Rede von
Tom
Koenigs
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Religionsfreiheit ist ein unveräußerliches und
unverletzliches Menschenrecht. So steht es in Art. 4 des
Grundgesetzes. Aber nicht nur da. Zum ersten Mal als
Gesetz dokumentiert und in Stein gemeißelt worden ist
die Religionsfreiheit im 6. Jahrhundert vor Christus vom
persischen König Kyros dem Großen. Also ist Reli-
gionsfreiheit nicht nur ein westlicher und schon gar nicht
ein originär christlicher Wert.
Religionsfreiheit ist aber immer ein bedrohtes Men-
schenrecht gewesen, nicht nur im Nahen und Fernen Os-
ten. Die Hälfte der Deutschen ist heute der Meinung,
dass nicht alle Religionsgemeinschaften dieselben
Rechte haben sollten. 42 Prozent der Deutschen finden,
die Ausübung des islamischen Glaubens müsse stark
eingeschränkt werden. Nur jeder vierte Deutsche befür-
wortet den Bau von Moscheen; das sind weniger als in
der Schweiz. Das sind die Ergebnisse einer ganz aktuel-
len repräsentativen Umfrage der Westfälischen Wil-
helms-Universität Münster. Herr Professor Pollack, der
diese Umfrage im Exzellenzcluster der dortigen Univer-
sität begleitet hat, hat uns diese Studie gestern noch ein-
mal vorgetragen.
Breite Teile der deutschen Bevölkerung erkennen die
Religionsfreiheit von mindestens einer religiösen Min-
derheit, dem Islam, also nicht an. Diese Stimmung in
der Bevölkerung muss ernst genommen werden. Sie
muss auch von uns hier ernst genommen werden.
Deshalb darf ein Antrag zur Religionsfreiheit, Herr
Kauder, nicht nur auf das außereuropäische Ausland zei-
gen, sondern muss sich auch mit der gesellschaftlichen
Entwicklung hier bei uns befassen.
Auch in Deutschland muss die Mehrheit verstehen, dass
Minderheiten das gleiche Recht auf Religionsfreiheit ha-
ben.
Unter dem Deckmantel von Gleichberechtigung und
Emanzipation wird gegenwärtig in vielen europäischen
Ländern – es ist schon gesagt worden –, zum Beispiel in
Frankreich, Holland, Belgien und Spanien, ein Kopf-
tuch- oder Burkaverbot gefordert. Das befreit aber
noch nicht einmal die Frauen, denen der Schleier oder
die Burka aufgezwungen worden ist, es verbannt sie al-
lenfalls aus der Öffentlichkeit. In jedem Fall aber ver-
letzt es die individuelle Religionsfreiheit derjenigen Trä-
gerinnen, die diesen Schleier als Ausdruck ihres
Glaubens tragen wollen. Solche Verbote sind reine Sym-
bolpolitik am weiblichen Körper. Freiheit kennt keine
Kleiderordnung.
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Bekleidungsverbote dürfen nicht mit Normen ver-
echselt werden, die Zwang und Nötigung zu bestimm-
n Formen des religiösen Bekenntnisses verbieten.
afür gibt es bei uns schon längst § 240 des Strafgesetz-
uches, also das Verbot der Nötigung.
Religionsfreiheit ist das Recht, seinen Glauben frei zu
ekennen oder auch zu verbergen. Wer also zum Bei-
piel seine Tochter zwingt, ein Kopftuch zu tragen, oder
ie zwingt, es nicht zu tragen, obwohl sie es will, der
ergeht sich an diesem Recht. Religionsfreiheit ist ein
chutzrecht für Religion und vor Religion. Beide Rechte
üssen gekannt und durchgesetzt werden.
Die Diskussionen über die Religionsfreiheit sind in
eutschland untrennbar mit der Integrationsdebatte
erbunden, die wir gerade führen. Integration setzt Reli-
ionsfreiheit voraus. Die Bundeskanzlerin hat an diesem
ult gesagt, Multikulti sei gescheitert. Ich weiß nicht,
as sie damit meint, ob sie also zum Beispiel meint, die
lurale Gesellschaft sei gescheitert. Das wäre eine gro-
ske These. Denn das multikulturelle Deutschland ist
ine Realität. Nichts anderes hat der Bundespräsident
esagt – und er hat recht –: Auch der Islam gehört heute
u Deutschland.
Diese Zustandsbeschreibung darf man nicht mit der
ufgabe der Integration verwechseln. Diese Aufgabe
aben nicht nur die Migranten, sondern auch die Integra-
ons- oder Einwanderungsgesellschaften. Das zu erken-
en und anzuerkennen fällt in Deutschland immer noch
ielen schwer. Ein Einwanderungsland wider Willen
ollte sich nicht über widerwillige Einwanderer wun-
ern.
eshalb ist es beunruhigend, dass ein antimuslimischer
ffekt heute in vielen Ländern der Europäischen Union
nd in Deutschland zur zentralen Ausdrucksform von
remdenangst geworden ist.
Das Menschenrecht auf Religions- und Glaubensfrei-
eit verlangt nicht die religiöse Neutralisierung, sondern
ie religiöse Vielfalt und Gleichberechtigung. Wer diese
icht akzeptiert, wäre selbst im persischen Reich des
önigs Kyros dem Großen vor 2 500 Jahren politisch
nd moralisch nicht auf dem Stande der Zeit gewesen.
Vielen Dank.
9176 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Dezember 2010
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