Rede von
Rudolf
Scharping
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zwei Gefühle
beschäftigen die Menschen in Deutschland besonders
stark: das Gefühl des Mitempfindens, der Solidarität, des
Zusammenstehens auf der einen Seite und das Gefühl von
Angst, Unsicherheit, Sorge vor Terror und Krieg auf der
anderen Seite. Das Zweite berührt die Sorgen um die Si-
cherheit und die Freiheit des eigenen Lebens.
Wenn wir nicht verstehen diese Debatte macht ein-
drücklich deutlich, wie gut wir es verstehen , dass dieser
Angriff ein Angriff auf uns alle war, ein Angriff auf unser
Leben, unsere Würde sowie auf unsere Vorstellungen von
einem friedlichen Zusammenleben und einem friedlichen
Austragen von Konflikten, ein kalt geplanter, menschen-
verachtend ins Werk gesetzter, gut organisierter und leider
auch wirkungsvoll finanzierter Angriff, dann können wir
die umfassende Antwort, die jetzt notwendig ist, nicht
entwickeln.
Unsere Antwort entscheidet darüber, ob wir die Kraft
finden, ökonomisch und kulturell, sozial und finanziell
auch unter Einsatz militärischer Mittel dem interna-
tionalen Terror mit seiner Brutalität, Gewalt und Men-
schenverachtung eine möglichst enge Grenze zu ziehen.
Sie entscheidet zuletzt auch darüber, ob wir die Entwick-
lung bestimmen oder ob wir es einem blutigen Terroris-
mus überlassen wollen, zu entscheiden, wann und wo
Menschen erneut in den Tod gerissen werden. Es gibt in
meinen Augen überhaupt keine andere Alternative, als
diese Grenze umfassend, kraftvoll und wirkungsvoll zu
ziehen.
Wenn ich von einer umfassenden Antwort spreche, ist
dem, was der Bundeskanzler in seiner Regierungser-
klärung gesagt hat, nichts hinzuzufügen
außer einem Gedanken: Das alte Denken in den Katego-
rien des Ost-West-Konfliktes, einschließlich seiner anti-
amerikanischen Chiffren und Sentiments, ist endgültig
passé.
Im Lichte dieser Bedrohung, die nicht neu ist, deren
Qualität, Umfang und Wirkungsweise jetzt aber so ent-
setzlich sichtbar geworden sind, wird vielleicht verständ-
licher, was die Staats- und Regierungschefs der NATO
schon 1999 in Washington formuliert haben, nämlich dass
Krisenprävention, umfassende Sicherheitspolitik und, in
sie eingeschlossen, der Kampf gegen den internationalen
Terror gemeinsame Aufgaben sind. Insofern geht es nicht
nur um eine umfassende Antwort, es geht auch um eine
entschiedene, das heißt zielgerichtete, angemessene und
maßvolle Antwort.
Willy Brandt hat in seinen Erinnerungen im Zusam-
menhang mit Frieden und Friedensbewahrung geschrie-
ben, dass es gerade für Deutschland nach der Einheit nicht
mehr darum gehen könne, alleine verbale Beiträge zu leis-
ten; es gehe um mehr: Wir stehen vor einer Entscheidung,
die sehr ernst sein wird und sich nicht auf verbale Beiträge
beschränken kann und darf.
Das wirft die Frage auf, ob wir gemeinsam die Fähig-
keiten haben, diese Antwort zu geben. Diese Fähigkeiten
sind in der Strategie der NATO und in den daraus ent-
wickelten Anforderungen an die Streitkräfte beschrieben.
Sie konsequent, ohne zeitlichen Verzug und ohne inhaltli-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 187. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2001
Dr. Wolfgang Gerhardt
18324
che Abstriche umzusetzen ist die praktische Verwirkli-
chung dessen, was unser gemeinsames Interesse an Si-
cherheit und unser gemeinsamer Wille zur Bewahrung
von Frieden, Freiheit und rechtsstaatlicher Demokratie
praktisch bedeuten.
Die Bundesrepublik Deutschland kann dazu einen Bei-
trag leisten. Dieser Beitrag wird von ihr erwartet. Nicht
allein deshalb, sondern auch weil es in unserem ureigens-
ten Interesse als freiheitlicher Demokratie liegt, dass nicht
andere nach ihrer menschenverachtenden Ideologie oder
ihrem menschenverachtenden Fanatismus entscheiden,
welches freiheitliche und demokratische Land jeweils
Ziel ihrer Angriffe ist, werden wir ihn leisten.
Es wird im Übrigen nüchtern zu prüfen sein, ob wir den
schon vorhandenen Fähigkeiten schnell neue hinzufügen
müssen. Das gilt auch im Sinne der jetzt notwendigen um-
fassenden Antwort und beschränkt sich beileibe nicht auf
die Erneuerung der Bundeswehr alleine. Aber dazu wird
noch an anderer Stelle der Debatte etwas gesagt werden.
Ich möchte nur deutlich machen: Es geht nicht nur darum,
die USA wie manche sagen zu unterstützen, sondern
darum, die Chance, die die Tragödie in den USA bietet
davon haben einige in dieser Debatte zu Recht gespro-
chen , zu nutzen, den jeweiligen nationalen Identitäten
eine globale und zivilisatorische Identität hinzuzufügen
und eine gemeinsame Antwort auf jenen mittelalterlichen
und vordemokratischen Geist zu entwickeln, der sich
frei von jeder Vorstellung von der Würde des einzelnen
Menschen in Europa mit fürchterlicher Brutalität im
Dreißigjährigen Krieg und während der faschistischen
Zeit ausgetobt hat und der sich jetzt kaltblütig der techni-
schen Möglichkeiten der Zivilisation des 21. Jahrhunderts
bedient. Diese Antwort muss, wie gesagt, umfassend, ent-
schieden, klar und angemessen sein.
Wir alle haben uns in den 50 Jahren, in denen wir in die
westlichen Demokratien und ihre Gemeinschaften hinein-
gewachsen sind, nicht vorstellen können, dass der Bünd-
nisfall der NATO zum ersten Mal wegen und zum Schutz
der gemeinsamen Werte, ausgelöst durch einen Angriff
auf die USA, erklärt werden muss. Wir haben uns in den
letzten 50 Jahren auf die Solidarität der westlichen De-
mokratien verlassen. Das war gut für Deutschland. Also
haben die westlichen Demokratien und insbesondere die
Vereinigten Staaten einen Anspruch darauf, dass wir jetzt
mehr tun, als sie nur zu unterstützen. Das wäre schon viel.
Aber wir müssen gemeinsam eine Antwort geben, wis-
send, dass diejenigen, die über mehrere Jahrzehnte für uns
eingestanden sind, jetzt einen Anspruch darauf haben,
dass wir mit ihnen gemeinsam für unsere Interessen und
für unsere Wertvorstellungen eintreten.
Das wird sehr harte und ernste Entscheidungen erfor-
derlich machen. Ich hoffe das sage ich auch im Interesse
der Soldaten und ihrer Familien , dass der Ernst, die Ent-
schlossenheit und die Gemeinsamkeit, die in diesen Tagen
in diesem Hohen Hause sichtbar geworden sind, auch alle
anderen notwendigen Entscheidungen tragen werden.
Vielen Dank.