Rede von
Dr.
Petra
Sitte
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(DIE LINKE.)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DIE LINKE.)
Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich mit ei-
nem Zitat aus der Koalitionsvereinbarung beginnen:
Deutschlands Zukunft liegt in den Köpfen seiner
Menschen. Bildung ist ein zentrales Anliegen, das
eine große Kraftanstrengung von Bund, Ländern
und Kommunen erfordert. Bildung ist Vorausset-
zung zur gesellschaftlichen Teilhabe. Bildung ist
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248 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Dezember 2005
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Dr. Petra Sitte
Armut macht schwach. Armut macht krank. Armut
nimmt Mut, vor allem den Mut auf einen selbst be-
stimmten Lebensweg. Armut begrenzt Freiheit. Wenn
Sie vor diesem Hintergrund in diesem Haus davon spre-
chen, Freiheit wagen zu wollen, kann ich aus dieser kon-
kreten Erfahrung heraus nur feststellen: Da haben Sie ein
Problem mit der Verarbeitung der Realität.
Es zeigt sich ein eindeutiger Zusammenhang zwi-
schen Armut in früher Kindheit, Armutsdauer und künf-
tiger Schullaufbahn. Auf dem Gymnasium hat nur jedes
elfte Kind Armutserfahrungen, auf der Realschule al-
lerdings schon jedes dritte. Auf der Hauptschule hat je-
des zweite Kind Armutserfahrungen. Die Agenda 2010
und Hartz IV, also das Umschwenken vom status- zum
höchstens noch existenzsichernden Sozialstaat, hat Kin-
derarmut in Ost und West in nie gekanntem Ausmaß mit
sich gebracht, und das in einem der reichsten Länder die-
ser Erde.
Deshalb, Frau Pieper, sage ich: Wer über das Bil-
dungssystem dieses Landes redet, muss auch über das
Sozialsystem dieses Landes sprechen. Beides ist nicht
mehr voneinander zu trennen.
Wenn die Kinder dieses Landes mehr Bildungserfolge
haben sollen, dann brauchen sie einen anderen, einen si-
chereren sozialen Hintergrund. Damit die Kinder eine er-
folgreiche soziale Perspektive vor sich haben, brauchen
sie einen anderen Bildungshintergrund; ansonsten – das
ist ganz klar – wird die Ursache wiederum zur Folge.
Das ist der entscheidende Zusammenhang, den ich in der
Koalitionsvereinbarung vermisse.
Ungelöste soziale Probleme können dann dazu füh-
ren, dass die positiven Maßnahmen, die sich in der Koa-
litionsvereinbarung in allen Bereichen des Bildungs-
wesens allemal wiederfinden, völlig konterkariert
werden. Das anzugehen, denke ich, ist Aufgabe genug.
Es geht also nicht nur um die Qualifizierung des Bil-
dungssystems im weitesten Sinne, eingeschlossen die
Forschung. Es geht nicht nur um eine schlüssige Refor-
mierung des gesamten Bildungswesens, um eine Reform
der Bildungsfinanzierung sozusagen. Es geht nicht nur
um die Anerkennung von Bildungsausgaben als das, was
sie nämlich wirklich sind: Investitionen in die sich im-
mer wieder erneuernde Ressource Wissen. Es geht
schlicht und ergreifend darum, dafür zu sorgen, dass die
Potenziale von Kindern, und zwar die von hoch begab-
ten Kindern genauso wie die von Kindern aus benachtei-
ligten Haushalten, erkannt und ihnen gemäß gefördert
werden.
Ich will an dieser Stelle eines hinzufügen: Es ist völ-
lig paradox, in dieser Situation über die Erhebung von
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elbst wenn die Kinder der Schwester über die gleiche
eistungsfähigkeit verfügen, ist die Chance des Arztsoh-
es – das belegt eine Studie des Wohlfahrtsverbandes –
echsmal höher, eine universitäre Bildung zu erhalten,
ls die der Kinder der Schwester.
Natürlich ist jede Verbesserung im Bildungswesen zu
egrüßen. Da werden Sie uns an Ihrer Seite haben, so
chrecklich Ihnen – insbesondere den Kollegen der
SU – das vielleicht erscheinen mag. Aber wenn wir
nsgesamt nicht nachhaltig sozial umsteuern, werden
iele Bemühungen vergeblich bleiben, werden wir zivili-
atorischen Rückschritt einleiten und werden uns Stück
ür Stück die Fundamente dieser Gesellschaft zerbröseln.
agegen muss man endlich Politik machen.
Danke schön.