Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll der in der 77. Sitzung des Deutschen Bundestags am 28. Juni 1984 überwiesene Entwurf eines Steuerbereinigungsgesetzes 1985 — Drucksache 10/1636 — auch dem Rechtsausschuß zur Mitberatung überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. So beschlossen.
Für den aus der Parlamentarischen Versammlung des Europarats ausscheidenden Abgeordneten Dr. Hauff schlägt die Fraktion der SPD als Nachfolger den Abgeordneten Dr. Soell vor. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen. Damit ist Herr Dr. Soell als Stellvertreter in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats gewählt.
Ich rufe Zusatzpunkt 3 der Tagesordnung auf: Aktuelle Stunde
Die Fraktion der SPD hat gemäß Nr. 1 c der Anlage 5 unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu dem Thema
Folgen der Regierungspolitik für die Berufsausbildung
verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kuhlwein.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bundeskanzler Kohl hat im Wahlkampf 1983 jedem eine Lehrstelle versprochen.
Im Bericht der Bundesregierung zur Sicherung der Zukunftschancen der Jugend in Ausbildung und Beruf heißt es, die Bundesregierung werde keine vernünftige Maßnahme versäumen, um auch für die geburtenstarken Jahrgänge genügend Ausbildungsplätze zu sichern.Wir müssen nach zwei Jahren „Wende"-Regierung feststellen: Die Bundesregierung legt in diesem Jahr die schlechteste Berufsbildungsbilanz seit zehn Jahren vor.
Wir müssen feststellen: Der Bundeskanzler hat gegenüber den Lehrlingen, gegenüber den Ausbildungsplatzsuchenden in diesem Jahr erneut sein Wort gebrochen.
Er hat erneut sein Wort gebrochen, obwohl sich viele Betriebe in der Wirtschaft, vor allem im Handwerk, in diesem Jahr besonders angestrengt haben. Bei diesen Betrieben möchten wir uns dafür ausdrücklich bedanken.
Frau Minister Wilms, die Zahlen lassen sich auch nicht durch Tricks hinunterdefinieren. Wenn am 30. September dieses Jahres nur 92 % der Nachfrager einen Platz haben, dann ist das kein Grund für einen schönfärberischen Presseauftritt, sondern dann ist das für die beinahe 60 000, die auf der Straße stehen, eine persönliche Katastrophe. Das hätten Sie gestern auch einmal sagen sollen.
Sie haben außerdem zu sagen vergessen, daß 30 000 bis 40 000 Jugendliche gegen ihren Willen und nur deshalb, weil sie keinen Ausbildungsplatz gefunden haben, in Warteschleifen und Parkmaßnahmen untergebracht worden sind. Wenn Sie ehrlich wären, müßten Sie die auch hinzurechnen. Dann wären wir sehr schnell auf 100 000, die in diesem Jahr keinen Platz gefunden haben.
Sie sollten gleichfalls nicht, wie Sie das getan haben, auch noch die statistische Erfassung dieser Gruppe durch die Bundesanstalt für Arbeit blockieren.Sie haben schließlich gestern in der Pressekonferenz mit beispielloser Chuzpe die 60 000 Jugendlichen, die unvermittelt sind, einfach auf Null heruntergezaubert. Was Sie da vorgeführt haben, ist keine Milchmädchenrechnung mehr — das würde
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Kuhlweindie Milchmädchen beleidigen —, sondern das ist das wahre Hexeneinmaleins gewesen.
Wo haben Sie, Frau Wilms, in Ihrer Statistik eigentlich die 20 000 Abbrecher, die ihre Plätze für die Unvermittelten freimachen sollen, damit diese nachrücken können? Frau Wilms, sind Sie sicher, daß die Länder ihre bisherigen Anstrengungen noch einmal um 25 000 Jugendliche verstärken können und diese auf eigene Kosten in Schulen und Lehrwerkstätten unterbringen werden? Wie viele sollen von diesen 20 000 bis 25 000 eigentlich auch wieder in Warteschleifen untergebracht werden?Wie kommen Sie eigentlich dazu, den Jugendlichen Maßnahmen des Arbeitsamts nach dem Arbeitsförderungsgesetz als Alternativen anzubieten, wo diese Jugendlichen doch einen ordentlichen Beruf nach einem geordneten Ausbildungssystem erlernen wollen?
Schließlich: Woher wollen Sie eigentlich die Mittel für eine Aufstockung des Benachteiligungsprogramms nehmen? Um wie viele Plätze soll dieses Programm aufgestockt werden? Um 2 000, 3 000 oder 5 000? Man muß berücksichtigen, daß es 60 000 Unvermittelte gibt. Woher wollen Sie die Mittel nehmen, wenn der Bundesfinanzminister, wie die regierungsamtliche „Bild-Zeitung" feststellt, dieses Geld nicht herausrücken will?Meine Damen und Herren, wir haben frühzeitig vor der Katastrophe gewarnt. Die Bundesregierung hat die Probleme vernachlässigt und verniedlicht.
Sie, Frau Wilms,
hätten lieber rechtzeitig den Bundeskanzler von der Notwendigkeit zusätzlicher Anstrengungen des Bundes überzeugen sollen; denn die Probleme der jungen Menschen in unserem Lande lassen sich nicht durch Aussitzen lösen. Hier muß gehandelt werden!
Wenn der Bundeskanzler den Pannen der letzten Monate nicht noch weitere hinzufügen will, dann können wir ihm nur raten, endlich sein Versprechen gegenüber den jungen Menschen in diesem Lande einzulösen.
Der Bundesarbeitsminister hat letzte Woche mit einem Griff in die Lostrommel deutlich gemacht, was diese Bundesregierung vom Recht der jungen Menschen auf Ausbildung hält. Er hat in seinem Drang nach Publicity wahrscheinlich gar nicht gemerkt, wie symbolträchtig dieser Akt gewesen ist, symbolträchtig nämlich deshalb, weil die „Wende"-Regierung die Zukunftschancen der jungen Generation zu einem Lotteriespiel hat verkommen lassen.
Das Wort hat der Abgeordnete Graf von Waldburg-Zeil.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Selbstverständnisdebatte des Deutschen Bundestages hatte der Fraktionsvorsitzende der SPD, wie ich glaube, ein paar sehr bemerkenswerte Ausführungen gemacht. Er sagte, daß man nicht immer sagen solle, man habe recht gehabt und der andere habe nicht recht gehabt. Herr Kuhlwein, vielleicht haben Sie in dieser Debatte gefehlt.
Vielleicht spielt da der Ärger mit, daß man zunächst Katastrophenzahlen in die Luft gesetzt hat.
Sie haben zunächst Katastrophenmeldungen in die Luft gesetzt, und nachher sind dann die Zahlen etwas anders gewesen. Darüber haben Sie ein bißchen den Arger entladen.Meine Damen und Herren, einfach einmal zwei Zahlen und zwei Fragen. Die Fakten: In der Geschichte der Bundesrepublik hat es noch nie so viele Angebote an Ausbildungsplätzen gegeben und noch nie so viele abgeschlossene Ausbildungsverträge.
Ich glaube, das sollten wir positiv alle miteinander registrieren,
verbunden mit dem Dank an diejenigen, die das geschaffen haben, nämlich insbesondere die Ausbilder. Ich möchte nicht so weit gehen wie Sie in Ihrer Anfrage und die Bundesregierung als alleinige Verursacherin dafür anziehen. Aber die Bundesregierung hat sicher dadurch mitgewirkt, daß sie Mut gemacht hat und nicht miesgemacht hat.
Die zweite Zahl muß man mit genauso großer Deutlichkeit sagen, und die ist nicht erfreulich. Das ist die Zahl, daß immer noch 58 700 Jugendliche nicht versorgt sind. Diese Zahl gibt keinen Anlaß zur Freude. Es ist zwar keine Katastrophenzahl, aber sie gibt gar keinen Anlaß zur Freude.
— Nein, ich will das nicht beschönigen! Warum ist es keine Katastrophenzahl? — Weil die Erfahrung des letzten Jahres gezeigt hat, daß man mit solchen Zahlen fertigwerden kann. Man kann durch Maß-
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Graf von Waldburg-Zeilnahmen noch etwas tun. Das ist das Wesentliche, was wir jetzt in dieser Debatte angehen wollen: Die Wirtschaft, die Länder und der Bund wollen zusammenwirken.Ich möchte der Frau Minister nicht vorgreifen, aber ich möchte sagen, daß bereits eine Parlamentsinitiative vorliegt. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion und die FDP haben beantragt — der Antrag liegt bereits im Ausschuß —, daß wir die Mittel für das Benachteiligtenprogramm wesentlich aufstocken. Ich glaube, daß wir diesen Weg gehen sollten. Wir sollten jetzt nicht weiter in Panik machen.
Ich habe zwei Fragen; leider ist die Zeit ein bißchen kurz. Die eine Frage lautet: Warum ist bei uns das Ausbildungssystem plötzlich so ungeheuer beliebt geworden? Es ist j a so, daß es nicht nur die geburtenstarken Jahrgänge sind, die in das Ausbildungssystem hineindrängen; sonst müßte die Ausbildungsplatznachfrage schon wieder etwas zurückgehen. Um Ihnen eine Zahl zu nennen: 1956 waren es 50 % eines Altersjahrgangs, die Ausbildungsplätze wahrgenommen haben; mittlerweile sind es schon 74 %. Das duale System ist also ungeheuer beliebt geworden. Der Grund ist, glaube ich, ein arbeitsmarktpolitischer. Vergleichen Sie einmal die Zahlen der Jugendarbeitslosigkeit bei uns mit denen in Frankreich. Die Zahl bei uns liegt bei einem Drittel. Das duale System hat eine die Jugendarbeitslosigkeit sehr stark absorbierende Tendenz. Das haben die Jugendlichen gemerkt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die zweite Frage ist die: Warum befinden sich so viele in der Warteschleife? Sie, Herr Kuhlwein, haben in einer Pressekonferenz davon gesprochen, man habe die Jugendlichen abgedrängt. Ich frage mich: Wo bleibt der bildungspolitische Impuls der SPD? Das haben wir doch früher immer gefordert: Wenn jemand keinen Arbeitsplatz und keinen Ausbildungsplatz hat, dann ist es doch besser, er bildet sich weiter aus, als daß er nichts tut.
Freuen wir uns also über jeden Jugendlichen, der sich weiterbildet!Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Jannsen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute vor einer Woche überraschten mich Meldungen der deutschen Tageszeitungen und der Rundfunkanstalten, daß in der Bundesrepublik in Zukunft Lehrstellen wie in einer Lotterie ausgegeben werden: das Spiel 77 mit jungen Menschen! Der Bundesarbeitsminister war sich nicht zu schade, von vielen Hunderten oder Tausenden — es ist ja nicht ganz genau bekannt, wie viele in derLostrommel waren — einen Namen herauszuziehen und zu sagen: Dies ist der glückliche Gewinner eines Lehrplatzes in diesem Jahr.
Wie peinlich, daß zu jedem Gewinner in der Lotterie immer eine große Anzahl von Verlierern gehört, denn das ist j a das Wesen der Lotterie.
Aber dem nicht genug; das Bildungsministerium und das Arbeitsministerium setzten sich gestern mit Männern der deutschen Wirtschaft hin und erklärten, es gebe keine Katastrophe. Nun ist das Peinliche an der Situation, daß aus dem Gesichtswinkel dieser fünf Personen offenbar auch keine Katastrophe vorliegt. Ich nehme ihnen sogar ab, daß sie das glauben. Nur, mein Gesichtswinkel ist das nicht.
Ich sehe unter diesen mindestens 60 000 jungen Leuten — ich will den Zahlen, die Herr Kuhlwein genannt hat, nichts hinzufügen — nach den Angaben des Arbeitsamtes 40 000 junge Mädchen, die keinen Ausbildungsplatz zum 30. September vermittelt bekommen haben. Das ist knapp die dreifache Zahl derjenigen, die im letzten Jahr keinen Ausbildungsplatz vermittelt bekamen. Nun stellen sich die Bundesregierung und auch die deutsche Wirtschaft hin und sagt, wir sind ja in der Lage, diese 60 000 Ausbildungsplätze ohne weiteres noch in den nächsten paar Monaten zu schaffen.
Gleichzeitig erklärt dieselbe Bundesregierung, daß es eine großartige Leistung sei, innerhalb von zwei Jahren gerade 70 000 Ausbildungsplätze geschaffen zu haben.
Wie wollen Sie denn das bewerkstelligen? Es ist eine unglaubliche Art der Weißwäscherei, die hier von der Bundesregierung betrieben wird.Konsequenzen dieser Ausbildungspolitik
sind Jugendarbeitslosigkeit, Ausbildungslosigkeit. Aber selbst eine Ausbildung, die heute absolviert wird, bedeutet bei der Ungleichgewichtigkeit und der Unqualifiziertheit der Ausbildungsziele — es ist ein zu großer Anteil, und auch das hat die Bundesregierung dargestellt, in Bereichen, in denen Jugendliche keine Berufschancen haben —, daß eine ganz neue Arbeitspolitik für Jugendliche einschließlich der Ausbildungspolitik angefangen werden muß. Wenn Sie bedenken, daß 1983 über 50% der jugendlichen Arbeitslosen zwischen 20 und 24 Jahren schon eine Berufsausbildung hatten, dann müssen Sie immerhin feststellen, daß auch die Berufsausbildung auf Vorrat die Probleme der Jugendlichen nicht lösen wird.Da möchte ich gern mal sehen — erwarten tue ich es ja nicht—, welche Maßnahmen die Bundes-
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Dr. Jannsenregierung bereit ist über den Tropfen auf den heißen Stein — vielleicht ein großer Tropfen — mit dem Benachteiligtenprogramm hinaus zu ergreifen. In der ARD-Tagesschau vom Mittwochabend wurde mitgeteilt, daß davon die Rede sei, daß mehrere hundert Millionen D-Mark — bislang ohne Genehmigung des Finanzministers — für das Benachteiligtenprogramm vorgesehen seien. Ich bitte, sich einmal auszurechnen, wie viele Ausbildungsplätze das wären, wenn die gleichen Maßstäbe wie in der Wirtschaft angelegt würden, nämlich für einen Ausbildungsplatz etwa 20 000 DM. Es wären 5 000, mehr nicht, und das bei einer Zahl von 60 000, die zu beschaffen sind.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Neuhausen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Selbstverständlich bereiten 58 717 unvermittelte Lehrstellenbewerber Sorgen; aber Sorgen sind nicht Panik, und mit Panik ist niemandem geholfen.
Wer, meine Damen und Herren, wie ich eine größere Zahl befürchtet hat, sollte auch nicht anstehen, dankbar zu registrieren, daß sich diese Befürchtung nicht voll bestätigt hat.
Vielmehr haben alle Unrecht behalten, die die vielfältigen Appelle und Initiativen schon sehr früh, zu früh eben, als wirkungslos hingestellt haben.
Denn ein Gesamtangebot von 720 000 Ausbildungsstellen ist ein Rekord, der ausdrücklich zu begrüßen ist.
Er ist ein Erfolg der Appelle und der Initiativen.Mit großem Ernst, meine Damen und Herren, sehen wir, daß erhebliche Probleme bleiben, die sich regional und nach Betroffenengruppen sehr differenziert darstellen und eben auch um so schwieriger zu lösen sein werden.Wenn auch weiterhin die Verantwortung für die Schaffung zusätzlicher Plätze im dualen System bei der Wirtschaft liegt und die realistische Erwartung auf eine weitere Verbesserung besteht, so bleibt die Notwendigkeit flankierender Maßnahmen durch Bund und Länder. Deshalb müssen zusätzliche Mittel für das sogenannte Benachteiligtenprogramm zur Verfügung gestellt werden.
Graf Waldburg, Sie haben unseren Antrag erwähnt, wobei erstens aus der Sicht der Bildungspolitik der gesamtpolitische Aspekt der Situation auch bei der Umschichtung von Haushaltsmitteln berücksichtigt werden sollte und zweitens die Definition von Benachteiligung im Hinblick auf die sehr differenzierten Problemgruppen zu überprüfen wäre. Ebenso ist es notwendig, daß auch die Länder zusätzliche Ausbildungsplatzangebote machen. Die Bildungsangebote an beruflichen Schulen müssen, wenigstens vorübergehend, ausgeweitet werden.
— Alles, was hilft, ist zu begrüßen, Herr Kuhlwein.Wir halten auch berufsvorbereitende Maßnahmen für notwendig und wichtig. Aber nicht nur in diesem Zusammenhang — das geht mir wirklich langsam auf den Wecker — muß doch endlich dieses Zahlenverwirrspiel um Schleifen und Dunkelziffern aufhören. Jeder weiß, daß es Dunkelziffern gibt, und jeder weiß, daß selbstverständlich das vordringlichste Ziel darin besteht, normale Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen. Aber wenn es darauf ankommt, daß die jungen Leute nicht auf der Straße bleiben, und unser aller Phantasie und auch der Mut zu unkonventionellen Maßnahmen immer wieder gefordert sind, nützt es doch niemandem, vor allen Dingen nicht den jungen Leuten, wenn man sie ständig als einen Schleifenbestandteil, als einen Bestandteil einer Dunkelziffer diskriminiert.
Es nützt ihnen ebensowenig wie die Behauptung, eine ganze Generation sei zur Unsicherheit verurteilt. Heute zeigt sich doch ganz klar: Der weitaus größte Teil hat einen Ausbildungsplatz, und diese Übertreibungen schmälern nur den Ernst der Bemühungen um die bisher unvermittelten Bewerber.
Meine Damen und Herren, der 30. September ist kein endgültiges Datum, weder für die weiteren Bemühungen in der Wirtschaft und für flankierende Maßnahmen noch für den Blick in die Zukunft, in der die Probleme doch nicht verschwinden werden. Daher muß sichergestellt werden, daß es in Zukunft keine zusätzlichen Abdrängungseffekte auf dem Ausbildungsstellenmarkt gibt. Gerade weil der demographische Druck mehr und mehr durch ein anderes Bildungsverhalten der jungen Leute ergänzt wird, ist das Offenhalten des Bildungssystems, der weiterführenden allgemeinbildenden Schulen, des zweiten Bildungsweges und der Hochschulen, eine Voraussetzung dafür, daß die Ausbildungsrekorde der Wirtschaft auch zu einer Verbesserung der Chancen und Wahlmöglichkeiten der Lehrstellenbewerber führen.Das führt unter anderem auch in die Diskussion um die Berücksichtigung der Ausbildungsphase im Rahmen des Familienlastenausgleichs.
Gerade weil auch das Handwerk in den zurückliegenden Jahren einen wesentlichen Anteil am quantitativen und qualitativen Ausbau gehabt hat, sollte auch für überbetriebliche Ausbildungsstätten die Förderung z. B. der Modernisierung, der Einfüh-
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Neuhausenrung neuer Technologien ernsthaft geprüft werden.Meine Damen und Herren, fünf Minuten sind um. Ich möchte allen danken, die sich bemüht haben, aber nicht abstrakten Größen wie „der Wirtschaft", sondern jedem einzelnen Beteiligten und Verantwortlichen, der jedem einzelnen jungen Menschen geholfen hat.
Das Wort hat die Frau Bundesminister für Bildung und Wissenschaft.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich wiederholen, auch wenn es Sie stört, meine Kollegen von der Opposition:
Eine Lehrstellenkatastrophe 1984 findet nicht statt.
Eine Sekunde, Frau Minister! Ich bitte, für Ordnung auf der Tribüne zu sorgen — und dies auf sanfte Weise. — Ich bitte die Störer, den Saal zu verlassen, und bitte die Frau Ministerin, fortzufahren und die Uhr hier entsprechend einzustellen. Bitte Frau Minister.
Ich möchte also wiederholen: Die Lehrstellenkatastrophe, wie sie von vielen herbeigeredet werden wollte, findet auch 1984 nicht statt. Die gesetzlich vorgeschriebene statistische Zwischenbilanz der Bundesanstalt für Arbeit
zeigt zusammen mit den Kammerstatistiken: Noch nie hat es ein so großes Ausbildungsangebot gegeben wie jetzt mit 720 000 Plätzen, noch nie gab es so viele Ausbildungsverträge, nämlich rund 700 000, wie in diesem Jahr. In den letzten beiden Jahren wurden 70 000 neue betriebliche Ausbildungsplätze bereitgestellt.Noch nie gab es auch so viele Lehrstellenbewerber, nämlich ca. 760 000, wie in diesem Jahr. 92 % der Bewerber wurden bis zum 30. September vermittelt. Auch zu Zeiten Ihrer Regierung, meine verehrten Kollegen von der SPD, wurden immer nur ca. 95 % der Bewerber vermittelt.Es steht jetzt die große Aufgabe vor uns, den noch nicht vermittelten Jugendlichen in der Größenordnung von 58 700 in den nächsten Wochen und Monaten eine Ausbildungschance zu geben.
Für diese Aufgabe sind wir gerüstet.
Dieses Problem wird nicht verniedlicht,
von niemandem von uns, aber es ist auch nicht unlösbar. Es wird gelöst werden, und das ist die zentrale Aufgabe aller.Meine Damen und Herren von der Opposition, ich habe kein Verständnis dafür, daß Sie offensichtlich wenig anderes im Sinn haben, als offizielle, gesetzlich vorgeschriebene Statistiken als Taschenspielerei zu diffamieren.
Ich habe den Eindruck, daß es Ihnen unangenehm ist, eine Entwicklung auf dem Lehrstellenmarkt zur Kenntnis zu nehmen, die zwar noch ein Problem darstellt, aber doch ein Problem in zu bewältigender Größenordnung, und das ist der entscheidende Punkt.
Mit Ihrer Methode des Aufblasens von Problemen verunsichern Sie die Jugend, statt ihr — auch durch Vertrauen — Hilfe zu geben.
Mit dieser Methode geben Sie der Wirtschaft nicht den Rückhalt, den sie braucht, um noch mehr ausbilden zu können.Die Strategie der Bundesregierung war und ist es, die Wirtschaft in ihrem ökonomischen und gesellschaftlichen Engagement für die Ausbildung herauszufordern und zu fördern. Diese Politik hat sich als erfolgreich erwiesen. Das zeigen die Angebots- und Vertragszahlen.
— Wissen Sie marktwirtschaftliche und freie gesellschaftliche Ordnungskräfte erweisen sich eben auch im Bildungswesen letztlich als leistungsfähiger als der Glaube an staatliche Subventions- und Planungsmentalität.
Engagement läßt sich weder planen noch erzwingen, und wir brauchen vor allem dieses freiwillige Engagement. Ich möchte hier einmal einen Dank an alle sagen, die in Gemeinden, in Kirchen, in Organisationen diese freiwillige Hilfe leisten,
die wir vielfältig zu verzeichnen haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat seit Wochen erklärt, daß sie nach dem 30. September dort, wo Probleme auftauchen, Hilfe anbieten wird. Die noch nicht vermittelten Bewerber sind uns eine große Verpflichtung.Sehr froh bin ich darüber, daß die Repräsentanten der Wirtschaft gestern vor aller Öffentlichkeit noch einmal unter Beweis gestellt haben, daß sie
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Bundesminister Frau Dr. Wilmsihr Engagement für die jungen Menschen weiter stärken werden. Ich empfinde eine solche Pressekonferenz geradezu als einen Beweis für ein solches Engagement und für die Aktivität; sonst würden sich nicht die Präsidenten der Spitzenorganisationen vor der Öffentlichkeit hinstellen.
Ich gehe davon aus, daß die Wirtschaft in den nächsten Wochen noch bis zu 25 000 junge Menschen unterbringen wird.Die Beauftragten der Ministerpräsidenten der Länder haben in den Besprechungen ebenfalls verstärkte Anstrengungen zugesagt. Sie werden Hilfen durch schulische berufsbildende Maßnahmen und durch landesspezifische Sonderprogramme anbieten.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Odendahl.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über 750 000 Jugendliche suchten 1984 einen Ausbildungsplatz. Davon konnten 59 000 — das ist etwa die Einwohnerzahl der Stadt Celle — bis heute trotz aller Appelle und Anstrengungen von seiten der Wirtschaft nicht vermittelt werden. Das sind über 11 000 mehr als im Vorjahr. Von denen, die leer ausgingen, sind 65 % Mädchen. Nicht enthalten in diesen Zahlen sind gut 40 000 Jugendliche, die nur deshalb in schulische Kurzzeitmaßnahmen gegangen sind und nach wie vor einen Ausbildungsplatz suchen. Ganz vergessen sind diejenigen, die inzwischen schon resigniert hatten, so daß wir heute weit über 100 000 Jugendliche haben, die ohne Lehrstelle sind. Diese Aktuelle Stunde ist also eine Stunde der Wahrheit und eignet sich nicht mehr zum Zahlenverschieben, zum Ablenkungsmanöver und zum Eigenlob.
Es ist deshalb zu begrüßen, daß von seiten des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft nunmehr doch wenigstens die Absicht besteht, weitere Maßnahmen zur Förderung von Ausbildungsplätzen zu ergreifen, nachdem sich herausgestellt hat, daß es mit den in dieser aufgelegten wunderschönen Broschüre gepriesenen Aufklebern und Plakaten allein nicht getan ist.
Typisch für den Stellenwert, den die Bundesregierung dem Problem beimißt, ist jedoch, daß die angekündigte Aufstockung der Mittel für das Benachteiligtenprogramm ausgerechnet durch Einsparungen aus dem ohnehin dürftigen Bildungsetat finanziert werden soll.
Wenn der sparsame Finanzminister doch bei den Rindviechern auch nur annähernd so verfahren wäre, wie es jetzt ausgerechnet im Bildungsbereich bei den Jugendlichen geschieht.
Als wir im Sommer unserer Sorge Ausdruck gaben, einen schnell zu realisierenden und finanziell machbaren Maßnahmenkatalog vorlegten und die Regierung zum Handeln aufforderten, sprachen Sie von Panikmache und von Dramatisierung.Typisch ist auch die gängige Sprachregelung der derzeitigen Diskussion. Sie sprechen von „Ausbildungsrekord" und ziehen eine positive Bilanz. Wir
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Frau Odendahlhatten zwar einen Rekord an Bewerbern, aber eine Bilanz ist eine Gegenüberstellung von Aktiva und Passiva und ließe sich bei den Ausbildungsplätzen doch nur als positiv verkaufen, wenn tatsächlich mehr Ausbildungsplätze als Nachfrager da wären.
Die 59 000 bzw. 100 000 Jugendlichen, die bis heute keinen Ausbildungsplatz haben, können in Ihrer Bilanz keinen positiven Funken sehen. Für sie alle ist das Übriggebliebensein eine ganz persönliche Katastrophe.
Viele von diesen Übriggebliebenen waren vielleicht zu sogenannten Lehrstellenbörsen eingeladen: An Börsen geht es um Hausse und Baisse, da wird gehandelt und spekuliert. Da erlebt dann so mancher — aber vor allem war es so manche, nämlich 65% — den eigenen Kursverfall. In dieses miserable Gesamtbild paßt dann auch noch der Arbeitsminister Blüm, der als Glückslos einen einzigen Ausbildungsplatz aus der Lostrommel zieht, aber ungerührt alle anderen, die da Pech gehabt haben, im Regen stehen läßt.
Meine Damen und Herren, wie geht diese Regierung eigentlich mit unseren Jugendlichen um?
Es ist ein Trauerspiel, daß sie hier weder dieselbe Entscheidungskraft noch dieselbe Ausgabenfreude aufbringt, wie das bei den vorhin erwähnten Rindviechern der Fall war.
Das Wort hat der Abgeordnete Rossmanith.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst, Frau Kollegin Odendahl, möchte ich mich als ein Abgeordneter, der in seinem Wahlkreis sehr viele Bauern hat, dagegen verwahren, daß Sie diese mit „Rindviecher" titulieren.
Meine sehr verehrten Damen und Heren, wir haben vom Kollegen Kuhlwein heute wieder einen Ausritt in die Vergangenheit erlebt. Er bringt immer wieder den gleichen Schlager: Wahlkampf 1983 mit der sogenannten Lehrstellenzusage.Erstens. Diese Zusage ist eingehalten worden.
Auch haben wir in diesem Jahr wieder deutlich zugelegt. Ich sage Ihnen gleich — zum Mitschreiben — die Zahlen.
Wahrscheinlich sind das für Sie Zahlen, die Sie nicht so gern hören.Zweitens. Leider Gottes haben Sie nicht auf das Jahr 1969 zurückgegriffen. Zum wiederholten Male sage ich Ihnen jetzt: 13 Jahre lang haben Sie in Regierungsverantwortung die Wirtschaft kaputtgemacht,
haben Sie 16 000, 18 000 Insolvenzen pro Jahr produziert. Das hat Lehrstellen gekostet!
Aber kommen wir zur Gegenwart: Der Kollege Weisskirchen hat in der Berufsbildungsdebatte am 29. Juni während meiner Rede den Zwischenruf gemacht: „Wir sprechen uns wieder im September!" Herr Weisskirchen, wir haben jetzt zwar schon Oktober und ich muß Ihnen Zahlen präsentieren, die immer noch problematisch sind, die uns immer noch nicht gefallen — wir wissen genau, daß wir noch sehr, sehr viel zu tun haben —, aber es sind Zahlen, die mit den Zahlen, die Sie im Frühjahr an die Wand gemalt haben und die Sie jetzt wiederum vorlegen — natürlich verpackt, ohne darzulegen, weshalb Sie auf 100 000 kommen; es ist Ihnen wahrscheinlich selber unverständlich —, nichts zu tun haben. Die Rechnung können Sie nicht aufmachen.Am 30. September dieses Jahres hatten wir noch 58 000 Unvermittelte — eine Zahl, die auch uns bedrückt. Frau Minister Dr. Wilms hat deutlich gemacht, was wir zu tun gedenken,
um hier Abhilfe zu schaffen.
Das sind zwar, Herr Kollege Zander, etwa 10 000 mehr als im vergangenen Jahr — am 30. September 1983 hatten wir 47 000 —, aber wir hatten am 31. März dieses Jahres aus dem vergangenen, aus dem damals laufenden Ausbildungsjahr noch ganze 19 000 Unvermittelte. Das heißt, 25 000 bis 30 000 sind noch untergekommen. Wir haben die Zusage der Wirtschaft, daß noch 25 000 Lehrstellen bis zum 31. Dezember dieses Jahres oder im laufenden Ausbildungsjahr geschaffen werden. Wir wissen, daß wir dieser Zusage vertrauen können.
Wir haben bereits 700 000 besetzte Lehrstellen und würden dann auf 720 000 bis 730 000 Lehrstellen kommen. Dies ist eine Zahl, bei der es auch einmal angebracht wäre, diesen Kräften Dank zu sagen für die Leistung, die sie vollbracht haben.Sie haben in der letzten Debatte gefragt, ob wir uns in die Sorgen der Jugendlichen und der Familien hineindenken können. Wir können das nicht nur, wir tun das. Nur, wir wissen natürlich auch, daß wir die Jugendlichen dann zu Drogen und Alko-
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Rossmanithhol bringen, wenn wir ständig diese Hoffnungslosigkeit, diese Panik, die Sie verbreiten, propagieren.
Wir machen den Jugendlichen Mut; Mut zur Leistung, Mut zu dieser Regierung, Mut zur Sozialen Marktwirtschaft, die wir betreiben, die wir wieder auf die Beine bringen, und wir wissen, daß wir es damit auch schaffen werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Kastning.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Wilms, „noch nie, noch nie, noch nie" haben Sie vorhin gesagt. Ich sage: Noch nie hat eine Bundesregierung so wie diese die Zahlen auf dem Ausbildungsplatzmarkt ignoriert. Sie stützen diese Ignoranz auf Ihr Verhalten im Hauptausschuß des Berufsbildungsinstituts.
indem Sie sich weigern, erneut eine Sondererhebung über die durchzuführen, die sich in den Warteschleifen und befristeten Maßnahmen befinden.
Herr Rossmanith hat diesen verwerflichen Versuch eben erneut verteidigt. Das ist auch ein Stück dieser Arroganz, dieser Ignoranz. Dieses so beliebte duale System — das ich hier nicht angreifen will — hat derzeit Grenzen. Diese Grenzen wollen Sie verdecken. Reden Sie mit uns über diese Grenzen und arbeiten Sie mit uns zusammen!
Mich macht wirklich — ich habe das Gott sei Dank erst nur eineinhalb Jahre erleben dürfen — die mangelnde Bereitschaft betroffen, die man hier bei einigen Unionspolitikern findet, man muß schon fast sagen: die Unfähigkeit,
— hören Sie doch einmal zu! — vorübergehend den ideologisch manchmal etwas verengten Blick zu weiten und die Systemfrage einmal ein wenig hintanzustellen,
um wenigstens befristet über den eigenen Schatten zu springen. Ich bitte Sie, darüber etwas nachzudenken.
Wer soll denn das draußen, Frau Wilms, eigentlich noch begreifen, daß Sie — nur als Beispiel — zwar zu Recht den Ausbildungsverbund propagieren, am Ort draußen aber die Kommunalpolitiker und freien Träger mit ihren Bemühungen abrupt in einer Sackgasse enden, weil keine müde Mark mehr vom Bund dazugetan wird.
Wem wollen Sie das noch erklären? Wenn ich in meinem Dorf mit einem Vater rede, dann kommt das Gespräch automatisch an einen Punkt, wo er sagt: Schitt wat opp dat Palaver, över dat System, ick brok en Platz för min' Jung!
Entschuldigung, Herr Präsident, ich hoffe, ich habe die Würde des Hauses nicht verletzt. Aber es erregt einen doch immer wieder.
Es war durchaus verständlich, Herr Kollege.
Frau Wilms scheint nun seit gestern für den von ihr und von Ihnen, Herr Rossmanith, prognostizierten, man muß schon fast sagen: Restposten von glücklosen Jugendlichen das Ei des Kolumbus gefunden zu haben mit der Ausweitung des Benachteiligtenprogramms. Wenn ich mir die Zahlen der Ausweitung ansehe, sie mit der Zahl der tatsächlich einen Ausbildungsplatz suchenden Jugendlichen einschließlich der Warteschleifen vergleiche und dann noch erfahren muß, daß mangels Regierungskunst, die man eigentlich braucht, noch nicht einmal die Finanzierung gesichert ist, kann ich eher von einem Spatzenei sprechen.
Bei aller Würdigung dieser Ausweitung — wir werden uns sicher nicht verschließen, wenn diese Dinge im Ausschuß beraten werden —: es genügt eben nicht, nur mehr Mädchen hineinzunehmen, um sie in Berufen auszubilden, in denen sie schon jetzt keine Chancen haben.
Ich meine, es sind auch hier gemeinsame Anstrengungen notwendig, um Ergebnisse beim Programm „Mädchen in gewerblich-technischen Berufen" zu erzielen oder auch neue Berufsfelder im Technologiebereich zu erschließen.
Ich meine, wir können nicht darauf verzichten. Wir Sozialdemokraten werden unsere Anträge in den Haushaltsberatungen aufrechterhalten, um den verbleibenden registrierten ca. 50 000 Jugendlichen zu helfen, etwa durch Bezuschussung der Ausbildungsmaßnahmen außerbetrieblicher Art der freien Träger, Ausbildungsverbund, Sonderprogramme im Rahmen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen.
Die heute hier genannten Daten lassen für eine verantwortungsvolle Politik keine andere Entscheidung zu.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Hamm-Brücher. — Bitte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte erst kurz die Kollegin Odendahl in Schutz nehmen. Denn ich habe das nicht so verstanden, daß sie mit den
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Frau Dr. Hamm-Brücher„Rindviechern" die Bauern gemeint hat; gemeint waren die Milchkühe.
— Regen Sie sich doch nicht so auf, Herr Kollege. Wir wollen hier ja auch wieder ein bißchen entspannt über das Problem diskutieren.Ich meine, es ist hier weder zu Katastrophenstimmung noch zu Entwarnung oder Siegesfanfaren Anlaß. So war das j a auch gar nicht gemeint.Frau Minister, ich möchte hier etwas zur Diskussion stellen, was uns Liberale in besonderer Weise beunruhigt. Es ist der Sachverhalt, daß offenkundig zwei Drittel der unversorgten Jugendlichen Mädchen sind.
Das wurde kurz erwähnt. Wir befürchten sehr, daß die Ausbildungsplatzchancen für Mädchen derzeit sehr viel ungünstiger sind und daß die mühsam erkämpfte Chancengleichheit und Gleichberechtigung der Mädchen im Bildungsbereich hier wieder gefährdet werden könnten.
Deshalb bitte ich Sie ganz dringend, Frau Minister, wenn wir das Benachteiligtenprogramm aufstokken, hier in ganz besonderer Weise neuerlich etwas für die Verbesserung der Ausbildungsplatzsituation der Mädchen zu tun.
Denn wenn man hinter diese Zahlen schaut, liebe Kollegen und Kolleginnen, dann muß einen zweierlei wirklich alarmieren. Erstens. Zu viele Mädchen, nämlich etwa 75 %, drängen in zu wenige Ausbildungsberufe, nämlich nur ungefähr vier. Der zweite beängstigende Aspekt ist, daß ganz offensichtlich studienberechtigte Abiturientinnen mehr und mehr auf ein Studium verzichten, und zwar überwiegend wegen der leidigen BAföG-Frage.
Ganz kurz vier Zahlen, verehrte Kollegen. Vor zwölf Jahren waren 88,6% der Mädchen studienwillig, in diesem Jahr nur noch 49,6 %. Vor zwölf Jahren hatten 5,8 % der Mädchen absolut keine Studienabsichten, in diesem Jahr 23,8%. Die Zahl hat sich also bei den Mädchen vervierfacht, während sie sich bei den Jungen nur verdoppelt hat. Das ist doch alarmierend,
jedenfalls für uns Liberale in besonderer Weise alarmierend, weil offenbar vor allem Mädchen aus dem Netz möglicher Berufs- und Lebenschancen herausfallen. Hier wäre ich, Frau Minister, für eine Rückäußerung sehr dankbar.
Schließlich eine Anregung. Das Wort „Warteschleife" finde ich nicht sehr schön. Aber wir müssen aufpassen, daß die jetzt nicht zu einem Ausbildungsplatz kommenden Bewerber nicht beim nächsten Ansturm wieder unter die Räder geraten.
Deshalb schlage ich vor, daß man die Arbeitsämter, die Industrie, das Handwerk und die Ausbildungsbetriebe auffordert, eine Art Priorität für die Einstellung der jetzt nicht zum Zug Kommenden zu schaffen, d. h. eine Art Wartebonus einzuführen. Denn das Ende des Tunnels ist in Sicht, liebe Kollegen und Kolleginnen. Im nächsten, übernächsten Jahr beginnen die geburtenschwachen Jahrgänge. Dann kann sehr schnell aufgearbeitet werden — aber bitte nicht zu Lasten derer, die 1983 und 1984 keinen Ausbildungsplatz erhalten haben.Es ist also sehr wichtig — meine lieben Kolleginnen und Kollegen — hier besteht überhaupt kein Dissens —, daß wir dieses gemeinsam schaffen müssen —: Wir wissen, der Ausbildungsberuf wird für sehr viele unserer jungen Menschen nicht mehr der Lebensberuf sein können, aber diese erste Konditionierung, diese erste Bewährung in den Anforderungen des Arbeitslebens und des Berufslebens ist eben für jeden Jugendlichen unerläßlich. Da sollten wir uns nicht um Zahlen streiten und uns nicht gegenseitig so rechthaberisch die Schuld zuweisen, sondern — genau an der berufsbildungspolitischen Stelle — unsere Aktivitäten — ansetzen. Sie ein bißchen kämpferischer, wir ein bißchen vornehmer.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Weisskirchen.
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich glaube, daß wir uns alle etwas vormachen — das sage ich ganz bewußt jetzt im Blick auf die Union —, wenn Sie sich nicht darüber im klaren sind, daß allein schon die Zahl von 58 700 für jeden einzelnen dieser 58 000 eine ganz persönliche Katastrophe ist. Wie wollen Sie das anders bezeichnen?
Nehmen Sie dann noch die hinzu, die in Maßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit hineingekommen sind, und nehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß das junge Menschen sind, die jetzt schon über 18 Jahre als sind und die einen Ausbildungsplatz haben wollen!
Was nützt es ihnen denn, wenn sie auf ein leicht aufgestocktes Benachteiligtenprogramm verwiesen werden? Das hilft diesen 100 000 jungen Menschen überhaupt nichts.Liebe Kolleginnen und Kollegen, vermutlich wird der Herr Minister Norbert Blüm nun gleich nach mir reden. Ich finde es schade, daß er nicht vor mir
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6568 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 89. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Oktober 1984
Weisskirchen
geredet hat; aber vielleicht können Sie dann auf meine Worte eingehen. Herr Blüm, Sie müssen sich darüber im klaren sein, was das bedeutet, was Sie in der letzten Woche getan haben. Es bedeutet, daß Sie Politik durch Spielerei ersetzen, womit Sie nichts anderes erreichen werden, als daß die jungen Menschen noch mehr auf sich zurückgeworfen werden, als daß sie noch mehr Zukunftsangst haben.
Bei Ihnen wird nichts anderes herauskommen, als daß diese jungen Menschen gegenüber diesem Staat und dieser Regierung überhaupt kein Vertrauen mehr haben können. Das ist die Folge Ihrer Politik.
Die Vorschläge, die wir Ihnen schon seit einem Jahr auf den Tisch gelegt haben, sind da. Greifen Sie doch diese Vorschläge auf! Wir haben Ihnen doch angeboten, wie man versuchen kann, die hunderttausend Plätze zu schaffen. Schon vor einem Jahr hätten Sie zugreifen können. Was haben Sie aber getan? Heute jammern Sie darüber, daß 59 000 keinen Ausbildungsplatz haben.
Wenn Sie nicht das BAföG kahlgeschlagen hätten, dann wären nicht soundso viele Zehntausende junger Menschen zusätzlich auf den Ausbildungsmarkt gedrängt. Das haben Sie ganz allein zu verantworten.
Ein Zweites. Wir haben Ihnen gesagt, daß die Zahl von knapp über 700 000 Ausbildungsstellen, die Sie auf den Tisch gelegt haben, nicht ausreichen wird. Es war auch schon im Bundesinstitut für Berufsbildung klar und deutlich, und alle, die etwas von der Sache verstehen, haben Sie darauf hingewiesen, daß der Nachfragedruck in diesem Jahr sehr viel größer sein wird, als das zuvor der Fall gewesen ist.
Wenn Sie behaupten, daß die Wirtschaft ihre Aufgabe gelöst hat, dann trifft das nur für einen Teil der Wirtschaft zu.
Das trifft für die Handwerker zu, das trifft für die Kleinen zu, das trifft für die Gewerbetreibenden zu. Wir sagen ein Dankeschön, daß sie dies getan haben.
Dann dürfen Sie aber nicht vergessen hinzuzufügen, daß es Tausende und Zehntausende von Betriebsräten gegeben hat, die sich genauso dafür eingesetzt haben, nicht nur die Handwerker.
Weil es so ist, daß sich nur ein Teil der Wirtschaft engagiert hat, müssen Sie sich der Frage stellen, die Ihnen auch das Bundesverfassungsgericht auf den Tisch gelegt hat: Was machen Sie eigentlich mit den übrigen in der Wirtschaft, die nicht ausbilden? Wie machen Sie das, Herr Kollege Blüm — das erklären Sie nachher mal, wenn Sie hierhin kommen —, daß Sie die Trittbrettfahrer endlich dazu bringen, ihre Ausbildungsleistungen zu erbringen, ihrer Verantwortung gegenüber unserer Jugend endlich gerecht zu werden?
Dann lassen Sie uns doch einmal darüber reden, wie es denn in Nordrhein-Westfalen oder in Konstanz möglich ist, auch die Handwerker und die Kleingewerbetreibenden, die nicht ausbilden, dazu zu bringen, einen Teil der Kosten derjenigen zu ersetzen, die ausbilden — auch für ihre eigenen Interessen ausbilden. Darauf kommt es jetzt an. Lassen Sie uns also konkret darüber reden: Erstens. Wie ist es möglich, das Programm mit weit über 100 000 Ausbildungsplätzen, das wir Ihnen vorgelegt haben, schnellstmöglich zu schaffen? Wie können wir das gemeinsam erreichen? Lassen Sie uns zweitens darüber diskutieren: Wie ist es möglich, unbürokratisch dafür zu sorgen, daß der Teil der Wirtschaft, der nicht ausbildet, zu seiner Verantwortung gebracht wird?
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Weisskirchen, es macht sich gut, daß wir in einen Dialog eintreten können, egal, ob Sie zuerst reden oder ich.
Bleiben wir bei dem, was Sie gesagt haben. Ich stimme Ihnen zu: 58 000 junge Leute, die keine Lehrstelle haben, das kann niemanden hier im Saal beruhigen.
Das sind 58 000, die mit einer schlechten Ausstattung ins Berufsleben gehen, und für den einzelnen — auch da stimme ich Ihnen zu — ist es völlig belanglos, ob er seine Benachteiligung mit hunderttausend teilt, mit zweihunderttausend oder nur mit zehn — er steht auf der Straße.Weil das so ist, Herr Vogel, darf uns keine Maßnahme zu gering sein, kein Einfall zu klein, diesem einen zu helfen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 89. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Oktober 1984 6569
Bundesminister Dr. BlümUnd das habe ich getan. Auch wenn es 58 000mal Lotterie gäbe, hätten wir 58 000 in Arbeit und Ausbildung, und das Problem wäre gelöst.
Ja, meine Damen und Herren, wenn es 58 000 Einfälle, 58 000 Initiativen gäbe — und jetzt sage ich noch etwas dazu — —
— Hören Sie mir doch einmal ganz ruhig zu!
Wenn Sie einen Preis bekommen, verehrter Herr Professor Dr. Jannsen, und den nicht für sich behalten, sondern ihn einsetzen, damit eine Lehrstelle geschaffen wird, dann können Sie ihn sogar verlosen; dann komme ich zu Ihnen und unterstütze Sie. Dann haben Sie nämlich etwas getan und nicht nur geredet. Es wird viel zuviel geredet und viel zuwenig getan.
Ein Drittes will ich noch sagen: Ich weiß gar nicht, was Sie dagegen haben! Sie sind doch sonst immer gegen Leistungsnachweise und Eignungsprüfungen. Sie haben doch selbst bei der Zulassung zum Studium das Losverfahren eingeführt, und darüber hat sich niemand aufgeregt.Nun wollen wir dieses Thema nicht vertiefen. Das ist j a nicht das Hauptthema, Lehrstellen nachzuweisen. Lassen wir uns nicht auf Nebenkriegsschauplätze abdrängen.Ich bleibe dabei: Wir haben die höchste Lehrstellenzahl der Nachkriegszeit. Dieses Jahr ist ein Nachkriegsrekord. Bei aller Betroffenheit über die 58 000, die noch suchen und die wir noch unterbringen werden, bleibt es dabei, daß wir einen Nachkriegsrekord aufgestellt haben und daß wir all denjenigen danken müssen, die dazu geholfen haben. Das sind die Handwerker, das sind die Unternehmer, das sind die Betriebsräte, die geholfen haben, und die Gewerkschaften. Laßt uns doch nicht parteiängstlich und mit Scheuklappen Dank austeilen! Alle, die geholfen haben, haben eine staatsbürgerliche Pflicht erfüllt.Und jetzt noch zu den 58 000! Im letzten Jahr waren es zu diesem Zeitpunkt 47 000. Im letzten Jahr haben wir zwischen Oktober und März diese Zahl um 60 % gesenkt. Es wird doch weiter vermittelt. Am Stichtag hört es doch nicht auf. Wenn es uns dieses Jahr gelingt, gleiche Anstrengungen aufzubieten, wenn wir in Rechnung stellen, daß von der Wirtschaft 25 000 Ausbildungsplätze zusätzlich zur Verfügung gestellt werden sollen — gestern angesagt —, und wenn wir in Rechnung stellen, daß es noch 21 000 offene Stellen gibt — im letzten Jahr waren es nur 19 000 —, wenn wir das alles in Rechnung stellen, dann steht unsere Zuversicht auf realistischem Boden.Deshalb laßt uns hier nicht eine Stimmung erzeugen, als müßten wir alle Hoffnung aufgeben! Wenn wir uns anstrengen — und wir werden uns gemeinsam anstrengen: Regierung, Handwerk, Unternehmer; Sie sind auch eingeladen —, dann werden wir es schaffen, daß jeder, der eine Lehrstelle will, auch eine bekommt. Wir müssen uns anstrengen; das gebe ich zu.Jetzt bleibe ich noch bei den besonders Benachteiligten. Auch insoweit stimmt, was gesagt wurde: Die besonders Benachteiligten sind die Mädchen. Dann laßt uns doch darüber nachdenken!
— Nicht nur nachdenken, sondern auch handeln. Nachgedacht haben Sie auch, nur nicht gehandelt.Wir haben in unserem Entwurf des Arbeitszeitgesetzes einen Teil jener Beschäftigungshemmnisse zurückgenommen, die die Einstellung von Frauen behindern,
beispielsweise unterschiedliche Pausenregelungen.
— Das kann noch keinen Arbeitsplatz gebracht haben. Das Gesetz ist ja noch nicht verabschiedet. Wir wollen es verabschieden.
Wir wollen den Nimbus von sogenannten Männerberufen beseitigen; denn manches von dem, was als Männerberuf ausgegeben wird, ist nur Ausfluß von patriarchalischer Gesinnung. Das wollen wir beseitigen. Wir tun etwas.
Wir haben jenen Perfektionismus aufgegeben, der dem Handwerksmeister in einem kleinen Betrieb vorschrieb, eine sanitäre Anlage für Frauen, getrennt von der der Männer, zur Verfügung zu stellen. Das wollen wir aufgeben. Im Flugzeug gibt es auch keine getrennten Toiletten; und kein Flugzeug ist deshalb abgestürzt.
Wir machen ganz praktische Politik.
— Ja, Herr Vogel, ich gebe zu, daß die großen ideologischen Bedürfnisse, d. h. die Erklärung der Welt aus einem System heraus, keinem Lehrling helfen. Es ist ja keine Wand, die vor uns steht, aber es sind viele kleine Stolpersteine. Die kleinen Stolpersteine werden wir Zug um Zug ausräumen. Ich erinnere beispielsweise an die Tatsache, daß ein Alleinhandwerker, der einen Lehrling ausbildet, sozialversicherungsrechtlich Vorteile hat. Wenn er zwei ausbildet, fallen die Vorteile weg. Solchen Irrsinn werden wir beseitigen. Wir machen keine Sozialpolitik aus dem Lehrbuch, sondern wir machen eine Sozialpolitik aus der Praxis.
Meine Ermunterung geht auch an die jungen Leute. Sie dürfen nicht aufgeben. Ich meine, es muß
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Bundesminister Dr. Blümuns auch zu denken geben, daß die Zahl der Abbrecher zunimmt. Das bedeutet für mich erstens, eine Rückfrage an die Hauptschulen, überhaupt an das Schulsystem zu stellen. Zweitens hat aber vielleicht auch, Herr Kollege Jannsen, die Wehleidigkeit der jungen Generation zugenommen.
— Wenn einer einen Lehrplatz hat, kann es keine Aussichtslosigkeit geben. Vielleicht hat die Wehleidigkeit zugenommen. Die ersten Monate eines Lehrverhältnisses sind keine Zeit, in der man ohne Anstrengung und Durchhaltevermögen zurechtkommt. Deshalb auch mein Appell an die jungen Leute, erstens weiter auf der Suche zu bleiben und zweitens den Lehrplatz zu halten, den man hat; denn auch da gilt der Satz: Ein Beruf ist besser als kein Beruf, auch wenn es nicht der Wunschberuf ist. Man hat es im Leben auf der Grundlage einer handfesten Ausbildung leichter, auch wenn es um Umschulung und Weiterbildung geht.
Den Lebensberuf gibt es sowieso immer weniger.Ich sage das auch, weil ich glaube, daß die Qualifikation der Arbeitnehmer die beste Voraussetzung für den einzelnen ist. Das ist ein Stück Schutz vor Arbeitslosigkeit, andererseits allerdings auch wesentlich für unsere weltwirtschaftliche Chance. Unsere weltwirtschaftliche Chance liegt bei den intelligenten Produkten, bei einer qualifizierten Arbeitnehmerschaft. Auch aus diesem Grunde muß der beruflichen Ausbildung ein neues Ansehen verschafft werden. Sie haben ja jahrelang daran gearbeitet, daß das abgewirtschaftet wird. Sie haben j a jahrelang das Handwerk und die Praxis madig gemacht.
— Herr Vogel, Sie werden sich doch entsinnen, daß für Sie der Himmel der Bildungspolitik die Universität war. Sie sind doch gar nicht mehr auf dem Boden der Praxis geblieben.
Aber lassen wir die Vergangenheit ruhen.
— Herr Vogel, wenn wir schon von Unsinn reden: Im August hat Ihre Partei angekündigt, 200 000 Jugendliche würden unversorgt bleiben.
Im September waren es 100 000. Das war Herr Rau.
— Herr Kuhlwein, Sie haben das im September gesagt. Aber jetzt sind wir bei der Rechthaberei. Ich will Sie nur darauf hinweisen, daß Sie mit IhrenVoraussagen etwas vorsichtiger sein sollten. Die Kassandra war zwar nicht beliebt, aber sie hatte wenigstens recht. Sie haben noch nicht einmal recht. Das ist der Unterschied zwischen der Kassandra und Ihnen.
Ich will meine Redezeit nicht durch den Blick zurück vertun. Vielmehr will ich erstens all denjenigen danken, die mehr getan haben, als sie eigentlich hätten tun müssen, die über ihren Bedarf hinaus ausgebildet haben. Sie haben eine staatsbürgerliche Pflicht erfüllt.
Zweitens gilt mein Aufruf, diesen Erfolg — es ist ein Erfolg — nicht als Ruhekissen zu betrachten, sondern die 58 000 als einen Stachel in unserem Fleisch zu empfinden. Deshalb sollten wir alle gemeinsam — Sie sind alle eingeladen; das ist nichts für Parteipolitik — handeln und das in unseren Kräften stehende tun, um dafür zu sorgen, daß auch diese 58 000 unterkommen. Wahrscheinlich werden sie nur unterkommen durch eine Vielzahl kleiner Maßnahmen und nicht durch eine große spektakuläre Maßnahme. Bleiben wir den kleinen Schritten treu!
Das Wort hat der Abgeordnete Schemken.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Katastrophe findet nicht statt. Ich habe Verständnis dafür, daß am heutigen Morgen die Opposition nicht recht zufrieden sein kann, denn die Opposition lebt ja nun einmal davon, daß die Regierung versagen müßte.
— Dafür habe ich Verständnis, Herr Kuhlwein.In diesem Fall hat sie nicht versagt. In diesem Fall sieht die Opposition einmal schlecht aus. Hätten Sie die Zahlen des gestrigen Tages vor der Beantragung dieser Aktuellen Stunde gehabt, wäre es dazu sicher nicht gekommen.Meine Damen und Herren, die Panik, die Sie erzeugt haben mit dem Schlagwort „200000 bleiben unversorgt", war unberechtigt. Dies war ein Popanz, den Sie aufgebaut haben. Es sind 58 000. Uns — das sage ich ganz offen — macht auch diese Zahl noch große Sorgen, und zwar sehr große Sorgen, weil es um Einzelschicksale geht, wie Herr Minister Blüm schon sagte.
Über den Dank an die Meister und Ausbilder hinaus sollte in aller Deutlichkeit auch Dank an diese Ministerin gesagt werden, die oft in unterschiedlichen Bereichen ob ihres Appells verlacht wurde. Ich habe immer bedauert, daß das Vertrauen, das wir in die Wirtschaft setzten, von Ihnen nicht so bewertet
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Schemkenwurde, wie es nach dem Ergebnis gerechtfertigt wäre.Sie waren doch mitbeteiligt; das macht der Berufsbildungsbericht 1984 deutlich. Wir sollten einmal hochrechnen, was auf Grund der Appelle an die Wirtschaft von 1976 an in diesem Bereich geleistet wurde.
— Herr Kuhlwein, selbstverständlich gibt es auch Defizite. Genau dort will ich jetzt einmal ansetzen. Sie können doch nicht leugnen, daß in diesem Jahr im Vergleich zu 1976 210 000 Ausbildungsplätze mehr zur Verfügung stehen.
Das ist ein gutes Ergebnis. Wir sollten unser Vertrauen in die Wirtschaft zum Ausdruck bringen, und wir sollten Dank und Lob an diejenigen sagen, die daran mitgewirkt haben. Selbstverständlich haben auch die Gewerkschaften mitgewirkt.In den Regionen, in denen man miteinander gearbeitet hat — Betriebsräte, Arbeitgeber, Berufsverbände, Industrie- und Handelskammern, die Kaufmannschaft und das Handwerk —, hat es funktioniert. Dort, wo Panikmache, Nörgelei und Miesmacherei, wie dies am heutigen Morgen der Fall ist, eingekehrt sind, hat es meist versagt.
Nur Vertrauen kann die Wirtschaft motivieren. Ich verstehe Sie einfach nicht, daß wir nicht geschlossener an das Problem der 58000 jungen Menschen herangehen und daß wir nicht geschlossen das Problem der Mädchen erkennen. Da sage ich ganz offen.Wenn Sie die Warteschleife mit ins Feld führen, muß ich Ihnen folgendes sagen. Beachten Sie dabei bitte, das es weitgehend Maßnahmen in der Berufsförderung, der Berufseinführung und der Berufsgrundausbildung sind, die bewußt so gewollt sind, weil es sich hier um schwache Schüler handelt.
— Entschuldigen Sie vielmals, genau das rechnen Sie in die Warteschleifen ein. Herr Kuhlwein, die Zahl von 30 000 wiederholt sich jährlich. Diese Zahl wird sich auch 1986 und 1987 wiederholen. Dann werden wir sogar ein Überangebot an Ausbildungsplätzen haben, weil es sich hier um spezielle Maßnahmen handelt.
— Das ist sachlich nicht falsch. Wo sind denn sonst diese Jugendlichen, wenn sie nicht mit diesen ganz spezifischen Angeboten den Einstieg in die Berufswelt finden? Hier wollen wir auch weiter ansetzen.Meine Damen und Herren, ich meine, es kommt ganz entscheidend darauf an, daß wir die Ausbildungsbetriebe motivieren. Wenn jetzt wieder die Ausbildungsplatzabgabe ins Gespräch gebracht wird, sagen wir: Wir lehnen diesen Weg der Reglementierung ab, wir lehnen diesen Weg der Bürokratie ab.
Wir lehnen es ab, daß die Handwerker und Einzelhändler weiter mit unproduktiven Arbeiten belastet werden. Wir möchten, daß sie vertrauensvoll auf uns hoffen dürfen, daß wir die anstehenden Probleme auch im Hinblick auf das noch schwierige Jahr 1986 miteinander bewältigen werden.
Ich möchte noch eine Korrektur anbringen. Frau Odendahl, es ist nicht so, daß die Mittel für das Benachteiligtenprogramm aus dem Titel 31 — Bildungsplan — genommen werden sollen, sondern sie werden aus dem Gesamthaushalt genommen.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Abgeordnete Vogelsang.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister Blüm, wenn Sie eben sagten, es werde in dieser Frage zuviel geredet, dann will ich Ihnen nicht unbedingt widersprechen. Aber wenn Sie zwei Drittel Ihrer Ausführungen damit verbrauchen, daß Sie den wiederholten Dank, den wiederum wiederholten Dank an die Wirtschaft vorbringen und von Rekordergebnissen sprechen, die auch schon fünfmal vorgetragen worden sind, dann stimme ich Ihnen allerdings zu, daß über dieses Thema zuviel geredet wird,
daß aber viel zu wenig über diejenigen geredet wird, die keinen Ausbildungsplatz bekommen haben.Es nützt Ihnen doch nichts, wenn Sie jetzt zum wiederholten Male von dem Rekord sprechen. Soll ich Ihnen denn den Minusrekord der Mädchen und Jungen vorhalten, die keinen Ausbildungsplatz bekommen haben, der in der Zeit dieser Republik noch nie so hoch war wie in diesem Jahr? Ich gebe zu, davon haben die auch nichts.
Ich hätte es gern gesehen, wenn Sie z. B. etwas zu dem Thema „Trittbrettfahrer" gesagt hätten, das Sie doch selber in die Diskussion gebracht haben.
Das ist ein Thema, das den Mädchen und Jungen möglicherweise geholfen hätte.Lassen Sie uns einmal anfangen. Es gibt doch in der Tat einen Haufen Gemeinsamkeiten. Wir sind uns einig über das System. Wir sind uns einig darüber, daß alle Mädchen und Jungen einen Ausbil-
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Vogelsangdungsplatz brauchen. Wir sind uns einig darüber, daß Geld Ausbildungsplätze schafft. Aber lassen Sie uns auch darüber nachdenken, ob denn der Weg, der jetzt beschritten wird, daß dieses System immer mehr staatlich subventioniert wird, der richtige Weg ist.Herr Schemken, so einfach ist das nicht, wenn Sie sagen: „Wir wollen keine Umlage; wir wollen keine Bürokratisierung." Subventionen staatlicher Art sind auch Bürokratisierung. Das können Sie einfach nicht vermeiden.
Ich bin dagegen, daß wir alle so sehr unsere Gräben haben, aus denen niemand hervorkommen will. Lassen Sie uns doch in der Tat einmal offen miteinander reden, indem wir uns einig sind über die drei Grundbegriffe, die ich eben genannt habe. Dann lassen Sie uns darüber reden, was wir mit diesen Trittbrettfahrern machen. Dann steht die Frage „generelle Umlage" nicht unbedingt allein da. Dazwischen gibt es noch viele Varianten, über die wir reden können. Wir sollten in der Sache reden, um den Mädchen und Jungen zu helfen.Mir macht es keinen Spaß, daß ich innerhalb von etwas mehr als einem Jahr zum zweiten Male in einer Aktuellen Stunde dieses Thema behandeln muß.
— Entschuldigen Sie! So einfach ist die Welt auch nicht, daß Sie sagen: Dann sollen wir es lassen. Der Anlaß ist doch eigentlich das, was einen dabei so traurig stimmt.
Ich möchte nicht — ich hoffe, darüber sind wir uns auch einig — im nächsten Jahr um die gleiche Zeit noch einmal hier stehen und alles das noch einmal diskutieren müssen, was wir hier bis heute auch an leerem Stroh gedroschen haben. Das wollen wir uns ehrlicherweise auch einmal zugestehen. Darum bin ich dafür: Lassen Sie uns einmal konstruktiv anfangen.
Wir machen Ihnen doch eine Reihe von Vorschlägen.
Ich bin doch auf das Thema „Trittbrettfahrer" eingegangen.
Sehen Sie es mir doch nach, daß ich Ihnen innerhalb von fünf Minuten nicht ein vollständiges Programm darstellen kann.
Ich bin dazu gern bereit. Wenn auf Ihrer Seite auch Bereitschaft vorhanden ist, dann können wir es erreichen, wie es Frau Minister gesagt hat, dieses Problem zu lösen.Ein Hinweis sei mir doch gestattet, Frau Minister Wilms: Mit dem Wort „Verlassen der Jugendlichen auf die Regierung" seien Sie in Zukunft etwas vorsichtiger. Das könnte falsch ausgelegt werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Feilcke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Vogelsang, natürlich versteht das jeder, daß Sie hier innerhalb von fünf Minuten keine ausführlichen Programme darstellen können. Aber von den Jugendlichen, über die wir heute mit Sorge sprechen, versteht es niemand, daß Sie solche Programme nicht innerhalb von 13 Jahren vorgelegt haben.
Ich finde, Sie hätten ein hohes Maß an Einfallsreichtum aufbringen müssen, dann hätten wir, glaube ich, heute weniger Grund, über dieses Problem in solcher Ernsthaftigkeit zu reden.
Bitte keine Zwischenfragen in der Aktuellen Stunde.
Ich muß zugeben, daß ist genausowenig hilfreich wie das, was Sie vorhin hier ausgeführt haben.
Ich möchte noch ein Wort in Richtung auf Herrn Kuhlwein sagen. Als relativ neuem Abgeordneten in diesem Hause mußte mir gesagt werden, daß Sie, Herr Kuhlwein, einmal Parlamentarischer Staatssekretär gewesen sind. Ich muß sagen, Ihrem Beitrag konnte ich nicht entnehmen, daß er von besonderer Ernsthaftigkeit und Sachlichkeit gekennzeichnet war.
Wenn Sie sehr kenntnisreich wären, wäre Ihnen allerdings die Schamröte ins Gesicht gestiegen; diese wiederum kann man nicht sehen, weil Sie das Gesicht ja zuwachsen lassen.
Meine Damen und Herren, ich verstehe nicht, warum Sie eigentlich immer den Eindruck zu erwecken versuchen, als ob es ausschließlich eine Aufgabe der staatlichen Aktivitäten wäre, die großen Probleme zu bewältigen. Es ist in erster Linie eine Aufgabe der ausbildenden Wirtschaft. Tatsächlich stellen wir ja fest, überall dort, wo es der Wirtschaft vergleichsweise gut geht, gibt es vergleichsweise auch geringe Probleme mit der Zahl der Ausbildungsplätze. Es gibt ein Süd-Nord-Gefälle. Damit
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Feilckesage ich nichts Neues. Aber die wirtschaftliche Entwicklung ist maßgeblich, sie muß gefördert werden, wenn es darum geht, das Ausbildungsplatzangebot zu vergrößern.Wenn Sie allerdings, meine Damen und Herren Kollegen von der SPD — und auch von den GRÜNEN — den Staat so sehr verantwortlich machen wollen, dann seien Sie bitte auch gerecht und sehen Sie nicht nur in Richtung Bundesregierung, sondern gucken Sie sich auch mal die Länderregierungen an. Sehen Sie sich doch mal an, wie die regionalen Unterschiede in Deutschland sind. Lassen Sie mich da, ohne daß ich zu viele Zahlen nennen will, einige wenige markante Beispiele aufzählen. Von 1974 an haben wir mit den Problemen der Ausbildungsplatznot und der Jugendarbeitslosigkeit zu tun. Von 1974 bis 1983, also in exakt zehn Jahren, ist die Zahl der Jugendlichen, die zum jeweiligen Stichtag Ende des Jahres in einem Ausbildungsverhältnis sind, in der Bundesrepublik Deutschland um 29,3 % gestiegen. Das ist eine erfreuliche Entwicklung. Unter diesem Durchschnitt von 29,3% liegen Hessen mit 27,2 % und, man höre und staune, Nordrhein-Westfalen mit 23 %.
— Ich komme darauf zu sprechen, Herr Kollege. Ich frage mich, ob das soziale Gewissen, das Sie ständig für sich zu reklamieren versuchen, in NordrheinWestfalen eigentlich zu den Akten gelegt worden ist.
Aber da Sie nach Schleswig-Holstein fragen, möchte ich Ihnen die Freude bereiten und sagen: die Steigerungsrate in Schleswig-Holstein betrug 50,8 %.
Jeder weiß, welche Regierung wir in Schleswig-Holstein haben. Und jeder weiß, welche Regierung wir in Berlin haben. Die Steigerungsrate in Berlin betrug in diesem Zeitraum — man höre! — 131 %.
Ich sage okay, dieser Erfolg von Schleswig-Holstein und Berlin ist auch den Jugendlichen in Hessen und Nordrhein-Westfalen zu wünschen.
Die Zahl der unversorgten Bewerber in 1984 ist in Nordrhein-Westfalen gegenüber der Zahl von 1983 bedauerlicherweise um 39,1 % gestiegen. In Berlin ist sie sogar um 10,5% zurückgegangen. Dennoch sage ich Ihnen, ich bin nicht der Auffassung, daß dies der Staat gemacht habe; aber der Staat kann einen erheblichen Beitrag dazu leisten, die Rahmenbedingungen und das Klima in der entsprechenden Richtung zu prägen.
Wenden Sie, meine Damen und Herren Kollegenvon der SPD, die Kreativität, die Sie bei der Kritik,ja bei der Beschimpfung der Bundesregierung aufwenden, dazu auf, um in den Regionen, in denen Sie politische Verantwortung haben, die Problemlösung voranzutreiben.
Das Wort hat der Abgeordnete Daweke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als letzter Redner will ich zwei Bemerkungen zu dem Stil unserer Diskussion machen. Zu dem Stil der Diskussion gehört, daß sich die Kollegen von GRÜNEN Gäste eingeladen haben, die offensichtlich mit vorbereiteten Transparenten und Flugblättern gekommen sind, um uns zu stören.
Zum Stil eines Teils der Presse gehört, daß man sich bestellen läßt und kommt, um etwas an Aktionismus für die Abendnachrichten zu haben. Ich finde das sehr bedauerlich, weil es in einem Riesenwiderspruch zu dem steht, was in der Selbstverständnisdebatte vor einiger Zeit gesprochen worden ist, in der wir uns doch einig waren, daß wir so etwas nicht mehr praktizieren wollten. Ich sage das sehr bewußt.
Zum Ritual der Diskussion um die Lehrstellen scheint es zu gehören — und das tut mir igendwo weh —, daß die SPD und die GRÜNEN mit großer Regelmäßigkeit in jedem Sommer, wenn wir noch nichts wissen, systematisch durchs Land ziehen und Zahlen verkünden, an die sie selber nicht glauben können. Systematisch, das ist ein Ritual.
Damit zwingen Sie übrigens diejenigen, die sich nicht in diese Panik drängen lassen wollen, möglicherweise zu leichtfertig zu reagieren und zu sagen: Ach, das ist doch gar nicht so schlimm, weil ihr jedesmal die gleichen Horrorzahlen nennt. — Das ist doch nicht die Frontenstellung, wie sie in Wahrheit ist. In Wahrheit sind Zahlen ablesbar.Nun lassen Sie mich noch einmal rückfragen, was Sie denn im Sommer 1984, als Sie in Ihren Pressestellen verkündet hatten, es gebe 200 000 junge Leute, die im September unversorgt seien, gemacht haben. Wo waren Sie denn, als die CDU/CSU- und die FDP-Kollegen Klinken geputzt haben?
Wo waren Sie denn, als die Kollegen von der CDU/ CSU und von der FDP rumtelefoniert und Handwerksmeister angesprochen haben?
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DawekeWo waren Sie denn im Vorstand von co op, der Volksfürsorge und der anderen Gewerkschaftsunternehmen?
— Wie viele Mitglieder der SPD-Fraktion, die Aufsichtsräte in großen Gewerkschaftsunternehmen sind, haben es erreicht, daß zusätzlich Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt wurden, und wie viele waren es? Wie viele Lehrlinge hat die Fraktion der GRÜNEN eingestellt?
Entschuldigen Sie mal, wir haben acht Lehrlinge. Wir können hervorragend am Computer ausbilden. Wir können hervorragend Sekretärinnen, die in Bonn gesucht werden, ausbilden. Wo sind Sie denn? Wofür außer für 1.-Klasse-Flüge setzen Sie die Fraktionsgelder ein?
Frau Hamm-Brücher, ich möchte jetzt gern auf den Punkt eingehen, den Sie im Zusammenhang mit den Mädchen erwähnt haben. Ich erinnere mich noch, daß ich viele Ihrer Bücher über Bildungspolitik gelesen habe. Jetzt haben Sie das Feld gewechselt. — Aber es war so, Frau Hamm-Brücher: Sie gehörten zu denjenigen, die Anfang der 70er Jahre geglaubt haben, daß es gut sei, wenn 50% eines Jahrgangs Abitur machten. Und dann meinten auch viele in den Ländern: Wenn der Blaumann erst weg ist und alle mit diesem Oberlehrer-Syndrom rumlaufen, wird die Welt schon in Ordnung sein. Nachdem die Mädchen jetzt wissen, daß sie als Lehrerinnen keine Chance mehr haben, tun sie etwas sehr Vernünftiges: Jetzt bewerben sie sich um Ausbildungsplätze als Krankenschwester, als Bankkaufmann, als Bürokaufmann.
Sie können wirklich nicht konstruieren, daß wegen der BAföG-Regelungen die Zahl der Bewerberinnen um einen Studienplatz zurückgegangen ist, sondern Sie müssen zur Kenntnis nehmen, daß das weitgehend eine Funktion der schlechten Berufsaussichten für Frauen in akademischen Berufen, wie übrigens für Männer auch, ist.Ich bedanke mich.
Eine persönliche Erklärung des Abgeordneten Kastning nach § 30 der Geschäftsordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Kollege Daweke hat hier mit einer Frage deutlich vernehmbar unterstellt, daß die Abgeordneten der Opposition in diesem Sommer vor Ort keine Bemühungen unternommen hätten, Ausbildungsplätze zu schaffen oder zu finden.
— Wenn er das so sagt, bin ich davon betroffen; denn ich gehöre der Fraktion der SPD an. Ich verwahre mich gegen diese Unterstellung; denn ich habe mich in diesem Sommer, als andere in Urlaub waren, redlich bemüht, mit Handwerksmeistern zu sprechen, die Partner IHK, Handwerkskanmmer, Arbeitsamt und Gewerkschaften an einen Tisch zu bekommen, um nach Maßnahmen, mit denen man den Jugendlichen helfen kann, zu suchen. Ich weise also diese Anschuldigung zurück.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe die Punkte 19 und 20 der Tagesordnung auf:
19. Erste Beratung des von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Niederlassung von Ausländern
— Drucksache 10/1356 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innenausschuß
Auswärtigr Ausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Haushaltsausschuß
20. Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Frau Dr. Däubler-Gmelin, Dr. Schmude, Schröer , Frau Fuchs (Köln), Dreßler, Lutz, Wartenberg (Berlin), Schäfer (Offenburg), Frau Steinhauer, von der Wiesche, Bernrath, Duve, Frau Dr. Hartenstein, Jansen, Kiehm, Dr. Nöbel, Dr. Penner, Reuter, Tietjen, Dr. Wernitz, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Fortentwicklung des Ausländerrechts — Drucksachen 10/1330, 10/2071
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind eine gemeinsame Beratung der Tagesordnungspunkte 19 und 20 und eine Aussprache von zwei Stunden vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch; dann ist es so beschlossen.
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Däubler-Gmelin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir Sozialdemokraten haben vor einem halben Jahr unsere Große Anfrage — —
Verzeihung, Frau Abgeordnete, einen Augenblick! — Meine Damen und Herren, darf ich bitten, Platz zu nehmen oder die Gespräche draußen fortzusetzen. — Ich bitte darum, die Uhr zurückzustellen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 89. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Oktober 1984 6575
Ich darf noch einmal beginnen: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir Sozialdemokraten haben vor einem halben Jahr unsere Große Anfrage zur Ausländerpolitik der Bundesregierung und zum Ausländerrecht eingebracht, weil wir der Auffassung sind, daß endlich Klarheit in dieses Politikfeld einziehen muß. Klarheit ist ja das letzte, was man dort findet. Das fing mit der Koalitionsvereinbarung an, einer Vereinbarung, die widersprüchliche Ziele enthält, die aber ebenso wie die Regierungserklärung wenigstens auch am Ziel der Integration der Millionen ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien festhält.Meine Damen und Herren, damit möchte ich beginnen: Integration. Wenn wir das Ziel der Integration ernst nehmen, ist Unsicherheit das letzte, was wir brauchen können; denn Integration setzt voraus, daß derjenige, der eingegliedert werden soll, derjenige, der mit jemand anderem zusammenleben soll, eigene Rechte hat, daß er diese eigenen Rechte kennt, daß er sie in Anspruch nehmen kann, daß er natürlich auch eigene Pflichten hat und daß er Sicherheit in seine Lebensplanung bekommt, kein Leben auf Abruf führen muß, weil auch wir mit einem Leben auf Abruf nicht in der Lage wären, unser Leben zu planen oder auch nur die Anforderungen zu erfüllen, die man in einem Staatswesen an uns stellt.
Unsicherheit ist in dieser Regierungspolitik angelegt. Sie ist aber durch das vertieft worden, was man aus dem Umfeld des Bundesinnenministers gehört hat. Da gab es eine Menge von Gremien, da gibt es Pläne, über die man dann nie ganz Genaues erfuhr, da sind die Zimmermann-Reden, all das wird unter das Motto gestellt, das eine große Zeitung, wie ich finde, sehr treffend charakterisiert hat: Die Regierung wolle gegenüber den Ausländern eine härtere Gangart einschlagen, es müsse Schluß sein mit dem Schlendrian in der Ausländerpolitik, man wolle ohne große Rücksicht auf das Einzelschicksal auf adminstrativem Wege die Zahl der ausländischen Mitbürger verringern. Lesen Sie sich einmal durch, was da gesagt wird! Allein die Sprache: Dämme sollen da gehalten werden. Es soll versucht werden, eine Überflutung, eine Überfremdung abzuwenden. Das alles kann doch nur den Sinn haben, Unsicherheit zu schüren, bei Ausländern und bei Deutschen,
die jeweilige Distanz zu vertiefen. Man muß als Ergebnis der letzten beiden Jahre leider feststellen: größere Unsicherheit, größere Distanz auf beiden Seiten, das wurde leider erreicht.Ich will jetzt einiges dazu sagen, wie das auf der Seite der ausländischen Arbeitnehmer aussieht. Sie bekommen die Briefe ja auch, Sie gehen ja auch zu Beratungsstellen,, die sich mit ausländischen Mitbürgern befassen, Sie lesen diese wirklich verdienstvollen Berichte der Ausländerbeauftragten auch — Frau Funcke ist ja hier anwesend —, überall wird beklagt und festgestellt, daß die Unsicherheit zunimmt. Zwei Felder machen mich besonders betroffen.Da berichten z. B. deutsche Frauen, die mit Ausländern verheiratet sind — nicht mit Amerikanern, auch nicht mit Angehörigen der Europäischen Gemeinschaft, sondern mit anderen Ausländern oder mit ausländischen Arbeitnehmern aus Nicht-EG-Staaten —, daß sie sich zunehmender Kritik, zunehmendem Unverständnis, einer Feindschaft von seiten ihrer Umwelt ausgesetzt sehen, daß man sie mehr kontrolliere, ja, daß man ihnen hinterher-schnüffele, daß man sie verdächtige. Wissen Sie, meine Damen und Herren, das ist eines Rechtsstaates, das ist einer Demokratie mit dem Anspruch auf politische Kultur wirklich unwürdig.
Ein zweites Beispiel. Aus Baden-Württemberg berichtet mir ein türkisches Mädchen, das hier geboren ist und hier zur Schule geht, sie sei gerade 16 geworden und anders als ihr Bruder vor drei Jahren habe sie nicht etwa vom Ausländeramt die Mitteilung bekommen, sie solle jetzt bitte dorthin kommen, sie müsse eine Aufenthaltsberechtigung beantragen, nein, es sei zunächst gar nichts gekommen, dann aber sei ein Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen ausländerrechtliche Bestimmungen gegen sie eröffnet worden.
Das kennzeichnet eben auch die zunehmende Unsicherheit, in der heute junge Leute, in der ausländische Arbeitnehmer und ihre Familien bei uns leben müssen.
Das hat Folgen für ihr Befinden hier, und das hat Folgen auch im Ausland.Noch sagen uns Besucher, die in die Türkei fahren, daß die Gastfreundschaft der türkischen Familien und der einzelnen Türken geradezu herzlich und überwältigend sei. Ich glaube, das muß man festhalten bei allen Vorbehalten, die wir zu Recht in anderer Beziehung äußern. Aber die Presse berichtet dort auch über das, was sich bei uns tut. Wir wissen, daß die Vorbehalte sich häufen. Wir sollten hier aus außenpolitischer Sicht ein zusätzliches Problembewußtsein entwickeln.Diese Unsicherheit und diese Distanz macht mir auch in bezug auf die Deutschen, auf unsere deutschen Mitbürger Sorgen, weil sich dort genau der gleiche Prozeß entwickelt wie bei den Ausländern. Distanz führt zu weniger Information. Da geht man weniger aufeinander zu, da werden die Vorurteile gestärkt, das Mißtrauen nimmt zu. Man hört dann mehr auf Schlagworte, und die Schlagworte sind einer Verständigung nicht freundlich gesinnt. Man hört mehr auf die Schlagworte, und das gibt dann einen verhängnisvollen Kreislauf, der sich in einer wirklichen Störung unseres inneren Friedens ausdrücken kann.
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6576 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 89. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Oktober 1984
Frau Dr. Däubler-GmelinAusländerfeindlichkeit? Ich bin nicht der Meinung, daß diese Politik bereits zur Ausländerfeindlichkeit geführt hat. Nein, meine Damen und Herren, ich will sehr deutlich sagen, ich finde das nicht. Es handelt sich um Auswüchse, auch wenn diese Auswüchse zunehmen, auch wenn jeder, der sich mit Ausländerpolitik befaßt, bemerkt, daß die Schamschwelle von Ausländerkritik in den Briefen sinkt, daß der Mangel an Anstand gegenüber Ausländern deutlicher wird.
Ausländerfeindlichkeit haben wir nicht. Das aber ist nicht das Verdienst der Koalition und auch nicht dieser Bundesregierung, sondern das ist das Verdienst von vielen Tausenden von Bürgerinitiativen, das ist das Verdienst der evangelischen Kirche, der katholischen Kirche, von Diözesanräten und nicht zuletzt auch von mutigen Männern wie Bischof Krusche, der sehr deutlich sagte, notfalls werde die Kirche an die Seite derjenigen treten, deren Rechte hier mit Füßen getreten werden.
Es ist auch ein Verdienst — ich darf das noch einmal sagen — der mutigen Ausländerbeauftragten, nämlich Frau Funcke, vor der ich an dieser Stelle nochmals meinen Hut ziehe.
Ich würde mich freuen, wenn sie ihre Aufgabe noch recht lange erfüllen kann.
Meine Damen und Herren, wir haben jetzt die Antwort auf die Große Anfrage vorliegen. Hat sie eigentlich die Erwartungen erfüllt? Das kommt natürlich sehr darauf an, was man betrachtet. Zunächst eines: Die Antwort und vor allen Dingen die Art und Weise, wie sie zustande gekommen ist, haben uns ein weiteres Mal tiefe Einblicke in das Innenleben und die Innenausstattung dieser Regierung verschafft.
Alle Elemente waren dabei: Spannung, Atemlosigkeit bis zum Schluß.
— Sie sind noch ganz schön atemlos. Sie haben auch eine kleine Rolle in diesem Spielchen, Herr Bötsch. — Gestatten Sie mir, daß ich diesen Prozeß noch einmal festhalte. Ich glaube, er verdient wirklich festgehalten zu werden:Im April stellen wir die Große Anfrage. Sechs Wochen sollte die Regierung für ihre Antwort eigentlich Zeit haben, aber sie läßt sich Zeit bis in den August. Dann kommt ein Papier, von dessen Existenz wir zunächst nichts erfahren, aber natürlich erfährt man es durch die Zeitungen doch, und zu Streitpunkten steht gar nichts drin. Dann plötzlich: Stopp, zurück und dann geht's richtig los, Geschrei von allen Seiten: „Schaukampf" sagt die „Zürcher Zeitung". Andere Presse-Überschriften lauten:„Zimmermann zürnt auch Kohl". Ja, wem zürnt er eigentlich nicht? Dann kündigt Strauß ein „Machtwort" an, und die Zeitungen berichten: „Auch über Genscher herrscht Verärgerung" — das werden Sie mit großer Freude gelesen haben Herr Genscher, und die „Welt" zieht das Fazit: „Chaos in der Ausländerpolitik". Recht hat sie in diesem Fall.
Es ist wirklich kein Wunder, daß die Bürger mit dem Wort „Chaos" heute das Bundeskanzleramt und die Regierung viel eher in Verbindung bringen als alles andere.
Und wissen Sie, meine Damen und Herren, was das Schönste ist? Herr Genscher sagt dazu, es handele sich — ich zitiere die „Stuttgarter Zeitung" — „um normale Abstimmungsvorgänge in der Bundesregierung".
Recht hat er. Wenn man an die Pannen und die Skandale denkt, dann hat er völlig Recht. Nur, wenn ich hier an die Probleme denke, die unser Land hat und die diese Regierung angehen muß,
dann wird uns angst; so. — Ich weiß, Sie haben darauf keine andere Antwort, aber es wird wirklich einmal Zeit, Herr Laufs, daß Sie sich langsam etwas anderes ausdenken. —
Ich würde jetzt gern auf die Frage eingehen: Was bringt denn die Beantwortung dieser Großen Anfrage inhaltlich? Zwei Punkte. Alle beide aber bringen keine Verbesserung der Situation von Ausländern, bringen nicht mehr Rechtssicherheit. Beides aber sind Punkte, die in Ihrer Regierung ganz extrem umstritten waren —: Sie sagen einmal: Zur Zeit, unter bestimmten Voraussetzungen wollen wir den Kindernachzug nicht weiter erschweren. Sie sagen weiter, meine Damen und Herren: Zur Zeit, unter bestimmten Voraussetzungen soll der Ehegattennachzug nicht weiter erschwert werden; so.
Jetzt stellt sich natürlich die Frage: Reicht das aus, um Sicherheit und Klarheit auf diesem Gebiet zu erzielen?
Wenn ich mir anschaue, wie die Presse dieses Ergebnis aufgenommen hat, dann muß ich das bezweifeln, und zwar deshalb, weil man alle nur denkbaren Kommentierungen findet. Sie finden Kommentierungen wie „Ehegattennachzug und Beschrän-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 89. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Oktober 1984 6577
Frau Dr. Däubler-Gmelinkung des Kindernachzugs sind vom Tisch" und solche wie „Weitere Orakelsprüche in der Ausländerpolitik", „Das Schwanken nimmt zu".
— Ob das nun Quatsch ist, wie Sie das nennen, Herr Baum, oder nicht, ich jedenfalls bin der Meinung, daß es wichtig ist, daß wir hier einmal Klarheit bekommen.
— Gleich, Herr Hirsch. Lassen Sie mich erst noch fortfahren. — Daß Sie und die FDP der alten Linie folgen und sagen, es gibt außenpolitische, juristische, moralische und familiäre Gründe, das alles nicht zu verschlechtern, wissen wir. Ich nehme Ihnen das auch ab; das ist auch unsere Haltung. Sie wissen, es war auch bei uns nicht leicht, zu diesem Ergebnis zu kommen, aber wir haben uns seit langer Zeit dazu durchgerungen. Sie auch.Jetzt sage ich Ihnen aber: Wenn die FPD das sagt und wenn ich gleichzeitig höre oder lese, daß der Herr Dregger erklärt, er müsse hier Vorbehalte machen, weil erst entschieden werde, wenn die gesetzlichen Regelungen kämen,
und der Herr Zimmermann überhaupt in den Schmollwinkel geht und zunächst einmal gar nichts erklärt, dann muß ich darauf bestehen, daß hier von dieser Stelle auch derjenige, der es nicht im FDP-Sinne interpretiert, Klarheit schafft. Der Herr Zimmermann möge bitte hierherkommen und möge bitte sagen: Erstens, die Frage des Kindernachzugs ist vom Tisch, zweitens, die Frage des Ehegattennachzugs ist vom Tisch. — Dann sind wir zufrieden. Aber wir werden auf dieser Klarheit bestehen.
— Das will ich Ihnen jetzt sehr gerne sagen. Sie hätten im übrigen schon längst die Möglichkeit gehabt, unsere Leitlinien nachzulesen. Sie sind veröffentlicht. Dann hätten Sie festgestellt, daß wir sagen: Ein Ausländergesetz, das modernen Bedingungen gerecht wird, muß geprägt sein von einem Geist des Verständnisses, der Integrationsfreude und nicht von einem polizeistaatlichen Geist oder einem Geist des Mißtrauens;
das sind alles Dinge, die wir schon ziemlich langemit uns herumschleppen. Wir wollen keine polizeirechtlichen Lösungen, keine Objektstellung der Menschen.
Die Meßlatte muß ansonsten ebenfalls entsprechend dem aufgerichtet werden, was wir in unseren „Leitlinien" veröffentlicht haben.
Jetzt würde ich aber, meine Damen und Herren, gern noch einen anderen Punkt ansprechen. Ich habe Ihnen gesagt: Wenn diese beiden Streitpunkte bei Ihnen endgültig vom Tisch sind, bieten wir Ihnen die Zusammenarbeit an, um ein vernünftiges, verbessertes, neues Ausländergesetz zu bekommen; aber wir brauchen das bald. Sie sollten sich nicht wundern, daß bei Ihrem bisherigen Kurs der Ausländerpolitik — und zwar dem der Bundesregierung
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6578 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 89. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Oktober 1984
Frau Dr. Däubler-Gmelin— einige Länder der Auffassung waren: Das machen wir nicht mit. — Das ist übrigens leider gar nichts Neues, wie Sie wissen.
— Ja, Herr Zimmermann, ich komme gleich noch darauf.
Hessen ist ausgeschert, zuvor Bremen, Baden-Württemberg, Bayern — jedes Land hatte das Recht dazu. Sie haben nur Hessen kritisiert. Auch Hessen hatte das Recht auszuscheren. Auch mir paßt die Linie der Bundesregierung nicht. Zu Bayern und Baden-Württemberg, die beide Verschlechterungen für Ausländer mit sich gebracht haben, hat keiner von der Regierung ein Wort der Kritik geäußert. Da war kein Bundesaußenminister da, der gesagt hätte: Ich weise die Auslandsvertretungen an, diesen Verschlechterungen nicht zu folgen und die Visaerteilung dem Bundesrecht entsprechend vorzunehmen. Einen Brief an den Innenminister des Landes Hessen, Herr Außenminister Genscher, hat es nur gegeben, weil Ihnen die Linie nicht paßt.
Das muß man hier festhalten. Das ist eine bedauerliche Parteipolitik.Ich bin der Auffassung: Sie haben genau wie jeder andere nach Recht und Gesetz vorzugehen.
Sie können wie jeder einzelne von uns Ihre politischen Vorlieben haben und Ihre politischen Werturteile aussprechen. Aber: Entweder Sie behandeln in amtlichen Briefen und im Vorgehen alle Länder exakt gleich — die Bremer mit ihrer Regelung, die Baden-Württemberger mit ihrer schlechteren Regelung, die Bayern mit ihrer schlechten Regelung und die Hessen mit ihrer besseren Regelung —,
oder Sie tun das alles überhaupt nicht.Und jetzt sage ich Ihnen noch ein Wort zum Schluß.Ich bin jedesmal tief beeindruckt, wenn jemand von Ihnen klagt, das Rechtsbewußtsein der Bevölkerung schwäche sich ab. Ich habe Ihr Verhalten in der Parteispendenaffäre allerdings nie damit in Übereinstimmung bringen können.
Und jetzt: Wenn ein Land zulässigerweise — Sie mögen darüber denken, was Sie wollen —, von Bundesverwaltungsrichtlinien abweicht — was es kann —, dann erklären prominente CDU-Leute in Frankfurt und in Hessen nicht nur, im Zweifel werde man dies nicht befolgen, sondern sie erhalten dann von Ihrer Seite Unterstützung, Lob und Ermutigung. Da sollten Sie sich überlegen, ob Sie dem Rechtsbewußtsein dadurch nicht selbst einen viel größeren Schaden zufügen als durch jede Form der Ermahnung an andere.
Es ist ein Armutszeugnis, wenn ein Regierungspräsident einem Oberbürgermeister sagen muß, er werde in jedem einzelnen ausländerrechtlichen Fall auf die Einhaltung gesetzlicher Bestimmungen dringen, auch wenn er die Angelegenheit an sich ziehen müsse.
Ich fasse zusammen. Wir wollen Klarheit im Interesse der Betroffenen. Wir wollen Klarheit im Interesse der deutschen Bevölkerung. Wir wollen Klarheit im Interesse des Zusammenlebens der Deutschen mit den ausländischen Arbeitnehmern und ihren Familien.Sie wissen sehr wohl: Keiner von uns denkt daran, den Anwerbestopp aufzuheben. Jeder von uns ist der Meinung, daß wir denen, die zurück wollen, die mögliche Hilfe geben, auch dann, wenn wir an Ihrer Form der Hilfe, wie ich finde, berechtigte Zweifel angemeldet haben. Aber ich sage Ihnen: Wir bestehen auf Klarheit.Wir bieten, wenn die beiden Streitpunkte vom Tisch sind, unsere Zusammenarbeit an, damit wir sehr schnell eine Verbesserung der Lebensumstände in unserem Land für diese Bevölkerungsgruppe bekommen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Innern.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die vorliegende Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage enthält Grundlinien für die künftige Gestaltung der Ausländerpolitik, ohne in jedem Punkt Festlegungen vorzunehmen. Die wesentlichen Aussagen sehe ich in folgenden Punkten:Der Aufenthalt der auf Dauer im Bundesgebiet lebenden Ausländer soll durch gesetzliche Regelungen verfestigt werden. Damit wird eine entscheidende Grundlage für die langfristige und vernünftige Lebensplanung geschaffen. Das neue Ausländerrecht soll die Rechtsklarheit erhöhen und die Verwaltungspraxis vereinheitlichen. Frau Kollegin Däubler-Gmelin hat gerade einige Beispiele angeführt, warum es notwendig ist, sie wieder zu vereinheitlichen. Hierzu sollen die derzeit im Gesetz enthaltenen Ermessungsspielräume, soweit es sinnvoll ist, begrenzt werden. Die jüngste Entwicklung hat deutlich vor Augen geführt, wie dringlich in diesem
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 89. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Oktober 1984 6579
Bundesminister Dr. ZimmermannBereich ein Tätigwerden des Bundesgesetzgebers ist.
— Vor allem wegen Hessen, Herr Kollege,
falls Sie es nicht wissen.
— Wissen Sie, Sie gehören ja laut Aussage Ihrer Fraktion zur „Fischer-Gang". Ich weiß also nicht: Spreche ich gerade mit jemandem, der für die Fraktion antwortet, oder mit jemand von der Fischer-Gang?
— Das ist das Neueste.Die Einbürgerung von Ausländern, die hier geboren oder aufgewachsen sind, soll durch Verfahrenserleichterungen gefördert werden. Kein Staat kann es auf die Dauer hinnehmen daß ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung über Generationen hinweg außerhalb der staatlichen Gemeinschaft steht. Voraussetzung für die Einbürgerung muß allerdings ein erfolgreich abgeschlossener Integrationsprozeß bleiben. Bei Ausländern, die das deutsche Schulwesen von Anfang an durchlaufen haben, wird diese Bedingung in aller Regel erfüllt sein.In den Verhandlungen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Türkei muß sichergestellt werden, daß sich aus der Assoziierungsvereinbarung keine abträglichen Wirkungen für die Bundesrepublik Deutschland ergeben. Das bedeutet vor allem, daß es auch nach dem 1. Dezember 1986 nicht zu einem weiteren Zuzug türkischer Arbeitnehmer in die Bundesrepublik Deutschland kommen darf. Die Begrenzung des Zuzugs ist nicht nur im deutschen Interesse notwendig, sie dient auch und gerade den auf Dauer hier lebenden ausländischen Arbeitnehmern und ihren Familien. Begrenzungspolitik ist Voraussetzung für die von allen Parteien getragene Integrationspolitik. Nur eine erfolgreiche Integration ermöglicht ein spannungsfreies Zusammenleben von Ausländern und Deutschen.Die Integrationsbemühungen wären auch dann zum Scheitern verurteilt, wenn wir über Generationen hinweg zuließen, daß hier geborene oder aufgewachsene Ausländer aus Nicht-EG-Staaten in großem Umfang Ehepartner aus dem Ausland nachholen. Die sehr dicht besiedelte Bundesrepublik Deutschland ist kein Einwanderungsland. Aus der einmaligen Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer in einer bestimmten wirtschaftlichen Situation kann deshalb auch nicht die Verpflichtung hergeleitet werden, auf unabsehbare Zeit einen Zuwanderungsprozeß zu dulden.
Das Bundesverwaltungsgericht hat zuletzt in zwei Urteilen vom 18. September 1984 anerkannt,daß aus Art. 6 des Grundgesetzes kein Anspruch auf Begründung eines Daueraufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland hergeleitet werden kann. Art. 6 des Grundgesetzes begründet also unmittelbar kein Recht auf Familiennachzug, wie von einigen immer wieder behauptet wird. Das zitierte Bundesverwaltungsgericht hat hierzu ausgeführt:Regelmäßig verstößt es nicht gegen Art. 6 des Grundgesetzes, die Ehegatten einer rein ausländischen Ehe darauf zu verweisen, die eheliche und familiäre Gemeinschaft in ihrer Heimat herzustellen, wenn der Aufenthalt des einen Partners mit öffentlichen Interessen der Bundesrepublik Deutschland nicht vereinbar ist.Wir werden im anstehenden Gesetzgebungsverfahren zur Neuregelung des Ausländerrechts unseren Pflichten nachkommen, einen gerechten Ausgleich zwischen den integrationspolitischen Notwendigkeiten in der Bundesrepublik Deutschland einerseits und den schutzwürdigen Belangen der Ausländer andererseits zu finden.
Wir werden die weitere Entwicklung auf dem Sektor des Ehegattennachzugs aufmerksam beobachten. Für den Fall, daß sich in diesem Bereich eine zahlenmäßig bedeutsame Zuwanderung entwickelt, werden wir im Ausländerrecht die Voraussetzungen für ein rasches Handeln schaffen.Auch der Kindernachzug muß unter dem Blickwinkel der Integrationsbemühungen gesehen werden. Um den Kindern ausländischer Eltern zukunftsgerechte Integrationschancen zu sichern, hält es die Bundesregierung in Übereinstimmung mit dem Bundesrat für notwendig, daß die Eltern ihre Kinder in einem Alter in die Bundesrepublik Deutschland nachholen, in dem diese noch eine deutsche Schulbildung erhalten können. Dieser Satz ist nicht von mir, er wurde von der früheren SPD-geführten Bundesregierung am 14. Juli 1982 formuliert.
— Ich sage keine Zahl, ich sage: so früh wie möglich,
als Baby am besten, als Kleinkind auch noch gut, als schulpflichtiges Kind immer noch hervorragend. Mit jedem Jahr später ist es um so schlechter.
— Ich weiß es, oh ja.
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6580 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 89. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Oktober 1984
Bundesminister Dr. ZimmermannDie Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Ich habe gerade Sätze der früheren Bundesregierung vom 14. Juli 1982 zitiert.
Ich halte das, was damals gesagt worden ist, auch heute noch für richtig.Die Praxis, Kinder in der Heimat zurückzulassen und sie erst an der Schwelle des Erwerbslebens hierherzuholen, wirkt sich vor allem zu Lasten der betroffenen Kinder aus.
Jugendliche ohne deutschen Schulabschluß, ohne Sprachkenntnisse haben bei uns doch kaum eine Chance, einen Arbeitsplatz oder gar einen Ausbildungsplatz zu finden. Den meisten von ihnen droht ein Leben ohne vernünftige Perspektive, mit allen negativen Folgen für den Jugendlichen selbst und die Gesellschaft. Ich weise an dieser Stelle den unsinnigen Vorwurf zurück, es sei meine Absicht gewesen, Eltern und Kinder voneinander zu trennen.
Das habe ich nie gedacht.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich spreche ganz kurz — im Interesse der Debatte, die auch kurz ist. Ich bitte um Nachsicht, daß ich im Zusammenhang vortragen will.
— Sie wissen, daß ein Mitglied der Bundesregierung so lange sprechen kann, wie es will; aber ich tue es nicht.
— Ich empfehle gelegentliches Nachlesen der Geschäftsordnung.
Der von mir angestrebte Nachzug bis zur Vollendung des sechsten Lebensjahres führt nämlich umgekehrt dazu, daß Eltern und Kinder in einem Zeitraum zusammenleben, in dem die Kinder auf die Betreuung und Erziehung durch ihre Eltern in einem ganz besonderen Maße angewiesen sind. Diese Auffassung halte ich unverändert für richtig, daß Eltern und Kinder so früh wie möglich zusammenkommen.Die Bundesregierung hat sich darauf verständigt, an die Vernunft und an das Verantwortungsbewußtsein der Eltern und der sonstigen am Integrationsprozeß Beteiligten zu appellieren. Sie erwartet, daß dieser Appell seine Wirkung nicht verfehlt. Nur unter diesen Umständen sieht die Bundesregierungkeinen Anlaß für ein gesetzliches Verbot des Nachzugs von Kindern über sechs Jahren.Ich werde in Kürze den Entwurf zur Neuregelung des Ausländerrechts vorlegen, wie Frau Kollegin Däubler-Gmelin das verlangt hat. Dieser wird auch das bisher einheitliche Aufenthaltsrecht nach den verschiedenen Aufenthaltszwecken differenzieren. Es soll beispielsweise ausgeschlossen werden, daß Aufenthalte zu Studien- oder Ausbildungszwecken zu Daueraufenthalten führen. Die Ausweisungstatbestände werden nach Schwere und Rechtsfolgen differenziert werden. In den Bereichen der schweren Kriminalität, insbesondere bei der Rauschgiftkriminalität, sowie bei Gewalttätigkeit und extremistischer Betätigung muß ein rascheres und wirksameres Handeln möglich sein. Auf der anderen Seite soll der bereits geltende Ausweisungsschutz für einzelne Personengruppen vereinheitlicht und unter Berücksichtigung von Aufenthaltszweck und Aufenthaltsdauer ausgestaltet werden. Ich bin sicher, daß im Rahmen des anstehenden Gesetzgebungsverfahrens Lösungen gefunden werden, die von einer realistischen und verantwortungsbewußten Haltung getragen sind.Ein wesentliches Element der Neuregelung des Ausländerrechts wird darin liegen, die bisherigen administrativen Regelungen durch Verwaltungsvorschriften und Erlasse in ein Gesetz einzuführen. Durch das Tätigwerden des Gesetzgebers in diesem wichtigen Bereich wird auch die Verantwortung des Hohen Hauses für tragfähige Lösungen deutlich herausgestellt. In diesem Hause werden die Entscheidungen letztlich getroffen werden.
Zu dem Gesetzentwurf der Fraktion der GRÜNEN beschränke ich mich auf einige grundsätzliche Anmerkungen. Der Vorschlag, den hier lebenden Ausländern ein besonderes Niederlassungsrecht zu gewähren, ist abzulehnen. Ein solches neues Rechtsinstitut würde dazu führen, daß die Ausländereigenschaft der Berechtigten über Generationen hinweg erhalten bliebe. Wir würden uns damit selbst auf Dauer angelegte ausländische Minderheiten schaffen. An eine solche Konstruktion hat bisher kein Staat der Welt gedacht.
Im übrigen besteht für eine solche Regelung — auch im Interesse der Ausländer — kein Bedürfnis. Sie würde die Integration eher erschweren als erleichtern.
Ich sehe in der Verfestigung des Aufenthalts, die im Gesetz verankert werden soll, und in der Einbürgerung, die für die zweite Generation erleichtert werden soll, ein weit sachgerechteres Instrumentarium, und ich halte deswegen den Entwurf im Ansatz für verfehlt.
Bemerkenswert ist allerdings, daß in der Begründung des Entwurfs Aussagen enthalten sind, denen
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Bundesminister Dr. Zimmermannich nicht widersprechen möchte. Ich meine damit die Feststellungen, die Bundesrepublik Deutschland befinde sich in einer Phase der Massenarbeitslosigkeit, so daß die Motive zur Abschließung des nationalen Arbeitsmarktes gegen Massenzuwanderung ernst zu nehmen seien, und daß ein Teil der gegenwärtigen Probleme zwischen Deutschen und Ausländern mit dem Nachzug der Familien zusammenhänge. Das sind durchaus Ansätze zu einer realistischen Betrachtungsweise.
Im übrigen ist aber gerade der allgemeine Teil der Begründung zum Teil einfältig und wenig hilfreich.
Er enthält eine Vielzahl polemischer Angriffe, vermeidet ein sachliches Eingehen auf die Beweggründe, die den entgegenstehenden Positionen der Bundesregierung zugrunde liegen.
Die Ausführungen zum Arbeitsmarktzugang für nachgezogene ausländische Familienangehörige, zur Gewährung des Wahlrechts, zu der Notwendigkeit eigener Integrationsbeiträge der Ausländer und zur Einführung der 35-Stunden-Woche sind unsinnig. Eine sachliche Auseinandersetzung mit diesen Punkten lohnt sich nicht.Zu den Erwägungen, die einen unbeschränkten Kinder-, Ehegatten- und Verwandtennachzug verbieten, habe ich mich bereits eingehend geäußert. Die Bestrebungen des Gesetzentwurfes würden den Bemühungen der Bundesregierung um eine erfolgreiche Integration klar zuwiderlaufen.Mehr ist zu dem Entwurf der Fraktion der GRÜNEN beim besten Willen nicht zu sagen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Fischer .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Innenminister, Sie machen den Eindruck, als wenn Sie heute morgen eine ordentliche Portion Valium geschluckt hätten, damit Sie ruhig bleiben.Unter vernehmlichem Knirschen und gewissermaßen im letzten Augenblick, zwei Tage vor der heutigen Debatte
— in der Tat —, ist es der Bundesregierung mittelseiner jener Kraftanstrengungen, für welche siemittlerweile berüchtigt ist, gelungen, die Große Anfrage zur Ausländerpolitik zu beantworten. Dabei mutet es richtig nett an, daß uns der verehrte Innenminister Zimmermann die Antwort nicht wieder mündlich vorträgt, wie unlängst geschehen bei unserer Großen Anfrage zum fälschungssicheren Personalausweis, wo Sie offensichtlich ähnliche Blockaden hatten wie dieses Mal bei der Ausländerfrage. Aber, Herr Zimmermann, trotz Valium: Ich nehme an, Sie knirschen nach dem Kabinettsdesaster immer noch mit den Zähnen und hätten sich bei einer freien, mündlichen Beantwortung im Hause wohl schwergetan.Lassen Sie mich hinzufügen, wo Sie doch als starker Mann dieser Regierung gelten: Sie haben nur einen Erfolg vorzuweisen. Das ist der Kampf gegen „Das Gespenst" von Achternbusch. Ich kann Ihnen sagen: Sie bleiben selbst halt doch nur ein Gespenst, Herr Innenminister, ein Gespenst von freidemokratischen Gnaden.
Die Antworten der Bundesregierung zur Fortentwicklung des Ausländerrechts zeigen, daß alles bis auf weiteres beim alten und damit offen bleiben soll. Das bedeutet anhaltende Unsicherheit für die ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger.
Für die Zukunft werden Verschärfungen des Ausländerrechts angekündigt — wir haben es eben gehört —, und man bezeichnet das zynischerweise auch noch als Verrechtlichung.
Eine „zwangsweise Rückführung ausländischer Arbeitnehmer" — zwangsweise Rückführung! — lehnt die Bundesregierung in ihrer Antwort zwar ab, aber wohl nur insofern, als man darunter polizeilich ins Werk gesetzte Massendeportationen zu verstehen hat. Betrachtet man dagegen die gegenwärtige Praxis der Ausländerbehörden der Bundesrepublik und jenes ganze Bündel bürokratischer Fiesheiten und Zwangsmaßnahmen gegenüber den Ausländern, so kommt man nicht umhin, die gegenwärtige Praxis der Ausländerpolitik als eine bürokratisch ins Werk gesetzte kalte Vertreibungspolitik zu bezeichnen.
Oder wie sonst soll man es benennen, wenn Ausländer, die zum überwiegenden Teil seit mehr als einem Jahrzehnt ihren Lebensmittelpunkt in der Bundesrepublik haben, wegen zu kleiner Wohnungen, des Bezugs von Sozialhilfe, wegen bereits geringer Verstöße gegen das Aufenthaltsrecht, wegen Ehescheidung oder Trennung oder auch geringer Kriminalität abgeschoben werden?
In Frankfurt begegnete ich bei einem Besuch im Abschiebeknast einem jungen 16jährigen Türken, der ein Auto geklaut hatte, um damit durch die Gegend zu brausen. Seit seinem sechsten Lebensjahr lebte er in der Bundesrepublik und hat keine
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6582 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 89. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Oktober 1984
Fischer
Verwandten ersten Grades mehr in der Türkei, von der kulturellen Fremdheit ganz zu schweigen. Er wird wegen einer typischen Jugendtorheit ausgewiesen. Ebenfalls in Frankfurt hat vor einiger Zeit einer der ältesten Metallbetriebe geschlossen. Für den Konzern war er nicht mehr rentabel. Die gesamte Stammbelegschaft mit vielen ausländischen Kollegen, die teilweise 20 Jahre dort gearbeitet und Steuern und Sozialversicherungsbeiträge gezahlt haben, saß auf der Straße. Den ausländischen Kollegen droht nunmehr zusätzlich zum Schicksal der Arbeitslosigkeit perspektivisch noch die Ausweisung, wenn sich Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe erschöpft haben.
Denn die Solidargemeinschaft gilt nach der herrschenden Praxis im Ausländerrecht nur für Deutsche. Das halten wir für untragbar.
— Zwischenfragen kann ich nicht zulassen. Ich habe nur elf Minuten Redezeit.
Augenblick! Vorher habe ich Sie zu fragen, ob Sie Zwischenfragen zulassen.
Entschuldigung, Herr Präsident.
Gilt es generell, daß Sie keine Zwischenfragen zulassen?
Ja, generell.Bundeskanzler Kohl hat zu Beginn seiner Amtszeit j a den deutschen Stammtischen versprochen, die Ausländerzahl innerhalb eines Jahrzehnts um die Hälfte zu reduzieren. Der Regierung ist keine Gemeinheit den Ausländern gegenüber zu schade, um sie zum Gehen zu bringen.
Selbst bei den amtlich ach so gefeierten Rückkehrhilfen — jetzt hören Sie mal gut zu — haut man die ausländischen Arbeitnehmer noch gewaltig übers Ohr und beklaut sie legal um Milliardenbeträge, genau: um 2 Milliarden DM Versicherungsbeiträge, wie man unlängst der Presse entnehmen durfte.
Dies ist ein Zeugnis wahrhaft regierungschristlicher Nächstenliebe, in Wirklichkeit aber eine Schande für die reiche Bundesrepublik.
Weiter versucht man in bürokratischer Kälte, die Menschen an ihren intimsten Gefühlen zu packen, indem man sie über Erschwernisse beim Kinder- und Ehegattennachzug zur Resignation und zum Gehen treibt.Die herrschende Nachzugsregelung ist schlimm genug. Aber wir GRÜNEN begrüßen es ausdrücklich, daß sich in der Frage der Beschränkung desNachzugsalters für Kinder auf 6 Jahre ein schäumender Ausländerfresser wie Innenminister Zimmermann nicht durchsetzen konnte,
auch wenn wir bezüglich der Dauer der Vereinbarung sehr skeptisch sind.
Die Bundesrepublik, so behaupten Sie immer wieder, sei kein Einwanderungsland. Man muß hinzufügen: erst seit dem Zuzugsstopp nicht mehr. Es hat aber in den 60er und 70er Jahren eine gewünschte und faktische Einwanderungswelle gegeben. Dieser Tatsache muß sich eine verantwortliche und moralisch in den Menschenrechten begründete Politik stellen.
Dieser Einwanderungsprozeß ist faktisch unumkehrbar. Wer das Gegenteil behauptet, fördert bei der deutschen Bevölkerung gefährliche Illusionen, die schlimme Gewalttaten und Haßausbrüche gegen Ausländer nach sich ziehen. Für diese Dauerhaftigkeit der Einwanderung gib es Belege. Im September 1983 etwa lag die durchschnittliche Aufenthaltsdauer knapp über zehn Jahre. Seit 1976 erfolgte eine verstärkte Familienzusammenführung im Inland. In der Zeit von 1970 bis 1982 wurden über 1 Million ausländische Kinder hier geboren.Die GRÜNEN haben mit ihrem Gesetzentwurf zu einem eigenständigen Niederlassungsrecht dieser Grundeinsicht Rechnung getragen. Wir formulieren damit in der Tat eine grundsätzliche Alternative zur herrschenden Ausländerpolitik, jener Mischung aus altdeutschem Dünkel, rassischen Vorurteilen und polizeistaatlicher Praxis.
Wir wollen nicht wie die Bundesregierung eine als Rechtssicherheit getarnte Fortschreibung und gar noch Verschärfung der Polizeiaufsicht für Millionen von ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, sondern wir wollen wirkliche Rechtssicherheit, um die Existenzsicherheit der Ausländer, wovon Sie nie reden, im Inland ohne Wenn und Aber zu garantieren.
— Jetzt hören Sie doch mal auf, hier herumzurandalieren.Dies heißt ein eigenständiges Niederlassungsrecht, da alles andere unter dem Geschwätz von Integration tatsächlich auf Selektion und Zwangsassimilation hinausläuft.Die seit vielen Jahren hier lebenden und arbeitenden Ausländer müssen von der Drohung durch das Damoklesschwert der Ausweisung befreit werden, ohne dabei unter Assimilationsdruck zu geraten. Nicht umsonst knüpft das geltende Ausländergesetz in seinen wesentlichen inhaltlichen Bestimmungen an die nationalsozialistische Ausländer-
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Fischer
Polizeiverordnung von 1938 an. Eine freie, eine demokratische Republik sollte doch endlich die Kraft haben, mit diesem schlimmen Nachlaß der braunen Diktatur zu brechen.
Wenn man allerdings Herrn Zimmermann gegen die Ausländer wettern hört, so muß man feststellen, daß sich zumindest der Bundesinnenminister als braunschimmernder Nachlaßverwalter der nationalsozialistischen Ausländer-Polizeiverordnung recht gut macht.
Herr Abgeordneter, ich erteile Ihnen einen Ordnungsruf.
Uns darf man Nazis nennen, umgekehrt erhält man Ordnungsrufe. Wenn's denn sein muß!
Da ist dieser neudeutsche Musterdemokrat auch öffentlich noch stolz, ja brüstet sich damit, daß er angeblich 80 % der Bevölkerung bei seiner Ausländerpolitik hinter sich hat. Meine Güte, sage ich da nur! Hierzulande hatte die deutsche Rechte und hatten die Konservativen, also Ihre Vorfahren, noch für ganz andere Vorurteile und Schändlichkeiten satte Mehrheiten. Was ist das für ein Argument, wenn es gegen Minderheiten geht!
Genau deshalb, auf Grund dieser schlimmen historischen Erfahrungen, meinen wir GRÜNEN, daß in dieser Republik der Umgang der Mehrheit mit Minderheiten Wesentliches über den Zustand von Freiheit und Demokratie aussagt.
Es geht nicht an, daß wir in der Bundesrepublik für über 4 Millionen Menschen eine polizeirechtlichen Sonderstatus aufrechterhalten, der eine aufenthaltsrechtliche Unsicherheit begründet, in vielen Bereichen eine sozialrechtliche Diskriminierung vorsieht sowie die ausländische Bevölkerung auf Dauer von der Beteiligung am politischen Leben prakisch ausschließt. Von der herrschenden Ausländerpolitik werden die Ausländer im wesentlichen als politisch rechtlose arbeitsmarktpolitische Manövriermasse begriffen und entsprechend behandelt. Hier stößt man auf ein tatsächliches Stück Südafrika in der Gesellschafts- und Staatsordnung der Bundesrepublik.
In Hessen ist es den GRÜNEN gelungen, wesentliche Teile unseres Gesetzentwurfs auf Länderebene in einer Vereinbarung mit der sozialdemokratischen Minderheitsregierung durchzusetzen und den Betroffenen ein wesentliches Mehr an Existenzsicherheit zu geben.
Die Union schürt nunmehr in Hessen ohne Hemmungen die Ausländerangst, allen vorneweg jener
brandstiftende Biedermann namens Wallmann, seinens Zeichens Oberbürgermeister von Frankfurt.
Herr Abgeordneter, ich erteile Ihnen einen Ordnungsruf und mache Sie auf die Konsequenzen eines möglichen dritten Ordnungsrufs aufmerksam.
Ja, Herr Präsident, unter dem Gesichtspunkt der Ordnungsrufe komme ich jetzt nur noch zu Floskeln.
— Das ist genau die Sprache, die Sie auch gegenüber den Ausländern in Hessen formulieren.
Betrachtet man sich aber die Fakten, so erkennt man das ganze Ausmaß dieser christdemokratischen Perfidie und Hetze. Die Anhebung des Nachzugsalters von 16 auf 18 Jahre betrifft ganze 1 600 Jugendliche und die Senkung des Ehegattennachzugszeitraums von acht auf fünf Jahre rund 7 000 Ehegatten für Hessen insgesamt.
Aber was zählen hier offensichtlich Fakten? Der Union geht es in der Ausländerfrage letztendlich nicht um die Menschen, sondern allein um wirtschaftliche Interessen und um ein finsteres ideologisches Erbe an rassischen Vorurteilen und Ängsten.
Wir GRÜNEN wollen eine multikulturelle Gesellschaft — ich komme zum Schluß — in der Bundesrepublik. Wir wollen Minderheiten und Minderheitenschutz, weil wir darin eine Garantie gegen Formierungsdruck, eine Garantie für Offenheit und Freiheit sehen, und wir wollen uns — das ist der letzte Satz — vor allem nicht aus der materiellen, der politischen und der moralischen Verantwortung gegenüber unseren ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern stehlen. Deshalb ziehen wir mit unserem Gesetzentwurf die notwendigen Konsequenzen daraus.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Ausländerpolitik gehört zu den sensibelsten Bereichen unserer Innen- und Außenpolitik. Verantwortung für den Mitbürger, Achtung der Menschenwürde, Toleranz und Einfühlsamkeit sind geboten, wenn wir dem Anspruch unseres Grundgesetzes und unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung gerecht werden wollen.
Diese Toleranz, Herr Abgeordneter Fischer, ist aber auch notwendig für die Diskussion der Ausländerfragen.
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6584 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 89. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Oktober 1984
Bundesminister GenscherIch möchte deshalb ausdrücklich den Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt gegen die unglaubliche Diffamierung in Schutz nehmen, die Sie hier ausgesprochen haben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat am 1. Juli 1984 in seiner Ansprache Probleme und Chancen der Ausländerpolitik in unserem Lande beschrieben. Mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident, darf ich aus dieser eindrucksvollen Ansprache zitieren. Der Bundespräsident sagte:Es gibt bei uns besondere Minderheiten. Ich denke an die bei uns lebenden Ausländer. Auch hier muß sich die Kultur im Umgang von Menschen mit den Menschen bewähren. Das erfordert große Anstrengungen von beiden Seiten. Gelingen kann es nur, wenn die Zahl der Ausländer nicht weiter wächst. Die allermeisten von ihnen haben wir eingeladen, zu uns zu kommen. Das ist unsere Verantwortung. Sie erbringen ihre Leistungen. Aber viele von ihnen leben in Spannungen und Zukunftssorgen. Soweit sie auf die Dauer bei uns bleiben wollen, müssen sie die Fähigkeit entwickeln, mit uns allmählich zusammenzuwachsen. Unsere Aufgabe— so sagte der Bundespräsident weiter —ist es, Lebensbrücken zu bauen und der kulturellen Eigenständigkeit der Ausländer Raum zu lassen. Die beste Friedenserziehung für unsere Kinder wird es sein, Ausländerkinder in deren Familie zu besuchen und ihnen dort zu helfen. Dann erwerben sie ganz von selbst ein Empfinden dafür, daß Deutsche und Ausländer sich gegenseitig achten und bereichern können.Diese Worte des Bundespräsidenten bestimmen unsere Ausländerpolitik.Herr Präsident, mehr als vier Millionen Ausländer leben in unserem Lande. Die Probleme, die sich daraus für die Bürger unseres Landes und für die hier lebenden Ausländer ergeben, sind doch alle offenkundig. Es sind Probleme, die nicht jeden von uns gleich betreffen und die nicht überall in gleicher Weise auftreten. Sie sind dort am größten, wo in Ballungsgebieten eine übergroße Zahl von Ausländern lebt, ja, wo in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen, zum Beispiel in den Schulen, die Zahl ausländischer Kinder größer ist als die Zahl deutscher Kinder.Es ist deshalb nicht Ausländerfeindlichkeit, wenn das Thema Ausländerpolitik mehr und mehr in das Bewußtsein der Bürger gerückt ist und wenn es auch die politische Diskussion bestimmt. Aber es kann zur Ausländerfeindlichkeit führen, wenn Emotionen geschürt, wenn Ursache und Wirkung verwechselt werden, wenn Toleranz verlorengeht, wenn letztlich Begriffe wie „die Ausländer", „die Türken" zu fremdenfeindlichen Verallgemeinerungen werden und darüber das Einzelschicksal vergessen wird.
Und es kann zur Staatsverdrossenheit führen, wenn deutsche Mitbürger und ausländische Mitbürger den Eindruck bekommen, sie würden mit ihren Problemen alleingelassen.Nicht nur für die Ballungsgebiete mit einer großen Ausländerzahl, sondern für die Bundesrepublik Deutschland in ihrer Gesamtheit ist die Aufnahmefähigkeit längst erreicht. Die Bundesregierung hat deshalb die Grundsätze ihrer Ausländerpolitik in drei Zielen zusammengefaßt: erstens die Integration der seit langem bei uns lebenden ausländischen Arbeitnehmer. Mehr als die Hälfte lebt länger als zehn Jahre hier. 60 % der ausländischen Kinder und Jugendlichen sind hier geboren. Zweites Ziel der Ausländerpolitik der Bundesregierung ist die Begrenzung des weiteren Zuzugs, drittes Ziel die Förderung der Rückkehrbereitschaft.Die große Zahl der Ausländer bei uns ergab sich nicht von selbst. Sie ist im wesentlichen das Ergebnis einer systematischen, von der Bundesrepublik Deutschland betriebenen Anwerbepolitik. In den Jahren 1955 bis 1968 wurden Anwerbevereinbarungen abgeschlossen mit Italien, Spanien, Griechenland, der Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien. Wir alle, meine sehr verehrten Damen und Herren, müssen uns sagen, wir haben damals die langfristigen Folgen und Probleme nicht richtig eingeschätzt.
Da kann niemand mit dem Finger auf den anderen zeigen.Sehr bald hat sich gezeigt, daß eine weitere Anwerbetätigkeit zu einer für alle nicht mehr vertretbaren Belastung führen würde, sowohl für die deutschen Staatsbürger wie für die hier schon lebenden Ausländer und für die, die zusätzlich noch kommen würden und nur Hoffnungslosigkeit finden könnten. 1973 gab es etwa vier Millionen Ausländer. Die Aufnahmefähigkeit ganzer Gemeinden und ganzer Stadtteile war erschöpft. Die Chance der Integration war deshalb vielfach nur noch theoretisch vorhanden. Die voraussehbaren Probleme auf dem Arbeitsmarkt, die Lage auf dem Wohnungsmarkt, in den Schulen, in den kommunalen Infrastrukturen machten es notwendig, daß 1973 als erster Schritt ein Anwerbestopp verfügt wurde. Die zunächst auf kurzfristige Beschäftigung abgestellte Anwerbung hatte schließlich zur dauerhaften Anwesenheit geführt mit allen Folgen auch des Familiennachzuges.Der Hauptzuzug von Ausländern gegen Ende der 70er und zu Beginn der 80er Jahre kam aus der Türkei. Es wurde deshalb notwendig, im Interesse der Durchsetzung der bestehenden Zuzugsbeschränkungen den Visumzwang für Einreisende aus der Türkei wiedereinzuführen. In sehr schwierigen Verhandlungen habe ich 1980 mit der damaligen türkischen Regierung darüber eine Verständigung er-
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Bundesminister Genscherzielt. Der Visumzwang trat am 5. Oktober 1980 in Kraft. Er hat erhebliche Wirkungen gehabt; denn das Hauptproblem der Ausländerpolitik ist die Zahl der türkischen Staatsangehörigen bei uns. Mit 1,5 Millionen stellen sie die größte Gruppe. Aus der EG sind 1,2 Millionen ausländische Staatsangehörige bei uns. Für sie ist der Grundsatz der Freizügigkeit ohnehin verwirklicht. Maßnahmen zur Begrenzung und Einschränkung des Anwerbestopps konnten für sie also ohnehin nicht gelten.Die Frage der Freizügigkeit der türkischen Arbeitnehmer bei uns hat eine lange Geschichte. 1963 wurde sie erstmalig vereinbart. Sie wurde in einem Zusatzprotokoll später bekräftigt. Am 1. Dezember 1986 läuft die Übergangszeit ab, bis zu deren Ende die volle Freizügigkeit hergestellt werden sollte. Der Hinweis auf die Festlegung der erforderlichen Regeln dafür zeigt, daß die Freizügigkeit nicht automatisch und unbegrenzt in Kraft tritt, sondern daß sie der vertraglichen Regelung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Türkei bedarf.Wir haben uns deshalb wegen dieser Frage bemüht, in langwierigen Gesprächen mit der türkischen Regierung Verständnis für unsere Probleme zu erreichen. Ziel der Gespräche war es, daß wir unter Beachtung der geschlossenen Verträge mit der Türkei doch zu einer Nichtanwendung der Freizügigkeitsregelungen kommen. Ein Vertragsbruch kann für uns nicht in Frage kommen. Eine vollständige oder auch nur begrenzte Herstellung der Freizügigkeit für türkische Arbeitnehmer aber würde eine Öffnung der Tore zur Bundesrepublik Deutschland bedeuten, damit einen unkontrollierbaren Zustrom. Das würde zu unabsehbaren Folgen für die Bürger unseres Landes, für die hier schon lebenden türkischen Staatsbürger, aber auch für diejenigen führen, die hier in Hoffnungslosigkeit ankommen und keine Zukunftschancen haben würden.
Hier liegt das zentrale Problem, das wir lösen müssen.Dieses schwerwiegende Problem muß ohne Belastung der traditionellen deutsch-türkischen Beziehungen gelöst werden. Das war Gegenstand meiner Gespräche in Ankara 1982, 1984 mit dem türkischen Außenminister hier und zuletzt mit dem türkischen Ministerpräsidenten. Ministerpräsident Ösal hat in Bonn noch einmal die Erklärungen von 1982 und 1984 bekräftigt, daß sich aus den Assoziierungsvereinbarungen keine abträglichen Wirkungen für die Bundesrepublik Deutschland ergeben sollen, d. h. daß es nicht zu einem freien Zugang kommt. Zwar wird die Türkei ihre Rechtsposition nicht aufgeben, aber die Freizügigkeit soll nicht praktiziert werden. Und auch künftige Regelungen sollen nur in beiderseitigem Einverständnis möglich sein. Damit ist der Weg frei für die Verhandlungen der Europäischen Gemeinschaft, der Kommission, mit der türkischen Regierung.Meine sehr verehrten Damen und Herren, einen breiten Raum in der öffentlichen Diskussion unseres Landes nimmt die Einschränkung des Familiennachzuges ein. Das hat auch heute morgen wieder eine Rolle gespielt. Das gilt sowohl für den Nachzug von Kindern über sechs Jahren als auch für den Nachzug der Ehegatten der zweiten Generation. Wir haben uns die Entscheidung dieser Frage in der Bundesregierung nicht leicht gemacht, Frau Kollegin.
Und man darf sich diese Frage auch nicht leicht machen. Deshalb sollte auch niemand mit Schadenfreude darüber reden, wenn es darüber Diskussionen, aber Diskussionen in großem gegenseitigem Respekt, gegeben hat.
Es ist bekannt, daß ich vom Beginn dieser Diskussion an meine Bedenken gegen die Herabsetzung der Altersgrenze für Kinder auf sechs Jahre und gegen die Einschränkung des Ehegattennachzuges der zweiten Generation erhoben habe. Familienpolitische Bedenken haben meine Haltung ebenso bestimmt wie verfassungspolitische, aber auch außenpolitische Erwägungen. Diese Auffassung hat sich nicht geändert. Aber ich habe niemals den Befürwortern solcher Einschränkungen die Aufrichtigkeit ihrer Besorgnisse und das Gewicht ihrer Argumente abgesprochen.
Meine Damen und Herren, jeder hat Anspruch darauf, daß seine Auffassung ernstgenommen wird. Und man sollte, Herr Kollege Fischer, niemanden verketzern, wenn er in dieser schwierigen Frage eine andere Auffassung hat.Übrigens ist das für mich, meine verehrten Kollegen von der SPD, nicht die erste Diskussion, die ich in dieser Frage zu führen habe. Im Jahre 1982 hatte ich mich mit einer Vorlage des damaligen Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung, Westphal, auseinanderzusetzen. Der verlangte den Ausschluß des Nachzugs für folgende Personengruppen: erstens Ausländerkinder ab Vollendung des 6. Lebensjahres,
zweitens Ehegatten von in der Bundesrepublik Deutschland aufgewachsenen Ausländern der zweiten Generation.
Zeigen Sie also bitte nicht mit dem Finger auf den Kollegen Zimmermann, wenn er hier Erwägungen anstellt, die Sie früher in der Regierung und Koalition sogar durchsetzen wollten.
— Wie andere Redner möchte auch ich keine Fragen beantworten.
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6586 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 89. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Oktober 1984
Bundesminister GenscherSorgen Sie lieber dafür, daß Herr Winterstein nicht in Hessen das Nachzugsalter auf 18 Jahre heraufsetzt und damit neue Probleme schafft.
— Frau Kollegin Däubler-Gmelin, ich bestreite doch gar nicht, daß in Ihrer Fraktion auch damals unterschiedliche Meinungen waren.Übrigens gab es auch bei uns damals unterschiedliche Meinungen. Der damalige Parlamentarische Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Herr von Schoeler,
wollte z. B. das Nachzugsalter für Kinder auf sechs Jahre herabsetzen. Das mußte ich ihm ausreden. Wahrscheinlich ist er jetzt als Staatssekretär bei Herrn Winterstein dabei, die damalige Leistung zu kompensieren, indem er jetzt für eine Erhöhung auf 18 Jahre eintritt.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich möchte wie die anderen Redner ohne Zwischenfragen fortfahren dürfen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie uns über diese Frage in einer Auseinandersetzung mit dem sachlichen Gewicht der Argumente diskutieren,
aber lassen Sie uns bitte nicht so tun,
als ob der eine dem anderen etwas vorwerfen könnte.
Wenn Sie, meine Kollegen von der SPD, bestreiten wollen, daß der Bundesminister Westphal damals einen solchen Vorschlag gemacht hat, dann können Sie hier den Beweis antreten.Meine sehr verehrten Damen und Herren, schon heute kann man feststellen, daß die von der Bundesregierung eingeleiteten Maßnahmen, vor allem der Anwerbestopp und der 1980 verfügte Visumzwang, zu einer veränderten Wanderungsbilanz zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei geführt haben. Im Jahre 1980 kamen noch 141 000 Türken mehr in die Bundesrepublik, als im gleichen Jahr zurückkehrten. 1981 betrug der Überhang nur noch 13 000. 1982 verließen erstmaligmehr türkische Staatsangehörige — nämlich 44 000 — die Bundesrepublik, als im Wege des Familiennachzugs und der Asylsuche zu uns kamen. Im Jahre 1983 waren es schon 72 000 Rückwanderer in die Türkei mehr als Zuwanderer in die Bundesrepublik Deutschland. Für 1984 kann auf Grund der Rückkehrförderungsmaßnahmen der Bundesregierung davon ausgegangen werden, daß sich allein die Zahl türkischer Staatsangehöriger, die unser Land verlassen, auf 260 000 erhöhen wird.Das bedeutet: Ohne Eingriffe in den Familiennachzug vermindert sich die Zahl der Ausländer bei uns drastisch. Dasselbe zeigen die Schulstatistiken, nach denen die Zahl der Seiteneinsteiger, also der im Alter von über 6 Jahren zu uns kommenden Kinder, drastisch zurückgeht, so daß sie in manchen Städten — statistisch — kaum noch zu erfassen ist.Ähnliche Entwicklungen gibt es beim Ehegattennachzug. Das spricht dafür, daß mit zunehmender Integration mehr Ehen mit deutschen Staatsangehörigen geschlossen werden. Auch findet bei größeren Ausländergruppen wie den Türken die Eheschließung zunehmend mit solchen Personen statt, die schon hier bei uns leben.Die bei uns stark zurückgehende Ausländerzahl hat ganz sicher auch denjenigen die Zustimmung zur Antwort auf die Große Anfrage erleichtert, die im Prinzip für eine Einschränkung des Familiennachzugs eintreten. Auch die Verhandlungen mit der Türkei werden durch die jetzt getroffenen Entscheidungen der Bundesregierung erleichtert. Ich bitte alle, das im Auge zu behalten, denn das Wichtigste ist ja, daß wir in den Assoziierungsverhandlungen das von uns gewünschte Ergebnis, daß es nicht zur Freizügigkeit kommt, erreichen.Die Bemühung um die Integration derjenigen ausländischen Staatsbürger, die bei uns leben, braucht die Mitwirkung aller Bürger unseres Landes. Integration, wie sie als Ziel der Ausländerpolitik der Bundesregierung definiert worden ist, verlangt Integrationswilligkeit auf allen Seiten. Sie verlangt von uns, daß die bei uns lebenden integrationswilligen Ausländer aufgenommen und angenommen werden, daß sie einbezogen werden und sich einbezogen fühlen können.Eine besondere Aufgabe wird es sein, den hier aufwachsenden jungen Ausländern das Erreichen der Schulabschlüsse zu ermöglichen und sie auf ihre berufliche Tätigkeit vorzubereiten. Wir dürfen niemanden im Niemandsland unterschiedlicher Kulturen und Zivilisationen alleinlassen.
Der Bundespräsident hat in seiner Rede auch darauf hingewiesen,
daß sich Deutsche und Ausländer gegenseitig bereichern können. Hier ist der Ausländerpolitik und der Ausländergesetzgebung eine große Aufgabe gestellt.
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Bundesminister GenscherWir alle müssen uns der Tatsache bewußt sein: Die Folgen der Anwerbeaktionen der 60er und 70er Jahre haben uns eingeholt. Wir müssen sie meistern — im Interesse jedes einzelnen Menschen und im Interesse der Stabilität unserer Gesellschaft. Deshalb ist eine Reform des Ausländerrechts dringend geboten. Aber wir dürfen nicht allein auf die Karte des Ausländerrechts setzen.Viel, viel mehr ist erforderlich. Wir stehen hier in einer Bewährungsprobe der inneren Liberalität unseres Landes. Wir müssen sie bestehen, damit nicht aus Ausländerproblemen Ausländerfeindlichkeit wird. Wir dürfen niemals vergessen, der Staat darf nicht alles und er kann auch nicht alles. Menschlichkeit müssen wir alle geben. Der freiheitliche Gehalt unserer Verfassung, die Verantwortung vor unserer Geschichte, unsere christliche Verantwortung müssen uns dabei leiten. Es gibt in unserem Land ein großes Engagement für die Integration der Ausländer und für das verständnisvolle Zusammenleben von Deutschen und Ausländern. Ohne Übertreibung können wir hier von Bürgerinitiativen der Humanität, der Nächstenliebe und der Toleranz sprechen. Die Kirchen und die Wohlfahrtsverbände engagieren sich seit vielen Jahren, und sie haben eine breite Vertrauensgrundlage geschaffen. Es besteht Anlaß, ihnen allen genauso wie der Ausländerbeauftragten für ihre unermüdliche Arbeit bei der Ausländerbetreuung zu danken.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, sie alle haben nämlich dazu beigetragen, daß unser Land die schwerwiegenden Probleme einer großen Ausländerzahl, ohne Ausländerfeindlichkeit entstehen zu lassen, lösen kann.Die Diskussion über die Ausländerfrage sollte so geführt werden, daß die Probleme nicht verschwiegen werden, aber auch so, daß diese Vertrauensgrundlage nicht beschädigt wird. Denn nur im gegenseitigen Vertrauen werden wir die Aufgabe der Integration, aber auch das Ziel der Begrenzung der Ausländerzahlen erreichen.Die Tatsache, daß die Zahl der Ausländer nicht zunimmt, sondern daß sie abnimmt, daß sie drastisch abnimmt, zeigt, wir müssen unsere Grundwerte nicht verleugenen, wenn wir eine Verminderung der Zahl der bei uns lebenden Ausländer herbeiführen wollen. Die Wahrheit ist in diesem Zusammenhang der Kern des Problems. Das Assoziierungsabkommen mit der Türkei und die jetzt gefundenen Absprachen sind der Schlüssel zu ihrer Lösung. Meine sehr verehrten Damen und Herren — das möchte ich an die Adresse der GRÜNEN sagen —, wir sind kein Einwanderungsland. Wir können es nach unserer Größe und wir können es wegen unserer dichten Besiedlung nicht sein. Deshalb geht es darum, ohne Eingriffe in die Rechte des einzelnen und der Familie, ohne Verletzung der Grundsätze der Toleranz zu einer Verminderung der Ausländerzahlen zu kommen.Wir stehen mit dem Problem der Integration einer großen Zahl von Ausländern in der Bundesrepublik Deutschland nicht allein. Diesem Problemsehen sich aus unterschiedlichen Gründen fast alle Staaten der Europäischen Gemeinschaft gegenüber.Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage formuliert unsere Außenpolitik im Sinne und im Rahmen unseres Grundgesetzes. Wir können mit der Politik, die darin festgelegt ist, bestehen vor unseren inländischen Mitbürgern, vor unseren ausländischen Mitbürgern und vor unseren Nachbarn, mit denen wir in der Europäischen Gemeinschaft zusammengeschlossen sind. Wenn es in einer Frage darum gehen muß, daß alle politischen Kräfte zusammenwirken, dann ist es diese Frage. Und dazu lädt die Bundesregierung alle politischen Kräfte des Hohen Hauses ein.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Olderog.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Erlauben Sie mir zunächst eine Bemerkung zur Rede des Abgeordneten Fischer. Was der Herr Fischer hier vorgetragen hat, das hat mit der Wirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland nichts gemein. Das war ein krankhaft phantasiertes Horrorgemälde, und ich schäme mich, daß der Deutsche Bundestag und die deutsche Öffentlichkeit eine solche Diffamierung ertragen müssen. Ich bedaure die Ausländer, die sich in dieser Weise verhetzen lassen müssen.
Meine Damen und Herren, die Antwort der Bundesregierung enthält einige Grundlinien ihrer Ausländerpolitik. Je eher Regierung und Parlament Klarheit schaffen, um so verläßlicher die Grundlagen für die Ausländer, eine Lebensplanung treffen zu können. Wenn wir diese Klarheit schaffen, leisten wir einen Beitrag zur Integration. Aber Ausländerpolitik ist eine schwierige Materie, in der Sache schwierig, weil wir nicht genau übersehen können, wie die Entwicklung laufen wird, wie viele Ausländer ihre Kinder, ihre Ehegatten nachholen werden und wie viele von ihnen wieder in ihre Heimat zurückkehren werden. Die Materie ist aber auch politisch schwierig, weil die politischen Parteien unterschiedliche Positionen vertreten.Für die gesetzgeberische Arbeit, für das neue Gesetz wird die weitere Entwicklung der Ausländerzahlen eine bedeutende Rolle spielen. Wichtig scheint mir zu sein, daß die Bundesregierung entschieden der Auffassung ist, daß ein weiterer Anstieg des Ausländeranteils an der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland nicht kommen darf und daß beim Familiennachzug — auch im Hinblick auf die unsicheren Prognosen — eine endgültige Festlegung — ein für allemal — auf bestimmte gesetzliche Lösungen nicht erfolgt ist.Ich unterstreiche nachdrücklich: Die Bundesrepublik Deutschland ist kein Einwanderungsland.
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6588 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 89. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Oktober 1984
Dr. OlderogUnsere Aufnahmefähigkeit ist nicht nur erschöpft,sondern sie ist in vielen Bereichen weit überzogen.
Das ist deshalb besonders problematisch, weil die Konzentration ganz besonders auf bestimmte Regionen, Städte oder Stadtteile erfolgt.
Muß es denn nicht zu Spannungen, zu Konflikten kommen,
wenn z. B. in Stuttgart und München schon fast 20% der dort lebenden Menschen Ausländer sind, wenn in Offenbach mehr als 20 % und in Frankfurt 24 % der dort lebenden Menschen Ausländer sind?
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Dr. Däubler-Gmelin?
Ich möchte jetzt aus Zeitgründen keine Zwischenfrage zulassen.
Gilt das generell, grundsätzlich?
Ja, so gilt das. — Der Stadtteil Kreuzberg in Berlin, meine Damen und Herren, wird ja zu Recht immer wieder schon als türkische Großstadt mit 30 000 Ausländern bezeichnet. Hier stoßen auf engstem Raum unterschiedliche Sprachen, Kulturen, religiöse und geistige Auffassungen aufeinander. Menschen, die sich noch weitgehend fremd sind, stehen einander gegenüber. Die wirtschaftliche Situation, die Arbeitslosigkeit schafft zusätzliche Spannungen, steigert Ängste, und zwar nicht nur bei Ausländern, sondern auch bei Deutschen.Es ist davon gesprochen worden, daß es in Großstädten Schulen gibt, in denen die Mehrheit der Schüler Ausländer sind. In Frankfurt gibt es sogar Schulen, in denen 80 % der Schüler Ausländer sind.
Meine Damen und Herren, können wir denn nicht verstehen, daß sich Eltern, deutsche Eltern Sorgen machen, daß sie wegen der pädagogischen Situation an diesen Schulen bedrückt sind und deshalb Abhilfe, Änderungen wünschen?
Man muß doch, bitte schön, nicht ausländerfeindlich eingestellt sein, wenn man für diese Empfindungen deutscher Eltern Verständnis aufbringt.
Wir provozieren doch Ausländerfeindlichkeit, wenn wir das alles so laufen lassen würden.Bundesinnenminister Zimmermann hat sich dafür ausgesprochen, daß ausländische Eltern, die ihre Kinder nach Deutschland holen wollen, dies so rechtzeitig tun, daß sie die deutsche Sprache erlernen und einen deutschen Schulabschluß erreichen.Er wollte die ausländischen Eltern durch eine gesetzliche Regelung dazu nachdrücklich anhalten. Er ist deswegen besonders heftig kritisiert und herabgesetzt worden. Wie Sie das gesehen haben, hat der Bundesaußenminister bereits dargestellt.Meine Damen und Herren, Sozialdemokraten haben den Frankfurter Appell gegen ausländerfeindliche Politik mitunterzeichnet und dem Bundesinnenminister in diesem Papier Rassismus vorgeworfen. Das ist kein Mißverständnis mehr, das ist die Diffamierung des politisch Andersdenkenden. Ausländische Eltern müssen wissen — wir können ihnen das nicht eindringlich genug immer wieder sagen —, daß ältere Schüler, die nach dem Grundschulalter zuziehen, nur geringe Chancen zum Besuch der Realschule oder des Gymnasiums haben und daß ihnen auch die Hauptschule kaum den Abschluß verschaffen kann. Umgekehrt gilt, daß ausländische Kinder, die das deutsche Schulsystem von Anfang an durchlaufen, beachtliche schulische Erfolge haben, die sich von denen deutscher Schüler nicht nennenswert unterscheiden.
Welche Berufschancen, meine verehrten Damen und Herren, hat denn heute jemand, der die deutsche Sprache nicht beherrscht, der keinen Schulabschluß, keine berufliche Ausbildung aufweisen kann? Das sind doch in vielen Fällen junge Menschen, deren Weg in die Arbeitslosigkeit, in eine soziale Randgruppenexistenz und leider oft auch in die Kriminalität vorprogrammiert ist. Wenn der Innenminister das verhindern will, so kann man ihm doch nicht einen moralischen Vorwurf daraus machen. Man kann darüber streiten, ob eine gesetzliche Regelung erforderlich ist, aber das es vor allem humanitäre Gesichtspunkte sind, die ihn leiten, darüber sollten wir uns verständigen.Ich freue mich, daß der Bundesaußenminister hier noch einmal mit Nachdruck klargestellt hat — ich hätte sonst eine ganze Reihe von Zitaten, etwa von Herrn Rau, Ihnen hier vortragen können —, daß genau das auch die Auffassung der Sozialdemokraten gewesen ist. Was bei Herrn Rau und bei Herrn Westphal offensichtlich verantwortungsvolle Politik ist, das nennt man dann bei Herrn Zimmermann „Rassismus". Welch eine doppelte Moral!Ein paar Bemerkungen zum Ehegattennachzug für Ausländer der zweiten und dritten Generation.
Ich glaube, daß es für die Überlegungen des Innenministers gute Gründe gibt. Wir sind uns doch alle darin einig, Frau Dr. Däubler-Gmelin,
daß Ausländer der zweiten und dritten Generation, die also hier schon aufgewachsen, in vielen Fällen hier geboren sind, das Angebot erhalten sollen, zu erleichterten Bedingungen deutsche Staatsbürger zu werden. Der Bundesinnenminister hat ausdrücklich festgestellt, daß daran ein öffentliches Interesse besteht. Diese Ausländer sind ja auch stärker
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 89. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Oktober 1984 6589
Dr. Olderogdurch unsere Kultur als durch ihre heimatliche Kultur geprägt. Lassen sie sich zu erleichterten Bedingungen einbürgern, dann gibt es kein Problem, als deutscher Staatsbürger Ehegatten aus dem Ausland hereinzuholen.
Aber was ist mit denen, die hier aufwachsen, die hier leben, die hier alle Chancen unseres sozialen Systems nutzen, aber entschieden nicht und nie Deutsche werden wollen?
Eine solche Haltung kann doch auf Dauer nicht akzeptabel und ausländerpolitisch richtig sein. Der Ausländer muß sich schließlich entscheiden: Will ich nun Deutscher werden, oder will ich in meine alte Heimat zurückkehren und dort auch meine Ehe führen?
Wir können nicht auf Dauer eine Bevölkerungsgruppe von Ausländern der zweiten, dritten und weiteren Generationen bei uns haben, die sich nicht voll integrieren will und die unserem Staat und unserem Volk- die volle Loyalität verweigert, die aber zugleich alle Rechte wie ein Deutscher in Anspruch nehmen will.
Ich bin deswegen auch gegen den Vorschlag der GRÜNEN mit dem Niederlassungsrecht, weil das nämlich genau diese Wirkung noch verstärken würde, und auch ein Wahlrecht kann es doch nur für deutsche Staatsbürger geben, nämlich für diejenigen, die sich fest mit dem Schicksal unseres Volkes auf Dauer verbinden. Wollen wir denn wirklich, daß es auf Dauer in unserem Volke eine ethnische Minderheit gibt, die sich absetzt vom anderen Teil der Bevölkerung? Ich glaube, daß das angesichts auch der Erfahrungen in anderen Ländern — in den USA und in England — niemand wollen kann.
Es gibt noch ein weiteres gewichtiges Argument gegen den unbegrenzten Ehegattennachzug.
Experten haben ausgerechnet, daß über den Ehegattennachzug bis zum Jahre 2000 mindestens rund 400 000 Personen, darunter mindestens 267 000 Türken, kommen. Auch das wäre eine große Belastung. Insofern betone ich noch einmal: Der Bundesminister verdient es nicht, daß er auf die Anklagebank gesetzt wird.
Im Gegenteil, ich verstehe die Haltung von Herrn Zimmermann als gut durchdacht und verantwortungsbewußt gegenüber unserem Volk und den Ausländern.
Meine Damen und Herren, es wird oft so getan, als ob die Deutschen gegenüber den Ausländern mit einer Ausbeutungsmentalität auftreten. Vielen, die so reden, ist sicher nicht bewußt, in welch einem großen Umfang finanzielle und ideelle Leistungen vom Staat, von sozialen Organisationen und vielen Bürgern aufgebracht werden, damit Ausländer bei uns integriert werden, die deutsche Sprache erlernen, schulische Leistungen erbringen
und angemessene menschliche Bedingungen vorfinden. Allein in Berlin sind 1981 von 12 Volkshochschulen rund 2 100 Kurse für Weiterbildung mit 33 000 Belegungen bei 140 000 Unterrichtsstunden angeboten worden. Wegen der Leistungen des Bundes verweise ich auf die Drucksache 10/156, wo sie im einzelnen aufgezählt sind.
Vor allem die Kirchen und karitativen Organisationen sowie eine immense Zahl idealistisch gesonnener Bürger in fast jeder größeren deutschen Stadt leisten Bewundernswürdiges und Anerkennenswertes. Ich danke allen dafür sehr herzlich. Ich danke auch den Ausländern, die tatkräftig ihre Mitbürger hier in der Bundesrepublik Deutschland bei der schwierigen Aufgabe der Integration unterstützen.
Lassen Sie mich ein Wort zum Assoziierungsabkommen mit der Türkei sagen. Ich begrüße für meine Fraktion, daß die Bundesregierung eine klare Aussage gemacht hat. Sie will sicherstellen, daß es nicht zu einem freien Zugang zu unserem Arbeitsmarkt für alle Türken kommt. Und ich begrüße, daß die traditionelle Freundschaft mit dem türkischen Volk die Voraussetzungen für entsprechende Verhandlungen geschaffen hat. Es müßte in der Tat unverantwortbare Folgen haben, wenn es einen zusätzlichen breiten Strom von Türken in die Bundesrepublik Deutschland gäbe. Wir haben heute bei 4,5 Millionen Ausländern schon über 1,5 Millionen Türken.
Die sorgfältigen juristischen Untersuchungen, Herr Baum, die im Bundesinnenministerium, aber auch in meiner Fraktion zum Assoziierungsabkommen angestellt worden sind, haben keineswegs ergeben, daß die Bundesrepublik zur Herstellung der vollen Freizügigkeit für türkische Arbeitnehmer verpflichtet ist.
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6590 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 89. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Oktober 1984
Dr. OlderogDer entscheidende Art. 12 des Assoziierungsabkommens ist bewußt offen gehalten. Es heißt nur, daß die Vertragspartner sich von einschlägigen EWG-Vertragsbestimmungen leiten lassen, inspirieren lassen — „inspirer" —, um schrittweise Freizügigkeit der Arbeitnehmer herzustellen. Es besteht also kein Anlaß zur Panik. Wir erwarten, daß die Bundesregierung die deutschen Interessen in Ankara und Brüssel klar und entschieden vertritt.
Ich möchte noch ein Wort an die Adresse der SPD richten. Auf welche ausländerpolitische Leistung, Frau Däubler-Gmelin, können Sie sich eigentlich stützen, wenn Sie glauben, den Innenminister dafür kritisieren zu können, daß er noch nicht ein Ausländergesetz vorgelegt hat? Weshalb haben Sie Ihre 13 Jahre Regierungszeit nicht genutzt, um eine neue Regelung durchzuführen? Das ist doch eine berechtigte Frage. Unter Ihrer Regierungszeit hat sich der soziale Zündstoff hier angesammelt. Sie haben 1973 zwar einen Anwerbestopp beschlossen, aber Sie haben dann nichts mehr getan. Sie haben die Hände in den Schoß gelegt. Sie haben die Augen davor verschlossen, daß die Zahl der hier lebenden Ausländer von 3,5 Millionen in 1976 auf 4,6 Millionen in 1981 gestiegen ist.
Und in Hessen haben Sie unter dem Druck der GRÜNEN trotz der vorhandenen ernsten Arbeitsmarktprobleme beim Familiennachzug ausländische Jugendliche im Alter zwischen 16 und 18 Jahren zur Einreise in das Bundesgebiet geradezu eingeladen.
Für diese jungen Menschen gibt es keine berufliche Perspektive. Sie verführen sie zu einer verfehlten Lebensplanung. Die hessische Landesregierung handelt unverantwortlich gegenüber diesen jungen Menschen!
Wenn Sie dann noch lautstark draußen von Anwerbestopp reden, dann fehlt Ihnen in meinen Augen die Glaubwürdigkeit.Die Fehler der Vergangenheit und jetzt die Vorgänge in Hessen machen ein Ausländergesetz dringend notwendig. Noch haben wir glücklicherweise im Bundesgebiet keine Verhältnisse wie in England, wo es Anfang der 80er Jahre zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen westindischen Einwanderern und der Londoner Bevölkerung gekommen ist. Aber es ist hohe Zeit, daß wir im Bundesgebiet den vorhandenen Konfliktstoff entschärfen.Die CDU/CSU-Fraktion sichert dem Bundesinnenminister dabei ihre volle Unterstützung zu.Schönen Dank.
Das Wort hat der Herr Senator für Gesundheit, Soziales und Familie des Landes Berlin.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich ergreife hier für das Land Berlin das Wort zur Ausländerpolitik, weil Berlin das Bundesland mit dem höchsten Anteil an Ausländern ist. Jeder achte Berliner ist mittlerweile ein Ausländer. Berlin ist mit 120 000 türkischen Bürgern die größte türkische Stadt außerhalb der Türkei.Die Länder haben darüber hinaus den wichtigsten und größten Teil der Integrationslast zu tragen. Deshalb bitte ich Sie zu verstehen, wenn ich sage, daß für uns die Ausländerpolitik neben der Beseitigung der Arbeitslosigkeit das zentrale Problem der deutschen Innenpolitik ist.Für uns war und ist klar, daß Ziel der Ausländerpolitik die Integration der Ausländer zu sein hat, die schon lange bei uns wohnen und die sich entschließen, auch auf Dauer bei uns zu bleiben. Für uns ist aber ebenso klar, daß dieses Ziel nur erreicht werden kann, wenn es gelingt, die Zahl der bei uns lebenden Ausländer nicht weiter wachsen zu lassen.Wir geben in Berlin pro Jahr 100 Millionen DM und mehr für die Integration der Ausländer aus. Das fällt uns in Anbetracht enger finanzieller Bedingungen natürlich nicht leicht. Dennoch lohnen sich die Anstrengungen. Wir haben Erfolge vorzuweisen: Das Zusammenleben zwischen Berlinern und Ausländern ist friedlicher geworden; viel mehr junge Ausländer als früher schaffen den Schulabschluß, und auch die Wohnraumbedingungen und die Probleme des Zusammenlebens haben sich verbessert. Aber diese Erfolge würden mit einem Schlage wieder zunichte gemacht, wenn die Zahl der Ausländer wieder steigen würde. Wir hätten es deshalb gern gesehen, wenn die Bundesregierung klare gesetzliche Signale beim Nachzugsalter für Kinder und bei der Zuheirat gesetzt hätte.Am meisten hat uns aber die Frage der vollständigen Freizügigkeit in dem EG-Assoziierungsabkommen mit der Türkei ab 1986 bedrückt. Das Land Berlin nimmt deshalb mit Dankbarkeit die Erklärung der Bundesregierung zur Kenntnis, daß die Gefahr einer massenhaften Zuwanderung als abgewendet betrachtet werden kann.Das Land Berlin bittet die Bundesregierung, möglichst bald ihre Absicht wahrzumachen, das Ausländergesetz zu novellieren. Vor allem erwarten wir eine eindeutige bundesrechtliche Regelung hinsichtlich des Aufenthaltsstatus.Wir haben mit großer Sorge das Ausscheren einzelner Länder, z. B. des Landes Hessen, aus einer bundeseinheitlichen Ausländerregelung zur Kenntnis genommen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 89. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Oktober 1984 6591
Senator Fink
Die Folgen einer solchen Politik trägt eben nicht das Land Hessen allein, sondern tragen alle anderen Bundesländer zusammen, vor allem die Bundesländer mit einem besonders hohen Ausländeranteil.
Ich möchte einen zweiten Punkt der Novellierung ansprechen. Besonders erwarten wir uns von der Novellierung des Ausländergesetzes erleichterte Einbürgerungsbedingungen. Wir vertreten die Auffassung, daß es für ausländische Arbeitnehmer und ihre Familien ein Recht auf Einbürgerung geben sollte,
allerdings keine Postkarteneinbürgerung, sondern nur beim Nachweis tatsächlich erbrachter Integrationsleistungen. Eine Doppelstaatsbürgerschaft, wie sie oft gewünscht wird, wollen wir nicht. Wir meinen, beim Einbürgerungsrecht gilt es einer Tatsache Rechnung zu tragen, die im bisherigen Einbürgerungsrecht nur höchst unzureichend berücksichtigt wurde. Das bisherige Einbürgerungsrecht ist ein Familieneinbürgerungsrecht, d. h. alle oder keiner. Tatsache ist aber, daß die erste Generation üblicherweise noch sehr enge Bindungen an ihre Heimat hat und daß diese Generation üblicherweise in ihre Heimat zurückkehren will. Sie wollen nicht eingebürgert werden. Etwas ganz anderes gilt aber für die zweite und dritte Generation.
Ich meine, daß es diese Probleme bei der Novellierung des Einbürgerungsrechts zu bedenken gilt.
Das Einbürgerungsangebot, das ein Kernbestandteil unserer Ausländerpolitik darstellt, darf kein Scheinangebot sein, sondern muß ein reales, erreichbares Angebot sein.Lassen Sie mich in dem Zusammenhang auch noch ein Zweites sagen. Es wird oft der Anschein erweckt, als ob türkische Bürger nicht integrationsfähig wären. Das mag in vielen Punkten für die erste Generation gelten. Dies gilt aber nach unseren Erfahrungen für die zweite und dritte Generation nicht. Der Großteil der zweiten und dritten Generation auch der türkischen Jugendlichen ist integrationsbereit und integrationsfähig.
Derzeit ziehen Marschkolonnen in einer Nord- und einer Südkette nach Köln, um dort gegen Ausländerfeindlichkeit zu demonstrieren. Was bewegt die Initiatoren dieser Märsche? Glauben sie wirklich, dem friedlichen Zusammenleben zwischen Deutschen und Ausländern zu dienen, wenn sie ein dramatisches und, wie ich meine, höchst einseitiges Bild zeichnen? Meine Erfahrungen in der Ausländerpolitik in Berlin sind, daß es Probleme gibt, daßes aber völlig verfehlt wäre, von einer allgemeinen Ausländerfeindlichkeit der Deutschen zu reden.
Ich denke, daß es notwendig ist, sich in den Beiträgen zur Ausländerproblematik so einzulassen, daß die Lösung der Probleme dabei erleichtert wird und nicht etwa einer Emotionalisierung von Problemen Vorschub geleistet wird.
Ausländerpolitik muß berechenbar, konsequent sein; dann werden sich die erkennbaren Erfolge im Integrationsprozeß vergrößern und verstetigen. Den einmal eingeschlagenen Integrationskurs ruhig und konsequent fortzusetzen, ohne sich von aufgeregten Stimmen beirren zu lassen, führt am ehesten zum Erfolg in der Ausländerpolitik. Die gelegentlich anzutreffende Schwarzmalerei in der Ausländerfrage zeichnet unzutreffende, verzerrende und einseitige Bilder einer Realität, die, wie sich in Berlin zeigt, keineswegs so dramatisch ist, wie gelegentlich zu hören ist.Bei nüchterner Betrachtung zeigt sich also, daß sich die Ausländerfrage weder zu dramatischen Richtungskämpfen noch zu parteipolitischen Auseinandersetzungen eignet. Was allein Deutschen wie Ausländern das Zusammenleben erleichtern wird, ist eine stetige, eine berechenbare, eine stabile Ausländerpolitik.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wartenberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich am Anfang einige Worte zu Herrn Senator Fink sagen. Ihre Rede war ohne Frage abgewogen. Offensichtlich war es, nachdem für die CDU Herr Innenminister Zimmermann und der platt konservative Herr Olderog reden mußten, notwendig, daß auch der liberale Flügel der CDU ein paar Worte sagen durfte; denn die Unterschiede in diesem Bereich waren ja eminent. Das heißt, die Aussagen zur Ausländerpolitik sind nicht nur zwischen FDP und CDU unterschiedlich, sondern da, wo Landesregierungen der CDU in einer Großstadt im Wahlkampf stehen, müssen sie offensichtlich auch ein bißchen vom platten Konservativismus herunterkommen. Trotzdem muß ich auch Sie daran erinnern: Sie sind der Senator, der die fatalen Wertgutscheine für Asylsuchende in Berlin eingeführt hat, was zu Recht riesigen Protest bei allen Betroffenen, bei Kirchen wie Wohlfahrtsverbänden herausgefordert hat.Ich will mit einem Punkt anfangen, der heute morgen durch die Berliner Zeitungen ging. Heute morgen steht in allen Zeitungen, daß eine türkische Lehrerin, die 1978 nach Berlin gekommen ist, geheiratet hat und nun von ihrem Mann geschieden ist, ausgewiesen werden soll. Das abgeleitete Aufenthaltsrecht geht verloren; sie hat kein eigenständi-
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Wartenberg
ges, obwohl sie deutsch spricht, sechs Jahre hier ist und ein Kind hat. Der angesehene Kommentator Matthes schreibt im „Tagesspiegel" heute morgen: Das kann ja wohl nicht wahr sein! und sagt: Es zeigt sich sehr deutlich, daß Integration von Ausländern auch etwas mit Integrität von Politik zu tun hat. Und das ist der Vorwurf, der an Sie geht, Herr Zimmermann.
— Auch an Herrn Lummer, natürlich. Insofern ist das Feigenblatt Herr Fink hier nicht ganz aussagefähig für Berliner Ausländerpolitik.Aber wir setzen uns j a in erster Linie mit Herrn Zimmermann auseinander. Die Diskussion, die wir mit Ihnen führen, und die Kritik, die wir an Ihnen haben, ist in erster Linie, daß Sie keine integre Diskussion führen, daß Sie zwei Jahre lang, ohne etwas zu entscheiden, das Klima im Lande in diesem Bereich verschlechtern und ihre Politik auf dem Rükken einer Minderheit austragen.Leider hat die Beantwortung der Großen Anfrage da überhaupt keine Änderung gebracht. Wir haben hier zwei Antworten der Regierung gehört: Bundesregierung 1: Zimmermann; Bundesregierung 2: Genscher, und es ist ja nicht ohne Zufall, daß nicht irgendein Innenpolitiker von der FDP, sondern Herr Genscher als Parteivorsitzender hier redet.
Allein die Tatsache, daß Herr Genscher hier als Außenminister und Parteivorsitzender redet, zeigt doch, daß man eindeutig darstellen will, daß es keine Einigkeit in der Regierung gibt. Dieses Problem — sosehr wir einige Ansätze der FDP begrüßen — führt doch dazu, daß für die Ausländer weiterhin Unsicherheit besteht. Entscheidungen auf diesem Sektor werden nicht getroffen.
— Ich werde Ihnen an bestimmten Beispielen nachweisen, wie doppelzüngig, doppeldeutig und auslegbar die Antwort auf die Große Anfrage ist.Die Unfähigkeit, gerade in diesem Politikbereich die Probleme zu lösen, und die klägliche Art und Weise, in der der Innenminister die Diskussion in unserem Lande bestimmt, sind besonders problematisch, weil viele Menschen hinsichtlich ihrer Lebenssituation davon betroffen sind. Gerade die schäbige Diskussionsführung hat doch die Ausländerfeindlichkeit gesteigert. Ausländerfeindlichkeit kommt eben auch daher, daß die Ausländer von Regierungsseite — das tun Sie eben häufig genug— zunehmend nur als störender, problematischer, lästiger Faktor betrachtet werden.
Dann muß man sich natürlich nicht wundern, wenn Vorurteile, die in schwierigen ökonomischen Situationen immer auftreten,
die Menschen leicht dazu bringen, Sündenböcke zu suchen. Eigentlich müßten alle Parteien versuchen, dagegen etwas zu tun. Gerade diese Frage ist keine parteipolitische. Hier müßten alle versuchen, ein Klima der Vernunft zu schaffen.
In einer Frage stimmen wir mit der Regierung überein: Wir Sozialdemokraten sind nach wie vor für den Anwerbestopp, für den Zuzugstopp, der seit 1973 besteht. Insofern ist es richtig: Wir sind kein Einwanderungsland für neue Gruppen von Ausländern, die hierher kommen. Aber wenn die Bundesregierung in ihrer Antwort selber sagt, daß mehr als die Hälfte der Ausländer hier länger als zehn Jahre lebe und 60 % der Kinder hier geboren seien, einige Zeilen später aber sagt, wir seien kein Einwanderungsland, dann ist dieser Begriff ja wohl falsch. Wenn man einerseits etwas für die Leute tun will, die länger als zehn Jahre hier sind bzw. hier geboren wurden, und andererseits weiß, daß diese Ausländer nicht einfach wieder verschwinden, dann ist das Wort Einwanderungsland relativ.Unter dem Aspekt, daß ein großer Teil dieser Leute natürlich hier bleiben wird — dessen ist sich auch die Bundesregierung bewußt —, sind wir natürlich doch Einwanderungsland. Daß wir nicht Einwanderungsland sein wollen, kann sich nur darauf beziehen, daß wir keinen neuen Zuzug an Arbeitskräften in die Bundesrepublik zulassen werden. Aber das ist etwas ganz anderes, und das darf nicht vermischt werden. Das ewige Beharren darauf, daß wir kein Einwanderungsland seien, kann eben dazu führen, daß den Leuten vorgegaukelt wird, irgendwie würden sich die Ausländer wieder in Luft auflösen. Das wird das Klima nicht verbessern.Lassen Sie mich noch auf einige Einzelpunkte der Antwort auf die Große Anfrage eingehen, die die SPD gestellt hat. Die Bundesregierung erklärt, eines der wichtigsten Ziele sei es, die Rechtssicherheit für die seit langem bei uns lebenden ausländischen Arbeitnehmer und ihre Familien zu verbessern. Gleichzeitig wird in der Antwort auf die Große Anfrage aber immer wieder darauf hingewiesen, daß die Bundesregierung in erster Linie dafür verantwortlich sei, die öffentlichen Interessen der Bundesrepublik Deutschland in den Vordergrund zu stellen und die persönlichen Belange der Ausländer zurückzustellen. Nun muß man sagen, es ist eine Banalität, daß eine deutsche Regierung im Innern in erster Linie deutsche Interessen vertritt. Aber was soll es eigentlich, daß in diesem Zusammenhang immer wieder betont wird — viermal in dieser Antwort auf die Große Anfrage —, daß an erster Stelle die deutschen Interessen stehen und die persönlichen Belange der Ausländer dahinter zurück-
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zustehen haben? Wir wissen, daß wir eine deutsche Regierung haben, die deutsche Interessen vertritt.
Das kann die Zahl der Vorurteile nur wieder erhöhen. Das ist ein negativer Touch, der durchgängig in der Antwort auf die Große Anfrage festzustellen ist.Eine der größten Schwierigkeiten in der Praxis des Ausländerrechtes sind die großen Ermessensspielräume der Behörden. Die Bundesregierung spricht selbst davon, und auch Herr Zimmermann hat das in seinem kurzen Statement erwähnt. In der Antwort auf die Große Anfrage steht allerdings nur der lapidare Satz: Die Ermessensspielräume sollen eingeschränkt werden. Was heißt das eigentlich unter dem Aspekt des Chaos der Meinungsverschiedenheiten, die in dieser Regierung deutlich geworden sind?
— Entschuldigung, Herr Olderog, wenn Sie Ermessensspielräume einschränken wollen, dann müssen Sie benennen, wo Sie das wollen. Ermessensspielräume können positiv sein, wenn man Gesetze liberal auslegt; Ermessensspielräume können negativ sein, wenn man restriktiv herangeht. Die Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland hat gezeigt, daß, insbesondere durch das Gerede des Herrn Zimmermann, sehr viele Ausländerbehörden die Ermessensspielräume restriktiver ausgelegt haben.
Die Bundesregierung lehnt es weiterhin ab, eine Verfestigung des Aufenthaltsstatus in einem größeren Maße durchzuführen. Wir selber schlagen vor, als höchste Stufe eines verfestigten Aufenthaltsstatus ein Niederlassungsrecht einzuführen. Dieses Niederlassungsrecht unterscheidet sich ohne Frage in bestimmten Punkten von den Ansichten der GRÜNEN. Wir glauben, daß ein Niederlassungsrecht insbesondere bei Bevölkerungsgruppen, bei denen die Aufgabe der Staatsbürgerschaft nicht ohne weiteres möglich ist, eine Möglichkeit der Verfestigung bietet, eine Möglichkeit, eine sichere Lebensplanung durchzuführen.Jeder weiß, daß ein Türke nicht ohne weiteres aus der Staatsbürgerschaft entlassen werden kann. Dort treten also erhebliche Probleme auf. Folglich muß man einen Status finden, der eine vernünftige Lebensplanung ermöglicht. In diesem Zusammenhang ist ein Niederlassungsrecht ein ganz wichtiger Punkt. Die Bundesregierung lehnt das konsequent ab, ohne eigentlich klar zu sagen, in welcher Art und Weise sie die Aufenthaltsrechte für diejenigen, von denen 60% hier geboren sind und von denen 50 % länger als zehn Jahre hier sind, verfestigen will.Meine Damen und Herren, es gibt einen weiteren Punkt in der Großen Anfrage, der von großem Interesse ist, nämlich die Frage der Wiederkehroption. Wenn heute ein Ausländer unser Land verläßtund beispielsweise in die Türkei zurückgeht, hat er kein Recht wiederzukehren. Dies führt in zunehmendem Maße dazu, daß sich selbst Leute, die arbeitslos sind, an den Aufenthalt hier klammern, weil sie sagen: Verlasse ich das Land, kann ich nicht wiederkommen. Wir wissen, daß aber insbesondere Angehörige von EG-Staaten, etwa Italiener, bei schlechter wirtschaftlicher Lage in ihr Heimatland zurückkehren, weil sie wissen: Bei guter wirtschaftlicher Lage können sie zurückkehren.Die Wiederkehroption pauschal abzulehnen, wie Sie das gemacht haben, Herr Zimmermann, ist eigentlich unsinnig. Selbst der vorige Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Herr Stingl, hat immer wieder betont, daß dies eine Möglichkeit ist, die man diskutieren muß. Auch hier zeigt sich in der Antwort auf die Große Anfrage keine Perspektive.
In der Frage des Familiennachzugs ist ein deutliches Wort, was die Altersbegrenzung für Kindern angeht, gesagt worden. Herr Zimmermann hat zwar nach wie vor gesagt, er sei ganz anderer Meinung, und heizt damit natürlich die Diskussion im Lande wieder an. Immerhin hat sich die FDP in einem wichtigen Punkt durchgesetzt.Was den Ehegattennachzug angeht, so muß noch eine ganze Menge getan werden. Ich denke an das Berliner Beispiel, das ich am Anfang erwähnt habe.Wir Sozialdemokraten haben in unseren Thesen versucht, eine positive Richtung in der Ausländerpolitik darzustellen. Aber wir wollen nicht nur die Rechtslage verbessern; für uns ist auch von großer Bedeutung, das Klima der Auseinandersetzung in diesem Lande im Zusammenhang mit der Ausländerfrage zu verbessern und es nicht auf billige Weise anzuheizen, um Punkte bei Stammtischen zu sammeln.
Hier muß ich allerdings ein Wort an Herrn Fischer sagen. Ich stimme ihm inhaltlich in den meisten Punkten zu. Es gibt natürlich auch, um es einmal im Szenenjargon zu sagen, eine abgefuckte Phraseologie, die gefallsüchtig ist und die auch nicht gerade sehr hilfreich ist, die vielleicht an manchen Szenenstammtischen ankommt. Ich glaube, man sollte da in manchen Punkten etwas vorsichtiger sein, wenn man das Klima in der Bundesrepublik zu diesem Thema mit Betroffenheit und Sensibilität diskutieren will. Man sollte nicht eine so emotionalisierte Phraseologie hineinbringen.
Ich bin mir bewußt, daß das weitaus weniger gefährlich ist als das, was Herr Zimmermann macht, weil Herr Zimmermann genau weiß: Das dumpfe Mehrheitsbewußtsein kann er damit mobilisieren. Das ist etwas ganz anderes, als wenn man in einem anderen Bereich einmal etwas radikalere Thesen äußert.
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Zum Schluß möchte ich noch einige Worte zu Herrn Genscher sagen. Herr Genscher, Sie haben hier ohne Frage inhaltlich eine ganze Menge Punkte vorgetragen, die wir Sozialdemokraten mittragen.
Aber an zwei Punkten hat sich gezeigt, daß Sie viele Dinge der politischen Vergangenheit noch nicht bewältigt haben. Ihr billiger Tritt gegen Andreas von Schoeler, der eindeutig nicht der Meinung gewesen ist, daß das Zuzugsalter abgesenkt werden sollte, zeigt ganz deutlich, daß Sie es noch nicht verkraftet haben, daß Ihnen einige Ihrer besten Leute weggelaufen sind.
Sie meinten wohl, Sie müßten ihm hier jetzt im nachhinein noch ein paar Tritte geben.
Ebenso möchte ich Ihnen sagen, daß die Vorlage, die im Ministerium Westphal erarbeitet worden ist, weder bei der SPD noch bei der FDP eine Mehrheit gefunden hatte. Deswegen ist sie auch nicht beschlossen worden. Dort sitzt der ehemalige Justizminister Schmude, der auch ein Gegner dieser Vorlage gewesen ist. Also, Herr Genscher, nicht ganz so billig, wenn Sie meinen, der SPD hier Vorwürfe machen zu können!
Meine Damen und Herren, ich schließe damit in der Hoffnung, daß die Diskussion den Ausländern in diesem Lande etwas bringt, damit das Zusammenleben zwischen Ausländern und Deutschen auf eine vernünftige Basis gestellt wird. Unsere Skepsis insbesondere den Vertretern der CDU/CSU gegenüber und ganz besonders diesem Innenminister gegenüber ist eher gewachsen denn vermindert worden.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Baum.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle Parteien sind seit Anfang der 50er Jahre an allen maßgeblichen Entscheidungen beteiligt, die das Ausländerproblem betreffen. Ich meine, aus dieser gemeinsamen Verantwortung in der Vergangenheit sollten wir uns hier bemühen, bei der Lösung der Probleme ein Mindestmaß an Gemeinsamkeit aufzubringen. Es nützt den ausländischen Mitbürgern überhaupt nicht, wenn wir diese Frage zum Gegenstand überzogener parteipolitischer Profilierungen machen.
Es nützt schon gar nichts, Herr Kollege Fischer,wenn Sie hier in die Sprache der Demagogie verfallen. Sie reißen Brücken ab und bauen keine Brükken auf. Bei diesem Thema aber müssen Brücken aufgebaut werden.
Es ist doch überhaupt keine Schande, Herr Kollege Wartenberg und Frau Däubler-Gmelin, wenn wir uns viele Jahre über den Weg gestritten haben. Und wir haben uns in allen Parteien gestritten! Sie haben gehört, Herr von Schoeler war in unserer Partei anderer Meinung. Herr Schnoor, Frau Rau, Herr Urbaniak und Herr Westphal waren in Ihrer Partei anderer Meinung. Ich weiß, daß es bei Ihnen Leute gegeben hat, die mir nähergestanden haben, wie zum Beispiel Herr Kollege Schmude und Sie. Das heißt, wir haben darüber gestritten: Was ist denn der bessere Weg? Wir waren bei den Kindern alle der Meinung, sie sollten möglichst früh kommen. Wir haben darüber gestritten, ob wir administrative Maßnahmen ergreifen sollten oder nicht. Das kann doch nicht Anlaß sein, jetzt hier die Toleranz aufzugeben, die notwendig ist, um mit dieser schwierigen emotionalisierten Frage fertigzuwerden.Nun bezweifeln Sie, daß hier Klarheit geschaffen worden sei. Ich weiß nicht, ob Sie die Antwort wirklich gelesen haben. Ich habe mit großer Aufmerksamkeit den Bericht gelesen, den Frau Funcke im März 1984 abgegeben hat. Sie sagt darin:„Die ausländischen Familien, die seit vielen Jahren in der Bundesrepublik Deutschland leben, sind in zunehmendem Maße verunsichert. Ausländerfeindliche Parolen, Drohungen von Teilen der deutschen Bevölkerung, eine restriktive Verwaltungspraxis in den Ausländerämtern und die andauernde Diskussion um neue ausländerpolitische Beschlüsse und Maßnahmen verängstigen viele von Ihnen."Ich freue mich, daß die Bundesregierung jetzt mit einer klaren Antwort die Grundlage für diese Verunsicherung genommen hat. Es besteht jetzt Klarheit; das können Sie überhaupt nicht bezweifeln.
Es findet keine Veränderung der Grundlagen des Familiennachzugs statt. Die Gründe, die hier für eine mögliche spätere Veränderung aufgeführt sind, zum Beispiel die erhebliche Erhöhung der Zuwanderungen bei den Ehegatten, sind eine Kondition, die dem Bild, das wir heute haben — das müssen Sie deutlich sehen, Frau Däubler-Gmelin —, nicht entspricht. Denn die Zahl der Ausländer geht zurück. Die Frage des Kindernachzugs — ich will das noch einmal deutlich sagen — ist ja auch Gegenstand der Verhandlungen mit der türkischen Regierung gewesen. Herr Genscher hat hier ja auch das Notwendige dazu gesagt.Also: Meine Partei steht in der Kontinuität der Beschlüsse von 1981, die die Bundesregierung und die Länder damals gemeinsam getroffen haben. Ich halte es nicht für gut, daß Bundesländer in dieser Frage ausscheiden und wir dadurch in der Bundesrepublik Deutschland einen ausländerpolitischen Fleckerlteppich bekommen.
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BaumDas betrifft alle. Wir müssen uns jetzt zu einer Gemeinsamkeit zusammenraufen. Man kann nicht Ausländerkinder bzw. deren Nachzug in Hessen anders behandeln als in Baden-Württemberg und Bayern. Ich bedaure besonders, Frau Däubler-Gmelin, daß angesichts der Debatte, die wir jetzt hier führen, erst vor kurzem ein Bundesland, nämlich Hessen, auch noch ausgeschert ist, wo wir doch hier diese Debatte führen und uns um eine neue gesetzliche Regelung bemühen. Also, bitte zerreden Sie diese klare Entscheidung der Bundesregierung nicht. Sie ist eindeutig und klar. Wir hoffen, daß sie diejenigen ermutigt und motiviert, die haupt- und ehrenamtlich mit großem Engagement in Kirchen, Wohlfahrtsverbänden, Bürgergruppen, Familien oder einzeln sich um die Integration, um das Zusammenleben mit den ausländischen Mitbürgern bemühen. In den Dank beziehe ich ausdrücklich Frau Funcke ein,
die sich mit großem Einsatz ehrenamtlich der Belange der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien annimmt und in unzähligen Gesprächen, Begegnungen, Veranstaltungen, Verhandlungen die Sorgen und Probleme aufnimmt und uns manchmal unbequeme, gebe ich gerne zu, Vorschläge macht.Meine Damen und Herren, wir haben von 1950 an angeworben — Herr Genscher hat das gesagt —, ohne daß wir uns Rechenschaft darüber abgelegt haben, was eigentlich geschehen soll. Wir sind nicht von Anfang an zu einem Einwanderungsland geworden. Wir hätten ja Quoten festlegen können. Wir haben auch keine Rotation gemacht, aus Gründen, die ich hier nicht aufzeigen möchte. Aber wir sind nun — das ist ja der Streit — im nachhinein de facto für einen Teil der Ausländer zu einer Art Einwanderungsland geworden. Die Bundesrepublik Deutschland, so hat Gerhard Spörl in der „Zeit" treffend ausgeführt, ist ein „Nichteinwanderungsland mit Einwanderern". Das Besondere an der Situation ist — und das macht die Sache so schwierig —: Die Mehrzahl der Ausländer ist trotz langjährigen Aufenthalts — und das gilt auch für die zweite und dritte Generation — bisher nicht deutscher Staatsangehöriger geworden. Sie haben sich nicht entschieden, sie sind „Wanderer zwischen zwei Welten" mit allen Folgen, die sich daraus stellen, z. B. der Folge, daß türkische Kinder, die hier geboren sind und in Köln gelebt haben, wenn sie in die Türkei zurückziehen, nicht einmal Türkisch können. Wir müssen uns fragen: In welche Situation sind diese Familien gebracht worden?Die Mehrzahl der Ausländer hat keine endgültige Lebensplanung getroffen. Es herrscht vielfach Unsicherheit. Die Integration — hierbei handelt es sich um einen schillernden und mißverständlichen Begriff — ist trotz aller Fortschritte eben nicht endgültig gelungen. Es geht, wie die Bundesregierung mit Recht ausführt, um die Teilhabe der Ausländer an unserem gesellschaftlichen Leben, ohne daß wir sie zwingen wollen, ihre Identität aufzugeben. Es geht um die angemessene Eingliederung der ausländischen Jugendlichen in das Berufsleben.Integrierbarkeit setzt Willen und Mut voraus, ein Leben zu planen. Integration ist keine Einbahnstraße. Da müssen Beiträge von deutscher Seite geliefert werden, es müssen aber auch Entscheidungen durch die Ausländer selbst getroffen werden. Sie müssen in die Lage versetzt werden, eine klare Lebensplanung zu treffen, und sie dann eben auch durchführen.Ein Niederlassungsrecht, ohne daß ein Wechsel der Staatsangehörigkeit erfolgt, lehnen wir ab. Wir wollen, daß sich der aufenthaltsrechtliche Status verfestigt, und wollen auch die Schwierigkeiten beseitigen, die sich bei der Einbürgerung stellen. Das ist ja so einfach nicht. Die Ausbürgerung ist sehr schwierig insbesondere für junge Männer zu erreichen, die den Wehrdienst in einem anderen Lande abzuleisten haben. Wir wollen also nach Formen und Möglichkeiten suchen, die Einbürgerung zu erleichtern.Es gibt j a eine ganze Reihe anderer Schwierigkeiten, die wir zu überwinden haben, etwa die Kondition, eine angemessene Wohnung nachzuweisen, ohne daß der einzelne immer in der Lage ist, diese zu finden.Wir müssen uns — meine Damen und Herren, ich appelliere an Sie — gemeinsam gegen die Vorurteile wenden, die in der Bundesrepublik immer noch bestehen.
Ausländerpolitik ist eine Auseinandesetzung mit Vorurteilen. Es muß klargestellt werden: Der Ausländeranteil ist im Verhältnis zu anderen westeuropäischen Staaten bei uns niedriger. Die Geburtenhäufigkeit der hier lebenden Ausländer liegt nicht mehr wesentlich über der der Deutschen. Die Zahl der Mischehen, der binationalen Ehen nimmt zu. Die Zahl der Ausländer geht deutlich zurück. Mehr ausländische Kinder, auch mehr türkische Kinder erreichen den Hauptabschluß, und es gibt immer weniger Seiteneinsteiger. Auch das Problem der Arbeitslosigkeit wäre durch ein Herausdrängen der ausländischen Arbeitnehmer nicht zu lösen. Kardinal Höffner hat bereits im Juli 1982 davor gewarnt, „verständliche Sorgen um die wirtschaftliche Zukunft und tiefsitzende Ängste um die eigene und nationale Identität auf die Fremden zu übertragen und sie in die Rolle des Sündenbocks zu zwingen".Für uns ist die Ausländerfrage kein Quantitätsproblem, sondern eine Frage der Mitmenschlichkeit zu Mitbürgern, die hier arbeiten, Steuern zahlen, Sozialversicherungsbeiträge leisten, die dazu beigetragen haben, daß sich unser Land wirtschaftlich gut entwickeln konnte. Wir dürfen diese Fragen nicht allein vor einem wirtschaftlichen Hintergrund sehen. Ausländerpolitik ist kein Verschiebebahnhof für wirtschaftspolitische Probleme. Wir appellieren an die aktive Toleranz unserer Mitbürger. Wir wissen um die Schwierigkeiten. Wir sind bereit, diese Schwierigkeiten gemeinsam mit allen in diesem Lande zu lösen, die dazu aktiv beitragen wollen. Wir werden das Unsere dazu tun.
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Das Wort hat die Frau Abgeordnete Däubler-Gmelin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum Schluß noch ein paar Sätze. Was hat die Debatte gebracht? — Den Aufruf von einigen vernünftigen Leuten, im Bereich der Ausländerpolitik behutsam und, wenn es geht, mit Einigkeit vorzugehen. Senator Fink, dessen Rede ich für anerkennenswert halte, war eine der angenehmen Überraschungen.
Die FDP, Herr Genscher, hat es sich leider nicht ganz verkneifen können, in einer Form von Vergangenheitsbewältigung auf Leute zu zeigen, auf Leute aus Ihrer Partei — typischerweise nur auf solche, die Ihre Wackelwende nicht mitgemacht haben — und auf Leute von uns.
Ich will Ihnen noch etwas sagen: Wissen Sie, mir ist ein Heinz Westphal, der zu Beginn einer Auseinandersetzung, zu Beginn einer Diskussion, aus ehrenwerten Motiven einen Standpunkt vertritt,
der bei uns nicht mehrheitsfähig war, viel lieber als ein Innenminister, dem Sie zwar seit Jahren erzählen, daß die Motive für seine Entscheidung falsch seien, und der dennoch hartnäckig daran festhält.
Deswegen, Herr Baum, muß ich Ihnen sagen, daß ich hoffe, daß der Herr Zimmermann Ihre Ermahnungen, einen Kompromiß nicht zu zerreden, gehört hat. Hat er Sie gehört? Herr Olderog sagte hier doch: Keine Einigung ist erreicht worden. Herr Zimmermann sagt: Keine Festschreibung ist erreicht worden. Sie sagen: Doch. Es kommt nicht zur Verschlechterung der Rechte.
Ich will das wiederholen. Der Herr Zimmermann schimpft ja so. Der Herr Zimmermann bleibt bei seiner Meinung, obwohl er als Innenminister jetzt zwei Jahre Zeit gehabt hätte, sich von den hervorragenden Argumenten des Herrn Genscher und des Herrn Baum überzeugen zu lassen. Das, Herr Zimmermann, ist der Punkt, den ich Ihnen übelnehme.
— Und jetzt können Sie schreien, soviel Sie wollen. Das tun Sie ja immer, wenn Ihnen etwas nicht paßt.
Ich darf noch einmal zusammenfassen: Klarheit über das hinaus, was Sie in den letzten Tagen gesagt haben, haben wir über Ehegattennachzug, über
Beschränkungen des Kindernachzuges leider heute nicht.
Herr Olderog hat etwas anderes gesagt als Herr Baum, so daß ich Ihnen sagen kann, meine Damen und Herren: Wir haben uns bemüht, im Interesse der ausländischen Arbeitnehmer und der deutschen Klarheit zu schaffen. Wir sehen: Die Notwendigkeit dieses Bemühens bleibt trotz der heutigen Debatte bestehen. Wir werden — auch in diesem Parlament — dafür sorgen, daß mehr Rechtssicherheit, mehr Klarheit und mehr Einigkeit in dieses Gebiet hineinkommt.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Däubler-Gmelin, es ist doch ganz offenkundig, daß diese schwierigen Fragen des Ausländerrechts nicht parteiuniform behandelt werden können. Deshalb habe ich angesichts einer zum Teil maßlosen Kritik an Auffassungen, die der Bundesinnenminister geäußert hat, die nicht meine Auffassungen sind, gesagt: „Das gibt es in allen Parteien" und dafür Ihren Kollegen Westphal — Herr Präsident, ich darf das hier sagen — zitiert. Ich weiß nicht, was Sie daran so erregt. Es ehrt Ihre Partei, daß Sie darüber gerungen haben. Es ehrt meine Partei, daß wir darüber ringen mußten. In diesem Zusammenhang habe ich einen früheren Kollegen von uns erwähnt. Und es ehrt auch die Christlich Demokratische und die Christlich-Soziale Union, daß sie darüber ringen. Das zeigt doch eigentlich nur, wie schwierig dieses Thema ist. Und das war ein Beitrag von mir, um zu zeigen: Wir werden eine gemeinsame Position nur dann erreichen, wenn wir auch die Diskussion in der Ausländerpolitik mit der Toleranz führen, die wir brauchen, um die Ausländerfragen zu regeln. Die Klarheit haben wir Ihnen gegeben.
Sie können sie, wenn Sie lesen wollen, der Antwort auf die Große Anfrage entnehmen.Ich sage noch einmal, wir haben uns damit nicht leichtgetan, wir haben darum gerungen, wir haben die Klarheit geschaffen; und nun bitte keine Nachhutgefechte
und nicht unterstellen, daß sich jemand über etwas geärgert hat. Ich habe mich in der Vergangenheit gar nicht geärgert, wie Sie wissen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 89. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Oktober 1984 6597
Bundesminister Genscher— Es fällt Ihnen sogar schwer, nette Worte zu hören.
Aber ein Parlament würde geradezu sich selbst ersticken, wenn es nur aus tierischem Ernst bestünde.Meine Kollegen, lassen Sie uns also am Ende einer Debatte versuchen, zusammenzukommen.
Das wird auf allen Seiten notwendig sein. Dazu wollte ich am Schluß noch ein Wort sagen: Sie, Frau Kollegin, haben hier einen solchen Versuch gemacht. Ich tue das auch.
Was fehlt, ist — das sage ich angesichts der Rede, die hier heute morgen gehalten worden ist — ein Wort aus der Fraktion der GRÜNEN.
Wenn es hier noch gesprochen würde, könnten wir sagen: Lassen Sie uns jetzt auf der Grundlage der Antwort auf die Große Anfrage eine Ausländergesetzgebung beraten, die dazu beiträgt, den freiheitlichen Gehalt unseres Grundgesetzes zu bestätigen, Toleranz zu praktizieren und unserer Verantwortung gegenüber unseren ausländischen Mitbürgern und unseren eigenen Mitbürgern gerecht zu werden! Dazu wollte ich Sie alle noch einmal eingeladen haben.Ich danke Ihnen.
Unsere Geschäftsordnung verbietet mit guten Gründen, daß ein amtierender Präsident, auch wenn er in einer solchen Debatte noch so oft zitiert wird, zur Sache etwas sagt. Vielleicht ist es mir einzig und allein erlaubt, zu sagen: Ich hätte mich, wenn ich nicht zu amtieren hätte, am Ende der Debatte zu einer persönlichen Erklärung gemeldet. Dies ist mir nun verwehrt, aber eines möchte ich sagen: Dem Vorwurf des Rassismus gegenüber einem Innenminister wäre ich dann entgegengetreten.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt zu Tagesordnungspunkt 19 Ausschußüberweisung vor. Die Überweisungsvorschläge ersehen Sie aus der Tagesordnung. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Punkte 21 bis 23 der Tagesordnung auf:
21. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Situation in der Türkei — Drucksache 10/1297 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
22. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zur Entwicklung in der Türkei
zu dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN Sofortiger Stopp der Türkeihilfe
zu dem Antrag der Fraktion der SPD Türkei
— Drucksachen 9/2213, 10/998, 10/107, 10/149, 10/1386 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Schwarz Frau Huber
23. Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN
Reise einer Delegation des Deutschen Bundestages in die Türkei
— Drucksache 10/1613 —
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat sind eine gemeinsame Beratung der Tagesordnungspunkte 21 bis 23 und ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Wird das Wort zur Berichterstattung oder zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Voigt .
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben eben bereits mit der Debatte über die ausländischen Arbeitnehmer faktisch eine Türken-Debatte geführt; wir werden jetzt eine Türkei-Debatte führen. Nachdem Herr Bundesaußenminister Genscher so freundlich war, uns alle in die Gesellschaft der Ehrenmänner aufzunehmen, möchte ich allerdings, obwohl das Widerspruch auslösen wird, eine Person, die in der Debatte erwähnt worden ist, ausklammern: Ein Oberbürgermeister, der auf dem Rücken der ausländischen Arbeitnehmer und ausländischen Mitbürger in einem Kommunalwahlkampf Stimmungsmache betreibt, gehört für mich nicht zur Gesellschaft der Ehrenmänner.
Unsere Freundschaft zur Türkei, unsere gemeinsame Mitgliedschaft im Europarat und im westlichen Bündnis verpflichten uns politisch und mora-
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Voigt
lisch, auf die uneingeschränkte Wiederherstellung demokratischer Grundrechte und die volle Beachtung der Menschenrechte in der Türkei zu drängen. Wir tun das einem Land gegenüber, dem wir auch dankbar sein müssen. Denn dieses Land half deutschen Demokraten, vor dem nationalsozialistischen Unrechtsregime Schutz zu finden. Wir tun das einem Land gegenüber, von dem wir mit Respekt anerkennen, daß es das Frauenwahlrecht nicht nur wesentlich früher als andere islamische Staaten, sondern auch früher als andere europäische Staaten eingeführt hat.Es hat, insbesondere bei den Kommunalwahlen, Fortschritte auf dem Wege zur Wiederherstellung der Demokratie in der Türkei gegeben. Aber noch immer werden demokratische Grundrechte eingeschränkt, noch immer kommt es zu zahlreichen Menschenrechtsverletzungen. Der Zustand der Demokratie und der Menschenrechte in der Türkei rechtfertigt eine Gewährung von Verteidigungsmitteln durch den Bundestag noch nicht.Wer gegenüber den Menschenrechtsverletzungen und der Einschränkung demokratischer Grundrechte in der Türkei schweigt, untergräbt die Glaubwürdigkeit des westlichen Bündnisses. Herr Bundesaußenminister, die Sprache der Diplomatie darf nicht als Mittel zur Verschleierung von Menschenrechtsverletzungen mißbraucht werden. Herr Bundeskanzler Kohl hat auf der Frankfurter Buchmesse einen Mißbrauch der Sprache in der Politik kritisiert, dessen er und seine Regierung sich durch verschleiernde, beschönigende und verharmlosende Floskeln, in diesem Falle in bezug auf die Türkei, selber befleißigen. Ich appelliere an die Koalitionsparteien: Verfallen Sie nicht in eine selektive Menschenrechtspolitik, die Menschenrechtsverletzungen im Osten und in Nicaragua anprangert, aber bei unseren Bündnispartnern in der Türkei und in El Salvador verharmlost oder übersieht.
Mein Vorwurf und meine Sorge ist, daß die gleichen Koalitionsparteien, die in der Innenpolitik leichtfertig aus dem demokratischen Verfassungskonsens ausgrenzen, in der Außenpolitik Mißstände innerhalb des westlichen Bündnisses voreilig mit einem demokratischen Persilschein versehen.
Meine Sorge und mein Vorwurf ist, daß die gleichen Koalitionsparteien, die in der Ausländerpolitik Schritte zu Lasten der Menschenrechte unserer türkischen Mitbürger erwogen haben und einige noch weiter erwägen, gleichzeitig die Menschenrechte von Türken in ihrer Heimat zuwenig beachten.Nach den Schrecken des Nationalsozialismus gehört der Einsatz für Menschenrechte und Demokratie sowohl in der Innenpolitik wie in der Außenpolitik zur Staatsraison der Bundesrepublik Deutschland.Es muß heute, im Oktober 1984, feststellt werden, daß sich in wichtigen Grundrechtsfragen in derTürkei in den letzten Monaten keine entscheidenden Verbesserungen ergeben haben. Der Ausnahmezustand hält an. Eine Amnestie für politische Gefangene wurde nicht erlassen. Die freie Betätigung von Parteien und die Mitgliedschaft in Parteien bleiben weiterhin eingeschränkt. Die Gewerkschaften und ihre Mitglieder stehen weiterhin unter großem Druck, ihre Rechte werden beschnitten. Die Einschränkung der Pressefreiheit wurde nicht aufgehoben. Zahlreiche Menschenrechtsverletzungen und die Verletzung der Rechtsstaatlichkeit werden immer wieder bekannt. Es gibt eine unverhältnismäßig große Flut von unverhältnismäßig harten Urteilen. Es kommt zu zahlreichen Todesurteilen. Dies widerspricht vom Grundsatz her unseren Rechtsstaatsprinzipien, die wir jedes Todesurteil ablehnen. Ich appelliere trotzdem auch an dieser Stelle an die türkische Regierung, die Todesurteile — die wir prinzipiell ablehnen — nicht zu vollstrekken.
Der Bericht der Juristendelegation, der auch der ehemalige Verfassungsrichter Martin Hirsch angehört hat, kommt zum Ergebnis, daß es nach wie vor zu zahlreichen Verletzungen des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit bei Prozessen kommt. Ein jetzt in der Öffentlichkeit bekanntgewordener Bericht im Europarat spricht ebenfalls von zahlreichen Verletzungen des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit, der demokratischen Rechte und der Menschenrechte. Amnesty International hat über Folterungen berichtet. Es kommt weiter zu Folterungen, obwohl ich als positiv anerkennen muß, daß es auch zu Verurteilungen derjenigen kommt — noch nicht in ausreichendem Umfang —, die beschuldigt werden, gefoltert zu haben.Als skandalös empfinde ich den Vorgang um die Petition von mehr als 1200 Intellektuellen, die eine meiner Meinung nach sehr zurückhaltende Petition in Richtung auf Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit, der Menschenrechte und der Demokratie verfaßt und unterschrieben haben. Dieses Manifest ist ein Manifest der Demokratie. Die Anklage dieser Personen ist für mich ein politischer Skandal, über den wir nicht hinweggehen können.
Ich solidarisiere mich ausdrücklich mit dem Inhalt dieses Manifestes.Wir können uns nicht damit zufrieden geben, daß zwar einzelne, kleine Schritte in Richtung auf Demokratisierung gemacht werden, die Türkei insgesamt aber im Zustand einer gelähmten Demokratie verbleibt. Law and Order allein sind kein Grundsatz, den wir akzeptieren können. Recht und Ordnung sind nur akzeptabel, soweit sie Demokratie mit festigen, soweit Menschenrechte dadurch gesichert werden und soweit die Grundfreiheiten, Pressefreiheit, Gewerkschaftsfreiheit, Parteienfreiheit, dadurch nicht gefährdet, sondern entfaltet werden.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 89. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Oktober 1984 6599
Voigt
Wir können der Empfehlung des Auswärtigen Ausschusses nicht zustimmen; wir werden sie ablehnen. Wir sind der Meinung, daß eine Gewährung der Verteidigungshilfe nicht möglich ist, daß es gut wäre, wenn der Bundestag in dieser Situation eindeutig Stellung bezieht. Ich bedaure, daß die Koalitionsfraktionen keinen eigenen Entschließungsantrag vorgelegt haben, der erkennen läßt, daß sie weiterhin zu den Forderungen und Prinzipien stehen, die hier damals von einer Delegation des Bundestages — damals noch einmütig — eingebracht worden sind.Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Hamm-Brücher.
Herr Präsident, ich bitte, vom Platz sprechen zu dürfen.
Selbstverständlich.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte für die Fraktion der Freien Demokratischen Partei feststellen, daß wir den Bericht der Bundesregierung zur Entwicklung in der Türkei zustimmend zur Kenntnis nehmen und, Herr Kollege Voigt — im Gegensatz zu Ihrer soeben gemachten Bemerkung —, nach wie vor zu den Prinzipien und der Entschließung stehen, die ja diese Berichte seinerzeit überhaupt erst ausgelöst hat.
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, es gilt, hier und heute eine Bestandsaufnahme zu versuchen, wie sich die Entwicklung in der Türkei seit unserer letzten Debatte in diesem Hause im Juni 1983 vollzogen hat. Hier möchte ich drei Aspekte nennen.
Es gibt — das haben Sie auch gesagt, aber vielleicht ein bißchen zu wenig ausgearbeitet, Herr Kollege Voigt — in der Entwicklung zur Rückkehr zu demokratischen Verhältnissen in der Türkei in kleinen Schritten durchaus auch positive Aspekte. Ich nenne ein paar Beispiele: Der Zeitplan zur Demokratisierung — von Chile, das wir im nächsten Tagesordnungspunkt behandeln, kann man das nicht sagen —, der vom Präsidenten und jetzt vom freigewählten Ministerpräsidenten vorgelegt wurde, wurde durchaus eingehalten. Die Kommunalwahlen im März waren ein positives Ergebnis in Richtung auf mehr pluralistische Demokratie.
In immerhin 26 Provinzen wurde das Kriegsrecht aufgehoben — das reicht noch nicht aus —, und das Parlament beginnt sich durchaus kritisch an der politischen Diskussion im Lande zu beteiligen.
Aber — da stimmen wir wohl voll überein — es gibt leider viele Bereiche, in denen wir eben keine befriedigenden Fortschritte zur Normalisierung, zur Respektierung der Menschenrechte feststellen
können; denn nach wie vor behindern die rigiden Einschränkungen als Folge des Kriegsrechts diese Entwicklungen. Die Haftbedingungen in vielen Militär- und Polizeigefängnissen sind nach wie vor unerträglich; das zeigen j a auch die Hungerstreiks. Die Militärstrafprozesse und ihre Urteile entsprechen nach unseren Vorstellungen noch keiner endgültigen Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit. Sie haben auch die immerhin die durchgeführten Prozesse gegen Folterer erwähnt. Die Zahl der Verurteilungen liegt mit 80 unserer Ansicht nach doch recht niedrig. Wir möchten den Herrn Bundesaußenminister bitten, seine Bemühungen fortzusetzen, im Gespräch mit seinen Kollegen und anderen Regierungsmitgliedern auf diese Sachverhalte verstärkt hinzuweisen.
Sie haben auch die Interpellation der 1 200 Intellektuellen erwähnt. Wir bedauern es ausdrücklich, daß gegen 56 der Unterzeichner ein Prozeß eröffnet wurde.
und eine Anklage erhoben wurde gegen sehr moderierte Feststellungen; denn es handelt sich ja nicht um Radikale, sondern um Demokraten der Mitte, sogar des konservativen Lagers, die hier mit unterschrieben haben. Durch diesen Prozeß, aber auch durch einige Ansprachen des Staatspräsidenten ist zweifellos Frost auf den beginnenden demokratischen Tauwetterprozeß gefallen.
Aber, meine sehr geehrten Kollegen — das ist der nächste Aspekt —: Herr Kollege Voigt, Sie ziehen andere Konsequenzen. Wenn man die Ausgangsposition in der Türkei 1980 mit den Fortschritten vergleicht, dann sollte man, glaube ich, keine überzogenen Forderungen an die Beschleunigung des Demokratisierungsprozesses stellen; jeder, der einmal in der Türkei war, wird das unterstützen. Unsere Aufgabe ist es, weiterhin zu helfen und alles zu unterstützen, was diesen Prozeß beschleunigt, und nicht zu schweigen in allen Menschenrechtsfragen — ich glaube, da sind wir uns einig —, wir sollten aber auch nicht in die Rolle deutscher Präzeptoren verfallen. Die Bundesregierung nennt das den „kritischen Dialog" — den wir unterstützen —, aber er darf kein Ritual werden.
Die Todesurteile, die jetzt wiederum ausgesprochen sind, sollen nach unserem Wunsch und Willen nicht vollstreckt werden. Ich glaube, daß eine Reise einer Bundestagsdelegation — wir sollten uns da nicht in den Schmollwinkel stellen — durchaus nützlich wäre und möglicherweise auch falscher Propaganda über Gefängnisbedingungen entgegenwirken kann. Ich meine, daß eine solche Delegation in absehbarer Zeit der Einladung des Präsidenten des türkischen Parlaments folgen sollte.
Das Wort hat der Abgeordnete Reents.
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6600 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 89. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Oktober 1984
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was dieser Debatte heute zugrunde liegt, ist im Grunde genommen etwas absurd und lächerlich. Wir haben hier je einen Antrag der GRÜNEN und der SPD vom Juni 1983 vorliegen,
— der wird noch erwähnt, Karsten —, in denen die Einstellung der Militär- und Wirtschaftshilfe an die Türkei bzw. nur der Militärhilfe gefordert wird. Die Anträge sind erst kürzlich in den Ausschüssen beraten worden und sollen jetzt endgültig behandelt werden.
Wir haben zweitens die Unterrichtung durch die Bundesregierung vorliegen: die eine vom Dezember 1982,
die andere vom Februar 1984, in denen selbstverständlich das Hohelied der Demokratie gesungen wird und in denen ebenso selbstverständlich zur Fortsetzung der Militär- und Wirtschaftshilfe an die Türkei aufgefordert wird.
Wir haben sodann einen Antrag der SPD vom April 1984 vorliegen, der ebenfalls die Aussetzung der Militärhilfe beantragt. Dieser Antrag soll aber heute nicht behandelt werden, sondern die SPD möchte, daß dieser Antrag in die Ausschüsse überwiesen wird, so daß dieser Antrag das Schickal der vorher von mir erwähnten Drucksachen erleiden kann; denn er ist offenbar noch nicht alt genug, um hier beschlossen zu werden. Der muß erst in die Ausschüsse und wird dann wohl irgendwann 1985 genauso unaktuell wie die anderen Anträge ins Plenum zurückkommen.
Wir haben weiter einen Antrag unserer Fraktion der GRÜNEN vom Juni 1984 vorliegen, mit dem wir sofort, aktuell, ganz schnell auf die Weigerung der türkischen Regierung reagieren wollten, eine Delegation des Deutschen Bundestages in die Türkei einreisen und sich die Gefängnisse ansehen zu lassen, was damals auf einer gemeinsamen Vereinbarung der hier vertretenen Parteien basierte.
Herr Abgeordneter Reents, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Es tut mir leid. Bei zehn Minuten, Herr Schäuble, ist das nicht möglich.
Es ist nicht die Schuld der Antragsteller,
daß einige dieser Anträge Begründungen enthalten, die nicht mehr aktuell sind. Aber es liegt darin offensichtlich etwas Generelles: ein Versagen dieses Parlaments, auf wichtige Dinge wirklich schnellzu reagieren, wichtige Entscheidungen sofort zu treffen. Das ist aber offenbar von der regierenden Mehrheit so gewollt.Wenn sich die SPD ein weiteres Mal auf dieses Spiel einläßt, zeigt das nach meinem Gefühl auch ein Stück Mithaftung dafür, daß über die Türkei hier zwar schon mehrmals gesprochen worden ist und immer wieder darauf hingewiesen wird, welche Menschenrechtsverletzungen es gibt, daß es aber tatsächlich zu keinerlei Konsequenzen seitens des Parlaments kommt, die in irgendwelche eindeutige Aufforderungen an die Bundesregierung münden können, jetzt und heute zu reagieren.
Bei der Bestandsaufnahme der jetzigen Situation in der Türkei darf man nicht vergessen, daß uns amnesty international eindeutig sagt: Folterungen und Mißhandlungen von Gefangenen haben nicht aufgehört. Man darf nicht vergessen, daß das Kriegsrecht nur in 13 der 67 Provinzen in der Türkei wirklich aufgehoben worden ist. In acht davon ist es noch durch Notstandsregelungen ersetzt.
wobei jetzt — Frau Hamm-Brücher, darauf beziehen Sie sich offensichtlich in Ihrem Zwischenruf — die Notstandsregelungen verschärft worden sind, damit man das Kriegsrecht in weiteren Provinzen aufheben kann. Das sieht dann nach außen nicht mehr nach Kriegsrecht aus, bedeutet faktisch aber ebenfalls, daß beispielsweise der Gouverneur in den entsprechenden Regionen jederzeit für drei Monate Streiks verbieten und jederzeit für drei Monate die Tätigkeit politischer Parteien und Vereine unterbinden und ähnliches mehr anordnen kann.
Wer mit Journalisten aus der Türkei spricht, weiß auch, daß die Pressezensur nach wie vor nicht abgeschafft ist, daß es in der Türkei die Selbstzensur gibt, die vor die Zensur vorgeschaltet wird, die notfalls vom Nationalen Sicherheitsrat ausgeübt wird, und daß Parteigründungen nach wie vor der Genehmigung durch den Nationalen Sicherheitsrat bedürfen, daß Parteien weiterhin mit Verboten rechnen müssen, wenn sie sich aus der vom Militär gewollten politischen Richtung zu weit herausbewegen, und daß etliche Personen sich nach wie vor in der Türkei überhaupt nicht politisch betätigen können.Zur Situation in der Türkei gehört noch etwas, was leider meist unerwähnt bleibt, nämlich die Tatsache, daß es einen Krieg gibt, einen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung in der Türkei. Erst kürzlich, im August dieses Jahres, haben wir wieder eine Meldung lesen müssen, daß 4 000 türkische Soldaten sogar in den Iran und in den Irak vorgestoßen sind, bis 22 km, andere Meldungen sagen bis 50 km, um dort Kurden zu verfolgen, die in der Türkei eine Autonomie ihrer Region verlangen und dafür kämpfen. Dieser Krieg gegen die Kurden findet seit Jahren statt, er gehört zu den ganz vergessenen Geschichten, wenn man über Menschenrechtsver-
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Reentsletzungen in der Türkei spricht, aber er widerlegt vielleicht auch am deutlichsten, was es heißt, wenn die Bundesregierung heute mit ihrer Argumentation aufwartet, die Verteidigungshilfe sei an die Türkei zu leisten, weil es dort um die Verteidigung der westlichen Sicherheit geht.Nun haben wir insgesamt hier eine grundlegende Kontroverse zwischen unserer Fraktion und mehr oder weniger dem Rest des Hauses, was überhaupt die Frage solcher NATO-Hilfsleistungen betrifft. Wir lehnen das ab. Wir sehen auch überhaupt nicht ein, daß dort in der Türkei irgend etwas im Zusammenhang mit der NATO für die Bundesrepublik verteidigungswert ist.
Aber ich glaube, daß der Hinweis wirklich wichtig ist, daß mit den Zahlungen, die von der Bundesrepublik an die Türkei geleistet werden, 130 Millionen DM pro Tranche in der NATO-Verteidigungshilfe, auch der Krieg gegen die kurdische Bevölkerung finanziert wird,
daß damit auch geholfen wird, die kurdische Bevölkerung in der Türkei umzubringen.Ich weiß natürlich, daß bislang kein Argument ausgereicht hat, um in diesem Haus wirklich eine Änderung der Haltung herbeizuführen, um dafür zu sorgen, daß von diesem Parlament aus mit Mehrheit tatsächlich diese Verteidigungshilfe, diese Militärhilfe an die Türkei endlich gestoppt wird. Es ist auch — das muß man immer dazu erwähnen, lieber Karsten Voigt — nicht so, daß die SPD ihre Haltung in dieser Frage im Dezember 1980 geändert hat, als der Militärputsch stattgefunden hat, sondern es ist so, daß die SPD ihre Haltung geändert hat, als sie in die Opposition gekommen ist.
Ich nehme das schon ab und nehme das jetzt beim Wort, daß ihr das momentan so meint. Aber man muß schon daran erinnern, daß die rund 1,3 Milliarden DM NATO-Verteidigungshilfe, die an die Türkei geleistet wurden, in Höhe von ungefähr 400 Millionen DM seit dem Militärputsch geleistet wurden, wobei noch einmal 600 Millionen DM Rüstungssonderhilfe hinzugekommen sind. Sowohl diese 600 Millionen DM Rüstungssonderhilfe als auch die ersten Anteile dieser 400 Millionen DM nach dem Putsch sind von der SPD/FDP-Regierung seinerzeit und mithin von der SPD zu verantworten.
Ich muß zum Schluß kommen. Wir werden selbstverständlich weiterhin fordern, daß diese Militärhilfe eingestellt wird. Wir wissen — dazu hat es die Abstimmung in den Ausschüssen schon gegeben —, daß die Mehrheit dieses Parlaments dem nicht folgt. Vielleicht hat das in gewisser Weise sogar etwas Gutes für die Öffentlichkeit, daß es nämlich durchaus berechtigt ist, daß die Mehrheit, die CDU/ CSU und FDP in diesem Haus, demonstrierenmöchte: Ja, wir sind mitverantwortlich für den Terror in der Türkei. Ja, wir sind mitverantwortlich für die Vernichtung der kurdischen Bevölkerung und den Krieg gegen die kurdische Bevölkerung in der Türkei.
Da haben Sie guten Grund, diese NATO-Verteidigungshilfe weiter zu leisten.
Wir würden es — ich komme zum letzten Satz, Herr Präsident — lieber sehen, wenn es irgendwann in diesem Parlament tatsächlich möglich wäre, das Mindestmaß an Konsequenz auf die Menschenrechtsverletzungen und Krieg hier wirklich mit einer größeren Mehrheit durchzusetzen. Da das nicht der Fall ist, dokumentieren Sie bitte schön weiterhin, auf welcher Seite Sie stehen. Aber hören Sie dann auf, überhaupt von Menschenrechtsverletzungen zu reden!
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schwarz.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich muß von den lieben Kollegen den Herrn Reents ausnehmen und das in aller Deutlichkeit. Hier zu behaupten, wir hätten uns oder wir würden uns am Terrorismus in der Türkei beteiligen, ist schlicht und einfach eine Unverschämtheit, die in dieser Form hier nicht stehenbleiben darf.
Wenn es Terrorismus in der Türkei gegeben hat, dann waren es zum Teil Leute, mit denen Sie heute koalieren und reden, die mit dafür verantwortlich sind, daß im Jahre 1980 5000 Menschen in der Türkei, Frauen und Kinder darunter, in terroristischen Akten zu Tode gekommen sind. Das sind Ihre Gesprächspartner!
Ich glaube, daß es nicht haltbar ist, zu sagen, daß man in der Türkei Krieg gegen das kurdische Volk führt. Das ist eine sehr problematische Frage. Es ist schwierig, auch mit befreundeten Türken, über die Kurdenfrage zu reden. Nur der Krieg dort findet nicht gegen das kurdische Volk statt. Es gibt Auseinandersetzungen mit extremistischen Separatisten, kommunistisch geprägt. Dort tut die Polizei, dort tut im Rahmen des Ausnahmezustandes auch die Armee ihre Pflicht.
Das ist nicht das, was man unter Terrorismus verstehen kann.
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6602 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 89. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Oktober 1984
SchwarzLassen Sie mich zu einer Feststellung kommen, von der ich glaube, daß sie nützlich ist. Ich freue mich, daß Herr Kollege Voigt deutlich gemacht hat, daß wir — die GRÜNEN muß man hier ausgrenzen wie in anderen Fragen auch — im Hinblick auf die Türkei noch einiges an Gemeinsamkeit haben: den Respekt vor dem Land, den Respekt vor der Geschichte, den Respekt vor dem Willen zur Demokratie, und daß wir auch die Tatsache zur Kenntnis genommen haben, daß in der Türkei mit der Durchführung der Wahlen erste Schritte auf dem Wege zur Demokratie gegangen worden sind. Ich halte es für wichtig, diese Gemeinsamkeiten festzuhalten.Bei der weiteren Bewertung zeigen sich dann allerdings wesentliche Unterschiede. Während die Sozialdemokraten die Entwicklung in der Türkei mehr statisch sehen und meinen, daß sich dort nichts tut, sehen die Regierung und die Koalitionsparteien CDU/CSU und FDP, daß sich dort eine Entwicklung zu mehr Demokratie abzeichnet. Wir, die Koalitionsparteien, befinden uns in dieser Bewertung in guter Übereinstimmung mit weiten Gruppen des Europarates, und zwar nicht nur mit Gruppierungen, die den Koalitionsparteien in diesem Hause nahestehen, sondern auch mit repräsentativen und wichtigen Gruppen unter den Sozialdemokraten.
Der Politische und der Rechtsausschuß des Europarates haben im April dieses Jahres eine Inspektionsreise in die Türkei gemacht, und der Berichterstatter des Politischen Ausschusses hat nach der Reise einen Bericht vorgelegt. Ich glaube, es wäre sehr nützlich, wenn diese Berichte Eingang in die Debatte und in die Information auch dieses Hauses finden würden. Ich war bei dieser Inspektionsreise dabei. Die Berichterstatter haben auch über die Situation in Gefängnissen in der Türkei berichtet, auch über das Gefängnis in Diyarbakir. Es waren ein Liberaler, ein Sozialist und ein Konservativer in diesem Gefängnis.
Sie haben berichtet, wie es dort aussieht. Sie haben nichts Gutes berichten können.Hier liegt aber meines Erachtens ein Fehler, den Kollege Voigt macht, wenn er sagt, daß wir, indem wir die Türkei unterstützen, zustimmen, die Entwicklung bejahen, auch das, was dort zu kritisieren ist. Natürlich ist es richtig, daß viele unter Kriegsrecht Verhaftete auf ihr Urteil warten, daß die Gefängnisse überfüllt sind. Natürlich ist es richtig, daß es keine Gewerkschaftsfreiheit, keine volle Pressefreiheit gibt; aber ich meine, es ist auch unübersehbar, daß die Große Nationalversammlung der Türkei und daß die Regierung des Ministerpräsidenten Ozal konkrete Schritte getan haben, der Folter in der Türkei Herr zu werden. Was die Generale — das muß man Ihnen sagen — begonnen haben, setzt diese Regierung fort. Es ist nicht zu bestreiten, daß die Gefangenen in Diyarbakir, die uns vorgeführt wurden und gesagt haben, sie seien gefoltert worden, seit 1983, seitdem es dort eine andere Regierung gibt, nicht mehr gefoltert worden sind. Jedenfalls so die Aussage der Betroffenen, der Gefangenen, die selbst gesagt haben, daß sie gefoltert worden sind.Leider müssen wir auch zur Kenntnis nehmen, daß Amnesty International uns Personen genannt hat, die tot seien, während diese Personen noch leben und zum Teil aus der Haft entlassen worden sind. Ich bedaure, daß uns solche falschen Informationen von Amnesty International gegeben worden sind. Das kann dem guten Ruf dieser Institution nur schaden, und das heißt, daß wir solchen Informationen vernünftigerweise besser nachgehen.Die Frage, die sich uns stellt, ist, wie wir die Entwicklung in diesem Lande bewerten. Wir müssen zur Kenntnis nehmen — ich muß das auch für mich sagen; ich habe meine Position gegenüber den Generälen von diesem Platz aus sehr deutlich gemacht —, daß General Evren ein Wahlergebnis akzeptiert hat, das er so nicht gewollt hat. Wir müssen einfach zur Kenntnis nehmen, daß die nicht unter demokratischen Konditionen durchgeführte Wahl von 1982 doch dazu geführt hat, daß es wieder ein Parlament, daß es wieder eine Regierung gibt, die vom Parlament getragen wird. Dieses Parlament hat auch seine Konflikte mit der Regierung.Ich meine, wer dem türkischen Volk helfen will, muß jetzt dieser gewählten Großen Nationalversammlung helfen, der muß dieser Regierung helfen. Das ist der Beitrag, den wir leisten sollten und den wir leisten können, und zwar auf allen Feldern. Ich sage bewußt: auf allen Feldern.Die Bundesregierung sollte uns — das gilt vor allem für den Auswärtigen Ausschuß — immer wieder über die Entwicklung unterrichten.Wenn wir ja sagen zur Hilfe für die Türkei auf allen Gebieten, müssen wir als Freunde, als Partner in der NATO und im Europarat allerdings auch die Erwartung aussprechen können, daß das Kriegsrecht Schritt für Schritt abgeschafft wird. Es ist schon ein wesentlicher Unterschied, ob Kriegsrecht herrscht oder ob vom Parlament der Ausnahmezustand beschlossen wird. Das ist schon ein wesentlicher Unterschied im Sinne unseres Verständnisses von Demokratie. Wir sollten fordern, daß die Untersuchungshaft, die ohne richterliche Entscheidung 45 Tage betragen kann, abgeschafft wird. Wir sollten Pressefreiheit, wir sollten Gewerkschaftsfreiheit fordern. Wir sollten eine politische Amnestie fordern, und zwar eine zweifache: für die, die in Haft sind, und für die, denen verboten worden ist, sich jetzt öffentlich zu äußern. Das halte ich für wichtig.Wir sollten die Einladung annehmen, die der Präsident der türkischen Großen Nationalversammlung — wenn ich richtig unterrichtet bin — an den Präsidenten des Deutschen Bundestages geschickt hat. Allerdings sollten wir eine Reise zur Information und nicht zur Inspektion machen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 89. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Oktober 1984 6603
SchwarzIch halte es für den richtigen Weg, einem partnerschaftlich verbundenen Land zu begegnen.
Wir haben eine deutsch-sowjetische Parlamentariergruppe, über die sich niemand aufregt. Wenn ich mir die Situation der Menschenrechte, die Situation der parlamentarischen Demokratie in der Sowjetunion vor Augen halte und mir dann ansehe, was in der Türkei geschieht, muß ich sagen: Es müßte eigentlich dem Stolz eines jeden Türken zuwiderlaufen, daß es zwar eine deutschsowjetische, aber keine deutsch- türkische Parlamentariergruppe gibt.
Wir sollten uns dieses Instrument schaffen, das wir 1980 nach dem Putsch nicht wiederbelebt haben — das war richtig —, als eine Basis für Gespräche mit unseren Kollegen in der türkischen Nationalversammlung, aber auch als Plattform für Gespräche mit Ecevit, Demirel, mit den Vorsitzenden der neu zugelassenen demokratischen Parteien. Das halte ich für einen positiven Weg.
Niemand in der Türkei, weder jemand von der Sodep noch jemand von der Dogru Yol Partisi, der Partei des richtigen Weges, rät uns ab, jetzt Türkeihilfe zu leisten. Deshalb meine ich, daß wir das jetzt tun sollten.Wir begrüßen den Bericht der Bundesregierung. Wir lehnen den Antrag der Sozialdemokraten auf Grund der unterschiedlichen Bewertung ab. Wir lehnen auch den Antrag der GRÜNEN ab, eine Inspektionsreise in die Türkei zu machen.
Allerdings wollen wir partnerschaftlich, freundschaftlich darauf hinweisen, daß wir unseren Beitrag leisten, um den Kräften in der Türkei zu helfen, die auf dem Wege zur Demokratie sind.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Zu Tagesordnungspunkt 21 schlägt der Ältestenrat vor, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/1297 zu überweisen zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuß und zur Mitberatung an den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Nein, das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Tagesordnungspunkte 22 und 23.
Ich lasse zuerst über den Tagesordnungspunkt 22 abstimmen. Wer der Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 10/1386 zuzustimmen wünscht, den bitte ich jetzt um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist die Beschlußempfehlung des Ausschusses mit Mehrheit angenommen.
Wir stimmen nunmehr über Tagesordnungspunkt
23 ab. Wer dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/1613 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. —
Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist der Antrag bei Gegenstimmen und Enthaltungen mit Mehrheit abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 und 25 auf:
24. Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN
Keine Wiederaufnahme der staatlichen Entwicklungshilfe an Chile
— Drucksache 10/1617 —
25. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Lage in Chile
— Drucksache 10/1959 —
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist eine gemeinsame Beratung der Tagesordnungspunkte
24 und 25 und ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat zuerst der Abgeordnete Brück.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion hat zum 11. Jahrestag des blutigen Putsches in Chile am 11. September 1973 einen Antrag eingebracht, in dem der Deutsche Bundestag aufgefordert wird, die Unterdrückung der Freiheit in Chile zu verurteilen.
Vielleicht werden Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, fragen: Warum hat die SPD diesen Antrag eingebracht? Sie werden vielleicht sagen, es stehe nichts Neues in dem Antrag, nichts über das hinaus, was in dem Antrag steht, der im vergangenen Jahr zum 10. Jahrestag des Putsches eingebracht wurde und über den wir erst in diesem Frühjahr diskutiert haben.
Das ist richtig. Es steht kaum etwas Neues in unserem Antrag. Ich sage: leider; leider deshalb, weil sich in Chile nichts geändert hat,
im Gegensatz zu vielen Ländern in Lateinamerika. Gott sei Dank haben viele Länder in Lateinamerika den Weg zurück zur Demokratie gesucht und auch gefunden. Ich nenne als Beispiel Argentinien.
Herr Abgeordneter, ich möchte Sie einen Moment unterbrechen, um Ihnen ein bißchen mehr Ruhe und Aufmerksamkeit zu verschaffen. — Ich wäre dankbar, wenn sich die
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6604 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 89. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Oktober 1984
Vizepräsident WestphalKollegen darauf einstellen, daß ein Redner am Rednerpult steht und zu einer Sache spricht.Bitte schön, fahren Sie fort.
In Chile aber bewegt sich nichts. Im Gegenteil: Wenn es etwas Neues zu berichten gibt, dann eher über neue Unterdrückung, über neue Folterungen. Erst jetzt wieder hat Amnesty International in seinen Informationen vom September über Folterungen und Foltermethoden in Chile berichtet.
Nach wie vor sind in Chile die politischen Parteien unterdrückt. Nach wie vor sind die gewerkschaftlichen Rechte eingeschränkt. Nach wie vor gibt es keine Möglichkeiten für die Bevölkerung, an der Gesetzgebung teilzunehmen. Nach wie vor stehen die Universitäten unter Militärkontrolle. Nach wie vor sterben Menschen, verlieren Menschen ihr Leben; erst vor wenigen Wochen ein französischer Priester.
Die Wirtschaft des Landes liegt darnieder. Die industrielle Produktion ist seit 1973 um 20 % zurückgegangen. 30% der Menschen sind arbeitslos, 800 000 sind ohne Wohnung, viele Menschen müssen hungern. Darauf müssen wir immer wieder hinweisen.
Deshalb haben wir noch einmal einen Antrag gestellt. Es ist die Pflicht, so denke ich, eines jeden frei gewählten Parlaments in dieser Welt, immer wieder auf Unterdrückungen in anderen Teilen dieser Welt hinzuweisen. Zwölf Jahre lang herrschte bei uns in Deutschland die Hitler-Tyrannei. Die Pinochet-Tyrannei herrscht jetzt elf Jahre in Chile. Ich stelle diesen Vergleich an, damit uns allen deutlich wird, wie lange das chilenische Volk schon unterdrückt ist.
In unserem Antrag haben wir auch das Recht aller Chilenen gefordert, in ihrer Heimat zu leben. Wenn man selbst enge Bindungen an seine Heimat hat — ich nehme an, wir haben das alle —, dann weiß man, was es bedeutet, fern der Heimat, in einem fremden Kulturkreis zu leben.
Anfang September sind wieder sechs chilenische Exilpolitiker bzw. Gewerkschaftler nach einem zwölfstündigen Aufenthalt auf dem Flughafen in Santiago nach Argentinien zurückgeschickt worden. Sie hatten versucht, in ihre Heimat zurückzukehren, wie das auch mein Freund Anibal Palma getan hat. Als ich ihn kennenlernte, war er Mitglied der chilenischen Regierung. Drei Jahre später sah ich ihn wieder; da war er politischer Gefangener in einem Konzentrationslager im Süden Chiles in der Nähe von Feuerland. 1976 schließlich kam er nach Deutschland. In Deutschland war er ein freier Mann, aber er war nicht in seiner Heimat. Deshalb flog er im August nach Chile zurück. Erst wollte man ihn nicht einreisen lassen. Dann ließ man ihn einreisen, verhaftete ihn aber sofort. Jetzt ist er gegen eine Kaution auf freiem Fuß. Aber dieser Kaution hätte es nicht bedurft. Er ist ja nach Chile
geflogen, um sich dort einem Prozeß zu stellen. Daß er freiwillig nach Chile zurückgekehrt ist, zeigt, daß er ein gutes Gewissen hat.
Wie ihm ergeht es vielen. Ich habe diesen Fall hier erzählt, weil ich den Mann persönlich kenne. Anfang September hat das Regime Pinochet eine Liste von knapp 4 700 Namen von Chilenen veröffentlicht, die nicht nach Chile zurückkehren dürfen, denen man das Recht verweigert, in ihrer Heimat zu leben. Es wäre gut, wenn der Deutsche Bundestag durch die Annahme unseres Antrags den Unterdrückern in Chile einstimmig deutlich machen würde, wie das deutsche Volk über sie denkt.
Die SPD-Bundestagsfraktion wird auch dem Antrag der Fraktion der GRÜNEN zustimmen, der sich gegen die Wiederaufnahme der staatlichen Entwicklungshilfe an Chile ausspricht.
Die Begründung ist ganz einfach, Frau Kollegin. Das, was dort gefordert wird — ich nehme an, Sie werden mir zustimmen —, entspricht dem Handeln der sozialdemokratisch geführten Bundesregierungen, und es entspricht auch dem, was wir in unserem Antrag aus dem vergangenen Jahr als auch in diesem neuen Antrag gefordert haben und fordern. Auch wir haben gefordert, keine Entwicklungshilfe an die chilenischen staatlichen — ich betone: staatlichen — Institutionen zu geben und keine wirtschaftliche oder finanzielle Unterstützung für das Regime oder für die staatlichen Gesellschaften in Chile zu geben.
Ich bitte Sie um Unterstützung unseres Antrags.
Das Wort hat der Abgeordnete Klein .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf zunächst einmal feststellen, worüber wir uns in diesem Hohen Hause, wie ich hoffe, einig sind: Wir wollen ein demokratisch verfaßtes Chile. Wir wollen ein wirtschaftlich erfolgreiches und sozial gerechtes Chile. Wir wollen — doch hier habe ich leider Zweifel, ob die Auffassung der Koalitionsfraktionen wirklich von allen Mitgliedern der Oppositionsfraktionen geteilt wird — ein Chile, das positiv zur Wertegemeinschaft westlicher Demokratien steht. Das wollen wir.Ich brauche nicht zu betonen, daß die Entscheidung über die innen- und außenpolitische Zukunft Chiles indes das chilenische Volk zu fällen hat und daß diese Entscheidung von uns selbstverständlich zu resprektieren ist.Über den Weg zu diesen Zielen sind wir uns hoffentlich auch noch — zumindest weitestgehend — einig.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 89. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Oktober 1984 6605
Klein
Wir befürworten einen Weg der Gewaltlosigkeit und des auf rasche Ergebnisse zielenden Dialogs zwischen Regierung und Opposition.
Auch hier unterstelle ich Gemeinsamkeit in der Auffassung aller deutschen Demokraten: Wir verurteilen auf das schärfste die einander bedingende Anwendung repressiver wie terroristischer Gewalt. Die weit über hundert Todesopfer, die seit Beginn der Protestaktionen im Mai vorigen Jahres zu beklagen sind — hauptsächlich Demonstranten, aber auch Angehörige der Sicherheitskräfte —, sind eine Friedensmahnung von grausamer Eindringlichkeit. Aber der SPD-Antrag auf Drucksache 10/1959 erscheint uns nicht als geeigneter Beitrag zur Förderung eines friedlichen Demokratisierungsprozesses, zur wirtschaftlichen Gesundung, zur Überwindung sozialer Not, zur Wiederherstellung der Rechtssicherheit in Chile.
Ich betone ausdrücklich, daß ich mit dem Folgenden keinen Rechtsbruch, keinen Willkürakt und keinen Mord zu entschuldigen gedenke, der nach der Machtübernahme durch General Pinochet von staatlichen Organen begangen worden ist. Aber wenn Sie, meinen Kolleginnen und Kollegen von der SPD, in der Präambel Ihres Antrages schon auf den Putsch Bezug nehmen, dürfen Sie um der historischen Wahrheit willen nicht unterschlagen, daß die demokratisch gewählte chilenische Abgeordnetenkammer 20 Tage davor mit überwältigender Mehrheit eine Entschließung gefaßt hat, in der es wörtlich hieß: „Die verfassungsmäßige und gesetzmäßige Ordnung der Republik ist gebrochen." In dieser Entschließung wurde auch das Militär — wohlgemerkt, vom Parlament — zum Eingreifen aufgefordert. Mit Klitterungen, Übertreibungen und Verzerrungen helfen Sie sicher niemandem in Chile.
Die Bundesrepublik Deutschland leistet seit Jahren keine staatliche Entwicklungshilfe an Chile. Ausnahme: eine geringfügige Unterstützung für hauptsächlich mittelständische chilenische Teilnehmer an deutschen Messen. Erlauben Sie mir dennoch, in diesem Zusammenhang auf einen wichtigen Widerspruch in dem SPD-Antrag hinzuweisen. In der Präambel werden Arbeitslosigkeit, Produktionsrückgang und Armut beklagt, Herr Kollege Brück. Abgesehen davon, daß die Wirklichkeit bedrückend genug ist und es deshalb keiner aufgebauschten Zahlen bedurft hätte, verlangen Sie gleichzeitig, ja keine Hilfe zu leisten. Sie beziehen das insbesondere auf staatliche Gesellschaften. Es sind aber jene unter Allende verstaatlichten Gesellschaften, die gegebenenfalls bei erhöhter Produktionsleistung zum Abbau der Arbeitslosigkeit und zur Linderung der Not entscheidend beitragen könnten.Unbestreitbar gehörten die sozialen Folgen des scharfen, vom Rückgang der Kupferpreise und der weltweiten Rezession mit verursachten Konjunktureinbruchs 1982/83 zu den Beweggründen für dieProtestwelle der letzten anderthalb Jahre. Die wirtschaftliche Aufstiegsphase in der zweiten Hälfte der 70er Jahre, die u. a. eine Verringerung der Inflationsrate von über 700 % gegen Ende der AllendeRegierung auf 9,5 % im Jahre 1981 brachte, darf dabei aber ebensowenig übersehen werden wie die sich seit Monaten wieder langsam anbahnende wirtschaftliche Erholung.Der Kernpunkt bleibt gleichwohl die Menschenrechtssituation, die Redemokratisierung des Landes, das seit Mitte des vorigen Jahrhunderts über lange Perioden hinweg als Muster der Ordnung und der friedlichen Entwicklung in der Region galt. Unsere Sympathien, unsere moralische und womöglich auch materielle Unterstützung gelten dabei ausschließlich — ich betone: ausschließlich — den demokratischen Kräften. Für die CDU/CSU-Fraktion darf ich sagen, daß wir besonders Chiles Christdemokraten ermutigen, allerdings auch bei ihrer klaren Abgrenzung von jenen linksextremen Elementen, die nicht auf freie Wahlen, sondern auf einen volksdemokratischen Umsturz hinarbeiten. Dazu die „Neue Zürcher Zeitung" am 7. September — ich zitiere —:Auch Stimmen, die Pinochet keineswegs gewogen sind ... verweisen darauf, daß in Kuba gedrillte Stadtguerillas in der letzten Zeit nach Chile eingeschleust worden sind:
Als neue Terrormethoden werden systematische Morde an Carabineros genannt sowie koordinierte, technisch anspruchsvolle Sabotageakte. So wurden in einer einzigen Mainacht vierzig Attentate und in der Nacht vom 6. August dreißig Anschläge gezählt;
zwischen März und Juni blieb die Hauptstadt nach Sprengstoffanschlägen auf das Verbundnetz dreimal völlig ohne Strom. Ein schweres Attentat auf die hauptstädtische U-Bahn, Schaustück und Stolz der Chilenen, konnte im letzten Augenblick vereitelt werden.Das Regime reagierte mit nervöser Härte. Die Zahl der Toten, Verletzten, Verhafteten, Verbannten bildete ein unüberwindbar scheinendes Hindernis zwischen den potentiellen Dialogpartnern. Die jüngsten Meldungen über Bergarbeiterstreik und erneut steigende Inflation bestärken diese Befürchtungen.Am 23. September aber trat der chilenische Luftwaffenchef, General Matthei, noch einmal öffentlich für eine Beschleunigung des Redemokratisierungsprozesses ein. Und General Pinochet hat diese Äußerung bekräftigt.Namens der CDU/CSU-Bundestagsfraktion bitte ich die Bundesregierung, die chilenischen Militärs bei diesem Wort zu nehmen. Das halte ich neben den Punkten, die der Deutsche Bundestag mit Drucksache 10/1049 vor genau einem halben Jahr beschlossen hat, für einen realistischen Weg der Einwirkung. Den Antrag der Fraktion der SPD, der heute zur Debatte steht und der teilweise wort-
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6606 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 89. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Oktober 1984
Klein
gleich mit dem SPD-Antrag ist, den das Parlament schon am 5. April unannehmbar fand, bitte ich ebenso abzulehnen wie den Antrag der GRÜNEN, Drucksache 10/1617.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Gottwald.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mit einem Zitat aus der letzten Chile-Debatte vom 5. April 1984 beginnen, damit vielleicht noch etwas deutlicher wird, wie zuletzt die Kontroversen verliefen. Ich zitiere: „Jetzt ist in Lateinamerika die Demokratie auf dem Vormarsch". So behauptete der außenpolitische Sprecher der CSU, Herr Klein, und ließ sich im folgenden über die Liberalisierungsprozesse in Chile aus — heute war er etwas zurückhaltender —, ich zitiere:Wir müssen doch aber schlicht — ich für meinen Teil sage auch: mit Respekt — zur Kenntnis nehmen, daß die Junta die Rückkehr zur Demokratie und Rechtsstaatlichkeit will.Ich für meinen Teil, Herr Klein, möchte Ihnen sagen, daß ich mit Respekt zur Kenntnis genommen habe, daß Sie als außenpolitischer Sprecher den Mut haben, uns hier öffentlich im Deutschen Bundestag solche Geschichten zu erzählen.
Ich möchte Ihnen auch sagen, daß ich mit Respekt zur Kenntnis genommen habe, daß Sie — zumindest was diese Ihre Meinungsäußerung angeht — mit General Pinochet nicht einer Meinung sind.Wie man der „FR" vom 8. September 1984 entnehmen konnte, hat General Pinochet Mitte August der „New York Times" erklärt — ich zitiere —, „er sei Soldat und glaube nicht an die liberale Demokratie".
In der „FR" vom selben Tag steht auch:Wenn „die Politiker" jetzt nicht Ruhe gäben, so drohte er, würden die Streitkräfte „den Elften" ... wiederholen.Ich erinnere daran: Das war der Tag des Putsches.
Die „FAZ" vom 27. August 1984 zitiert Pinochet wie folgt:Ich rate ihnen, sich zu gedulden. Wir, die Regierung und die Streitkräfte, haben noch ein gutes Stück Weges vor uns.Herr Klein, Sie und Ihre Kollegen neigen zwar dazu, stets alle Klarheiten zu beseitigen, aber ich hoffe doch, daß diese klaren Worte des Herrn Generals bei Ihnen ausnahmsweise die Unklarheiten beseitigen.
Um Ihnen noch weiter auf die Sprünge zu helfen, Herr Klein, möchte ich einen der ganz großen bundesdeutschen Außen- und Innenpolitiker zitieren, Herrn Geißler, der ja für seine gerade in letzter Zeit messerscharfen Analysen bekannt geworden ist
und dem man alles mögliche, nur nicht Zimperlichkeit nachsagen kann. Ich zitiere die „Süddeutsche Zeitung" vom 13. September 1984 — hören Sie sich das gut an, Herr Klein —:Für die Zuspitzung der Lage in Chile, so Geißler, sei nicht die Opposition, sondern allein die Politik Pinochets verantwortlich.Allein Pinochet!
— Auch Herr Geißler kann irren, ich weiß, aber ich glaube, hier hat er ausnahmsweise einmal recht.Am Ende des Weges von Pinochet stünden nicht Freiheit und Demokratie, sondern Gewalt und Leid für das chilenische Volk.
Dies sagte Herr Geißler, nachdem bekanntgeworden war, daß die zwei populärsten Führer der chilenischen Christdemokratie, Zaldivar und Valdez, auf einer Demonstration zusammengeschlagen und verhaftet worden waren.
Mit dieser Meinungsbildung ist Herr Geißler im September 1984 auch in die Nähe des Standpunktes gerückt, den die Opposition in diesem Parlament bereits im April 1984 eingenommen hatte. Meinen Glückwunsch!Falls sich heute noch Vertreter aus dem Regierungslager oder gar unsere Regierung selbst der Position des chilenischen Christdemokraten Zaldivar, der zum zivilen Ungehorsam in Chile aufgerufen hat,
um Pinochet zum Rücktritt zu zwingen, annähern sollten, können sie mit unserer Unterstützung rechnen.Noch einmal zurück zur letzten Chile-Debatte. Die Beschlußempfehlung der CDU/CSU/FDP und damit zwangsläufig auch des Deutschen Bundestages war schon im April eine rechte Unverschämtheit. Durch die Ereignisse in Chile seit April ist sie nochmals ad absurdum geführt worden. Ich hoffe, daß einige von Ihnen das heute auch so sehen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 89. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Oktober 1984 6607
Frau GottwaldKlar dürfte auch seit längerem sein, daß die Leisetreterpolitik, wie sie in der letzten Debatte von der FDP mit dem Argument empfohlen wurde,
man müsse, wolle man eine positive Veränderung erzielen, vorsichtig sein, zu überhaupt keinem Ergebnis führt. Das leise Herumschleichen auf dem internationalen Diplomatieparkett, wie es schon seit Jahren gegenüber Chile betrieben wird, führt bei Militärdiktaturen zu überhaupt keiner Veränderung, schon gar nicht bei Pinochet.
Das möchte ich hier den ganz ausgewogenen und pluralistischen Demokraten rechts von mir noch einmal laut und deutlich sagen.Gegenüber Nicaragua schleichen Sie überhaupt nicht, da schwingen Sie den Kahlschlaghammer, da leben Sie beim Stichwort „Menschenrechte" nur so auf, da schäumen Sie über vor Engagement für die Demokratie. Da ist von Diplomatie nichts, aber auch gar nichts zu hören! Und bei Chile?
Meiner Meinung nach sind Sie, was diese Sache angeht, Heuchler.
Die chilenischen Repressoren reagieren j edenfalls nicht auf Ihre leisen Anmerkungen. Sie reagieren nur auf konsequenten Liebesentzug, und dazu müssen Sie sich hier einmal entschließen.In dieser unheilvollen Bundestagsbeschlußempfehlung vom 5. April 1984 sind zwei Sätze enthalten, die mir wichtig erscheinen. Ich zitiere diese zwei Sätze. Der erste:Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, alles in ihren Kräften Stehende zu tun, um zur Wiederherstellung freiheitlich-demokratischer und rechtsstaatlicher Verhältnisse in Chile zum frühestmöglichen Zeitpunkt beizutragen.Der andere:Der Deutsche Bundestag versichert dem chilenischen Volk, daß ein freiheitlich-demokratisches Chile mit der Freundschaft und Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland rechnen kann.Das war übrigens die Begründung mit für unseren Antrag, den Sie komischerweise nicht unterstützt haben. Das ist Ihre Beschlußempfehlung, nicht unsere gewesen.Ebenfalls versichert uns die Bundesregierung durch Herrn Möllemann — ich zitiere —:Was die entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit Chile anlangt, so kann ich feststellen, daß nach Beendigung auf Grund völkerrechtlicher Verpflichtungen begonnener Projekte neue staatliche Hilfe nicht mehr gewährt wurde. An dieser Linie wird die Bundesregierung so lange festhalten, wie sich die politischen Verhältnisse in Chile nicht zum Besseren gewandelt haben.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Pinger?
Nein, ich habe keine Zeit mehr.Vertrauen ehrt zwar, aber Kontrolle ist bekanntermaßen besser. Wir haben uns also gefragt, ob das stimmt, was Herr Möllemann gesagt hat; und wie denn die Bundesregierung ihrem Auftrag durch das Parlament nachgekommen ist, und haben zu diesem Thema eine Kleine Anfrage gemacht. Diese ergab erstens: Die Bundesregierung hat im Mai einem chilenischen Unternehmen 20 000 DM Messeförderung aus dem Einzelplan 23 zukommen lassen; also öffentliche Entwicklungshilfe. Die Begründung lautete, daß aus der Gewährung geringer Zuschüsse nicht auf eine Abkehr von der langjährigen Praxis, keine öffentliche Entwicklungshilfe an Chile zu vergeben, geschlossen werden könne. Auf deutsch, geringe öffentliche Zuschüsse sind gar keine. Ich frage also die Bundesregierung, ob sie uns vielleicht angeben kann, ab welcher Summe öffentliche Zuschüsse öffentliche Zuschüsse sind; bei 20 000 DM offensichtlich nicht.
Am 3. Januar 1984 wurde ein Darlehensvertrag über 7 Millionen DM mit einer chilenischen Schiffahrtsgesellschaft geschlossen. Kreditgeberin ist die Kreditanstalt für Wiederaufbau, zu 80 % in Bundesbesitz, zu 20 % in Länderbesitz.Ebenfalls im Mai, also nach unserer Debatte, wurde eine KW-Delegation zur Prüfung eines Finanzkredits nach Chile geschickt; wieder KW, 80 % Bundesbesitz, 20 % Landesbesitz.Die Antwort auf unsere Anfrage hat aber noch mehr Informationen gegeben. Da muß ich noch einmal die Genossen ansprechen. Wir haben nämlich festgestellt, daß die SPD/FDP-Regierung am 24. Juni 1981 einen Darlehensvertrag über rund 2 Millionen DM mit der chilenischen Asmar-Werft gemacht hat. Diese Werft gehört der chilenischen Marine, also den Militärs, und ist die einzige Werft, die in der Lage ist, U-Boote zu warten. Da 1980 die Regierung die Genehmigung für den Bau zweier U-Boote für Chile gegeben hat, dürfen wir also davon ausgehen, daß der Finanzkredit für die Militärwerft letztendlich für die Wartung der U-Boote war. Das nenne ich konsequente Politik. Das nur nebenbei. Man stößt ja immer wieder auf diese Sachen.Auch nebenbei möchte ich noch bekanntgeben, daß am 18. September 1984 in Kiel das zweite U-Boot für Chile ausgelaufen ist. Sinnigerweise ist der 18. September der nationale Unabhängigkeitstag der Chilenen. Das war wirklich eine nette Geste der Bundesregierung. Die Chilenen werden das zu schätzen wissen.
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6608 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 89. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Oktober 1984
Frau GottwaldIch möchte noch kurz auf unseren Antrag hinweisen. Wir halten ihn aufrecht, weil wir glauben, daß es sich um einen Antrag des sogenannten Minimalkonsenses handelt. Wir haben als Begründung Zitate aus Ihrer eigenen Beschlußempfehlung und die Begründung der Bundesregierung angegeben, keine Entwicklungshilfe zu leisten. Daß Sie trotzdem nicht bereit sind, dem in diesem Sinne zuzustimmen, ist wirklich ein schwaches Bild für Sie.
Das Wort hat der Herr Staatssekretär beim Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Herr Dr. Köhler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bitte um Ihr Verständnis, wenn ich nach der Rede der Frau Kollegin Gottwald kurz zu den Tatsachen Stellung nehme, damit der wirkliche Sachverhalt dem Hause hinlänglich bekannt wird. Ich verzichte dabei auf Ausführungen zur politischen Situation in Chile. Hier ist die Haltung der Bundesregierung klar und bekannt.Unsere Entwicklungshilfe auf dem lateinamerikanischen Kontinent dient der Stärkung jener Kräfte, die die Menschenrechte schützen und einem demokratischen Weg gehen wollen. In Chile hat die Bundesregierung seit September 1973 keine neuen Entwicklungshilfeprojekte aufgenommen. Alle bereits früher auf Grund völkerrechtlicher Verpflichtungen begonnenen und geplanten Projekte sind ordnungsgemäß zu Ende geführt worden. Das letzte Projekt der technischen Zusammenarbeit ist Ende 1979 ausgelaufen. Auch in der Rahmenplanung 1985 sind keine Projekte der finanziellen und technischen Zusammenarbeit mit Chile vorgesehen.Wenn Sie hier nun, Frau Kollegin Gottwald, die Frage der Werfthilfe und der Schiffe heranziehen, dann darf ich Ihnen zur Klarstellung sagen: Dies ist keine Angelegenheit deutscher Entwicklungshilfe und hat mit Entwicklungshilfe auch nichts zu tun.
— Ich spreche hier zu Ihrem Antrag: keine Entwicklungshilfe für Chile; zu dem Thema habe ich Stellung zu nehmen.
— Das gesamte Gebiet kommerzieller Handelsbeziehungen ist nicht Gegenstand dieser Unterhaltung.Es werden weiterhin — das ist bekannt — Projekte nichtstaatlicher Träger, etwa mit Kirchen und politischen Stiftungen, in Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen chilenischen Trägern durchgeführt. Sie dienen der Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der armen Bevölkerung.Nun ist es so, daß seit 1984 Messebeteiligungen insbesondere kleiner und mittlerer chilenischer Aussteller mit geringen Zuschüssen unterstützt werden, Aussteller, die von der staatlichen chilenischen Wirtschaftspolitik in den vergangenen Jahren besonders benachteiligt worden sind. Es handelt sich hier auch nicht — im Gegensatz zu Ihrer Behauptung, Frau Gottwald — um eine Förderung in Höhe von 20 000 DM für eine Firma, sondern gefördert wurden mit diesem Betrag sechs kleine Firmen und Genossenschaften.
Dabei lassen wir uns von dem Grundsatz leiten, keine Hilfe zu leisten, die als politische Unterstützung der derzeitigen politischen Verhältnisse in Chile verstanden werden kann. Dementsprechend stellt sich die Frage der Wiederaufnahme der staatlichen finanziellen Zusammenarbeit mit Chile für die Bundesregierung zur Zeit nicht. Insofern ist der hier zu diskutierende Antrag gegenstandslos.Der Neubeginn deutscher Entwicklungspolitik gegenüber Chile — das haben wir oft gesagt — hängt von der politischen Entwicklung in Chile ab. Damit hat die chilenische Regierung es selbst in der Hand, die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Entscheidend sind — so ist es immer wieder betont worden — deutliche Fortschritte auf dem Weg zur Wiederherstellung demokratischer und rechtsstaatlicher Verhältnisse.Die Messeförderung, die im Jahre 1984 mit 43 000 DM für Gemeinschaftsbeteiligungen chilenischer Unternehmen ausgewiesen ist, wird an drei Messen gezahlt. Diese Entscheidungen sind längst vor Ihren Aktivitäten getroffen worden. Ich wiederhole: Sie kommen ausschließlich kleinen und mittleren Unternehmen zugute. Bevorzugte Zielgruppen sind Unternehmer, die ihre Produkte teilweise als Kleinbauern im Nebenerwerb, vorwiegend in Heimarbeit, herstellen.
Die Höhe der Zuschüsse ist gering. Die auf einzelne Unternehmen entfallenden Zuschüsse betragen selten mehr als 4 000 DM. Übrigens ist dieser Weg auch für 1985 weiterhin vorgesehen, verbunden mit zwei Kurzzeitberatungsmaßnahmen für kleine und mittlere Unternehmen in Chile.Ich betone diese Zielsetzung mit aller Klarheit, weil das der entscheidende Punkt ist, nicht aber der dabei unvermeidliche formale Weg. Tatsächlich sind diese Maßnahmen von der Zielgruppe her als echte Basishilfe anzusehen. Sie liegen auch wegen der Geringfügigkeit der Mittel unterhalb dessen, was als Hilfe zwischen Staaten überhaupt ernsthaft betrachtet werden kann.Die Mittel werden den beteiligten Unternehmen unmittelbar zur Verfügung gestellt. Wenn diese Darlegung Sie nicht überzeugt, dann darf ich darauf hinweisen, daß im übrigen auch 1977 von der damaligen Bundesregierung Messezuschüsse für die Beteiligung chilenischer Aussteller an der ANUGA in Köln gewährt wurden, ohne daß irgend jemand auf die Idee gekommen ist, das für die Wiederaufnahme der staatlichen Entwicklungspolitik gegenüber Chile zu halten.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 89. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Oktober 1984 6609
Parl. Staatssekretär Dr. KöhlerIch glaube, bei diesen Maßnahmen muß man in den Mittelpunkt der Betrachtung die Frage stellen: Was würde geschehen, wenn Ihrem Antrag Folge geleistet würde? Dies träfe in keiner Weise die chilenische Regierung, sondern es träfe gerade die Zielgruppen, die auch von der Fraktion DIE GRÜNEN nach ihren Erklärungen immer wieder als förderungswürdig angesehen werden.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Hamm-Brücher.
Herr Präsident! Im Hinblick auf die fortgeschrittene Zeit möchte ich ganz kurz zusammenfassen, was die freidemokratische Fraktion in dieser zweiten Debatte innerhalb eines halben Jahres zur innenpolitischen Situation in Chile zu sagen hat.Es ist bestimmt nicht zynisch gemeint, sehr geehrte Kollegen: Wir haben in der Welt über 110 Diktaturen, und wenn wir bei jedem Jahrestag Resolutionen debattieren würden, dann kämen wir wirklich zu überhaupt keiner anderen Arbeit mehr.
Es tut mir wirklich leid, daß ich das einfach mal so sagen muß.Ich habe das Protokoll der April-Debatte noch einmal genau nachgelesen. Ich habe unseren Entschließungsantrag durchgesehen. Herr Kollege Brück, er enthält genau die gleichen Punkte der Kritik und der Anklage, die sie hier heute vorgetragen haben.Das ist keine Leisetreterei der FDP, Frau Kollegin Gottwald; Sie haben zwar hier als Rezept empfohlen, nur auf konsequenten Liebesentzug würden Diktaturen reagieren, abgesehen davon, daß Sie uns nicht gesagt haben, wie Sie sich das eigentlich vorstellen. Aber Ihre Rezepte, ihre undifferenzierten Darlegungen führen ganz bestimmt nicht dazu, daß der von uns gewünschte Demokratisierungsprozeß
und die Verbesserung der Menschenrechtslage vorankommen.Ich möchte kurz zusammenfassen, was die Freien Demokraten bei der letzten Debatte zu diesem Thema gesagt haben. Wir meinen, es gibt keinen neuen Entscheidungsbedarf. Wir müssen deshalb zu unserem Bedauern Ihren Antrag ablehnen und berufen uns dabei noch einmal ausdrücklich auf die Beschlüsse vom April.Wir verurteilen die neuerlichen Übergriffe, die neuerliche Gewaltanwendung auf beiden Seiten, die Verhaftungen, die Verschärfungen des Umgangs mit politischen Gegnern, und wir bedauern ganz besonders, daß am letzten nationalen Demonstrationstag unter den zehn Todesopfern auch ein französischer Priester war. Ich glaube, das wirft einbesonderes Schlaglicht auf die Übergriffe, die dort seitens der Polizei und des Militärs zunehmend vorkommen.Ich möchte, Herr Präsident, doch hier einmal anmerken, daß auch der zunehmende Widerstand der Kirchen in Chile ein Hinweis darauf ist, Herr Kollege Klein, daß sich die Verhältnisse keineswegs so konsolidieren, wie Sie und teilweise auch wir das im Frühjahr noch gehofft haben,
sondern daß sie sich im Gegenteil leider zuspitzen; denn wenn sich die Kirchen nun auch verweigern, an den Jahrestagen die Gedenkmessen zu lesen, dann müssen wir das, glaube ich, angesichts der Begründungen doch ernster nehmen, was dort geschieht. — Die Chilenische Bischofskonferenz hat gesagt:Die Mißbräuche, die es unter der sozialistischen Herrschaft gegeben hat, rechtfertigen nicht eine so lange Unterbrechung des normalen Lebens der Nation.Ich halte das für ein klares Wort.Ich erwähne auch einen Ausspruch des neuen Kardinals Fresno:Wenn ein Regierender weiß, daß man foltert, und es nicht verhindert, ist er nicht gläubig. Wenn ein Regierender weiß, daß man den Menschen herabwürdigt, in dem man ihn daran hindert, in seinem Vaterland zu leben, dann sündigt dieser Regierende.Ich glaube, daß es doch geboten war, hier auch einmal die Seite des innenpolitischen, tapferen und mutigen Kampfes der Kirche zu erwähnen.Ich möchte hinzufügen, daß wir alles, was dort an Gewalt und Terror, an Menschenrechtsverletzungen geschieht, verabscheuen. Die Liberalen sind zutiefst enttäuscht, daß im Gegensatz zur Türkei hier die Zusagen, zu normalen rechtsstaatlichen und demokratischen Verhältnissen zurückzukehren, offenkundig nicht eingehalten werden, daß ein Verfahren gegen den ehemaligen Außenminister Gabriel Valdez eingeleitet wurde und Notstandsmaßnahmen verschärft durchgeführt werden.Wir begrüßen ausdrücklich, daß die Bundesregierung diesmal der Resolution, mit der die Situation und die Menschenrechtsverletzungen in Chile verurteilt werden, zugestimmt hat, im Gegensatz zur Enthaltung im Vorjahr. Und wir begrüßen die unmißverständliche Erklärung der zehn EG-Außenminister vom 11. September, Herr Kollege Brück und Frau Gottwald, die keine Leisetreterei ist, sondern an Deutlichkeit wirklich nichts zu wünschen übrig läßt.
Und wir begrüßen hier noch einmal auch die ausdrückliche Erklärung, daß weder im Rahmenplan noch sonstwo eine staatliche entwicklungspolitische Zusammenarbeit geplant ist.Ich bitte alle Kollegen herzlich, diese unsere Ablehnung nicht als Ablehnung in der Sache zu ver-
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Frau Dr. Hamm-Brücherstehen; wir glauben aber, daß die Wiederholungsrituale uns einfach nicht weiterführen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe deshalb die Aussprache.
Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 24. Wer dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/1617 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dieser Antrag ist mit Mehrheit abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 25. Wer dem Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/1959 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei einer Enthaltung ist der Antrag mit Mehrheit abgelehnt.
Meine Damen und Herren, ich brauche nun Ihre Aufmerksamkeit noch ein bißchen zur Abwicklung weiterer Tagesordnungspunkte.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 und 27 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Ausübung der Berufe des Masseurs, des Masseurs und medizinischen Bademeisters und des Krankengymnasten
— Drucksache 10/1729 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung rechtlicher Vorschriften an das Adoptionsgesetz
— Drucksache 10/1746 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit
Das Wort wird dazu nicht gewünscht.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 10/1729 und 10/1746
an Ausschüsse vor. Diese Überweisungsvorschläge ersehen Sie aus der Tagesordnung. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Die Überweisung ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf: Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Entschädigung für Zeugen und Sachverständige
— Drucksache 10/1919 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß
Das Wort dazu wird nicht gewünscht.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/1919 an den Rechtsausschuß zu überweisen. Gibt es dazu andere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Die Überweisung ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der Bundesregierung
Aufhebbare Neunzigste Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste — Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz —
— Drucksachen 10/1672, 10/2009 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Schwörer
Wird das Wort dazu gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft auf Drucksache 10/2009 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung des Ausschusses ist einstimmig angenommen.
Wir sind am Schluß der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 17. Oktober 1984, 13 Uhr ein.
Ich wünsche Ihnen ein gutes Wochenende. Die Sitzung ist geschlossen.