftig, daß die Finanzhilfen, über die die Bundesregierung und das Parlament gegenwärtig nachdenken, in solchen Bereichen gewährt werden, in denen wir am ehesten mit der Zustimmung der EG-Kommission rechnen dürfen; denn auch wir wollen und dürfen nicht gegen die Wettbewerbsbestimmungen des EG-Vertrages verstoßen. Wir dürfen das allerdings auch von unseren Partnerländern verlangen.
Ich begrüße deshalb die Erfolge, die die Bundesregierung in dieser Hinsicht in Brüssel erzielen konnte.
Mit Bedauern habe ich dem Agrarbericht entnommen, daß die alternativ bewirtschafteten Betriebe trotz ihres relativ geringeren unternehmerischen Aufwandes und wesentlich höherer Erzeugerpreise auch im Wirtschaftsjahr 1984/85 einen niedrigeren Gewinn je Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche als konventionell bewirtschaftete Betriebe erzielten. Für mich als überzeugten Marktwirtschaftler ist es nur vernünftig, daß einige Betriebe eine sich offenkundig auftuende Marktnische ausfüllen und Bürger, die alternative Produkte zu konsumieren wünschen, damit auch versorgen.
Nachdem nunmehr nach Art. 19 der Effizienzrichtlinien der Europäischen Gemeinschaft die Mitgliedstaaten befugt sind, umweltschonend wirtschaftenden Betrieben — das, meine ich, sind sie doch — bestimmte Hilfsmaßnahmen angedeihen zu lassen, sollten wir ernsthaft überlegen, ob nicht die Ausgleichszulage im Rahmen des Bergbauernprogramms all diesen Betrieben auch außerhalb der benachteiligten Gebiete gewährt werden sollte. Ich halte das für überlegenswert.Allerdings zeigt das wirtschaftliche Ergebnis der alternativ bewirtschafteten Betriebe auch deutlich, daß der Weg zurück in den totalen Verzicht auf ertragssteigernde Betriebsmittel nicht gangbar ist.
Bemerkenswert ist eben doch, daß ein wirtschaftlicher Erfolg überhaupt nur bei erheblich höherem Arbeitskräfteeinsatz erzielt werden kann. Aber selbst die höheren Preise, die den alternativen Betrieben sehr zu gönnen sind, reichen nicht aus, um diesen erhöhten Aufwand zu kompensieren. Die Rechnung der GRÜNEN geht also nicht auf, wenn sie fordern, auf Düngemittel und Pflanzenschutzmittel zu verzichten und das Arbeitslosenproblem über einen erhöhten Arbeitseinsatz in der Landwirtschaft zu lösen.
Die Nahrungsmittel wären dann für viele Kreise — und das muß man den Verbrauchern endlich einmal sagen — nicht mehr zu bezahlen. Wer solche Konzepte predigt, predigt eine alte Armut, und zwar nicht nur in der Landwirtschaft, sondern aller.
Der Agrarbericht bestätigt ein weiteres Mal, daß die Nebenerwerbslandwirte immer weniger die Sorgenkinder der Agrarpolitik sind. Ich halte die Information, daß unsere Nebenerwerbsbetriebe ein Durchschnittsgesamteinkommen von 36 400 DM je Familie erzielen konnten, für einen der erfreulichsten Lichtblicke des Agrarberichts.
— Danke schön.
Heißt das, daß Sie keine Zwischenfragen zulassen?
Ja.
— Schreien Sie doch nicht so. Sonst höre ich mich ja selber nicht mehr.
Freilich dürfen wir aber auch hier nicht vergessen, daß die genannte Zahl eine Durchschnittsgröße ist. Gerade im bayerischen Raum sind mir viele Nebenerwerbsbetriebe bekannt, bei denen zu einem geringen nichtlandwirtschaftlichen ein ebenso geringes landwirtschaftliches Einkommen hinzukommt. Solche Nebenerwerbsbetriebe sollten wir in unsere Maßnahmen zur Einkommensverbesserung einbeziehen. Ich halte es für unerläßlich, daß alle Instrumente der Regionalpolitik eingesetzt werden,
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16386 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
Paintnerum gerade in den ländlichen Räumen lukrative Arbeitsplätze zu schaffen.
Dies wäre ein wirksamer Beitrag zur Lösung unserer agrarpolitischen Probleme.Es darf auch hier nicht übersehen werden, daß die geringe Inflationsrate auch für die Landwirte positive Akzente gesetzt hat. Die Betriebsmittelpreise sind im Berichtsjahr insgesamt gesunken. Dank des günstigen Zinsniveaus konnten die Schuldzinsen gesenkt werden.
— Das können Sie sagen, weil Sie nie ein Landwirt waren und nie Schulden als Landwirt gehabt haben.Das alles ist kurzfristig aber nicht ausreichend. Ich darf deshalb noch einmal auf die Überlegungen zurückkommen, die Einkommenssituationen unserer Landwirte zu verbessern. Wenn wir hier nach Bereichen suchen, in denen wir nicht mit den Beihilfevorschriften der Europäischen Gemeinschaft kollidieren, muß sich unser Augenmerk zwangsläufig wieder auf den Steuerbereich richten. Diese Regierungskoalition hat im abgelaufenen Jahr mit dem Steuerbereinigungsgesetz und der Neuregelung der Besteuerung des selbstgenutzten Wohneigentums erhebliche steuerliche Erleichterungen für Landwirte bei Grundverkäufen geschaffen. Ich appelliere an die Bundesregierung und Sie alle, meine Damen und Herren, es dabei nicht bewenden zu lassen.Auf Grund der niedrigen Preise erzielen auch viele buchführende Landwirte keinen Gewinn. Sie finden sich plötzlich vor der Tatsache, daß sie zwar 3 000 bis 4 000 DM Buchführungskosten haben, aber keine Steuerersparnis erzielen, weil sie mangels Gewinn ohnehin keine Steuern zahlen müssen. Ich möchte hier nicht einer Auflockerung der Buchführungspflicht das Wort reden. Es kann nicht Aufgabe der FDP sein, die für eine unternehmerisch orientierte Landwirtschaft eintritt,
die Landwirte von der Buchführung wegzubringen. Ich bin aber schon der Auffassung, daß Betriebe, die oberhalb der festgelegten Grenzen für die Buchführungspflicht operieren, sich auch per Buchführung einen Überblick über ihre betriebswirtschaftliche Situation verschaffen sollten. Die Bundesregierung sollte aber Überlegungen anstellen, ob sie hier nicht helfend eingreifen könnte.Die Bundesregierung ist ferner aufgerufen, die Richtgrößen zu überprüfen, nach denen die 13-aLandwirte besteuert werden. Sollte hier die Gewinnerfassungsquote den erträglichen Rahmen übersteigen, müßten die Koeffizienten herabgesetzt werden.Ferner halte ich es bei diesen geringen Preisen für Veredlungsprodukte für angebracht, die sogenannten Vieheinheitenschlüssel bei der wegen überhöhter Viehhaltung zu bedenken. Solche Zuschläge schlagen sich gravierend in den Grundsteuern nieder, die für die Landwirte Fixkosten sind und entrichtet werden müssen, ehe überhaupt ein Liter Milch, ein Schwein oder ein Ei verkauft ist.Ich möchte am Schluß sagen, daß dieser Agrarbericht nach dem ihm vom Gesetz gegebenen Sinn so gesehen werden sollte, daß man aus ihm lernen sollte, wie sich die Situation in der Landwirtschaft weiterentwickelt. Ich sage Ihnen nur: Wir als FDP-Fraktion haben unsere Pläne, unsere Papiere vorgelegt, und wir sind voller Hoffnung, daß wir mit dieser Bundesregierung die Zukunft für die Landwirtschaft gestalten können.
Das Wort hat der Abgeordnete Schröder .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Debatte läuft Gefahr, ihr eigentliches Ziel zu verfehlen.
Was wäre denn das Ziel, das in dieser Debatte erreicht werden müßte?
Ich denke, es gibt zwei Notwendigkeiten, einmal die Notwendigkeit, jenes Maß an Gemeinsamkeit hier herzustellen, das ganz einfach nötig ist, wenn man wirklich ernsthaft darangehen will, die Probleme, die die Landwirtschaft unverkennbar hat, aufzuarbeiten.
Es gibt ein zweites Ziel, das man nicht vergessen darf und das man sehr schnell verfehlen kann: Man muß nämlich nicht nur den Bauern klarmachen wollen, warum ihnen in ihrer wahrlich schlechten Situation geholfen werden muß, sondern man muß das auch denjenigen klarmachen, die als Verbraucher und Steuerzahler die gewaltigen Summen aufzubringen haben, die wir in die Landwirtschaft investieren müssen. Ich betone: investieren müssen. Deshalb macht es überhaupt keinen Sinn, diese Debatte als eine Debatte eingebildeter Agrarexperten zu führen, sondern es macht nur Sinn, sich zusammenzunehmen und denen, die von Landwirtschaftspolitik betroffen sind, auch als Verbraucher und Steuerzahler, die Notwendigkeiten, die unabweisbar sind, zu erklären.
Mein Bedenken, Herr Kiechle, ist, daß Sie auch mit Ihrer Rede diese Notwendigkeiten verfehlt haben.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16387
Schröder
Sie haben Sozialdemokraten vorgeworfen, wir predigten Existenzangst.
Das ist ein Vorwurf, der uns ganz einfach deshalb nicht trifft — —
— Hören Sie ruhig einmal zu! Sie sind wohlbestallte Funktionäre des Bauernverbandes, Ihnen geht es besser als den Mitgliedern in Ihrem Verband. Das sage ich in aller Deutlichkeit.
Sie kommen nicht darum herum: Wir predigen nicht Existenzangst, sondern die betroffenen Bauern haben Existenzangst, und zwar unabhängig von Ihrem Gebrüll. Sie haben nämlich Existenzangst, weil die Not, in der sie sind, unverkennbar ist,
weil die Not, in der sie sind, real ist und ihnen nicht gepredigt werden muß.
Herr Kiechle, Sie werfen uns vor, wir führten eine schädliche Diskussion von Groß und Klein, wie Sie das genannt haben. Auch dieser Vorwurf trifft uns nicht; denn wir müssen nicht eine Diskussion über Groß und Klein führen. Die Realität in der Landwirtschaft ist so, daß es große Betriebe gibt, denen es gut geht, und kleine und mittlere, denen es schlecht geht,
so daß dies nicht eine Frage der Diskussion, sondern die Frage ist, ob man die Unterschiede, die in der Landwirtschaft sind und die die Betroffenen unterschiedlich drücken, zur Kenntnis nehmen oder ob man das einfach wegdiskutieren will.
Wenn Sie mir das nicht glauben, dann will ich Ihnen ein paar Zahlen nennen. Über die Entwicklung des landwirtschaftlichen Einkommens ist bereits geredet worden. Zur Not, in der viele Betriebe sind, gehört auch, daß die Einkommen im laufenden Wirtschaftsjahr in der gesamten Landwirtschaft hinter die des Jahres 1975/76 zurückfallen werden. Einkommensunterschiede — das hat dann wohl was mit Groß und Klein zu tun, wenn wir darüber mal reden wollen — gibt es, die muß man nicht herbeidiskutieren.
— Warum bestreiten Sie es denn, wenn Sie es wissen?
Zwischen dem obersten und dem untersten Viertel der Betriebe, also zwischen denen, die ganz oben, und denen, die unten sind, besteht ein Unterschied von ca. 50 000 DM Jahreseinkommen.
— Ja natürlich. — Der Unterschied zwischen Ihnen und uns besteht nur darin, daß wir diese Unterschiede, die ja auch Unterschiede in Interessen sind, klar benennen, weil wir denen, die nichts oder wenig haben, helfen wollen, Sie aber nicht. Das muß man redlicherweise zugeben.
Diese Einkommensunterschiede sind nicht nur Ausdruck von Konzentrationsprozessen in der Landwirtschaft, sie führen auch zu weiteren Konzentrationsprozessen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gallus?
Nein. Ich möchte zu Ende kommen. Ich habe so viele Zwischenrufe zu beantworten, daß für Zwischenfragen gar keine Zeit mehr bleibt.
„Wachsen oder weichen", das ist der Knüppel, der gegen die Bauern geschwungen wird.
Und viele der Betroffenen müssen leider weichen.Sie müssen auch deshalb weichen, weil niemand, vor allem die nicht, die an diese Interessen angebunden sind, wie die meisten von Ihnen, die da sitzen, etwas gegen Agrarfabriken tut, die mit hohem Kapitaleinsatz die bäuerliche Landwirtschaft buchstäblich zu Tode konkurrieren.
Wenn Sie Beispiele haben wollen: Schauen Sie sich den Eiermarkt an. Da können Sie sehen, was einerseits Konzentrationsprozesse und andererseits Formen von Tierhaltung sind, die mit menschlicher Würde überhaupt nichts mehr zu tun haben.
Und wenn wir dann auch noch zulassen, besser: wenn Sie zulassen, daß nach der Okkupation des Eiermarktes jetzt der Schweinemarkt dran ist, dann kann ich Ihnen prophezeien, wohin die Reise geht, nämlich zu weiterem Kaputtgehen mittlerer und kleinerer bäuerlicher Betriebe.
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16388 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
Schröder
Wenn wir nicht endlich dazu kommen — und Sie sind dazu nicht frei; das ist doch Ihr Problem —, wirklich harte Bestandsobergrenzen, also die Bindung der Tierhaltung an die bewirtschaftete Fläche, einzuführen,
dann, fürchte ich, wird das Bauernlegen weitergehen.Ich möchte Ihnen noch eines ins Stammbuch schreiben. Die Not der Bauern ist nur die eine Seite des Problems. Was Sie berücksichtigen müssen, wenn Sie ernsthaft Landwirtschaftspolitik betreiben wollen, ist die wachsende Wut der Verbraucher und Steuerzahler über eine falsche Landwirtschaftspolitik.
Ich will Ihnen hier Beispiele nennen. Allein die EGMarktordnungskosten werden 1986 etwa 50 Milliarden DM betragen.
Das aber ist, wie beispielsweise die „Süddeutsche Zeitung" feststellt, bestenfalls die Hälfte der Belastung,
die die Verbraucher und Steuerzahler aufzubringen haben.
Und es geht weiter. Jeder anständige Mensch wird doch wütend, wenn er erfährt, daß Hunderte von Millionen Mark ausgegeben werden, um die Lebensmittel, die ein Bauer in harter Arbeit produziert, im nachhinein zu vernichten,
und dies, obwohl es wahrlich genug Hunger und Elend in der Welt gibt.
Und jetzt gibt es eine schlimme Entwicklung, die Sie mal zur Kenntnis nehmen sollten, statt sie immer nur wegzudrücken.
Das Schlimme an der Entwicklung ist nämlich,
daß der Ärger der Verbraucher und der Steuerzahler auch jene Mehrheit von Bauern auf kleinen und mittleren Betrieben treffen könnte, die von den gewaltigen Summen, von denen eben die Rede war, nichts oder äußerst wenig erhalten.
Ich rede deshalb über die Verbraucher — verstehen Sie das endlich! —,
weil Sie nur mit deren Unterstützung und der Unterstützung durch die Steuerzahler jene gewaltigen Summen aufbringen werden, die Sie benötigen, um Landwirtschaftspolitik in die richtige Richtung zu bringen.
Und wenn Sie sich im Gefühl arroganter Macht darüber hinwegsetzen, prophezeie ich Ihnen: Sie handeln gegen die Interessen der Bauern.
Denn bei endlichen Mitteln, die nicht beliebig vermehrbar sind, müssen Sie der gesamten Gesellschaft, müssen Sie den Menschen, die ohne Arbeit sind, erklären, warum sie diese Mittel aufbringen müssen. Ich bin dazu bereit, es zu erklären. Aber auch Sie sollten es sein.
Ich glaube, daß die Notwendigkeit der enormen Mittel der Landwirtschaftspolitik den Betroffenen nur auf dem Boden von Ehrlichkeit und Vernunft klargemacht werden kann.
Wenn Sie es mir nicht glauben, dann schauen Sie in die Wirtschaftsteile der bedeutenden Zeitungen — und nicht nur in die Wirtschaftsteile —
und nehmen einmal aufmerksam zur Kenntnis, wie dort über Ihre Landwirtschaftspolitik geschrieben wird. Ich sage den Betroffenen: Wenn Sie Ihre Politik nicht ändern, wenn Sie nicht erklären, wofür und warum Sie Mittel ausgeben wollen, zerschlagen Sie die Basis dafür, daß Sie die Mittel bekommen. Dann geht es den Bauern noch schlechter, als es ihnen schon heute geht.
Deswegen ist Ehrlichkeit notwendig. Deswegen ist es z. B. notwendig, daß Sie nicht wieder in eine falsche Richtung gehen.Ich will Ihnen drei Punkte nennen, die eine falsche Richtung angeben, drei Punkte, die in der Rede von Herrn Kiechle nicht mehr ganz so drin waren, aber im Agrarpapier der Union schon drin sind.Erstens. Im Agrarpapier der Union wird den Bauern eine aktive Preispolitik versprochen. Damit wird ihnen vorgegaukelt, es gäbe einen Spielraum für die Erhöhung der Agrarpreise. Das ist nachweislich falsch. Herr Kiechle hat das gerade wieder
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16389
Schröder
einmal schmerzhaft erfahren oder wird es erfahren.Übrigens ein Wort zum Bundeslandwirtschaftsminister.
— Das will ich so nicht sagen. Ich finde, gegen ihn sollte zumindest kein Stellvertreterkrieg geführt werden. Er ist — lassen Sie mich das einmal so sagen — der Sancho Pansa der deutschen Politik. Er kämpft gegen Windmühlenflügel.
Er ist eine eher tragische Figur, die nicht aus eigenem Antrieb handelt, sondern aus taktischem Kalkül, weil der den Wahlkampfmanagern der Union unterworfen ist.Er verspricht also eine Preispolitik, von der er in dem Moment, wo er sie verspricht, schon weiß, daß er das Versprechen nicht halten kann.
Das ist gegen die Interessen der Bauern gerichtet.
Das vermindert den Spielraum, die Mittel, die man für eine vernünftige Landwirtschaftspolitik braucht, dort locker zu machen, wo sie sind.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten von Hammerstein?
Ich möchte keine Zwischenfragen mehr zulassen, weil meine Redezeit sehr begrenzt ist.
Sie kriegen sie nicht angerechnet.
Zweitens. Im Agrarpapier der Union steht etwas über Flächenstillegung, wenn ich das richtig gelesen habe, sogar über nationale Flächenstillegung. Ich sage Ihnen: Soweit es um den Naturschutz geht und Sie alle Gebiete erfassen, kann man das machen. Übrigens muß man wissen, daß man dann für die Produktionseinbußen anständig entschädigen muß, also wiederum Geld braucht, das man woanders hernehmen muß.
Ich sage für meine Fraktion: Solche Vorschläge aus Gründen des Naturschutzes werden wir unterstützen.
Ich habe mit Interesse gehört, daß diese Vorschläge auch in der Rede des Landwirtschaftsministers waren.
Halten wir einmal fest, daß in diesem Punkt Gemeinsamkeiten möglich sind, und handeln wir entsprechend!
Ich finde es aber völlig unsinnig, daß dieses Instrument national eingesetzt oder gar als Instrument der Vermeidung von Überschußproduktion begriffen werden soll, zum einen deshalb, weil Sie, wenn Sie es national einsetzen, Schwierigkeiten mit einer ausgewogenen regionalen Verteilung bekommen und ganze Landstriche u. U. brachfallen könnten, zum anderen aber deshalb, weil dann, wenn Sie es national einsetzen und nicht EG-weit vereinbaren, die Produktionsmengen, die Sie hier einsparen, von anderen aufgefüllt würden. Ich habe mit Interesse zur Kenntnis genommen, daß hier von EG-weit zu treffenden Vereinbarungen die Rede war. Das ist eine Gemeinsamkeit, die festzustellen sich lohnt und entsprechend der man handeln kann.Der dritte Fehler im Agrarpapier der Union ist - davon robbt sich mancher weg; über Herrn Späth will ich in diesem Zusammenhang gar nicht erst reden —:
Die Union sagt den Bauern: Produziert ruhig im alten Stil weiter; wir machen aus den Überschüssen z. B. Sprit.
Lassen Sie uns doch wenigstens darüber Einigkeit herstellen, daß dies eines der unehrlichsten Versprechen ist, die den Bauern je gegeben worden sind.
— Dann lesen Sie doch mal den Bericht des Bundesforschungsministers; er ist auch kein Mitglied der SPD. Herr Riesenhuber sitzt in Ihrer Regierung. Lesen Sie das mal aufmerksam und stellen Sie fest, was der zu dieser Biospritalternative sagt!
Und nehmen Sie mal zur Kenntnis, was der Verband der chemischen Industrie, der dort zuständige Arbeitskreis, zu dieser Alternative sagt! Dann kriegen Sie in etwa eine Vorstellung davon, in welches Abenteuer Sie die Bauern hineinhetzen wollen.
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16390 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
Schröder
Um Biosprit auch nur in den Ansätzen zu einer Alternative zum Öl werden zu lassen, braucht man einen gewaltigen Subventionsbedarf.
Und jetzt sage ich Ihnen, wo der herkommt. Wenn Sie das wirklich machen und in großem Umfang durchsetzen, dann wird ein Teil des Subventionsbedarfs angesichts begrenzter Mittel von der Subvention von Lebensmitteln abgezogen werden müssen, und dann treffen Sie wieder die Bauern, die darauf angewiesen sind, Lebensmittel auf ihren Höfen zu produzieren und nicht Illusionen über Biosprit nachzuhängen; das ist das Problem.
— Ich komme dazu. Was ist die Alternative, die für Bauern, Verbraucher und Steuerzahler akzeptabel ist und die deshalb eine Chance hat, von einer kritischen Öffentlichkeit akzeptiert zu werden? Denn eines ist doch klar; ich erinnere noch einmal an die Diskussion über Agrarpolitik, die zur Zeit in den deutschen Medien stattfindet; die ist verheerend für das, was Sie machen. Eines ist doch klar. Wenn Sie ein gesamtgesellschaftliches Bündnis hinkriegen wollen, eines aus Bauern und Verbrauchern, um die Agrarpolitik auch in Zukunft zu finanzieren,
dann brauchen Sie die kritische Öffentlichkeit, dann können Sie sich nicht zynisch darüber hinwegsetzen, nur weil Sie meinen, Sie persönlich hätten etwas von der falschen Agrarpolitik.
Was sind die Alternativen? Erstens. Ich finde, der Preis muß ein wichtiges Element in der Sicherung der bäuerlichen Einkommen bleiben;
aber er muß sich möglichst marktnahe bilden.
In einer Marktwirtschaft, die so sehr wie unsere vom Export abhängig ist, lassen sich einzelne Bereiche auf Dauer nur unter enormen Kosten vom Marktgeschehen ausnehmen. Im übrigen haben subventionierte Preise — und Sie wissen das doch — eine höchst ungerechte Verteilungswirkung. Die Großen verdienen, die Kleinen und Mittleren müssen darben.Zweitens, die Einkommenssicherung der Bauern muß, weil der Preis die Funktion nicht mehr allein erfüllen kann, auf ein zusätzliches Bein gestellt werden. Weil der Preis für die vielen kein gerechtes Einkommen garantiert, muß jener Teil bäuerlicher Arbeit, der darin besteht, daß unsere Landschaft als Kulturlandschaft erhalten bleibt, auf andere Weise bezahlt werden. Dann bitte ich Sie — und es sind ja auch Ansätze erkennbar, noch ein bißchen versteckt in ihren Reden, aber immerhin erkennbar —:sagen Sie doch ohne Einschränkungen ja zur Gewährung direkter, produktionsneutraler Einkommenszahlung, um eine stärker am Markt orientierte Agrarpolitik und die dadurch verursachten Einkommensnachteile abzufedern.
Diese Einkommensbeihilfen könnten in sehr vielfältiger Form gewährt werden, z. B. zur Abgeltung von Leistungen der Landwirte für die Erhaltung der Natur und der Landschaft
durch sogenannte Bewirtschaftungsbeiträge, z. B. zur Förderung der Extensivierung oder Umwidmung landwirtschaftlicher Flächen,
um die Ziele der Existenzsicherung und des Natur- und Gewässerschutzes zu verwirklichen
und z. B. um älteren Landwirten ohne Hofnachfolge einen Anreiz zur freiwilligen Aufgabe der Berufstätigkeit zu geben,
wobei die frei werdenden Flächen vorrangig dem Naturschutz zur Verfügung gestellt werden sollten, und z. B. — und jetzt komme ich zu der Frage, die in den Zwischenrufen enthalten war — zu der Förderung von sogenannten Defizitprodukten, nicht aber für abenteuerliche Alternativen wie Biosprit und ähnliches.
Drittens. Es ist angemessen — und auch hier können nicht Sie, aber die Betroffenen auf die Unterstützung der SPD rechnen —, der Agrarsozialpolitik mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Meine Fraktionskollegen werden darauf im einzelnen eingehen. Hier nur soviel: Wenn Sie nicht nur ankündigen, sondern herangehen und eine Entlastung der kleinen und mittleren Betriebe von den Sozialabgaben machen, können Sie sich der Unterstützung der Sozialdemokraten sicher sein.
Wenn Sie aber mit der Gießkanne verteilen und die Großen ebenso berücksichtigen, nur weil das eher Ihre Wähler sind, dann können Sie mit unserer Unterstützung nicht rechnen.
Daß Sie, Herr Heereman, auch noch einen Zuschußzu Ihren Sozialabgaben brauchen, vermag ich nun
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16391
Schröder
wahrlich nicht einzusehen, und für die meisten, die hier sitzen, gilt das in gleicher Weise.
Ich finde viertens, daß ein solches Reformkonzept EG-weit konsensfähig ist. Wenn Sie sich mal anschauen, was bereits in der Bundesratsentschließung vom Dezember letzten Jahres drin war an nationalen Gemeinsamkeiten, die mit Tendenzen in der EG übereinstimmen, dann ist der zentrale Vorwurf, den ich der Union mache: Unter Wahlkampfdruck, unter dem Druck insbesondere aus Niedersachsen, sind Sie von einer Position im Bundesrat förmlich weggerobbt, die erstens vernünftig war und zweitens den kleinen und mittleren Betrieben wirklich geholfen hätte. Weil Sie das getan haben, sind Sie unfähig, eine Landwirtschaftspolitik neu zu konzipieren; es sei denn, Sie erklären hier in aller Deutlichkeit, daß Sie zu der Position zurück wollen, die alle Bundesländer, SPD-regierte wie CDU-regierte, beschlossen haben. Dies war eine Position, vorgeschlagen vom Land Nordrhein-Westfalen, die vernünftig war, die eine Perspektive enthielt, und zwar vor allen Dingen deshalb, weil sie, was das Einkommen von Bauern angeht, auf eine Kombination von Preis und direkten Zahlungen setzt. Dies ist eine Kombination, die allein in der Lage ist, den größten Teil jener kleinen und mittleren bäuerlichen Betriebe, die es Gott sei Dank noch gibt, zu erhalten.
Zum Schluß: Wenn Sie diese Politik nicht wollen, aber ehrlich bleiben oder werden wollen, dann gebe ich Ihnen einen guten Rat. Wenn Sie diese Politik nicht wollen, dann hören Sie bitte auf, in Zukunft davon zu reden, daß Sie kleine und mittlere bäuerliche Betriebe erhalten wollen; denn dann ist Ihre Politik in das Gegenteil gerichtet und unehrlich.
Das Wort hat der Abgeordnete von Schorlemer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Schröder, wo Sie jetzt auf Ihrem Platz sind, blicken Sie mal in die Runde der SPD-Fraktion und zählen die niedersächsischen Abgeordneten, dann werden Sie feststellen, keine Handvoll ist da. Allein das ist schon eine Unterstützung, wie Ihre Position in Ihrer Rede gewertet wird.
— Sie wissen doch, daß heute im niedersächsischen Landtag eine Sitzung ist, wo der Ministerpräsident anwesend ist. Ich möchte mal wissen, was die Opposition in Niedersachsen gesagt hätte, wenn Herr Albrecht nach Bonn gefahren wäre mit der Begründung, hier zu sprechen.
Herr Schröder, Sie sind hierhin getreten und haben von Gemeinsamkeit gesprochen. Der nächste Satz war bereits die erste Beleidigung, indem Sie den Minister, die Kollegen Müller, Susset, Werner und Paintner als eingebildete Agrarexperten bezeichnen, und dann kam j a langsam auch der Klassenkampf bei Ihnen als dem ehemaligen Juso-Führer so richtig aus allen Poren wieder hervor.
Dann haben wir auf Ihr Programm gewartet. Da kann man nur sagen, der Schröder weiß zwar, was er werden will, er weiß aber nicht, was er will.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie haben hier das Schüren von Existenzangst kritisiert. Sie sind es doch, Herr Schröder, der in Niedersachsen durch das Land zieht und Existenzangst bei den Bauern schürt.
Im übrigen ist es ja, Herr Schröder, recht entwaffnend, daß in Ihrer vielschichtigen und vielköpfigen Wahlkampfmannschaft niemand für den Bereich Ernährung, Landwirtschaft und Forsten genannt wird. Das läßt doch wohl den Schluß zu, daß diese Position wahrscheinlich für einen GRÜNEN offengehalten wird.
Meine Damen und Herren, bei den Schwierigkeiten und der Lage der Landwirtschaft ist der Sachverstand und das politische Wollen aller gefordert. Insofern ist es für mich völlig unverständlich, daß das agrarpolitische Urgestein der SPD-Fraktion, Dr. Schmidt, aus dem Verkehr gezogen worden ist.
Eine wahlkreispolitische Entscheidung hat manchmal besondere Eigenarten. Aber diese Abwahl wurde unter maßgeblicher Stabführung des SPDSpitzenkandidaten in Niedersachsen betrieben; das sollte auch in dieser Debatte einmal erwähnt werden.
Meine Damen und Herren, in dieser Debatte muß deutlich werden, daß es weder den Politiker, den Wissenschaftler oder den Verbandsvertreter gibt, der, wenn er ehrlich und offen ist, von sich behaupten kann, es gebe ein oder das Patentrezept. Offenheit und Ehrlichkeit haben die Landwirte gerade heute verdient. Auch der Kollege Oostergetelo, der nachher noch sprechen wird, hat in einer Veranstaltung in meinem Wahlkreis betont, daß die SPD kein Patentrezept habe, das aus der Agrarkrise führe, sondern es müsse eine Bündelung von Maßnahmen ergriffen werden, die kurzfristig helfen. Dem ist zuzustimmen.
Freiherr von Schorlemer
Nur eine generelle Preissenkungspolitik, für die sich auch wieder Herr Schröder ausgesprochen hat, womit er unserem Minister bei den schweren Verhandlungen in Brüssel brutal in den Rücken gefallen ist, wird von uns nicht unterstützt und kann nicht mit uns gemacht werden.
Meine Damen und Herren, unsere nationalen Maßnahmen, die wir ergriffen haben, sollen bei der Preissituation stützend eingreifen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Struck?
Ja bitte.
Herr Kollege von Schorlemer, können Sie mir, nachdem Sie die Leistung der niedersächsischen Landesregierung so gelobt haben, erklären, warum der jetzige niedersächsische Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Herr Glup, nach der nächsten Landtagswahl aus dem Verkehr gezogen wird?
Herr Kollege Struck, Ihnen und allen Niedersachsen ist bekannt, daß Herr Glup seit über einem Jahr in der Presse und vor der Partei erklärt hat, nicht wieder zur Verfügung zu stehen. Er hat seinen Landesvorsitz abgegeben und kandidiert nicht wieder für den Landtag. Er steht auch nicht mehr als Minister zur Verfügung. Wir haben aber mit der Nominierung unseres früheren Kollegen Ritz eine klare personalpolitische Antwort auf Ihre Frage gegeben. Auf eine entsprechende Antwort von Ihnen warten wir noch.
Meine Damen und Herren, neben dem Einkommensausgleich über die Mehrwertsteuerrückvergütung als nationaler Maßnahme, der Milchrentenerhöhung, der Erhöhung des Bundeszuschusses zur agrarsozialen Sicherung — ich füge hinzu, die SPDgeführte Bundesregierung wollte bei der Unfallversicherung 1987, das ist nächstes Jahr, den gesamten Bundeszuschuß streichen; und dann stellen Sie sich hier hin und wollen Einkommensübertragungen und bei konkreten Maßnahmen Streichungsbeschlüsse durchführen —(Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von derCDU/CSU: Das ist die Wahrheit!)wollen wir die Ausweitung der Förderung der Landwirtschaft in benachteiligten Gebieten und steuerliche Erleichterungen.Diese Bundesregierung ist es auch gewesen, Herr Kollege Schröder, die erstmalig bei einer Geldleistung diese an eine Obergrenze gebunden hat. Damit hat sie ein klares Bekenntnis zur Stützung der bäuerlichen Familienbetriebe gegeben.Hierzu gehört auch die Anmerkung, daß sich der allergrößte Teil der als „Agrarfabriken" bezeichneten Unternehmungen in der Zeit der SPD-geführten Bundesregierung rasant weiterentwickelt hat
und damals sogar erst entstanden ist. Da in einem langen Abschnitt dieser Zeit die SPD in Niedersachsen auch den Landwirtschaftsminister stellte, nämlich in der Person von Herrn Bruns, den — —
— Dazu eine Anmerkung. Ich würde Herrn Schröder empfehlen, wenn er seine Geburtstagsschreiben losläßt, dem Kollegen Schmidt, der am 16. Juni 72 Jahre alt wird, zu gratulieren; ebenfalls dem Kollegen Bruns, den er jetzt als „Staruran" hochjubelt, am 21. November zum 73. Geburtstag zu gratulieren.
Das heißt, daß auch Sie, die SPD, und auch die Person von Klaus Peter Bruns sich hier nicht aus der Verantwortung herausstehlen können.
Meine Damen und Herren, dabei werden wir alle Bestrebungen unterstützen, die eine klare Abgrenzung zwischen der bäuerlichen Landwirtschaft und den gewerblich betriebenen Agrarfabriken erreichen möchten, wie dies vor wenigen Tagen der zukünftige niedersächsische Landwirtschaftsminister Dr. Ritz ankündigte.Wir unterstützen die Bundesregierung in ihrem Bemühen für ein EG-abgestimmtes Marktentlastungsprogramm für Flächen- und Produktionsstillegungen. Das Entscheidende dieses Programmes muß aber die Freiwilligkeit sein. Wir müssen auch alle Produktionsalternativen bei agrarischem Atha-nol und andere nachwachsenden Rohstoffen untersuchen, wobei wir alle wissen, daß es sich hier nur um einen mittelfristigen Lösungsansatz zur Verwertung agrarischer Produkte handelt. Deshalb müssen auch bestehende Pilotanlagen zügig weiterbetrieben und andere Produktionsmethoden erprobt werden.
Meine Damen und Herren, der Land- und Forstwirt hat seit Generationen hohes Gespür für den Erhalt unserer Kulturlandschaft. Auch in der Bevölkerung ist eine hohe Sensibilisierung für den Erhalt unserer Landschaft entstanden. Daher werden beim Marktentlastungsprogramm Flächen für Naturschutz und Umweltschutz herausgenommen. Hierfür zahlt der Staat einen Ausgleich. Genauso muß der Staat für Flächen, die in ihrer Bewirtschaftung durch Auflagen zur Reinhaltung von Boden und Wasser Mindererträge haben, eine Entschädigung gewähren. Dazu gehört auch der Wasserpfennig. Die Bauern werden deshalb mit großem Inter-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16393
Freiherr von Schorlemeresse den Antrag der SPD auf Ablehnung des Wasserpfennigs zur Kenntnis nehmen.
Meine Damen und Herren, schon beim dritten Agrarsozialen Ergänzungsgesetz haben wir eine Beitragsentlastung für die Landwirte erreicht. Jetzt müssen durch einen Kraftakt weitere spürbare Entlastungen in Richtung kleiner und mittelbäuerlicher Betriebe erzielt werden.
— Das werden Sie schon noch früh genug hören.Ein auf das 55. Lebensjahr vorgezogenes Altersgeld, verbunden mit der Hofaufgabe, würde vielen älteren Landwirten ohne Hofnachfolge das Ausscheiden aus dem Berufsstand erleichtern.Die Erhöhung der Flächen bei den benachteiligten Gebieten ist ein richtiger Schritt, weil er schnell wirken kann. Dies sind Teile eines Bündels, das kurzfristig entlastend helfen soll.Wenn z. B. die „Hannoversche Land- und Forstwirtschafts-Zeitung", das Blatt der Landwirtschaftskammer Hannover, zu den Strukturdaten der landwirtschaftlichen Vollerwerbsbetriebe im Bundesgebiet schreibt — ich zitiere —:Die größten Probleme gibt es in den 90 000 der schlechtesten Betriebe: Obwohl es in vielen Fällen nicht die kleinsten sind, drückt ein gewaltiges Fremdkapital mit entsprechenden Zinslasten, und an Gewinn bleibt nichts übrig, so daß sie von der Substanz leben müssen. Sie sind die Hauptsorgenkinder der Agrarpolitik!
Dies ist nur zu unterstreichen. Deshalb ist es für mich persönlich völlig unverständlich, wie das Angebot der niedersächsischen Landesregierung, der Niedersächsischen Landgesellschaft Geld zur Verfügung zu stellen, damit für 100 Millionen DM Flächen aufgekauft werden können, von der SPD abgelehnt wird. Hier soll doch bei daniederliegendem Kaufpreis für landwirtschaftliche Flächen gerade auch in strukturschwachen Gebieten die Möglichkeit gegeben werden, durch Abverkäufe diese Hauptsorgenkinder der Agrarpolitik vor dem totalen Substanzverlust zu bewahren.Meine Damen und Herren, wir alle wissen, daß kurzfristig eine Neukonzeption der Agrarpolitik nicht möglich ist, weil sie so vielschichtig ist und weil sie durch die Einbezogenheit in die EG in vielen Bereichen fremdbestimmt ist.
Die Ansätze sind gemacht. Wir wissen, daß 1987 und 1988 Jahre schwerer Entscheidungen sein werden. In der Zukunftsdiskussion werden zwei große Linien diskutiert: hier Preissenkungen — unter dem Stichwort „mehr Markt" — bei der Ankündigung direkter Einkommensübertragungen, ohne zu sagen wie, in welcher Höhe, mit welcher Haushaltsbelastung, bei welcher Grenze, mit welchem Bürokratieaufgebot, dort Mengenbegrenzung als Voraussetzung für wirksame Preispolitik bzw. marktgerechte Produktion mit den daraus folgenden Preisen.Direkte Einkommensübertragungen setzen natürlich einen Nachweis über das Einkommen und die Lebensverhältnisse voraus. Wie so etwas aussehen könnte, können wir beim sogenannten „Unterhosenbogen" im rot-grünen Beispielland Hessen lesen.Ein Kalkulationsbogen zur Ermittlung des Haushaltsaufwandes im landwirtschaftlichen Haushalt im Rahmen der Zuweisung weiterer Referenzmengen bei der Milchgarantieverordnung befragte u. a. die Landwirte: Speiseplan mit wieviel Gängen, Anzahl der Mahlzeiten, Blumenschmuck für Grabstätten, Zukauf von Unterhosen, Schlafanzügen, Bademänteln, Westen, Krawatten, Hüten, Pantoffeln, Socken, um nur einige Kleidungsstücke zu nennen.
Er fragte aber auch, ob ein Handrührgerät, ein Folienschweißgerät und ein Bügelbrett im Haushalt sei. Hier wird alles aufgeführt bis auf die berühmte Dachlatte.
Meine Damen und Herren, dieser Fragebogen ist die wirkliche Alternative zum agrarpolitischen Vorgehen der Bundesregierung. Er ist entlarvend. Hier kann man nur sagen: Joschka läßt grüßen.
Meine Damen und Herren, ich bin davon überzeugt, daß die agrarpolitischen Schritte dieser Bundesregierung in die richtige Richtung gehen und der denkende Bauer sehr wohl weiß, was richtige Lösungsansätze oder was Parolen sind, die nur sehr vordergründig und kurzfristig auf den Wahlurnen-schlitz schielen. Und, Herr Kollege Schröder, wenn Sie hier von dem Hammer des Wachsens oder Weichens sprechen, sei doch daran erinnert, daß es Ihr Parteifreund Mansholt war, der als Kommissar und später als Vorsitzender der Sozialistischen Internationale diese Politik des Wachsens oder Weichens in die europäische Agrarpolitik eingeführt hat.
Das Wort hat der Abgeordnete Bredehorn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich suche allerdings den Herrn Schröder, weil ich ihm gern hätte erwidern wollen. Aber das zeigt schon, wie großes Interesse er in Wahrheit an der Agrarpolitik und an den großen Sorgen unserer Bauern hat.
Ich meine, wenn dieser Herr Schröder von Ehrlichkeit spricht, so haben auch unsere Bauern in der Bundesrepublik und in Niedersachsen einen Anspruch darauf, seine Perspektiven für die Agrarpolitik kennenzulernen. Da wird es allerdings nach
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Bredehorndem, wie ich ihn kenne, etwas schwierig. Denn hier im Bundestag hat er als Kollege alle einkommenswirksamen Beschlüsse, die die Koalition gefaßt hat, abgelehnt. Er hat z. B. die Vorsteuerpauschale abgelehnt. Bei der Milchrentenaktion wußte er gar nichts, da hat er sich enthalten. Unter seiner maßgeblichen Mitwirkung ist z. B. der bewährte Agrarexperte Martin Schmidt abgewählt worden. Er spricht im Lande auf anderen Veranstaltungen davon, daß
— nun regen Sie sich doch nicht so auf — diese EGAgrarpolitik überhaupt nicht zu finanzieren sei. Ich meine, die Bauern haben Anspruch darauf, zu wissen, wo Herr Schröder steht. Es kann ja nicht so gehen, wie er zunächst sagte, die GRÜNEN seien ihm willkommen. Dann wurde ausgeführt: mit den GRÜNEN auf gar keinen Fall, jetzt mit den GRÜNEN vielleicht doch. Ja, meine Damen und Herren, wie soll man sich da entscheiden? Wo steht Herr Schröder? Da kann ich nur mit meinem Kollegen Graf Lambsdorff zitieren: „Herr Schröder, das ist wie die Forelle im Wildwasserbach, man kann nie feststellen, wo er steht." Nein, meine Damen und Herren, wir haben hier die Rede eines eiskalten politischen Opportunisten erlebt.
Meine Damen und Herren, die FDP trägt die Agrarpolitik von Minister Kiechle mit. Die Differenzen zwischen uns und dem Koalitionspartner sind bekannt. Wir halten es nicht für nötig, sie zu verdecken. Im Gegenteil, ich meine, ein sachlicher Meinungsaustausch in Detailfragen ist auch unter Partnern sinnvoll. Daran nämlich wird erst das Bemühen erkennbar, verantwortlich an einem gangbaren agrarpolitischen Weg für die Zukunft zu arbeiten. Dies kann uns niemand bestreiten.Die FDP hat sehr klare Vorstellungen von der zukünftigen Marschrichtung. Wir haben als erste Perspektiven für die zukünftige Agrarpolitik vorgelegt. Hans Paintner hat darauf hingewiesen. Wenn wir Kurskorrekturen vornehmen wollen, kommen wir ohne Verbündete nicht aus. Flickschusterei führt nicht weiter. Ich bin sicher, daß ein sinnvolles Konzept, welches auch vor verkrusteten Strukturen in der Landwirtschaft nicht haltmacht und den bäuerlichen Familien wieder Perspektiven anbietet, durchaus konsensfähig ist.Allerdings sollten wir uns dabei nichts vormachen. Eine Umorientierung in der Landwirtschaft wird in den nächsten Jahren nicht ohne mehr Geld auskommen. Wichtigster Verbündeter der Agrarpolitik ist deshalb der Finanzminister, sind die Finanzminister der EG. Viele lobenswerte Ideen und Denkansätze erübrigen sich nämlich von selbst, wenn von falschen Vorstellungen der Finanzierbarkeit ausgegangen wird. Solange der Finanzminister nicht von der Zweckmäßigkeit des Einsatzes finanzieller Mittel überzeugt werden kann, bleiben alle Überlegungen auf dem Papier und unwirksam. Ich komme immer mehr zu der Überzeugung, daß der Bundesfinanzminister die Schlüsselfigur bei agrarpolitischen Zukunftsentscheidungen ist.In der jetzigen Situation zweifle ich daran, ob er wirklich seinem Kollegen Kiechle bei dessen schwierigen Beratungen in Brüssel einen guten Dienst erwiesen hat, die Währungsanpassungen, so notwendig diese auch sein mögen, vor Abschluß der Agrarpreisrunde unter Dach und Fach gebracht zu haben.
Frankreich ist jetzt weniger unter Zugzwang, gemeinsam mit unserem Minister Kiechle Preisforderungen durchzusetzen. Es ist zur Genüge bekannt, daß inzwischen andere EG-Mitgliedsländer ärgerlich sind über die bundesdeutschen Forderungen bei der Agrarpreisrunde einerseits und die zögernde Bereitschaft der Bundesrepublik andererseits, die Belange der EG auch finanziell zu unterstützen.Ich muß leider feststellen, daß auch heute wieder behauptet wurde, daß das bewährte Grenzausgleichssystem zu einem um 15 % niedrigeren Preisniveau für die deutschen Landwirte geführt hat. Ich möchte deshalb doch einmal allen Legenden um diesen Währungsausgleich und seinen Abbau an dieser Stelle entgegentreten. Der Währungsausgleich war ein Instrument, der der deutschen Landwirtschaft über ein Jahrzehnt lang Preise beschert hat, die über denen der anderen Mitgliedsländer lagen. Auf diese Weise hat der Grenzausgleich Milliardenbeträge an Verlusten für die Landwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland verhindert. Die zahlreichen Aufwertungen der D-Mark seit Bestehen des gemeinsamen Agrarmarktes haben nach Einführung des Währungsausgleichs nie mehr zu Senkungen der nominalen Marktordnungspreise geführt.Es ist demzufolge nicht richtig, zu behaupten, der deutschen Landwirtschaft seien Milliardenbeträge vorenthalten worden, weil dieser Grenzausgleich um insgesamt knapp 16 % im Zusammenhang mit den Preisbeschlüssen abgebaut worden sei. Zwar stimmt es, daß der Grenzausgleich um etwa 16 % abgebaut wurde; aber es ist doch naiv, zu glauben, daß unsere europäischen Partner damit einverstanden gewesen wären, wenn mit jeder der zahlreichen D-Mark-Aufwertungen im Verlauf der 70er Jahre der Grenzausgleich entsprechend aufgestockt worden wäre, ohne ihn auch wieder abzubauen.Es ist zwar richtig, daß durch den Abbau des Währungsausgleichs bei den Preisbeschlüssen die deutschen Landwirte mit geringeren Preisanhebungsraten zufrieden sein mußten als ihre europäischen Nachbarn. Aber daran hat sich doch auch jetzt nichts geändert. Auch bei dem neuen System werden die Abwertungsländer mit höheren Preisanhebungen rechnen können. Insofern ist Bundesminister Kiechle nicht zu beneiden, daß er jetzt mit Verhandlungspartnern am Tisch sitzt, die ihn in seinen Forderungen nach günstigeren Marktordnungspreisen und weniger abträglichen flankierenden Maßnahmen nicht unterstützen, weil sie ihren Preisbedarf über die Abwertung ihrer grünen Währung befriedigen können. Minister Kiechle — das möchte ich für die Fraktion der FDP sagen — ver-
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Bredehorndient unsere Anerkennung für seine schwierige, aber hartnäckige Verhandlungsposition in Brüssel.Im folgenden möchte ich einige Überlegungen unseres Agrarpapiers aufgreifen. Oberstes Ziel muß es sein, die Agrarüberschüsse abzubauen. Solange wir hier nicht die Hebel ansetzen, brauchen wir uns gar nicht über andere grundlegende Lösungsvorschläge zu unterhalten. Tatsache ist, daß heute die EG-Lager überquellen, die Produktionsdynamik weitergeht und nur noch ein Drittel der EG-Agrarausgaben den Bauern direkt zufließt.Um die Überschußproblematik in den Griff zu bekommen, gibt es logischerweise zwei Ansatzpunkte. Erstens beim Absatz, zweitens bei der Produktion.Zunächst zum Absatz: Ich warne davor, die Exportmöglichkeiten zu überschätzen. Die Diskussion mit den USA um Ostern herum hat uns schon einen Vorgeschmack auf mögliche Handelskrisen gegeben, wenn sich einer von zwei Exportriesen im Agrarsektor benachteiligt fühlt. Der Weltabsatzmarkt wird zunehmend kleiner. Die Entwicklungsländer mit ihren Nahrungsmitteldefiziten scheiden aus den Überlegungen aus: Jeder weiß, daß Nahrungsmittelhilfe ein zweischneidiges Schwert und wenig hilfreich für die Länder ist.Lassen Sie mich an dieser Stelle einflechten, daß ich die Absatzmärkte durch eine ganz andere Entwicklung in Brüssel gefährdet sehe. Das Immitationsverbot bei Milch, Milchprodukten, Wurstwaren und Fleischprodukten darf unter keinen Umständen aufgegeben werden. Das würde verheerende Folgen für den Absatz dieser landwirtschaftlichen Produkte haben.
Darüber hinaus halte ich es für eine fatale Verbrauchertäuschung, wenn zu Billigstpreisen Butter aus Ölpflanzen und Wurst und Käse aus Soj a angeboten werden.
Ich verstehe aber auch die Haltung der Kommission nicht, die gerade zu dieser Zeit eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof erhoben hat, um diese Entwicklung noch zu forcieren. Ich meine, das ist auch die Frage an die deutschen Mitglieder dieser Kommission, ob sie da nun den richtigen Standpunkt haben.Meine Damen und Herren, ich bedanke mich an dieser Stelle bei Herrn Minister Kiechle für seine klare, feste Haltung, sehr engagiert. Wir können hier sagen, daß die FDP ihn dabei voll unterstützen wird.
Bei einer Änderung von § 36 des Milchgesetzes können wir davon ausgehen, daß an die 6 Millionen t Milch noch einmal aus dem Markt herausgedrängt werden, trotz Kontingentierung! Das wäre für unsere Bauern nicht zu verkraften. Es wäre auch im Sinne eines vernünftigen Verbraucherschutzes nicht zu verantworten.Nun zur Produktion, zu den Produktionschancen; und damit komme ich zu Punkt 2. Über neue Absatzmärkte im Nicht-Nahrungsmittelbereich wird zur Zeit lebhaft diskutiert. Auch hier warne ich vor übertriebener Euphorie. Industriepflanzenanbau, nachwachsende Rohstoffe und als Superlösung Bioethanol, alles schön und gut, aber kurz und mittelfristig kaum rentable Produkte! Wenn keine Wirtschaftlichkeit gegeben ist, dürfen wir bei diesen Produkten nicht zu großzügig mit staatlichen Förderungsmitteln umgehen. Dadurch baut sich ein Erwartungshorizont auf, der letztendlich nicht erfüllt wird.
Aber wir dürfen natürlich diese Alternative zu klassischen landwirtschaftlichen Produkten bei unseren agrarpolitischen Überlegungen nicht völlig außer acht lassen. Unsere Wirtschafts- und Finanzpolitiker werden sich sicher einer Förderung dann nicht verschließen, wenn daraus kein Subventionsneuland entsteht. Schließlich wollen wir alle nicht, daß andere an uns vorbeilaufen und das Ausland den Konkurrenzvorsprung gewinnt.Die FDP steht generell einer Angebotslenkung und Kontingentierung, wie wir sie ja jetzt bei Milch haben, aus ordnungspolitischen Gründen ablehnend gegenüber.
Ein funktionierender Marktpreis hat sich bisher in Wirtschaftsabläufen immer bewährt. Noch verdienen die Bauern den Hauptanteil ihres Einkommens über ihre Produktpreise. Als Unternehmer wollen sie das auch weiterhin. Die Erzeugerpreise müssen also in Zukunft wieder annähernd Marktverhältnisse widerspiegeln. Sie müssen langfristig von ihrer sozialpolitischen Komponente befreit werden.
Mit einer EG-weit freiwillig durchgeführten Flächenstillegungsaktion läßt sich unserer Meinung nach die Produktionsdynamik teilweise in den Griff bekommen. Solche Pläne finden ja auch in Brüssel Resonanz. Mit der Freisetzung von Flächen auch für Naturschutzzwecke würden wir Biotope und Rückzugsreservate für bedrohte Fauna- und Floraarten schaffen. Über einen finanziellen Anreiz, gekoppelt an eine Vorruhestandsregelung, läßt sich ein sozial abgepufferter Strukturwandel in der Landwirtschaft fortsetzen: Soziales Marktentlastungsprogramm.Die FDP spricht sich für einen Strukturwandel aus. Es hat sich nämlich als nützlich erwiesen, daß aufgabewillige Landwirte aus der Landwirtschaft ausscheiden, wenn sie eine Alternative haben. Deshalb brauchen wir noch lange nicht eine unerwünschte Konzentration zu Agrarfabriken zu befürchten. Ich meine, man kann durch Bestandsobergrenzen eingreifen. Hier ist die FDP auch mit dem Bauernverband einig, der ja in seinen Landesverbänden durchaus gute Vorschläge macht. Ich hoffe, daß auch bei den Kollegen der CDU/CSU die Er-
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Bredehornkenntnis wächst und wir zu einer vernünftigen gemeinsamen Lösung kommen.
Wenn wir nämlich im Jahre 2000 noch bäuerliche Betriebe haben wollen, müssen wir ihnen die Markt- und Einkommenskapazitäten der tierischen Veredelungsproduktion erhalten. Um die Massentierhaltung und Agrarindustrie zu bremsen, brauchen wir Bestandsgrößenbegrenzung jetzt.
Lassen Sie mich zum Schluß noch einige Sätze zu der weiteren Beitragsentlastung im Sozialbereich sagen. Viele Landwirte stehen in einer akuten Notsituation, in der ihnen sofort geholfen werden muß. Der hohen Belastung vor allem kleiner, einkommensschwacher Betriebe soll durch gestaffelten Zuschuß von seiten der Bundesregierung entgegengewirkt werden.
Darüber besteht in der Regierung und in den Regierungsfraktionen grundsätzliches Einverständnis. Die FDP begrüßt eine Sofortmaßnahme in diesem Bereich.Meine Damen und Herren, wir reden heute vier Stunden über die Agrarpolitik. Es steht uns gut an, wenn wir bei den Bauern nicht den Eindruck erwecken, als ob wir diesen Nachmittag zerreden. Die Landwirte dürfen das Vertrauen in eine konstruktive Agrarpolitik nicht verlieren. Unsere Bauern haben Anspruch auf eine realistische agrarpolitische Zukunftsperspektive. Nichts ist schlimmer als die derzeitige Verunsicherung unter den Bauern.Wir sehen die katastrophale Entwicklung in den USA, wo nicht nur täglich Farmen ruiniert werden, sondern neben den Banken auch andere Gewerbe im ländlichen Raum stark in Mitleidenschaft gezogen werden. Deshalb dürfen wir Politiker nicht länger nur Tagespolitik betreiben.
Gerade in einem Wahlj ahr wird zu Recht Ehrlichkeit von uns verlangt.Es gibt zu viele, die durch das Land reisen und auf Bauernfängerei aus sind, die den Bauern Sand in die Augen streuen. Die FDP will eine ehrliche und intelligente Agrarpolitik: um die Überschüsse abzubauen, um den Bauern ihr Eigentum zu erhalten, um staatliche Reglementierungen zurückzudrängen, um wieder mehr Markt zu ermöglichen und unseren leistungsfähigen bäuerlichen Betrieben eine Zukunft zu geben.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Wimmer .
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bredehorn, polemische Bemerkungen haben sehr oft kurze Beine. Sie werden festgestellt haben, daß mein Kollege Schröder seit längerer Zeit wieder anwesend ist, auch wenn manche Ihrer Ausführungen das nicht unbedingt haben notwendig erscheinen lassen.
Ich möchte auch noch zu einer Bemerkung, die Herr von Schorlemer gemacht hat, einen kurzen Satz anfügen. Es wäre vernünftiger, Herr von Schorlemer, sich um eine konstruktive Agrarpolitik zu bemühen, als demokratische Kandidatenentscheidungen der SPD ins Spiel zu bringen.
Für mich als Bayer wäre es jetzt ganz interessant, einmal aneinanderzufügen, was der bayerische Ministerpräsident, der bayerische Landwirtschaftsminister, der bayerische Staatssekretär — alle anderer Couleur als ich — in den letzten Monaten zu dieser Agrarpolitik ausgeführt haben. Das wäre wahrscheinlich eine der schärfsten Reden, die gegen Minister Kiechle gehalten würde.
Ich möchte zu einem Spezialbereich Stellung nehmen, weil ich glaube, daß er in der Agrarpolitik ersatzweise eine immer stärkere Rolle spielen muß. Die CDU/CSU versucht, die verfehlte Agrarpolitik in den letzten Jahren mit der Agrarsozialpolitik zu korrigieren. Wer das machen will, wird auf die Dauer scheitern. Es ist noch kein halbes Jahr vergangen, als ich an dieser Stelle angesichts der sozialpolitischen Flickschusterei und der Halbherzigkeit, die an den Tag gelegt wurde, ausgeführt habe, daß es in absehbarer Zeit notwendig sein wird, ein viertes agrarsoziales Ergänzungsgesetz einzubringen. Heute steht bereits fest, daß voraussichtlich am 15. Mai 1986 ein Nachteilsausgleichsgesetz eingebracht wird.Sie, Herr Minister, und Ihre Wende-Regierung sind angesichts der drohenden bäuerlichen Wahlabstinenz in Panik geraten. In hektischer Betriebsamkeit wird jetzt versucht, die Bauern doch noch zur Wahlentscheidung zu bringen.Ich sage es ganz deutlich: Diese Regierung hat zur Agrarpolitik kein Konzept. Sie wurschtelt plan-und kopflos dahin.
— Wenn Sie bereit wären, sich ausführlich mit der Agrarpolitik zu beschäftigen, würden Sie unser Konzept kennen.
Das ist um so schlimmer, als das System, das Mittelder Sozialpolitik langfristig angelegt ist und neuen
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Wimmer
Anforderungen nur behutsam angepaßt werden kann.Die Vorgehensweise der Bundesregierung macht auch deutlich, daß sie Sozialpolitik nur widerwillig und als Alibi betreibt.
Ich erinnere mich noch sehr genau: Als wir zum erstenmal den Vorschlag unterbreiteten, in der Sozialpolitik die Beiträge des Bundes zu staffeln, ist von einem sozialistischen Teufelswerk gesprochen worden.
Und als wir zum erstenmal vorschlugen, den Landwirten auch direkte Beihilfen zu geben, hieß es, das seien Almosen, das wolle man in der Agrarpolitik nicht. Derjenige von Ihnen, der vielleicht noch einmal bereit wäre, nachzulesen, wie die CDU/CSU 1957 zu Beihilfen des Bundes in der Sozialpolitik gestanden hat, würde sich wundern, wie damals die Auffassung Ihrer Parteien gewesen ist.
Sie tun das in der Sozialpolitik alles nur, um Ihre Macht über den 25. Januar hinwegzuretten.
Wirkliche Sozialpolitik hingegen ist nach unserer Auffassung ein Solidarbeitrag der Stärkeren für die Schwächeren der Gesellschaft. Das gilt insbesondere auch für die landwirtschaftliche Sozialpolitik, die wir Sozialdemokraten von 1969 an planvoll und großzügig ausgebaut haben.
Das System einer eigenständigen agrarsozialen Sicherung hat sich bewährt, muß aber weiterentwikkelt werden, um den Anforderungen der Zukunft gerecht zu werden. Dabei müssen nach unserer Auffassung im wesentlichen vier Rahmenbedingungen beachtet werden.Gerade in den Problemregionen des ländlichen Raumes herrscht ein großer Mangel an Erwerbsalternativen für unsere Landwirte. Auch das ist ein Ergebnis Ihrer verfehlten Gesamtpolitik.
Auch längst nicht mehr wirtschaftliche Betriebe müssen die Produktion aufrechterhalten, weil außerlandwirtschaftliche Arbeitsplätze fehlen. Gleichzeitig droht auch eine Entleerung solcher Räume, da die Jugendlichen gezwungen sind, abzuwandern.
Die beharrliche Verweigerung einer aktiven Beschäftigungspolitik durch diese Bundesregierungerschwert zusätzlich die Lage in der Landwirtschaft.
Die Einkommen gerade der Klein- und Mittelbetriebe können angesichts der Lage auf den Märkten weder durch Preispolitik noch durch neue Verwertungsmöglichkeiten für Agrarprodukte gesichert werden. Wer das leugnet, belügt die Bauern.Die großen strukturellen Unterschiede sowohl innerhalb der Bundesrepublik als auch zwischen den EG-Mitgliedsländern werden im Gemeinsamen Markt weiter auf einen Ausgleich hinwirken. Und ich sage bewußt: Der Strukturwandel wird weitergehen, ob wir es wollen oder nicht.
Dieser Strukturwandel hat in der Vergangenheit auch zu erheblichen Finanzierungsproblemen in der landwirtschaftlichen Sozialversicherung geführt, die sich in der Zukunft noch verschärfen werden. Als Beispiel möchte ich nur das Verhältnis von Beitragszahlern und Leistungsempfängern nennen, das bereits heute auf 1 : 1 angewachsen ist und sich weiter verschlechtern wird.
— Herr Hornung, ich kenne Sie aus dem Ausschuß so lange, daß es eigentlich beschämend ist, daß Sie eine so dumme Frage stellen.
In diesem Rahmen muß die agrarsoziale Politik neben der Absicherung der sozialen Risiken zwei wichtige Aufgaben erfüllen; die gleichberechtigt zu sehen sind. Sie muß eine Einkommenspolitik für unverschuldet in Not geratene Bauernfamilien sein, damit diese nicht vom sozialen Fortschritt ausgeschlossen werden. Sozialpolitik muß auch dazu beitragen, daß der unvermeidliche Strukturwandel in sozial erträglicher Weise stattfindet. Die Weiterentwicklung einer gesunden Familienbetriebslandwirtschaft darf nicht auf dem Rücken der Schwächeren betrieben werden.Bei allen Hilfen ist zu beachten, daß die Gelder gezielt wirklich nur den Hilfsbedürftigen zukommen
und nicht wie in der Vergangenheit querbeet allen Landwirten. Eine Sozialpolitik mit der Gießkanne lehnen wir auch in Zukunft grundsätzlich ab.
Wenn man bedenkt, daß laut Agrarbericht die oberen 25 % der Vollerwerbsbetriebe im abgelaufenen Wirtschaftsjahr fast 55 000 DM Gewinn je Familienarbeitskraft erzielten und die unteren 25% nur 2 200 DM erreichen konnten, ist für jeden Ver-
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Wimmer
nünftigen einsichtig, daß strengere Maßstäbe an die Bundeszuschüsse gelegt werden müssen.
— Herr Eigen, Sie als Nebenerwerbslandwirt, der seine Einkünfte aus anderen Bereichen bezieht, sind für diesen Zwischenruf am wenigsten geeignet.
Wir Sozialdemokraten schlagen daher ein Bündel von Maßnahmen vor, das den Anforderungen der Zukunft gerecht wird. Wir erneuern unsere Forderung, einen zunehmenden Teil der Bundeszuschüsse der Altenhilfe sozial gerechter zu verteilen.
Sie haben bisher nur einen kleinen Schritt nach vorn getan und den nur unter dem Druck der Öffentlichkeit, aus eigenem Willen sicherlich nicht. Der Monatsbeitrag muß in Zukunft in Abhängigkeit von der Höhe des tatsächlichen Gesamteinkommens festgelegt werden. Das entspricht unserem Grundsatz: Höhere Einkommen, höhere Eigenbeträge. Eine Möglichkeit in dieser Richtung haben sie beim dritten agrarsozialen Ergänzungsgesetz zu nutzen versäumt.Lassen Sie mich eine Bemerkung zu den Ausführungen von Herrn von Schorlemer im Hinblick auf die Unfallversicherung machen. Wissen Sie, warum lange keine Klarheit im Bereich der Unfallversicherung bestand?
Weil der Auftrag, den wir erteilt haben, wonach wir bereit sind, die Altlasten voll zu übernehmen, nicht von uns, sondern von der jetzigen Regierung lange Zeit verzögert worden ist.
Wir treten für die Schaffung einer Vorruhestandsregelung für ältere Landwirte ein, die Sie im Ausschuß auch abgelehnt haben. Die auf diese Weise aus der Bewirtschaftung ausscheidenden Flächen könnten für andere Zwecke, sprich: Zwecke von Natur und Landschaft verwendet werden. Die jüngsten Vorschläge der EG-Kommission dazu sind eine Diskussionsgrundlage, die wir sicher aufgreifen werden.Schließlich muß auch die Beitragsgestaltung der Unfallversicherung auf ihre Umverteilungswirkung hin untersucht werden. Möglichkeiten der sozial gerechteren Staffelung sind hier erneut zu suchen, und die Selbstverwaltungsorgane sind hierzu aufgerufen. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion wird alle sinnvollen Vorschläge, der Landwirtschaft zu helfen, auch mit den Mitteln der Sozialpolitik aufnehmen. Den Mißbrauch der Sozialpolitik zumStimmenkauf lehnen wir hingegen entschieden ab. Die Landwirtschaft braucht Perspektiven für die Zukunft, und die haben Sie, Herr Minister Kiechle, heute, wie gewohnt, nicht geboten.Ich möchte mit einer Anlehnung an die Ausführungen des Kollegen Susset abschließen: Die Landwirte können sich nicht auf die CDU/CSU verlassen, sie sind mit ihr verlassen.
Das Wort hat der Herr Abgeordneter Brunner.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Agrarbericht, der laut Maßgabe des Landwirtschaftsgesetzes alljährlich von der Bundesregierung zu erstellen ist, beschreibt die nationale Entwicklung der Landwirtschaft im Zeitraum eines Wirtschaftsjahres. Heute diskutieren wir den Bericht für die Zeit vom 1. Juli 1984 bis zum 30. Juni 1985. Dieser bestätigt, daß das Einkommen der deutschen Landwirte auf Grund des Einkommensausgleichs über die Umsatzsteuer und der außergewöhnlich guten Getreideernte um durchschnittlich 15% auf knapp 25 000 DM pro Familienarbeitskraft oder um 19% auf 33 000 DM pro Unternehmen angestiegen sind. Allerdings ist im Zehnjahresvergleich festzustellen, daß der Anstieg nominal jährlich lediglich 1,3 % je Familienarbeitskraft oder 2,3% pro Unternehmen betrug. Diese Darstellung zeigt, daß die Bauern auch in den von der SPD heute dargestellten goldenen Zeiten für die Landwirtschaft unter Ihrer Regierungsverantwortung trotz der unentwegten Produktionsschlacht nur einen geringen Einkommenszuwachs zu verzeichnen hatten.
Die ungebremste Produktionsschlacht brachte uns diese unendlich schwierige agrarpolitische Situation, mit der sich die Regierung Kohl und die Koalitionsfraktionen jetzt herumzuschlagen haben.Es gelang in knapp dreijähriger Regierungszeit, die übrige Wirtschaft aus einer der tiefsten Rezessionen nach dem Kriege herauszuführen, die Staatsfinanzen in Ordnung zu bringen, eine Währungsstabilität und Kaufkraft zu gewährleisten, die heute ohne Beispiel auf der Welt ist, und daneben gleichzeitig den Trend in der Arbeitslosigkeit umzudrehen. Die Landwirtschaft leidet noch immer unter der Politik der Vergangenheit, obwohl diese Regierung bisher schon enorme Leistungen vollbracht hat und noch erbringen muß.
Diese Leistungen des Staates für die Landwirtschaft sind voll berechtigt; denn ohne funktionierende Landwirtschaft gibt es keine günstigen Lebenshaltungskosten, keine vielseitige Kulturlandschaft, keine funktionsfähigen ländlichen Räume, um nur die wichtigsten Bereiche zu nennen. Diese
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BrunnerLeistungen für die Allgemeinheit können die Bauern nicht zum Nulltarif erbringen. Der einzelne Landwirt kann aber auch nicht für das Auseinanderlaufen von Produktion und Verbrauch verantwortlich gemacht werden. Die Ursache liegt in der Agrarpolitik. Der früheren Regierung fehlte der Mut, rechtzeitig in Brüssel und national die richtigen Entscheidungen zu treffen. Ich empfinde es als unerträglich, daß die Hauptverantwortlichen von gestern heute Vorschläge zur Neuausrichtung der Agrarpolitik machen, die das absolute Aus für eine bäuerliche Landwirtschaft bedeuten. Die SPD propagiert mehr Markt in einer Zeit, in der die Oberschüsse an Fleisch, Getreide, Milch und Wein keine Verwertung finden. Sie haben es auch zugelassen, daß die Landwirtschaft als Urproduzent sich im wesentlichen nur mehr auf wenige Haupterzeugungslinien wie Fleisch, Getreide und Milch zurückziehen mußte.Mehr Markt bedeutet in dieser Überschußsituation ein Zusammenbrechen der Preise.
Als Ausgleich werden direkte Zahlungen angeboten, die aber zu noch mehr Staatsabhängigkeit führen.Gleichzeitig reden die Herren Apel und Roth vom vielen Geld, das die Bauern bekommen, und vom größten Subventionsskandal, anläßlich der Erhöhung der Vorsteuerpauschale 1984 so dargetan von Herrn Roth. Eingeleitete Notmaßnahmen der Regierung werden in demagogischer Weise mißbraucht,
um Neid und Unzufriedenheit in die Dörfer zu tragen. Von Verantwortung ist bei Ihnen, meine Herren von der SPD, keine Spur mehr vorhanden.
Herr Minister Kiechle hat derzeit wohl die schwierigsten Verhandlungen im EG-Ministerrat zu bestehen.
Herr Müller, eines habe ich bei Ihrer Rede heute nicht ganz verstanden.
In dieser Situation haben Sie in einer Ihnen absolut nicht gemäßen Bewertung den Minister als Wichtigtuer bezeichnet.
Wenn es der SPD so ernst mit der Landwirtschaft ist, hätte dieser Minister gerade in diesen Tagen eine andere Bewertung auch Ihrerseits verdient.
Ich möchte das unsererseits nachholen und Herrn Minister Kiechle herzlich für das danken, was er bisher geleistet hat. Man muß ihn bewundern, wie er diese Belastung durchhält. Ich wünsche ihm weiterhin viel Erfolg und daß er durchhält.
Das sogenannte Grünbuch der im vergangenen Jahr neu berufenen EG-Kommission verheißt nichts Gutes. Der Finanzrahmen der Gemeinschaft wurde wohl nach dem Beitritt Spaniens und Portugals erweitert.Er wird vorübergehend aber kaum dazu reichen, die jede positive Preispolitik blockierenden Überschüsse raschestens zu beseitigen. Dies ist der erste Schritt zur Neugestaltung der Agrarpolitik für die Zukunft. Künftig muß streng auf Marktausgewogenheiten auf europäischer Ebene geachtet werden.Mit Blick auf die Vergangenheit sind allerdings einige kritische Fragen zu stellen. War es richtig, die Produktionsschienen so weit einzugrenzen, und wurde das Instrument der Intervention immer sinnvoll eingesetzt? War es richtig, daß die gewerbliche Wirtschaft nahezu uninteressiert am Fortbestand einer funktionierenden Landwirtschaft vorbei ihren Vorteil im zollfreien Absatz des Gemeinsamen Marktes suchte?
War es gut, daß ungeschützt immer mehr Futtermittel eingeführt wurden, die die Veredlungsproduktion zum Überlaufen brachten und die Gemeinschaft zum Netto-Exporteur auch bei Getreide werden ließen? Für die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung und Sicherheit Europas kann und darf die Agrarwirtschaft nicht allein die Last tragen. Der Gemeinsame Markt hat auch für die Landwirtschaft Positives gebracht. Das will ich gar nicht verkennen.Nunmehr gilt es, neue Wege konsequent zu beschreiten. Die Bundesregierung hat das nicht nur erkannt, sondern ihre Verantwortung bereits unter Beweis gestellt. Aber wir sind noch lange nicht am Ziel.Der Grundsatz der Bundesregierung zur Erhaltung einer möglichst großen Zahl an landwirtschaftlichen Betrieben im Voll-, Zu- oder Nebenerwerb steht nicht nur auf dem Papier. Die Gespräche und die klare Haltung zur Hilfestellung für die Bauern beweisen dies. Neue Wege in der Produktion und Verwertung landwirtschaftlicher Produkte müssen eingeführt werden. Dies gilt natürlich auch europaweit.Es ist sinnvoller, die für die Marktordnungen aufzuwendenden Finanzmittel im volkswirtschaftlichen Kreislauf zu behalten, als sie zum Verschenken von Nahrungsmitteln etwa an den Ostblock zu verwenden.
Trotz gesunkener Ölpreise, die sicher nicht vonDauer sein werden, sollte sich eine Partnerschaft —
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Brunnerund zwar umgehend — mit der Industrie vollziehen. Die Bundesregierung kann hier die Verhandlungsführerschaft übernehmen.Landwirtschaftliche Produkte sind reproduzierbar, im Gegensatz zu fossilen Rohstoffen. Die Abhängigkeit von Importen wird vermindert. Sie gewährleisten eine größere Artenvielfalt, auch in der Fruchtfolge, und tragen damit zur Verbesserung der Umwelt bei. Wir werden für den Augenblick und als sofortige Maßnahme allerdings auf die Hilfe des Staates nicht verzichten können. Die Bundesregierung läßt die Bauern nicht im Stich. Dessen bin ich sicher.
Die Ziele der CSU für die Agrarpolitik der nächsten Tage, Wochen und Monate fasse ich kurz wie folgt zusammen. Trotz der währungspolitischen Probleme wollen wir an der gemeinsamen Agrarpolitik festhalten, weil dies die Grundlage für ein gesamtwirtschaftlich erfolgreiches und freiheitliches Europa darstellt. Die allgemeine Produktivitätssteigerung hat zu Überschüssen geführt, in der gewerblichen Wirtschaft in Form von Arbeitslosen, in der Landwirtschaft in Form zu vieler Agrarprodukte. Die Agrarüberschüsse müssen zügig abgebaut werden. Die EG-Kommission und manche Regierungen von Mitgliedstaaten mit besseren Agrarstrukturen schlagen hierfür Preissenkungen vor. Diesen Weg werden wir nicht mitgehen. Er bedeutet weitere Arbeitslose, diesmal aus der Landwirtschaft, und führt letztendlich zur Massengüterproduktion und zur Verödung ganzer ländlicher Räume.Was bleibt dann? Mehr Exporte? Der Weltmarkt ist nur begrenzt aufnahmefähig. Begrenzung der Futtermitteleinfuhr? Unsere Wirtschaft möchte aber den völlig liberalisierten Futtermittelmarkt beibehalten, weil sie Gegenreaktionen — siehe USA — für ihre Produkte befürchtet.Dann bleibt nur noch ein Weg übrig, nämlich für agrarische Rohstoffe neue Absatzmöglichkeiten zu erschließen, z. B. in Chemie, Technik und Energie, d. h. außerhalb der Ernährung. EG-Ministerrat und -Kommission haben bereits vor einem Monat mit der neuen Erstattungsregelung für Stärke und Chemiezucker die Weichen gestellt.Diese Politik muß mit der notwendigen, auch finanziellen Unterstützung des Bundes und der Länder konsequent und unverzüglich auch auf die anderen Verwertungsmöglichkeiten ausgedehnt werden. Wenn die Überschußprobleme gelöst sind, werden auch die Einkommen unserer Bauern wieder ansteigen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Immer .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte im Blick auf die Diskussion von heute morgen, die Diskussion zwischen Minister Blüm und Kollegen Lutz, und im Blick auf die Agrarpreisdebatte ein Zitat bringen:Hört dieses Wort, die ihr die Schwachen verfolgt und die Armen im Land unterdrückt. Ihr sagt: Wann ist das Neumondfest vorbei? Wir wollen Getreide verkaufen. Und wann ist der Sabbat vorbei? Wir wollen den Kornspeicher öffnen, das Maß kleiner und den Preis größer machen und die Gewichte fälschen. Wir wollen mit Geld die Hilflosen kaufen, für ein Paar Sandalen die Armen. Sogar den Abfall des Getreides machen wir zu Geld.Vor knapp 3 000 Jahren hat ein Prophet bereits in die Agrarpreisdebatte eingegriffen. Nach dem Parteitag der FDP in Nordrhein-Westfalen, die sich die Einmischung der Kirche verbeten hat, finde ich das eine sehr interessante Geschichte. Denn auch die Kirche kann hier ein Wort mitreden.
Das Märchen, Herr Kiechle und meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, ist geplatzt. Sie haben von einer Aufhetzung der Bauern und von Panikmache durch die Sozialdemokraten gesprochen.
Warum hat die CDU sonst in Niedersachsen ihr Panikorchester zusammengerufen? Nur wer der Dirigent war, bleibt ungeklärt. War es Kohl? War es Kiechle? War es Albrecht?
Herr Späth hielt nicht mit, weil ihm die Instrumente zu teuer waren. Bioäthanol hat er abgelehnt. Er hat von „Schnapsidee" gesprochen. Dem stimme ich zu.
Aber nun zur Sache. Die Situation der einkommensschwachen und einkommenseingeschränkten landwirtschaftlichen Betriebe hat sich radikal verschlechtert. Sie wird sich weiter verschlechtern, Herr Kiechle. Ich wünsche Ihnen, um das klar zu sagen, ein gutes Verhandlungsergebnis in Brüssel. Nur stehen die Vorzeichen schlecht. Diese Einkommensverschlechterung gilt insbesondere für Betriebe in Mittelgebirgen und zum Teil auch in den Küstenregionen mit 40 % und 60 % Dauergrünland und zum Teil mehr als 1 000 mm Niederschlag.Eine Prognose des Landwirtschaftsministeriums von Rheinland-Pfalz für den Kreis Altenkirchen, aus dem ich komme: Von den 1 500 Betrieben werden in fünf bis zehn Jahren nur noch 300 Betriebe im Kreis übrigbleiben, vorausgesetzt die Politik, wie sie jetzt geführt wird, wird weitergeführt. Es gibt in diesem Raum keine alternativen Arbeitsplätze bei einer steigenden durchschnittlichen Arbeitslosenquote von derzeit 12,5 %.
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Immer
Das Albrecht-Papier, das Sie unterstreichen, Herr Kiechle, enthält einige Vorschläge: Flächenstilllegungen. Das würde in den genannten Grünlandgebieten einen Exitus, ein Aus für die Landwirtschaft bedeuten. Wie hoch soll bei der Überschuldung der Betriebe denn die Ausgleichszahlung sein? Sie müßten leben können, und sie müßten ihre Kredite und Zinsen zurückzahlen können.
Ich würde sagen, meine Damen und Herren, die Sie hier in der Koalition Besitzer von landwirtschaftlichen Betrieben und Bezieher eines guten Abgeordneteneinkommens bzw. eines guten Ministereinkommens sind, daß Sie zunächst einmal einen Test veranstalten, daß Sie für zehn Jahre ihre Betriebe ganz oder teilweise stillegen. Das wäre wirklich der Beweis dafür, daß so etwas geht.
— Herr Hammerstein, Sie machen das? Herr Eigen, Herr von Schorlemer, Herr Kiechle, legen auch Sie Ihre Betriebe still,
damit die Bauern wissen, ob das überhaupt geht, ob das bei einem Gehalt von Ministern und Abgeordneten zu finanzieren ist.
Nachwachsende Rohstoffe: Dazu kann ich nur sagen, das ist der größte Schildbürgerstreich, den wir kennen.
Das haben die Schildbürger selbst nicht erfunden. Da steht ein Faß ohne Boden, in das eine Subvention nach der anderen in der EG geschüttet wird. Jetzt stellt Oberschildbürger Kiechle — oder es ist Ministerpräsident Albrecht oder irgend jemand anders — ein noch größeres Faß ohne Boden an die Seite und hofft, daß er, wenn dieses Faß voll ist, das andere füllen kann. Jeder nachwachsende Rohstoff bedarf der Subventionen. Die Fachleute haben ausgerechnet, daß es mehr als die Subventionierung des Getreidepreises ausmacht, wenn dieses Faß ohne Boden gefüllt werden soll.Was die Forderung des Bauernverbandes betrifft — Herr Heereman hat gestern abend in der Sendung etwas dazu gesagt —, ein Umschuldungsprogramm vorzulegen, so verweise ich auf meine Forderung hier vom 15. März 1985 und vom 27. Juni 1985. Damals hat man mir Panikmache vorgeworfen. Ich sage — im Gegensatz zu den GRÜNEN —: ein Umschuldungsprogramm und kein Entschuldungsprogramm. Es ist ganz wichtig, das zu unterscheiden. Ich meine, das sollte überprüft werden, weil es im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe im Agrarkreditprogramm realisiert werden könnte. Ich glaube, das sollten wir gemeinsam prüfen.Ich fasse zusammen. Erstens. Wir stehen dazu, daß wir sagen: eine vorsichtige Preispolitik. HerrKiechle hat nicht gesagt, daß er eine aktive Preispolitik machen will. Herr Stoltenberg hat in Stormarn gesagt: Wer einen höheren Agrarpreis verspricht, ist ein Scharlatan. — Daran kann man nichts deuteln. Das ist, glaube ich, auch die Meinung der Bundesregierung.Zweitens. Ausgleichszahlungen müssen an Einkommenskriterien orientiert sein.Drittens. Wiedereinführung der Landabgaberente — das haben wir schon lange gefordert —, die eine segensreiche Wirkung gehabt hat.Viertens. Betriebsstillegungen — ganz oder teilweise — sollten zunächst von Mitgliedern dieses Hauses in Solidarität zu den Berufskollegen getestet werden, ehe man das als Allheilmittel anpreist. Ich werde es überprüfen. Ich habe zwar nur ein paar Quadratmeter Ackerfläche; aber 50 % liegen in Brache.Fünftens. Mehr Gerechtigkeit bei der Belastung durch Sozialbeiträge.Sechstens. Eine aktive regionale Struktur- und Wirtschaftspolitik. Herr Sauter, wir haben darüber gesprochen. Die Antwort der Bundesregierung sagt, glaube ich, daß wir da etwas tun müssen. Leider vermisse ich eine solche Wirtschafts- und Strukturpolitik.Ich möchte Ihnen, Herr Minister, und auch den Kollegen von der CDU/CSU und von der FDP, empfehlen, Sie sollten nicht soviel von, über und zu, sondern mit Bauern reden, wie ich es fast täglich tue.
Sie sollten eine Tugend verwirklichen, die ich Ihnen zum besten geben möchte. Der gute Abgeordnete und der gute Minister hat das Ohr am Puls und den Mund am Pils des Volkes.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Eigen.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich erst ein paar Aussagen zu Äußerungen machen, die heute nachmittag in dieser Debatte gemacht worden sind.Wenn Herr Heereman als Präsident des Deutschen Bauernverbandes — ich gehöre selbst dem Präsidium an und kenne die Beschlüsse ganz genau — sagt: Bis hierher und nicht weiter!, dann hat er vorher auch gesagt, daß die Maßnahmen, die die Bundesregierung beschlossen und durchgeführt hat, positiv zu bewerten sind, und daß das Ganze dem Herrn Bundesminister helfen und ihm den Rücken stärken soll, damit er in Brüssel, wie er es tut, richtig verhandeln kann. So ist das zu sehen und nicht anders.
Ein zweiter Punkt: Dr. Stoltenberg, Herr Kollege Müller, hat am 6. April bei dem Währungsrealign-
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16402 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
Eigenment in aller Deutlichkeit festgestellt und durchgesetzt — und zu mehr waren die Finanzminister und Bankpräsidenten nicht befugt —, daß eine Absenkung des grünen Franc im Verhältnis zum Ecu, was bedeutet, daß die Franzosen einen höheren Agrarpreis bekommen als andere Länder, erst nach den Preisverhandlungen in Brüssel zum Zuge kommen kann. Ich sage das in aller Deutlichkeit, damit das hier nicht falsch verstanden wird.Nun Herr Schröder, das hätten Sie gern: zwischen Erzeuger, Bauern und Verbraucher einen Keil treiben.
Das hätten Sie gern. Das habe ich begriffen. Ich habe die Polemik gemerkt.
Das Gegenteil ist der Fall. Wir haben am 12. April bei den Demonstrationen in allen Kreisen der Bundesrepublik Deutschland festgestellt, daß die Verbraucher großes Verständnis für Lage und Situation der Landwirtschaft haben.
Die Verbraucher haben begriffen und verstanden, wenn die Meldung hereinkommt, daß wir in Nordrhein-Westfalen eine Inflationsrate von minus 0,2 haben, dies natürlich zu einem wesentlichen Teil auch auf Grund der niedrigen Lebensmittelpreise zustandegekommen ist und daß heute in den Supermärkten bei Sonderangeboten für Schweinefleisch, Rindfleisch und Butter nicht mehr bezahlt wird als 1950. Das wissen die Verbraucher und lassen sich durch Ihre Polemik nicht von den Erzeugern trennen.
— Das hast Du auch gemacht, Rudi. Ich bin mit Deiner Rede ganz einverstanden soweit. Eine Opposition muß so sprechen. Ich habe dafür großes Verständnis.Herr Schröder, ein zweiter Punkt. Es ist so eine Sache, wenn man in einem Land einen Wahlkampf gewinnen und dort Ministerpräsident werden will, sich in eine Debatte hineinzuwagen, in der einem die Grundkenntnisse fehlen. Sie glaubten jetzt: Obst und Gemüse vernichten —, es freuen sich alle, wenn ich das einmal richtig herauspauke. — Ich weiß genau, die Masse der Menschen mag das Bild im Fernsehen nicht, wenn Obst vernichtet wird; ich mag es auch nicht. Das Obst, das dort vernichtet wird, kommt von kleinen Bauern mit ein, zwei Hektar Land, die von dem Obst leben müssen. Diese Maßnahme ist nichts anderes als eine Sozialmaßnahme, weil in den Gebieten in Italien und Frankreich wegen der Strukturen, die dort sind, sonst eine neue Armut ausbrechen würde. Das ist der Grund. Übrigens kommt in der Verordnung der Kommission die Vernichtung überhaupt nicht vor. Die Vernichtung wird erst durchgeführt, wenn ein Lebensmittel verdorben ist. Sonst wird es einer anderen Verwendung — für Sozialzwecke, für Alkoholbrand, für Viehfutter — zugeführt, und nicht der Vernichtung, um das klar und deutlich zu sagen.Leider ist Herr Apel nicht hier. Ich bedauere das sehr. Er ist Ihr Nachbar, Ihr Kollege in Hamburg. Er hat sich hier nicht hanseatisch verhalten. So etwas liest man nicht gern: „Hier wird gelogen, daß sich die Balken biegen," — so wurde von ihm persönlich gesagt — „von den Bauernvertretern genauso wie von der Bundesregierung". Wissen Sie, so etwas liest man nicht gern, weil das nämlich falsch ist. Das ist nicht nur polemisch, das ist unanständig. Denn Lügen, Herr Schröder und meine Damen und Herren von der SPD, bedeutet, bewußt die Unwahrheit mit einem bestimmten Ziel zu sagen. Diese Lüge können Sie einem Bauernvertreter niemals und nirgends vorwerfen, jedenfalls uns nicht, die wir in diesem Saal sitzen.
— Die fallen nicht ab; Sie können dessen ganz sicher sein, Herr Kuhlwein.Ein letzter Punkt. Auf Grund der Entschließung der SPD wissen wir jetzt, wie das zu bewerten ist. Unter Ziffer 2 a ist von marktorientierten Preisen mit Einkommensausgleich die Rede. Ich habe immer überlegt, woher Sie das ganze Geld kriegen. Sie sagen auch nicht, wieviel Sie brauchen: 50 Milliarden DM, 100 Milliarden DM. So viel braucht man in der EG. Das Geld habt ihr nicht. Das wißt ihr ganz genau. Jetzt wissen wir es.Unter Ziffer 3 e steht: 5% Mehrwertsteuer werden nicht gegeben, sondern sie werden einbehalten. Dann weiß jeder Bauer Bescheid. Er kriegt bei den Preisen 5% weniger. Mit diesem Geld werden gezielte flächenbezogene Einkommensübertragungen durchgeführt. Das steht unter Ziffer 3 e der Entschließung der SPD vom heutigen Tage. Jetzt wissen wir es ganz genau.Meine Damen und Herren, eigentlich wollte ich mich mit einem anderen, viel schwerwiegenderem Thema befassen. Die Landwirte in der Bundesrepublik Deutschland haben 1984 20 330 DM verdient, in Dänemark waren es 40 833 DM, selbst in Italien — von den unterschiedlichen Strukturen habe ich vorhin schon gesprochen — waren es noch 22 478 DM, also mehr als in der Bundesrepublik. Wenn man sich überlegt, daß wir eine EG-Kommission haben, die es wagt, Vorschläge zu machen, die bei Getreide und anderen Produkten Preissenkungen bis zu 15% beinhalten, wenn man weiter bedenkt, daß diese Kommission die Bundesrepublik Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg verklagt, weil sie Imitationsprodukte von Milch und Wurst zum Schutze der Verbraucher und der Erzeuger — ich füge das offen hinzu, denn das trifft beide Seiten — nicht in das Land hereinlassen will, wenn man also zugrunde legt, meine Damen und Herren, wo wir in der Europäischen Gemeinschaft wirklich stehen, dann muß man sich ganz ernsthaft die Frage stellen, ob man diese Agrarpolitik im Grundsatz wirklich weiterführen kann. Vorhin ist von meinem Freund Paintner voller Elan — ich akzep-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16403
Eigentiere das auch — Ertl in Schutz genommen worden. Das ist prima. Das hätte ich auch so gemacht.
— Dagegen haben Sie ja wohl bestimmt nichts!
Das ist im Grunde richtig. Es ändert aber nichts an der Tatsache, daß sich in den letzten 15 Jahren durch die ständigen Veränderungen der Währungsparitäten die Situation der deutschen Landwirte gegenüber der von Landwirten aus anderen Ländern ständig verschlechtert hat.Meine Damen und Herren, wenn wir keine grundlegende Änderung bekommen — diese können wir nur durch eine Währungsunion, verbunden mit einer politischen Union, erreichen; eines bedingt das andere, eines allein gibt es nicht —, dann werden wir noch viele Jahrzehnte diesen Zustand haben. Das werden unsere deutschen Bauern nicht überleben, unabhängig davon, ob Einkommensausgleiche und soziale Beihilfen gewährt werden oder nicht, die wir gerne geben wollen, gezielt besonders für die Schwachen. Wenn wir das nicht erreichen, werden unsere Bauern das nicht überleben.In Dänemark ist trotz des kleinen Fortschritts, der in Brüssel beschlossen worden ist, ein Volksreferendum durchgeführt worden, weil die Regierung nicht beschließen konnte. In Großbritannien gibt es überhaupt keinen Ansatz, in dieser Richtung Fortschritte zu machen. Wenn auch in Frankreich und Holland keine Bestrebungen vorhanden sind, schnell zu einer Währungs- und zu einer politischen Union zu kommen, dann sollten wir uns Gedanken darüber machen, ob nicht allein die Landwirtschaft als alleiniger Brückenkopf der Europäischen Gemeinschaft angesehen werden kann. Alles andere ist nur Diskussion. Wir sollten uns also überlegen, ob wir sie in diesem Brückenkopf belassen dürfen oder ob wir sie zurücknehmen müssen, weil wir leider in der Politik in der Europäischen Gemeinschaft nicht vorwärtskommen. Ich sage das mit tränendem Herzen, weil ich ein engagierter Europäer bin. Ich sage Ihnen aber auch eines: Wenn es so weitergeht, wenn erst einmal die Bauern und dann andere Gruppen in der Bevölkerung durch eine solche Politik, wie wir sie jetzt erleben, Antieuropäer werden, dann dienen wir dem gemeinsamen Europa ganz bestimmt nicht. Deswegen sollten wir hier in eine neue Diskussion einsteigen. Wie man es machen will, kann ich Ihnen auch noch nicht genau sagen. Ich weiß, wie schwer es sein wird. Vielleicht gibt es andere Bereiche der Wirtschaft, meinetwegen die Forschung, die man leichter integrieren kann. Man könnte auch im Verkehr vielmehr tun. Alle Eisenbahnen der 12 Länder sind z. B. staatlich. Aber nicht einmal diese wagt man zu integrieren. Auch die Bauern läßt man in dieser Hinsicht allein. Wir werden uns also Gedanken machen müssen — —
Herr Abgeordneter, die Gedanken müssen wir jetzt einem anderen übertragen. Sie sprechen schon eine Minute zu lange.
Ich habe verstanden, Herr Präsident. Ich komme zum Schluß.
— Das kann ich mir vorstellen. Herr Kuhlwein, das können Sie anderweitig einmal haben.
— Ja, ganz sicher.
Ich komme zum Schluß und möchte Ihnen sagen, daß die heutige Debatte — so glaube ich — auch zeigt, daß sich alle Bereiche der Politik engagiert bemühen, Wege zu finden, wie den Bauern zu helfen ist. Ganz bestimmt stehen wir, die CDU/CSU, an vorderster Front und lassen uns da von niemandem übertreffen.
Das Wort hat der Abgeordnete Oostergetelo.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vier Stunden lang wurde nun diskutiert. Es ist trotz des Ernstes der Lage, den niemand bezweifelt hat, deutlich geworden, daß es keine Gemeinsamkeit mehr in der agrarpolitischen Einschätzung von Koalition und SPD gibt, wie sie noch im Bundesrat im Dezember letzten Jahres vorhanden war. Wie Sie alle wissen, gab es dort einen einstimmigen Beschluß. Wir von der SPD werden nicht zulassen, daß man jetzt trotz hektischer Maßnahmen dabei ist, große Teile eines Berufsstandes in existentieller Notlage zu belassen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
„Die Lage am Markt für Nahrungsmittel in der EG ist heute so, daß derjenige, der von Butterbergen und Zuckerrübenhalden redet wie die SPD im Bundestag, keine Ahnung hat oder nur auf Bauernverunglimpfung aus ist." Soweit das wörtliche Zitat vom 28. Februar 1980. Also müssen Sie dann wohl Ihre eigene Quittung bezahlen.
Herr Susset und andere haben uns vorgeworfen, daß wir zu der 5% Vorsteuerpauschale so nicht ja gesagt haben.
Dies haben meine Kollegen deutlich gemacht.Ich will das klarmachen: Herr Susset, Sie haben am 6. Juni vor zwei Jahren beantragt, 300 Vieheinheiten Obergrenze mal 1,5 und mal 2,5 d. h. Sie waren bereit, 450 Vieheinheiten bei den Schweinen und 750 Vieheinheiten bei Geflügel, Herr von Geldern, also auch in Cuxhaven zuzulassen. Das war Ihr Antrag
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16404 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
Oostergetelomit Bezug auf § 51 des Bewertungsgesetzes. Ich kann zufällig Ihre Gesetze lesen.Herr Paintner, Sie haben zu Recht das GallusPapier zitiert. Ich sage Ihnen, wenn Sie schon zu den Einkommensübertragungen ja sagen als zweites Einkommensbein, dann tun Sie diesbezüglich doch auch bitte etwas.Herr von Schorlemer, ich habe zitiert, daß Sie hier angemahnt haben, daß im Moment unser Spitzenkandidat Schröder nicht im Raum war. Wie wagen Sie das, wo eine ganze Regierung, wo es um existentielle Fragen in Niedersachsen geht, die teilnehmen könnte, nicht auf der Bundesratsbank sitzt? Dann haben Sie zu Recht gesagt, ich hätte gesagt, es gebe keinen Königsweg. Richtig, Herr von Schorlemer, deshalb wollen wir in der Bündelung von Maßnahmen ein zweites Einkommensbein durch Einkommensübertragung.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten von Schorlemer.
Ich bin einverstanden.
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
Herr Kollege Oostergetelo, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß heute der Niedersächsische Landtag tagt und die Opposition in Hannover überhaupt nicht verstanden hätte, wenn die Hälfte des Kabinetts hier auf der Bundesratsbank gewesen wäre?
Herr Kollege, ich weiß, daß Sie die Geschäftsordnung kennen. Es wäre sicher von der Opposition dankbar begrüßt worden, wenn Herr Albrecht oder jemand in Vertretung von ihm hier gesagt hätte, was man wirklich will, statt daß ein Agrarpapier vorgelegt wird, das nur Scherben übrig läßt.
Meine Damen und Herren, Herr Bredehorn hat die Bestandsobergrenzen gefordert. Herr Bredehorn, wir stehen dazu. Aber ich bitte Sie, sagen Sie dann auch ja zu unserem Antrag. Da ist es drin. Im Antrag Albrecht steht: „EG-weite Bestandsobergrenzen könnten dem Ziel dienen." Er weiß es also noch gar nicht. Dann müssen Sie schon unserem Antrag zustimmen.
Herr Eigen, für mich ist klar, daß Sie der Aktivste in Sachen Preispolitik sind. Sie sind der größte Forderer in diesem Punkt. Denn bei der Einkommensübertragung als ein zweites Einkommensbein würden Sie nichts abkriegen. Wenn Sie das als Politik für die Bauern nur im großbäuerlichen Interesse mißachten, ist das Ihr Bier.
Ich sage Ihnen, auch in der Union und im Bauernverband ist klar, daß man dies mittlerweile versteckt fordert. Man versucht das zu umschiffen, indem man uns unterstellt: „an Stelle von Preis". Dies hat von uns kein einziger gefordert.
Nun, meine Damen und Herren, was kennzeichnet unsere Agrarpolitik, so wie wir sie heute vorfinden? Sieben Milliarden Mehrkosten für die Bürger pro anno, die Einkommen der deutschen Bauern auf dem Niveau 1975 im unteren Viertel bei 2 000 DM Verdienst im Jahr pro Arbeitskraft. Dann noch die Aussichten: 8% weniger. Gleichzeitig ist die EG finanziell am Ende und die Frage der Überproduktion nicht gelöst. Das ist die Lage der Dinge, die Sie ja alle auch zugegeben haben.
Sie haben Friedlosigkeit in die Dörfer gebracht.
— Sie haben Friedlosigkeit in die Dörfer gebracht. Bei der Mehrzahl der Betriebe im Milchbereich ist das so, Unfrieden zwischen den Nachbarn. Sie wissen auch, mit der Einführung der Planwirtschaft haben Sie letztlich dazu beigetragen, daß unsere freie bäuerliche Struktur umgebracht wird. Wie ist das denn? Ich antworte gern. Ich sage Ihnen, Sie haben dreifach einen Fehler begangen. Erstens: Deutschland hat im Schnitt 15,8 Kühe, Holland 40 Kühe, England hat 56 Kühe, und Irland bekommt noch 3,5% dazu. Ist das unser Interesse? Zweitens: Ihre nationale Ausgestaltung sagt, Härtefall ist nur der, der investiert hat. Mit sozialer Härte hat das nichts zu tun. Die Betriebe, die als Härtefälle anerkannt sind — Sie nennen das heute Vertrauensschutzregelung, weil Sie gemerkt haben, Härten werden nicht ausgebügelt —
sind um ein Drittel größer als die Durchschnittsbetriebe. Drittens: Sie haben mit dem totalen Abbau des Grenzausgleichs dafür bezahlt. Oder ist das etwa nicht ein Ergebnis Ihrer Entscheidung, was wir in Ootmarsum jetzt gekriegt haben? Nur noch Abwertungsländer haben die Chance zuzulegen. Sie wissen es doch selbst. Undurchdacht sind Ihre Vorschläge, die derzeit hektisch hervorsprudeln.
Herr Kollege, ich komme immer gar nicht zwischen Ihre Worte. Würden Sie eine Zwischenfrage von Herrn Gallus gestatten?
Bitte sehr.
Herr Gallus, bitte sehr.
Herr Kollege Oostergetelo, Sie kommen leider aus der Beschreibung der Situation ebensowenig heraus wie Ihr Herr Kollege Schröder. Ist denn die SPD bereit — das ist meine Frage —, zur Lösung der Agrarprobleme in der EG mehr Geld aufzuwenden, als wir heute dafür aufwenden?
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16405
Mein lieber Herr Staatssekretär, ich habe anderswo gehört, daß ein deutscher Staatssekretär gesagt haben soll, daß ich seine Politik vertrete. Wenn Sie sie offen nicht sagen dürfen — na gut. Wir haben durch Gerhard Schröder erklärt, wir sind bereit, wenn es um existentielle Fragen geht, uns das was kosten lassen, aber nicht, wie Sie es machen, mit den 5%, wo nur der Umsatzstarke absahnt. Das ist doch die Wahrheit.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hammerstein?
Herr Kollege Oostergetelo, Sie haben viel geredet, aber noch nichts Bedeutendes gesagt. Können Sie sagen, welche Alternativen Sie definitiv aufzeigen, damit es uns Bauern besser geht?
Mein lieber Freund Charli, mir wäre es ja lieber gewesen, Du wärst wieder aufgestellt worden; dann hätten wir uns länger bekämpfen können. Anscheinend haben die Bauern aber bei Dir gemerkt, so einfach ist das nicht. Ich will Dir sagen: Wer so mit der Wahrheit umgeht und in den grünen Blättern schreibt, „Wir von der Union haben ein geschlossenes Konzept, wir werden Überschüsse abbauen; dies wird finanzierbar bleiben und es wird keinen einzigen Härtefall geben!", der soll sich selber die Antwort geben.
Zur Sicherung fällt Ihnen eigentlich nur aktive
Preispolitik ein. So ist die Forderung meines noch
amtierenden Ministerpräsidenten in Niedersachen.
Was bedeutet das denn? Das bedeutet doch nichts anderes, als daß Sie zwei Drittel der Betriebe aufgeben. Sie können doch niemand damit retten, das wissen Sie doch nur Umsatzstarke. Wollen Sie wirklich „wachsen und weichen" hier neu predigen?
Wollen Sie schon wieder eine Zwischenfrage zulassen?
Oostergetelo (SPD): Das ist zu schön.
Herr Kollege, was Sie eben gesagt haben, war direkt die Unwahrheit. Die Bundesregierung hat — wie die CDU/CSU-Fraktion — festgestellt, daß zusätzliche Maßnahmen im sozialen Bereich zur Preis-Kosten-Politik hinzugefügt werden sollen, daß es aber ohne eine vernünftige Preis-Kosten-Politik keine Rettung über solche Maßnahmen gäbe.
Ich kenne Ihre Überlegungen: 22 Milliarden an den Umsatz binden über 5 Vorsteuerpauschale — und 4 oder 3 oder 2 oder weniger Millionen dann als soziale Beigift für die geben, die Sie sowieso aufkaufen wollen, z. B. in Niedersachsen als „Rettungsmaßnahme".
Herr Minister, Sie haben immer über aktive Preispolitik geredet. Sie waren doch heute beim Kanzler. Was kommt denn raus? Werden Sie wieder ein Veto einlegen? Der Kanzler wird mit Mitterrand zusammenkommen. Was kommt raus? Sagen Sie es uns doch! Das Parlament und die deutschen Bauern wollen's wissen: Ist an Ihrem Gerede von aktiver Preispolitik etwas dran oder nicht? Oder ist es nicht vielmehr so, Herr Eigen — das wissen Sie genauso gut wie ich —, daß wir zu erwarten haben, daß es Preisbeschlüsse geben wird, die bis an 10% minus gehen können? Sie haben immer negative Preispolitik beschlossen, aber positive gefordert. So ist es in den letzten Jahren gewesen, und so wird es in diesem Jahr sein.
Es ist doch keine Lösung, wenn Sie sagen: „Aber wir haben noch etwas im Schrank" — das sind die nachwachsenden Rohstoffe —, wie ich es in Niedersachsen gehört habe. Dies ist keine Hilfe für heute, sondern sind „Schnaps"-Ideen, wie Ihre eigenen Leute gesagt haben.
— Ich weiß, daß das wehtut und daß Ihre Bauern zu mir in die Versammlungen kommen.
— Kommen deshalb immer mehr? Ist das die „Enttäuschung"?Unsere Bauern, unsere Landwirtschaft, unsere Bürger, unsere Steuerzahler und unsere Verbraucher wollen wissen, wo es hingeht. „Gezielte Hilfen in der Landwirtschaft bei Kostenbeschränkung" heißt doch, wenn wir redlich diskutieren, daß es das Gebot der Stunde ist, über grundsätzliche Reformen in der EG-Agrarpolitik jetzt wirklich nachzudenken, da das nicht ins Unendliche gehen kann. Ich weiß, daß das auch viele von Ihnen wollen. Was Sie jetzt tun, ist Flickschusterei. Das heißt auch, Eigen, daß wir in einer Bündelung von Maßnahmen — —
— Herr Eigen; das ist Herr Bauernpräsident Eigen, neutraler gesagt. Sie sind so neutral, daß Sie nicht einmal mehr zuhören, wenn die Opposition etwas sagt.Ich weiß, daß ich mit Ihnen einig bin in einer Bündelung von Maßnahmen. Wir sagen, sofort und langfristig gezielt und finanzierbar — jetzt —, und keine Vertröstungen hinter Wahlterminen! Für die Union sage ich es noch einmal deutlich: produktionsunabhängige Einkommensübertragung als zusätzliches Einkommensbein! Hören Sie mit dem Schwindel auf, daß wir Preise abschaffen wollten. Sie sind es doch, die immer niedrigere beschließen.
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16406 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
OostergeteloSie können doch mit 2 000 DM im Jahr niemanden mehr vertrösten, wenn er auch noch weiß, daß es dann im nächsten Jahr zu Ende geht.
Herr Bundesminister, Sie haben hier ein ernstes Wort verwendet: „Unser täglich Brot gib uns heute." Dies meine ich in allem Ernst. Ich finde, unser Berufsstand ist ein herrlicher Stand, der an der Schöpfung teil hat. Aber dann muß ich Ihnen das andere Wort zusätzlich vorhalten, das da heißt: „Wer hat, dem wird gegeben, und wer nicht hat, dem wird genommen, was er hat." Das ist es doch,
was diese leistungsfähigste Landwirtschaft der Welt umbringt. Die bäuerliche Struktur ist die einzige, die die Sozialfunktion des ländlichen Raumes erfüllt. Sie ist als einzige in der Lage, Ökologie und Ökonomie zum Ausgleich zu bringen.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist wirklich zu Ende. Wir waren hier sehr großzügig.
Wir haben einen Grundsatz, Frau Präsidentin, und der heißt, wir werden eine Koalition zwischen Produzenten und Konsumenten organisieren,
um zu verhindern, daß dieser bäuerlichen Struktur der Garaus gemacht wird; um einen Lebensraum für uns alle zu behalten.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Abgeordnete Schartz.
Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und meine Herren! Ich will den Versuch machen und wagen, diese Debatte wieder auf einen sachlichen Punkt zurückzuführen.
Ich finde es beschämend, daß in dieser schwierigen Situation der deutschen Bauern persönliche Einkommensverhältnisse von Ihnen, Herr Kollege Oostergetelo, und von Ihnen, Herr Kollege Schröder, hier angeführt werden, mit dem mehr oder weniger deutlich ausgesprochenen Vorwurf, man würde hier Politik für sich selber machen. Ich spreche hier als der Inhaber und Selbstbewirtschafter eines kleinen bäuerlichen Familienbetriebes. Meine Frau, meine
Kinder und ich bewirtschaften diesen Betrieb; und ich bin Präsident eines Bauernverbandes.
Ich möchte mich dagegen verwahren, Herr Kollege Schröder. Sie nehmen heute, weil die Niedersachsenwahl vor der Tür steht, zum ersten Mal an einer Agrardebatte teil.
Herr Kollege Schröder, ich meine, wenn Sie versuchen, in der Landwirtschaft Unfrieden zu stiften, dann ist dies ein unglücklicher Zeitpunkt. Er wird der Einkommenssituation der Landwirtschaft nicht gerecht.
— Herr Kollege Oostergetelo, ich werde Ihnen keine Frage gestatten.
Keine Zwischenfrage.
Ich will von der Lage der deutschen Winzer sprechen, die durch ein zu geringes Einkommen, durch mangelnden Absatz und ungehemmte Konkurrenz ausländischer Weine gekennzeichnet ist.
— Ich glaube, es ist wert, daß man sich um die hunderttausend Winzerbetriebe in Deutschland kümmert.
Die Skandale mit ausländischem Wein, die Tatsache, daß die Österreicher Glykol dem Wein beigemischt haben und daß die Italiener Methanol, ein Gift, ihrem Wein beigemischt haben, berühren natürlich auch die deutschen Winzer.
Ich will zuerst etwas sagen, was in der Weindebatte des Deutschen Bundestages und in Ihrer Großen Anfrage, meine Damen und Herren der SPD, falsch dargestellt worden ist. 1,8 Millionen verschiedene deutsche Weine sind in den letzten 13 Jahren amtlich untersucht worden. In keinem dieser 1,8 Millionen deutscher Weine — das war die gesamte Weinproduktion — ist Gift festgestellt worden.
Ich will dies deutlich machen, um auch den Verbrauchern zu sagen, daß man dem deutschen Wein vertrauen kann.
Ich bin in Sorge über die Androhung der amerikanischen Administration, ab 1. Mai dieses Jahres den Import deutscher Weine und Weißweine der EG zu behindern. Niemand kann ein Interesse daran haben, daß ein Handelskrieg zwischen den Vereinigten Staaten und der Europäischen Gemeinschaft ausbricht. Aber diese Interesse — kein Handels-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16407
Schartz
krieg — ist nicht nur allein auf die EG beschränkt. Es gilt auch für die Vereinigten Staaten. Deswegen appelliere ich an die amerikanische Administration, diese Importbeschränkungen nicht durchzuführen.Noch etwas zu der viel diskutierten Frage, ob das deutsche Weingesetz verschärft werden soll. Es wäre eine falsche Antwort, wenn wir auf die Manipulationen mit Weinen in Italien und in Österreich mit erhöhten Auflagen für die deutschen Winzer reagieren würden. Wir brauchen eine stärkere, eine lückenlose Kontrolle der eingeführten Weine. Ich gebe offen zu: Diese Kontrolle der eingeführten Weine war nicht in Ordnung, und sie ist auch nicht in Ordnung. Sie muß verbessert werden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Weyel?
Nein, Frau Präsidentin, ich möchte das nicht tun.
Erlauben Sie mir — weil das in allen Reden des heutigen Tages angesprochen wurde —, auch die Frage der Agrarsozialpolitik anzusprechen. Wenn in einem Wirtschaftsraum wie der EG bei gleichen Preisen unterschiedliche Kosten entstehen — und das ist der Fall —, dann müssen die Produzenten, die die höchsten Kosten haben, die geringsten verfügbaren Einkommen aufweisen. Das ist bei den deutschen Bauern der Fall, weil wir höhere Sozialbeiträge, weil wir höhere kommunale Abgaben zahlen müssen. Gerade die kleineren Betriebe in der Bundesrepublik Deutschland wenden einen unverhältnismäßig hohen Anteil ihrer Gesamteinnahmen für Sozialbeiträge auf. Das müssen wir ändern.
Weil Sie, meine Damen und Herren von der SPD, diese Frage angesprochen haben: Wer hat denn die Zuschüsse an die Berufsgenossenschaft gekürzt? Wären Sie noch an der Regierung, müßten die deutschen Bauern heute jährlich 32 DM mehr je Hektar an ihre Unfallversicherung zahlen. Währen Sie noch an der Regierung, müßten die deutschen Bauern für 10 ha 320 DM mehr im Jahr an die Berufsgenossenschaft zahlen; der 30-ha-Betrieb runde 1 000 DM mehr.
Wir haben die Zuschüsse angehoben. Wir haben den Bauern entgegen Ihren Vorstellungen 400 Millionen DM Zuschuß mehr gegeben. Wir haben die Zuschüsse an die Altershilfe um 200 Millionen DM aufgestockt.
Wir haben durchgesetzt, daß die landwirtschaftlichen Arbeitnehmer höhere Renten bekommen. Das war wahrhaftig notwendig.
Zur Zeit wird darüber diskutiert, die deutschen Bauern im Bereich der Sozialbeiträge weiter zu entlasten. Ich halte das für richtig und für notwendig. Ich möchte die Bundesregierung bitten, ihre Überlegungen zügig abzuschließen, damit noch in diesem Jahr eine zusätzliche Entlastung der deutschen Bauern wirksam werden kann.
Die Bemessungsgrundlage sollte nicht nur die Größe eines Betriebes sein, sondern es sollte so sein, daß die tatsächliche Einkommenssituation die Grundlage ist.
Wenn eine zusätzliche Entlastung kommt, sollte man ganz besonders die Vater-Sohn-Betriebe berücksichtigen, die Betriebe, die von zwei Generationen bewirtschaftet werden, in denen für zwei Generationen Einkommensbedürfnisse bestehen.
Ich muß zum Schluß kommen. Ich wollte noch folgendes sagen. Ich finde, mein Obmann Egon Susset hat zu Beginn dieser Debatte ein richtiges Wort gesagt. Zur Zeit laufen im Ministerrat in Luxemburg existenzentscheidende Verhandlungen. Dieses deutsche Parlament sollte an einem solchen Tag, wenn unser Bundesminister für die deutschen Bauern streitet und verhandelt, die Kraft haben, dem Bundesminister gemeinsam den Rücken zu stärken und dafür zu sorgen, daß nicht über verringerte Agrarpreise auch noch das Einkommen der deutschen Bauern weiter verringert wird.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Abgeordnete Kißlinger.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was für den Herrn Schartz der Wein ist, ist für mich der Wald. Es scheint schon Tradition geworden zu sein, daß im Agrarbericht der Wald vernachlässigt wird. Besonders hart empfindet man das, wenn man, wie ich, aus einem Gebiet kommt, in dem viele Menschen in Forst- und Holzwirtschaft und im Tourismusgewerbe Arbeit und Brot finden. Diese Menschen bangen wegen des Waldsterbens um ihre Existenz, wie das auch unsere Waldbauern tun, die begriffen haben, daß jede empfindliche Störung des Gleichgewichts zwischen Ökologie und Ökonomie ihnen nicht nur ihre Sparbüchse, sondern auch die Zukunft nimmt.
Herr Minister, Sie haben im Kapitel „Waldschäden" kurz von Zunahmen, die sich insgesamt nicht fortgesetzt hätten, gesprochen. Gleichzeitig stellen Sie dann für die Forstwirtschaft fest, daß mit einer Fortsetzung der positiven Ertragsentwicklung nicht gerechnet werden könne. Das ist ja seltsam. Die Forstwirtschaft selbst rechnet auf Grund der katastrophalen Entwicklung beim Waldsterben mit direkten Verlusten von i Milliarde DM. Ihr Haus, Herr Minister — ich zitiere —, hat mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Hauptursache für das Waldsterben erkannt. Das ist sehr beachtlich.
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16408 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
KißlingerWenn wir gemeinsam ein Forstschädenausgleichsgesetz gemacht haben,
weil wir in Sorge über verstärkten zukünftigen Schadensanfall waren, haben alle, Herr Schorlemer, sicherlich auch an Waldschäden gedacht — und an das Waldsterben.Wenn sich Ihr Haus, Herr Minister, rühmt, auf 3 100 ha Waldfläche — ich glaube, wir haben 3,8 Millionen ha Waldschadensfläche — forstliche Maßnahmen gegen das Waldsterben gefördert zu haben, muß es dieses Waldsterben ja wohl geben. Und wenn das Kalken auch wirklich nichts nützt, der Düngemittelindustrie schadet es allemal nicht.Mit forstlichen Maßnahmen machen Sie Wälder aber nicht grün, nicht einmal schwarz, wahrscheinlich eher kahl.
Mit der Natur können auch Sie, Herr Minister, ganz sicher keine Kompromisse schließen. Sie können das mit den Wäldern hinausschieben. Sie können das Sterben der Wälder nicht verhindern, bis nicht Ihr Kollege Zimmermann für die Durchlüftung dieser Republik gesorgt hat. Legen Sie den in Ihrem Haus verfaßten Waldschadensbericht und den Regierungsbericht über die Luftreinhaltepolitik nebeneinander. Dann werden Sie feststellen, daß der Wald leider wenig Chancen hat.Daß diese Regierung überhaupt nicht gegen das Waldsterben kämpft, wird an den Äußerungen des Staatssekretärs Kroppenstedt auf der CDU-Tagung „Umwelt und Recht" deutlich. Er sagte:Wer vom Waldsterben spricht, redet Blödsinn; denn Probleme dieser Art gibt es nur in ganz wenigen Hochlagen.Eigentlich dürfte so etwas nur die profunde Erkenntnis eines umweltpolitischen Geisterfahrers sein. — Wer das Waldsterben nun wirklich nicht sieht, kann es schließlich und endlich auch nicht bekämpfen. Die Presse spielt nach Herrn Kroppenstedt Probleme hoch, die es gar nicht gibt. In diesem Zusammenhang spricht er von einem „Affentheater um Buschhaus". Er hat wohl nicht daran gedacht, daß dies eine Veranstaltung der Bundesregierung war. Regie hat der Kanzler geführt.Andererseits scheint das Waldsterben für Herrn Kroppenstedt doch existent zu sein, da er auf derselben Tagung weiter anführt, daß wir ja keine Vorleistungen zugunsten unserer Nachbarstaaten durch Reduzierung unseres Schadstoffexportes erbringen sollten, weil solche nationalen Alleingänge die Position der deutschen Wirtschaft im internationalen Wettbewerb schwächten. — Wenn wir unsere Umwelt vor die Hunde gehen lassen, Herr Kroppenstedt, wird das in der Konsequenz auch nicht zum Segen der von Ihnen offensichtlich an der falschen Stelle verteidigten Wirtschaft sein.Wenn Sie außerdem von Polen und Tschechen die gleiche Leistung erwarten, die reiche westliche Industrieländer erbringen könnten, sind Sie ein Illusionist. So, meine Damen und Herren, wendet man nicht Schaden vom Volke. So vermehrt man nur den Nutzen der Lobby. Und dieses Handeln zieht sich wie ein roter Faden durch die ganze sogenannte Umweltpolitik der Regierung.Anscheinend läßt Sie das Schicksal unserer Wälder gleichgültig, Herr Minister, obwohl Sie angeblich wieder mehr auf Waldbau setzen wollen, da Holz eines der wenigen Nicht-Überschußprodukte in Deutschland und in Europa ist. Da gibt es keine Berge — wie schön für Sie! Warum, Herr Minister, wehren Sie sich nicht gegen das Innenministerium, das mit solchem Denken und Handeln die noch nie so dagewesene ökologische Notsituation verschärft?
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Abgeordneter?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich gebe nachher gern noch eine halbe Stunde lang Auskunft; aber Sie wollen alle eher fertig werden.Ihr Ministerkollege Riesenhuber weiß auch um die Waldsterbeproblematik, wie die Unterstützung mit 7,8 Millionen DM durch sein Haus für ein Projekt zur Untersuchung und Kartierung von Waldschäden zeigt. Dabei ist interessant, daß der Vorstand dieser Forschungseinrichtung, Heinz Häberle, das Waldsterben als „Katastrophe in Zeitlupe" bezeichnet.Wenn es Ihnen um die Zukunft unserer Bauern ernst ist, Herr Minister, dann müssen Sie alles tun, damit das Gleichgewicht zwischen Ökonomie und Ökologie wiederhergestellt wird,
und dabei spielt gerade der gesunde Wald eine entscheidende Rolle, Herr Kollege. Weder der geschönte Waldschadensbericht noch der Bericht der Bundesregierung zu den Maßnahmen auf dem Gebiet der Luftreinhaltepolitik bringen Hoffnung für unsere Wälder.Herr Minister, Sie üben sich wie Ihr Kollege Zimmermann auch nur in Ankündigungs- und Beschwichtigungsreden.
Für unsere Wälder gibt es aus Ihrem Hause noch weniger eine Zukunftsperspektive als für unsere bäuerliche Landwirtschaft.
Darin sind Sie wenigstens konsequent.Sie, Herr Minister, Herr Kroppenstedt, die Regierung, Sie alle liegen heute auf der Linie des niedersächsischen Ministerpräsidenten Albrecht, der — ich zitiere — „gegen eine alle relevanten öffentlichen und privaten Aktivitäten umfassende Umweltschutzplanung" ist, „weil solche Vorstellungen den Rahmen des marktwirtschaftlichen Geschehens sprengen". Ich kann das nur so verstehen: Die Mark kommt vor der Natur, die Geldwelt vor der Umwelt. Unsere Wälder und unsere Umwelt werden Sie nur
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16409
Kißlingerretten, wenn Sie Ihr Handeln von Notwendigkeiten und nicht von Einflüssen Ihrer Klientel oder einer mächtigen Lobby bestimmen lassen. Es ist hohe Zeit zur Umkehr.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bedaure sehr, daß die — mit meiner Einbringungsrede — vierstündige Debatte doch in weiten Teilen eigentlich nur ein Wahlkampfspektakel gewesen ist, vor allem das, was von der Opposition dazu gesagt wurde.
Ich habe genau zugehört. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die glauben, daß man nur selber alles Wissen besäße. Herr Müller, Ihre Rede hat sich durch nichts von der des letzten Jahres unterschieden.
Sie haben alles erzählt, was Ihnen nicht gefallen hat, Sie haben nicht in einem einzigen Fall konkret gesagt, was man wirklich machen sollte. Sie haben das Getreidepreis-Veto wieder genauso wie damals charakterisiert, und im übrigen haben Sie das obere Viertel der Bauern herangezogen.Befassen Sie sich doch bitte mal mit den Zahlen! Das durchschnittliche Einkommen betrug 1975 56 000 DM, und 1985 waren es 54 000 DM. Zehn Jahre lang dasselbe! Und was sind 54 000 DM Bruttoeinkommen in diesem oberen Viertel?! Das hat heute ein besserer Facharbeiter, um nur ein Beispiel zu nennen. Da zieht man dann Beispiele zum Kleinen, zum Großen heran und versucht ein bißchen das Gefühl zu wecken, als ob das reiche Leute seien. Da muß man wissen: Wenn wir nur 50 000 DM Wirtschaftswert ansetzen,
dann sind 80 % aller Vollerwerbsbetriebe schon dabei. Wo sind denn diese vielen riesigen Großbetriebe, über die hier dauernd geredet wird?
Mir tut es leid, daß man das hier so personifiziert und glaubt, damit Wahlkampf machen zu müssen.Wir werden unsere Konzeption durchhalten. Ich habe schon gegen viele eine klare Linie durchgezo gen, und ich werde sie auch in diesem Fall, wie ich meine, ziehen müssen.
Wenn Sie sagen „mehr Markt anwenden", dann schicken Sie mich mit dieser Formulierung heute nach Luxemburg; denn die verkünden mit der gleichen These „der Markt muß mehr greifen", daß die Preise sinken sollen, und sie sagen mir, ich solle mehr Markt anwenden.
Wie soll ich denn auf der anderen Seite die Einkommensausfälle, die damit verbunden sind, ausgleichen?
Herr Schröder, Sie haben bedauerlicherweise — sehr geschickt, aber, wie ich meine, mehr als demagogisch — die Geschichte mit Verbrauchern, Steuerzahlern, Bauern unter der Überschrift, Sie wollten Wohlwollen für die Bauern verbreiten, herangezogen, um hier Stimmung zu machen. Wir versuchen, bei den Steuerzahlern und auch bei den Verbrauchern, die von dieser Agrarpolitik sowieso enorm begünstigt sind, mit offenen, klaren Argumenten Verständnis zu wecken. Aber man kann das natürlich nicht damit tun, daß man auf die Fernsehbilder von der Obstvernichtung — und ich weiß nicht, was noch alles — hinweist, das alles zu einem Brei mixt und so tut, als ob, während man in Wirklichkeit nichts anderes als schlechte Stimmung gegen die Bauern verbreitet.
Dann meint man, man brauche nur hinzuzufügen, die Kleinen wolle man j a bevorzugen, und schon habe man sie. So dumm — Verzeihung — sind die nicht. Die werden schon auf die Zwischentöne achten. Ein paar werden vielleicht darauf reinfallen, aber der Großteil achtet auf die Zwischentöne.Und wenn man schon über diese Subventionen redet: Wieso sind die eigentlich immer nur bei der Landwirtschaft? Essen ist eine Lebensvorsorge, Daseinsvorsorge. Aber, bitte schön, ist etwa vom Sport über das Gesundheitswesen bis zum Personennahverkehr — und das können Sie geradezu großartig weiterführen —, lauter Bereiche der Daseinsvorsorge, nichts an Subventionen verborgen? Wir zahlen doch nur ein Drittel — und meistens nicht einmal das — für die Fahrkarte, wenn wir innerhalb der Nahverkehrsverbünde umeinanderfahren.
Wie ist es mit der Kohle und einer ganzen Reihe wirtschaftlicher Einrichtungen, die ohne diese Zuschüsse nicht leben können? Man tue doch bitte nicht so, als ob das tägliche Essen, wenn es etwas mit Subventionen zu tun hat, sozusagen mehr oder weniger von den Bauern ganz allein zu finanzieren wäre! Wenn wir ehrlich miteinander umgingen, könnten wir auch diese Schwierigkeiten, die wir jetzt haben, leichter bewältigen.
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16410 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
Bundesminister KiechleWenn Sie uns schon vorhalten, ich hätte die schlechten Preise beschlossen, kann ich nur sagen: Ich wehre mich dagegen, daß die Preise gesenkt werden. Wie lange der Kampf dauert, bis wir ihn gewonnen haben — ich bin überzeugt, wir werden ihn gewinnen, vor allem wenn wir die Voraussetzungen dafür schaffen; der Abbau der Überschüsse dauert sicher eine Zeit —, ist eine ganz andere Frage. Aber wenn man das ehrlich miteinander machen würde, hätten wir auch gar keine Differenzen hinsichtlich dessen, wo wir gezielte Hilfen ansetzen sollen. Aber wir sollten nicht pauschal so tun, als ob es da Große gäbe, denen wir die Hilfen zuschieben wollen,
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir kommen zu den Überweisungen und Abstimmungen.
Zu den Tagesordnungspunkten 11 a, 11 c bis 11 f schlägt der Ältestenrat Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 10/5015, 10/5016, 10/3627, 10/ 2822, 10/3626 und 10/4577 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor.
Einverständnis des Hauses?
— Herzlichen Dank. Das wäre der nächste Punkt gewesen; Sie haben es jetzt schon vorgetragen. — Ist das Haus auch damit einverstanden? — Das ist so beschlossen.
Weiter ist beantragt, die Entschließungsanträge der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 10/5373 und 10/5374 sowie die Entschließungsanträge der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 10/5380 bis 10/5383 und den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 10/5377 an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu überweisen. Ist das Haus auch damit einverstanden? — Sie haben einen Wunsch?
Wir bitten darum, daß der Entschließungsantrag auf Drucksache 10/5381 zusätzlich zur Mitberatung an den Innenausschuß sowie an den Haushalts- und den Finanzausschuß überwiesen wird, und ebenso, daß der Entschließungsantrag auf Drucksache 10/5383 zusätzlich zur Mitberatung an den Finanz- und den Haushaltsausschuß überwiesen wird.
Haben die Herrschaften das alles mitbekommen? Dann können wir das so beschließen. Ich brauche das nicht mehr zu wiederholen. — Herzlichen Dank, dann ist das so beschlossen.Der Entschließungsantrag der Fraktion der GRÜNEN auf Drucksache 10/5380 soll darüber hinaus zur Mitberatung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung überwiesen werden. — Keine weiteren Vorschläge.Wir kommen nunmehr zu Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/5379. Wer diesem Entschließungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dieser Antrag ist abgelehnt.Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über Punkt 11 g der Tagesordnung, der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 10/4190 unter Nr. 1, den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU und FDP mit den vorgesehenen Änderungen anzunehmen. Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das erstere war die Mehrheit. Die Beschlußempfehlung des Ausschusses ist angenommen.Der Ausschuß empfiehlt weiter auf Drucksache 10/4190 unter Nr. 2, den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD für erledigt zu erklären. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Ausschußempfehlung ist angenommen.Wir stimmen nunmehr über den Punkt 11 h der Tagesordnung ab, und zwar über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf Drucksache 10/3041. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion der GRÜNEN auf Drucksache 10/1216 abzulehnen. Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung des Ausschusses ist angenommen.Wir stimmen nunmehr über den Punkt 11j der Tagesordnung ab, über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf Drucksache 10/4191. Der Ausschuß empfiehlt, dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/2082 für erledigt zu erklären. Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Diese Beschlußempfehlung ist angenommen.Meine Damen und Herren, dieser Bereich ist erledigt. Ich bedanke mich.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16411
Vizepräsident Frau RengerIch rufe jetzt Punkt 4 der Tagesordnung auf:Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung der Bundeshaushaltsordnung— Drucksache 10/5247 —Eine Aussprache ist nicht vorgesehen.Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfs an den Haushaltsausschuß vor. Gibt es anderweitige Vorschläge? — Bitte schön.
Ich bitte den Gesetzentwurf auch an den Rechtsausschuß zu überweisen.
Ist das Haus damit einverstanden?
Ich stelle den Antrag zur Abstimmung. Wer zuzustimmen wünscht, daß auch der Rechtsausschuß hier mitberatend ist, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dieser Antrag ist abgelehnt.Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfs an den Haushaltsausschuß vor. Der andere Antrag ist abgelehnt. Das Haus ist damit einverstanden. — Danke schön.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch den Präsidenten des BundesrechnungshofesBericht des Bundesrechnungshofes gemäß § 99 BHO über häufige und wiederkehrende Mängel bei der Vorbereitung und Durchführung von Bauaufgaben des Bundes im fachlichen Zuständigkeitsbereich der Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau sowie der Verteidigung— Drucksachen 10/3847, 10/5227 —Berichterstatter:Abgeordnete Echternach NehmAuch hier ist eine Aussprache nicht vorgesehen. Wir kommen zur Abstimmung. Wer der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses auf Drucksache 10/5227 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgabe bei Kap. 25 02 Tit. 642 01 — Wohngeld nach dem Wohngeldgesetz — im Haushaltsjahr 1985— Drucksachen 10/4948, 10/5226 — Berichterstatter:Abgeordnete Echternach WürtzEine Aussprache ist nicht vorgesehen. Wir kommen zur Abstimmung.Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 10/5226, von der Unterrichtung Kenntnis zu nehmen. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:Beratung des Antrags des Bundesministers der FinanzenVeräußerung von bundeseigenen Grundstücken in Berlin-Kreuzberg— Drucksache 10/5244 —Es ist keine Aussprache vorgesehen. Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Antrages an den Haushaltsausschuß vor. — Kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Normung auf dem Gebiet der Informationstechnologien und der TelekommunikationVorschlag für eine Richtlinie des Rates über die erste Etappe der Verwirklichung der gegenseitigen Anerkennung der Allgemeinzulassungen von Telekommunikations-Endgeräten— Drucksachen 10/3788 Nr. 8, 10/4291 — Berichterstatter: Abgeordneter Dr. SchwörerEs ist keine Aussprache vorgesehen. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft auf Drucksache 10/4291 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Mit Mehrheit angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf:Beratung der Sammelübersicht 143 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen— Drucksache 10/5333 —Beratung der Sammelübersicht 144 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen— Drucksache 10/5334 —Auch hier ist keine Aussprache vorgesehen. Wer den Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen angenommen.
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16412 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
Vizepräsident Frau RengerIch rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Aufhebung der Immunität von Mitgliedern des Deutschen Bundestages— Drucksache 10/5363 — Berichterstatter: Abgeordneter BuschbomEine Aussprache ist nicht vorgesehen. Wir kommen zur Abstimmung. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses auf Drucksache 10/5363 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:Beratung der Großen Anfrage der Fraktion DIE GRÜNENAltenhilfepolitik in der Bundesrepublik Deutschland— Drucksachen 10/2957, 10/4108 —Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/5375 und ein Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/5393 vor. Der Ältestenrat schlägt eine Aussprache von bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist der Fall. Ich eröffne die Aussprache.Das Wort hat der Abgeordnete Bueb.
Meine Damen und Herren! „Das Schicksal, das sie ihren nicht mehr arbeitsfähigen Mitgliedern bereitet, enthüllt den wahren Charakter der Gesellschaft." Diesen Satz der jüngst verstorbenen französischen Philosophin und Gesellschaftskritikerin Simone de Beauvoir möchte ich der heutigen Debatte zur Altenhilfepolitik als Motto voranstellen.
Was ich hier im folgenden über die Situation alter Menschen zu sagen habe, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Situation der gesamten Gesellschaft in der Bundesrepublik.Diese Bundesregierung kann sich in der Tat nicht rühmen, sich mit der von ihr verfolgten Politik um das Wohl alter Menschen verdient gemacht zu haben. Was sie uns nun nach monatelanger Recherche als Antwort präsentiert hat, ist mehr als dürftig und beschämend. So zeigt die Antwort vor allem, daß die Bundesregierung die tatsächliche Lebenssituation bestimmter Gruppen von alten Menschen nicht kennt und von daher auch nicht daran denken kann, für diese Gruppen etwas zu tun. Offensichtlich ist man sich im Regierungslager der Stimmabgabe von alten Menschen zugunsten der Regierungsparteien ziemlich sicher. Auf jeden Fall befürchtet man keinen organisierten Widerstand der Betroffenen; weiß man doch, daß diese Gruppe weder materiell noch körperlich zum Teil in der Lage ist, die Kraft und die Ausdauer aufzubringen, sich gegen eine Politik der Diskriminierung und Ausgrenzung, der Entmündigung und Benachteiligung, wie sie täglich bei uns an der Tagesordnung ist, wirksam aufzulehnen.Bezeichnend ist, daß die Bundesregierung eine Reihe von Fragen nicht beantworten kann, andere ungenügend und ausweichend beantwortet, besonders unangenehmen Fragen einfach ausweicht. So kann sie keine Angaben machen über die quantitative und qualitative Ausstattung des Personals in stationären, teilstationären und ambulanten Bereichen. Die Belegung und Verweildauer in den verschiedenen Heimtypen ist ihr unbekannt. Das Zuschußvolumen von Bund, Ländern und Gemeinden für einzelne Heimtypen kennt sie nicht. Die Höhe der Ausgaben für pflegebedürftige Menschen in den verschiedenen Bereichen weiß sie nicht. Ebensowenig vermag sie zufriedenstellende Antwort auf die Fragen nach den Auswirkungen des Personalmangels in den Heimen, nach der Qualität der Pflege und den Arbeitsbedingungen der dort beschäftigten Arbeitskräfte zu geben. Nach den Ursachen und hauptsächlichen Gründen für Heimübersiedlungen befragt, weiß sie keine Antwort. Es fehlen der Bundesregierung beispielsweise Grunddaten über die durch Sozialstationen betreute Personengruppen. Es fehlen ihr weiterhin Daten über die derzeitige Zahl und die zukünftige zahlenmäßige Entwicklung von psychisch beeinträchtigten und kranken alten Menschen. Es fehlen der Bundesregierung Informationen darüber, wo pflegebedürftige alte Menschen derzeit versorgt werden. Es fehlen ihr weiterhin Kriterien zur Festlegung der angemessenen Form der Versorgung von alten kranken Menschen. Es fehlen ihr Informationen über Rehabilitationsmöglichkeiten und -erfolge, über Entlassungen aus der stationären Altershilfe usw. usw.Vollends unzulänglich scheint ihr Informationsstand und demzufolge auch ihr Problembewußtsein bezüglich der Versorgung und Betreuung psychisch kranker alter Menschen. Aber selbst über den Grad der Versorgung der Bevölkerung mit ambulanten sozialen Diensten kann die Bundesregierung keine detaillierten Angaben machen, und dies, obwohl sie keine Gelegenheit ausläßt, herauszustreichen, daß sie dem Ausbau ambulanter Dienste absolute Priorität einräumen würde.Die Liste der hier aufgeführten Informationslükken könnten beliebig fortgesetzt werden. Angesichts eines derartigen offenkundigen Informationsdefizites kann ich nur feststellen: Wem so viele Informationen fehlen oder angeblich fehlen, der ist entweder nicht handlungsfähig oder der will nicht handlungsfähig werden.
Nun lassen die Ausführungen der Bundesregierung trotz aller Beschönigungen in der Antwort keinen Zweifel daran, daß es im Bereich der Alten- und Altenhilfepolitik derzeit zwingenden Handlungsbedarf gibt. Ich möchte auch hier wiederum die wesentlichsten Gesichtspunkte herausgreifen, in denen die Bundesregierung Mängel und Defizite der Versorgung alter Menschen einräumt.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16413
BuebSo gibt sie offen zu, daß das qualitative und quantitative Leistungsangebot der Sozialstationen die Versorgungsbedürfnisse alter und vor allem psychisch beeinträchtigter und kranker alter Menschen nur unzureichend berücksichtigt, daß die von Sozialstationen erbrachten pflegerischen und haushaltswirtschaftlichen Leistungen im Vergleich zum bestehenden Bedarf äußerst mangelhaft sind, daß durch rechtzeitige ambulante Betreuung in vielen Fällen Heimeinweisung verhindert werden könnte, daß die gerontopsychiatrische Betreuung sowohl im ambulanten wie im teilstationären und stationären Bereich mangelhaft ist. Obwohl die Bundesregierung in ihrer Antwort nicht umhin kann, gravierende Mängel und Notstände einzugestehen, zieht sie daraus keine Konsequenzen für die politische Praxis.Ich möchte zwei gravierende Tatbestände herausgreifen. Unseres Erachtens ist es ein sozialpolitischer Skandal ersten Ranges, daß die Bundesregierung die sogenannte gefährliche Pflegesituation, wie sie auf Grund des allseits bekannten Personalmangels in den Heimen vorprogrammiert ist, einfach hinnimmt. Ebenso ungeheuerlich finden wir, daß sie die Menschenrechtsverletzungen und skandalösen Zustände, wie sie durch das geltende Pflegschafts- und Vormundschaftswesen verursacht werden, ignoriert. In der Praxis sieht dieses Pflegschaftsrecht so aus: Menschen werden möglichst reibungslos vom Schreibtisch aus als „Fälle" verwaltet. Wohnungen werden gegen den Willen der Betroffenen aufgelöst. Unnötige Einweisungen in Heime und ungerechtfertigte Unterbringung in geschlossene Abteilungen von Nervenheilanstalten sind bei uns in der Bundesrepublik an der Tagesordnung.Auch hier scheint es auf seiten der Bundesregierung große Kenntnislücken zu geben. Jedenfalls konnte sie eine vor kurzem zu diesem Thema gestellte Große Anfrage innerhalb eines halben Jahres nicht beantworten. Und da sollen wir es Ihnen, Herr Engelhardt, abnehmen — lesen Sie es im Protokoll nach —, daß Sie sich, wie Sie neulich hier und vor der Presse versichert haben, mit großer Energie diesen Problemen zuwenden werden? Na, dann übernehmen Sie sich doch nicht, Herr Justizminister; sonst platzen Sie noch vor lauter Energie!Aus Ihren Antworten, meine Damen und Herren von der Regierung, geht eines deutlich hervor: Das Schicksal vieler alter Menschen läßt Sie kalt. Wäre dem nicht so, ich wäre sicher, daß Sie sich die nötigen Informationen längst hätten beschaffen können, um die beschriebenen Mängel und Defizite wenigstens zum Teil zu beseitigen. Aber das Problem ist: Das liegt nicht in Ihrem Interesse. In Ihrem Interesse liegt vielmehr, soziale Schutzrechte und Anspruchsrechte in allen Bereichen abzubauen. Wir meinen zwar nicht, daß mehr Informationen bereits eine bessere Politik garantieren, doch die VogelStrauß-Manier, den Kopf in den Sand zu stecken, verhindert eine Beseitigung der Probleme mit großer Sicherheit.Wir Grünen haben wiederholt unsere Vorschläge zur Verbesserung der Lebenssituation alter und pflegebedürftiger Menschen hier vorgetragen. In Grundzügen darf ich diese zusammenfassen.Angesichts der teilweise unhaltbaren Situation in Heimen, die von der Mehrzahl der Betroffenen abgelehnt wird, fordern wir einen stufenplanmäßigen Abbau dieser Einrichtung bei gleichzeitiger Forcierung des Aufbaus ambulanter sozialer Dienste.
Wir gehen davon aus, daß in vielen Fällen Pflegebedürftigkeit durch präventive Maßnahmen gemildert werden könnte.
Viele alte Menschen, die heute in stationären Einrichtungen untergebracht sind, könnten in ihrer Wohnung versorgt werden, wenn das Netz der ambulanten sozialpflegerischen Dienste bedarfsgerecht ausgebaut und die finanzielle Absicherung dieser Dienste gewährleistet wäre.
Auch meinen wir, daß es höchste Zeit ist, für diejenigen alten und hilfeabhängigen Menschen, die nicht in ihrer Wohnung bleiben können oder nicht alleine wohnen wollen, neue Formen des betreuten Wohnens zu entwickeln. Hierfür gibt es vor allem im Ausland bereits richtungweisende Modelle des individuellen, selbstbestimmten Wohnens. Ebenso sollten wir darüber hinaus den Verbleib im angestammten Wohnviertel garantieren. Wir denken dabei an eine stadteilbezogene betreute Wohngruppe, die in Verantwortung der Kommunen bereitgestellt werden müssen.Für nicht weiter aufschiebbar halten wir eine Neuordnung der Finanzierung im Pflegefall. Als einzige Fraktion hier im Bundestag haben wir einen Pflegegesetzentwurf vorgelegt, der einen wirksamen Beitrag zur Abschaffung der geschilderten Mißstände und zur Entwicklung von Pflegealternativen leisten könnte.
Für unverzichtbar halten wir eine grundlegende Reform der Rentenpolitik mit dem Ziel, eine steuerfinanzierte Grundrente neben einer obligatorischen beitragsbezogenen Zusatzrente einzuführen. Als Sofortmaßnahme schlagen wir eine bedarfsorientierte Grundsicherung für alte Menschen vor, die jeder Rentnerin und jedem Rentner ein Einkommen von ca. 1200 DM monatlich, für Ehepaare 2 180 DM monatlich garantiert.
Herr Abgeordneter, wollen Sie zum Schluß kommen!
Ja, gleich!
So nicht! Ich möchte Sie bitten, zum Schluß zu kommen.
Noch einen Satz! Würden Sie mich nicht unterbrechen, wäre ich schon fertig.
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16414 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
Das ist nicht die höfliche Art. Wenn Sie sich so benehmen, führt das nur dazu, daß ich Ihnen zum Schluß das Wort entziehen muß. Aber bitte, sprechen Sie Ihren letzten Satz.
Ich entschuldige mich.
Das ist wunderbar. — Bitte sehr.
Ich wollte gerne noch sagen, daß wir der Presse am letzten Montag ein entsprechendes Modell vorgestellt haben.
Das Wort hat der Abgeordnete Link.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe die Große Anfrage der GRÜNEN und die Entschließungsanträge der SPD-Fraktion und der Fraktion DIE GRÜNEN zur Altenhilfepolitik in der Bundesrepublik Deutschland noch einmal intensiv durchgelesen.
— Herr Kollege, ich hatte dazu schon einmal gesprochen; darum erwähne ich es noch einmal.Die GRÜNEN müssen sich fragen lassen: Wie kommen Sie zu den Behauptungen, in der Bundesrepublik Deutschland gebe es eine unverantwortliche Unterversorgung alter Menschen, die mit einem eklatanten Personalmangel einhergeht?
Überhaupt, Herr Kollege, muß ich angesichts dessen, was Sie hier eben alles vorgetragen haben, feststellen: Sie müssen von einem anderen Land sprechen. Sie sprechen jedenfalls nicht von der Situation unserer älteren Mitbürger in der Bundesrepublik Deutschland.
Wie können die GRÜNEN behaupten, unsere Altenheime seien ghettoartige Einrichtungen, sie seien wenig wohnlich, und die Menschen, die hier lebten, seien ausgegrenzt? Meine Damen und Herren von den GRÜNEN, Sie wissen ganz genau, daß eine Gesellschaft, auch wenn sie noch so gute Versorgungsgesetze für ihre älteren Mitbürger hat, ganz ohne Altenwohn- und -pflegeheime nicht auskommt.Ich möchte an dieser Stelle im Namen der CDU/ CSU-Fraktion des Deutschen Bundestages den vielen hundert Einrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland mit ihren über 100 000 Mitarbeitern ein Herzliches Dankeschön für die segensreiche Tätigkeit sagen, die sie in diesen Heimen ausführen.
Ich weiß, wovon ich rede. Ich war bis zu meinerWahl ins Parlament genau in dieser Arbeit tätig.Bei Ihnen habe ich den Eindruck, daß Sie nicht vomgrünen, sondern nur vorn roten Tisch reden. Mir kommt es bei den GRÜNEN oft so vor, daß sie, wenn irgendwo vermeintliche Notstände sind, wie die Sirenen bei einem Brand aufheulen. Bei einem Brand genügt es allerdings nicht, nur aufzuheulen, sondern es muß beherzte Männer und Frauen geben, die sofort bereit sind, mit einem Großeinsatz das Feuer zu löschen.
An diesen beherzten Frauen und Männern fehlt es den GRÜNEN. Ja, ich habe sogar oft den Eindruck, wenn der eine oder andere GRÜNE dann doch noch zum Brandherd läuft, gießt er, anstatt zu löschen, Öl ins Feuer. Ist der Brand gelöscht, bedarf es wieder beherzter Männer und Frauen, die bereit sind, das Bauwerk wieder aufzurichten.
Aber auch beim Aufbau versagen Sie sich in der Regel, meine Damen und Herren von den GRÜNEN. Weil das so ist, haben Sie kein Recht zur Kritik.In den vielen Jahren, in denen ich in der Sozialarbeit tätig war, konnte ich immer wieder feststellen, daß ältere Menschen die Politik nicht nur nach dem Kriterium Sicherheit der Renten beurteilen, sondern auch danach, ob die Politik, die für sie gemacht wird, mit Herz betrieben wird. Sosehr alle Bemühungen, für unsere älteren Mitbürger Maßnahmen zu treffen, um ihre Lebenssituation zu verbessern, grundsätzlich zu begrüßen sind, sollte man sich doch davor hüten, diesen Personenkreis negativ und von vornherein als hilfsbedürftig abzustempeln. Notwendig erscheint mir, die Vorbereitung auf das Alter stärker in das Bewußtsein der Öffentlichkeit zu bringen, wenngleich dies auch eine Aufgabe jedes einzelnen darstellt.In der Vergangenheit haben ältere Menschen immer wieder gezeigt, daß sie gebraucht werden und ihre Leistungen unverzichtbar sind.
Die jüngere und die mittlere Generation braucht in vielen Fällen die Erfahrung der Älteren.
Den Älteren geht es um mehr als nur um materielle Sicherheit im Alter. Heute ist es durchaus üblich, daß man dem Lebensabend den gleichen Stellenwert einräumt wie der Jugendzeit oder der Zeit der Berufstätigkeit.
Zum Glück gibt es für die meisten älteren Mitbürger heute — anders als in früheren Zeiten — keine finanziellen Engpässe.
Dennoch ist die materielle Sicherheit im Alter einewichtige Rahmenbedingung. Darum ist die Preis-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16415
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stabilität, wie wir sie heute in der Bundesrepublik vorfinden, die sozialste Tat für unsere älteren Mitbürger.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte.
Herr Kollege, können Sie mir dann erklären, warum in der letzten Antwort der Bundesregierung auf Ihre Große Anfrage zur Lebenssituation älterer Menschen in der Bundesrepublik gesagt worden ist, daß rund 700 000 alte Menschen unterhalb des Sozialhilfeniveaus leben müssen und daß gleichzeitig 150 000 Haushalte älterer Menschen über 60 Jahre die Sozialhilfe in Anspruch nehmen könnten, sie aus Scham oder aus anderen Gründen aber nicht in Anspruch nehmen wollen? Wie können Sie hier behaupten, daß es hier praktisch keine Unterversorgung gibt?
Ich habe gesagt, es gibt für die meisten keine Engpässe. Das, was die Bundesregierung, getragen von den Koalitionsfraktionen, getan hat, werde ich gleich noch vortragen.
Um sie auch am wirtschaftlichen Wachstum teilnehmen zu lassen, hat die CDU bereits 1957 die bruttolohnbezogene Rente geschaffen. Diese Rentenreform von 1957 gilt international als Beispiel für eine vorbildliche Sozialpolitik.Nun ist in den Jahren der SPD-Regierung von 1969 bis 1982 die Sicherheit dieses Rentensystems durch ständige Eingriffe aufs Spiel gesetzt worden.
Indem die jetzige Bundesregierung die Renten finanziell wieder auf eine solide Grundlage gestellt und die Soziale Marktwirtschaft erneuert hat, ist die drohende Zahlungsunfähigkeit der Rentenversicherung beseitigt.
Was hätten die Rentner von hohen Rentensteigerungen, wenn sie durch eine noch höhere Preissteigerung eliminiert werden?
Im letzten Jahr der SPD-Regierung z. B. stiegen die Renten um 4%, die Inflationsrate betrug 6,1%. Heute wissen wir, es gibt ein reales Rentenwachsturn, und die Alterseinkommen unserer älteren Mitbürger sind gesichert. Das ist das Ergebnis der Konsolidierungspolitik dieser Regierung.
Da ein Teil unserer älteren Mitbürger — und nun kommt es — Sozialhilfe in Anspruch nimmt, haben wir eine Mehraufwendung für Bürger über 60 Jahre mit 75 DM im Monat 1985 beschlossen. Die Erhöhung des Wohngeldes um 30 % kommt zu über der Hälfte Rentnerhaushalten zugute. Das ist Not gezielt bekämpft und ein besonderes Zeichen christlich-demokratischer Sozialpolitik.
— Hören Sie mal zu, „vorher abgezogen": Wissen Sie eigentlich, daß keine andere Regierung als die letzte SPD-Regierung in dem letzten Jahr ihrer Regierungszeit den größten Sozialabbau in der Geschichte dieser Republik betrieben hat?
Es wird mehr Wohngeld gezahlt, wenn mehrere Generationen in einer Wohnung leben. Diejenigen, die ihre Eltern, ihre Schwiegereltern oder einen Angehörigen aufnehmen, werden belohnt.Die hervorragenden Sozialstationen, vor allen Dingen auch in Niedersachsen und Berlin sowie in anderen CDU-geführten Bundesländern, zeigen die Bereitschaft zu einer guten ambulanten Hilfe. Diese gute ambulante Pflege verhindert vorzeitige Einweisung in Heime.Ein geradezu abschreckendes Beispiel ist das von Johannes Rau regierte Nordrhein-Westfalen. Hier hat es seit 1975 keine Erhöhung der Beiträge für Sozialstationen gegeben. Das ist ein Schlag in das Gesicht unserer älteren Mitbürger in diesem Bundesland. Das ist auch einmal mehr ein Beweis für die Unglaubwürdigkeit des SPD-Kanzlerkandidaten. Er predigt Menschlichkeit und praktiziert Sozialkürzungen.
Wie heißt es doch so schön, Herr Rau: An ihren Taten sollt ihr sie erkennen? Ich will das hier einmal sagen. Für mich als evangelischen Diakon ist es langsam peinlich, wie der SPD-Kanzlerkandidat die Heilige Schrift ständig ins tagespolitische Geschäft einbezieht.
Eine wichtige Säule der sozialen Sicherung im Alter ist die Gesundheitspolitik, wobei die CDU/ CSU-Bundestagsfraktion schon immer den Grundsatz vertreten hat, ambulante Hilfe geht vor stationärer Versorgung. Es gilt, für die Zukunft verstärkt Selbsthilfegruppen zu bilden und Sozialstationen weiterhin auszubauen. Für uns ist vordringlich, daß die Pflegebedürftigen in ihrer gewohnten Umgebung verbleiben und die Leistungen der Familienangehörigen besser honoriert werden. Die CDU/ CSU wird in nächster Zeit einen Gesetzentwurf zur Verbesserung der häuslichen Schwerstpflege vorlegen. Bei den Pflegefällen haben wir heute wachsende Probleme auf Grund der höheren Lebenserwartung unserer älteren Mitbürger. Ist der älter werdende Mensch dann auf intensive Pflege angewiesen, muß es eine finanzielle Absicherung gegen
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das Risiko der Pflege geben. 80 % aller Pflegefälle werden von Angehörigen zu Hause versorgt. Man muß es auch einmal sagen: Das ist eine hervorragende Versorgung. Heute ist es wichtiger denn je, daß wir weiterhin eine solide Finanz- und Wirtschaftspolitik betreiben, um die Kosten für notwendige Maßnahmen aufbringen zu können. Da von der SPD und den GRÜNEN keine gute Wirtschaftspolitik zu erwarten ist, können sie auch nichts leisten. Vor allen Dingen ist eine Entlastung für die Familienangehörigen vorgesehen, die die Schwerstpflegefälle oft unter persönlichen Opfern versorgen.
Das ist nicht nur wirtschaftlich sinnvoll, sondern ein Gebot der Menschlichkeit.Aus der Sicht der CDU/CSU sind bei der Verbesserung der Situation pflegebedürftiger alter Menschen
folgende Orientierungspunkte wichtig. Die Förderung der häuslichen Pflege hat Vorrang vor der Einweisung in ein Heim.
Ganz wichtig ist es in diesem Zusammenhang, die pflegenden Personen, meist Familienangehörige, besser als bisher zu unterstützen. Zur Unterstützung der häuslichen Pflege sind die vielfältigen offenen Hilfen der Verbände der freien Wohlfahrtspflege, der Sozialstationen, der Krankenpflegevereine und der Nachbarschaftshilfe zu fördern.
Herr Abgeordneter, würden Sie bitte zum Ende kommen.
Unser Ziel ist es, Hilfsbedürftige und Hilfsbereite stärker als bisher zusammenzuführen.
Frau Bundesminister, unsere Fraktion bestärkt Sie in dem bisher eingeschlagenen Weg. Wir sind ganz sicher, daß wir die gute Versorgung unserer älteren Mitbürger in Zukunft noch verbessern können.
Das Wort hat der Abgeordnete Delorme.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag hat sich in den letzten Monaten wiederholt mit den Problemen unserer älteren Mitbürger beschäftigt. Die Fraktionen haben Initiativen ergriffen, um Defizite abzubauen und Hilfen anzubieten, die der besonderen Lebenssituation älterer Menschen gerecht werden. Diese Aktivitäten machen deutlich, daß die Altenpolitik in unserem Land einen hohen Stellenwert gewonnen hat. Auch außerhalb der Parlamente haben die politischen Parteien sozusagen entdeckt, daß die Senioren nicht nur Anspruch auf Hilfe und Solidarität haben, sondern daß sie auch ein beachtliches Wählerpotential darstellen. Es reicht aber nicht aus, daß man um die Stimmen unserer betagten Mitbürger wirbt und ihnen nette Worte sagt, man muß ihre Interessen und Anliegen auch ernst nehmen.
Was soll ein Mann oder eine Frau im Alter von 56 oder 58 Jahren denken, die in Sonntagsreden oder Fernsehansprachen schöne Worte über die Würde des Alters hören, wenn sie, durch ein widriges Schicksal arbeitslos geworden, verzweifelt eine Arbeitsstelle suchen und ihnen immer wieder gesagt wird, daß sie für die von ihnen begehrte Arbeitsstelle zu alt seien?
Wir wissen um das Schicksal dieser älteren Arbeitslosen, die man in unserer Leistungsgesellschaft einfach zum alten Eisen rechnet.
Oder was sollen jene älteren Frauen sagen, denen man nur deswegen die Anrechnung der Kindererziehungszeiten auf die Renten verweigert, weil sie vor dem Jahr 1921 geboren sind? Es ist und bleibt eine grobe Ungerechtigkeit, daß man einer Generation von Frauen, die wie kaum andere Not- und Kriegszeiten erleiden mußten, die unter Entbehrungen einen wichtigen Beitrag zum Aufbau unseres kriegszerstörten Landes geleistet haben und die als Trümmerfrauen Hochachtung und Dankbarkeit verdienten, eine Besserstellung vorenthält, die man Jüngeren mit vollem Recht gewährt.
Wir Sozialdemokraten werden nicht aufhören, auf dieses Unrecht hinzuweisen, und werden es so bald wie möglich beheben.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Pöppl?
Selbstverständlich.
Herr Abgeordneter Delorme, ist Ihnen bekannt und können Sie bestätigen, daß 1972 bei der Vorstellung — nur bei der Vorstellung, nicht bei der Einbringung — eines Gesetzentwurfs der SPD zum Babyjahr eine Anrechnung von Kindererziehungszeiten für Mütter vor 21 ebenfalls überhaupt nicht vorgesehen war?
Delorme (SPD): Jawohl, das ist richtig.
Aber wir sind doch wohl alle lernfähig genug, um zuwissen, daß auf diesem Gebiet ein erhebliches Defizit besteht. Wenn wir uns heute einig wären, dieses
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DelormeUnrecht gutzumachen, hätten wir auch die Mittel dazu.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Nein.
Nach Schätzungen des Statistischen Bundesamtes handelt es sich dabei um 4,6 Millionen Mütter über 65 Jahre. Nach realistischer Betrachtung würden, wenn man diesen Müttern die Babyjahre anrechnet, jährliche Kosten von etwa 2,5 Milliarden DM entstehen. Der Hinweis der Bundesregierung, daß dies nicht zu finanzieren sei, ist eine Ausrede, die man nicht ernst nehmen kann,
solange man im Regierungslager immer wieder mit dem Gedanken liebäugelt, den Spitzensteuersatz zu senken, solange man keine Subventionen abbaut, sondern immer neue erfindet, und solange der Finanzminister und die Finanzexperten der Koalition darüber streiten, ob der finanzielle Spielraum für Steuerermäßigungen 40, 60 oder mehr Milliarden DM beträgt.
In Ihrer Antwort auf die Große Anfrage, über die wir heute diskutieren, hat die Bundesregierung wiederum wohlfeile Formulierungen für unsere alten Menschen gefunden. Ihre Lebensverhältnisse und Zukunftsperspektiven zu verbessern sei ein Schwerpunkt der Regierungspolitik. Selbstverständlich wolle man sich bemühen, das Streben älterer Menschen nach selbstbestimmter Lebensführung, nach Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und ihr Verlangen nach materieller und sozialer Sicherung zu unterstützen.
Für diese hehren Postulate bleibt aber die Bundesregierung die Beweise schuldig.
— Dann lesen Sie doch bitte die Antwort. — Ich lebe in der Bundesrepublik Deutschland. Ich habe in der Sozialpolitik mindestens soviel Erfahrung wie Herr Link, vielleicht sogar eine solidere und eine umfassendere.
Das gleiche gilt für die Antworten auf die Kleine Anfrage der SPD-Fraktion, in der wir wissen wollten, inwieweit die Bundesregierung ihre Ankündigung zur Absicherung des Pflegefallrisikos auch tatsächlich realisiert.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, jetzt nicht mehr. Vizepräsident Frau Renger: Keine Zwischenfrage.
Mit Absichtserklärungen und Vertröstungen auf die Zukunft ist man auch hier der konkreten Verantwortung ausgewichen.
So heißt es beispielsweise auf unsere Frage, welche Maßnahmen zur sozialen Absicherung pflegender Personen, die oft unter Aufbietung aller Kräfte ihre pflegebedürftigen Angehörigen versorgen,
völlig unverbindlich — ich zitiere diese Antwort;lassen Sie sie sich bitte auf der Zunge zergehen —:Die Bundesregierung hält eine Verbesserung der sozialen Absicherung der Pflegepersonen für wünschenswert. Sie wird diese Frage in ihre Überlegungen über die Gestaltung weiterer Schritte zur Verbesserung der Situation der Pflegebedürftigen und ihrer Pflegepersonen einbeziehen.
Über Einzelheiten und Zeitpunkt ist noch nicht entschieden.Das ist Originalton Bundesregierung.
— Jawohl.Daß mittlerweile drei Länder im Bundesrat Gesetzentwürfe zu einer umfassenden Absicherung des Pflegefallrisikos eingebracht haben, macht deutlich, wie dringend das Problem ist, bei dem die Bundesrepublik, wie der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge kürzlich feststellte, mittlerweile zum „europäischen Schlußlicht" geworden ist.In unserem heutigen Entschließungsantrag haben wir noch einmal die Forderungen aufgeführt, die wir bereits in der alten politischen Debatte am 18. Oktober des vergangenen Jahres vorgelegt haben. Wir fordern darin erneut, daß unverzüglich ein Konzept zur Bewältigung der spätestens ab 1990 zu erwartenden Finanzierungsprobleme in der gesetzlichen Rentenversicherung vorgelegt wird, daß zur Erhaltung der Generationensolidarität Schritte zur Harmonisierung der Altersversicherungssysteme unternommen werden, daß in der Rentenversicherung ein Kindererziehungsjahr für alle Frauen angerechnet wird und daß innerhalb des Systems der beitragsbezogenen Renten die Minimalrenten so verbessert werden, daß die Betroffenen nicht mehr auf ergänzende Sozialhilfeleistungen angewiesen sind.
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Delorme— Mir geht es nicht um das Prinzip, mir geht es um die Hilfe für Menschen.
— Es gibt ein Kombinationssystem, das so aussieht, daß man das Versicherungsystem beibehält und trotzdem ergänzende Hilfen vorsieht, wie das ja ohnehin schon in vielfältiger Weise geschieht.
In unserem Entschließungsantrag fordern wir die Bundesregierung weiterhin auf, in Zusammenarbeit mit den Ländern zur wirksamen Bekämpfung der Altersarmut strukturelle Sozialhilfereformen einzuleiten. Ich lasse mich nicht auf das Spielchen ein, das Sie, Herr Link, gemacht haben, indem Sie den kümmerlichen Versuch unternommen haben, diese armen Menschen reich zu rechnen.
Unsere letzte Forderung betrifft die längst fällige soziale Absicherung Pflegebedürftiger und ihrer Familien. Hier bieten die vorliegenden Gesetzentwürfe eine gute Plattform, zumal sie — wenn auch auf unterschiedliche Weise — in der Zielsetzung übereinstimmen: die Situation pflegebedürftiger Menschen zu verbessern und ihre pflegenden Familienangehörigen zu entlasten. Die Leistungs- und Hilfsbereitschaft der Familien, in denen etwa 80% der pflegebedürftigen alten Menschen versorgt werden, darf nicht länger überfordert werden; sonst ist zu befürchten, daß die Pflegenden von heute die Pflegefälle von morgen werden.
Der Maßnahmenkatalog, den auch die Bundesregierung zur Verbesserung der ambulanten Pflege für notwendig hält, muß deshalb endlich realisiert werden.Wir Sozialdemokraten vertreten mit allen Fraktionen dieses Hauses den Vorrang der ambulanten Pflege vor der stationären Versorgung. Wir wissen aber auch, daß wir auf stationäre Einrichtungen nicht verzichten können.
Wir lassen deshalb die Heime, in denen weit überwiegend eine gute Arbeit geleistet wird und deren Mitarbeiter einen mühe- und opfervollen Dienst verrichten, nicht pauschal diffamieren.
Ihnen gilt vielmehr unser Dank.
Natürlich sind in vielen Fällen noch Verbesserungen notwendig, besonders im personellen Bereich. Deshalb möchten wir dazu ermuntern, daß der Entwurf einer Mindestpersonalverordnung, wie er bereits 1979 von der sozialliberalen Regierung vorgelegt und leider am Einspruch des Bundesrates gescheitert ist, erneut eingebracht wird, um damit einen verbesserten Personalschlüssel verbindlich festzuschreiben.
Aus der Fülle der Fragen, die unter den Begriff Altenpolitik fallen, konnte ich nur einige herausgreifen. Wir werden uns heute nicht zum letzten Mal über diese Fragen unterhalten haben. Wir sollten aber gemeinsam bekunden, daß wir einer Generation, die die Grundlagen für unseren demokratischen Staat geschaffen hat, Respekt und Dank schuldig sind und daß wir alles tun müssen, um ihr einen sorgenfreien Lebensabend zu ermöglichen;
einen Lebensabend, der nicht von Resignation und Passivität bestimmt ist. Auch nach ihrem Berufsleben leisten viele unserer älteren Menschen mit ihrem Schatz an Lebenserfahrung und durch eine Fülle von ehrenamtlichen Tätigkeiten einen wertvollen Beitrag für unsere Gesellschaft.
Herr Abgeordneter, ich glaube, das ist jetzt Ihre Schlußbemerkung. Sie haben Ihre Redezeit schon überschritten.
Ich komme zum Schluß.
Nein. Ich muß leider Gottes gerecht sein. Wenn Sie bitte so freundlich sind und Ihre Rede beenden. Sie haben Ihre Redezeit schon überschritten. Ich gestehe Ihnen noch einen — den letzten — Satz zu.
Ich bin ein paarmal durch Zwischenfragen unterbrochen worden. Ich hatte geglaubt, daß diese Zeit nicht angerechnet wird.
Ich komme zum Schluß. Es gibt ältere Menschen, die sich in den ehrenamtlichen Dienst der Gemeinschaft stellen. Es gibt auch solche, die geruhsam ihren Ruhestand genießen. Ihnen allen muß es möglich sein, ein Leben in Selbständigkeit und Selbstbestimmung zu führen. Dazu sind wir aufgerufen.
Mit der Gerechtigkeit ist es sehr schwer, glauben Sie es mir.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Eimer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will versuchen, die Zeit, die mein Kollege Delorme überzogen hat, wieder einzuholen.
Wir haben jetzt die Situation, daß jede Partei ihre Anfrage zur Altenpolitik gehabt hat, die Koalitionsfraktionen CDU/CSU und FDP, die große Oppositionspartei SPD und nun auch die GRÜNEN. Die letzte Diskussion über die Anfragen war vor ziemlich genau einem halben Jahr. Schon die letzte De-
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Eimer
batte haben die GRÜNEN zur Propaganda mißbraucht. Auch heute wurde wieder ein Horrorgemälde vorgestellt. Es wurde nichts Neues geboten. Das, was hier aufgezeigt wurde, stimmt mit der Realität nicht überein.
Die Bundesregierung hat bereits ausführlich zu den zwei Fragen geantwortet und konnte sich bei dieser dritten Anfrage wegen ähnlicher Fragen auch darauf beziehen. Auch ich kann auf meine letzte Rede vom 18. Oktober 1985 verweisen.
Wir haben viel für unsere alten Mitbürger erreicht.Lieber Kollege Bueb, wenn Sie das nicht mehr wissen, gebe ich Ihnen den guten Rat: Lesen Sie es nach. Es ist alles aufgeschrieben.
Ich glaube, das, was diese Regierung erreicht hat, kann sich sehen lassen.Unser Konzept für eine liberale Altenpolitik stammt aus dem Jahre 1980 und ist heute noch so aktuell wie damals. Es ist der „Blaugelbe Faden", nach dem wir die Politik für alte Menschen machen.Die GRÜNEN haben das Thema Altenhilfe sehr eingeengt. Die Überschriften in ihrer Anfrage lauten:I. Zur materiellen Situation älterer Menschen in der Bundesrepublik DeutschlandII. Zur gegenwärtigen Situation in Alten-, Altenwohn- und PflegeheimenIII. Finanzierung der Heime und PflegekostengestaltungIV. Zur Personalsituation in Alten- und Altenpflegeheimen
Das ist aber nur sehr eng gesehen, zumal die Zustandsbeschreibungen, die die GRÜNEN vornehmen, an der Realität — ich habe das bereits gesagt — vorbeigehen, ein Zerrbild der Realität sind. Sowohl diese Regierung als auch die vorhergehenden Regierungen haben viel für alte Menschen getan, gerade auch für solche, die in Heimen leben müssen. Weder diese Regierung noch die der sozialliberalen Koalition hat eine solche Beurteilung durch die GRÜNEN verdient, wie sie heute vorgenommen worden ist.
Die GRÜNEN schreiben im Vorwort ihrer Anfrage, die Einkommenssituation sei völlig unzureichend. Realität ist aber, daß niemandem wegen Armut ein Platz im Pflegeheim verweigert wird.
Ich glaube, daß es so nicht hingenommen werden kann, meine Kollegen von den GRÜNEN, daß eine gute Einrichtung wie die Sozialhilfe auf diese Weise diffamiert wird.
Wenn es bei uns alte Menschen gibt, die sich genieren, zum Sozialamt zu gehen, wie Sie es auch geschildert haben, wird das durch die Art und Weise, wie Sie hier das Thema abhandeln, eher verstärkt als abgebaut.Sozialhilfe ist etwas, was jeder ohne Scham beanspruchen kann.
Die GRÜNEN schreiben in ihrem Vorwort, die stationäre Unterbringung grenze alte Menschen aus. Das ist richtig. Aber die Anfrage kümmert sich fast ausschließlich um Fragen dieser stationären Unterbringung.Die GRÜNEN erklären in einer Pressekonferenz, daß sie 35 Milliarden DM — ich wiederhole: 35 Milliarden DM — im Kampf gegen Armut u. a. zur Grundsicherung ausgeben, verteilen wollen,
wohl auch im Hinblick auf das, was heute gesagt worden ist. Das macht, liebe Kollegen, pro Steuerzahler mehr als 1 000 DM im Jahr aus.
Meine Kollegen, wie moralisch ist es eigentlich, wenn Sie alten Menschen etwas versprechen, was keine Regierung, auch nicht eine der GRÜNEN, realisieren könnte?
Wo ist da die Moral?
Den betroffenen Menschen tut man damit j eden-falls keinen Gefallen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Bueb, Herr Kollege?
Nein. Ich habe vorhin versprochen, zu versuchen, meine Zeit einzuhalten. Ich sehe, daß ich doch schon langsam in Verdrückung komme.Meine Damen und Herren, den alten Menschen tut man damit, wie gesagt, keinen Gefallen. Das,
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Eimer
was die GRÜNEN erreichen wollen, muß anders, seriöser, angegangen werden. Die Probleme liegen auch nicht nur im Materiellen, wie es hier dargestellt wird.
Wir meinen — und damit spreche ich das vorhin genannte Konzept für liberale Altenpolitik an —, Altenpolitik und Altenhilfepolitik beginnen bereits bei der Vorbereitung auf das Alter. Über die materielle Vorsorge hinaus muß man dem Älterwerdenden Angebote machen, wie er sich auf die Aufgaben des neuen Lebensabschnitts, des Alters, rechtzeitig vorbereiten kann.
Das beginnt aber auch schon im Erwerbsleben. Wir sagen dazu in unserem Programm: Der Rückzug aus dem Arbeitsleben sollte nicht von heute auf morgen vollzogen werden. Darum sind Voraussetzungen für einen allmählichen Übergang in den dritten Lebensabschnitt zu schaffen. Wir sagen bewußt nicht Ruhestand, weil wir die Alten auch in dieser Phase nicht auf die Altenbank abschieben wollen, sondern sie sollen aktiv im Leben bleiben.
Unsere These 3 bezieht sich auf das Lernen und Weiterbilden im Alltag. Lebenslanges Lernen ist wesentlich für eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben der Gesellschaft.
Auch ältere Menschen sind lernfähig und lernbereit. Damit sie ihre handwerklichen und geistigen Fähigkeiten üben, erneuern oder erweitern können, sind verstärkt Bildungsangebote vielfältiger Art vorzusehen.Wir fordern die ältere Generation auch zur Mitarbeit am politischen und gesellschaftlichen Leben auf.
— Wir fordern sie unabhängig von der Partei dazu auf, weil wir der Meinung sind, es ist gleich, ob sie sich in einer Partei oder in anderen Organisationen gesellschaftlich betätigen. Wichtig ist, daß wir der Altengeneration, den älteren Menschen den Platz in dieser Gesellschaft freihalten und sie nicht abschieben.
Meine Kollegen, ich will hier auch ein kritisches Wort zu unserem Koalitionspartner sagen. Nach der Schülerunion, der Jungen Union, der Frauenunion haben Sie nun auch eine Seniorenunion gegründet.
Ich meine, man sollte hier vorsichtig sein, daß dasnicht zu einer Separierung der Gesellschaft führt.Ich meine, alte Menschen sind Teil der Gesellschaft, sie gehören mitten in diese Gesellschaft hinein.
Bitte geben Sie Obacht, daß dies nicht in eine falsche Richtung geht. Ich habe hier etwas Sorge.
— Ich finde das gut. Ich hoffe, daß das auch durchzuhalten ist. Ich habe nur meine Bedenken gegen eine separate Organisation.Wir haben in unserem Konzept weiter angeregt, daß die Forschung auf dem Gebiet der Lehre vom Altern des Menschen an diesen Punkten vor allem an unseren Hochschulen weiter intensiviert wird. Wir haben uns mit der Erhaltung der Gesundheit im Alter beschäftigt, wir regen an, daß der Sport im Alter verstärkt wird, und wir bieten Hilfen bei Krankheit im Alter an. Alle diese Punkte in unserem Altenkonzept sind notwendig, um den Alten den Platz in der Gesellschaft zu erhalten, den sie vorher hatten und den sie nachher auch haben sollen.Die Anfrage der GRÜNEN nimmt im Grunde nur zu den Thesen Stellung, die bei uns mit „Selbständigkeit durch ambulante Hilfen" und „Wohnen im Alter" überschrieben sind. Ich meine, das ist zu eng gesehen. Auch die großen Erwartungen, die diese Anfrage erwecken soll, können das nicht verschleiern.Wir wissen aber auf der anderen Seite auch, daß noch große Überlegungen und noch größere Anstrengungen notwendig sind, um das Pflegerisiko besser abzusichern. Dazu ist viel Geld notwendig, das wir zur Zeit nicht haben. Deswegen haben wir angeregt, zu versuchen, dieses fehlende Geld dadurch einzusparen,
daß wir die Zahl der Betten für die Pflege in den Krankenhäusern abbauen; wir haben hier zu viele Betten.Meine Damen und Herren, ich meine, es ist erforderlich, vor allem mehr Anreize für die Pflege zu Hause zu schaffen. Das ist unser Weg.Wir können und wir wollen alten Menschen vor den Wahlen nicht mehr versprechen, als wir auch halten können. Am Wettlauf der Versprechungen werden wir uns nicht beteiligen.
Niemand hat mehr Respekt vor klugem Haushalten als gerade die alte Generation.Vielen Dank.
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Das Wort hat die Frau Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu der Kritik, die im Rahmen der letzten Großen Anfrage der GRÜNEN geäußert worden ist mit dem Hinweis, die Antwort der Bundesregierung sei beschämend, das Schicksal vieler alter Menschen lasse sie kalt, muß ich einiges korrigieren und richtigstellen. Man kann sich aus dem hohlen Bauch die Kritik erlauben, ohne daß man in der Verantwortung steht, etwas zu tun.
Ich möchte als erstes benennen: Hier wird gesagt, die Bundesregierung sei nicht einmal in der Lage, die Daten bereitzustellen, die erforderlich sind, um Auskünfte zu geben. Daß Datenlücken bestehen, trifft zu. Daß ausgerechnet die GRÜNEN mit solchem Nachdruck keine Detailzahl auslassen und gleichzeitig die größten Datenschützer sind und dabei ganz erheblich auch wichtigste Forschung behindern, lassen sie ungesagt.
Von daher muß ich wirklich sagen: Sie müssen sich entscheiden, was Sie wollen.
Ich erinnere Sie daran, daß in dieser Bundesregierung das Thema „Familie und älterer Mensch" Thema des Vierten Familienberichts war und daß in diesem Bericht Daten, die wir zur Verfügung haben, und Forschungslücken umfangreich aufgezeigt sind — wir werden es hier im Palament ja noch diskutieren — und damit auch der Forschungsbedarf für eine Forschungsplanung ausgewiesen ist. Ich erinnere zum anderen daran, daß in dieser Wahlperiode die Gerontologie und gerade die gerontopsychiatrische Gesundheit in den Rahmen der Forschungsschwerpunkte des BMFT aufgenommen worden sind.
Viele der Daten, die Sie angemahnt haben, sind Länderdaten. In den Ländern sind die Erhebungen ganz unterschiedlich angelegt. Es gibt einige Länder mit umfassender Datenerhebung und andere, die ein sehr lückenhaftes Datengerüst haben. Der von Ihnen mehrmals angeführte Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge ist einer, der vom BMJFG auch in der Altenforschung gefördert wird und derzeit gerade in jenen Bereichen Daten erhebt, die Sie als lückenhaft bezeichnet haben.
Nur, genaue Auskünfte etwa zu Personalschlüsseln, sei es in den Sozialstationen oder in den Heimen, werden von den Ländern sehr zurückhaltend gegeben. Ich erinnere daran, daß die vorige Regierung und die gegenwärtige Regierung im Bereich des Heimgesetzes und damit in der Verbesserung des Personalschlüssels in den Heimen aus Finanzierungsgründen bisher keine Erfolge erzielt haben. Das wird aber nicht gesagt.
Frau Bundesminister, Sie haben das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Darf ich fortsetzen und noch darauf aufmerksam machen, daß hier beim Bund Zuständigkeiten gleichsam eingeklagt werden, die in hohem Maß bei den Ländern und bei den Kommunen liegen, und wir auch im Bereich der Länder höchst unterschiedliche flächendeckende Sozialstationen und Ausstattungen haben, querbeet.
Ich bin der Meinung, daß wir hier jetzt nicht erklären können, der Bund habe nun alle Kosten für den Altenbereich zu übernehmen. Sondern hier ist zwischen Bund, Ländern und Gemeinden die Frage der Finanzierung sehr sorgfältig auseinanderzuhalten.
Daher kann es überhaupt nicht angehen, zu erklären, das Schicksal der alten Menschen lasse uns kalt. Ich ziehe mir diesen Schuh überhaupt nicht an. Ich meine, das tun auch die Fraktionen der Koalition nicht.
Wir haben in den letzten Wochen auch um Verbesserungen gerungen; daß diese Verbesserungen nur in Teilschritten zu erreichen sind, scheint mir in diesem Haus sogar konsensfähig zu sein, so daß wir darüber nicht zu streiten brauchen.
Frau Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Bueb?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte.Bueb [GRÜNE]: Ich gebe Ihnen ja zu, Frau Ministerin, daß die Länder sehr viel zu regeln haben.
Aber das, was der Bund zu regeln hätte, z. B. die Höhe eines Pflegegelds oder auch die Höhe der Sozialhilfe — weil Sie ja auch das per Gesetz regeln könnten —: warum erhöhen Sie die Sätze nicht, bzw. warum führen Sie nicht Pflegesätze ein, damit der Skandal, daß die Leute praktisch auf Sozialhilfe angewiesen sind, wenn sie in das Heim kommen, endlich mal beseitigt wird? Warum haben Sie das bis jetzt nicht gemacht?
Ich meine, man kann sich nicht andauernd — — Vizepräsident Frau Renger: Moment!
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Frage wird länger als meine Redezeit. Die Frage ist übergekommen. Ich denke, die Bundesregierung hat in ihren Antworten, auch im Pflegebericht, deutlich gesagt, in welche Richtung die Schritte zu tun sind. Da ist einmal die Stärkung der ambulanten Pflege: dafür Sorge zu tragen, daß Menschen so lange, wie sie eben können, im häuslichen Bereich verbleiben. Das schützt viele davor, Sozialhilfeempfänger zu werden. Deswegen ist dieser Schritt ein Schritt in die richtige Richtung, wie das jetzt im Referentenentwurf eingeleitete Gesetz zur Stärkung der häuslichen Pflege.
Das betrifft auch die Pflegepersonen. Damit ist in der Tat ein erster Schritt getan, Sorge dafür zu tragen, daß die Pflegenden von heute nicht Gepflegte von morgen werden. Wir wollen wenigstens erste Entlastungen schaffen, z. B. mit der Möglichkeit des Urlaubs der pflegenden Personen für einen Zeitraum von vier Wochen.
Zu den Schritten gehört aber auch, daß wir im Bereich der stationär Gepflegten langfristig dafür Sorge tragen, daß sie nicht zu Sozialhilfeempfängern werden müssen.
Aber wir können nicht alles in einem Schritt tun. Zum Programm gehört ebenfalls die Frage der Sozialversicherung der Pflegenden. In diesem Sinne ist das ein Gesamtkonzept.
— Ich bin der Meinung, daß gerade in dem Referentenentwurf deutlich gesagt worden ist, wo die Belastbarkeit der Krankenkassen zu Ende ist und wo andere Systeme greifen müssen. Niemand hat gesagt, daß ein Pflegegesetz durch die Krankenkassen zu finanzieren ist.Ich möchte Dinge sagen, die hier noch einmal angefragt werden. In dem jetzt angekündigten Gesetz machen wir in der Tat einen ersten Schritt, kranke Schwerstpflegebedürftige in häuslicher Pflege abzusichern.
— Sie wollen immer alles haben, fragen aber nie, wer es finanzieren soll. Dann führen Sie hier eine Diskussion über den Spitzensteuersatz, ohne zu fragen, wie das System insgesamt finanziert werden soll: nämlich durch das Steueraufkommen.Ich möchte zu einem zweiten Problem kommen, das Sie immer ansprechen. Das betreute Wohnen ist ein Weg unter anderen und keine Generallösung. Es gibt Ländermodellprojekte „Betreutes Wohnen". Im Bund gibt es zwei laufende Projekte und zwei in Vorbereitung. Das ist ein Weg. Wir wissen, daß ein wachsender Anteil aktiver, noch gesunder älterer Menschen bereit ist, mit weniger aktiven und noch gesunden zusammen zu wohnen. Aber zu glauben, daß wir damit Pflegeheime ersetzen können und daß wir damit die ambulanten Dienste reduzieren können, ist eine Illusion. Das ist ein Element in dem komplexen System der Altenpolitik.Altenhilfe umfaßt nur zu einem begrenzten Teil die Frage der Pflege. Vielmehr umfaßt Altenpolitik die Frage des aktiven und des selbständigen Lebens im Alter. Es gehört zu den Richtlinien der Bundesregierung, daß Alte den Zeitpunkt selbst wählen, wann sie ins Heim gehen. Die Zwangseinweisungen, von denen Sie sprechen, sind nun wirklich nicht die Alltagsrealität in der Bundesrepublik.
Auf eines möchte ich noch hinweisen, weil Sie nur noch die düstersten Farben parat haben. Ich bin viel durchs Ausland gekommen. Ich möchte, vielleicht etwas übertrieben, sagen: Die Bundesrepublik ist nach wie vor das Mekka für das Leben im Alter.
Es kommt nicht von ungefähr, daß aus Kanada, aus den Staaten, aus dem europäischen Ausland gesagt wird: Es gibt kein Land, in dem die soziale Alterssicherung in einer solchen Weise gewährleistet ist wie in der Bundesrepublik.
— Wenn Sie mich jetzt auf Armut im Alter ansprechen — ich kann keine weiteren Zwischenfragen zulassen —: auch das gibt es in der Bundesrepublik. Nur darf ich nicht ein Teilproblem zu einer Gesamtbeschreibung machen und dann erklären: Die Situation in der Bundesrepublik ist von Armut, Unmündigkeit, Zwang, Fremdbestimmung und Ausbeutung gekennzeichnet. Das ist einfach kein zutreffendes Bild der Situation älterer Menschen in der Bundesrepublik.
Wenn hier immer wieder angefragt wird, warum wir nicht noch mehr getan hätten, dann muß ich sagen, die Sozialhilfe ist angehoben worden; auch die Mehrbedarfssätze sind angehoben worden.
— Ich würde noch einmal dasselbe wiederholen. Die Bundessozialhilfe ist im letzten Jahr wieder angehoben worden. Ich bin einfach nicht Ihrer Meinung, daß Sie sich hierherstellen und erklären können, in der Bundesrepublik reiche es nicht zum täglichen Bedarf.
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Bundesminister Frau Dr. Süssmuth— Nein, aber ich kenne Menschen, die davon leben.
Ich stelle abschließend fest — —
Wir haben hier keine Zwiesprache.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich teile mit den Armutsforschern die Auffassung, daß all unsere Möglichkeiten eingesetzt werden müssen, um die Systeme so weit wie möglich anzupassen, auch und gerade mit dem Ziel, nicht durch Altsein in Sozialhilfe zu wachsen. Aber ich lasse das Teufelsbild von einer Bundesrepublik nicht hier stehen, indem erklärt wird, hier sei es menschenunwürdig, alt zu werden.
Meine Damen und Herren, es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe die Aussprache.
Das Wort zur Geschäftsordnung, bitte schön, Herr Kollege Bohl.
Frau Präsidentin, ich beantrage gemäß § 88 Abs. 2 Satz 2 der Geschäftsordnung, über die vorliegenden Entschließungsanträge erst am morgigen Sitzungstag abzustimmen.
Meine Damen und Herren, gibt es dazu weitere Wortmeldungen?
— Ausnahmsweise haben Sie mal keine Alternativen. Dann werden wir so verfahren, meine Damen und Herren.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Ausbau und zur Sicherung der betrieblichen Mitbestimmung im öffentlichen Dienst
— Drucksache 10/4689 —
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache 30 Minuten vorgesehen. — Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Begründung wird nicht erbeten. Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Reuter.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Anlaß dieser Novellierung ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1984, wodurch eine Regelung für nichtig erklärt wurde, nach der für einen Wahlvorschlag ein Unterschriftenquorum von einem Zehntel erforderlich war. Die Folgerung daraus ist, daß wir jetzt hier eine Novelle vorlegen, wonach jeder Wahlvorschlag künftig nur ein Unterschriftenquorum von einem Zwanzigstel der wahlberechtigten Gruppenangehörigen, mindestens drei und höchstens 100 Unterschriften, benötigt.Meine Damen und Herren, aus Anlaß dieser Novellierung wollen wir auch die Beteiligungsrechte der Personalvertretungen stärken, insbesondere hinsichtlich der Einführung neuer Ablauftechnologien. Ich weiß, daß das bei den Vertretern der Koalition — das ist ganz offensichtlich — auf wenig Gegenliebe stößt. Die Erfahrungen mit dem bisherigen Personalvertretungsgesetz zeigen aber, daß Befürchtungen völlig unangebracht sind. Natürlich zwingen Mitbestimmung und Mitwirkung der Personalräte zu umfassenden Informationen und zu längeren Erörterungen mit den Personalräten. Sie führen aber auch zu wesentlich sorgfältiger geplanten betrieblichen Vorhaben. Das hat sich für beide Seiten als vorteilhaft erwiesen, für Betrieb oder Verwaltung einerseits und Personal andererseits.Was Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, beeindruckt, ist etwas ganz anderes und Sachfremdes. Während sich im gewerblichen Bereich unserer Wirtschaft die Führungskräfte zunehmend darüber im klaren sind, daß reines Kostenmanagement nichts als eine durch äußere Umstände aufgezwungene Kostensenkungsübung ist, hat der Herrim-Hause-Standpunkt in allen Teilen des öffentlichen Dienstes seit der Wende fröhliche Urstände gefeiert. Die Folge davon ist: Leistungsabbau, gereiztes Betriebsklima und eine eher defensive Haltung der öffentlichen Betriebe und Verwaltungen gegenüber den Kunden und Bürgern. Eine solche Entwicklung mag Ihnen durchaus recht sein; gibt sie Ihnen doch je nach Bedarf jederzeit die Möglichkeit, die so beliebte Privatisierungsdebatte mit polemischen Hinweisen auf angebliche Leistungsmängel im öffentlichen Dienst zu spicken. Verschwiegen wird dabei, daß die Ursachen dafür in Einzelfällen nicht in Einwirkungen von Gewerkschaften und Personalräten zu suchen sind. Es sind überwiegend risikolos agierende Führungskräfte, die sich durch Sie ermuntert fühlen. Sie verstehen nicht selten unter hoheitlicher Verwaltung Verzicht auf Anpassung und die Veränderungen in unserer Gesellschaft, und das sowohl in Hinsicht auf die Aufgabenerledigung als auch auf soziale Verbesserungen.Die unvermeidliche Rationalisierung in den öffentlichen Verwaltungen und Dienstleistungsbetrieben erfordert aber Führung und Zusammenarbeit; die Betonung liegt auf „und". Nur wenn die beiderseitigen Interessen aufeinander abgestimmt werden wird es gelingen, Verwaltungen und Dienstleistungsbetriebe der öffentlichen Hand modern, leistungsfähig und bürgernah zu erhalten.Dem soll die erneute Ausweitung der Mitbestimmung über unseren Gesetzentwurf dienen. Damit
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16424 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
Reuterwird es möglich sein, Betriebe und Verwaltungen auf neue, moderne Techniken umzustellen und die künftig noch schwerer wiegenden sozialen Folgen verantwortlich in den Griff zu bekommen. Darin liegt auch der entscheidende Unterschied zu Ihrem Gesetzentwurf. Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, blicken nach rückwärts und ärgern sich darüber, daß Sie nicht ohne Beteiligung der Personalräte anordnen können. Wir nutzen im Gegensatz dazu die Chancen, den öffentlichen Dienst zeitgerecht zu organisieren, flexibel und handlungsfähig zu erhalten. Ich hoffe, meine Damen und Herren, wir können, anders als beim § 116 AFG, im Innenausschuß unsere Argumente unter dem Ziel austauschen, gemeinsam eine praktikable, die Tagespraxis erleichternde Lösung zu finden.Wie schon angedeutet, es geht um einen leistungsfähigen, zukunftsgerichteten öffentlichen Dienst mit technisch und operativ befähigten sowie sozial verantwortungsbereiten Führungskräften und Mitarbeitern. Es geht aber auch um handlungsfähige Betriebe oder Verwaltungen und Mitarbeitern verpflichtete Personalräte. Es geht um Mitgestaltung der Beschäftigten am Arbeitsplatz und im Betrieb. Die Annäherung zum Betriebsverfassungsgesetz in diesen Tagen bestätigt auch unsere Absichten zum Pesonalvertretungsgesetz. Übereinstimmend wurde vor einer Zersplitterung der Personalvertretungen gewarnt. Gleichgewichtig wurde gefordert, über demokratische Spielregeln die Funktions- und Anpassungsfähigkeiten der Betriebe zu erhalten. Unser gemeinsames Bemühen sollte sich daher darauf richten, schrittweise mit der Festigung unserer Demokratie die Mitverantwortung und Mitbestimmung des Personals auch in den öffentlichen Betrieben und Verwaltungen zu erweitern.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Broll.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich muß der SPD zugestehen, daß der Gesetzentwurf eine Reihe von vernünftigen Vorschlägen enthält, denen wir sofort zustimmen könnten. Teilweise sind es ja auch Formulierungen, die sich daraus ergeben, daß nach der Aussage mancher Fachleute das jetzt geltende, in den 70er Jahren beschlossene Gesetz an einigen Stellen etwas unklar formuliert gewesen ist und deswegen sehr viel Spielraum für richterliche Deutungen und Entscheidungen gegeben hat. Es ist tatsächlich so, daß die Verwaltungsgerichte im Zweifelsfall zuungunsten der Mitbestimmung zu der jeweils geringeren Form der Mitbestimmung entschieden haben. Manchmal haben — das dürfen wir gemeinsam feststellen — die Gerichte also gegen den eigentlichen Willen des Gesetzgebers von damals entschieden. In solchen Fällen müssen wir, meine sehr verehrten Damen und Herren, natürlich gesetzgeberisch handeln.Ich begrüße es außerordentlich, daß die SPD in diesem Fall die Konsequenz gezogen hat; im Falle des § 116 war sie ja anderer Meinung. In diesemFall hätten Sie, lieber Herr Reuter, gern bis zum äußersten Zug des Gerichtswesens gewartet und sich der gesetzgeberischen Konsequenz entzogen. Aber man tut jeweils das, was einem aus politischen oder sonstigen Gründen zweckmäßig erscheint. Hier ziehen Sie Konsequenzen, und das ist zu begrüßen.Die CDU braucht nicht eigens zu betonen, weder wir als Partei oder Fraktion noch die in den Ländern oder in den Gemeinden jeweils regierenden Mehrheiten, daß wir ausgesprochen positiv zur Mitbestimmung, zur Mitwirkung, zur Mitverantwortung der Bediensteten im öffentlichen Bereich stehen; wir sind j a Mitautoren und Mitformulierer der geltenden Gesetze gewesen. Die Kritik, die Herr Reuter andeutungsweise an den gegenwärtigen Zuständen geübt hat, kann nur aus irgendwelchen Gazetten genommen sein, die von Fachleuten nicht ernst genommen werden. Wir begrüßen und bejahen, fordern und fördern die positiven Wirkungen, die aus einer solchen Mitwirkung und Mitbestimmung der Bediensteten im öffentlichen Bereich sowohl für das Betriebsklima als auch für die Effizienz der Verwaltung entstehen können. Wie in der Wirtschaft — häufig gut dotiert — wird auch im öffentlichen Bereich mancher vernünftige Vorschlag von den Bediensteten selbst gemacht. Wir wünschten, daß noch viel mehr vernünftige Vorschläge, die häufig zur Vereinfachung der Verwaltung führen könnten, soweit sie von Bediensteten kommen, von den Behörden jeweils aufgenommen werden. Allerdings gibt es, meine sehr verehrten Damen und Herren, Grenzen; darin unterscheiden wir uns grundsätzlich von der SPD. Die Grenze ist da, wo Entscheidungen an den, wie es im Gesetz und in den Verfassungsgerichtsentscheiden heißt, wesentlichen Bestandteil der Regierungsgewalt gehen.Interessant ist, daß der Gesetzentwurf heißt: „Ausbau und Sicherung der betrieblichen Mitbestimmung im öffentlichen Dienst". Der Begriff „Betrieb" ist nicht signifikant für den öffentlichen Dienst. Hier geht es um Behörden, um Anstalten; um Betriebe sozusagen nur zu einem kleineren Teil der öffentlich Bediensteten. Der Begriff ist also nach meiner Überzeugung falsch gewählt.Immerhin ist signifikant, daß sich die SPD das Zueinander von Bediensteten und Dienstherren offenbar wie das Zueinander von Kapital und Arbeit vorstellt, offensichtlich wesentlich unter dem Gesichtspunkt des Streites um Mehrheit, um Besitz. Genau das ist das Denken, das im öffentlichen Dienst nicht Platz greifen darf. Der öffentliche Dienst als ausführendes Organ der Staatsgewalt untersteht uns, dem Parlament, und niemandem anderen. Es geht nun nicht, daß sich ein Teil unserer Bürger sozusagen doppelten Zugriff sichert: einerseits durch die Wahlentscheidung, bei der Bundestagswahl zum Beispiel, und andererseits gleichzeitig einen persönlichen Zugriff als mitbestimmender Bediensteter in einer bestimmten Behörde. Das wäre bestimmt nicht Demokratie, ich möchte sagen, das wäre der Tod von Demokratie und wäre mit den
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16425
BrollPrinzipien unseres Rechtsstaates bestimmt nicht vereinbar.Aus diesem Grunde, meine sehr verehrten Damen und Herren, weil wir nicht wollen, daß aus dem öffentlichen Dienst eine Art riesige Neue Heimat mit garantierter Schuldentilgung durch den öffentlichen Fiskus wird, können wir bestimmte andere Vorstellungen der SPD, die sie in dem Gesetzentwurf formuliert hat, absolut nicht unterstützen. Das fängt schon bei kleinen Vorstellungen an wie, daß bei allen Umsetzungen von Beamten und Bediensteten innerhalb der gleichen Behörde nur auf einen anderen Arbeitsplatz ohne Veränderung der Besoldung usw., sofern sie länger als drei Monate dauern, Mitbestimmung, nicht nur Mitwirkung, eingeführt werden soll. Mitbestimmung heißt: Wenn es einen Streit gibt, entscheidet eine Schiedsstelle, die paritätisch besetzt ist. Und paritätisch besetzt, heißt 50 % Bedienstetenvertreter.Damit komme ich zu einem weiteren Punkt. Sie schlagen, ähnlich wie wir, in einem hier noch nicht eingebrachten Gesetzentwurf vor, daß die Unterschriftenquoren bei der Einreichung der Vorschläge für die Personalratswahlen von 10 % auf 5% der Bediensteten herabgesetzt werden sollen. Das entspricht dem Entscheid des Bundesverfassungsgerichtes. Nicht aber schlagen Sie vor, was auch wir für richtig halten, daß die Besetzung von Gremien der Personalräte im gleichen Verhältnis zu geschehen hat, wie die verschiedenen Gewerkschaften im Personalrat vertreten sind. Ein konkretes Beispiel: Im Personalrat des Bundesgrenzschutzes hat die GdP, die Gewerkschaft der Polizei im DGB, 60 % der Mitglieder und der Bundesgrenzschutzverband, Teil des Beamtenbundes, rund 40 % oder etwas mehr Mitglieder. Die Einigungsstelle, d. h. die 50% der Bedienstetenvertretung, ist zu 100% von GdP-Mitgliedern besetzt. Das ist kein Schutz der Minderheit. Das ist nicht einmal — so möchte ich sagen — Demokratie. Das ist die Ausnutzung der Mehrheit zugunsten eines Monopols.Wenn wir also diesem Beschluß mit dem 5 %-Quorum zustimmten — denn dem stimmen wir sicher zu, wir haben es im eigenen Gesetz ja auch entworfen —, werden wir bestimmt verlangen, daß der Minderheitenschutz auch bei der Besetzung der Gremien der Personalräte hinreichend gewahrt ist.
Sie müssen vor den Bediensteten selbst verantworten, warum Sie bei Ihrem Gesetzentwurf nicht auf diesen Gedanken gekommen sind.
Herr Abgeordneter, würden Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Penner zulassen?
Herr Kollege Dr. Penner, bitte schön.
Verehrter Herr Kollege Broll, ist in dieser Legislaturperiode noch mit einem Gesetzentwurf der CDU/CSU zu rechnen?
Herr Kollege Penner, darf ich einmal salomonisch antworten? Ich nehme an, daß angesichts der Belastungen des Innenausschusses weder ein Gesetzentwurf von uns noch dieser Gesetzentwurf von Ihnen eine Chance hat, noch beschlossen zu werden. Ob wir daraus die Konsequenz ziehen, gar keinen Gesetzentwurf mehr einzubringen, oder ob Sie andererseits daraus die Konsequenz gezogen haben, im Wissen um diese Tatsache dennoch einen Gesetzentwurf einzubringen, ist eine Frage, die man unterschiedlich bewerten kann.
Wir würden auch Ihrem Vorschlag nicht zustimmen, daß Ersatzmänner Ersatzmitglieder der Personalräte an sämtlichen Sitzungen der Personalräte teilnehmen, daß Fachleute von außen zugezogen werden können und daß Ersatzleute das gleiche Recht zur Teilnahme an Fortbildungskursen auf öffentliche Kosten haben sollen wie Mitglieder der Personalräte. Da sehen wir nämlich die Möglichkeit, einen ganzen Schwarm von Hintermännern in den Bänken des Betriebsrates mit anzusiedeln, die die Stimmungskulisse bei bestimmten brisanten Entscheidungen liefern könnten.
Meine Damen und Herren, Betriebs- oder Personalräte sollen nun nicht sozusagen die Fernlenkwaffen von außen werden. Partner der öffentlichen Dienstherren in den Dienststellen sind nicht außenstehende Dritte, gewerkschaftliche Organisationen. Diese sind Hilfsorgane der Bediensteten. Partner der Dienstherren sind die Bediensteten und ihre eigenen aus der Dienststelle kommenden Vertretungen.
Das wollen wir im öffentlichen Dienst wahren.
Lieber Herr Kollege, ich bin fertig. Wenn Sie jetzt noch eine Frage stellen wollen und ich noch Zeit habe, dann gern.
Herr Kollege, sind Sie zu einer Zwischenfrage bereit? — Bitte schön.
Herr Kollege, sind Sie bereit, zu akzeptieren, daß die Gewerkschaften ebenso Partner der Personalräte sein können, wie sie in bestimmten Verhandlungssituationen auch Partner des Parlaments sein können?
Herr Kollege, das ist doch ganz selbstverständlich. Wenn wir bestimmte gesetzliche Formulierungen vielleicht nicht mitmachen, dann tun wir das, um Mißbrauch von vornherein unmöglich zu machen, nicht weil wir glaubten, die Realität wäre so. Wir erkennen an, daß nicht nur die Personalräte, sondern auch die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes als Partner der Bediensteten und auch als Partner der öffentlichen Hand wirklich im gemeinsamen Interesse der Öffentlichkeit gearbeitet haben, sei es im Tarifbereich, sei es in anderen Bereichen. Ich schätze, daß wir uns da wiederum einig sind.
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BrollDanke schön.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Ströbele.
Herr Präsident! Verehrte, noch sehr wenige Kollegen — von der CDU sind es, wenn ich es richtig überschlage, noch fünf, die sich für das Thema interessieren —! Ich möchte zunächst die Auffassung unserer Fraktion zum Ausdruck bringen, daß wir, wenn es um die Erweiterung von Mitbestimmung am Arbeitsplatz geht, grundsätzlich immer dabei sind.
Eine Partei, die auf ihre Fahnen geschrieben hat, um mehr Selbstbestimmung zu kämpfen, und mehr dafür zu kämpfen, daß Leute nicht mehr fremdbestimmt werden, kann natürlich auch nicht in der öffentlichen Verwaltung, am Arbeitsplatz im öffentlichen Bereich haltmachen. Deshalb begrüßen wir grundsätzich auch in dem SPD-Entwurf, daß nunmehr bei der Einführung neuer Techniken dem Personalrat, den Personalvertretungen erweiterte Möglichkeiten der Mitbestimmung gegeben werden.
Das ist richtig, das war längst überfällig, und das ist auch im privaten Bereich erforderlich.
Aber man sollte dabei nicht stehenbleiben. Man sollte auch berücksichtigen, daß von einer technischen Revolutionierung im öffentlichen Dienst ja nicht nur die dort Beschäftigten betroffen sind, sondern auch die Bürger, die dann die von Maschinen ausgedruckten, möglicherweise auch noch ausgefüllten Formulare lesen müssen. Das heißt, der ganze Betrieb der öffentlichen Verwaltung wird unpersönlicher, wird bürgerfeindlicher und unfreundlicher.
Deshalb muß natürlich eine weitere Forderung sein, daß neben der Mitbestimmung der Personalvertretung im öffentlichen Bereich versucht wird, die Bürger selber mindestens bei der Diskussion über die Einführung neuer Techniken ganz breit zu beteiligen und insofern mindestens eine Mitdiskussion, wenn nicht gar eine Mitbestimmung zu ermöglichen. In dieser Richtung müssen wir weiter argumentieren. Wir können nicht dabei stehenbleiben, nur die Interessen der öffentlichen Bediensteten im Auge zu haben. Das zum einen.
Der zweite Punkt, der in diesem Entwurf richtig ist und den wir unterstützen, ist, daß die Schweigepflicht der Personalräte gegenüber den Leuten, die sie da hingeschickt haben, die sie gewählt haben, die sie auch kontrollieren sollen, möglichst weit reduziert wird. Da gibt es irgendwo eine Grenze beim Datenschutz. Aber es ist überhaupt nicht einzusehen, wieso im öffentlichen Bereich bisher eine Schweigepflicht wesentlich weitgehender existiert hat als in den meisten Bereichen der Privatbetriebe. Das heißt, die Angleichung in dieser
Richtung ist richtig, notwendig und schon lange überfällig.
Der dritte wesentliche Punkt in diesem Gesetz ist sicherlich die Herabsetzung der Quoren für die Kandidatur für die Personalvertretung. Das begrüßen wir grundsätzlich, nicht nur, weil das Bundesverfassungsgericht das entschieden hat. Wir meinen aber, daß die Herabsetzung der Quoren, so wie sie jetzt hier vorgesehen ist, noch zu früh haltmacht. Das mit den hundert Bediensteten ist eine Schwelle, die für uns zu hoch angesetzt ist. Wir meinen, die Leute selber, die dann wählen, sollen entscheiden, von wem sie vertreten werden wollen. Wir wollen ihnen vorher möglichst wenig an Reglementierung, an Bürokratisierung, an Schwierigkeiten machen. Es soll möglichst jeder kandidieren können, und die Leute sollen selbst entscheiden, wer sie gegenüber dem Dienstherrn vertritt.
Gestatten Sie mir noch eine persönliche Schlußbemerkung dazu. Ich meine, man sollte mit solchen Gedanken, wenn man sich über Selbstbestimmung und Mitbestimmung im öffentlichen Bereich unterhält, nicht stehenbleiben. Man sollte sich überlegen, ob es im öffentlichen Bereich genauso wie im privaten Bereich nicht richtig ist, Selbstbestimmung in der Weise weiterzuentwickeln, daß die dort Beschäftigten weitgehend Personalentscheidungen und Entscheidungen, von denen sie selber persönlich betroffen sind, selber gemeinsam treffen können. Mir schwebt ein Modell vor, bei dem man das Institut der Wahlbeamten, also der Beamten, die von den gewählten Vertretern eingesetzt werden, die von den Regierungen eingesetzt werden, sehr weit ausbreitet. Man sollte im öffentlichen Bereich, am Arbeitsplatz, in kleinen überschaubaren Bereichen die Möglichkeit schaffen und vielleicht irgendwann dazu kommen, daß es einen Personalchef, der von außen aufgezwungen ist, der von außen eingesetzt wird, gar nicht mehr geben muß. Bei mir hat sich ein Kollege darüber beschwert, daß Personalvertreter manchmal schon mehr Macht als der Personalchef hätten. Da frage ich mich, ob man den Gedanken nicht weiterdenken sollte, ob man nicht sagen sollte: anstatt daß wir dem Personalvertreter weniger Macht geben, da schaffen wir den Personalchef ab und machen den Personalvertreter mindestens für eine Übergangszeit zum Personalchef. Das heißt, die Belegschaft wählt die Leute, die in Personalsachen zu bestimmen haben, selber.
Herr Abgeordneter, jetzt muß ich leider Ihrem Redefluß erst einmal ein Ende machen.
Da bitte ich weiterzudenken.
Das Wort erteile ich dem Abgeordneten Hirsch.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Schlimmste ist uns erspart geblieben. Ich hatte schon angenommen,
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Dr. Hirschdaß Sie für die Personalvertretung die Rotation undfür die Behörden die totale Abschaffung verlangen.
Das wäre auf Ihrer Linie gewesen, Herr Ströbele.Herr Kollege Reuter, wir haben zusammen das geltende Personalvertretungsgesetz von 1974 gemacht. Wir haben die Mitwirkungsrechte ausgedehnt, den Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit eingeführt und sind präter propter ganz gut gefahren.Es gibt zwei Ansätze, etwas zu verändern. Das eine ist mehrfach angesprochen worden: die Verpflichtung durch die Entscheidung des Verfassungsgerichts, das Quorum neu zu bestimmen. Da sind wir der Meinung — Sie kennen unseren Gesetzentwurf —: 5%; also genauso wie Sie. Wir wundern uns nur, warum Sie auf halbem Wege stehenbleiben. Wir sind schon der Meinung, daß wie in allen Landesrechten bis auf ein einziges — die Gewerkschaften, die in einer Behörde vertreten sind, ein eigenes Vorschlagsrecht bekommen sollen, ohne daß sie dafür besondere Unterschriften beibringen müssen. Ferner meinen wir, daß man die Zahl der Unterschriften auf 50 limitieren sollte. Das muß reichen, um kandidieren zu können und sich zu beteiligen.In ihrem Entwurf sind die Minderheitenrechte unterentwickelt, wie Herr Broll ausgeführt hat. Das bezieht sich auf die Ausschüsse und die Freistellungsregelungen.Die andere Veranlassung, das Gesetz zu überdenken, ist in der Tat die Einführung neuer Technologien und die Umgestaltung von Arbeitsplätzen. Da fällt mir auf, daß Ihr Entwurf zwei Väter hat und, wie ich finde, zwei ungeeignete Väter. Der eine ist Ihr Gesetzentwurf zur betrieblichen Mitbestimmung vom Juni 1985, und der andere Vater ist das Hessische Personalvertretungsgesetz vom Juli 1984. Dieses Hessische Personalvertretungsgesetz ist vor dem Staatsgerichtshof in Hessen anhängig, der die Verfassungsmäßigkeit prüft, und zwar aus demselben Grund, warum wir glauben, daß die Analogie zum Betriebsverfassungsrecht nicht richtig oder zweifelhaft ist.Das hätte gar nicht besser illustriert werden können als durch die amüsanten Ausführungen des verehrten Kollegen Ströbele. Überall da nämlich, wo Sie sagen: alle Macht den Personalvertretungen,
verringern Sie die Möglichkeit des Dienstherrn, parlamentarische Verantwortung zu übernehmen, oder Sie schaffen sie ganz ab. Es ist eine Erfahrung, die jeder macht, der im öffentlichen Dienst Personal- oder Organisationsentscheidungen treffen muß und dabei parlamentarische Verantwortung übernehmen soll, daß er sie nicht tragen kann, wenn die Regelungen es ihm unmöglich machen, Organisationsentscheidungen zu treffen.Interessant an Ihrem Entwurf, Herr Kollege Reuter, ist folgendes. Sie wollen z. B. bei der Einführung neuer Technologien oder bei der Frage, ob Dienstleistungen, die bisher vom öffentlichen Dienst erfüllt werden, privatisiert werden sollen, ein volles Mitbestimmungsrecht vorsehen, d. h. die letzte Entscheidung dem parlamentarisch verantwortlichen Dienstherrn nehmen und der Einigungsstelle übertragen. Das ist ein Weg, den wir jedenfalls nicht für mehr Demokratie halten, sondern für weniger. Wir können doch aus dem öffentlichen Dienst nicht so eine Art selbstlaufende Maschine machen, die sich jeder parlamentarischen Verantwortung entziehen kann. Das kann nicht richtig sein.Man muß auch die Grenzen im Verhältnis zu unseren Mitarbeitern sehen. In der Tat kommt es darauf an, ein möglichst großes Maß an vertrauensvoller Zusammenarbeit zu gewinnen. Aber es muß Grenzen — und da liegt der Unterschied zur betrieblichen Mitbestimmung — da geben, wo die politische Verantwortung des Dienstherrn zum Zuge kommen muß.1978 hat auf unseren Wunsch der Innenminister die Berufsvertretungen gebeten, darzustellen, welche Erfahrungen sie mit dem Personalvertretungsgesetz von 1974 gemacht haben. Der Bericht war sehr interessant. Wir würden uns wünschen, daß der Innenminister eine solche Umfrage wiederholt, um die Möglichkeiten für eine neue Gesetzgebung zu schaffen.Herr Kollege Penner hat gefragt: „Noch in dieser Legislaturperiode?" Ich ahne also schon, daß, wenn wir so wagemutig wären, das anzukündigen, Herr Wernitz, der Vorsitzende des Innenausschusses, sich wieder hinstellen und sagen würde: „Windkanal, und keine seriöse parlamentarische Beratung." Sie kennen selber unseren Arbeitsplan.
Ich meine, daß wir zwar verpflichtet sind, die vom Verfassungsgericht aufgeworfenen Fragen zu lösen, vielleicht auch mehr zu machen, wenn das zeitlich geht. Aber bei realistischer Betrachtung werden wir uns schon beeilen müssen, wenn wir vor den nächsten Personalratswahlen die notwendigen Entscheidungen zu den Quoren haben treffen wollen. An uns soll es nicht liegen. Aber es muß seriös bleiben.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 10/4689 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:Erste Beratung des von der Fraktion derSPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Finanzierung von Ausbildungsplätzen in
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Vizepräsident Westphalder Berufsausbildung
— Drucksache 10/5143 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Finanzausschul3Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GOMeine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind hier für die Aussprache 30 Minuten vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Kuhlwein.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die SPD-Fraktion legt heute dem Bundestag den Entwurf eines Ausbildungsplatzfinanzierungsgesetzes vor. Wir wollen damit die Konsequenzen daraus ziehen, daß sich Teile der deutschen Wirtschaft seit Jahren beharrlich weigern, einen ausreichenden Beitrag für die Ausbildung der jungen Generation zu leisten.Die Folge dieser Verweigerung ist, daß Jahr für Jahr nahezu 100 000 jugendliche Bewerber — selbst nach der offiziellen Statistik — ohne Ausbildungsplatz bleiben. Dies wird sich auch in den nächsten Jahren wegen der langen Warteschlange und dem zunehmenden Interesse von Abiturienten an einer betrieblichen Ausbildung nicht wesentlich ändern.Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zum Ausbildungsplatzförderungsgesetz vom Dezember 1980 ausdrücklich festgestellt, die spezifische Verantwortung für ein ausreichendes Angebot an Ausbildungsplätzen liege „der Natur der Sache nach" bei den Arbeitgebern. Wörtlich heißt es in der Entscheidung:Wenn der Staat ... den Arbeitgebern die praxisbezogene Berufsausbildung den Jugendlichen überläßt, so muß er erwarten, daß die gesellschaftliche Gruppe der Arbeitgeber diese Aufgabe nach Maßgabe ihrer objektiven Möglichkeit und damit so erfüllt, daß grundsätzlich alle ausbildungswilligen Jugendlichen die Chance erhalten, einen Ausbildungsplatz zu bekommen.Nun wird niemand angesichts der Zahl der unversorgten Bewerber behaupten, daß die gesellschaftliche Gruppe der Arbeitgeber diese Aufgabe in den letzten Jahren ausreichend erfüllt hätte. Einige Teile dieser Gruppe haben sich angestrengt.Das gilt vor allem für das Handwerk, wo zwar nur 17 % der Erwerbstätigen arbeiten, aber rund 40 % der Auszubildenden ausgebildet werden. Aber andere üben sich in unvornehmer Zurückhaltung. Das gilt für eine Reihe von Industriebetrieben, für Handelsunternehmen, für öffentliche Verwaltungen.Setzt man die Zahl der Auszubildenden mit 1,8 Millionen in Relation zur Gesamtzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten — rund 20 Millionen —, dann müßten wir eigentlich quer durch die Volkswirtschaft in allen Unternehmen eine Ausbildungsquote von rund 9 % haben. Diese Verknüpfung wäre ja auch volkswirtschaftlich deshalb sinnvoll, weil sie dort Ausbildungsplätze fördert, wo es auch Arbeitsplätze gibt.
Nun liegt die Ausbildungsquote im Handwerk mit über 17 % weit höher als die Norm. Namhafte Industriebetriebe bleiben auf der anderen Seite erheblich darunter. Ein Unternehmen der Zigarettenindustrie ist schon stolz auf eine Quote von 3 %. Nach Berechnungen der IG Metall liegen Weltfirmen der Elektroindustrie zwischen 5 % und 7 %, die Automobilindustrie erreicht im Schnitt etwa 5 %. Das heißt, diese Unternehmen können nicht einmal ihren eigenen Facharbeiternachwuchs sichern. Die Zurückhaltung läßt sich auch nicht damit entschuldigen, daß diese Unternehmen nicht nur Facharbeiter beschäftigen. Hier liegt nämlich ein Trugschluß in der Argumentation.Wenn wir mit der früher gemeinsam getragenen Forderung „Ausbildung für alle" ernst machten, gäbe es künftig keine ungelernten Arbeitskräfte mehr. Wenn es stimmen sollte, daß einige Unternehmen heute ihren Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften nicht mehr decken können, dann hat das ja wohl auch damit zu tun, daß sie in der Vergangenheit zuwenig ausgebildet haben.Unser Gesetzentwurf zielt darauf ab, Arbeitgeber, die gar nicht oder nicht ausreichend ausbilden, zu einer Berufsausbildungsabgabe heranzuziehen, um die Mittel zur Versorgung aller Jugendlichen mit Ausbildungsplätzen aufzubringen. Diese Abgabe muß so hoch sein, daß ein Anreiz besteht, die Ausbildung im eigenen Unternehmen aufzustocken. Sie muß gleichzeitig so hoch sein, daß daraus betriebliche und außerbetriebliche Ausbildungsplätze für alle unversorgten Jugendlichen finanziert werden können. Wir haben dafür im Gesetzentwurf eine Automatik vorgesehen, die beides sicherstellt.
Wir wollen keine neue Bürokratie schaffen. Die Bundesanstalt für Arbeit hat ausreichend Erfahrung mit Maßnahmen der Fortbildung. Sie betreut auch die Erstausbildung nach dem Benachteiligtenprogramm. Der Verwaltungsausschuß des einzelnen Arbeitsamtes ist gleichzeitig der Ort, an dem der Interessenausgleich zwischen individuellen Wünschen der Bewerber und den Vorstellungen der Tarifparteien über regional nachgefragte und damit dann auch verwertbare Qualifikationen am besten gewährleistet ist. Damit ließe sich auch die Qualität der Ausbildung verbessern. Ausbildungsplätze für junge Frauen und benachteiligte Jugendliche sollen besonders berücksichtigt werden.Dieser Gesetzentwurf ist auch ein Beitrag zur Herstellung gleicher Wettbewerbsbedingungen für ausbildende und nicht ausbildende Betriebe. Das Handwerk trägt heute bei etwa 20 % der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten fast 30 % der Nettoausbildungskosten. Wenn es richtig ist, daß gute
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16429
KuhlweinAusbildung heute erhebliche Kosten verursacht, dann dürfen diese Kosten doch nicht nur den Betrieben angelastet werden, die sich in der Ausbildung engagieren. Immerhin liegen die Kosten pro Ausbildungsplatz heute zwischen durchschnittlich 9 500 DM pro Jahr im Handwerk und über 20 000 DM pro Jahr in den Lehrwerkstätten der Großindustrie.Wir haben bewußt darauf verzichtet, mittelständische Unternehmen bis zu zehn Beschäftigten in die Abgabe einzubeziehen. Das sind immerhin 88,5 % der Unternehmen mit 22 % aller Beschäftigten. Wir haben deshalb darauf verzichtet, weil diese Unternehmen alles in allem — besonders wegen der hohen Ausbildungsleistung im Handwerk — ihre Ausbildungspflicht ausreichend erfüllen.Ich habe im Februar dieses Jahres in einer Aktuellen Stunde des Bundestages darum gebeten, zu unserem Konzept plausible Gegenargumente zu liefern. Was Bundesregierung und Arbeitgeber bis heute dazu angemerkt haben, verdient nur das Prädikat dürftig. Ich weiß auch nicht, Frau Wilms, was Sie unter sozialer Marktwirtschaft verstehen.
Aber es ist keineswegs sozial, junge Leute jahrelang auf einen Ausbildungsplatz warten zu lassen. Und es hat mit Marktwirtschaft überhaupt nichts zu tun, wenn Unternehmen als Trittbrettfahrer von den Ausbildungsleistungen anderer profitieren.
Ich kann deshalb Ihre ideologischen Verrenkungen wirklich nicht mehr ernst nehmen. Wichtiger als Ihre erwartete Pauschalkritik sind mir Nachbesserungsvorschläge der Gewerkschaften, die wir gern in den weiteren Beratungen prüfen werden.Warnen möchte ich allerdings vor dem Wunderglauben, dieses Gesetz sei nicht erforderlich, weil bald schon wieder rote Teppiche für Lehrlinge ausgerollt würden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Pöppl?
Wenn mir das nicht auf die Redezeit angerechnet wird.
So ist es.
Ich will es kurz machen. Herr Abgeordneter, ist Ihnen entgangen, daß im letzten Jahr die Zahl der angebotenen Lehrplätze 736 000 betragen hat, und ist Ihnen dabei entgangen, daß während Ihrer Regierungszeit die Zahlen bei 500 000 lagen? Können Sie mir vielleicht bestätigen, daß 736 000 etwas mehr sind als 500 000?
Herr Kollege, mir ist nicht entgangen, daß Sie die Zahlen offensichtlich nicht korrekt referieren. Aber darüber könnten wir nachher noch in einen Dialog eintreten. Weiter ist mir nicht entgangen — aber es ist Ihnen offenbar entgangen —, daß die Zahl der unversorgten Bewerber in den letzten drei Jahren, von Jahr zu Jahr, gestiegen ist und 1985 eine Rekordhöhe erreicht hat.
Wir sind noch lange nicht über den Berg. Wir können erst dann Entwarnung geben, wenn jeder junge Mensch einen Ausbildungsplatz ungefähr im erstrebten Beruf in zumutbarer Entfernung von seinem Wohnort findet. Das läßt sich nur dann erreichen, wenn das Angebot höher ist, Herr Kollege, als die Nachfrage, weil nur dann ein auswahlfähiges Angebot besteht.
Als sich der heutige Bundeskanzler 1973 im Mainzer Landtag in einer Regierungserklärung mit Berufsbildungspolitik beschäftigte, erklärte er wörtlich:
Die Landesregierung geht davon aus, daß eine Reform der beruflichen Bildung ein neues Finanzierungssystem verlangt. Dabei wird es notwendig sein, auch jene Betriebe stärker zur Finanzierung der beruflichen Bildung heranzuziehen, die sich nicht unmittelbar an der für die gesamte Wirtschaft erforderlichen Ausbildung des Nachwuchses beteiligen.
In letzter Zeit häufen sich die Klagen qualifizierter Ausbildungsbetriebe über die Abwerbung ausgebildeter Nachwuchskräfte durch Konkurrenzunternehmen. Dieses Problem wird sich mit steigenden Kosten der Ausbildung noch verschärfen.
Meine Damen und Herren, der Ministerpräsident Kohl hatte damals offenbar einen Lichtblick.
— Ich sagte j a: „damals".
Aber was damals galt, gilt auch heute noch.
Wir haben Ihnen eine plausible und machbare Lösung des Problems vorgeschlagen. Dieser Gesetzentwurf ist entgegen den Polemiken von rechts eine logische Konsequenz des dualen Systems.
Der Kanzler Kohl soll das neue Finanzierungssystem der beruflichen Bildung erhalten, das der Ministerpräsident Kohl 1973 im Landtag in Mainz gefordert hat. Sie brauchen nur, meine Damen und Herren auf der Rechten, mit uns gemeinsam diesen Entwurf gründlich zu beraten und dann im Deutschen Bundestag zu beschließen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Rossmanith.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der uns vorliegende Entwurf eines Ausbildungsplatzfinanzierungsgesetzes ist der in der Zwischenzeit zum
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Rossmanith
x-tenmal wiederholte Versuch der SPD, das bewährte duale System der Berufsausbildung vorgeblich, muß ich sagen und es unterstreichen, zu reformieren.
In Wirklichkeit wollen Sie das aber auf den Kopf stellen, zumindest öffentlich anprangern. Und Sie haben das in Ihrem Redebeitrag, Herr Kuhlwein, eben wieder sehr ausführlich getan.
Der Gesetzentwurf ist zudem in seiner Ausführung derart oberflächlich und unpräzise, daß man, wie auch der DIHT zu Recht festgestellt hat, den Verfassern die ernsthafte Absicht absprechen muß, ihn jemals verwirklichen zu wollen. Dieser Gesetzentwurf enthält nämlich eine solche Fülle von problematischen Einzelbestimmungen und Rechtsverordnungsermächtigungen, daß für die betroffenen Betriebe weder Rechtsklarheit gegeben sein würde noch eine Transparenz des Verwaltungshandels erreicht werden könnten. Es fängt schon damit an, daß Sie in § 1 ganz lapidar feststellen — ich zitiere —:
Auswahlfähig ist das Ausbildungsplatzangebot, wenn es um mindestens 12,5 vom Hundert über der Nachfrage nach Ausbildungsplätzen liegt.
— Ja, da sieht man, wie konkret Sie sind, lieber Herr Kastning. Da sieht man Ihre konkrete Art schon bestens.
Ich glaube, daß eine solche pauschale Meßgröße viel zu ungenau ist, um in der Praxis auch tatsächlich verwertbare Aussagen über das konkrete Verhältnis von Ausbildungsplatzangebot und Ausbildungsplatznachfrage treffen zu können.
Diese Ausbildungsquote soll offensichtlich für alle Wirtschaftszweige und Beschäftigungsgrößen-klassen einheitlich festgesetzt werden, obwohl eine solche globale Festsetzung den erheblichen Unterschieden nach Wirtschaftszweigen, Betriebsgrößenklassen und Betriebsstrukturen überhaupt nicht gerecht werden kann.
— Ich komme jetzt gleich darauf. Ich habe Ihnen zugehört. Tun Sie das auch bei mir.
Es ist zwar richtig, daß die Auslastung des Ausbildungsplatzpotentials sektoral und regional große Unterschiede aufweist, nur vermag ich wirklich beim besten Willen nicht einzusehen, wie wir diesen regionalen und sektoralen Strukturproblemen durch eine aufwendige Umlagefinanzierung gerecht werden können. Soll denn etwa in Zukunft jener Betrieb in München oder Stuttgart, der schon heute nicht genügend Bewerber für Lehrstellen findet — und das ist eine ganze Reihe von Betrieben —, auch noch eine Strafabgabe dafür entrichten, daß in bestimmten Problemregionen, aus welchen Gründen auch immer, nicht genügend Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen, obwohl doch diesen Problemregionen durch die bereits bestehenden Bundes- und
Landeshilfen sehr gezielt und meist auch mit anerkennenswertem Erfolg geholfen wird? Stehen nicht der Bundesanstalt für Arbeit, der Sie diese Aufgabe übertragen wollen, nicht schon heute 5,1 Milliarden DM
für die von der Bundesregierung eingeleitete Qualifizierungsoffensive zur Verfügung?
Sie setzen sich auch in Ihrem Gesetzentwurf vor allem dafür ein, daß die Förderung auf Ausbildungsplätze in Berufen zu konzentrieren sei, die auf dem Arbeitsmarkt als verwertbar angesehen werden oder, wie Sie es ausdrücken, zukunftsorientiert sind.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, angesichts der problematischen Erfahrungen, die gerade die Arbeitsverwaltung mit ihren Umschulungsprogrammen sammeln mußte, halte ich diese Zielsetzung für reines Wunschdenken.
Der Präsident des nordrhein-westfälischen Landesarbeitsamtes, Olaf Sund, meines Wissens Mitglied der sozialdemokratischen Partei, hat erst in diesen Tagen gegenüber der Wirtschaft wieder den Wunsch nach besseren Informationen über künftige Bedarfstrends ausgedrückt, die die Voraussetzung für eine vorausschauende Qualifizierung sind.
Ich glaube, die Stärke des dualen Systems liegt gerade darin, daß hier schon vom Prinzip her Jugendliche für eine Tätigkeit und einen Beruf ausgebildet werden, in dem sie morgen auch eine Arbeitsplatzchance haben.
— Ich sage „vom Prinzip her", was durchaus natürlich auch Ausnahmen zuläßt.
Aber in der Regel ist es doch so, daß dem Betrieb, der sich die Ausbildung eines Jugendlichen bei Gott etwas kosten läßt, diese später auch zugute kommen soll. Sie haben das in Ihrer Regierungszeit damals untersuchen lassen. Sie wollten das gern anders haben, Sie wollten, daß der Betrieb als Ausbeuter dargestellt wird, und dann kam diese Kommission „leider" zu dem Ergebnis, daß die Ausbildung den Betrieb tatsächlich etwas kostet.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kastning?
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16431
Nein, lieber Kollege Kastning, lassen Sie uns das in dieser Kürze machen.
Da eine Überweisung geplant ist, der wir natürlich zustimmen werden, werden wir uns im Ausschuß darüber unterhalten können. Vielleicht können wir uns mit dem Problem auch in der zweiten und dritten Lesung direkter auseinandersetzen.
Ich glaube, Sie sollten mit Ihrem Gesetzentwurf der Arbeitsverwaltung nicht mehr zumuten, als diese nach aller Erfahrung und eingestandenermaßen — ich habe Ihren Parteifreund Olaf Sund schon zitiert — zu leisten in der Lage ist. Aber es ist offenbar — ich muß das hier sagen — die Erbsünde aller Sozialisten zu glauben, daß staatliche Planungsgremien und Bürokratien die Wünsche und Bedürfnisse der Menschen besser abschätzen und lenken können als der Markt.
Als ob nicht die Betriebe und die Handwerksmeister vor Ort viel besser als jede Verwaltung beurteilen können, wozu sie die Arbeitskräfte konkret benötigen, morgen und eben auch übermorgen. Dann frage ich Sie natürlich: Wo sollen denn im übrigen die Jugendlichen zukunftsorientiert, wie Sie es nennen, ausgebildet werden, wenn Sie den vorhandenen Betrieben dazu auch noch die Qualifikation absprechen wollen?
Lassen Sie mich noch etwas dazu sagen, was Sie sicherlich sehr geschickt in Ihren Entwurf eingefügt haben, nämlich daß Sie Arbeitgeber mit bis zu zehn Beschäftigten von der Berufsausbildungsabgabe befreien wollen. Aber vielleicht hören Sie manchmal doch auf das, was das Handwerk sagt. Ich weiß, daß Sie das nicht gern tun, aber vielleicht denken Sie doch auch einmal daran, daß sich dieses Handwerk, dem Sie diese Vorschrift quasi als Köder sicherlich vorwerfen wollen, bereits vehement gegen diesen Gesetzentwurf ausgesprochen hat;
denn auch im Handwerk weiß man nur allzugut, was Sie in Wirklichkeit mit einer Umlagenfinanzierung beabsichtigen und was gerade die Handwerksbetriebe zu erwarten hätten, wenn ihnen in der von Ihnen vorgesehenen Weise von außen in die Berufsausbildung hineingearbeitet werden würde.
Lassen Sie mich deshalb noch kurz auf den Zeitpunkt zu sprechen kommen, zu dem Sie diesen Gesetzentwurf vorlegen. Ich habe schon gesagt, daß das in der Zwischenzeit zum x-tenmal geschieht. Es ist dies eine Situation, in der wir, was den Ausbildungsstellenmarkt in der Bundesrepublik Deutschland angeht, den Gipfel der Nachfrage und damit die größten Schwierigkeiten bereits hinter uns haben. Die Zahl der Ausbildungsstellenbewerber wird voraussichtlich schon in diesem Jahr zurückgehen. Wie wir alle wissen, werden die Schulabgängerzahlen in den nächsten Jahren deutlich sinken. Es ist deshalb schon heute abzusehen, daß zu diesem Zeitpunkt, zu dem das von Ihnen vorgeschlagene Instrumentarium in der Arbeitsverwaltung mit großem personellen und auch finanziellen Aufwand umgesetzt sein wird, die Situation auf dem Lehrstellenmarkt längst von einem partiellen Ausbildungsstellenmangel in eine allgemeine Lehrlingsknappheit umgeschlagen sein wird. Auch in dieser Hinsicht fehlt Ihrem Gesetzentwurf daher jede realistische Grundlage.
Aber ich will zu Ihren Gunsten davon ausgehen, daß die Verfasser dieses Gesetzentwurfs tatsächlich zu keiner Zeit die ernste Absicht gehabt haben, ihn verwirklichen zu lassen. Sollte es sich allerdings bei Ihrem Gesetzentwurf tatsächlich um mehr als einen reinen Propagandatrick handeln, erlaube ich mir doch den Vorschlag, daß Sie mit diesem Gesetz in einem von Ihnen regierten Bundesland zunächst einen Probelauf veranstalten, gerade dort, wo die Lehrstellennot am allergrößten ist. Vielleicht beginnen Sie damit gleich im Bundesland NordrheinWestfalen. Denn dann hätte Ihr Kanzlerkandidat Rau eine hervorragende Gelegenheit, die Vorzüge und Nachteile dieses Gesetzes sozusagen in praxi zu erproben.
Ich sage Ihnen schon jetzt voraus, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der SPD, daß er sich dabei berufsbildungspolitisch sehr bald, vor allem bei den betroffenen Jugendlichen, wie schon sehr oft bei anderen Themen geschehen, selber zwischen alle Stühle setzen würde.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Zeitler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem Gesetz zur Finanzierung von Ausbildungsplätzen in der Berufsausbildung liegt uns heute der begrüßenswerte Vorschlag der SPD-Opposition vor, die anhaltend miserable Situation auf dem Ausbildungsmarkt zu entschärfen.Ich glaube, wir sind uns alle einig, daß die offiziell 100 000 unvermittelten Bewerber und Bewerberinnen um einen Ausbildungsplatz zum Handeln zwingen.
Daß die Appelle der Regierung an die privaten Unternehmer nicht ausreichen, hat sich in den letzten Jahren immer wieder bestätigt. Auch die Steigerung der Zahl abgeschlossener Ausbildungsverträge enthebt uns nicht der Sorge um die 100 000 unvermittelten Bewerber und Bewerberinnen jedes Jahr.Insofern ist der Schritt der SPD, das Ausbildungsplatzproblem durch ein Finanzierungsgesetz zu regeln, ein richtiger Schritt. Auch das Bemühen,
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16432 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
Frau Zeitlerdie Ausbildungsfinanzierung auf Bundesebene zu regeln, ist im Prinzip richtig. Schade ist nur, daß dieses Gesetz den Ausbildungsplatzsuchenden dieses Jahres nichts mehr nützen wird. Das heißt, das Gesetz käme, so es positiv beschieden würde, zu spät, und das wissen auch Sie.Darüber hinaus verhindern Sie, liebe Kollegen von der SPD, mit Ihrer Initiative hier im Bundestag als Oppositionspartei, daß dieses Jahr in Hessen ein Landesausbildungsplatzfinanzierungsgesetz verabschiedet wird,
was bei den dortigen Mehrheitsverhältnissen j a ohne weiteres möglich gewesen wäre, ja in den Koalitionsvereinbarungen auch ausdrücklich festgeschrieben wurde.
Pragmatisch gesehen hätte ein solches Landesgesetz ca. 32 000 Ausbildungsplätze mehr in Hessen bedeutet, wenn man die Zahlen vom letzten Jahr zugrunde legt. Sie zeigen uns hier ganz deutlich, wie man fundamentalistische Politik nicht betreiben sollte.Nun zu Ihrem Gesetzentwurf. Die Sorge um die große Zahl unvermittelter Ausbildungsplatzbewerber enthebt uns bestimmt nicht der Sorge um die Qualität und um die gerechte Verteilung von Ausbildungsplätzen. Ich greife nur einen Punkt heraus, der noch nicht erwähnt wurde. Wir können die Augen nicht vor der Tatsache verschließen, daß unter den unvermittelten Bewerbern eines jeden Jahrgangs zwei Drittel Mädchen sind. Diese Zahl kommt zustande, obwohl Mädchen die besseren schulischen Leistungen vorweisen können. Wir wissen alle, daß dies einzig auf die vorurteilsbeladenen Entscheidungen der ausbildenden Unternehmer und öffentlichen Arbeitgeber zurückzuführen ist.Um hier eine längst überfällige Veränderung zu erreichen, ist es unseres Erachtens einzig sinnvoll und wirkungsvoll, innerhalb eines Ausbildungsplatzfinanzierungsgesetzes die Abgabe bzw. die Förderungsmaßnahmen so zu gestalten, daß im dualen System die Arbeitgeber durch finanzielle Anreize — meinetwegen auch durch finanziellen Druck — dazu motiviert sind, ihre diskriminierende und vorverurteilende Haltung jungen Frauen gegenüber aufzugeben.
Es genügt nicht, wie es die SPD vorsieht, über die Arbeitsämter sozusagen im Nachschlagverfahren zusätzliche Ausbildungsstellen für Frauen anzubieten. Aller Erfahrung nach sind das Ausbildungsplätze außerhalb des dualen Systems. Für die Mädchen bedeutet das immer erhebliche zusätzliche Schwierigkeiten, nach der Ausbildung in ein Arbeitsverhältnis überzuwechseln.Der Übergang von einer abgeschlossenen Ausbildung in ein Arbeitsverhältnis wird für immer mehr Jugendliche zu einer Barriere. Es ist erschreckend, daß jedes Jahr mehr Jugendliche mit abgeschlossener Berufsausbildung auf der Straße stehen.
Dieses Problem darf bei einem Ausbildungsplatzfinanzierungsgesetz nicht außer acht gelassen werden. Die Übernahme der Auszubildenden in ein Arbeitsverhältnis ist deshalb Bestandteil der Qualität eines Ausbildungsplatzes. Wir werden in der bevorstehenden Beratung Vorschläge einbringen, die diese und weitere Punkte einbeziehen.
Das Wort hat der Abgeordnete Neuhausen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen von der SPD, bei allem Wohlwollen kann ich mich des öfters hier ausgesprochenen Eindrucks nicht erwehren — wie Sie sich denken können —, daß Sie das Gesetz so, wie es vorliegt, nicht eingebracht hätten, wenn Sie ernsthaft damit rechneten, daß es in zweiter und dritter Lesung angenommen würde.
Das Wohlwollen hat einen Grund, den Sie kennen. Auf der anderen Seite macht es mir dieser Eindruck natürlich leicht, mich dem Vorwurf zu stellen, der da mitschwingt, daß ich mich vor einigen Jahren für eine solche Regelung ausgesprochen habe,
jetzt aber einen anderen Standpunkt vertrete. Denn was in den Jahren, als der Lehrlingsberg noch bevorstand, sinnvoll und vernünftig erschien, muß jetzt auf dem Hochplateau von Nachfrage und Angebot wirklich anders beurteilt werden.Sie sagen, Sie wollen keine neuen Bürokratien. Okay! Aber wenn ich mir vergegenwärtige — ich habe nicht die Zeit, das im einzelnen auszuführen —, was in Wirklichkeit an neuen bürokratischen Regelungen, Erhebungen, Anträgen, Nachweisen und an Prüfungsmöglichkeiten mit dieser Vorlage auf die Betriebe zukäme, welche Unsicherheiten allein durch den Begriff „auf dem Arbeitsmarkt verwertbare Berufsausbildung" vorprogrammiert würden,
dann bleibe ich bei der Feststellung, daß schon die Diskussion darüber kontraproduktiv ist, von der Verwirklichung dieses Planes ganz zu schweigen. Denn es verbirgt sich hinter dieser verführerisch und auf dem ersten Blick einleuchtend erscheinenden Vorstellung, daß aus den — nach Ihren Vorschlägen — zu erhebenden Mitteln „zusätzliche qualifizierte Ausbildungsplätze in Berufen, die auf dem Arbeitsmarkt verwertbar sind", geschaffen werden sollen, ein ganz happiger Pferdefuß. Er wird auch nicht dadurch kleiner, daß die Entscheidung darüber im Einzelfall regionalisiert werden soll. Im
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16433
NeuhausenGegenteil. Wollen Sie wirklich die Entscheidung darüber, ob eine Ausbildung verwertbar ist oder — in den Worten der Begründung — es sich um einen Beruf handelt, der angesichts des ständigen Strukturwandels in der Wirtschaft seine Bedeutung behält oder eher sogar noch verstärkt, der also zukunftsorientiert ist, den Direktoren der Arbeitsämter und den Verwaltungsausschüssen aufhalsen?
Nach welchen Kriterien sollen sie entscheiden?
Sollen sie nur regionale oder allgemeine Bedingungen und Entwicklungen berücksichtigen? Wer gibt sie ihnen vor? Wer gibt ihnen die Prophetengabe, das Zukunftsorientierte, Verwertb are zu bestimmen, wenn doch, wie Sie selber sagen, die Wirtschaft in einem ständigen Strukturwandel begriffen ist? Die Versuchung zur Berufslenkung ist groß, wenn man „verwertbar" allgemein versteht. Die Zahl der örtlichen Querelen nähme ungeheuer zu, wenn man das regional verstehen müßte. Jedenfalls meine ich, Mobilität, Flexibilität und Initiativen würden eher gebremst als gestärkt.Frau Zeitler, ich sehe die größten Probleme bei solch einem Verfahren, wenn es um die Frage geht, welche alternativen Berufe neu zu installieren wären. Meine Damen und Herren, es ist ja auch im Prinzip erfreulich, daß Sie sich, wie aus der Begründung hervorgeht, Gedanken über die Aushöhlung des dualen Systems machen. Aber es muß Ihnen doch zu denken geben, wenn nicht nur der BDI, sondern auch der bildungspolitische Beirat des Einzelhandels, wenn das Handwerk, wenn alle die von Ihnen begünstigten Personengruppen, deren Interessen Sie ja neben denen der Auszubildenden hier auch vertreten wollen, anders denken. Nach der Begründung Ihres Gesetzes wollen Sie ja den Handwerkern helfen; wem denn sonst als den Unternehmern?
— Ich spreche mit Herrn Schnitker überhaupt nicht, sondern nur mit den Leuten vor Ort; denn ich bin der wahre basisverbundene Abgeordnete, Herr Kuhlwein, während Sie sich nur mit den Spitzen der Organisationen unterhalten.
Sie gehen ja auf alle die Bedenken der Organisationen, die hier von Kurt Rossmanith jetzt auch zitiert worden sind, überhaupt nicht ein, z. B. auch nicht auf die Frage, wie es denn mit den Betrieben ist, die nach dem Berufsbildungsgesetz überhaupt nicht ausbilden dürfen, wie es mit dem Unterschied von kapital- und arbeitsintensiven Berufen ist. Wie ist es mit ertragsschwachen Betrieben, die diese Abgaben aus der Substanz zahlen müssen? Wenn Sie das alles unter dem Begriff „sich beharrlich weigern" subsumieren, finde ich, ist das nicht gerecht.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kastning?
Bitte.
Herr Kollege Neuhausen, ich möchte Sie doch einmal fragen, was Sie davon halten, daß es ausbildungsfähige Betriebe sowohl vom Personal her wie auch von der Berufs- und Produktionsbreite her in erklecklichem Maße gibt, die, aber eben nicht ausbilden. Was gedenken Sie mit diesen angesichts der gegenwärtigen Situation zu tun? Das ist meine Frage.
Lieber Kollege Kastning, über die Einzelheiten werden wir ja sicherlich im Ausschuß noch genügend sprechen. Aber wenn Sie schon fragen, was ich mit den Betrieben zu tun gedenke, dann bin ich mit diesem Denkansatz nicht einverstanden. Ich kann mit den Betrieben nicht irgend etwas tun, sondern wir müssen Wege finden, um gemeinsam mit den Betrieben die in diesem und im nächsten Jahr noch zu erwartende Ausbildungslücke zu schließen. Jedenfalls geht es nicht auf diese Weise. Es ist Ihnen ja auch von Frau Zeitler bestätigt worden: In diesem Jahr nützt das Ganze gar nichts. Das heißt, kehren wir, meine Damen und Herren, im Interesse der jungen Leute zu einer realistischen Betrachtungsweise zurück. Benutzen wir die Diskussion als erneuten Anstoß zum Appell an alle Verantwortlichen; dann hat Ihre Initiative einen Sinn gehabt.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 10/5143 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15a und 15 b auf:a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes über den rechtlichen Status der Main-Donau-Wasserstraße— Drucksache 10/4632 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr
— Drucksache 10/5356 —Berichterstatter: Abgeordneter Buckpesch
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr zu dem Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN zur dritten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Ände-
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Vizepräsident Westphalrung des Gesetzes über die Aufgaben des Bundes auf dem Gebiet der Binnenschifffahrt— Drucksachen 10/5070, 10/5267 —Berichterstatter: Abgeordneter BuckpeschMeine Damen und Herren, weit über das hinaus, was im Ältestenrat vereinbart worden ist, haben unsere Geschäftsführer eine gemeinsame Vereinbarung hier zustande gebracht, die so aussieht, daß die Damen oder Herren Abgeordneten, die zu sprechen wünschen, ihre Reden zu Protokoll*) geben wollen und dies mit der Zustimmung des Präsidenten auch tun dürfen und nur ein kurzer Redebeitrag des Parlamentarischen Staatssekretärs aus dem Bundesministerium für Verkehr, Herrn Schulte, erfolgt. Er hat das Wort, da ich weiß, Sie haben schon alle zugestimmt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Namens der Bundesregierung möchte ich ganz wenige Klarstellungen treffen. Das Zweite Gesetz über den rechtlichen Status der Main-Donau-Wasserstraße soll die im Bau befindliche südliche Teilstrecke des Main-Donau-Kanals zwischen Nürnberg und der Donau bei Kelheim zur Bundeswasserstraße erklären. Für den nördlichen, fertiggestellten Teil zwischen dem Main und Nürnberg liegt eine solche Regelung bereits vor. Der Gesetzentwurf will zugleich die mit dem neuen Status als Bundeswasserstraße zusammenhängenden Fragen — das ist das Durchleiten von Wasser für die von Bayern wahrzunehmenden wasserwirtschaftlichen und landeskulturellen Zwecke, die Eigentumsverhältnisse und die Fischereirechte — regeln. In allen Punkten ist mit der Bayerischen Staatsregierung in einem besonderen Vertrag Einigkeit erzielt worden.
Das Gesetz belastet den Bundeshaushalt nicht mit weitergehenden Kosten. Bereits das Main-Donau-Vertragswerk verpflichtet den Bund, die jeweils fertiggestellten Teilstrecken der Wasserstraße zu übernehmen und die Kosten für Betrieb und Unterhaltung zu tragen. Der Entwurf berührt auch nicht die von Gegnern des Vorhabens aufgeworfenen ökologischen und ökonomischen Fragen. Planfeststellungsverfahren zur Einbindung des Vorhabens in die Umwelt werden durch das Gesetz nicht überflüssig.
Das Gesetz bezweckt, die Erfüllung der Bundesaufgaben auf das Bundeswasserstraßengesetz stützen zu können. Das dient der Verwaltungsvereinfachung und vermeidet unnötige Zuständigkeitsauseinandersetzungen. Auch für die Verkehrsregeln, die die Schiffahrt zu beachten hat, werden eindeutige Rechtsgrundlagen ermöglicht.
Das Gesetz befaßt sich zwar nur mit dem innerstaatlichen Status des Main-Donau-Kanals. Eine wichtige Folge ergibt sich aber auch im Verhältnis zu Binnenschiffen aus anderen Staaten. Die vom Bundestag erst vor kurzem verabschiedete Dritte Novelle zum Binnenschiffahrts-Aufgabengesetz hat
*) Anlage 2
eine klare innerstaatliche Rechtsgrundlage für die Erlaubnispflicht zum Befahren von Bundeswasserstraßen mit ausländischen Binnenschiffen geschaffen. Das wird nach dem Ihnen vorliegenden Entwurf künftig auch für den gesamten Main-DonauKanal gelten. Der Rechtsstatus dieses Kanals als nationale Wasserstraße wird dadurch wirksam abgesichert.
Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, dem Gesetzentwurf zuzustimmen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zuerst zu Einzelberatung und Abstimmung über Tagesordnungspunkt 15 a, den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf auf Drucksache 10/4632).Ich rufe die §§ 1 bis 7, Einleitung und Überschrift mit der vom Ausschuß empfohlenen Änderung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Danke schön. Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann sind die aufgerufenen Vorschriften mit großer Mehrheit angenommen.Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. Die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dann ist der Gesetzentwurf mit der gleichen Mehrheit angenommen.Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über Tagesordnungspunkt 15 b, die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 10/5267, den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/5070 abzulehnen. Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung des Ausschusses ist mit großer Mehrheit angenommen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 16 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Verbesserung der Stellung des Verletzten im Strafverfahren— Drucksache 10/5305 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß
Ausschuß für Jugend, Familie und GesundheitAuch hier hat die Vereinbarung der Geschäftsführer in unserem Auftrag die Ältestenratsvereinbarung überholt. Es ist vorgeschlagen, so zu verfahren, daß alle Redner — dies gilt auch für die Regierung — ihre Redetexte zu Protokoll*) geben. — Gibt es dazu einen Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich brauche die allgemeine Aussprache somit nicht zu eröffnen.*) Anlage 3
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16435
Vizepräsident WestphalDer Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 10/5305 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:Beratung und Unterrichtung durch das Europäische ParlamentEntschließung zur Vereinfachung der Personenkontrollen an den innergemeinschaftlichen Grenzen— Drucksache 10/5279 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innenausschuß
FinanzausschußIm Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag bis zu fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Ströbele.
Herr Präsident! Verehrte Frauen und Männer, die hier noch anwesend sind! In Berlin würde man in einer solchen Situation sagen: Hier hat wohl keiner mehr Bock auf Parlament!
Nun zur Sache. Es klingt gut, „wesentliche Erleichterungen für den Bürger beim Grenzübertritt" vorzusehen. Keine Grenzen mehr, beim Anfahren vielleicht noch winkende Grenzbeamte, die einem nur noch freundlich zulächeln. Vielleicht merkt man erst an der Sprache, wenn man aussteigt, daß man in Frankreich, in Holland oder in der Schweiz angekommen ist, in der Schweiz vielleicht auch dann, weil dort die Schokolade etwas billiger ist, oder an ähnlichen Äußerlichkeiten.
Dies ist eine faszinierende Vision. Wer denkt da nicht an Heinrich Heine, der in seiner „Winterreise" vor 200 Jahren so beeindruckend geschrieben hat, wie schrecklich es mit solchen Grenzen ist und wie schlimm es damit sein kann.
Ähnlich wie es die Fürsten in Deutschland vor 150 Jahren nicht verwinden konnten und um ihre Einnahmen und Finanzen fürchteten, als die deutschen Grenzen abgeschafft wurden, haben die, die heute in diesem Staat das Sagen haben, offenbar ein ebenso schlechtes Gefühl, aber nicht so sehr aus finanziellen Gründen, sondern ihnen geht es um die Sicherheit, die sie garantieren müssen. Auch wenn man im Grenzschutzbericht für 1985 und die Jahre davor nachliest, wie stark bereits die Grenzkontrollen eingeschränkt worden sind, so kommt man dennoch zu der Erkenntnis, daß es noch mehr Kontrollen als früher gibt, allerdings nicht mehr offiziell, sondern mit polizeilichem Gespür; darum geht es Ihnen. In dem Bericht ist die Rede von „effektivem Verbrecherauftrieb", der größer geworden sei, von „Schüblingen" und „Rauschgiftfahrern". Man könnte meinen, man sei um einige Jahrhunderte zurückversetzt. 108 000 Aufgriffe — so nennt man das an der Grenze — sind bewerkstelligt worden. Darauf ist man auch noch stolz.
Was heißt es, daß die Grenzen formal durchlässig gemacht werden, daß ganz formal keine Grenzkontrollen mehr stattfinden, daß aber der Grenzbeamte an der Grenze nun mit seinem polizeilichen Gespür versucht, dieselben Kontrollen noch effektiver durchzuführen? Es geht um dasselbe, was wir heute morgen hier behandelt haben und was mit den Sicherheitsgesetzen auf uns zukommt. Alles das bringt weitere Kontrollen, weitere Beschränkungen und weitere Einschränkungen der persönlichen Freiheit mit sich. Das ist die andere Seite dieses Bildes, das uns hier vorgegaukelt wird. Hier soll dem Bürger nur vorgemacht werden, er würde weniger kontrolliert. In Wirklichkeit wird er jetzt nur heimlicher und konspirativer kontrolliert. Es gibt verbesserte, ja sogar verschärfte Kontrollen.
Das kann aber nicht das sein, was wir anstreben, sondern wir fordern: Weg mit den Grenzen, ersatzlos weg mit den Grenzen! Freies Reisen überall in Europa und in der Welt! Leben dort, wo jedermann leben will! Gastrecht für alle Verfolgten in der Bundesrepublik! Unseren Reichtum mit den Verfolgten teilen! Das wäre eine Verwirklichung von Neineschen Utopien, und darauf sollte es hinauslaufen. Dahin sollten wir streben.
Danke.
Das ist sicherlich eine Utopie, Herr Ströbele.
Das Wort hat der Abgeordnete Clemens.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die zunehmenden Erleichterungen der Grenzkontrollen mit dem Ziel des späteren vollständigen Abbaus der Grenzen innerhalb Europas sind sehr zu begrüßen. Sie sind ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem vereinigten Europa. Wir wollen ein Europa zum Anfassen für den Bürger, aber ein Europa ohne innere Grenzen darf und kann es nur geben, wenn dadurch die Mobilität der internationalen Verbrecherorganisationen und Terroristen nicht vergrößert wird.Herr Ströbele, es wundert mich nicht, wenn Sie eben sagten, Sie bedauerten die Aufgriffquoten. Ich muß Sie fragen: Wollen Sie eigentlich hier mehr Terrorismus, wollen Sie mehr Verbrechen in der Bundesrepublik und Europa, oder wie soll man Sie verstehen? Wir sind der Meinung, daß die innere Sicherheit auch bei offenen Grenzen auf keinen Fall leiden darf. Ich beklage für die CDU/CSU, daß wir erhebliche Sicherheitsdefizite durch die eingeführten Kontrollerleichterungen leider schon hinnehmen mußten.
Die Aufgriffquoten sind z. B. im Jahre 1984 an der deutsch-französischen Grenze erheblich zurückgegangen, und im Jahre 1985 konnten diese nur teilweise wieder aufgefangen werden. An der BeneluxGrenze war ein deutlicher Rückgang der Aufgriff-
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16436 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
Clemensquoten zu verzeichnen. Zum Teil konnten an der Grenze nach Österreich die Aufgriffquoten nur dadurch wieder etwas gesteigert werden, daß man mehr Personal einsetzte, indem man es auf Hauptübergänge konzentrierte und von Nebenübergängen abzog. Das ist natürlich keine Dauerlösung. Wir brauchen dringend eine Verstärkung des Grenzschutzeinzeldienstes.Ich möchte an dieser Stelle einmal mit dem Irrglauben aufräumen oder ihn ausräumen, daß durch die Öffnung der Grenzen Personaleinsparungen beim Grenzschutzeinzeldienst wirklich zu erzielen sind. Wir haben statt einer Spur zwei Spuren, und es bedarf eines wirklich qualifizierten Personals, das in diesem Bereich mit kriminalistischer Schärfe darauf achtet, daß die innere Sicherheit in der Bundesrepublik auch für die Zukunft gewährleistet ist.
Im übrigen muß ich ganz offen sagen, es kann nicht angehen, daß immer mehr Übergänge geschaffen werden. Ich meine, das ist zwar gut für eine offene Grenze, aber wenn kein Personal dort eingesetzt würde, würde das dazu führen, daß sich die derzeitige Sicherheitslage für die Bundesrepublik erheblich verschlechtert. Das zeigt der Terrorismus, das zeigt der letzte Anschlag in Berlin.
Das zeigt der Terrorismus nicht nur im internationalen Bereich, sondern darüber hinaus auch der deutsche Terrorismus. Ich denke dabei an die RAFBanden und dergleichen mehr. Dazu kommt das organisierte Verbrechen. Das alles kann und darf sich nicht auf dem Boden der Bundesrepublik abspielen.Wir müssen also darauf achten, daß trotz offener Grenzen unsere Bürger auf jeden Fall weiterhin vor der Kriminalität geschützt werden.Deswegen möchte ich ganz deutlich sagen, daß ein endgültiger Wegfall der Grenzen mit folgenden Ausgleichsmaßnahmen untrennbar verbunden ist: Wir brauchen den Aufbau einer EG-weiten polizeilichen Fahndungsunion, die sich auf Personal- und Sachfahndung erstreckt; wir brauchen die Vereinfachung der Rechtshilfe durch unmittelbaren Verkehr der Justizbehörden und gegenseitige Anerkennung aller prozessualen Anordnungen; wir brauchen die Verkürzung und Vereinfachung des Auslieferungsverfahrens zwischen den Mitgliedstaaten; wir brauchen eine Vereinbarung über die grenzüberschreitenden Nachteile zwischen den Mitgliedstaaten; wir brauchen eine Angleichung des Betäubungsmittel-, Waffen- und Sprengstoffrechtes, und wir brauchen eine Vereinheitlichung der Sichtvermerkspolitik und der Einreisebedingungen.Es kann nicht angehen, daß in Zukunft in Frankreich Angehörige gewisser Nationen einreisen dürfen und hier nicht und umgekehrt. Wir bekommen dann ein absolutes Chaos. Das mögen die GRÜNEN wollen, ich hoffe, die SPD will es nicht. Deswegen müssen wir dafür sorgen, daß hier in der Tat eine Harmonisierung des Rechts stattfindet, ehe wir die Grenzen wirklich wegfallen lassen. Und dann brauchen wir eines Tages, wenn es mal soweit ist — ich glaube nicht, daß es im Jahre 1992 schon der Fall ist — sicherlich eine Verlagerung der Kontrollen an die Außengrenzen, an die Flughäfen und Seehäfen. Solange diese Ausgleichsmaßnahmen nicht gewährleistet sind, kann es leider kein Europa ohne Schlagbäume geben.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Abgeordnete Tietjen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren, soweit noch vertreten oder an den Lautsprechern sitzend. Herr Kollege Clemens, bei dem, was ich eben gehört habe, kann man als Abgeordneter aufatmen. Als ich Sie eben gehört habe, habe ich mich an den Europa-Wahlkampf 1984 erinnert, als der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland seine Absicht verkündete, zusammen mit dem Sozialisten Mitterrand, die Grenzen in Europa zu öffnen. Nachdem ich Sie gehört habe, Herr Clemens, habe ich den Eindruck, Sie wollen die Grenzen nicht öffnen, sondern wollen die Grenzen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft wieder schließen.Ich will — ich bitte um Verständnis dafür — im Interesse der hier sitzenden Kollegen meine Redezeit nicht voll ausschöpfen. Ich sage aber dem Kollegen Ströbele etwas zu einem anderen Punkt, der nicht zur sachlichen Debatte gehört. Ich habe Sie von Anfang an hier in der Mitte des Plenums des Deutschen Bundestages mit dem Anspruch erlebt, Sie wollten das alles ändern, Sie würden hier im Plenum als Fraktion dauernd präsent sein.
Diesen Anspruch haben Sie nicht erfüllen können, Herr Ströbele.Wir als sozialdemokratische Bundestagsfraktion haben Verständnis dafür, daß uns die Entschließung des Europäischen Parlaments in dieser Weise zugegangen ist. Ich will erinnern — und das in aller Kürze — an die Beschlußfassung im Innenausschuß des Deutschen Bundestages vom 12. Dezember 1985, wo wir gegen eine Stimme und bei einer Stimmenthaltung der grünen Fraktion gemeinsam einen Ausschußbericht beschlossen haben, der den Bedürfnissen, den Erwartungen des Europäischen Parlaments entgegengekommen ist. Wir als Sozialdemokraten haben damals gesagt und bleiben dabei, daß wir als Innenausschuß — und das ist in etwa vom Plenum des Deutschen Bundestages übernommen worden — das Bemühen zum Abbau von Kontrollen innerhalb der Grenzen der Europäischen Gemeinschaft begrüßen. Wir haben damals gesagt: Dabei sind zum Ausgleich des mit dem freien Grenzübertritt verbundenen Sicherheitsdefizits geeignete Maßnahmen innerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft zu vereinbaren. Dabei bleiben wir auch heute noch. Dazu
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986 16437
Tietjenkann nicht gehören, daß es zusätzliche Kontrollen — das war damals die Absicht eines Teils der Regierungen — innerhalb einer bestimmten Zone an der jeweiligen Grenze geben soll, d. h. binnenländische Kontrollstellen. Ich denke, daß wir darüber einig sind. Das ist der erste Punkt, den ich sachlich ansprechen wollte.Der zweite und damit letzte Punkt von mir ist der, daß der Bundeskanzler und der Bundesinnenminister es nicht dabei bewenden lassen können, großspurige Erklärungen bei irgendwelchen EuropaWahlen abzugeben. Es ist vielmehr Pflicht des Bundesinnenministers — Herr Staatssekretär Waffenschmidt, übermitteln Sie ihm das —, zum Beispiel als Dienstherr der Beamten des Bundesgrenzschutzes diesen die Sicherheit zu geben, die sie zur Ausübung ihres Berufes brauchen. Nicht nur sie als Beamte brauchen diese Sicherheit, sondern inklusive ihrer Familien brauchen die Beamten des Bundesgrenzschutzes diese Sicherheit. Sie wissen im Augenblick — das seit Monaten schon — überhaupt nicht, in welche Richtung sie irgendwann einmal an die bundesdeutschen Grenzen zur EG versetzt werden, was mit ihnen passiert. Das ist ein schlimmer Akt. Bringen Sie Herrn Zimmermann endlich dazu, daß er diese Unsicherheit der GS-Beamten ausräumt.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Hamm-Brücher.
Herr Präsident! Liebe letzte Europäer! Ich möchte es ganz kurz machen und nicht bereits Gesagtes wiederholen. Wir sind uns j a wohl alle darüber einig — und es ist ein offenes Geheimnis —, daß die Europäische Gemeinschaft für viele ihrer Bürger nach wie vor ein ziemlich abstraktes Gebilde geblieben ist, mit dem sich die Bürger nur wenig identifizieren können. Wir haben deshalb gemeinsam seit vielen Jahren gefordert — ich habe es sogar in den Akten gelesen, in einem Bericht von Tindemans vor zehn Jahren ist es bereits gefordert worden —, daß die Gemeinschaft zu einem Europa der Bürger werden muß. Dazu gehört zweifellos auch, die bestehenden Staatsgrenzen durchlässiger zu machen und die damit verbundenen Hindernisse endlich schrittweise zu überwinden. Wie wir gerade gehört haben, erweist sich das als leichter gesagt als getan. Die vorliegende Entschließung will in einer etwas bürokratischen Sprache diesen Vorgang beschleunigen. Wir wollen das in dieser späten Stunde nachdrücklich unterstützen.Meine Damen und Herren, eine Vereinfachung und ein möglicherweise späterer Wegfall von Grenzkontrollen bedeuten nicht nur verbesserte Reisemöglichkeiten für europäische Bürger und damit auch eine Stärkung des Gemeinschaftsgefühls, sie sind auch — und das ist wichtig — eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Aus diesem Grund wurde ja, nachdem die EG-Kommission einen entsprechenden Vorschlag gemacht hatte, in der einheitlichen Europäischen Akte festgeschrieben, daß wir einen einheitlichen europäischen Binnenmarkt brauchen, und zwar sowohl für die 320 Millionen Gemeinschaftsbürger als auch für die Waren, die Dienstleistungen und das Kapital. Das soll ja am Ende dieses ganzen Prozesses stehen, wenn ich das richtig verstanden habe.Deshalb ist es der Wunsch, den Abbau der Grenzkontrollen innerhalb der Gemeinschaft voranzutreiben. Er muß natürlich, Herr Kollege, mit einer verstärkten Zusammenarbeit der Grenzkontrollorgane — womit übrigens meiner Ansicht nach doch eine, wenn auch bescheidene Senkung der Kosten verbunden sein kann — und einer verstärkten Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden einhergehen. Dazu hat es heute eine interessante Veranstaltung in Brüssel gegeben.Die gemeinsame Bekämpfung der Kriminalität und des Terrors muß fortgesetzt werden. Herr Kollege Ströbele, ich glaube, da sind wir uns am Ende auch einig.
— Ach, man muß zuerst immer das Gute annehmen, Herr Kollege, und nur im Fall des Gegenteils — —(Clemens [CDU/CSU]: Darauf reist er nämlich! — Ströbele [GRÜNE]: Haben Sie soein Mißtrauen?)— Wir haben doch alle mal so angefangen und lernen das alle hier noch.Möglicherweise müssen die Grenzkontrollen an den EG-Außengrenzen verstärkt werden. Sie haben das erwähnt. Auf jeden Fall brauchen wir eine Vereinheitlichung der Sichtvermerkserteilung in der Gemeinschaft. Herr Kollege Waffenschmidt nickt mit dem Kopf.Die FDP-Bundestagsfraktion bittet die Bundesregierung, sich weiterhin für ein baldiges Inkrafttreten der Richtlinie, um die es hier geht, einzusetzen. Wir hoffen sehr, daß die derzeitigen Widerstände Frankreichs überwunden werden können und daß für Dänemark — da gibt es nämlich noch viele Probleme dahinter — eine auch für die übrigen Staaten akzeptable Regelung gefunden wird, weil nämlich Dänemark auf Grund der für dieses Land bestehenden Verpflichtungen aus der nordischen Paßunion einer einheitlichen Regelung noch im Wege steht.Ich möchte ganz kurz noch einmal auf den Tindemans-Bericht aus dem Jahr 1976 zurückkommen, weil schon damals sehr eindringlich die schrittweise Abschaffung der Personalkontrollen gefordert wurde, und die Historie damit festhalten. Im Bericht heißt es:Die Vorschläge, mit denen Europa dem Bürger nähergebracht werden sollen, ergeben sich unmittelbar aus den eigentlichen Beweggründen für das europäische Einigungswerk. Sie geben diesem Werk seine menschliche und seine soziale Dimension. Sie sind insofern fundamental für das Gelingen dieses Unterfangens, als es nicht ausreicht, daß unsere europäische Schicksalsgemeinschaft eine Realität ist. Sie muß auch als Realität erkannt werden. Und dazu
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16438 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1986
Frau Dr. Hamm-Brüchergehören auch nach zehn Jahren konkrete Fortschritte wie die Lockerung der Grenzkontrollen, die für uns alle ein spürbares Europabewußtsein bringen könnten.Vielen Dank.
Auf der Grundlage eines im Grundgesetz verbrieften Rechts besteht der Parlamentarische Staatssekretär des Bundesministeriums des Innern darauf, zu uns zu sprechen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit Blick auf die vorgerückte Zeit drei kurze Bemerkungen:
Erstens. Die Bundesregierung begrüßt, daß diese Entschließung heute auch hier im Deutschen Bundestag behandelt wird und daß ein weiterer Impuls gegeben werden soll, um die Grenzen in Europa durchlässiger zu machen, damit die Menschen schneller von einem Land zum anderen kommen können, daß also die Kontrollen abgebaut werden, soweit es nur geht.
Zweitens. Man muß auch heute feststellen, daß die Stichproben an den Grenzen, daß die Aufgaben für die Sicherheit an den Grenzen noch einen hohen Stellenwert haben. Ich erinnere nur an die vielen Festnahmen, die wir z. B. im Zusammenhang mit Rauschgifttätern und anderen haben. Deshalb muß Hand in Hand und gleichzeitig — es klang hier in der Debatte an — in Verbindung damit, daß Kontrollen abgebaut werden, die Sicherheit auf andere Weise gestärkt werden, die Sicherheit an den Außengrenzen der EG, die Sicherheit auch in der Harmonisierung der Sicherheitsvorschriften innerhalb der EG. Da bleibt noch etliches zu tun. Aber die Bundesregierung will alles unternehmen, damit beides erreicht wird: dieses Mehr an Freizügigkeit in Europa, dieses Mehr an schnellem Zueinanderkommen, dieser Abbau der Kontrollen und zugleich eine Stabilität der Sicherheit.
Ein letzter Gedanke, weil hier der Grenzschutz angesprochen wurde. Ich will hier noch einmal deutlich sagen: Diese Bundesregierung hat von Anfang an immer wieder die Bedeutung des Dienstes unserer Grenzschutzbeamten angesprochen. Sie hat sich für den Grenzschutz eingesetzt. Kollege Clemens hat mit Recht auf die Aufgaben hingewiesen, die hier noch anstehen. Wir werden innerhalb der Bundesregierung Schritt für Schritt nicht nur an diesen Aufgaben arbeiten, sondern sie auch Lösungen zuführen. Sie dürfen versichert sein, meine Damen und Herren, daß auch, wenn diese oder jene Grenzkontrolle abgebaut wird, der Grenzschutz, die Beamten des Grenzschutzes — auch in ihrem beamtenrechtlichen Status — eine sichere Perspektive für ihre berufliche Position haben. Diese Bundesregierung wird alles tun, um den Mitarbeitern, den Beamten des Bundesgrenzschutzes klar und deutlich immer wieder zu beweisen, daß sie einen wichtigen Dienst für die Sicherheit unseres Landes tun und auch künftig tun werden.
Ich möchte an dieser Stelle die Debatte gerade auch zum Anlaß nehmen, den Beamten des Bundesgrenzschutzes zu danken für den Dienst,
den sie an der Grenze für unser Land tun. Herzlichen Dank dafür auch zu dieser späten Stunde den Beamten des Bundesgrenzschutzes.
Im übrigen, Freiheit und Sicherheit in Europa und für die Bürger in Europa gehören untrennbar zusammen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 10/5279 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 25. April 1986, 8 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.