Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf: Fragestunde
— Drucksache 10/3359 —
Wir kommen zuerst zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Zur Beantwortung steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. Jahn zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 1 des Herrn Abgeordneten Steiner auf:
Warum hat sich der Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau bei den dem Deutschen Bundeswehrverband am 14. Februar 1984 zugesagten Untersuchungen und Prüfungen für eine Verbesserung der Wohnungsfürsorge für häufig versetzte Soldaten nur auf die von ihm vermuteten Lösungsvorschläge des DBwV beschränkt, ohne dabei die vom DBwV konkret erhobenen Forderungen und vorgeschlagenen Lösungen zu berücksichtigen, und warum wurde deshalb an der eigentlichen Zielsetzung des DBwV vorbei etwas untersucht was nicht dem eigentlichen Anliegen des Verbandes entspricht?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Steiner, Ihre Frage geht von Unterstellungen aus, die sachlich nicht gerechtfertigt sind. Richtig ist folgendes: Der Deutsche Bundeswehrverband trug dem Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau mit Schreiben vom 23. September 1983 seine Vorstellungen einer neuen Wohnungsfürsorgekonzeption vor. In seinem Antwortschreiben vom 11. November 1983 nahm Herr Bundesminister Dr. Schneider hierzu umfassend Stellung. Dem Briefwechsel folgte am 14. Februar 1984 ein Gespräch des Ministers mit dem Vorstand des Bundeswehrverbandes.
Das Gespräch hatte zum Ergebnis, daß Minister Dr. Schneider ankündigte, er werde im Rahmen des finanzpolitisch Vertretbaren und dienstrechtlich Zulässigen Möglichkeiten der Hilfe für häufig versetzte Soldaten untersuchen lassen. Das Bundesbauministerium führte diese Prüfung gemeinsam mit dem Bundesminister der Verteidigung durch. Über das Ergebnis der Prüfung hat Herr Bundesminister Dr. Schneider den Deutschen Bundeswehrverband mit Schreiben vom 25. September 1984 unterrichtet.
Keine Zusatzfrage. — Dann rufe ich die Frage 2 des Herrn Abgeordneten Steiner auf:
Hat der Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau bei seinen Überlegungen, für häufig versetzte Soldaten und ihre Familien eine bessere Wohnungsfürsorge als bisher zu erreichen, berücksichtigt, daß diese Soldatenfamilien bei einem sich ständig verringernden Bestand an Bundesdarlehenswohnungen kaum eine Chance haben, in einem angemessenen zeitlichen Abstand zu einer Versetzung eine ihren Wohnbedürfnissen entsprechende Wohnung zugewiesen zu bekommen?
Bitte.
Dr. Jahn, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Steiner, mit dem Bundesminister der Verteidigung stimmt der Bundesbauminister überein, daß der jetzige Bestand von rund 152 000 Bundesdarlehenswohnungen, Bundesmietwohnungen und mit Bundesmitteln geförderten Familienheimen ausreicht, um den versetzten Soldaten alsbald eine Wohnung am neuen Dienstort zur Verfügung zu stellen. Das gilt um so mehr, als in den meisten Standorten ein Teil der Soldatenfamilien von sich aus Wohnungen des freien Wohnungsmarktes in Anspruch nimmt. Es bedarf daher keiner Neukonzeption, sondern vielmehr einer Anpassung der Wohnungsfürsorge an den sich ändernden Wohnungsmarkt, insbesondere in Ballungsgebieten. Diese Anpassung wird dadurch erreicht, daß die Verlängerung abgelaufener Besetzungsrechte an Bundesdarlehenswohnungen, weiter der Erwerb von Besetzungsrechten an Wohnungen des freien Marktes erfolgt und die Förderung von Neubauten vorgenommen wird, sofern ein Bedarf das erfordert.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Steiner.
Herr Staatssekretär, wie bewerten Sie vor dem Hintergrund der Tatsache, daß in den kommenden Jahren jährlich bis zu 2 000 Bundesdarlehenswohnungen aus dem Bestand herausfallen und Sie daraus gleichwohl keinen konkreten Handlungsbedarf ableiten, den Umstand, daß diese
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SteinerSoldaten dann auf den freien Wohnungsmarkt auch in Standorten verwiesen werden, in denen — ich möchte sagen — ein erheblicher Wohnungsbedarf besteht?Dr. Jahn, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Steiner, ich möchte es noch einmal sagen: Die Bundesregierung sieht neue Rahmenbedingungen. Sie sieht auch durchaus den Bedarf in Ballungsgebieten. Hier werden die Verlängerung abgelaufener Besetzungsrechte angestrebt, auch der Erwerb von Besetzungsrechten an freien Wohnungen und darüber hinaus die Förderung von Neubauten.
Eine zweite Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, wie bewerten Sie die Belastungen derjenigen Soldaten, die von häufigen Versetzungen betroffen sind und kurz vor Auslaufen der Besetzungsrechte noch eine Bundesdarlehenswohnung zugewiesen bekommen?
Dr. Jahn, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Steiner, sollte es bei ganz bestimmten Bundeswehrangehörigen Schwierigkeiten geben, wäre die Bundesregierung Ihnen recht dankbar, wenn Sie uns die konkreten Einzelfälle nennen könnten, damit wir dann auch in eine sachgerechte Prüfung eintreten können.
Keine weiteren Zusatzfragen. Danke sehr, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern. Zur Beantwortung steht der Herr Staatssekretär Kroppenstedt zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 3 des Herrn Abgeordneten Müntefering auf:
Wie hoch ist der für Umweltschutz notwendige Investitionsbedarf für Wasserschutz und Abwässerreinigung, Luftreinhaltung, Abfallwirtschaft und Lärmschutz in groben Schätzungen, und welcher Anteil davon würde Aufträgen für die Bauwirtschaft zugute kommen?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der zukünftige Investitionsbedarf für Umweltschutz hängt von einer Reihe heute noch nicht bestimmbarer Faktoren ab. Zuverlässige Schätzungen lassen sich nur für Teilbereiche erstellen. So wird z. B. die Großfeuerungsanlagen-Verordnung Investitionsausgaben von rund 20 Milliarden DM im Bereich der Luftreinhaltung bewirken. Weitere hohe Investitionen werden in den nächsten Jahren durch die verschärften Anforderungen infolge der Novellierung des Teils 3 der TA Luft, des Wasserhaushaltsgesetzes, des Abwasserabgabengesetzes und des Abfallbeseitigungsgesetzes erforderlich.
Eine generelle Aussage über den Anteil der Bauwirtschaft an zukünftig durchzuführenden Umweltschutzinvestitionen ist nicht möglich. Nach Schätzungen des Statistischen Bundesamtes entfielen in den letzten Jahren weniger als ein Viertel der Umweltschutzinvestitionen des produzierenden Gewerbes auf Baumaßnahmen.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Müntefering.
Herr Staatssekretär, haben Sie eine Vorstellung davon, wie hoch der Anteil an Arbeitsplätzen ist, die gesichert oder neu geschaffen werden können, wenn die Maßnahmen im Bereich Umweltschutz, die in meiner Anfrage aufgezählt sind, durchgeführt werden?
Kroppenstedt, Staatssekretär: Das ist sehr schwer zu sagen. Weil wir die Zahlenangaben für das Investitionsvolumen nicht abschätzen können, kann man sehr schwer konkrete Angaben über die Zahl neuer Arbeitsplätze machen. Wenn Sie aber bedenken, daß 20 Milliarden DM allein im Bereich der Luftreinhaltung investiert werden müssen, ist die Zahl der Arbeitsplätze sicher nicht gering zu veranschlagen.
Zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.
Da zweifellos Arbeitsplätze gesichert und geschaffen werden können, wenn auch nicht quantifizierbar ist, wie viele: Tritt der Bundesminister des Innern dafür ein, daß möglichst schnell, noch vor der Sommerpause, durch Maßnahmen der öffentlichen Hand sichergestellt wird, daß Arbeitsplätze im Bereich Umweltschutz durch die hier angedeuteten Maßnahmen gesichert und geschaffen werden?
Kroppenstedt, Staatssekretär: Die Bundesregierung hat sich mehrfach dagegen ausgesprochen, daß ein globales Investitionsprogramm eingerichtet wird. Wenn Sie aber mit Ihrer Frage deutlicher machen wollen, ob der Bundesminister des Innern dafür eintritt, daß die Maßnahmen für den Umweltschutz schnell umgesetzt werden und damit mittelbar Arbeitsplätze geschaffen werden, so kann ich Ihre Frage bejahen.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Stiegler.
Herr Staatssekretär, Sie haben eben gesagt, etwa 30 % der Investitionen würden auf die Bauwirtschaft entfallen, wenn ich es richtig gehört habe.
— Ein knappes Viertel, 25 %. Wie ist da die Bauwirtschaft abgegrenzt? Sind das nur reine Bau-, Maurerleistungen, oder ist auch der Installationsteil der Bauwirtschaft in diese Schätzung einbezogen?Kroppenstedt, Staatssekretär: Ich kann Ihnen diese Frage nicht mit abschließender Sicherheit beantworten. Auf Grund meiner früheren Tätigkeit beim Statistischen Bundesamt meine ich aber, daß der zweite Bereich in der Bauwirtschaft insgesamt mit inbegriffen ist. Ich glaube, daß die Zahlen des Statistischen Bundesamtes so zustande gekommen
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Staatssekretär Kroppenstedtsind, daß diese Bereiche in den Zahlen enthalten sind.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Sperling.
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Sorge, daß die gegenwärtige rapide Talfahrt der Bauwirtschaft zu einem Abbau von Kapazitäten führt, die nachher für Umweltschutzmaßnahmen dringend gebraucht würden, so daß seitens der Bundesregierung im Interesse der späteren Umweltschutzmaßnahmen dringend etwas zur Erhaltung von Baukapazitäten getan werden muß?
Kroppenstedt, Staatssekretär: Es ist durchaus denkbar, daß ein starker Einbruch in der Bauwirtschaft zu einem Absinken der Kapazitäten führt, die mittelfristig notwendig sind. Die Bundesregierung wird sich dieses Problems annehmen. Eine konkrete Aussage über Lösungsmöglichkeiten, die hier gefunden werden, kann ich nicht machen.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schmitt.
Herr Staatssekretär, haben Sie einen Überblick, wie viele der als dringlich angesehenen Umweltschutzinvestitionen in der unmittelbaren Zuständigkeit des Bundes aus Mangel an Mitteln zurückgestellt werden müssen, und sind Sie bereit, darüber einen Bericht zu geben?
Kroppenstedt, Staatssekretär: Ich bin bereit, Ihnen entsprechende Zahlen zuzuleiten, kann aber schon jetzt sagen, daß die Investitionsvolumen zu einem erheblichen Prozentsatz von der privaten Wirtschaft und von öffentlichen Einrichtungen, beispielsweise von Kommunen, aufgebracht werden. Der Bund ist für Umweltschutzinvestitionen nur zu einem sehr begrenzten Teil zuständig.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kansy.
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Auffassung, daß, da die Baukapazitäten in der Bundesrepublik seit Jahrzehnten mit ungefähr 50 % im Wohnungsbau, mit 25% im Wirtschaftsbau und mit 25% im öffentlichen Bau gebunden sind, das Problem der Bauwirtschaft nicht fehlende Investitionen im Umweltschutz sind, sondern daß das Problem in einer veränderten Lage auf dem Wohnungsmarkt besteht?
Kroppenstedt, Staatssekretär: Ich teile die von Ihnen dargelegte Auffassung.
Keine weitere Zusatzfrage. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär. Die Frage 91 des Abgeordneten Dr. Hupka wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe jetzt den Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen auf. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr.
Voss zur Verfügung. Ich rufe die Frage 4 des Herrn Abgeordneten Müntefering auf:
Auf welche Summen beziffern die Kommunen und die Spitzenverbände die in den Jahren seit 1980 unterlassenen kommunalen Investitionen, und wie hoch müßten folglich die für Investitionen bereitzustellenden Haushaltsmittel der kommunalen öffentlichen Hand bis 1990 sein, wenn die Ausfälle der Vergangenheit nachgeholt werden sollen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Müntefering, die in den Jahren 1978 und 1979 vom Deutschen Institut für Urbanistik vorgenommene Schätzung des kommunalen Investitionsbedarfs bis 1990 wurde im Jahre 1984 einer Überprüfung unterzogen.
Der Deutsche Städtetag hat im Gemeindefinanzbericht 1985 das quantitative Ergebnis dieser Überprüfung für die vergangenen Jahre wie folgt zusammengefaßt — ich zitiere —:
Trotz des Programms für Zukunftsinvestitionen konnten seit 1976 also lediglich rund 82 v. H. des Bedarfs gedeckt werden. Nach dem Investitionseinbruch der letzten Jahre liegt die entsprechende Quote im Jahr 1984 nur noch bei etwa 67 v. H. In heutigen Preisen beträgt die Lücke zwischen jahresdurchschnittlichem Bedarf und tatsächlichen Investitionen inzwischen rund 16,5 Milliarden DM.
Inwieweit, Herr Kollege Müntefering, diese Lücke zwischen dem prognostizierten Bedarf und der tatsächlichen Entwicklung auf einer Fehleinschätzung des Bedarfs beruht, vermag die Bundesregierung nicht zu beurteilen, da sie weder die Methode noch die Ergebnisse der Studie überprüft hat.
Die Bundesregierung geht jedoch davon aus, daß durch die großen Konsolidierungserfolge auf der kommunalen Ebene in den letzten beiden Jahren die finanzwirtschaftlichen Voraussetzungen für einen maßvollen Wiederanstieg der Investitionstätigkeit der Gemeinden und Gemeindeverbände gegeben sind.
Zusatzfrage des Abgeordneten Müntefering.
Herr Staatssekretär, kennen Sie die Tatsache, daß die Kommunen auch in diesem Jahr auf Grund ihrer finanziellen Situation nur sehr begrenzt in der Lage sein werden, ihre Investitionsausgaben auszuweiten, und damit das, was an dringenden Arbeiten in den Gemeinden zu erledigen wäre, nicht erfüllt werden könnte, mit Konsequenzen für die Arbeitsplätze?Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Müntefering, es ist nicht zu übersehen, daß bereits im Jahre 1985 wieder eine positive Wachstumsrate zu verzeichnen ist und daß sich diese positive Entwicklung auch in den Folgejahren fortsetzen wird, so daß allmählich das, was in den vergangenen Jahren nicht investiert wurde, in Zukunft investiert werden wird.
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Zweite Zusatzfrage, bitte.
Muß ich Ihre Einlassung so verstehen, Herr Staatssekretär, daß die Bundesregierung nicht bereit ist, den Gemeinden zu helfen, über das im Augenblick mögliche Maß hinaus zu investieren und damit zusätzliche Arbeitsplätze zu sichern und zu schaffen?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Müntefering, die Bundesregierung muß an erster Stelle die Finanzsituation des Bundes und der Kommunen im Auge haben. Hier zeigt sich sehr, sehr deutlich, daß die Kommunen, gemessen am Konsolidierungsgrad des Bundes, aber auch der Länder, bedeutend weiter fortgeschritten sind. Von daher besteht kein Anlaß, von seiten des Bundes hier zusätzliche Finanzhilfen zur Verfügung zu stellen.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Sperling.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß die Kommunen, die am besten konsolidiert haben, den geringeren Investitionsbedarf haben, während die Kommunen mit großer Verschuldung den hohen Investitionsbedarf haben, so daß nach wie vor die Erfahrung aus der bisherigen Geschichte der Bundesrepublik gilt, daß das kommunale Investitionsverhalten im wesentlichen von den Zuweisungen von Bund und Ländern abhängt?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Sperling, gewisse Verschiebungen sind hier nicht zu verkennen. Aber es ist daran festzuhalten, daß die durchschnittlichen Zahlen — diese sind letztlich ausschlaggebend dafür, ob allgemeine Finanzhilfen an die Kommunen gegeben werden — sich im Verhältnis zum Bund bei den Kommunen maßgeblich verbessert haben.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Menzel.
Herr Staatssekretär, kann ich aus Ihrer Auskunft ableiten, daß die Klagen der Kommunen, daß sie wegen der hohen Sozialhilfeleistungen kaum noch zu Investitionen in der Lage sind, völlig unberechtigt sind?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Bundesregierung hat ja bereits einiges getan, um die Kommunen bei der Sozialhilfe zu entlasten und ihnen hier Erleichterung zu verschaffen. Ich erinnere nur daran, daß die Bezugsdauer für das Arbeitslosengeld für ältere Arbeitnehmer entsprechend verlängert worden ist, so daß hier entsprechende Erleichterungen bei den Kommunen eintreten werden. Ferner ist ja, wie Sie wissen, geplant, durch die Wohngeldnovelle gewisse weitere Zahlungen durch den Bund durchzuführen, was wiederum eine Erleichterung bei den Kommunen zur Folge haben wird.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schmitt.
Herr Staatssekretär, sind Ihnen die Feststellung und Forderung der deutschen Bauindustrie bekannt, wonach nur eine Stärkung der Investitionskraft der Kommunen die katastrophale Lage der Bauwirtschaft kurzfristig verbessern kann, und müssen Sie nicht daraus die Konsequenz entnehmen, daß eine Verbesserung der kommunalen Finanzsituation durch Bund und Länder auch geeignet ist, der Bauwirtschaft jedenfalls unmittelbare Hilfe zu leisten?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich hatte eben bereits dargelegt, daß sich die Finanzlage der Kommunen im Durchschnitt schon maßgeblich verbessert hat. Daher ist die Aufforderung der Bundesregierung an die Kommunen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten nun verstärkt Investitionen durchzuführen und damit der Bauwirtschaft zu helfen, absolut gerechtfertigt.
Keine weitere Zusatzfrage.
Die Frage 5 des Abgeordneten Reimann wird auf Wunsch des Fragestellers gemäß den Richtlinien schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 6 des Abgeordneten Müller auf:
Warum sind vom Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen bis heute keine Genehmigungen für eine private Absicherung der Pflegebedürftigkeit erteilt worden, obwohl dem Bundesaufsichtsamt die vom Verband der privaten Krankenversicherung ausgearbeiteten Musterbedingungen sowie die konkreten Tarife einer Reihe von Krankenversicherungsunternehmen dem Vernehmen nach bereits seit längerem vorliegen?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Müller, gestatten Sie, daß ich Ihre Fragen 6 und 7 wegen des Zusammenhangs gemeinsam beantworte?
— Danke schön.
Ich rufe die Frage 7 des Abgeordneten Müller auf:Wann ist mit der Genehmigung der ersten privaten Pflegekostenversicherungen durch das Bundesaufsichtsamt zu rechnen, und wann werden voraussichtlich die ersten Versicherungen auf den Markt kommen?Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Das Risiko der Pflegebedürftigkeit kann nach den Vorstellungen der deutschen Versicherungswirtschaft sowohl durch eine Pflegerentenversicherung der privaten Lebensversicherung als auch durch eine Pflegefallversicherung der privaten Krankenversicherung abgesichert werden.Hinsichtlich der Pflegerentenversicherung der privaten Lebensversicherung ist vom Verband der Lebensversicherungsunternehmen in Abstimmung mit dem Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen ein Mustergeschäftsplan erstellt worden. Dieser Mustergeschäftsplan ist den Mitgliedsunternehmen des Verbands durch Rundschreiben vom 15. Mai 1985 bekanntgegeben worden. Auf der Grundlage dieses Geschäftsplans können die Lebensversicherungsunternehmen ab sofort beim
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Parl. Staatssekretär Dr. VossBundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen Anträge auf Genehmigung der Pflegerentenversicherung stellen, die dann unverzüglich genehmigt werden. Es besteht somit — falls ein entsprechendes geschäftliches Interesse der Lebensversicherungsunternehmen vorliegt — die Möglichkeit, daß die ersten Unternehmen die Pflegerentenversicherung innerhalb der nächsten Monate auf den Markt bringen und anbieten werden.Die Arbeiten an einem Geschäftsplan in der Pflegefallversicherung der privaten Krankenversicherung dagegen sind noch nicht abgeschlossen. Hier stehen insbesondere im Hinblick auf die Prämienkalkulation noch Verhandlungen zwischen dem Verband der privaten Krankenversicherung und dem Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen an, die am 23. Mai 1985, also morgen, fortgesetzt werden. Nach dem bisherigen Verhandlungsstand ist jedoch davon auszugehen, daß auch Geschäftspläne für die Pflegefallversicherung voraussichtlich im Lauf dieses Sommers vom Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen genehmigt werden können, so daß etwa ab diesem Zeitpunkt auch die Pflegefallversicherung der privaten Krankenversicherung auf den Markt kommen wird.Die bisher von fünf privaten Krankenversicherungsunternehmen dem Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen vorgelegten technischen Geschäftspläne genügen nicht den Anforderungen, die das Versicherungsaufsichtsgesetz insbesondere im Hinblick auf die dauernde Erfüllbarkeit der Versicherungsverträge stellt. Die technischen Geschäftspläne konnten darum auch noch nicht genehmigt werden.
Zusatzfrage. Bitte, Herr Abgeordneter.
Herr Staatssekretär, liegen der Bundesregierung Erkenntnisse vor, in welchem Umfang die Bevölkerung diese Angebote in Anspruch nimmt?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, absolut sichere Erkenntnisse liegen der Bundesregierung zur Zeit nicht vor. Aber aus dem Diskussionsstand, der in dieser Richtung festzustellen ist, ist zu entnehmen, daß das Interesse an einer derartigen Versicherung recht groß sein wird.
Die zweite Zusatzfrage, bitte.
Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, daß sich dann, wenn das so eintritt, wie Sie das prognostizieren, gesetzgeberische Maßnahmen erübrigen?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich bin der Meinung, daß erst einmal abzuwarten wäre, was sich hier auf privatem Sektor, auf privater Basis abspielt. Danach werden die Gespräche, die ja bereits angelaufen sind, auch in der Richtung, die Sie gerade angedeutet haben, fortzuführen sein.
Weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, hält es die Bundesregierung für möglich, daß sich nach Wirksamwerden dieser Verträge, und falls die entsprechende Inanspruchnahme erfolgt, die Aufwendungen im Bereich der Sozialhilfe wirksam reduzieren werden?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Ich gehe davon aus, Herr Kollege, daß das einen Einfluß darauf haben würde.
Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Ist die Bundesregierung bereit, die Prämienaufwendungen für diese Art Versicherungen als steuerfrei anzuerkennen?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, im Rahmen der Versicherungsaufwendungen, die ja bisher steuerlich begünstigt sind, wird auch diese Versicherung hier steuerlich zu berücksichtigen sein, aber zusätzliche Maßnahmen müßten einer weiteren Entscheidung obliegen.
Keine weitere Zusatzfrage. Danke, Herr Staatssekretär.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft auf. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Grüner zur Verfügung.
Ich rufe Frage 8 des Herrn Abgeordneten Ranker auf:
Sieht die Bundesregierung einen Kapazitätsabbau der Bauwirtschaft, und befürchtet sie einen Mangel an Baukapazität angesichts des künftigen Bedarfs für Gebäudemodernisierung, verkehrsberuhigenden Stadtumbau und Umweltschutz?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege, die Bundesregierung sieht es als notwendig an, daß die Bauwirtschaft Kapazitätsniveau und Kapazitätsstruktur an die geänderten Marktverhältnisse anpaßt. Dieser Prozeß ist derzeit in vollem Gange. Es ist jedoch davon auszugehen, daß die Unternehmen auch künftig genügend Kapazitäten haben werden, um auf den von ihnen genannten Aktivitätsfeldern tätig zu sein. Zum Beispiel können Arbeitskräfte, die nicht mehr im Wohnungsneubau gebraucht werden, in der Gebäudemodernisierung eingesetzt werden.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.
Herr Staatssekretär, mich würde bei Ihren Aussagen einmal interessieren, warum Sie eigentlich die Forderungen sowohl der IG Bau, Steine, Erden als Gewerkschaft wie auch des Arbeitgeberverbandes der Bauindustrie und des Bauhandwerks vollkommen ignorieren, so daß wir nachher vor der Situation stehen, im Bereich der Fachleute am Bau, wenn es nach dieser Krise aufwärts geht, Personalengpässe zu haben?Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wir ignorieren nicht die erhobenen Forderungen, son-
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Parl. Staatssekretär Grünerdern wir lehnen es ab, Sonderprogramme aufzulegen, die insbesondere im Bereich des Wohnungsbaus zu einer Fehlentwicklung führen würden, die wir nicht für vertretbar halten.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Vogel .
Herr Staatssekretär, liegen Ihnen Informationen über die Struktur des Kapazitätsabbaus vor? Ist es nicht z. B. so, daß im wesentlichen im Straßenbau Kapazitäten abgebaut werden, während — es könnte j a sein — parallel dazu im Bereich der Gebäudemodernisierung Kapazitäten erweitert werden, so daß diese Frage nicht zutreffen könnte?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Ich habe keine exakten Zahlen zur Verfügung; aber es ist eindeutig, daß im Hochbau der Kapazitätsabbau auf Grund der nachlassenden Nachfrage im Wohnungsbau die eigentliche Ursache der Schwierigkeiten ist, die in der Bauwirtschaft zu verzeichnen sind.
Sie haben nur eine Zusatzfrage, Herr Vogel.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Müntefering.
Herr Staatssekretär, darf ich Ihre erste Antwort so interpretieren, daß die Bundesregierung ohne jede Einflußnahme zusieht, wie im Bereich der Bauindustrie und des Bauhandwerks weitere Arbeitsplätze verlorengehen und Menschen arbeitslos werden, und wie hoch würden Sie denn von sich aus die Marge für die noch Beschäftigten einschätzen, bei der die Bundesregierung eingreifen muß?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wir sehen nicht tatenlos zu, sondern es wird darüber verhandelt und nachgedacht, welche Maßnahmen im Bereich der Bauwirtschaft vertretbar sein könnten. Eine Entscheidung der Bundesregierung — die im übrigen der Zustimmung des Bundesrats bedürfte — ist bisher noch nicht getroffen worden.
Die Bundesregierung wird keinerlei Kapazitätsprognosen abgeben. Das hat sie in der Vergangenheit nicht getan und wird sie auch nicht in der Zukunft tun. Sie wird auch keine Unter- oder Obergrenzen für Beschäftigung in irgendeiner Branche nennen können; nicht nur, weil sie dazu nicht in der Lage ist, sondern weil das auch Konsequenzen auslösen würde, die nicht zu vertreten wären.
Zusatzfrage, Abgeordneter Dr. Sperling.
Herr Staatssekretär, wollen Sie wirklich bei der Meinung bleiben, daß es nur die Probleme des Wohnungsbaus sind, die für den Kapazitätsabbau der Bauwirtschaft verantwortlich sind, oder sind hier nicht auch die um die Hälfte geschrumpften Investitionen der öffentlichen Hände, die jetzt auf dem niedrigsten Niveau seit 1963 sind, und die im gewerblichen Bau weit zurückgefahrenen Programme der Industrie verantwortlich,
so daß der Kapazitätsabbau auf mehr als auf den Wohnungsbau zurückzuführen ist?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wir werden alle diese Fragen im Laufe der Fragestunde noch mit konkreten Zahlen beantworten; Kollegen haben gerade zu dem Problem des Kapazitätsabbaus Anfragen gestellt. Ich darf insofern auf die Beantwortung dieser Anfragen verweisen.
Ich will nur noch unterstreichen, daß ich den Anlaß für die Krise im Baubereich vorwiegend im Wohnungsbau sehe.
Herr Dr. Kansy zu einer Zwischenfrage.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß die Probleme der Bauwirtschaft im wesentlichen nicht in der Situation des Jahres 1985 begründet liegen, da das Bauvolumen im Jahre 1981 um 4,8 %, im Jahre 1982 um 4,4 % zurückgegangen ist, während wir 1983 ein Plus von 0,7 % und 1984 ein Plus von 1,9 % zu verzeichnen haben, so daß wir die Frage nach den Ursachen — unabhängig von der aktuell schwierigen Situation — sicherlich nicht im Jahre 1985, sondern früher zu suchen haben?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es ist richtig, daß wirtschaftliche Entwicklungen nicht in dem Augenblick ihre Ursache haben, in dem sie in Erscheinung treten, sondern daß ihnen im allgemeinen ein lang anhaltender Prozeß vorausgeht, den wir j a 1982 z. B. im Bereich des Wohnungsbaues mit Sonderprogrammen vorübergehend erfolgreich bekämpft haben. Aber es war auch damals schon klar, daß wir — wie in wahrscheinlich keinem anderen europäischen Land — einen außerordentlich hohen Wohnungsbestand pro Kopf der Bevölkerung haben und daß von der wirtschaftlichen Lage der Bürger her gesehen eine Ausdehnung des Wohnungsbestandes pro Kopf der Bevölkerung — was den statistischen Durchschnitt betrifft — nicht mehr denkbar und nicht erwünscht ist.
Eine Zusatzfrage, Abgeordneter Meininghaus.
Herr Staatssekretär, haben Sie der Zwischenfrage des Kollegen Kansy einen Vorwurf entnommen, weil Sie ja früher schon als Staatssekretär für diesen Bereich zuständig waren?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Nein, ich habe dem keinen Vorwurf entnommen, bin mir aber wohl bewußt, daß wir zu allen Zeiten mit den gleichen Fragen konfrontiert waren und daß zu allen Zeiten Patentrezepte verlangt worden sind, die zu allen Zeiten keine Wirkung hatten.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schmitt .
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Herr Staatssekretär, haben Sie die Stellungnahme der deutschen Bauwirtschaft zur Kenntnis genommen, wonach die Minderung der Baukapazität nicht in erster Linie auf den stagnierenden Wohnungsbau, sondern vor allem auf die fehlenden kommunalen und auch auf die nicht mehr stattfindenden gewerblichen Investitionen im Bereich des Hochbaues zurückzuführen ist, und ist dies für Sie nicht Anlaß, darüber nachzudenken, in diesem Bereich endlich Maßnahmen vorzubereiten?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Bundesregierung hat mit Nachdruck gerade auch an die Kommunen appelliert, vorhandenen Bedarf durch Investitionen abzudecken. Das ist von der Finanzlage der Kommunen her auch durchaus möglich. Es bleibt natürlich trotzdem der Tatbestand, daß wir in den letzten 20 Jahren eine geradezu beispiellose Entwicklung im Bereich der kommunalen Infrastruktur gehabt haben und daß wir heute beispielsweise auch auf Grund des Bevölkerungsrückganges, wenn ich etwa an die geburtenschwachen Jahrgänge denke, in vielen Bereichen nicht mehr den gleichen Bedarf haben wie in den letzten 20 Jahren. Das kann man nicht außer acht lassen. Trotzdem meinen wir — darin stimmen wir mit der Bauwirtschaft überein —, daß die öffentlichen Investitionen ein wichtiger Motor sind und daß es in allen Bereichen — bei Bund, Ländern und Gemeinden — sehr wichtig ist, daß die öffentlichen Investitionen nicht zurückgefahren, sondern erhöht werden, und zwar immer unter der Voraussetzung, daß der Bedarf dafür vorhanden ist und daß die Folgekosten abgedeckt werden können.
Ich rufe Frage 9 des Herrn Abgeordneten Ranker auf:
Sieht die Bundesregierung einen bauwirtschaftspolitischen Handlungsbedarf gegebenenfalls durch ein mittel- oder langfristiges Zinslasterleichterungsprogramm „Bauen und Umwelt"?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Grüner, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung hat sofort nach Übernahme der Regierungsverantwortung 1982 Maßnahmen zur konjunkturellen Stützung der Nachfrage in der Bauwirtschaft ergriffen. Angesichts des hohen Grades der Versorgung mit Wohnraum in der Bundesrepublik wäre heute eine Ausweitung der staatlichen Förderung des Wohnungsbaus nicht vertretbar. Das wird auch von der Bauwirtschaft nicht gefordert. Zur öffentlichen Investitionstätigkeit, die in hohem Maße den Baubereich betrifft, vertraten Bund, Länder und Gemeinden in der letzten Sitzung des Finanzplanungsrates am 28. März 1985 gemeinsam die Auffassung, daß eine Verstetigung und, soweit sich finanzielle Spielräume ergeben, Steigerung der öffentlichen Investitionen als ein wichtiges Ziel der Finanzpolitik anzusehen ist. Sonderprogrammen steht die Bundesregierung ablehnend gegenüber. Sie führen, wie z. B. der SPD-Antrag „Sondervermögen Arbeit und Umwelt", zu zusätzlichen Belastungen von privaten Haushalten, Unternehmen und Kapitalmärkten und sind mit einer Aufweichung des Verursacherprinzips im Umweltschutz verbunden. Massive Zinsverbilligungsaktionen aus Kreditmarktmitteln würden die Konsolidierung gefährden, die Staatsfinanzen wieder ins Gerede bringen und das neue Vertrauen in eine solide Wirtschafts- und Finanzpolitik untergraben.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Ranker.
Herr Staatssekretär, kann ich davon ausgehen, daß Sie sowohl die Anregung der Bayerischen Staatsregierung, den ERP-Kreditrahmen für kommunale Umweltschutzinvestitionen zu erweitern, als auch die Forderung des Baupräsidenten Herion, der ein 10-Milliarden-Programm für die Kommunen im ERP-Bereich verlangt hat, ablehnen werden?
Grüner, Pari. Staatssekretär: Ich habe mich hier mit massiven Zinsverbilligungsprogrammen auseinandergesetzt, wie sie etwa in dem Antrag der SPD-Fraktion „Arbeit und Umwelt" gefordert worden sind, und auf die Folgen eines solchen Programms aufmerksam gemacht. Es ist darauf hinzuweisen, daß die Bundesregierung etwa durch ein Programm der Kreditanstalt für Wiederaufbau zusätzliche Maßnahmen im Umweltbereich finanziell ermöglicht hat, daß sie auch durchaus bereit ist, über Verbesserungen der ERP-Möglichkeiten zu sprechen. Daß das allerdings alles nicht in die Größenordnungen hineingeht, die in der Öffentlichkeit gefordert werden, muß der Ehrlichkeit halber hinzugefügt werden.
Herr Staatssekretär, haben Sie schon zeitliche Vorstellungen, wann diese Maßnahmen greifen sollen?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Die Entscheidungen der Bundesregierung werden in Kürze fallen, wobei ich darauf hinweise, daß die Zustimmung des Bundesrates erforderlich ist und auch von daher der Abstimmungsprozeß seine Zeit in Anspruch nehmen wird, einschließlich natürlich der Notwendigkeit, sich über Inhalte zu verständigen, wenn es etwa darum geht, die allgemein abgelehnte Mischfinanzierung neu zu beleben.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Kansy.
Herr Staatssekretär, könnte es sein, daß die Schwierigkeiten in der Bauwirtschaft auch darauf zurückzuführen sind, daß das Bauen — ohne daß ich den Unternehmen und den Arbeitnehmern persönliche Vorwürfe mache — in der Summe so teuer geworden ist, daß es in weiten Bereichen in Selbsthilfe, in Nachbarschaftshilfe, in Grauarbeit und in Schwarzarbeit gemacht wird? Man sieht es z. B. am Umsatz der Heimwerkermärkte, der sich in den letzten drei Jahren verfünffacht hat.Grüner, Parl. Staatssekretär: Das ist ohne Zweifel eine der Ursachen. Man könnte hinzufügen, daß z. B. die Energiepreiskrise und die gewaltige Verteuerung der Heizkosten natürlich mit dazu geführt
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10282 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. Mai 1985
Parl. Staatssekretär Grünerhat, daß viele es sich nicht mehr leisten können, so viel Quadratmeter Wohnraum in Anspruch zu nehmen und zu beheizen, wie das in der Vergangenheit noch der Fall war. Hinzu kommen selbstverständlich auch die auf Grund der Weltwirtschaftskrise nicht mehr zunehmenden Realeinkommen. All das hat zusammengewirkt und hier Nachfrageeinbrüche ausgelöst. Wir bedauern das angesichts der Arbeitslosigkeit in diesem Bereich.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Sperling.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie nun für die Bundesregierung bauwirtschaftlich Handlungsbedarf sehen und auch Entscheidungen in Kürze angekündigt haben: darf ich davon ausgehen, daß die Wahlergebnisse vom 12. Mai in Nordrhein-Westfalen dieser Einsicht in hohem Maße auf die Sprünge geholfen haben?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das wäre zu kurz gedacht.
Aber es ist ganz klar, daß die Arbeitslosigkeit als ein zentrales innenpolitisches Thema und als ein menschlich außerordentlich bewegendes Thema auch durch die politischen Auseinandersetzungen in Nordrhein-Westfalen zusätzlichen Handlungsbedarf hat sichtbar werden lassen, wobei die entscheidende Aufgabe der Bundesregierung ist, nur Maßnahmen in Erwägung zu ziehen, die tatsächlich etwas bewirken und mit denen nicht das Gegenteil von dem erreicht wird, was eigentlich angestrebt ist.
Herr Abgeordneter Müntefering.
Herr Staatssekretär, wenn das so ist, daß der 12. Mai eine Rolle spielt, denkt dann die Bundesregierung bei der Zeit, die sie sich jetzt in ihren Reaktionen läßt, daran, auch die Wahl in Niedersachsen abzuwarten, damit die Erkenntnisse vielleicht noch stärker und die Programme dann auch noch besser ausgestattet werden?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das wäre also noch einmal zu kurz gedacht. Wenn sie handelt — wenn Sie schon diesen Zusammenhang herstellen —, dann wird sie das natürlich so tun, daß es für Niedersachsen einen Auftrieb gibt.
Zusatzfrage Herr Abgeordneter Jahn.
Herr Staatssekretär, können Sie dem Kollegen Sperling bestätigen, daß die Bundesregierung allein auf dem Gebiete der Städtebauförderung die Mittel von 220 Millionen auf 330 Millionen DM im Jahre 1985 angehoben hat, daß dies eine Anhebung um 50% bedeutet und daß diese 330 Millionen zu einem gesamten Investitionsvolumen von jährlich 3 Milliarden DM führen?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Ich bin Ihnen für diesen Hinweis sehr dankbar, Herr Kollege. Er rundet das Bild dieser Debatte in sehr wirkungsvoller Weise ab.
Keine Zusatzfrage mehr? — Frau Abgeordnete Weyel.
Herr Staatssekretär, können Sie auch mitteilen, wieviel von den eben vom Herrn Kollegen Jahn angesprochenen Mitteln tatsächlich abgerufen worden ist?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Nein; darauf müßte ich dann — möglicherweise mit Hilfe des Kollegen Jahn — schriftlich zurückkommen. Ich habe keine Zahlen verfügbar.
Ich rufe die Frage 10 des Herrn Abgeordneten Dr. Sperling auf:
Auf welche Milliardensumme belief sich der — auch für die Bauwirtschaft bedeutsame — Investitionsstau, der durch die Wende 1982 aufgelöst werden sollte, und wie groß ist er heute?
Grüner, Parl. Staatssekretär: In den 70er und frühen 80er Jahren wurde die Entfaltung privater Initiativen, Leistungs- und Innovationsbereitschaft wesentlich gehemmt. Hinzu kamen vielfältige Interventionen und dirigistische Eingriffe des Staates in den Wirtschaftsablauf. Das Ergebnis waren eine ausgeprägte Investitionsschwäche und ein beträchtlicher Investitionsstau am Ende der 70er bis Anfang der 80er Jahre, der sich naturgemäß einer exakten Quantifizierung entzieht.
Das Ausmaß dieser Fehlentwicklung wird aber daran deutlich, daß die Nettoinvestitionen im Jahre 1982 um nicht weniger als 19,5 % unter dem Niveau des Jahres 1972 lagen. Es ist verständlich, daß eine durchgreifende Besserung dieser prekären Situation längere Zeit beansprucht.
Im Zentrum der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung stehen deshalb die Stärkung der Investitionsfähigkeit und der Investitionsbereitschaft der Unternehmen auf breiter Front und die Beseitigung investitionshemmender Regulierungen und Eingriffe.
Die Entwicklung der Investitionstätigkeit belegt den Erfolg dieser Politik. Die Ausrüstungsinvestitionen der Industrie sind vom Rezessionstiefpunkt im dritten Quartal 1982 bis zum vierten Quartal 1984 saisonbereinigt um rund 15 % gestiegen. Neuere amtliche Zahlen liegen mir noch nicht vor.
Zusatzfrage Herr Dr. Sperling.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen denn klar, wieso bei dieser Auflösung des Investitionsstaus die Bauwirtschaft mit Zahlen aufwarten muß, die bedeuten, daß 50 % der derzeit noch vorhandenen Bauarbeiter entweder arbeitslos sind oder nur Kurzarbeit leisten, warum also eine solche Auflösung des Investitionsstaus an der Bauwirtschaft und ihren Arbeitnehmern nicht nur spurlos vorübergegangen ist, sondern geradezu zu einer
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. Mai 1985 10283
Dr. SperlingVermehrung der Arbeitslosigkeit in der Bauwirtschaft geführt hat?Grüner, Parl. Staatssekretär: Nein, Herr Kollege! Ohne die Auflösung dieses Investitionsstaus hätte sich die Lage am Baumarkt zusätzlich verschlechtert. Es ist hinzuzufügen, daß wir auch heute noch eine ganze Reihe von Investitionshemmnissen haben, die wir etwa aus Umweltschutzgesichtspunkten in Kauf nehmen, die aber ihre wirtschaftlichen Wirkungen entfalten. Wenn wir etwa an die Länge der Baugenehmigungen denken — auch an die vom Umweltschutz veranlaßten Bedingungen —, dann sind hier nach wie vor Hemmnisse gegeben, die im Einzelfall durchaus ihre Berechtigung und ihre Gründe haben, die aber mit in diese Diskussion hineingehören.Wir bemühen uns, beispielsweise durch Vereinfachung des Baurechts, einen Beitrag dazu zu leisten, daß vermeidbare Hemmnisse in der Zukunft weiter abgebaut werden.
Haben Sie noch eine Zusatzfrage, Herr Kollege Dr. Sperling? — Bitte!
Herr Staatssekretär, nachdem nun aber der Regierungswechsel — an dem Sie j a leider nicht teilhatten, denn Sie blieben ja —
eigentlich ein Beschäftigungsprogramm und ein Konjunkturprogramm ersetzen sollte: können Sie da der Bauwirtschaft erklären, wieso das für sie nicht zustande kam?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich glaube nicht, daß die Wiederholung der Aussagen, die ich hier schon gemacht habe, zur weiteren Klärung beiträgt. Ich möchte nur noch einmal darauf hinweisen, daß die Ursachen der Schwierigkeiten der Bauwirtschaft hier sehr eingehend dargestellt worden sind, daß diese Ursachen mit einem Nachfragerückgang zu tun haben, damit, daß die öffentlichen Hände nicht in dem Ausmaße wie in der Vergangenheit öffentliche Investitionen gesteigert haben, daß wir heute Wert darauf legen, daß diese Investitionen nur im Rahmen des Möglichen gesteigert werden, weil nach wie vor die Konsolidierung der Staatsfinanzen, auch vor dem Hintergrund der Folgekosten öffentlicher Investitionen, Grenzen für die Ausweitung dieser öffentlichen Investitionen setzt, und daß wir im entscheidenden Bereich, im privaten Bereich, übrigens auch bei den gewerblichen Bauten, eine erfreuliche konjunkturelle Entwicklung haben, die ohne eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik nicht so eingetreten wäre. Die Lage in der Bauwirtschaft wäre ohne diese erfolgreiche Wirtschaftspolitik sicher noch sehr viel schwieriger als sie sich im Augenblick darstellt.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Vogel .
Herr Staatssekretär, weil Sie sich vorhin so negativ über dirigistische Eingriffe geäußert haben: Können Sie sich meiner Position anschließen, daß dirigistische Eingriffe
nicht zwangsläufig zu Investitionsstaus führen, sondern im Gegenteil sogar zu Investitionsbeschleunigungen führen können? Ich führe hier als Beispiel die Entschwefelung von Kohlekraftwerken an, die zeigt, daß durch dirigistische Eingriffe ganz wesentliche Impulse für neue Investitionen im Umweltbereich geliefert werden können.
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es ist sicher richtig, daß etwa im Bereich des Umweltschutzes durch staatliche Rahmenbedingungen Investitionen vorgeschrieben werden, wie wir sie jetzt etwa im Kraftwerksbau haben, und das auch durchaus Wirkungen am Arbeitsmarkt hat, wenn auch nicht mit der Geschwindigkeit, mit der wir hier die Maßnahmen beschlossen haben; denn diese Beschlüsse haben sich in der Bauwirtschaft doch erst in ersten Schritten niedergeschlagen.
Es bleibt allerdings hinzuzufügen, daß diese zusätzliche Kostenbelastung auf der anderen Seite natürlich Kaufkraftentzug bedeutet, so daß bei volkswirtschaftlicher Betrachtung die Gesamtwirkung der Förderung durch dirigistische Maßnahmen auch Entzugserscheinungen an anderer Stelle beinhaltet. Die einfache Rechnung „mehr Umweltschutz gleich mehr Arbeitsplätze" stellt also nur die halbe Wahrheit dar.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Kansy.
Herr Staatssekretär, angesichts der berechtigten Sorgen um Mittelstau und nicht rechtzeitig abgenommene Bundesmittel: Könnte vielleicht der Hinweis an den sozialdemokratischen Kollegen Sperling und an den grünen Kollegen Vogel hilfreich sein, daß, sieht man alle Haushaltspläne zusammen, insbesondere das Land Hessen die Mittel nicht abgenommen hat?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich nehme das zur Kenntnis. Mir ist das nicht bekannt. Ich werde aber im weiteren Verlauf der Fragestunde noch Gelegenheit haben, im anderen Zusammenhang zum Abfluß der Mittel Stellung zu nehmen.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Müntefering.
Herr Staatssekretär, da 1983 bei Ihnen die Version galt, daß die Sozialdemokraten in der Regierung und die Mietgesetze die entscheidenden Gründe für den Investitionsstau seien, frage ich, nachdem die Sozialdemokraten nicht mehr regieren und Sie das Mietrecht erheblich zusammengestrichen haben: Wie ist denn der noch verbliebene Investitionsstau zu erklären?Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die großen während der sozialliberalen Koalition in der Offentlichkeit diskutierten Themen, die auch im Zusammenhang mit dem Investitionsstau standen, waren das Mietrecht — das ist richtig —, die Kernenergie, der sogenannte Verkabelungsstopp. Alle diese Dinge haben damals eine große Rolle gespielt. Und es ist festzustellen, daß durch unsere tatkräftige Handlungsweise die Gründe, die damals für
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10284 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. Mai 1985
Parl. Staatssekretär Grünerden Investitionsstau in erheblichem Maße ursächlich waren, in einem ganz erheblichen Umfange beseitigt werden konnten. Das ändert aber nichts daran, daß die Gesamtentwicklung in der Bauwirtschaft trotz dieser Erleichterungen so ist, wie sie hier im Augenblick besprochen wird.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Jahn.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß die Investitionsstaus, die die Bundesregierung bei ihrem Amtsantritt vorgefunden hatte — ich meine die auf dem Gebiete der Verkabelung, des Kraftwerksbaus und des Wohnungsbaus —, vornehmlich politisch und weniger ökonomisch bedingt waren?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Ja, das ist uneingeschränkt zu bestätigen, Herr Kollege, wobei ich nicht etwa die politische Berechtigung derartiger Überlegungen bestreite, nur eben auch die Verantwortung bei denen sehe, die diese politischen Überlegungen damals durchzusetzen versucht haben.
Ich darf mir die Bemerkung erlauben, daß wir dann, wenn wir bei jeder Frage so lange bleiben, in dieser Fragestunde nicht einmal diesen Geschäftsbereich schaffen. Vielleicht können die Kollegen das bei ihrem Fragebedarf ein bißchen berücksichtigen.
Herr Abgeordneter Menzel, Sie haben eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, da die Auflösung des Investitionsstaus nach Ihrer Darstellung soeben zu einer kurzfristigen Belebung der Bauwirtschaft geführt hat, die Arbeitslosenzahlen aber in der Zeit der neuen Regierung dramatisch gestiegen sind: Muß man daraus nicht schließen, daß der Anstieg der Arbeitslosenzahlen in den anderen Branchen dann, wenn dieser Investitionsstau nicht aufgelöst worden wäre, noch dramatischer gewesen wäre?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wir haben die Arbeitslosigkeit und ihre Probleme nie verkannt. Es war ja gerade Ihre Fraktion, die wesentlich höhere Arbeitslosenzahlen vorausgesagt und für unausweichlich gehalten hat. Man muß sich vergegenwärtigen, daß wir 1984 nicht die Arbeitslosigkeit gehabt haben, die Sie für unausweichlich gehalten haben. Das ist auch ein Teil des Erfolgs der Regierungspolitik. Aber das heißt natürlich nicht, daß wir etwa sagen könnten, wir seien durch die Entwicklung befriedigt. Allerdings haben wir weit mehr erreicht, als je für möglich gehalten worden ist, j a, selbst mehr, als wir im Jahreswirtschaftsbericht 1983 und im Jahreswirtschaftsbericht 1984 selber für erreichbar gehalten haben. Es ist meiner Ansicht nach wichtig, sich das in Erinnerung zu rufen.
Ich rufe die Frage 11 des Herrn Abgeordneten Dr. Sperling auf:
In welchem Zeitraum wird dieser Investitionsstau aufgelöst sein oder sich ganz verflüchtigt haben?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Je schneller es gelingt, die Rahmenbedingungen widerspruchsfrei und leistungsfreundlich zu gestalten, desto besser wird es gelingen, Fehlentwicklungen und Hemmnisse bei der Investitionstätigkeit abzubauen. Die Bundesregierung hat erhebliche Fortschritte erzielt, insbesondere bei der Sanierung der Staatsfinanzen. Weitere wichtige Weichen zur Verbesserung der Wachstumsbedingungen sind gestellt. Ich erinnere z. B. an die Steuerreform, Entbürokratisierungsmaßnahmen, das Beschäftigungsförderungsgesetz sowie das Unternehmensbeteiligungsgesetz.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Sperling.
Herr Staatssekretär, da Sie dem Kollegen Jahn soeben geantwortet haben, daß ein Investitionsstau im Wohnungsbau aufgelöst worden sei, darf ich Sie fragen, wie Sie das mit dem Gutachten des Sachverständigenrats in Übereinstimmung bringen, das von vorgezogenen Nachfrageeffekten gesprochen hat, d. h., daß der Bau von Wohnungen vorgezogen worden ist, die eigentlich erst in Zukunft hätten gebaut werden sollen, mit der Folge, daß das Loch deswegen jetzt besonders tief ist.
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wir alle waren uns darüber im klaren, daß etwa im Zusammenhang mit der Diskussion um die Abschaffung der Vorteile der Abschreibungsmodelle, die übrigens in der sozialliberalen Koalition beschlossen worden sind, auch bestimmte Vorzieheffekte entstehen würden, die man in Kauf genommen hat. Diese Wirkung ist ohne Zweifel eingetreten. Das ist übrigens auch ein Zeichen dafür, daß konjunkturelle Maßnahmen, auch wenn sie in der Veränderung oder der Verbesserung der Rahmenbedingungen bestehen, unter Umständen einen Effekt auslösen, der zunächst sehr positiv aussieht, der aber dann mit einem um so größeren Rückschlag endet, wenn die Nachfrage insgesamt von Momenten beeinflußt wird, die nicht dauerhaft tragen.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Sperling.
Herr Staatssekretär, Sie hoffen auf die weitere Auflösung des Investitionsstaus und verweisen darauf, daß Sozialdemokraten sehr pessimistische Schätzungen über die Arbeitslosenentwicklung vorgenommen haben: Können Sie sich noch der Zahlen erinnern, die die Minister Blüm und Geißler verbreitet haben, wonach sich die Zahl der Arbeitslosen 1985 höchstens noch auf eine Million belaufen solle,
so daß der übertriebene Pessimismus durch einen übertriebenen Optimismus mehr als überkompensiert wird?
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. Mai 1985 10285
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, mir sind die Zahlen, die Sie hier nennen, nicht bekannt.
Ich meine, daß es richtig ist, sich an die Äußerungen der Bundesregierung zu halten und etwa auf den Jahreswirtschaftsbericht zu verweisen, der dem Parlament von der Bundesregierung vorgelegt und im Parlament diskutiert wird.
Aber ich glaube, Herr Kollege, daß es andererseits auch richtig ist, der Schwarzmalerei Optimismus entgegenzusetzen. Das ist eine politische Aufgabe. Dabei sind wir uns wohl darüber im klaren, daß sich sowohl der bewußte Pessimist als auch der bewußte Optimist irren kann. Beide haben ihre Funktion, allerdings meine ich, daß Anlaß besteht, mehr zum Optimismus zu neigen.
Ich rufe die Frage 12 des Herrn Abgeordneten Menzel auf:
Wie viele Beschäftigte hatte die Bauwirtschaft in den Jahren seit 1980 jeweils im Jahresdurchschnitt und in den ersten Monaten, und was sind die Ergebnisse und Aussichten für 1985?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Beschäftigtenzahl im Bauhauptgewerbe hat sich in den Jahren seit 1980 wie folgt entwickelt — ich wäre dankbar, wenn ich nun nicht die ganzen Zahlenreihen vorzulesen bräuchte, sondern nur die Tendenz angeben könnte; die ganzen Zahlenreihen werden Ihnen selbstverständlich schriftlich übermittelt —: 1980: 1 262 848, 1984: 1 105 745. Für die ersten Monate des jeweiligen Jahres ergibt sich folgendes Bild: im Januar 1980 1 208 282, im Januar 1985 981 949. Wie gesagt, die anderen Zahlen werde ich Ihnen schriftlich geben.
Die Bundesregierung lehnt es aus grundsätzlichen Überlegungen ab, exakte Kapazitätsprognosen für einzelne Wirtschaftszweige zu geben, so daß ich Ihnen keine Zahlen über die weitere Beschäftigungsentwicklung in diesem Jahr geben kann. Es spricht allerdings einiges dafür, daß der im vergangenen Jahr einsetzende strukturelle Anpassungsprozeß der Kapazitäten noch nicht zum Stillstand gekommen ist.
Keine Zusatzfrage von Ihnen, Herr Kollege Menzel. — Herr Kollege Dr. Kansy, Sie haben eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, da der Kapazitätsabbau und leider damit auch der Personalabbau der Bauwirtschaft ja schon wesentlich früher eingesetzt haben muß; denn wir haben zwischen 1975 und 1982 rund 500 000 Arbeitsplätze im Bauhauptgewerbe verloren: Ist es nicht richtig, daß es weniger auf aktuelle Momente und aktuelle Programme, sondern tatsächlich mehr auf einen Bereinigungsprozeß hinausläuft, der von einer Bundesregierung nur begrenzt beeinflußbar ist?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Ich meine, daß diese Schlußfolgerung richtig ist, Herr Kollege.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Sperling.
Herr Staatssekretär, dann stimmt es, daß für die Bauwirtschaft auch aus Ihren Antworten an Optimismus nichts zu holen ist?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Was die Arbeitsmarktentwicklung anlangt, ist es richtig, daß man hier keine günstige Prognose stellen kann.
Ich rufe Frage 13 des Herrn Abgeordneten Menzel auf:
Wie groß waren Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit und Arbeitskräfteabbau in der Bauwirtschaft in den Jahren seit 1980, und welche Zahlen erwartet die Bundesregierung für 1985?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Hinsichtlich des Arbeitskräfteabbaus finden Sie die entsprechenden Zahlen bereits in der Antwort auf die vorangehende Frage.
Die Jahresdurchschnittszahlen über die Arbeitslosigkeit in den Bauberufen und die Kurzarbeiterzahl seit 1980 lauten wie folgt — auch hier gebe ich nur 1980 und 1984 an, die anderen Zahlen gebe ich schriftlich —: 1980 82 464 Arbeitslose, 1984 166 559 Arbeitslose, 1980 2 237 Kurzarbeiter, 1984 85 588 Kurzarbeiter, wobei die Entwicklung in der Zwischenzeit stetig nach oben gerichtet war — im negativen Sinne —, wie dann aus der Zahlenreihe hervorgehen wird.
Die Bundesregierung stellt keine quantitative Prognose für Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit in einzelnen Wirtschaftszweigen auf.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Menzel.
Herr Staatssekretär, können Sie darüber Auskunft geben, welchen Einfluß die Misere in der Bauwirtschaft — sie ist j a gerade deutlich geworden — unter Berücksichtigung ihres hohen Multiplikatoreffektes auf die anderen Branchen und die dramatisch hohe Zahl von Arbeitslosen, die wir jetzt haben, hat?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, leider kann ich das quantitativ nicht tun, aber es ist gar keine Frage, daß die wirtschaftliche Entwicklung — nicht nur am Arbeitsmarkt, sondern insgesamt — in der Bundesrepublik Deutschland deutlich besser wäre, wenn es diese Schwierigkeiten bei der Bauwirtschaft nicht gäbe.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sieht die Bundesregierung nicht die Gefahr, daß die vielen Firmenzusammenbrüche gerade in der Bauwirtschaft und der damit verbundene Verlust an Facharbeitern dazu führen können — das frage ich ausdrücklich —, daß die Bauwirtschaft von der Kapazität und von der fehlenden Facharbeiterzahl her bei einem wirtschaftlichen Aufschwung nicht mehr in der Lage ist, ihre Aufgaben zu erfüllen?
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10286 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. Mai 1985
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es ist keine Frage, daß ein Kapazitätsabbau diese negativen Folgen im Einzelfall haben kann. Das ist trotzdem unvermeidbar und unausweichlich, wenn ich die Prämisse bejahe, daß es keine Möglichkeit der öffentlichen Hände gibt, grundlegend bauwirtschaftliche Aktivitäten mit öffentlichen Mitteln zu fördern, für die kein Bedarf besteht.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Müntefering.
Herr Staatssekretär, wenn es diesen Investitionsstau und den hier angesprochenen Investitionsbedarf insbesondere im kommunalen Bereich gibt und damit zweifellos im Hochbau und im Tiefbau Arbeitsplätze geschaffen und gesichert werden können: Wann wird die Bundesregierung im Interesse der dort beschäftigten Menschen im Rahmen ihrer Möglichkeiten etwas unternehmen?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung wird in Kürze zu den erhobenen Forderungen und den innerhalb der Bundesregierung und außerhalb der Bundesregierung — etwa von Landesregierungen — angestellten Überlegungen Stellung nehmen und ihre Entscheidung bekanntgeben.
Zusatzfrage, Dr. Kansy.
Herr Staatssekretär, wie bewerten Sie angesichts der Befürchtung der sozialdemokratischen Kollegen, daß die Kapazität zu stark abgebaut werde, die Tatsache, daß wir im letzten Jahr zwar 2 000 Insolvenzen und rund 3 000 stille Liquidationen hatten, aber 5 000 Neugründungen im Bereich der Bauwirtschaft?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Es ist ein wichtiger Hinweis, Herr Kollege, daß der Kapazitätsabbau, der Strukturwandel für sich allein genommen nicht ein negatives Zeichen sein muß. Der größte Arbeitsplatzabbau, den wir in unserer Wirtschaftsgeschichte erlebt haben, ist j a in den Zeiten von 1950 bis 1970 geschehen, hat aber nicht zu den jetzt mit Recht beklagten negativen Auswirkungen geführt, weil neue Arbeitsplätze an die Stelle der weggefallenen getreten sind. Das war das Ergebnis einer wettbewerbsfähigeren Wirtschaft und eines Strukturwandels, der den einzelnen, der damals aufgeben mußte, natürlich genauso hart getroffen hat, nur mit der größeren Chance, einen neuen Arbeitsplatz zu finden.
Unsere Wirtschaftspolitik zielt darauf ab, möglichst vielen Mitbürgern diese Chance auch in Zukunft zu erhalten, wobei wir darauf nicht allein Einfluß haben.
Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Weyel.
Herr Staatssekretär, ist der Bundesregierung bekannt, daß ein Teil dieser Neugründungen dadurch zustande kam, daß nach Konkursen, vor allen Dingen nach Konkursen von Firmen, die eigentlich noch ein Auftragsvolumen
hatten, die Belegschaften sich dazu gezwungen sahen, eine eigene Firma als Auffanggesellschaft für die Arbeitnehmer zu gründen?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Mir ist das im Einzelfall nicht bekannt. Aber richtig ist, daß sehr viele Unternehmensneugründungen auch damit zusammenhängen, daß in Schwierigkeiten geratene Unternehmen übernommen und durch Neugründungen fortgeführt werden, was im Einzelfall sehr positiv sein kann. Die Gründe für Konkurse sind ja vielfältiger Natur. Sie haben natürlich auch etwas mit den hohen Kosten zu tun, die mit unserer sozialen Gesetzgebung verbunden sind.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Vogel .
Herr Staatssekretär, sind Sie auch der Meinung, daß die Zahl der Neugründungen nur von relativer Bedeutung ist, wenn man bedenkt, daß ein Großteil dieser Neugründungen in den ersten zwei Jahren nach der Gründung schon wieder in Konkurs geht? Nach den mir vorliegenden Zahlen gehen 60 % der Neugründungen in den darauf folgenden zwei Jahren wieder in Konkurs.
Grüner, Parl. Staatssekretär: Ich kann diese Zahl nicht bestätigen. Sie beziehen sich ja auch auf Unternehmensneugründungen insgesamt. Übrigens sind unsere Erfahrungen bei den geförderten Neugründungen sehr viel günstiger. Trotzdem bleibt der Tatbestand, daß an der Lage der Bauwirtschaft, die wir hier besprechen, durch die Neugründungen nichts Grundsätzliches geändert wird, daß es aber ein sehr positives Zeichen ist, daß es diese Neugründungen gibt und daß darin auch eine Chance für die Zukunft trotz der unbestreitbaren Risiken liegt, die mit jeder Neugründung verbunden sind und immer verbunden waren. Daß viele Neugründungen nicht erfolgreich sind, gehört mit zu diesem marktwirtschaftlichen Prozeß.
Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Hürland.
Herr Staatssekretär, können Sie mir bitte angesichts der Tatsache, daß das Gewicht des Ruhrgebietes weiter schwindet — die Nettoproduktion im Bundesgebiet ist in den letzten zehn Jahren um fast 20% gestiegen, im Ruhrgebiet um ganze 1,7 % —, eine Aufstellung darüber geben — wenn Sie sie nicht zur Hand haben, bitte ich, mir das schriftlich nachzureichen —, in welchen Ländern — ob von SPD oder CDU/CSU geführt — diese Entwicklung, die in der Fragestunde zur Sprache gekommen ist, am gravierendsten ist?Grüner, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich bin nicht sicher, ob ich Ihnen das nach Ländern aufgeteilt geben kann. Aber ich werde mich darum gerne bemühen, wobei ich hinzufüge, daß die strukturellen Schwierigkeiten unabhängig von der jeweiligen Regierung vorhanden sind. Wir sind j a gemeinsam über die Probleme von Stahl und Kohle
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. Mai 1985 10287
Parl. Staatssekretär Grünerbesorgt. Es ist nur eine unterschiedliche Art, wie man den Strukturwandel angeht, ob man bereit ist, ihn zu akzeptieren im Interesse neuer Arbeitsplätze, oder ob man ihn künstlich verzögern will und damit zusätzliche Probleme schafft.
Zusatzfrage, Dr. Sperling.
Herr Staatssekretär, würden Sie angesichts der Nichtbeteiligung der FDP an Länderregierungen mit Ausnahme Berlins die Frau Kollegin mit aller Ausgewogenheit darauf aufmerksam machen können, daß in Schleswig-Holstein und Niedersachsen einstweilen noch die CDU regiert?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Ich glaube, es bedarf keiner Kommentierung, Herr Kollege, daß Sie eine Wahrheit festgestellt haben.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jahn.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß das Investitionsklima insgesamt beispielsweise in den Ländern Bayern und Baden-Württemberg wesentlich besser ist als in Nordrhein-Westfalen, und auf welche Ursachen führen Sie dies zurück?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das ist ein sehr vielschichtiges Problem. Aber es ist für mich — wenn ich diese politische Wertung abgeben darf — gar keine Frage, daß der Appell an die Neidgefühle oder Schlagworte wie „Der Aufschwung ist nicht für Millionen, sondern nur für Millionäre" nicht gerade investitionsfördernd sind.
Ich rufe die Frage 14 des Herrn Abgeordneten Schmitt auf:
Wie hoch war die Zahl der Konkurse in der Bauwirtschaft in den Jahren 1980 bis 1984 je Jahr insgesamt, und wie viele Konkurse in der Bauwirtschaft gab es jeweils in den Monaten Januar, Februar, März, April in diesen Jahren und im gleichen Zeitraum 1985?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Die Zahl der Insolvenzen im Baugewerbe hat sich in den Jahren 1980 bis 1984 wie folgt entwickelt — Herr Kollege, auch hier will ich nur zwei Zahlen nennen und Ihnen die Reihe schriftlich geben —: 1980 1 328, 1984 2 765, in den Zwischenjahren mit steigender Tendenz.
Für die von Ihnen genannten Monate bis April ergibt sich folgendes Zahlenbild: im Januar 1980 97 und im Januar 1985 287. Die anderen Zahlen werde ich Ihnen ebenfalls schriftlich nachreichen, weil uns das überfordern würde und man es auch nicht aufnehmen kann, wenn es mündlich vorgetragen wird.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schmitt.
Herr Staatssekretär, muß Sie diese steigende Zahl von Insolvenzen insbesondere in der Bauwirtschaft nicht schrecken, und können Sie dieser Entwicklung, bei der immer mehr Arbeitnehmer - ihren Arbeitsplatz verlieren und mittelständische Existenzen vernichtet werden, zuschauen, d. h. erfordert das nicht vielmehr ein unmittelbares Handeln der Bundesregierung durch Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Bauwirtschaft, insbesondere für den Mittelstand?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Ich meine, es ist richtig, daß Entscheidungen über Verbesserungen der Rahmenbedingungen getroffen werden. Eine der wesentlichsten Verbesserungen läge in einer Verbesserung und Verstetigung etwa der kommunalen Einnahmen. Allerdings sind das sehr weitreichende Entscheidungen, die nicht in dieser Legislaturperiode getroffen werden können.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.
Herr Staatssekretär, wenn Sie bis 1987 Ihre Erblast, d. h. Belastungen durch die Wirtschaftspolitik, nicht noch vergrößern wollen, ist dann nicht für die Betroffenen, und zwar für die Bauarbeiter, die Handwerker und Bauunternehmen eine Hilfe jetzt erforderlich, und sollten Sie dann die Erkenntnisse — Verstärkung der kommunalen Finanzsituation — nicht auch in Regierungstätigkeit umsetzen?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich meine nicht, daß das die richtige Sicht ist. Wir haben eine Fülle von Investitionsnotwendigkeiten, etwa in der Modernisierung, in der Energieeinsparung, in Altbauten. Wir haben durch gesetzliche Vorschriften im Umweltschutz große Investitionsprogramme erzwungen. Es geht nun darum, daß sie umgesetzt werden. Aber bei den Unternehmen ist das eine Frage der Ertragslage und bei den Privaten eine Frage der Einkommenslage. An dieser Stelle müssen wir ansetzen: Vorrang für Investitionen und nicht Vorrang für neue konsumtive Ausgaben in allen möglichen Bereichen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Vogel .
Herr Staatssekretär, weil j a auch die Zahl der Konkurse nur von relativer Bedeutung ist: Können Sie etwas über die Verteilung der Konkurse auf die Betriebsgrößen sagen — denn es ist ja ein Unterschied, ob ein Riesenunternehmen oder ein kleines mit drei Mann kaputtgeht —, und etwas über die Struktur in Richtung Nord-Süd? Ist es in der Tat so, daß im Süden die Bauwirtschaft — wie man lesen kann — relativ unverändert ist, während die großen Pleiten im Norden stattfinden?Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich kann Ihnen dazu hier aus dem Stande keine Auskunft geben. Ich zweifle auch daran, daß es möglich ist. Aber ich werde mich darum bemühen und Ih-
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10288 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. Mai 1985
Parl. Staatssekretär Grünernen das schriftlich zuleiten, wenn ich dafür Zahlen zur Verfügung haben sollte.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Sperling.
Herr Staatssekretär, haben Sie noch eine Erinnerung daran, daß der frühere Ministerpräsident Stoltenberg in seiner Eigenschaft als Ministerpräsident die ständig steigenden Konkurszahlen unter der alten Regierung dem Minister Lambsdorff und seinen Helfern zum Vorwurf machte und ständig von neuen Horrorzahlen sprach, und haben Sie den Ausdruck „Horrorzahlen" angesichts der immer noch steigenden Insolvenzenwelle von Herrn Stoltenberg noch einmal gehört, seit er im Kabinett ist?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es ist durchaus richtig, daß die jeweilige Opposition jede negative Entwicklung der Regierung anzulasten sich bemüht und daß man dabei mit der Wortwahl nicht zimperlich ist. Daran hat sich überhaupt nichts geändert. Wenn ich die Augen schließe, meine ich wirklich, es habe sich nichts geändert. Das, was heute von Ihnen kommt, unterscheidet sich in keiner Weise von den Auseinandersetzungen in der Vergangenheit.
Herr Dr. Kansy, eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist nicht die Argumentation unserer SPD-Kollegen insofern nicht ganz stichhaltig, als Probleme der Bauwirtschaft, die keiner abstreitet, nicht wegen fehlender, sondern trotz erheblicher Bundessonderprogramme im Bauwesen in den letzten Jahren eingetreten sind und sich gezeigt hat, daß man mit klassischen Programmen nichts mehr machen kann und wir, wenn wir über etwas nachdenken, dann mehr marktwirtschaftliche Instrumente im Steuerbereich oder in ähnlichen Bereichen künftig nehmen sollten?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Das ist richtig. Darin liegt der entscheidende Unterschied: daß diese Koalition dazu in der Lage ist, dazu auch bereit ist und die Mehrheiten für diese angebotsorientierte Politik hat. Daß das nicht mit der wünschenswerten Schnelligkeit auch tatsächliche Wirkungen erzeugt, hängt mit unserer gesamtwirtschaftlichen Lage zusammen und eben auch mit dem Tatbestand, daß wir heute nicht die realen Einkommenszuwachsraten haben, die eigentlich notwendig wären, um all die großen Programme zur Energieeinsparung umzusetzen, beispielsweise in der Altbaumodernisierung, wo riesige Investitionen möglich wären und sich auch rentieren würden, wenn die Leute dafür das Geld in die Hand nehmen könnten. Das ist eigentlich die große Schwierigkeit, die wir haben, und natürlich die Umstellung, die damit verbunden ist. Denn Altbaumodernisierung setzt andere Baukapazitäten voraus als etwa der Neubau. Diese Umstrukturierung ist ein sehr, sehr schwieriger und schmerzlicher Prozeß.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Menzel.
Herr Staatssekretär, Sie haben gerade die in jeder Hinsicht positiven Auswirkungen der Energiesparmaßnahmen erwähnt. Darf ich Sie fragen, warum denn unter Berücksichtigung dieser Erkenntnis die direkte Förderung der Energiesparmaßnahmen durch die Bundesregierung eingestellt worden ist?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, der entscheidende Grund ist, daß sich diese Energiesparmaßnahmen selber tragen, daß sie sich selber rechnen und daß es deshalb die Bundesregierung für vertretbar gehalten hat, einen zusätzlichen finanziellen Anreiz für diese Energiesparmaßnahmen nur noch auf solche Förderungstechniken zu konzentrieren, die sich noch nicht rentieren, wie z. B. Wärmepumpen oder Solarzellen — um Beispiele zu nennen. Das ist der Grund, warum diese Zuschüsse weggefallen sind.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Müntefering.
Da der Freistaat Bayern und andere Bundesländer gefordert haben, im Interesse der Beschäftigten der Bauindustrie und der mittelständischen Bauindustrie die Neuregelung der steuerlichen Förderung selbstgenutzten Wohneigentums bereits zum 1. Januar 1986 und nicht erst zum 1. Januar 1987 in Kraft zu setzen: Teilt der Bundeswirtschaftsminister diese Auffassung?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Aus wirtschaftlicher Sicht wäre das sicher eine durchaus begrüßenswerte Maßnahme. Allerdings muß sie in den Gesamtzusammenhang der Überlegungen, die die Bundesregierung im Augenblick anstellt, einbezogen werden. Die Entscheidung, die die Bundesregierung trifft, wird natürlich auch diesen Komplex umfassen.
Zusatzfrage, Herr Dr. Jahn.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß der Zeitpunkt für das Auslaufen des Energieeinsparungsprogramms, von dem Herr Kollege Menzel sprach, von der alten Bundesregierung festgelegt worden ist?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Das kann ich bestätigen, Herr Kollege.
Ich rufe die Frage 15 des Herrn Abgeordneten Schmitt auf:
Wie entwickelte sich die Auftragsreichweite in der Bauwirtschaft in den Jahren seit 1980 im Jahresverlauf, insbesondere im ersten Vierteljahr, und welche Entwicklung der Auftragsreichweite wird für das Jahr 1985 seitens der Bundesregierung erwartet?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Nach den Erhebungen des Ifo-Instituts hat die Reichweite der Auftragsbestände im Bauhauptgewerbe in den Jahren seit 1980 folgenden Verlauf genommen — auch hier lese ich nicht die ganze Zahlenreihe vor, sondern nehme lediglich die Januarmonate —: 1980 3,1 Monate, 1981 2,6, 1982 2,0, 1983 2,0, 1984 2,2 und 1985 1,7. Ich werde Ihnen die Zahlen für die übrigen Monate schriftlich zuleiten.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist nicht auch diese in Zahlen so eklatant bedenkliche Entwicklung eine unmittelbare Aufforderung, wenigstens die Entscheidungen zu treffen, von denen die Bundesregierung behauptet, sie seien marktwirtschaftlich konform? Wir haben ja festzustellen, daß selbst diese Entscheidungen von Ihrer Seite nicht getroffen werden. Sind Sie endlich bereit zum Handeln?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich meine, daß diese Entscheidungen getroffen werden müssen, daß sie aber in Abwägung mit den Auswirkungen auf den Staatshaushalt getroffen werden müssen. Eine der entscheidendsten Bremsen für die Bauwirtschaft in allen Bereichen ist die Höhe des Zinsniveaus. Daß diese Höhe des Zinsniveaus von den Staatsausgaben ganz entscheidend mitbestimmt wird, wissen wir ja alle.
In der Abwägung zwischen diesen beiden Fragen wird die Bundesregierung ihre Entscheidung zu treffen haben.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, können wir davon ausgehen, daß die Initiativen des Freistaats Bayern das Denkvermögen und die Entscheidungsfähigkeit der Bundesregierung entsprechend stützen und wir deshalb wenigstens durch neue Bundesratsmehrheiten bessere Ergebnisse für die Bauwirtschaft erwarten können?
Grüner, Parl. Staatssekretär, Herr Kollege, es ist ganz selbstverständlich, daß die Bundesregierung mit besonderer Aufmerksamkeit die Meinung der Länder in diesem Bereich zur Kenntnis nimmt, weil sie im übrigen mit allen ihren Maßnahmen auf die Zustimmung des Bundesrates angewiesen ist.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Sperling.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie die Staatsfinanzen so beachtenswert schonen wollen: Ist Ihnen klar, daß unterlassener Umweltschutz, auch unterlassene rechtzeitige Gebäudesanierung später sehr viel höhere Kosten verursachen wird, die um so höher sein werden, je mehr Kapazitäten, die jetzt vernichtet werden, zu höheren Preisen erst wieder aufgebaut werden müssen, so daß es sehr tunlich wäre, etwas zur Kapizitätsbewahrung in der Bauwirtschaft zu tun?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, nach dem Verursacherprinzip kann kein Umweltschutz
unterlassen werden, weil wir ihn gesetzlich vorschreiben. Die großen Investitionen, die etwa durch die Großfeuerungsanlagen-Verordnung ausgelöst werden und nicht durch staatliche Mittel angereizt werden müssen, sondern durch gesetzlichen Zwang umgesetzt werden, kennen Sie.
Anders sieht es im Bereich der Privaten aus, etwa bei Energieeinsparungen, wo der einzelne seine Investitionsentscheidungen selbst treffen muß, wo es allenfalls um die Frage gehen kann, ob der Staat dazu eine Hilfestellung geben soll, wie wir es etwa im Zusammenhang mit dem abgasarmen Auto entschieden haben. Das ist die andere Frage. Aber damit kommen die Größenordnungen ins Spiel, die ich eben im Blick auf das Zinsniveau als ebenfalls bedenkenswert bezeichnet habe.
Ich rufe die Frage 16 des Herrn Abgeordneten Meininghaus auf:
Welches Auftragsvolumen erhielt die Bauwirtschaft in den Jahren seit 1980 durch öffentliche Auftraggeber des Bundes?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Das Volumen der Bauaufträge, die von öffentlichen Auftraggebern des Bundes vergeben wurden, beläuft sich in den Jahren 1980 bis 1984 wie folgt: 1980 3,5 Milliarden DM, 1981 3,7 Milliarden DM, 1982 4,6 Milliarden DM, 1983 5 Milliarden DM und 1984 5,4 Milliarden DM. Insgesamt sind es 22,2 Milliarden DM. In diesem Auftragsvolumen des Bauministers sind auch die Hochbaumaßnahmen des Bundesministers der Verteidigung enthalten.
Im Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr sind 1980 für den Fernstraßenbau 4,9 Milliarden DM, 1981 4,4 Milliarden DM, 1982 4,1 Milliarden DM, 1983 4,2 Milliarden DM und 1984 4,1 Milliarden DM vorgesehen. Insgesamt sind es 21,7 Milliarden DM.
Eine Zusatzfrage.
Können Sie mir sagen, warum hier ein Rückgang zu verzeichnen ist?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Es ist kein Rückgang, sondern ein Anstieg zu verzeichnen.
— Es ist richtig: Im Straßenbau ist ein Rückgang — wenn auch mit Schwankungen — seit 1980 von 4,9 Milliarden DM auf 4,4 Milliarden DM in 1981, 4,1 Milliarden DM in 1982 und 4,1 Milliarden DM 1984 zu verzeichnen. Das sind die Entscheidungen, die die Bundesregierung für den Bundesfernstraßen-bau getroffen hat und die vom Parlament in dieser Form akzeptiert und genehmigt wurden.
Zusatzfrage.
Haben Sie in diesem Zusammenhang auch die Zahlen für Länder und Gemeinden? Wenn Sie sie jetzt nicht vorrätig haben, können Sie sie mir zuschicken.Grüner, Parl. Staatssekretär: Ich habe diese Zahlen nicht vorrätig. Ich werde versuchen, sie zu beschaffen und Ihnen zuzuschicken.
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10290 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. Mai 1985
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Kansy.
Herr Staatssekretär, ist es nicht so, daß von allen öffentlichen Stellen, die investiert haben, es gerade der Bund war, der erheblich ausgeweitet hat und weiter ausweiten wird, und zwar nicht nur im Bereich des Straßenbaus, sondern z. B. auch im Bereich der Bahn, wo die Investitionszuschüsse um 500 Millionen DM erhöht wurden, und im Bereich der Post, wo wir 1983 erst 1,4 Milliarden DM Mittel hatten und 1985 schon 2,1 Milliarden DM haben?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Das ist richtig, Herr Kollege. Ich füge hinzu, daß im Bereich des Straßenbaus öffentliche Investitionen zusätzlicher Art durchaus denkbar sind, die vor dem Hintergrund unserer Lage auf dem Baumarkt und auch etwa mit Blick auf Umgehungsstraßen und anderes vertretbar wären, daß aber auch hier für die Bundesregierung die Frage der Ausgewogenheit mit Blick auf die Konsolidierungsaufgabe nach wie vor eine hohe Priorität genießt. Dieser Abwägungsprozeß muß vor dem Hintergrund der hier diskutierten Lage erneut besprochen und noch einmal diskutiert werden.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Menzel.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie gerade dem Kollegen Kansy bestätigt haben, daß der Bund sich auf diesem Sektor so besonders engagiert hat, und da unstreitig ist, daß 53 % der gesamten Bauproduktion von der öffentlichen Hand ausgeht, frage ich: Wie erklären Sie sich dann die Misere in der gesamten Bauwirtschaft? Ist sie hauptsächlich auf das Verhalten des Bundes zurückzuführen? Anders ist es doch bei diesem großen Anteil der öffentlichen Hände nicht zu erklären.
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, zwei Drittel aller öffentlichen Investitionen werden durch Städte und Gemeinden getätigt. Dort liegt tatsächlich der Schwerpunkt. Die Bundesregierung hat sich in all den Jahren bemüht, sich in ihren öffentlichen Ausgaben insbesondere antizyklisch zu verhalten. Das ist auch bei den Entscheidungen, die wir jetzt zu treffen haben, sicher wieder ein wesentlicher Gesichtspunkt, wenn darüber nachgedacht wird, ob etwa Ansätze der mittelfristigen Finanzplanung für das Jahr 1986 über die augenblickliche mittelfristige Finanzplanung hinaus angehoben werden können.
Es folgt die Runde der Staatssekretäre. Herr Dr. Jahn, Sie haben eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß die Investitionsmöglichkeiten der Städte und Gemeinden in diesem Jahr um rund 1 Milliarde DM im Vergleich zum Vorjahr höher liegen und daß das mit auf die Konsolidierungspolitik zurückzuführen ist?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Ja, Herr Kollege, ich kann das bestätigen. Ich kann hinzufügen, daß etwa
die Investitionen beim Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen ganz erheblich gestiegen sind und daß wir auch im Bereich des Bundeswasserstraßenbaus Anstiege zu verzeichnen haben. Das alles zeigt jedenfalls das Bemühen, von der Bundesseite her in dieser Situation antizyklisch zu handeln.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Sperling.
Herr Staatssekretär, können Sie im Gegensatz zu der Antwort auf Herrn Staatssekretär Jahn auch die Aussage des Präsidenten des Deutschen Städtetags bestätigen, daß die kommunalen Investitionen in diesem Jahr entgegen den bisher gehegten Erwartungen leider noch einmal abnehmen werden und daß dies auf unser beider gemeinsames Verhalten in der sozialliberalen Koalition mit der Änderung von Steuerrecht zu Lasten der kommunalen Einnahmen zurückzuführen ist, und haben Sie mir irgend etwas an Hoffnung mitzugeben, daß das, was wir damals gemeinsam falsch gemacht haben, durch die Regierung, in der Sie jetzt tätig sind, richtiger gemacht wird, indem das, was Sie über die bessere Finanzausstattung der Gemeinden gesagt haben, doch noch in dieser Legislaturperiode passieren soll?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich kann mich nicht erinnern, daß wir Maßnahmen getroffen haben, die zu Lasten der Gemeindefinanzen gegangen sind,
sondern wir haben den Einkommensteueranteil der Gemeinden erhöht. Aber es ist richtig, daß in der Diskussion mit anderen Körperschaften ständig und zu allen Zeiten eine gegenseitige Schuldzuweisung stattgefunden hat und daß die Aussagen, die hier gemacht werden, eben auch vor dem Hintergrund zu sehen sind, daß die Gemeinden mit vollem Recht aus ihrer Interessenlage so viel wie möglich an Entlastung zu Lasten des Bundes oder der Länder erhalten wollen, wobei nach der Verfassung die alleinige Verantwortung für die Finanzausstattung der Gemeinden bei den Ländern liegt. Das muß hier gesehen werden. Wir haben jedenfalls bei all unseren Maßnahmen, besonders im Bereich der Steuern, den Versuch gemacht, den Einnahmeausfall bei den Gemeinden auszugleichen. Wir haben ihn zum Teil sogar überkompensiert, aus der wirtschaftlichen Einsicht heraus, daß die Investitionsfähigkeit der Gemeinden ausschlaggebend ist für die öffentlichen Investitionen, aber natürlich auch mit dem Vorbehalt, daß wir keinerlei gesetzliche oder moralische Möglichkeit haben, im Einzelfall in die Hoheit der Kommunen einzugreifen und sie zu veranlassen, Ausgaben zu tätigen, die sie in ihrer eigenen Hoheit, aus welchen Gründen auch immer, nicht für richtig halten.
Abgeordneter Müntefering, bitte.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. Mai 1985 10291
Herr Staatssekretär, wären Sie bereit, Ihre Vorstellungen über die Bauwirtschaft und die Baukonjunktur gesammelt an den Bundesminister für Bau zu geben, damit sein Staatssekretär nicht in der Fragestunde fragen muß, was die Bundesregierung sich zur Bauwirtschaft denn so denkt?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Also, Herr Kollege, ich bin jedenfalls sehr dankbar gewesen für diese Zusatzfragen meines Kollegen Jahn. Das möchte ich hier ganz ehrlich sagen.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Becker.
Herr Staatssekretär, angesichts der mehr als 50 Milliarden DM Ausgaben für Arbeitslose in der Bundesrepublik: Sind Sie nicht wirklich der Meinung, daß man etwas dagegen tun muß, daß wir möglicherweise in diesem oder im nächsten Jahr in der Bauindustrie noch ein paar hunderttausend Arbeitslose produzieren, wenn die Bundesregierung nicht zum Handeln kommt? Wollen Sie nicht handeln?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wir möchten gerne handeln, und wir haben ja auch die Maßnahmen hier erörtert, die zur Diskussion stehen. Wir wollen aber unter keinen Umständen falsch handeln. Es gibt eine Fülle von Rezepten, die das Gegenteil von dem bewirken würden, was wir anstreben, nämlich eine Verstetigung der Entwicklung in der Bauwirtschaft und eine Verhinderung des weiteren Abbaus der Kapazitäten, aber mit marktwirtschaftlichen Maßnahmen, die sich am Bedarf orientieren. Da muß der, der bestellt, entscheiden, ob er Bedarf hat. Das sind etwa bei den öffentlichen Investitionen überwiegend die Gemeinden. Darauf hat der Deutsche Bundestag nicht den geringsten Einfluß, es sei denn, er würde große finanzielle Entlastungsprogramme zugunsten der Gemeinden einleiten, die im Ergebnis zur Folge hätten, daß Investitionen, die gesetzlich vorgeschrieben sind, die ohnehin notwendig sind, die ohnehin von den Gemeinden vorgenommen werden müßten, eben mit stärkerer Bundesbeteiligung finanziert werden. Das Thema Mitnahmeeffekt, Herr Dr. Spöri, wird Ihnen da sicher einiges sagen.
Ich rufe die Frage 17 des Abgeordneten Meininghaus auf:
Welche Entwicklung des Auftragsvolumens für die Bauwirtschaft seitens öffentlicher Auftraggeber ist auf Grund der jetzt geltenden mittelfristigen Finanzplanung vom Bund in den nächsten Jahren zu erwarten?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Im Finanzplan des Bundes sind in den Jahren 1986 bis 1988 für Baumaßnahmen Ausgaben des Bundes in folgender Höhe vorgesehen: 1986 6,3 Milliarden DM, 1987 6,4 Milliarden DM, 1988 6,4 Milliarden DM. Von diesen Zahlen kann jedoch nicht unmittelbar auf den zeitlichen Ablauf von Auftragsvergabe und Bauabwick-
lung geschlossen werden. Beispielhaft sei darauf hingewiesen, daß 1984 bei veranschlagten 6,3 Milliarden DM für Bauausgaben des Bundes rund 6 Milliarden DM auch tatsächlich für Baumaßnahmen ausgegeben worden sind.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Meininghaus.
Herr Staatssekretär, Entschuldigung, daß ich das nicht gleich in meine Frage mit eingebaut habe: Könnte man auch hier Aussagen darüber machen, wie die mittelfristige Finanzplanung beispielsweise in den Ländern aussieht und was in den Gemeinden zu erwarten ist? Sie haben es sicher nicht hier, aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir das zukommen ließen.
Grüner, Parl. Staatssekretär: Ich werde mich um diese Zahlen bemühen, Herr Kollege.
Zusatzfrage, Herr Dr. Sperling.
Herr Staatssekretär, wird denn wenigstens zu erwarten sein, daß die im Bundeshaushalt vorhandenen Mittel für Bauausgaben in diesem Jahr vollständig abfließen werden, soweit das in der Hand des Bundes liegt, oder wird der Finanzminister weiter auch das Bauherrenverhalten des Bundes bremsen, um es als Sparbüchse zu benutzen, was nur dazu führt, daß noch mehr Milliarden in den Bereich der Arbeitslosen hineingegeben werden müssen?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es kann keine Rede davon sein, daß der Bundesfinanzminister etwa Bauinvestitionen als Sparbüchse benutzt. Die Bundesregierung hat ja mehrfach öffentlich gerade auch die Gemeinden aufgefordert, Bauaufträge raschestens zu vergeben, wenn sie vergabereif sind. Der Bund hält sich selbstverständlich auch an diese Praxis.
Keine weitere Zusatzfrage. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf.
Die Fragen 18 und 19 des Herrn Abgeordneten Kirschner sollen auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe Frage 20 des Herrn Abgeordneten Eigen auf:
Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um den katastrophalen Preiszusammenbruch bei Sauerkirschenkonserven zu beenden, der für das Erntejahr 1985 schon die Voraussetzung schafft, daß die Kirschenerzeuger ein weiteres schlechtes Jahr zu erwarten haben?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege, den Markt für Sauerkirschkonserven wie
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10292 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. Mai 1985
Parl. Staatssekretär Gallusauch der Markt für frische Sauerkirschen ist nach einer Reihe von guten Jahren im vergangenen Jahr erstmals in eine ernste Krise geraten. Diese Krise wurde u. a. durch die steigenden Einfuhren vor allem von tiefgekühlten und verarbeiteten Sauerkirschen zu äußerst niedrigen Preisen aus Jugoslawien verursacht. Die Bundesregierung hat frühzeitig diese schwierige Lage erkannt und die EG-Kommission um wirksame Maßnahmen zur Beseitigung der Marktstörungen gebeten. Nationale Maßnahmen zur Begrenzung der Einfuhren konnte die Bundesregierung nicht treffen, da die Kompetenz für solche Maßnahmen allein bei der EG in Brüssel liegt.Die EG-Kommission hat im vergangenen Jahr den Antrag der Bundesregierung auf Aussetzung der Einfuhren von Sauerkirscherzeugnissen einschließlich Sauerkirschkonserven aus Jugoslawien abgelehnt. Sie hat der Bundesregierung ebenfalls untersagt, die von ihr geplante einmalige Beihilfe für die Einlagerung von Sauerkirschen zu gewähren, da sie die deutschen Erzeuger zum Nachteil der anderen Erzeuger der EG bevorteile.Unsere Regierung setzt sich in Brüssel mit Nachdruck dafür ein, daß schnellstmöglich geeignete Maßnahmen getroffen werden, um die Krise auf dem Sauerkirschenmarkt zu beenden und ausreichende Rahmenbedingungen für das Wirtschaftsjahr 1985/86 zu schaffen.Auf Drängen der Bundesregierung hat der Agrarministerrat für die Einfuhr von allen wesentlichen Kirschenerzeugnissen eine Lizenz- und Kautionspflicht eingeführt. Mit dieser Regelung, die seit dem 15. April angewendet wird, kann man bereits die beabsichtigten Einfuhren erfassen und auf drohende Störungen schneller reagieren. Die EG-Kommission hat Jugoslawien aufgefordert, eine Absprache über die Anhebung der bisher vereinbarten Mindesteinfuhrpreise zu treffen. Die EG-Kommission wird außerdem die EG-Produktionsbeihilfe für Kirschen in Sirup für das Wirtschaftsjahr 1985/86 in ECU um 14,6 % anheben. Sollte Jugoslawien mit der vorgesehenen Anhebung der Mindesteinfuhrpreise nicht einverstanden sein, wird die EG-Kommission weitere Maßnahmen erwägen.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Eigen.
Herr Staatssekretär, wenn es, wie wir ja alle wissen, auf dem Markt wirklich eine so ernsthafte Krise gibt: Kann die Bundesregierung den Import nach den Regeln der Marktordnung für Obst und Gemüse nicht doch — jedenfalls für eine kurze Zeit — total stoppen? Hätte sie das nicht schon im vorigen Sommer machen können?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, nach Lage der Dinge hätten wir das nicht machen können. Wir haben alle sich bietenden Möglichkeiten ausgeschöpft.
Zweite Zusatzfrage, Herr Eigen, bitte.
Herr Staatssekretär, ist sich die Bundesregierung darüber im klaren, daß gerade viele kleinere Kirschenerzeuger, die durch diese Sonderkultur in der Lage sind, auf ihren verhältnismäßig kleinen Betrieben überhaupt existieren zu können, hier in ganz besondere Bedrängnis gekommen sind, und was gedenkt die Bundesregierung dagegen zu tun?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wir sind uns über die Schwierigkeiten insbesondere der kleinen Sauerkirschenerzeuger, aber auch aller anderen Sauerkirscherzeuger in der Bundesrepublik Deutschland im klaren. Unsere vielfältigen Aktivitäten, die wir seit dem Sommer letzten Jahres ergriffen haben, beweisen, daß wir die Lage auf dem Sauerkirschenmarkt ernst nehmen. Bei den entsprechenden Maßnahmen brauchen wir aber die EG; auf der anderen Seite brauchen wir das Einverständnis Jugoslawiens. Hier haben wir bisher das Menschenmögliche getan.
Ich rufe als letzte Frage die Frage 21 des Herrn Abgeordneten Eigen auf:
Wie will die Bundesregierung die Einhaltung der Mindestpreisvereinbarung für Sauerkirschenkonserven zwischen dem deutschen und jugoslawischen Landwirtschaftsminister durchsetzen, nachdem die Mindestpreise in letzter Zeit von jugoslawischen Exporteuren um bis zu 47 v. H. unterlaufen wurden?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, Jugoslawien hatte nicht mit der Bundesregierung, sondern mit der hierfür zuständigen EG-Kommission Absprachen über Mindesteinfuhrpreise getroffen. Die Bundesregierung hat die EG-Kommission darauf hingewiesen, daß diese Absprachen von Jugoslawien zumindest teilweise nicht eingehalten würden. Im Rahmen der diesjährigen Agrarpreisverhandlungen hat sich die EG-Kommission in einer Protokollerklärung ausdrücklich verpflichtet, in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten dafür Sorge zu tragen, daß die mit Jugoslawien getroffenen Vereinbarungen strikt eingehalten werden und daß sie sich dabei aller zur Erreichung des angestrebten Ziels erforderlichen Mittel bedienen werde.
Eine kurze Zusatzfrage, wenn es geht.
Herr Staatssekretär, was macht die Bundesregierung, wenn — wie wir jetzt schon wissen — Jugoslawien die Vereinbarungen in bezug auf die Einhaltung der Mindestpreise nicht einhält, sondern — wie in meiner Frage dargelegt — die Mindestpreise um beinahe die Hälfte unterschreitet, um D-Mark als harte Währung zu bekommen?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung wird die EG darauf aufmerksam machen, daß die getroffenen Vereinbarungen nicht eingehalten werden und daß weitere Maßnahmen ergriffen werden müssen.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Vogel, bitte.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. Mai 1985 10293
Herr Staatssekretär, habe ich es richtig verstanden, daß Sie vorhin das Funktionieren des Marktes, nämlich niedrigere Preise für Erzeugnisse aus Jugoslawien, als „Marktstörung" bezeichnet haben?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Nicht die niedrigeren Preise, sondern die Unterbietung des von der EG ausgehandelten Mindestpreises, der dazu führt, daß man in der Bundesrepublik Deutschland Sauerkirschen überhaupt nicht mehr ernten kann, weil der Produzent für das Kilo nur noch 40 bis 60 Pfennige bekommt. Das ist nach unseren Löhnen überhaupt nicht mehr machbar.
Eine letzte Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Weyel.
Herr Staatssekretär, wie hoch schätzen Sie, nachdem jetzt die Agrarpreisverhandlungen einmal so gelaufen sind, die Bereitschaft der Kommission ein, daß sie einem Problem, das in erster Linie die Bundesrepublik Deutschland angeht, mit großer Bereitwilligkeit gegenübersteht und zu größeren Hilfeleistungen bereit ist?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, wir schätzen die Bereitschaft der Kommission, dafür zu sorgen, daß das, was sie mit Drittländern ausgehandelt hat, auch eingehalten wird, sehr hoch ein.
Meine Damen und Herren, damit ist die Fragestunde für heute beendet.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 der Tagesordnung auf:
Aktuelle Stunde
Die Fraktion der SPD hat gemäß Ziffer 1 c der Anlage 5 unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu dem Thema „Die Europapolitik der Bundesregierung" verlangt.
Ich eröffne dazu die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Vogel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler sieht sich seit dem 12. Mai einer Flut, einer immer noch steigenden Flut von Vorwürfen und Ratschlägen seiner Partei- und seiner Männerfreunde ausgesetzt. Da werfen ihm die Ministerpräsidenten Albrecht, Barschel und Strauß Untätigkeit und mangelnde Entschlußkraft vor. Da setzen sich die Pressesprecher des Bundeskanzlers und des Bundesinnenministers — ein in der Geschichte unserer Republik einmaliger Vorgang — vor der Bundespressekonferenz darüber auseinander, ob der Bundeskanzler führungsschwach sei oder nicht.
Ich nehme an, daß diese Frage dann heute auch noch im Kabinett vertieft worden ist. Da spricht Herr Tandler davon, daß die Entscheidungsprozesse in Ihrem Kabinett quälend und unbefriedigend seien. Da beklagt Herr Biedenkopf öffentlich, es fehle an inhaltlicher Führung.
Und Herr Dick, der bayerische Umweltminister, der Sie offenbar besonders gut kennt, sagt, es könne tödlich sein, sich nach der Tragödie in Nordrheinwestfalen mit Keep-smiling-Lächeln über die Runden retten zu wollen.
Zu all diesen Vorwürfen und Ratschlägen können wir nur sagen: „Spät kommt ihr, doch ihr kommt!" Sie hätten besser schon früher auf unsere Warnungen gehört.
Heute, meine sehr verehrten Damen und Herren, warnen wir Sie, Herr Bundeskanzler, eindringlich davor, mit Ihrer Politik der Widersprüchlichkeit und der Entschlußlosigkeit auch die europäische Einigung aufs Spiel zu setzen. Schon mit Ihrem Zickzackkurs in Sachen SDI und Ihrer zwiespältigen Rolle während des Weltwirtschaftsgipfels haben Sie sich von Frankreich und damit von Europa entfernt.
— Meine Damen und Herren, aus Ihrer Bredouille kommen Sie mit Geschrei genausowenig heraus wie mit Keep-smiling.
Mitglieder der französischen Regierung haben Ihnen daraufhin Wortbruch vorgeworfen und Ihnen vorgehalten, Sie hätten sich vom Weg Europas abgewandt. Inzwischen ist dem Gedanken der europäischen Einigung mit dem Agrarpreis-Veto, das Herr Kiechle letzte Woche im Auftrag des Bundeskanzlers in Brüssel eingelegt hat, ein neuer schwerer Schlag zugefügt worden.
Es bedeutet einen einmaligen Höhepunkt der Regierungskunst des Bundeskanzlers, daß er ausgerechnet in dem Augenblick das Veto praktiziert, in dem er bei den anderen Europäern für die Abschaffung des Vetos und die Rückkehr zu dem Mehrheitsverfahren der Römischen Verträge wirbt, und daß er seinen Landwirtschaftsminister für eine Erhöhung der EG-Ausgaben kämpfen läßt, während sein Finanzminister gleichzeitig von der EG größte Sparsamkeit und strengste Haushaltsdisziplin erwartet. Wie wollen Sie da eigentlich, Herr Bundeskanzler, auf dem nächsten Europagipfel in Mailand und auf der späteren Regierungskonferenz argumentieren? Die geradezu verheerende internationale Kritik zeigt doch, was man von einem Bundeskanzler hält, der in der Frage des Vetos plötzlich an der Seite Griechenlands und Dänemarks steht und argumentiert.
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10294 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. Mai 1985
— Herr Kollege, Sie sollten sich vielleicht insoweit auskennen, daß Sie Herrn Schlüter, den Ministerpräsidenten von Dänemark, mit dem sich Herr Kohl kürzlich getroffen hat, hier nicht als Sozialdemokraten in Anspruch nehmen.
Um gleich eine Ausrede abzuschneiden: Die geringfügigen Vorteile, die sich aus dem Veto vielleicht für die deutschen Bauern ergeben, stehen zu dem Schaden, der durch eine derart widersprüchliche Politik angerichtet wird, in überhaupt keinem Verhältnis. Den bäuerlichen Familienbetrieben hätte man außerdem durch eine gerechtere Verteilung der nationalen Unterstützungen und durch den Übergang zu flächenbezogenen Entgelten viel wirksamer helfen können.
Um es ganz klar zu sagen: Wir sind für ein ziviles europäisches Weltraumprogramm, für eine einheitliche europäische Haltung gegenüber SDI und für eine enge Zusammenarbeit mit Frankreich. Willy Brandt und Lionel Jospin haben das hier bestehende hohe Maß an Übereinstimmung gestern in einer gemeinsamen Pressekonferenz in Paris eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht.
Wir sind für die Rückkehr zum Prinzip der Mehrheitsentscheidungen. Wir sind für ein einiges Europa, das stärker zur Selbstbehauptung entschlossen und fähig ist als in der Vergangenheit.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das einzige, was ich meinem Herrn Vorredner bestätigen kann, worin wir einig sind, ist, daß wir für ein einiges Europa sind. Die Frage ist nur, Herr Kollege Vogel: Was haben Sie in den vielen Jahren Ihrer Regierungstätigkeit getan, um dabei weiterzukommen?
Erstens. Wenn Sie sich darauf beziehen, daß Herr Jospin und Willy Brandt einig sind, dann kann das ja wohl nur für einen Teilbereich der Politik gelten. In den entscheidenden Lebensfragen der Verteidigung von Frieden und Freiheit in Europa sind Sie mit den französischen Sozialisten überhaupt nicht einig.
An diesem Punkt hat François Mitterrand Sie aufgefordert, Ihren Kurs zu verlassen.
— Meine Damen und Herren, alle Ihre Lärmszenen können nicht darüber hinwegtäuschen, daß Sie in der Frage der Außen- und Sicherheitspolitik gemeinsam mit wenigen sozialistischen Parteien in Europa völlig isoliert sind, auch gegenüber Frankreich.
Zweitens. Herr Kollege Vogel, was haben Sie denn in Europa hinterlassen? Als Sie die Regierungsbank verließen, traf ich einen EG-Gipfel in Stuttgart an, bei dem weder die Frage des britischen Beitrags noch die Frage der ökologischen Zusammenarbeit noch die Frage der Restabilisierung des europäischen Etats geregelt war. Sie haben nichts geregelt.
Sie haben in diesen Jahren wie in der deutschen Innenpolitik von der Hand in den Mund gelebt. Das war das Wesen sozialistischer Politik in diesen Jahren.
Drittens. Herr Kollege Vogel, ich brauche — und niemand in der Bundesregierung braucht dies — von Ihnen keinen Hinweis darauf, wie wir Mailand vorbereiten. Wir werden das sehr konkret und im Detail vorbereiten, und wir werden dabei mit unseren Freunden in der EG aufs engste zusammenarbeiten.
Wir haben hier ja keinen Nachholbedarf. Es war nicht zuletzt diese Bundesregierung, die durch ihre Politik dazu beigetragen hat — und das können Sie in Madrid und Lissabon in diesen Tagen überall hören —, daß der Beitritt Spaniens und Portugals möglich war. Sie haben in dieser Sache in Ihrer Zeit nahezu nichts getan.
Das ist bei Ihnen ein weiteres Beispiel einer völligen Abwesenheit europäischer Politik.
Dann, meine Damen und Herren: Die Sozialdemokratische Partei beruft sich gern und bei jeder Gelegenheit auf die Tradition der Solidarität. Es war doch Ihre Politik, die in den Jahren seit 1969 dazu beigetragen hat, daß die deutschen und die europäischen Bauern immer mehr in den Bereich der Überproduktion geraten sind.
Als ich ins Amt kam, meine Damen und Herren, fand ich doch jene Situation vor, die wir jetzt unter bitteren Opfern für die betroffene Bevölkerungsgruppe korrigieren müssen. Es stünde Ihnen sehr
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. Mai 1985 10295
Bundeskanzler Dr. Kohlgut an, nicht nur von Solidarität zu reden, sondern die notwendige Solidarität mit den deutschen Bauern auch tatsächlich aufzubringen.
Es ist ein wirklich absurder Vorgang, daß ausgerechnet Sie, die nichts, aber auch gar nichts getan haben, um auf diesem Wege in Europa ein Stück voranzukommen, uns nach zwei Jahren Vorwürfe machen wollen. Herr Kollege Vogel, warum haben Sie den Grenzausgleich denn nicht abgebaut? Sie hatten doch Zeit genug dazu. Sie haben auf diesem Gebiet nichts getan.
Mit einem Wort: Das, was Sie hier als europäische Aufführung geplant haben, um europäische Gesinnung zu bezeugen, ist in Wahrheit doch nur eine Darstellung der Fehler der Vergangenheit, die Sie angesichts der Probleme heute vertuschen wollen.
Sie haben doch außer allgemeinen Forderungen, die andere bezahlen sollen, keine Ideen und keine Beiträge geleistet.
Ein Letztes, meine Damen und Herren — auf das, was Sie ansonsten in Ihrer Einführung gesagt haben, einzugehen, lohnt sich in der Tat nicht —: Verehrter Herr Kollege Vogel, ich warte mit großer Gelassenheit
das Wahlergebnis am voraussichtlich dritten Februarsonntag 1987 ab. Es wird ein Wahlergebnis sein, das in diesem Hause drei Fraktionen sehen und Ihre Beifahrer von der Linken hier nicht mehr finden wird.
Es wird ein Wahlergebnis sein, das Sie — nicht Sie als Person, sondern Sie als Partei — wiederum auf den Bänken der Opposition sehen wird. Bis dahin werden wir unsere Arbeit machen, unsere Pflicht tun, wie wir das gelobt haben.
Meine Damen und Herren, bevor ich das Wort weitergebe, möchte ich einige Gäste bei uns begrüßen, die nur für ganz kurze Zeit hier sein werden. Auch eine Aktuelle Stunde verträgt, zwischendurch einen Gruß zu übermitteln.
Auf der Diplomatentribüne haben Mitglieder des Verteidigungsausschusses der französischen Nationalversammlung Platz genommen. Ich habe die Ehre und die Freude, Sie im Deutschen Bundestag herzlich zu begrüßen, und wünsche Ihnen gute Gespräche und einen angenehmen Aufenthalt in Bonn.
Wir fahren in der Aktuellen Stunde fort. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Todenhöfer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Rede des Oppositionsführers Vogel hat erneut in bemerkenswerter Deutlichkeit bewiesen, daß diese SPD keine Alternative zu dieser Bundesregierung ist.
Sie war ein erneuter Beweis dafür, daß die SPD weiter in die totale außenpolitische Isolation abdriftet.
Ich finde, Herr Vogel und Herr Brandt, Sie haben es dringend nötig, einmal Ihren außenpolitischen Kompaß überprüfen zu lassen.
Wenn Sie tagaus tagein — und Sie haben hier ja eine generelle Debatte eröffnet, Herr Vogel —
— darüber ist hier eben doch auch nicht gesprochen worden —, wenn Sie also tagaus, tagein gegen die Politik der USA protestieren, protestieren Sie doch ständig gegen die falsche Supermacht.
Herr Brandt, protestieren Sie doch zur Abwechslung einmal gegen die Aufrüstung der Sowjetunion. Herr Brandt, demonstrieren Sie doch zur Abwechslung einmal gegen die Kriegspolitik der Sowjetunion in der Dritten Welt.
Herr Brandt und Herr Vogel, veranstalten Sie doch zur Abwechslung einmal statt Ihrer ständigen Tribunale über Nicaragua ein Tribunal über Afghanistan.
Das ist doch eine unerträgliche
doppelte Moral, die Sie mit Ihrem Verhalten gegenüber den USA und der Sowjetunion ständig an den Tag legen. Ihr Antiamerikanismus, gepaart mit Ihrer gefährlichen Vertrauensseligkeit gegenüber der Sowjetunion, macht Sie außenpolitisch zur unzuverlässigsten Opposition, die unser Land jemals hatte.
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10296 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. Mai 1985
Dr. TodenhöferIhr außenpolitisches Markenzeichen heißt Unzuverlässigkeit.
— Unter Ihr Niveau, Herr Brandt, kommt man j a eh nicht mehr. Das schaffe auch ich nicht.
Die Frage, die sich in unserem Lande heute stellt und die Sie, Herr Vogel, angesprochen haben, heißt doch nicht: Europa oder Amerika? Die Aufgabe, vor der wir stehen, heißt: Europa und Amerika.
Sie wollen im Grunde — und das ist Ihr Problem — weder das eine noch das andere. Sie sind doch längst auf dem Marsch in den Neutralismus.
Das verschweigen Sie doch bewußt vor der Bundestagswahl. Da liegt doch Ihr Problem.Herr Vogel, Sie haben hier Ihre Position zu SDI und Ihre Kritik am Bundeskanzler anzubringen versucht. Wir haben große Sympathie für die Idee EURECA, aber EURECA ist keine Alternative zu SDI, EURECA kann eine Beteiligung an SDI nicht ersetzen. Wir werden daher alles unternehmen, um zu erreichen, daß sich die wichtigsten Industriestaaten Europas am SDI-Forschungsprogramm beteiligen. Wir wollen eine möglichst einheitliche Haltung Europas zu SDI, allerdings nicht, um wie Sie, Herr Vogel und Herr Brandt, die SDI-Forschung zu verhindern, sondern um der SDI-Forschung eine möglichst breite europäische Unterstützung zu geben.
Wenn SDI technisch machbar ist, wenn es möglich ist, durch einen rein defensiven Abwehrschirm im Weltraum anfliegende Atomraketen zuverlässig abzufangen, würden wir zwei zentrale Ziele unserer Sicherheits- und Friedenspolitik erreichen. Erstens. Weder Ost noch West würden dann noch die Fähigkeit zu sogenannten Erstschlägen und Entwaffnungsschlägen haben. Zweitens. Atomraketen hätten dann, strategisch betrachtet, nur noch Schrottwert. Dies wäre die größte De-facto-Abrüstung seit dem Zweiten Weltkrieg.
Das alles wäre kein Aufgeben der Strategie der Abschreckung, aber es wäre ein Umschalten von einer Strategie der offensiven Abschreckung auf eine Strategie der defensiven Abschreckung. Wir glauben, daß es sich lohnt, dafür einzutreten. Die CDU/CSU steht auch hinsichtlich des SDI-Programms geschlossen
an der Seite von Bundeskanzler Kohl.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Müller .
Herr Präsident! Herr Bundeskanzler, ich bin mir sicher, daß sich Ihre Prognosefähigkeit 1987 sehr schön überprüfen lassen wird. Es werden hier im Hause vier Parteien vertreten sein. Sollten es nur drei sein, dann würde das für Sie sehr problematisch werden.
Ich gehe davon aus, daß hier die Frage ist, inwieweit diese Bundesregierung in der letzten Zeit europäisch redet, aber amerikanisch handelt.
Das, was Sie getan haben, indem Sie ein Milliardenprogramm in Aussicht stellen, Milliarden, die Sie in den Weltraum schießen und dort verpulvern, stellt eindeutig den Abschied von einer eigenständigen europäischen und deutschen Technologieentwicklung dar. Denn beides werden Sie nicht finanzieren können: eine europäische Entwicklung auf der einen und eine amerikanische auf der anderen Seite. Das heißt letztendlich, daß Ihr Traum, der offensichtlich Religionsersatz geworden ist,
zu glauben, Sie könnten mit einer Weltraumbewaffnung hier auf irgend eine Art und Weise für Sicherheit sorgen, eine autonome europäische Entwicklung verhindert.Ich gehe weiterhin davon aus — hier kann ich nur noch ironisch reagieren —, daß — selbst in Ihren Denkmustern, in Ihren Kategorien gedacht — folgendes passieren wird: Während Sie Milliarden in den Weltraum investiert haben, um die Russen abzuschrecken, werden die über den Rhein-MainKanal eingeschwommen kommen.
Selbst in Ihrer Logik liegen Sie völlig daneben, wenn Sie die Beteiligung Europas an der Weltraumbewaffnung fordern.Ich gehe weiter davon aus, daß Ihr Veto in Brüssel bezüglich der Agrarpreisentwicklung doch eines deutlich gemacht hat: eine jahrelange Agrarpolitik, die zwar eine Mengenpolitik war, die die Mengenproduktion gestützt hat und damit auch die Probleme geschaffen hat, aber niemals versucht hat, diese Frage über die Qualität, über die Reduktion der Quantität zu lösen und auf diese Weise ein besseres Angebot an landwirtschaftlichen Produkten zu sichern. Das ist das Problem. Das hat Sie zum Veto gezwungen. Ich gehe nicht davon aus, daß Sie in irgendeiner Weise motiviert gewesen sind, die Probleme der Landwirtschaft, die ja immer stärker
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Dr. Müller
werden und die Sie nicht zu lösen in der Lage sind, zu bewältigen.
Ein letztes: Wenn man dahin kommt, daß man die europäische ökonomische Entwicklung auch beim Weltwirtschaftsgipfel dergestalt vernachlässigt, daß es nur noch um die Ankoppelung der Technologieentwicklung an die USA geht und nicht mehr um die Frage, was für Lösungsmöglichkeiten es für die europäische Arbeitslosigkeit gibt, und nicht mehr um die Frage, was für Möglichkeiten der Investitionen wir eigentlich haben, um diese zu verhindern, dann sehe ich allerdings schwarz für diese Regierung im Jahre 1987. In dieser Art und Weise werden Sie mit Sicherheit die GRÜNEN nicht unnötig machen können.Danke schön.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Paintner.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Diese Aktuelle Stunde ist für uns als FDP-Fraktion eine gute Gelegenheit, uns erneut zu dieser Europäischen Gemeinschaft zu bekennen, zu einem Europa, das es heute vielen Millionen Menschen ermöglicht, in Freiheit und Frieden zu leben, und in dem alle politischen Lebensbereiche berücksichtigt werden, so auch ganz besonders der ländliche Raum und die Landwirtschaft.Ja, wir wollen ein starkes Europa, und wir brauchen es. Europa kann und wird neben allen anderen Interessen nur mit einem gesunden ländlichen Raum und mit einer gesunden Landwirtschaft funktionieren. Lassen Sie mich deshalb ein paar Blicke auf die jüngsten Beschlüsse von Brüssel richten.Auf die Brüsseler Beschlüsse des Agrarministerrates zu den Agrarpreisen und zu den flankierenden Maßnahmen für das Wirtschaftsjahr 1985/86 ist ein wahrer Platzregen an Kritik herniedergegangen. Bemerkenswert ist allerdings, daß diese Kritik sehr widersprüchlich ist. Was den einen zu weit geht, ist den anderen bei weitem nicht genug. Wenn man die Beschlüsse vor dem Hintergrund dessen prüft, was machbar und vernünftig ist — und nur darum kann es in der Agrarpolitik gehen —, dann müssen sie als ausgewogen und insgesamt als ein Erfolg gewertet werden. Hier, so meine ich, ist es an der Zeit, daß wir für den Einsatz unseres Ministers Ignaz Kiechle recht herzlich Dank und Anerkennung aussprechen.
Zunächst ist zu begrüßen, daß es überhaupt zu einer Entscheidung gekommen ist. Längeres Warten wäre wohl der deutschen Landwirtschaft abträglich gewesen; denn die Preisverbesserungen fürMilch müssen den Landwirten so schnell wie möglich zugute kommen.
Wer die Preisverhandlungen kritisiert, muß auch wissen, daß die deutschen Landwirte heute an vorletzter Stelle der Einkommenskala innerhalb der Europäischen Gemeinschaft stehen. Das Bestreben der Bundesregierung, eine Senkung der Getreidepreise zu verhindern und den Landwirten so weitere Opfer zu ersparen, ist vor diesem Hintergrund, wie ich meine, mehr als selbstverständlich und zu begrüßen.Die erzielte Teillösung bestätigt, was sich bereits seit längerer Zeit abzeichnet: Der Agrarpreispolitik sind in Anbetracht der erheblichen Marktüberschüsse Grenzen gesetzt. Die Preispolitik allein reicht nicht mehr aus, um die Einkommensprobleme der deutschen Landwirtschaft zu lösen. Wir stehen hier deshalb an einem neuen, entscheidenden Punkt in der Agrarpolitik, an dem wir weiterreichende Überlegungen für die Zukunft anstellen müssen. Eine Orientierungslinie liegt hier schon auf der Hand. Die Sanierung der Agrarmärkte wird nur dann gelingen, wenn nicht nur die Produktionsdynamik beseitigt, sondern auch das Produktionspotential verringert wird. Die FDP hat hier schon vor einem Jahr gefordert, daß zu Naturschutzzwekken Flächen aus der Landwirtschaft aufgekauft oder angepachtet werden. Damit würde auch den dringenden Erfordernissen des Naturschutzes in diesem Lande Rechnung getragen. Dies könnte in sinnvoller Weise mit einer Wiedereinführung oder ähnlichen Maßnahmen wie einer Landabgaberente verbunden werden.
Zu überdenken ist auch das Verhältnis Europa — Amerika. Es ist nicht tragbar, daß amerikanische Agrarprodukte nahezu zollfrei uneingeschränkt in die Europäische Gemeinschaft hineingelassen werden,
während sich die Vereinigten Staaten weigern, in gleichem Maße Veredlungserzeugnisse aus der Europäischen Gemeinschaft aufzunehmen. Unsere Landwirtschaft braucht neuen Überlebensmut. Diesen gewinnt sie nur aus neuen Perspektiven. Ich sehe sie langfristig in der Erzeugung nachwachsender Rohstoffe. Hier dürfen nicht kurzfristige Wirtschaftlichkeitsüberlegungen wichtige langfristige Entwicklungen verbauen. Wir müssen schon heute im Zuge einer Vorsorgestrategie mit den Produkten und der Nutzung nachwachsender Rohstoffe beginnen. Wissenschaft, Forschung und Industrie sind wie die Bundesregierung aufgerufen, in der Energie- und Forschungspolitik die Weichen dafür zu stellen, daß ein verstärkter Einstieg in diesen Bereich möglich wird. Wir dürfen uns in der Biotechnologie in Europa nicht mit der Zweit- und Drittklassigkeit zufriedengeben. Hier liegen noch viele
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10298 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. Mai 1985
PaintnerAufgaben vor uns, die wir schnell anpacken sollten.
Wir als FDP werden das mit dieser Regierung im Interesse unseres Landes und Europas tun.
Das Wort hat der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die SPD hat eine Aktuelle Stunde zur Europapolitik der Bundesregierung beantragt. Ich werde die Frage stellen, wie Ihre eigene Europapolitik aussieht, insbesondere auf dem Feld der Agrarpolitik.In Brüssel ging es diesmal nicht um ein paar Prozentpunkte beim Getreidepreis, sondern es ging um eine grundlegende Neuausrichtung der gesamten EG-Getreidemarktpolitik. Wir verlangen einen höheren Schutz für die höheren Qualitäten. Der Kommissionsvorschlag hat umgekehrt gelautet. Er schützt mehr die Massenproduktion und nimmt die höheren Qualitäten bei Getreide aus diesem Schutz heraus.Wir sind der Meinung, daß man das Problem des Überschusses bei Weizen unter anderem auch dadurch lösen muß, daß z. B. Leguminosen bis hin zur Naturfaser als mögliche Ersatzfrüchte in Europa besser gefördert werden, daß man EG-weit eine Berücksichtigung von ökologischen Erfordernissen vornimmt, also eine Politik betreibt, die etwas längerfristig angelegt ist und die vor allem nicht so laufen darf, daß dabei die kleineren und mittleren Familienbetriebe und die benachteiligten Regionen das Nachsehen haben.
Die Politik, die eine langjährige Fehlentwicklung in der EG-Agrarpolitik korrigieren will und muß, ist keineswegs europafeindlich, wie die SPD heute behauptet. Jetzt macht sie eine Aktuelle Stunde, sie erläutert aber keineswegs, was sie selbst zu etwa diesem Thema — das war ja auch der Aufhänger — zu sagen hat. Sie hat auch die sehr schwierigen, langwierigen und, wie ich ganz offen zugebe, sehr harten Verhandlungen, die ich namens der Bundesregierung in Brüssel und Luxemburg in diesem Punkte zu führen hatte, sehr merkwürdig unterstützt und untermalt. Da war z. B. der Herr SPD-Abgeordnete Wolfgang Roth, der gesagt hat, wir hätten uns nicht überlegt, was wir da eigentlich täten, und es sei ja wohl allerhand, bei 0,9 % bei den Getreidepreisen gleich mit einer großen Kanone zu schießen. Da war der Herr Abgeordnete Wettig im Europäischen Parlament, der erklärt hat, das Ganze, was der Herr Minister Kiechle wolle, sei völlig unbezahlbar, die Preisforderungen des Bundeslandwirtschaftsministers in der Agrarpreisrunde seien indiskutabel. Während sich die Kommission mit ihrem Vorschlag überwiegend für Preissenkungeneinsetze, kämpfe Kiechle dagegen für Erhöhungen. Das war ein einziger Vorwurf.Dann kommt der Herr Vorsitzende Vogel und erklärt, einerseits verteidige Bundesfinanzminister Stoltenberg seinen Einsparungskurs, andererseits aber kämpfe Landwirtschaftsminister Kiechle für eine drastische Steigerung der Agrarpreise.Dann kommt der Herr Arndt und sagt, Herr Kiechle mache sich zum Wortführer all derer, die unverantwortliche Preiserhöhungen verlangten, während Wettig wieder kommentiert — alles in diesen wenigen Wochen geschehen —, Kiechle habe sich in Brüssel zum Anführer all derer gemacht, die keine Verantwortung zeigten.Ich könnte so fortfahren. Einmal werde ich von Herrn Arndt mit den Franzosen verglichen, die bisher immer höhere Preise verlangt hätten. Ein anderes Mal wird mir vorgehalten, jetzt brächte ich mit meiner Haltung auch noch Europa in Gefahr.Den Vogel schießt dann Herr Müller ab, der agrarpolitische Sprecher
— falls Sie zufällig Müller heißen: ich habe nicht Sie gemeint, ich meine den agrarpolitischen Sprecher der SPD —, der seinerseits nach Abschluß all der mühsamen Verhandlungen und nach all diesen vielen Kommentaren, die man noch auffüllen könnte, wiederum erklärte: Also, der Herr Kiechle ist mit einem Ergebnis heimgekommen, das mehr als mager ist. Er hat die Interessen der deutschen Landwirtschaft nicht gewahrt.
Insbesondere im Milchbereich habe er eine schwere Niederlage hinnehmen müssen. Im übrigen sei das Ergebnis im Bereich Milch nur negativ; beim Getreide sehe es ähnlich aus. Was wird wohl noch alles auf unsere Landwirte zukommen?Meine Damen und Herren, mit all diesen Äußerungen haben Sie den Einsatz der Bundesregierung bei dieser Brüsseler Auseinandersetzung in gar keiner Weise unterstützt.
Sie sind mir mit all diesen Äußerungen, die sich noch dazu immer wieder gegenseitig widersprochen haben — hier der große Jammer im Inland, noch dazu im NRW-Wahlkampf, über die schlechte Lage der Bauern, dort Vorwürfe auf dem nationalen und internationalen Parkett, wir wollten die Preissenkungen nicht hinnehmen —, Sie sind mir mit Ihrer Haltung, querbeet durch die Parlamente, in den Rücken gefallen.
Ich möchte Ihnen, Herr Kollege Vogel, durchaus empfehlen, wenigstens auf diesem Sektor in Ihrer
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Bundesminister KiechleFraktion und in Ihren verschiedenen Gremien, die sich dazu äußern, Ordnung zu schaffen.
Das, was Sie da gemacht haben, kann man nur als einen Saftladen bezeichnen,
in dem sich jeder mit dem Nektar versorgt — aber nicht naturrein —, den er im Augenblick für das Volk gerade für richtig hält. Ich bedaure das sehr. Früher hat man einen solchen Unsinn der Opposition in agrarpolitischen Fragen, ein solches Durcheinander und auch solch eine, wie ich es empfunden habe, unverantwortliche Haltung nicht vorgefunden,
wenn es sich um internationale Verhandlungen dreht.Ich darf abschließend sagen: Es gibt ein altes Bismarck-Wort. Nach diesem Wort ist die Begeisterung für die Interessen anderer Länder auch dann, wenn diese nur auf Kosten des eigenen Landes verwirklicht werden können, eine politische Neigung, deren geographische Verbreitung leider auf Deutschland begrenzt ist.Ich habe in Brüssel nicht für engstirnige Interessen, sondern gegen die Konzeption gekämpft, über Preissenkungen zu Lasten der Schwächeren Mengenregulierungen durchsetzen zu wollen. Von dieser Konzeption geht diese Bundesregierung auch nicht ab. Wir sind sehr wohl bereit, gegen das Zuviel an Produktion etwas zu unternehmen, aber nicht auf einem Weg, auf dem der Schwächere aus dem Rennen geworfen wird.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Apel.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Kiechle, wenn Sie von uns Unterstützung für Ihre Agrarpolitik in Europa verlangen, dann muß das allerdings eine Politik sein, die im Interesse Europas und im Interesse der deutschen Landwirtschaft ist. Beide Bedingungen erfüllt Ihre Politik nicht.
Schauen wir uns einmal die Ergebnisse der Milchkontingentierung an. Sehen wir doch, was draußen vor Ort in unserem Lande passiert. Herr Kollege Kiechle, nehmen Sie bitte auch zur Kenntnis, daß derzeit 10 Millionen Liter Milch in der EG mehr produziert werden, als im Gemeinsamen Markt konsumiert werden können. Das heißt mit anderen Worten: Die Bombe der Überproduktiontickt dank Kontingentierung weiter, und Sie haben dies verfestigt.
Sie selbst, Herr Kollege Kiechle, haben uns im Agrarbericht dargestellt, wie Sie mit Ihrer Subventionierung, dieser Verplemperung von 25 Milliarden DM bis zum Jahre 1991, die Einkommensdisparität in der deutschen Landwirtschaft dramatisch erhöht haben. Sie können nicht allen Ernstes verlangen, daß wir eine so unsinnige, eine so törichte Politik, eine Politik, die der deutschen Landwirtschaft nicht nützt, auch noch unterstützen.
Herr Bundeskanzler, auch Sie können sich nicht mehr allzu lange mit Rückgriff auf eine angeblich schlimme Vergangenheit von Ihrer eigenen Verantwortung trennen.
Es kommt endgültig darauf an, daß Sie Position beziehen.
Wie war es denn? Haben Sie nicht, Herr Bundeskanzler, als Sie vom Gipfel in Fontainebleau zurückkamen, gesagt: Jetzt haben wir den Durchbruch; wir werden die Agrarpolitik in Ordnung bringen; dann treten Spanien und Portugal bei; dann werden wir die Beiträge erhöhen; dann geben wir 4 Milliarden DM nach Brüssel, um die Probleme der Iberischen Halbinsel zu lösen. Was ist das Ergebnis? Die Agrarpolitik ist dank der Politik der deutschen Beiträge weiter in Unordnung. Die 4 Milliarden DM, die für die Probleme der Iberischen Halbinsel da sind, werden bereits am Ende dieses Jahres weitgehend verplempert sein.
Wie ist es mit der Haushaltsdisziplin, von der Herr Kollege Vogel gesprochen hat, die wir von Herrn Stoltenberg hier vorgetragen gekommen haben? Die Agrarpreise sollten geringer steigen als die Einnahmen der Europäischen Gemeinschaft. In diesem Jahr haben wir eine Steigerung der Einnahmen der Gemeinschaft um 10 % und eine Steigerung der Ausgaben der Landwirtschaft um mindestens 20 %.
Und das wird weitergehen.
Nehmen Sie, Herr Bundeskanzler, doch bitte zur Kenntnis, daß unter Ihrer Regierungszeit der Anteil der Agrarausgaben an den Ausgaben der Europäischen Gemeinschaft 1983 bei 66 % lag — das war schon extrem hoch — und 1985 bei 74 % liegt. Von 4 DM, die die Europäische Gemeinschaft ausgibt, gehen 3 DM in die Agrarpolitik. Das ist Ihr Weg. Diesen Weg will Herr Kiechle noch weiter gehen mit einem Veto, das natürlich ein Veto war. Herr Bundeskanzler, mindestens durch Ihren Brief, in dem Sie gegenüber Herrn Delors auf die sehr wich-
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Dr. Apeltigen Interessen der Bundesrepublik Deutschland hingewiesen haben, ist klar, daß Sie das Veto eingelegt haben.Damit sagen wir Sozialdemokraten: An der Europapolitik der Bundesrepublik stimmt nichts mehr. Sie wollen die Europäische Union, setzen aber das nationale Veto ein. Sie wollen die Europäische Gemeinschaft weiterentwickeln, sind aber selber dabei, den Anteil der Agrarausgaben in der Europäischen Gemeinschaft weiter hochzutreiben. Eine Agrargemeinschaft wollen Sie schaffen. Sie wollen die deutsch-französische Freundschaft. Sie sind aber nicht in der Lage, mit Frankreich an einem Strick zu ziehen. Herr Bundeskanzler, Ihre Europapolitik ist doppelzüngig und unehrlich.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Stavenhagen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn der Kollege Apel Zahlen vorträgt, ist immer Vorsicht geboten.
Denn in der Vergangenheit als Finanzminister und als Verteidigungsminister war seine Prognose- und Rechenfähigkeit nicht allzu hoch zu veranschlagen.
Wir haben im Haushalt 1985 und in der mittelfristigen Finanzplanung für die Jahre danach für die Belastungen, die in der europäischen Agrarpolitik auf uns zukommen, ausreichend und sorgfältig Vorsorge getroffen. Wir pflegen nämlich auf der vorsichtigen Seite zu rechnen und uns nicht etwas in die Tasche zu lügen, wie das früher die Haushaltspolitik der SPD gekennzeichnet hat.Dann frage ich mich, wo eigentlich die Widersprüche sein sollen. Ist es ein Widerspruch, für Europa zu sein und gegen Verschwendung? Ist es ein Widerspruch, für Europa zu sein und gegen Agrarüberschüsse? Die Bombe, von der Sie sprechen, haben doch Sie angezündet, und wir versuchen, sie zu entschärfen.
Ist es ein Widerspruch, für Europa zu sein und gegen weitere Opfer in der Landwirtschaft? Ist es ein Widerspruch, für Europa zu sein und gegen weiteren Protektionismus? Wir wissen doch, daß der Protektionismus die Arbeitslosigkeit nicht bekämpft, sondern weiter verstärkt.
Wir haben — und dies ist ein Verdienst der Bundesregierung und des Bundeskanzlers — in Europa im Bereich der Wirtschaftspolitik erfreuliche Zeichen eines Zusammenrückens in den Strategien. Die Mitgliedstaaten bemühen sich erstmals gemeinsam, Haushaltsdefizite abzubauen. Sie bemühen sich gemeinsam, die sozialen Sicherungssysterne an den finanziellen Möglichkeiten ihrer Länder zu orientieren.
Sie bemühen sich gemeinsam, Rahmenbedingungen für den Strukturwandel zu schaffen, die entscheidende Voraussetzungen sind, um die Arbeitslosigkeit in Europa zu bekämpfen.Sie bekämpfen gemeinsam — zum Teil mit beachtlichem Erfolg — die Inflation.Dies läßt uns hoffen, daß die Annäherung des wirtschaftspolitischen Kurses weitergeht; denn diese Annäherung des wirtschaftspolitischen Kurses hat auch zur wirtschaftlichen Belebung in nahezu allen Mitgliedstaaten geführt.Zur Arbeitslosigkeit muß man natürlich im Vergleich mit den Vereinigten Staaten sagen: Die USA haben von 1971 bis 1981 18,7 Millionen Arbeitsplätze geschaffen. In Europa waren es 1 Million.
Warum? Weil in Europa der größte Teil der Produktivität in die Reallöhne ging. Die Zahl der Arbeitsplätze in Deutschland stieg um etwa 300 000. Die Investitionsquote war rückläufig. Die Anlagen sind veraltet. Anderen Mitgliedstaaten geht es nicht anders.
Da müssen wir ansetzen. Wir brauchen ein Europa der gemeinsamen Technologien, einen offenen technologischen Markt in Europa. Das ist die entscheidende Waffe gegen die Arbeitslosigkeit.
Wer über die Agrarpolitik motzt, muß natürlich wissen: Es gibt keinen Gemeinsamen Markt, es gibt keine Zollunion ohne den integrierten Agrarmarkt, dessen Probleme wir zu bewältigen haben, weil Sie sie verschoben haben, in der Hoffnung, daß Sie das nicht mehr drückt, weil Sie dann nicht mehr an der Regierung sein werden.
Unsere Erfolgsbilanz liest sich besser, als Sie das überhaupt je begreifen können. Wir sind vorangekommen im Europa der Bürger. Wir haben Grenzerleichterungen geschaffen.
Wir sind vorangekommen — ein entscheidender Durchbruch — bei der technischen Harmonisierung und Normung im Binnenmarkt. Dies ist zentral beim Abbau der nichttarifären Handelshemmnisse.Das Stuttgarter Paket ist ein entscheidender Erfolg des Bundeskanzlers Helmut Kohl. Dort wurde Europa vor einer schweren Krise bewahrt.
In der Forschungspolitik haben wir gemeinsame Anstrengungen gemacht. Hier muß noch mehr ge-
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Dr. Stavenhagenschehen; denn Europa muß begreifen: Nur mit gemeinsamer und synchronisierter Forschung können wir die Aufgaben der Zukunft bewältigen.Meine Damen und Herren, wenn die SPD heute zu Europa hier ihre Pflichtübung und ihr Schaulaufen abhält: Ich finde keinen Namen prominenter Sozialdemokraten in den Ahnengalerien Europas. Ich finde kaum Namen prominenter Sozialdemokraten in europäischen Initiativen. Das sind Pflichtübung und Schaulaufen. Mehr bieten Sie dazu nicht.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Roth.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde es bedrückend, daß jetzt der Versuch gemacht wird, angesichts eines Scherbenhaufens in Europa Aggressionen nach außen zu wenden. Sie alle wissen ganz genau, in welche tiefe Krise die Europäische Gemeinschaft durch die Entscheidungen der Bundesregierung und die Verhaltensweisen geraten ist. Das weiß jeder.
Wir waren gestern in Frankreich. Es ist nicht geeignet, das hier wiederzugeben. Wir werden aber die Bundesregierung über die Stimmung dort informieren. Mir ist ganz wichtig, daß Sie wissen, in welcher Weise Sie die Verbindung, die Beziehung und die enge Kooperation mit dem französischen Partner gefährdet haben.
Anfang November vereinbarte der Kanzler mit Präsident Mitterrand eine enge Kooperation bei Weltraumprojekten; ganz eng, das soll nur noch gemeinsam gehen.
Auf dem Gipfel wird plötzlich entgegen einer derartigen Vereinbarung ja zu SDI gesagt — gegen den Wunsch des französischen Partners, gemeinsam und langfristig zu verhandeln. Jetzt haben Sie das natürlich wieder gemerkt — nach dem Gipfel. Sie haben auch gemerkt, wie die Franzosen im Hinblick auf Ihre SDI-Verhaltensweise auf dem Gipfel verärgert waren.
Und jetzt beginnen Sie, unter der Hand zu verbreiten, Sie seien eigentlich im Grund eher für den französischen Vorschlag EURECA der gemeinsamen Forschung auf diesem Gebiet. Hier entstehen Widersprüche, die Sie auch finanzpolitisch nie auflösen können.
Ein anderes Beispiel. Am 19. März vereinbarte der Ministerrat eine gemeinsame europäische Position, was die nächste GATT-Runde betrifft. Der Bundeskanzler hat auf dem Gipfel diese Vereinbarung gebrochen. Er hat, ganz anders als ursprünglich am 19. März vereinbart, einer sofortigen Verhandlung zugestimmt. Frankreich hat wegen seiner landwirtschaftlichen Bedenken und Interessen die Aufnahme der GATT-Verhandlungen nicht sofort
zum 1. Januar 1986 gewollt, weil Frankreich gesagt hat: Wir haben keine europäische Konzeption für diese Verhandlungen, und es verhandelt Europa und nicht die nationale Regierung.
Und weil jetzt Präsident Reagan da war, sagt man in Bonn sofort ja zum Termin 1. Januar ohne europäische Konzeption.
Zwei Wochen nach dem Wirtschaftsgipfel waren es allerdings die Amerikaner, die sich gewundert haben. Denn jetzt haben Sie plötzlich entdeckt, daß Ihre Vorstellungen über die GATT-Runde, nämlich ein freier Welthandel mit Agrarprodukten — das steht doch hinter diesem Interesse — gar nicht gemeint war, sondern daß sogar eine einprozentige Preissenkung bei Weizen ein vitales Interesse der Bundesregierung ist.
Wenn man diese Widersprüche nacheinander sieht, entdeckt man folgendes. Jetzt sind nicht nur die französischen Partner über die Widersprüche erstaunt, jetzt sind auch die Amerikaner völlig erstaunt und wissen gar nicht, was das Ja zur GATT-Runde eigentlich sollte.
Und was haben die Amerikaner gemacht — um nur auf Agrarinteressen zu kommen —? Sie haben sofort 2 Milliarden Subvention für amerikanisches Getreide auf dem Weltmarkt beschlossen. Das heißt, Sie werden jetzt durch eine amerikanische Subvention herauskonkurriert, nachdem Sie zu einer europäischen Subvention ja gesagt haben.
Die Konfusion Ihrer Europapolitik ist perfekt.
Am Vorabend von Mailand spricht man nicht über die Beschäftigungskrise, spricht man nicht über die 13 Millionen Menschen, die arbeitslos sind, und den Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit, sondern man muß hier nur noch über die Scherbenhaufen Ihrer Europapolitik reden.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Lenzer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Roth, fürwahr das war keine Meisterleistung, was Sie hier geboten haben.
Sie haben hier wieder einmal Ihre Ihnen schon lieb-gewordenen Vorurteile bestätigen wollen. Und ich muß sagen: Ihnen ist dabei jedes Mittel recht, z. B. wieder der Rückgriff in die Kiste Weltraum, SDI und umliegende Ortschaften.Nachdem Sie zunächst einmal hier allgemeines Erstaunen verkündet und erst die Franzosen und dann die Amerikaner bemüht haben, können wir uns dem anschließen. Wir sind äußerst erstaunt über Sie und die Dürftigkeit Ihrer Argumente.
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10302 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. Mai 1985
LenzerDie SPD hat in Sachen SDI und EURECA zunächst einmal nein gesagt und dann langsam angefangen nachzudenken. Manchmal habe ich begründete Zweifel, ob Sie mit diesem Denkprozeß in irgendeiner Weise weitergekommen sind. Sie bieten weiter nichts an als Totschlagargumente. Sie setzen sich mit der Sache nicht auseinander. Ich rate Ihnen dringend, sich mit der Sache bei dieser schwierigen komplexen Situation und Materie einmal genauer zu beschäftigen. Sie denunzieren das Bündnis Hand in Hand mit anderen Strategen hier in diesem Haus auf der linken Seite. Sie verharmlosen, wie der Kollege Todenhöfer sehr richtig gesagt hat, die Anstrengungen der UdSSR auf diesem Gebiet.Der Bundeskanzler hat in drei Reden, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übriglassen, die Position seiner Regierung beschrieben. Das war auf der Wehrkundetagung am 9. Februar 1985 in München, das war bei der Regierungserklärung hier am 18. April im Haus, und das war erst am Montag in Stuttgart vor der Nordatlantischen Versammlung.Die Bundesregierung ist ebenso wie die USA natürlich nach wie vor in einem schwierigen Meinungsbildungsprozeß. Daran ist nichts Verwerfliches. Sie werden davon ausgehen können, daß auch in den USA zu diesem Thema das letzte Wort mit Sicherheit noch nicht gesprochen worden ist und daß es im Zweifelsfalle, trotz mancher anderen Stimmen, der Präsident der Vereinigten Staaten sprechen wird.
Meine Damen und Herren, Sie versuchen immer wieder — das hat der Kollege Roth auch wieder getan —, hier einen Keil in das deutschfranzösische Verhältnis zu treiben.
Daran ist überhaupt nichts.Lassen Sie mich noch einmal die Bedingungen für eine Teilnahme formulieren, unter denen wir grundsätzlich der Prüfungsphase, der Forschungsphase zustimmen: freier Technologietransfer — ich meine, das müßte doch auch Ihre Zustimmung finden —, keine Einbahnstraße in die eine oder andere Richtung. Wir müssen gemeinsam eine europäische Antwort finden. Mit diesem roten Faden Europa, mit dieser europäischen Antwort — nicht mehr und nicht weniger hat auch der Bundeskanzler jetzt jüngst wieder in Stuttgart zum Ausdruck gebracht — wollen wir in die Diskussion mit den USA gehen. Wir wollen uns um eine faire Partnerschaft bemühen. Aber zum Subunternehmer sind wir uns zu schade. Ich meine, auch das müßte doch Ihre Zustimmung finden.Bitte kommen Sie doch aus dieser Ecke der Isolation heraus, in die Sie sich selber hineinbegeben haben, und diskutieren Sie doch mit uns! Sie verweigern jede Diskussion. Sie sagen zuerst einmal nein, und anschließend wollen Sie noch als ein Partner ernstgenommen werden, der sich hier in den Meinungsbildungsprozeß einzuschalten hat.Ich darf aus einem Brief des französischen Außenministers nur zwei Sätze zitieren, um nachzuweisen, wie unsinnig der Vorwurf ist, daß es hier irgendeinen Dissens gebe. Da heißt es in der Tat:Es gilt, unverzüglich das Europa der Technologie zu schaffen, das es uns möglich machen wird, soweit erforderlich, mit unseren großen internationalen Partnern, vor allem den Vereinigten Staaten, mit Japan, gleichberechtigt zusammenzuarbeiten. Ein Europa als Zulieferer, ein Europa als Lizenznehmer wäre kein Europa mehr.Meine Damen und Herren, dies ist der Sinn EURECAs. Dem stimmen wir alle zu, und wir unterstützen die Bundesregierung und insbesondere gerade den Bundeskanzler, die hier in verantwortlicher Weise ihre Pflicht tun.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Mann.
Herr Präsident! Herr Bundeskanzler! Kolleginnen und Kollegen!
Herr Bundeskanzler, Sie hatten bei Regierungsantritt eine Friedenspolitik mit „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen" versprochen. Sie haben vor dem Stuttgarter Gipfel wesentliche europäische Initiativen versprochen. Wir können heute feststellen: Wir haben nach den zwei Jahren Ihrer Regierung mehr Waffen in Europa. Wir können nach diesem Veto — ob es nun ein wirkliches war, sei dahingestellt; es war für unsere politischen Partner in Europa auf jeden Fall ein politisches Veto — feststellen: Wir haben auf europäischer Ebene von Ihnen hier heute insbesondere nicht den Schimmer eines Ansatzes gehört, wie Sie die gravierenden Probleme, vor denen wir in der Agrarpolitik stehen, lösen wollen.
Ich gebe Herrn Kiechle zu, daß er in Brüssel einen sehr schweren Stand hat. Er hat sich da mit vielen Problemen, auch mit Problemen seiner eigenen CSU herumzuschlagen, er hat es nicht leicht. Aber ich erwarte von einer Regierung, daß sie nicht nur hier heute der Opposition vorhält,
was sie früher nicht gemacht hat, sondern daß sie selber einmal aufzeigt, wofür es sich lohnt, ein Veto einzulegen, zumal sie gleichzeitig für Mailand davon spricht, daß wir von einer Politik des Vetos weg wollen.Übrigens, diese Politik des Vetos ist auch kennzeichnend für die Politik des im Moment eigentlich regierenden Staates, nämlich den Vereinigten Staaten in den Vereinten Nationen. Auch da wird mit dem Mittel des Vetos der Widerstand der anderen abgeblockt.
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MannIch möchte zusammenfassen; ich habe nur zwei Minuten.
Herr Bundeskanzler, Ihre Europapolitik ist für unseine Politik des Vertagens, des Aussitzens und derFormelkompromisse. Da Sie das ist, sollten Sie sichhinsichtlich der Perspektiven für den 2. Februar1987 in diesem Hause etwas bescheidener äußern.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Ehmke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Europapolitik wird besonders deutlich, daß dieser Bundeskanzler ein Bundeskanzler der Sprechblasen ist. Da sich das im Lande langsam herumspricht, Herr Bundeskanzler,
sind Sie so angeschlagen, wie Sie heute hier aufgetreten sind.
Wenn ich mich erinnere, welche europapolitischen Sprüche Sie und Herr Genscher während der deutschen Präsidentschaft gemacht haben, und jetzt sehe, daß Sie zum Gespött in Ihrem eigenen Lager geworden sind,
so müßten Sie doch eigentlich selber ein bißchen darüber nachdenken.Selbst die sich ja sonst als Regierungsblatt gerierende FAZ bescheinigt Ihnen, daß Ihre Europapolitik weder Hand noch Fuß hat. Der Präsident des Bundesverbandes des Deutschen Groß- und Einzelhandels hat Ihre Europapolitik gestern „erschrekkend widersprüchlich und perspektivlos" genannt. Im Ausland werden Sie von der „Times" über „Le Monde" bis zum „Corriere della Sera" durch den Kakao gezogen. Herr Cheysson, der frühere Außenminister und jetzige EK-Kommissar, sagte auf eine Frage: „In der Tat finden sich in den letzten ein, zwei Jahren Widersprüchlichkeiten in der deutschen Politik, und zwar nicht nur im Rahmen der Gemeinschaft, sondern auch darüber hinaus." Der von Ihnen so gern zitierte französische Präsident sagte, Sie seien vom europäischen Weg abgewichen.Was das hier von Herrn Todenhöfer mit oberflächlicher Ideologie behandelte Thema des Verhältnisses von Reagans Weltraumrüstung zu einem zivilen europäischen technologischen Programm betrifft, so haben wir hier in der Debatte unsere Position klargelegt, Herr Lenzer. Aber warum Siefür SDI sind, außer daß Sie für Ronald Reagan sind, haben Sie in diesem Haus noch nicht dargelegt.
Hier zeigt sich auch, daß der Bundeskanzler Sprechblasen immer nach verschiedenen Seiten spricht. Auf dem Gipfel sagte er in Richtung Reagans: Wir sind ganz für SDI. Jetzt in Stuttgart sagte er: Nein, nein, wir sind natürlich für das europäische Technologieprogramm. Es handelt sich übrigens um das gleiche Programm, das Sie in der vorigen Woche in diesem Hause zusammen mit dem Bundeskanzler abgelehnt haben. Das war nämlich unser Antrag hier im Hause.Nun, da man zwei widersprüchliche Dinge gesagt hat, kommt natürlich der Stein des Weisen: Man macht beides zusammen. Leider sind Sie uns aber bis jetzt die Antwort schuldig geblieben, wie Sie auch nur eines dieser Projekte finanzieren wollen.
Wir sagen Ihnen noch einmal: Sie kommen durch diese Sprüche nicht davon weg, daß das Weltraumrüstungsprogramm droht, erstens unsere Grundlagenforschung zu militarisieren; dazu wird sich ja auch noch die Wissenschaft äußern. Zweitens drohen ein Ausverkauf unserer Technologie und eine Schwächung unserer Wirtschaft. Drittens — hierbei berufe ich mich auf den konservativen britischen Außenminister — droht eine Gefährdung des Zusammenhalts des Bündnisses und — ich berufe mich auf unseren eigenen Außenminister — der Politik des Ausgleichs mit dem Osten. Herr Genscher hat in Wien zu Recht gesagt, Weltraumrüstung und Entspannungspolitik seien unvereinbar, wir würden damit auch die Genfer Verhandlungen gefährden.Widersprüchlichkeit und Doppelzüngigkeit Ihrer Politik gibt es nicht nur in diesem Bereich, es gibt sie leider auch im institutionellen Bereich. Was wollen Sie denn in Mailand sagen, wenn dort der Dooge-Report diskutiert wird, nachdem Sie Ihr Veto in Brüssel eingelegt haben? Was wollen Sie denn eigentlich sagen? Wo bleibt denn die groß angekündigte Europäische Union, das neue Stresa, der weite Schritt nach vorn? Diese Bundesregierung ist ja noch nicht einmal in der Lage, zu sagen, was ihre Meinung zu dem Entwurf einer Europa-Verfassung ist.
Der Bundesrat behandelt das, der Bundestag behandelt das. Wir werden ein Hearing durchführen. Das einzige, was wir bisher von der Regierung zu diesem Vorschlag gehört haben, ist ein Brief des Genossen Stoltenberg
— Entschuldigung! —,
des Kollegen Stoltenberg an den Vorsitzenden desAuswärtigen Ausschusses, in dem er diesen Euro-
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10304 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. Mai 1985
Dr. Ehmke
pa-Verfassungsentwurf in Grund und Boden verdammt und sagt, er sei verfassungswidrig.Das ist die Regierung des Kanzlers, der mit der Europäischen Union und mit den großen europäischen Worten vor zwei Jahren angetreten ist. Jetzt weiß die Regierung noch nicht einmal zu sagen, was sie wohl zur Europa-Verfassung meint und die WEU unter deutscher Präsidentschaft endete gestern damit, daß eine Debatte über SDI verhindert wurde. Das ist Ihr Beitrag, Westeuropa zur zweiten Säule der NATO zu machen.Herr Bundeskanzler, es ist einfach so: Man kann Liebedienerei gegenüber einer amerikanischen Administration und Selbstbehauptung Europas nicht miteinander vereinbaren. Daran werden Sie scheitern, leider aber auf Kosten unseres Landes und auf Kosten der Interessen Westeuropas.
Das Wort hat der Abgeordnete von Heereman.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon unerträglich, wie die Opposition die Bundesregierung hier in der Diskussion angreift, weil sie die Lebensinteressen Europas und damit auch der Bauern in Brüssel verteidigt.Wenn Sie, Herr Kollege Ehmke, von „Sprechblasen" sprechen — ich habe diese Sprechblasen von 1969 bis 1982 miterlebt.
Der Herr Kollege Apel spricht hier über Milchkontingentierung, kritisiert sie und sagt, daß die Butterbestände anwachsen. Dazu sage ich: dem ist nicht so. Dann haben Sie von einer unsinnigen, törichten Agrarproduktion gesprochen, die betrieben wird.
Entschuldigen Sie, wer hat denn darauf hingewiesen, daß es keine Politik sein kann, dauernd die Bauern unter Produktionsdruck zu halten, die Preise zu senken, sie zu zwingen, die Produktion auszudehnen? Und wer hat Ihnen vorgeschlagen, 1976 eine Mengenregulierung einzuführen? Hätten Sie es 1978 gemacht, hätte keinem ein Kilo abgezogen zu werden brauchen, und wir hätten noch Milch an kleine und mittlere Bauern verteilen können.
Das ist doch die Situation. Wenn ich mir die Zahlen ansehe — und damit muß man fertig werden —
der acht Jahre von 1976 — ich nehme nur mal das,wo Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von derSPD-Fraktion, die Verantwortung hatten —, nur ab 1976, nicht den langen Zeitraum — —
— Herr Mann, reden Sie doch nicht über Dinge, die Sie glauben mit Petersilie regeln zu können.
Von 1976 bis 1982 sind im Durchschnitt die gewerblichen Erzeugerpreise um 40,5 % gestiegen, die Lebenshaltungskosten um 40,8 %, die Nahrungsmittelpreise um 28 % und die Erzeugerpreise für landwirtschaftliche Produkte in diesen acht Jahren um 1,4 %.
Jetzt frage ich Sie, wer hat denn die Dinge eingeleitet?Der Bundesminister fightet hier hart nicht nur um Preise, sondern auch darum, eine generelle Änderung der Agrarpolitik einzuleiten. Da folge ich Ihnen, Herr Kollege Roth, daß es notwendig ist, andere Elemente einzubauen. Wenn Sie so tun, als wenn die Bundesregierung und die Verantwortlichen das mit Sprechblasen erklärten, erwecken Sie den Eindruck, als wenn vorher alles in Ordnung gewesen wäre. Hätten Sie die Weichen in Europa anders gestellt, dann wäre vieles heute nicht so strittig.
Dann wäre auch die Unruhe bei der Landwirtschaft nicht so groß, wie sie es zur Zeit ist.
— Ich weiß, daß Sie nervös werden, und ich weiß, daß Sie darüber reden.
— Ach, Herr Mann, ich könnte Ihnen sagen: bei Ihnen kommt es nur darauf an, persönlich zu diffamieren, ohne etwas zu leisten. Man muß doch erst einmal etwas vorweisen, gerade auf diesem Sektor der Agrarpolitik.
Was Sie unseren Bauern von differenzierten Preisen erzählen, dabei selbst bei einem 15-Kuh-Betrieb noch saftige Abzüge einbauen und behaupten, ab 20 Kühen fängt der Großbetrieb an, das spottet doch jeder Beschreibung.
Sie haben doch von den Dingen überhaupt keine Ahnung.
— Das weiß ich wahrscheinlich besser als Sie, um Ihnen das hier mal zu sagen. Denn ich weiß um die Strukturen, die Sie anscheinend nicht kennen.Die Agrarprobleme sind deswegen zu einem europäischen Problem geworden, weil nur im landwirtschaftlichen Bereich die weitestgehende europäi-
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Freiherr Heereman von Zuydtwycksche Lösung bei der Verwirklichung des EG-Vertrages gewählt worden ist. Nur in der Landwirtschaft sind nationale Souveränitätsrechte in großem Umfange auf die Europäische Gemeinschaft übertragen worden. Und nur deswegen ist die Landwirtschaft ein europäisches Sorgenkind. Sonst wäre sie genauso wie der Arbeitsmarkt, die Eisenbahn, der Schiffsbau, die Stahlindustrie, die Textilindustrie ein nationales Sorgenkind. Das wollen wir doch einmal sehen. Alle übrigen Bereiche haben über den Gemeinsamen Markt die Vorteile bis zu den Überschüssen.
— Wissen Sie, ich bleibe noch auf dem Boden und beschäftige mich auch noch mit anderen Dingen. Aber Sie heben j a noch nicht einmal ab, um zu denken. Das ist doch Ihr Nachteil.Meine Damen und Herren, es ist also unredlich, hier die Schwierigkeiten des Agrarsektors zu mißbrauchen und, wenn Sie so wollen, auf dem Rücken der Bauern Demagogie zu betreiben. Ich möchte sagen, die EG-Landwirtschaft verursacht sicherlich viele Kosten und enorme Summen. Aber die europäische Stahlindustrie benötigt bei 400 000 Arbeitskräften 40 Milliarden D-Mark. Die Landwirtschaft hat 8 Millionen Arbeitnehmer und erfordert 30 Milliarden D-Mark. Bitte, wägen Sie richtig ab.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich möchte der Opposition, deren Ministerpräsident Rau j a für Bibelsprüche bekannt ist, einen nicht verdrehten Bibelspruch sagen.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Richtet nicht — —
Herr Abgeordneter!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet; denn das Maß, mit dem ihr meßt, wird an euch gemessen werden.
Herr Abgeordneter, ich habe Sie gebeten, Ihre Rede zu beenden. Dies ist fast eine Minute über die Zeit. Wir müssen hier ein bißchen korrekt verfahren.
Das Wort hat der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Herr Dr. Mertes.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung läßt sich in ihrer Europapolitik nicht beirren; weder durch böswillige Fehldarstellungen noch durch polemische Verzerrungen seitens der Opposition. Die SPD hat offensichtlich denBlick für das Ganze unserer Europapolitik verloren.
Sie weidet sich billig an vorübergehenden Schwierigkeiten, die in weiteren Verhandlungen mit Sicherheit gelöst werden können. Die SPD handelt nach dem Prinzip: Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten. Die Fehlkalkulation, die solcher Haltung zugrunde liegt, wird nicht aufgehen! Ich denke hier bisweilen an Bismarcks Wort, das der Kollege Kiechle soeben zitiert hat, aber auch an Tucholsky, der gesagt hat: Die Unkenntnis des Gegenstands erhöht erheblich die Sicherheit des Urteils.
Dem Kollegen Roth möchte ich sagen: Die Aufstellung falscher Behauptungen ist noch keine richtige Politik.Herr Kollege Ehmke, Sie haben den Bundesminister des Auswärtigen in einer Weise zitiert, die seine Wiener Aussage aus ihrem Zusammenhang reißt. Es war der Bundesminister des Auswärtigen Genscher, der zu Recht den Begriff der „realistischen Entspannungspolitik" schon vor langen Jahren als wir, die CDU/CSU, noch die Opposition waren, eingeführt hat, um ihn von einer illusionären Entspannungspolitik abzusetzen. Er hat sich mit Erfolg auf dem Bonner NATO-Gipfel im Juni 1982 für den Begriff der „echten Entspannung" als Ziel der Politik des Atlantischen Bündnisses eingesetzt,
um ihn von einer „trügerischen Entspannung" abzusetzen.
Bitte die volle Wahrheit, Herr Kollege Ehmke, nicht die halbe Wahrheit!
Wir haben früher die Europapolitik immer gemeinsam getragen, jedenfalls die seriösen Parteien in diesem Hause. Wollen Sie das in Zukunft nicht mehr?
Der Weg der Europäischen Gemeinschaft war nie ein kontinuierlicher Prozeß einer wie selbstverständlich voranschreitenden, immer intensiveren Einigung.
Die Wirklichkeit ist anders als theoretische Idealvorstellungen. Die Geschichte der EG ist reich an Beispielen für mühsame und zuweilen schmerzliche Einigungsprozesse. Ich erinnere nur an das Problem des britischen Haushaltsausgleichs, das jahrelang überproportional Zeit und Kräfte der Ver-
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Staatsminister Dr. Merteshandlungsführer in Brüssel gebunden hat — Herr Kollege Apel, das müssen gerade Sie wissen —, bis dann nach vier Jahren und zehn Europagipfeln schließlich in Fontainebleau im Juni 1984 eine mittelfristige Lösung erreicht worden ist. Widerstreitende Sachinteressen der Mitgliedstaaten lassen sich doch nur im Wege des politischen Kompromisses lösen.
— Widersprüche sind hierbei wie bei jeder demokratischen Entscheidungsfindung, Herr Vogel, nicht auszuschließen. Sie sind teilweise im EWG-Vertrag selbst angelegt, so z. B., wenn in Zeiten unstreitig knapper Haushaltsmittel gleichwohl für die Sicherung der landwirtschaftlichen Einkommen gesorgt werden muß — was übrigens vertraglich als eines der tragenden Prinzipien der gemeinsamen Agrarpolitik festgelegt ist.
Neun EG-Staaten dürfen sich auf Luxemburg 1966 berufen und danach handeln; aber wenn die Deutschen das in einer für sie besonders brisanten Lage auch einmal tun, dann ist das ein Mangel an europäischer Gesinnung. Das sagt die Opposition in diesem nationalen Parlament, wo sie die Regierung in dieser Frage wirklich hätte unterstützen können!
Der Bundesminister des Auswärtigen hat sich am 17. Mai in Bonn zu einem Gedankenaustausch mit dem belgischen Außenminister getroffen.
Der Bundeskanzler führte am 18. Mai Gespräche mit der britischen Premierministerin.
Der Tradition entsprechend ist die Abstimmung mit Frankreich nach wie vor besonders eng.
Zu diesem Zweck trifft sich heute Bundesminister Genscher mit Außenminister Dumas.
— Machen diese Tatsachen Sie so nervös, daß Sie ständig stören? Sonst sind Sie doch nicht ein so bösartiger Mensch.Am 28. Mai folgt ein Treffen des Bundeskanzlers mit Präsident Mitterrand. In der Öffentlichkeit unmittelbar nach dem Wirtschaftsgipfel geäußerte Zweifel an der Kontinuität der deutsch-französischen Zusammenarbeit sind bereits im Vorfeld durch Präsident Mitterrand selbst ausgeräumt worden.
Aber das hat der Kollege Roth wohl nicht gemerkt. Die vor uns liegenden Aufgaben dürfen nicht den Blick auf das versperren, was in Europa in den letzten beiden Jahren erreicht worden ist. Ich finde, Herr Kollege Apel, Sie waren hier soeben einfach nicht fair.Nur wenige Monate trennen uns noch von der Zwölfer-Gemeinschaft. Die Beitragsverhandlungen mit Portugal und Spanien stehen vor dem Abschluß. Die Einhaltung des Beitrittstermins, für den gerade wir uns beharrlich und mit Nachdruck eingesetzt haben, ist gesichert. Der sozialistische Ministerpräsident von Spanien anerkennt dieses Verdienst von Bundeskanzler Kohl ausdrücklich.
Zum gleichen Zeitpunkt wird die Gemeinschaft über erhöhte Eigeneinnahmen verfügen. In schwierigsten Verhandlungen ist es gelungen, in den Finanzierungsfragen zu tragfähigen Kompromissen zu kommen. Alle Partner haben dazu beigetragen. Mit der Einigung über das unter deutscher Präsidentschaft in Stuttgart geschnürte Verhandlungspaket — Briten-Ausgleich, Einleitung der Agrarreform, Haushaltsdisziplin, Erhöhung der Eigeneinnahmen, Öffnung für neue Politiken, Abschluß der Beitrittsverhandlungen — haben wir das europäische Schiff, das jahrelang in flauer Brise dahindümpelte, wieder auf den Kurs gebracht.
Diesen konstruktiven deutschen Beitrag haben alle unsere Partner anerkannt. Tun Sie das doch auch, seien Sie nicht so engstirnig, seien Sie doch nicht so kleinkariert.
Natürlich sind neue Schlechtwetterperioden auch für die Zukunft nicht ausgeschlossen. Aber wichtig ist: Es gibt wieder eine Basis für die Neuankurbelung der europäischen Einigungspolitik.
Für die Bundesregierung stehen bei einer etwaigen Regierungskonferenz — und es steht noch keineswegs fest, ob Mailand die Voraussetzungen dafür schaffen wird —
fünf Themen im Vordergrund: die Vollendung des Binnenmarktes, erhöhte Konvergenz der Wirtschafts-, Finanz- und Währungspolitiken, die Technologiepolitik, institutionelle Verbesserungen und der Ausbau der Europäischen Politischen Zusammenarbeit. Ich kann wegen Zeitknappheit hier auf Einzelheiten nicht eingehen. Alles in allem aber gilt: wir bleiben auf der Straße des europäischen Fortschritts, die immer wieder steinig und voller Hürden ist,
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Staatsminister Dr. Mertesaber auf der es dann doch immer wieder stetig vorwärtsging, gerade in den letzten zwei Jahren.
Das Wort hat der Abgeordnete Müller .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr von Heereman, Sie haben vorhin kritisiert, wir hätten kein Konzept gegen die Überschüsse gehabt, als wir an der Regierung gewesen seien.
Als wir an der Regierung waren, Herr Heereman, durften wir, um nicht Ihre Kritik herauszufordern, von Überschüssen überhaupt nicht reden. Die sind von Ihnen schlichtweg geleugnet worden.
Der Herr Kiechle hat sogar gesagt: Da liegen ein paar Tonnen Butter auf Lager, und schon spricht die SPD von Überschüssen. So war es.
Als wir das Apel-Papier herausgebracht hatten, haben Sie uns denn dabei unterstützt? Im Gegenteil, man hat uns beschimpft, man hat uns kritisiert und alles schlichtweg als bauernfeindlich hingestellt.
Nun zum Herrn Bundeskanzler, der vorhin seine Agrarpolitik gelobt hat. Herr Bundeskanzler, ich würde Ihnen empfehlen, einmal die Bauern danach zu fragen, wie sie Ihre Politik einschätzen. Oder fragen Sie Herrn Heereman, der ja auch einiges dazu gesagt hat.
Ich glaube, das ist nutzbringender, als hier zu spekulieren, wie gut sie ist. Gerade die Agrarpreisverhandlungen, die jetzt in Brüssel stattfinden, haben ganz deutlich gezeigt, wie miserabel diese Ihre Politik ist. Denken Sie nur an die Verschiebung des Milchwirtschaftsjahres und daran, wieviel Millionen das die deutschen Bauern gekostet hat.
Damit bin ich bei Ihnen, Herr Kiechle. Sie haben mir vorgeworfen, ich hätte im Deutschlandfunk gesagt, Sie hätten für die Bauern nichts erreicht. Das stimmt zum Teil.
Denn ich habe hinzugefügt: im Verhältnis zu dem, was Sie vorher versprochen haben. Sie haben gesagt, es werde keine Butterpreissenkung geben. Sie haben eine Senkung um 2 % hinnehmen müssen. Sie haben gesagt, Sie würden alles tun, damit die Milchquote nicht gesenkt werde. Sie ist um eine Million Tonnen gesenkt worden. Sie haben weiter gesagt, es werde keine Getreidepreissenkung geben. Trotzdem waren Sie am Schluß so weit, eine Senkung von 0,9 % in Kauf zu nehmen.
Das sind die entscheidenden Punkte, die wir Ihnen vorwerfen müssen. Das ist der Grund, warum wir von einer traurigen Bilanz sprechen, warum wir von Sprüchen Ihrerseits sprechen und warum wir sagen, daß Sie neuen Streit in unsere Dörfer hineintragen und neuen Streit bei unseren Landwirten verursachen.
Das Wort hat der Abgeordnete Klein .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Debattenbeiträge der SPD trugen heute zum Teil tatsächlich burleske Züge.
— Herr Kollege Vogel, das, was einer sagt, ist eine Sache. Eine andere ist es, daß man zumindest lesen können sollte. Sie haben Herrn Minister Kiechle hier vorgehalten, er habe von seinem Vetorecht Gebrauch gemacht. Es stand j a in allen Zeitungen, daß er keinen Gebrauch davon gemacht hat.
Also, die Basis Ihrer Rede war schon falsch; Sie müssen sich eben präziser informieren.
Herr Apel, ich bin zwar kein Landwirtschaftsexperte, aber ich habe mich kundig gemacht. Das, was Sie hier erzählt haben, war die reinste Unwahrheit. Sie haben von zehn Millionen „tons", wie Sie sich auszudrücken beliebten,
gesprochen, die in der EG zuviel produziert würden. Dabei liegt die jährliche Produktion bei 2,3 Millionen Tonnen.
Also, Herr Apel, da sieht man schon die Windigkeit Ihrer Argumentation.
Aber Sie hatten ja immer ein bißchen Schwierigkeiten mit Europa. Denn wenn ich mich recht erinnere, waren Sie es doch, der die fatale Formel vom „Zahlmeister Europas" eingeführt, unseren Partnern damit den Eindruck neureicher Arroganz vermittelt und manchem Bundesbürger den Blick dafür verstellt hat, daß sich unser Lebensstandard und unser Sozialniveau durch den europäischen Zusammenschluß in wenigen Jahren vervielfacht haben.Wer über den Zustand der Europäischen Gemeinschaft so spricht, wie Sie das heute hier getan haben — der Kollege Lenzer hat zu Recht von Totschlagsvokabeln gesprochen —,
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Klein
betreibt entweder, Herr Kollege Ehmke, allerbilligste Parteipolemik oder provinziell-hypochondrische Nabelschau.
Stimmt es denn nicht — das wollen wir an die Adresse derer, die ein vereinigtes Europa wollen, auch einmal sagen —, daß die junge Generation — aber nicht nur sie — die Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Gemeinschaft heute als Selbstverständlichkeit betrachten kann? Stimmt es nicht, daß wir im westlichen Teil Europas — wohlgemerkt: im westlichen, leider nicht im östlichen — seit 40 Jahren in Frieden und Freiheit leben?
Stimmt es nicht, daß der europäische Zusammenschluß unsere Rückkehr in die Völkergemeinschaft ermöglicht hat und für die Menschen im kommunistisch dominierten Teil Europas ein Hoffnungszeichen, ein demokratisches Modell friedlichen Zusammenlebens darstellt?
Stimmt es nicht, daß die Bundesrepublik Deutschland im Wirtschaftsraum der EG heute schon mehr als 50 % — bei Hinzurechnung Portugals und Spaniens mehr als 60% — ihrer Exportproduktion absetzt und damit Millionen von Arbeitsplätzen sichert?
Der Genosse Ehmke — Sie lieben diese Anrede ja — hat vorhin in irgendeinem Zusammenhang „Le Monde" zum Zeugen angerufen. Auch ich möchte Ihnen eine Passage aus „Le Monde" vorlesen, die allerdings schon vor einigen Jahren erschienen ist. Sie schrieb:Es ist zu fürchten, daß sich die Partei Willy Brandts nicht damit begnügt, die Stationierung der Raketen zu bekämpfen, sondern daß sie immer mehr die nukleare Abschreckung, die Sicherheitspolitik
und sogar, obwohl eine immense Mehrheit der Deutschen dies nicht will, die Bindungen der Bundesrepublik an die NATO aufkündigen will.Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, von dem Schutt, den Sie uns nach 13 Jahren, verehrte Kollegen von der Sozialdemokratischen Partei, Regierungsverantwortung — auch in der Europapolitik — hinterlassen haben und den diese Bundesregierung jetzt mit großer Mühe wegräumen muß, will ich gar nicht reden.
Diese Bundesregierung, Herr Kollege, hat — das gilt in besonderem Maße für Bundeslandwirtschaftsminister Kiechle — keinen Nachholbedarf an europäischer Gesinnung und verantwortungsbewußter Vertretung deutscher Interessen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Wulff.
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, ich glaube, es ist heute auch die Stunde,
um Ihnen im Namen der CDU/CSU-Fraktion für Ihre großartige Europapolitik zu danken.
Ich glaube, es besteht weder hier im Hause noch irgendwo in der Welt Streit darüber, daß Helmut Kohl einer der großen Baumeister für den Beitritt Spaniens und Portugals zur Europäischen Gemeinschaft gewesen ist. Daran gibt es nichts zu deuteln. Dafür sind wir Helmut Kohl dankbar.
Ich frage mich in der Tat auch, was für ein Scherbenhaufen hier angeblich bei der Europapolitik vorliegt. Meine Damen und Herren, seit zweieinhalb Jahren haben wir in Europa — natürlich auch mit Schwierigkeiten; wer bestreitet das? — wieder eine gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik, dank unseres Bundeskanzlers.
Ich meine, wenn wir etwas weitergehen — Kollege Lenzer hat es schon angedeutet —, werden wir feststellen müssen, daß die Bundesregierung Fortschritte gemacht hat auf dem Gebiet der gemeinsamen europäischen Politik im Rahmen der Forschung und daß das erste Mal der Außenhandel in der Europäischen Gemeinschaft wieder zunimmt, der bis dahin abgenommen hat. Und jetzt nimmt er wieder zu. Wir müssen feststellen, daß große Fortschritte gemacht worden sind auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Währungspolitik und auf dem Gebiet der Umweltpolitik.
— Verehrter Herr Kollege Vogel, in solchen Situationen scheint es etwas vernünftiger zu sein, nicht immer die Nase zu rümpfen, sondern sie auch einmal zu putzen.
Ich denke dabei an Ihre Umweltpolitik.
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Dr. WulffMeine Damen und Herren, wir sollten auch nicht verkennen — viele Millionen deutsche oder europäische Touristen werden es erleben —, daß die Grenzen, nachdem diese Bundesregierung ihr Amt aufgenommen hat, durchlässiger geworden sind. Die Menschen können unbehinderter fahren und haben durch diese aktive Europapolitik der Bundesregierung gewonnen.
Meine Damen und Herren, wir sollten auch nicht verkennen, daß der Augenblick von Verdun, wo Helmut Kohl und Mitterrand sich die Hand reichten, eine große Stunde europäischer Einigungs-, Versöhnungs- und Friedenspolitik gewesen ist.
Alle im Lande, draußen in Europa in West- und in Ost, haben diese Stunde erkannt und haben bemerkt, was es bedeutet, wenn wir auf dem Wege fortfahren, den Konrad Adenauer begonnen hat, insbesondere mit unseren Freunden in Frankreicheine europäische Politik aufzubauen und gemeinsam zu gestalten.Herr Bundeskanzler, Sie haben in der Europapolitik unser Vertrauen. Ich bin sicher, daß wir mit Ihrer bewährten, engagierten und hervorragenden Politik in den nächsten Jahren ein gutes Stück weiterkommen werden.
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist beendet. Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 23. Mai 1985, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.