Rede von
Gert
Weisskirchen
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
finde es schade, dass in den letzten Beiträgen zu dieser
Debatte die Menschen in Afghanistan, die darauf warten,
dass wir ihnen helfen, eigene Formen für ein selbstorga-
nisiertes Leben zu entwickeln, hier leider nicht mehr zur
Sprache gekommen sind. Ich finde das sehr schade.
Ich will auch sagen, warum: Afghanistan, das zwischen
mächtigen Nachbarn eingezwängt ist und das so viele
Jahrhunderte einen Weg zur Selbstbestimmung gesucht
hat, hat zum ersten Mal nach einem ungeheuer schreckli-
chen Zeitraum von 23 Jahren, in dem ein Krieg dem an-
deren gefolgt ist und in dem das Land die Erfahrung ge-
macht hat, dass Mächtige von außen, die das Land zum
Teil überfallen haben, Gewalt nach innen getragen haben
und dass diese Gewalt im Innern aufgenommen und ver-
stärkt worden ist – Brutalität und Gewalt bestimmen also
das kollektive Gedächtnis der Menschen in Afghanistan –,
die Chance, eine ganz andere Erfahrung zu machen. Die-
ses Land kann nämlich erfahren, dass Gewalt nicht von
außen nach innen getragen sowie im Innern verstärkt,
zeitlich verlängert und noch brutaler ausgeübt wird, son-
dern dass eine Chance von außen gegeben wird, dass Si-
cherheit von außen nach innen getragen wird. Nur so kann
die Außenwelt als etwas verstanden werden, was die in-
nere Entwicklung vorantreibt. Es ist entscheidend, dass
die Menschen Sicherheit erfahren. Deshalb brauchen wir
die ISAF und deshalb werden wir der dritten Verlänge-
rung des Mandats zustimmen.
Lieber Christian Schmidt, Sie haben die zentrale Frage
– Sie haben sie leider nicht so beantwortet, wie die Men-
schen in Afghanistan das empfinden – angesprochen. Sie
haben anzudeuten versucht, dass die Frage der Nationen-
bildung viel zu früh gestellt sei. Ich sage Ihnen: Nein, sie
ist nicht zu früh gestellt. Jetzt ist sie vielmehr so gestellt,
dass die Menschen selber die Arbeit in die Hand nehmen
können. Ende Oktober fand in Kabul eine wunderbare
Jugendkonferenz statt, die von der Bundesregierung, na-
mentlich von Frau Ministerin Heidemarie Wieczorek-
Zeul, mitfinanziert wurde. Dort hatten sich 240 Jugendli-
che – davon waren 100 Mädchen – aus allen Landesteilen
versammelt und haben darüber debattiert, wie die Zukunft
des Landes aussehen soll. Sie haben zum ersten Mal – das
berichten Beteiligte – die Erfahrung der Begegnung von
Mädchen und Jungen im Rahmen eines Austauschs von
unterschiedlichen Meinungen gemacht. Es hat eine leb-
hafte und kontroverse Debatte stattgefunden. Unterschied-
liche Gruppierungen aus allen Landesteilen haben mit-
einander gerungen und debattiert, um eine neue Basis für
ein Afghanistan zu schaffen, das ein anderes Afghanistan
ist, als es sich in vielen Jahren, besonders in den letzten,
gezeigt hat. Ich finde, dass dies ein tolles Zeichen dafür
ist, wie die Arbeit der internationalen Gemeinschaft und
besonders der Bundesregierung mithilft, dass ein neues,
ein anderes Afghanistan von unten, aus der Gesellschaft,
heranwächst. Das neue Afghanistan nimmt das Leben in
die eigene Hand.
Genau in zwei Tagen kann Hamid Karzai auf eine ein-
jährige Präsidentschaft zurückblicken. In dieser Zeit hat
sich in Afghanistan sehr viel zum Positiven verändert. Wir
alle – darüber ist heute bereits gesprochen worden – ken-
nen die Bedrohungssituation. Natürlich gibt es, Kollege
Pflüger, noch immer Warlords in den unterschiedlichen
Regionen um Kabul herum. Im Norden, Süden, Westen
und Osten gibt es noch immer die Einflüsse von Mord-
brennern, Verbrechern, Mafiosi und Kriegsfürsten, die ge-
nauso agieren, wie es – das gehört zu unserem kollektiven
Gedächtnis – im Dreißigjährigen Krieg der Fall gewesen
ist.
Umso dringender und wichtiger ist es, dass die Zen-
tralmacht in Kabul gestärkt wird. Natürlich ist zu Recht
die Frage zu stellen, Christian Schmidt: Wie ist es mit der
Sicherheit in Herat oder anderswo? Ich finde es auch gut,
dass die USAnun endlich beginnen, dafür zu sorgen, dass
zumindest kleine militärische Teams in die Regionen hi-
nausgehen und dadurch die Sicherheit über Kabul hinaus
in die Regionen hineintragen. Das ist richtig, das ist not-
wendig und das ist sinnvoll. Wir sollten uns irgendwann
später überlegen, was wir dazu beitragen können, sodass
auch dies verändert werden kann.
Kollege Niebel, wir waren dort
und haben gesehen, wie zukunftsfreudig und hoffnungsvoll
die Kinder an den Straßen beobachten, wie die Internatio-
nalen versuchen, dem Land zu helfen. Die Bundeswehr
trägt zusammen mit den Nichtregierungsorganisationen
dazu bei, diesen Menschen, den jungen zumal, Hoffnung zu
geben. Ich bedanke mich dafür. Was dort im Auftrag der
deutschen Bundesregierung geleistet wird, ist, finde ich,
eine großartige Leistung.
Hamid Karzai ist eine eindrucksvolle Persönlichkeit;
wir haben es hier im Auswärtigen Ausschuss des Bun-
destages selbst erlebt. Es kommt nicht von ungefähr, was
er, als wir dort gewesen sind, in einem offenen und auch
durchaus kontroversen Gespräch zu Joschka Fischer über
die Deutschen gesagt hat. Lieber Christian Schmidt, ich
möchte gern, dass Sie das in dem Artikel von Peter Münch
heute in der „Süddeutschen Zeitung“ nachlesen. Peter
Münch hat ja nicht nur eine Überschrift geschrieben, son-
dern auch in der Substanz etwas gesagt. Er hat zum Bei-
spiel Hamid Karzai wie folgt zitiert: „Wir vertrauen den
Deutschen blind.“ Das ist, finde ich, eine wunderbare Er-
klärung dafür, dass es nötig ist, dass es sinnvoll ist, dass
es auch politisch geboten ist, das dritte Mandat von ISAF
zu unterstützen, zu verstärken und heute zu beschließen.
In der Tat: Es gibt ein Vertrauensverhältnis zwischen
Afghanen und Deutschen. Es ist lange gewachsen. Dieses
Vertrauensverhältnis ist eine feste Grundlage für die
Hilfe. Das Goethe-Institut, die Armani-Oberschule und
andere Schulen beispielsweise werden gebaut. Dort kön-
nen Jungen und Mädchen gemeinsam eine neue Erfahrung
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Dezember 2002
Gert Weisskirchen
machen, nämlich dass sie nicht von Geschlechts wegen
getrennt werden, sondern gemeinsam lernen, ein Afgha-
nistan aufzubauen, das ein anderes Bild zeigt, das der Welt
zeigt: Dieses Land Afghanistan hat ein so starkes inneres
Potenzial, so eine Fähigkeit, die Zukunft selber friedlich
zu erobern, dass dieses Afghanistan auch wirklich unter-
stützt werden muss.
Wir Deutsche leisten unseren Beitrag dazu. Über die
80 Millionen Euro hinaus, die in diesem Jahr zugesagt
worden sind, leistet Deutschland – es ist vorhin schon zi-
tiert worden – allein in diesem Jahr 160 Millionen Euro
dafür, dass Bildung neu aufgebaut wird und dass bei-
spielsweise neue Schulbücher geschrieben werden. Das
entspricht auch dem, was die UNESCO-Konferenz, die
Jugendkonferenz, die ich schon angesprochen habe, be-
schlossen hat. Junge Menschen – ich zitiere das, was sie
selbst beschlossen hat; das können Sie in ihrer Erklärung
nachlesen, die sich an die Regierung, an die Gesellschaft
und an die internationale Gemeinschaft richtet – wollen
eine Erziehung ohne Vorurteile, eine Erziehung ohne Dis-
kriminierung und eine Erziehung, die darauf gerichtet ist,
dass sich die unterschiedlichen Gruppen in Afghanistan
versöhnen. Das zeigt, dass die Zeichen – die Bundesrepu-
blik Deutschland arbeitet ja mit den anderen 26 Nationen
in ISAF zusammen – in der Gesellschaft aufgenommen
werden.
In zwei Tagen wird Hamid Karzai das zweite Jahr sei-
ner Präsidentschaft erleben können. Am 22. Dezember
– das möchte ich am Schluss sagen – wird nicht nur die
Regierung Karzai auf ein Jahr guter Arbeit zurückblicken
können, sondern es wird auch eine gemeinsame Erklärung
von Afghanistan, Iran, Turkmenistan, Usbekistan, Tadschi-
kistan, China und Pakistan, also der Länder in der Region,
geben. Sie werden eine gemeinsame Erklärung verab-
schieden, eine Freundschaftserklärung, in der die Nach-
barn Afghanistans sagen: Wir möchten mit euch Afghanen
zusammenarbeiten; wir wollen eine Freundschaftserklä-
rung abgeben. Wir wollen uns nicht mehr von außen in
eure inneren Angelegenheiten einmischen. Wir wollen
euch respektieren.
Genau das ist der wichtige historische und qualitative
Sprung, den Afghanistan braucht, damit es seine eigene
selbstbestimmte Zukunft hat und damit die Menschen,
insbesondere die jungen, die so lange so schreckliche
Kriege haben erleiden müssen, sich jetzt selbst auf den
Weg in eine neue Zukunft machen können. Ich bin froh,
dass wir heute mit dem Beschluss dazu beitragen können,
dass Afghanistan diesen Weg gehen kann.
Vielen Dank.