Rede von
Markus
Kurth
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
ber weite Strecken dieser Debatte wähnt man sich
icht im Bundestag, sondern bei einem Wettbewerb der
auberer und Illusionisten. Die einen versprechen das
and, in dem Milch und Honig fließen, wenn man nur
obin Hood zum politischen Schutzpatron wählt.
ie anderen – original Müntefering – versprechen or-
entlich Brot und Aufstrich; als Instinktsozialdemokrat
issen Sie, was da ankommt. Aber Sie verursachen ein
erartiges Chaos bei der Finanzierungsarchitektur der
ozialversicherungssysteme, dass man sich fragen muss,
b am Ende überhaupt noch ein Knäckebrot übrig bleibt.
Denn was machen Sie? Erstens nehmen Sie eine
ehrwertsteuererhöhung vor, von der gestern Peer
teinbrück, Ihr eigener Finanzminister, sagte, sie sei für
ie Wirtschaft kontraproduktiv.
an muss also gar nicht auf Zitate aus dem Wahlkampf
urückgreifen; erst gestern ist das von dieser Stelle aus
estgestellt worden. Das heißt, Sie beschränken Wachs-
um, aber auch Beschäftigung und die Lohnsumme und
amit natürlich die Einnahmen für die Sozialversiche-
ung. Einen Teil von diesem Geld wollen Sie zur Sen-
ung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge verwenden.
eil das aber nicht komplett reicht, müssen Sie – das
inde ich bedauerlich, liebe Sozialdemokraten – auch die
ktive Arbeitsmarktpolitik ein bisschen ausdünnen, ob-
ohl sie schon zurückgefahren worden ist. Dieses biss-
hen Geld, diese Steuermittel, packen Sie dann in die
ozialversicherung.
Gleichzeitig aber nehmen Sie zweitens aus einem be-
achbarten Zweig der Sozialversicherung, der gesetzli-
hen Krankenversicherung, Steuern in Höhe von
,2 Milliarden Euro heraus und produzieren durch die
338 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 6. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2005
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Markus Kurth
Mehrwertsteuererhöhung eine zusätzliche Finanzie-
rungslücke von 900 Millionen Euro. Das macht zusam-
men 0,5 Beitragssatzpunkte.
Drittens wird die gesetzliche Rentenversicherung,
ein weiterer Zweig der Sozialversicherung, kurzfristig
mit einem Einnahmeausfall von 2 Milliarden Euro belas-
tet, weil Sie nämlich den Rentenversicherungsbeitrag für
die Arbeitslosengeld-II-Bezieher um die Hälfte kürzen.
Viertens. 2007 wird der Rentenversicherungsbeitrag
auf 19,9 Prozent erhöht.
Auf dieses unselige Kuddelmuddel von Geben und
Nehmen setzen Sie dann laut Koalitionsvertrag als mit-
telfristige Perspektive auch noch die Absicht, den Bun-
deszuschuss zur Rentenversicherung einzufrieren. Dazu
sagte am 16. November selbst der damalige CDU-
Rentenexperte Andreas Storm – der jetzt ins Bildungs-
ministerium weggelobt wurde, damit er nicht mehr stö-
ren kann – ganz klar, dass der Bundeszuschuss weder auf
diesem Niveau noch auf dem Niveau von 2007 eingefro-
ren werden kann.
Auf diese Art und Weise werden Sie die kürzlich ver-
einbarten Ziele der Niveausicherung der Rente und der
Beitragssatzstabilität nicht erreichen. Das muss man hier
einmal ganz klar feststellen.
Alles in allem ist das Ganze ein unheimlich grobes
Gefummel. Von Ihren kleinen Schritten gehen letzten
Endes einer vor, einer zurück und zwei Trippelschritte
seitwärts
und am Ende des Tages kratzen Sie sich am Kopf und
fragen sich, warum Sie nicht vorwärts gekommen sind.
Man findet keine Antwort auf die Kardinalfrage be-
züglich der sozialen Sicherung, nämlich das Problem der
zurückgehenden abhängigen Beschäftigung und der zu-
rückgehenden Sozialversicherungseinnahmen. Das ist
das Kernproblem. Da mögen manche sagen, die Mini-
jobs seien dafür verantwortlich. Aber selbst wenn wir
alle Minijobs in voll sozialversicherungspflichtige Be-
schäftigung umwandeln würden, hätten wir in der Er-
werbsgesellschaft weiterhin den Trend, dass mehr outge-
sourct wird, dass es mehr so genannte Ein-Mann-
Unternehmen oder Freelancer gibt,
dass die Arbeitswelt sich so verändert, dass die Sozial-
versicherungseinnahmen sinken, weil die abhängige Be-
schäftigung zurückgeht.
Sie hatten doch zumindest im Ansatz einmal die Er-
kenntnis, dass die Lohneinkommen sinken und andere
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tattdessen setzen Sie auf die Belebung des klassischen
ollbeschäftigungsmodells, das es so nicht mehr geben
ird. So ehrlich müssen wir sein und das müssen wir
lar sagen.
Wir als Bündnis 90/Die Grünen haben darauf Ant-
orten.
ir sind dafür, die soziale Sicherung über einen stärke-
en Steueranteil zu finanzieren, statt ein solches Hin und
er zu veranstalten. Wir haben die Bürgerversicherung
anz klar thematisiert. Wir schlagen vor, die Steueran-
eile zielgerichtet dort einzusetzen, wo sie die größte He-
elwirkung entfalten, nämlich bei den gering Qualifi-
ierten und Niedriglohnbeschäftigten; dort kann eine
ezuschussung der Sozialversicherungsbeiträge in der
erspektive die höchste Beschäftigungswirkung entfal-
en.
Aber wenn Sie schon bei der Finanzierung keine gro-
en Schritte machen können oder wollen, hätte man
och wenigstens einen kleinen Schritt bei der institutio-
ellen Struktur der Sozialversicherung machen können.
as meine ich? Ich meine, die einzelnen Zweige der So-
ialversicherung wirken unvollständig und nicht wirk-
ich gut zusammen. Nirgends wird das so deutlich wie
m Bereich der Politik für Menschen mit Behinderun-
en, wo wir im Moment die absurde Situation haben,
ass die Berufsförderungswerke nicht hinreichend von
er Bundesagentur für Arbeit beschickt werden, wo-
urch wir es versäumen, Menschen mit Behinderungen
ine ordentliche zweite Berufsausbildung zu geben, da-
it sie wieder einen sozialversicherungspflichtigen Ar-
eitsplatz im Erwerbsleben einnehmen können.
Was wir da auf der einen Seite kurzfristig bei der
undesagentur einsparen, das werden wir in den nächs-
en Jahren wegen der Langzeitarbeitslosigkeit dieser
ersonen ausgeben müssen; ganz abgesehen von dem
ersönlichen Schicksal dieser Menschen. Das ist ein rie-
iges Problem, bei dem ich mir gewünscht hätte, dass
ie das angesprochen hätten. Denn ich glaube, dass in
iesem Haus in Bezug auf diese Frage eine relativ große
inigkeit besteht. Wir haben es kurz vor Ende der letzten
egislaturperiode als rot-grüne Koalition im Zusammen-
ang mit dem Bericht der Bundesregierung über die
age von Menschen mit Behinderung in einem Ent-
chließungsantrag angesprochen. Ich weiß, dass von der
DU/CSU Herr Hüppe und andere Kleine Anfragen zur
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 6. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2005 339
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Markus Kurth
Wiedereingliederung von Menschen mit Behinderungen
in den Beruf gestellt haben. Sie haben uns da ja auch
richtig getriezt und die richtigen Fragen gestellt.
Schließlich vermute ich, dass auch der Kollege Seifert
zustimmen wird. Das heißt, wir hätten die Chance, hier
eine ganz große Koalition für einen kleinen, aber wichti-
gen Schritt für einige zehntausend Menschen zustande
zu bekommen.
Lassen Sie uns doch wenigstens versuchen, bei solchen
Punkten den notwendigen Pragmatismus an den Tag zu
legen, wenn man es schon nicht hinbekommt, die wirk-
lich großen Schritte in die richtige Richtung zu tun.
Vielen Dank.