Rede von
Dr.
Friedbert
Pflüger
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Vorgestern hat im Auswärtigen Ausschuss der Kol-
lege Volmer von den Grünen gesagt: Die Grünen stimmen
der Verlängerung des Mandats selbstverständlich zu.
Wir haben uns angesichts der Geschichte der Grünen auf
diesem Gebiet über dieses „selbstverständlich“ etwas ge-
wundert.
Aber wir stimmen im Ergebnis völlig zu. Auch wir sind
der Meinung, dass dieses Mandat verlängert werden
sollte. Selbstverständlich ist das für uns allerdings nicht,
Herr Kollege Volmer.
Denn wir müssen bei einem so großen und risikoreichen
Engagement sehr sorgfältig und sehr genau die Interes-
senlage unseres Landes und die Sicherheitslage für un-
sere Soldaten analysieren. Ich glaube, es ist sehr wichtig,
dass man vor einem solchen Engagement, das den Steu-
erzahler sehr viel Geld kostet, die Dinge wirklich ganz ge-
nau untersucht und nicht sagt: Wir sind selbstverständlich
dafür.
Entscheidend ist in der Tat das, was der Kollege Struck
eben völlig zu Recht ausgeführt hat, nämlich die Frage,
wie es um die deutschen Sicherheitsinteressen steht. Wir
dürfen nicht vergessen: In Afghanistan hat der Terroris-
mus seinen Anfang genommen. Al-Qaida, Osama Bin
Laden und der 11. September verbinden sich mit Afgha-
nistan. Deshalb ist es wichtig, dass wir in Afghanistan
nicht nur den al-Qaida-Terror militärisch bekämpften,
sondern dass wir auch dafür sorgen, dass dem Terrorismus
der Nährboden durch die Arbeit unserer humanitären
Hilfsorganisationen entzogen wird, die unmöglich wäre,
wenn nicht die Internationale Sicherheitsunterstützungs-
truppe unter Beteiligung der Bundeswehr die Aufbauar-
beit schützen würde.
Wir wissen aus dem Bericht der Vereinten Nationen,
dass al-Qaida noch nicht zerschlagen ist, sondern dabei
ist, neue Trainingscamps in Afghanistan aufzubauen. Wir
wissen des Weiteren, dass es dort nach wie vor sehr aktive
Kräfte und auch Waffenlieferungen gibt. Daher ist es ganz
wichtig, dass sich die ISAF-Truppe aus Afghanistan nicht
zurückzieht. Das wäre sonst ein nachträglicher Sieg der
Taliban. Deshalb – darin stimmen wir alle überein – ist es
unter dem Strich notwendig, die Mission in Afghanistan
fortzusetzen.
Siba Shakib – sie ist eine Deutsch-Perserin und hat das
fabelhafte Buch „Nach Afghanistan kommt Gott nur zum
Weinen“ geschrieben; es geht in diesem Buch um die Ge-
schichte von Shirin Gol, einer afghanischen Frau, die die
ganzen Kriegs- und Bürgerkriegswirren miterlebt hat; das
ist ein sehr bestürzendes und bedrückendes Buch – sagt
uns: Wenn ihr Afghanistan verlasst, dann wird die ganze
Welt daran Schaden nehmen, weil sich der Terrorismus
hier wieder regruppieren kann und neue Bedrohungen
von ihm ausgehen werden.
Wir alle wissen doch – das wird von BKA, Bundes-
nachrichtendienst und Verfassungsschutz immer wieder
unterstrichen –: Deutschland ist inzwischen nicht nur
Ruhe- und Vorbereitungsraum, sondern auch ein mög-
licher Zielort für den Terrorismus geworden. Deshalb ist
es wahr: Wenn es in Afghanistan keine Sicherheit gibt,
wenn es dort keinen Wiederaufbau gibt, wenn wir uns
dort zurückziehen, dann leidet auch die Sicherheit in un-
serem Land. Deshalb stimmen heute CDU und CSU der
Verlängerung des Mandats zu.
Wir müssen anerkennen, dass es eine Reihe von wirkli-
chen Fortschritten in Kabul gibt, die aber brüchig sind und
an denen deshalb weitergearbeitet werden muss, damit
Bundesminister Dr. Peter Struck
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Dezember 2002
Dr. Friedbert Pflüger
sich die dortige Lage stabilisiert. Wir haben bei unserem
kurzen Besuch in Kabul – auch die Kollegen Kossendey
und Raidel sowie Kollegen von anderen Fraktionen wa-
ren dabei – eine Reihe von wirklichen Fortschritten gese-
hen: dass man zum Beispiel ohne Angst und Terror end-
lich wieder vernünftig leben kann, dass sich Frauen auf
der Straße wieder alleine bewegen können, dass sie die
Burka, die der totalen Verschleierung der Frauen dient,
nicht mehr tragen müssen, dass in den Fußballstadien
wieder Fußball gespielt wird und keine Menschen mehr
exekutiert werden. Wir haben aber auch Fortschritte im
täglichen Leben festgestellt. Es gibt wieder Handel auf
den Straßen. Wir haben gesehen, dass wieder Felder an-
gelegt werden und dass Häuser gebaut werden. Man muss
bedenken, dass Kabul zu großen Teilen völlig zerstört ist.
Ein bisschen stelle ich mir so unsere deutschen Großstädte
1945 vor. Jetzt sieht man, dass es zwischen den Ruinen
erste Ansätze eines Wiederaufbaus gibt. Auch Mädchen
können wieder in die Schule gehen. Frauen können wie-
der berufstätig sein. Das alles war unter der Herrschaft der
Taliban nicht möglich. Das alles alleine zu lassen und
nicht mehr abzusichern wäre ein großer Fehler.
Die deutschen Hilfsorganisationen, die Nichtregie-
rungsorganisationen – wir haben mit ihnen gesprochen –
leisten dort eine fantastische Arbeit. Ich nenne nur: Welt-
hungerhilfe, Kinderwerk, Caritas, Misereor, Shelter Now,
Malteser, Minenräuminitiativen, German Medical Ser-
vice, aber auch THW-Freiwillige, Deutscher Entwick-
lungsdienst, Deutscher Akademischer Austauschdienst,
GTZ, Goethe-Institut und BKA, das dort ein großes Poli-
zeiprojekt durchführt. Dort findet also viel statt, auch mit-
hilfe von privaten Spendern. Durch die Bank be-
schwören uns alle: Bleibt hier! Helft uns, dieses Land zu
stabilisieren!
Dieses Land hat es verdient. Es ist kein Fass ohne Bo-
den. Es gibt dort eine Führungsschicht, die dankbar das
aufgreift und selbst daran arbeitet, das Land nach vorn zu
bringen.
Das unterstützen wir in diesem Parlament, glaube ich,
über alle Parteigrenzen hinweg. Herzlichen Dank den
Hilfsorganisationen, die dort wirklich eine gefährliche
und aufopferungsvolle Arbeit leisten!
Das ist nicht nur aus humanitären Gründen notwendig.
Terrorismusbekämpfung – ich wiederhole das – muss im-
mer auf zweierlei Weise erfolgen. Sie muss mit militä-
rischen, polizeilichen und geheimdienstlichen Mitteln er-
folgen, aber auch dadurch, dass man dem Terror den
Nährboden nimmt. Es geht um den Nährboden, der aus
Ungerechtigkeit, Not, Würdelosigkeit und Unbildung
wächst. Diesen Nährboden zu bekämpfen liegt ebenfalls
im Sicherheitsinteresse von uns hier in Deutschland.
Ich habe dort eine Afghanin getroffen – ich möchte das
einfach einmal erzählen, damit man einen Eindruck ge-
winnt –, Mitte 40, würde ich schätzen. Sie hat in Oxford
studiert und dort auch einen Doktortitel erworben. Sie ar-
beitet in Afghanistan in einer Frauenbewegung und sagt:
Wir müssen in dieser Gesellschaft, die tief konservativ-is-
lamisch geprägt ist, aufklären. Wir müssen ihr klar ma-
chen, dass auch Mädchen und Frauen arbeiten dürfen. Das
ist ein gewaltiges Potenzial, das hier völlig brachliegt.
– Sie berichtet, dass die Männer auf Folgendes verweisen:
Die Taliban sagen, Frauen müssten zu Hause bleiben;
Frauen dürften keine Bildung und keinen Beruf haben. –
Diese Afghanin sagt deshalb: Unser aller Aufgabe ist es,
diesen extremistischen Kräften deutlich zu machen, dass
der Islam und der Koran durchaus die Möglichkeit vor-
sehen, dass Frauen ausgebildet werden und arbeiten. Wir
dürfen die Interpretation des Koran und des Islam nicht
den Taliban und anderen extremistischen Kräften überlas-
sen.
Das ist richtig, meine Damen und Herren: Niemals dür-
fen wir diese extremistischen Taliban-Kräfte und diese
al-Qaida-Kräfte mit dem Islam und mit dem Koran im
Ganzen in einen Topf werfen. Das sind ganz unterschied-
liche Dinge. Das festzuhalten ist für unseren weiteren
Kampf gegen die terroristische Bedrohung ganz wichtig.
Ich komme nun zu einem Punkt, von dem wir finden,
dass die Bundesregierung hier bisher nicht genug ge-
macht hat, nämlich die Entwicklung eines politischen
Gesamtkonzepts.
Wir haben Petersberg I und II gehabt, wir haben Ge-
berkonferenzen gehabt. Wichtig ist jetzt, dass die Stabili-
sierung, die im Großraum Kabul erfolgt ist, auf das Land
insgesamt übertragen wird, dass man auch in den anderen
Regionen Afghanistans spürt: Hier wird stabilisiert.
Uns interessiert, zu erfahren: Was ist Ihr Konzept
dafür? Wir wollen ja nicht auf alle Ewigkeit in Afgha-
nistan bleiben. Irgendwann müssen die Afghanen selbst
für ihre Sicherheit sorgen. Wie also kann man die Lage
außerhalb Kabuls stabilisieren? Wie kann man die
Paschtunen, die größte Volksgruppe, besser in den Pro-
zess einbinden, auch um zu verhindern, dass sie wieder zu
den Taliban überwechseln? Wie kann man vor allem ein
konsequenteres Vorgehen gegen den massiven Drogen-
anbau organisieren? Durch den Drogenanbau entsteht im-
mer noch oder wieder ein Einkommen von 1,2 Mil-
liarden Euro für die Leute. Die Summe der Hilfsmittel, die
bisher von der Welt bezahlt worden sind, ist ein bisschen
größer; sie beläuft sich auf 1,3 Milliarden Euro. Der Dro-
genhandel hat also nach wie vor ein ungeheures Gewicht
in Afghanistan. Was tun wir eigentlich dagegen?
Die Frage des ökonomischen Wiederaufbaus ist von
großer Bedeutung. Präsident Karzai hat uns gesagt: Vor
allem müssen Straßen gebaut werden, damit man von der
Zentrale auch wieder in die Regionen des Landes kom-
men kann.
Wenn bei den Afghanen die Hoffnung auf einen baldi-
gen Wiederaufbau schwindet, dann wird es schwierig,
dieses Land wieder zu stabilisieren. Deshalb mahnen
wir bei der Regierung ein Gesamtkonzept an, mit der
Perspektive, Afghanistan zu stabilisieren und unseren
Soldaten eine Möglichkeit zu geben, dieses Land in ab-
sehbarer Zukunft wieder zu verlassen.
Meine Fraktion hat am Mittwoch in den Ausschüssen
die Bundesregierung sehr genau zu den militärischen
Aspekten der Sicherheit und des Schutzes befragt. Denn
es ist unsere Aufgabe als Opposition, uns hinsichtlich un-
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seres Einsatzes für den Schutz unserer Soldaten in
Afghanistan von niemandem übertreffen zu lassen.
Kollege Christian Schmidt wird dazu gleich einige aus-
führlichere Angaben machen.
Ich möchte für meine Fraktion Folgendes sagen: Der
Bundeswehreinsatz in Afghanistan ist ohne jeden Zweifel
risikoreich; wäre er das nicht, bräuchte man dort keine
Soldaten. Deswegen ist es für unsere Zustimmung sehr
wichtig, dass die Bundesregierung im Ausschuss erklärt
hat und von hohen Militärs darin bestätigt wurde, dass alle
Vorkehrungen zum Schutz unserer Soldaten getroffen
worden sind. Wir als Abgeordnete können uns nur ein
Bild durch einen kurzen Besuch vor Ort machen. Wir ha-
ben keinen eigenen Geheimdienst. Wir sind auf das an-
gewiesen, was uns die Soldaten vor Ort, die militärische
Führung und letztlich in der politischen Bewertung die
Bundesregierung sagen. Deshalb müssen wir auf ihre
Angaben vertrauen.
Ich halte fest: Sie haben uns in den Ausschüssen zuge-
sichert, dass – trotz der Häufung von Anschlägen und Ra-
ketenbeschuss auf Kabul und trotz des Attentats von ges-
tern – das vorhandene Gerät zum Schutz unserer Soldaten
ausreichend sei; alle Wünsche der militärischen Führung
und auch der Militärs vor Ort seien berücksichtigt wor-
den.
Wir sind ein bisschen irritiert, Herr Minister, durch
eine gewisse Diskrepanz. Wir haben im Ausschuss gehört,
es gebe nur noch ein Restrisiko und ansonsten habe sich
die Lage sehr stabilisiert. Sie dagegen sagten in einem
Interview in der „Berliner Zeitung“ von gestern, die Lage
sei „äußert instabil und gefährlich“. – Wir bitten Sie doch
sehr, Herr Minister Struck, diesen Widerspruch in der Be-
wertung aufzuklären. Zwischen Restrisiko und äußerst in-
stabiler und gefährlicher Lage besteht ein Unterschied.
Wir wären dankbar, wenn Sie uns darüber jetzt Auf-
klärung geben würden.
Wir, die Union, haben in den Ausschüssen und auch
schon in den Beratungen, die wir in Kabul mit den dorti-
gen Militärs hatten, großen Wert darauf gelegt, dass es de-
taillierte Notfallpläne für den Fall einer dramatischen Zu-
spitzung der Lage gibt. Die Menschen in Kabul reagieren
freundlich auf die ISAF-Truppen. Das sieht man an jeder
Ecke. General Schlenker, der dort das Kommando hat, be-
richtet von einer 98-prozentigen Zustimmung. Wenn un-
sere Soldaten patrouillieren – sie sind inzwischen 11 000
Patrouillen gefahren, vor allen Dingen mit den Wieseln,
diesen kleinen gepanzerten Fahrzeugen, mit denen sie
durch die Stadt fahren –, dann spüren sie, dass sie über-
all positiv aufgenommen werden. Trotzdem stellt sich
die Frage: Kann man dem angesichts all der Erfahrun-
gen, die wir mit den Warlords und den konkurrierenden
Gruppen und Clans in Afghanistan gemacht haben, ver-
trauen?
Deshalb ist so ein Notfallplan von großer Wichtigkeit.
Die Bundeswehr – so hat die Bundesregierung zuge-
sichert – hat einen solchen Notfallplan mit allen ISAF-
Partnern erarbeitet. Er sieht in einem solchen Notfall die
Evakuierung von 15 000 Personen innerhalb von fünf Ta-
gen vor. Wir hoffen nicht, dass es dazu kommt; aber wir
sind es unseren Soldaten und ihren Familien schuldig,
dass es solche Notfallpläne gibt. Ich bin dankbar dafür,
dass Sie auf unser Drängen hin einen solchen klaren Not-
fallplan in den Ausschüssen erläutert haben.
Wichtig war uns, dass die Bundesregierung uns zusi-
chert, dass die Amerikaner, von deren Hilfe ISAF- und Zi-
vilpersonal in Afghanistan in Notfallsituationen abhängig
sind, auch im Falle eines Irakkrieges nicht den Um-
fang ihrer Streitkräfte reduzieren oder Spezialkräfte aus
Afghanistan abziehen. Es war ja ein Verdacht, der nahe-
liegt, dass im Falle einer Zuspitzung der Situation im Irak
Kräfte abgezogen werden und unsere Soldaten und unser
Zivilpersonal plötzlich in eine ganz andere Sicherheits-
lage geraten. Hier gibt es vonseiten der Bundesregierung
die klare Zusicherung, dass dies nicht geschehen wird.
Vor dem Hintergrund dieser Zusicherung sind wir der
Meinung, dass es verantwortbar ist – allerdings nicht
selbstverständlich, Herr Kollege Volmer –, der Verlänge-
rung dieses Mandats zuzustimmen.
Wir wünschen den Soldaten, den Vertretern der Nicht-
regierungsorganisationen und dem Zivilpersonal, das dort
Großartiges leistet, eine frohe Weihnacht, ein friedliches
Weihnachtsfest und ein gutes neues Jahr mit dem Rücken-
wind und der Unterstützung aus dem ganzen Deutschen
Bundestag.
Vielen Dank.