Rede von
Dr. h.c.
Gernot
Erler
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Die Terrorakte vom 11. September
sind eine einzige große Herausforderung gemessen an
der Zahl der Opfer, gemessen an dem Umfang der Zer-
störungen, gemessen an der Symbolkraft der Ziele,
gemessen an der Inszenierung, die die Medien der Ver-
einigten Staaten zwang, die eigene Verwundung abzu-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 187. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2001
Roland Claus
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bilden und in die ganze Welt zu versenden, gemessen auch
an dem Umstand, dass die Täter womöglich noch in der
Selbstgewissheit des Gelingens ihrer Untat diese mit
spekulativen Börsengewinnen verbunden haben.
Es gibt kein erkennbares, definierbares Ziel dieser An-
schläge, nein es handelt sich um die Herausforderung an
sich. Wir erkennen, dass uns die Verwundung und die
Demütigung der stärksten Macht innerhalb der Welt-
gemeinschaft als rein zerstörerischer Selbstzweck gegen-
übertritt. Diese Herausforderung hat eine ungeheure
Spannung über die ganze Welt gelegt. Sie hat Amerika
und die ganze Weltgemeinschaft mit hinein in eine sehr
ernste Bewährungsprobe gestellt. Wir alle stehen mitten
in dieser Prüfung: die Bundesregierung, die Lan-
desregierungen, der Bundestag, unsere Sicherheitsorgane,
die seit einer Woche Enormes leisten, bis an die Grenze
der Belastbarkeit gehen und denen wir dafür Dank und
Vertrauen aussprechen müssen, aber auch jeder Einzelne.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der vorgelegte Ent-
schließungsantrag vergewissert sich noch einmal der
Empfindungen, die wir in dieser Woche geteilt haben, und
der Schritte, die wir in diesen sieben Tagen gemeinsam
gegangen sind. Eigentlich ist der Entschließungsantrag
die kürzeste Zusammenfassung dieser Tage nach dem
Schock. Da ist die Rede von Bewunderung: ein seltenes
Wort in der parlamentarischen Arbeit, aber ehrlich ge-
meint. Sie bezieht sich auf die menschliche Antwort, die
Amerika auf die eigene Verwundung gegeben hat, auf die-
ses Aufbäumen der amerikanischen Gesellschaft, für das
exemplarisch Bürgermeister Giuliani richtige Worte fand,
und auf diese tausendfache spontane Hilfsbereitschaft
und die Zeichen von Menschlichkeit. Das ist eine ein-
drucksvolle Antwort, die beste Antwort auf die brutalen,
menschenverachtenden Gewalttaten gewesen.
Der Entschließungsantrag würdigt auch die ungezähl-
ten spontanen Gesten in Deutschland: in jedem Dorf, in
jeder Stadt, bei jedem Zusammentreffen von Menschen in
diesen Tagen. Diese haben von den Menschen her eine
Verbundenheit und Anteilnahme demonstriert, die das
müssen wir bekennen keiner von uns durch noch so gut
gewählte Worte hätte zum Ausdruck bringen können. Ich
kann nur sagen: Das hat gut getan uns, aber auch denen,
denen diese Zeichen gelten.
Der Entschließungsantrag würdigt auch die politischen
Reaktionen in dieser Woche nach der Herausforderung:
die bemerkenswerten Beschlüsse der Vereinten Nationen,
die Beschlussfassung der Allianz und das, was Bund und
Länder zum Schutz aller Bürger in unserem Land im In-
neren getan haben und tun werden.
Alle diese Maßnahmen konnten aber eines nicht ver-
hindern: Nach all den Zeichen der Anteilnahme und Ver-
bundenheit verbreitet sich doch um uns herum jetzt Angst
aus vor dem, was kommen könnte. Es ist die Angst vor
dem Krieg; sie schlägt sich in jeder Diskussion, in zahl-
reichen Anrufen, Briefen und Appellen nieder, die uns Ab-
geordnete täglich erreichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist unsere Pflicht,
diese Angst ernst zu nehmen und wir tun das; ich versi-
chere das. Es ist aber auch unsere Pflicht als Abgeordnete,
Antworten in der Sache auf diese Sorgen und Befürch-
tungen zu geben. Ich will das ein Stück weit versuchen
und dabei auch zeigen: Es gibt auch Hoffnung. Ich wende
mich der politischen Reaktion in den Vereinigten Staaten
zu. Hätten wir überrascht sein können, wenn die verwun-
dete Großmacht noch mitten im ersten Schmerz ausgeteilt
hätte, sozusagen einen zwangsweise ungenauen Befrei-
ungsschlag geführt hätte? Ich bin froh, dass es nicht pas-
siert ist.
Wir hören jetzt einige Worte, die uns erschrecken, auch
wenn wir ihre nach innen gerichtete Funktion erkennen.
Entscheidend ist aber: In der Praxis, faktisch, passiert et-
was ganz anderes. Wir sind Zeuge der Bildung eines brei-
ten Bündnisses, einer großen Allianz gegen den Terro-
rismus, die auf Dauer angelegt ist, die Russland, China
und auch arabische und islamisch orientierte Staaten ein-
bezieht, ja sogar solche, bei denen hiermit eine Umkehr
verbunden sein könnte. Diese große Allianz ist keine, die
sich zum Krieg hinwendet, sondern eine, die auf umfas-
sende politische, diplomatische, ökonomische und kul-
turelle Mittel setzt. Wir sagen ganz entschieden: Das ist
der richtige Weg. Wir unterstützen diesen Weg. Es gibt
uns Hoffnung, dass Amerika in diesem Moment der Er-
schütterung die Umsicht und die Kraft zeigt, diesen Weg
einzuschlagen.
Wir wollen, dass diese große Allianz gegen die Geißel
der Gewaltanwendung und des Terrorismus von Dauer ist.
Wir wollen aber auch noch etwas anderes: Die Stunde ei-
ner großen Gefahr ist manchmal auch die Geburtsstunde
einer großen Vision, einer umwälzenden Erinnerung. Er
selbst und seine schwarzen Brüder und Schwestern in
Amerika waren in größter Bedrängnis, als Martin Luther
King unter dem Motto I have a dream die Konturen ei-
ner besseren Gesellschaft, einer besseren Welt zeichnete.
Dieser Traum hatte nachhaltige politische Auswirkungen.
Wir haben die Chance, aus der Allianz gegen etwas
gegen den Terrorismus , die sich jetzt bildet, eine Allianz
für etwas zu machen.
Wir müssen eine umfassende Umkehr heraus aus der Ge-
waltanwendung in der internationalen Politik organisie-
ren. Jede bessere Weltordnung beginnt mit diesem Weg,
mit dieser Entscheidung. Der Schreck, der uns allen in die
Glieder gefahren ist, muss neue Kräfte für diese Umkehr
wecken. Deswegen ist es in der Tat ein Zeichen der Hoff-
nung, dass Yassir Arafat jetzt und gerade jetzt einen um-
fassenden einseitigen Waffenstillstand ausgerufen hat und
dass die israelische Regierung mit dem Stopp aller offen-
siven militärischen Aktionen geantwortet hat.
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Gernot Erler
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Eine Antwort auf die Kriegsangst ist also aufzuzeigen:
Es gibt Hoffnung. Es gibt gute Ansätze. Wir sind ent-
schlossen, diese zu verfolgen. Aber es gibt für uns als Ab-
geordnete noch eine andere Pflicht. Wir müssen denjeni-
gen, die Angst vor dem Schlimmen haben, das noch
passieren kann, klarmachen, dass etwas sehr Schlimmes,
etwas sehr Gefährliches schon passiert ist. Der Ernstfall
ist schon da. Er lauert nicht erst vor der nächsten Tür. Die-
ser Ernstfall ist am 11. September eingetreten.
Dieser Triumph der Gewalt und diese Verhöhnung aller
Gebote internationalen und menschlichen Zusammenle-
bens dürfen so nicht stehen bleiben, dürfen keinen Be-
stand haben. Sie müssen auch eine direkte Beantwortung
finden. Die Vereinten Nationen wissen, warum sie eine
umfassende internationale Anstrengung verfolgen, um die
Täter zu stellen und zu bestrafen und die, die sie schützen
und unterstützen, zur Rechenschaft zu ziehen. Das ist
keine moralische Frage, sondern eine sicherheitspoliti-
sche Frage. Die Vereinten Nationen haben mit der Formel
Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Si-
cherheit ihr Signal für die höchste Alarmstufe gegeben.
Wenn dieser Triumph der Gewalt Bestand hat, dann
wird das Beispiel Schule machen, dann wird es Zulauf zu
den Netzen des Terrorismus geben, dann wird es neue An-
schläge geben, dann werden der Hydra der menschenver-
achtenden Gewaltaktionen tausend Arme wachsen. Das
dürfen wir nicht zulassen.
Das Problem besteht jetzt darin, verschiedene Dinge
miteinander zu verknüpfen: die Täter zu stellen und sie zu
bestrafen, ihre Netze unter Druck zu setzen, ihren Triumph
zu vereiteln aber das alles so, dass diese große Allianz, die
ich erwähnt habe, Bestand hat.
Ich habe am Tag nach den Attentaten eine E-Mail von
Dale Fuller erhalten, einem 21-jährigen amerikanischen
Studenten, der zehn Monate als Praktikant in meinem
Büro gearbeitet hat. Er hat seinen Bericht darüber, wie er
in Minneapolis diesen Tag erlebt hat, mit folgenden Sät-
zen beschlossen:
Ich hoffe, dass Gott uns allen hilft und dass es keinen
Krieg gibt. Aber wir müssen etwas gegen diese Ter-
roristen machen. Denkt an uns in Amerika! Unsere
Herzen und unser Land sind verletzt.
Das sind einfache Worte. Sie umschreiben aber die ganze
Komplexität unserer Aufgaben. Wir müssen die Täter
stellen. Wir müssen etwas gegen den Terrorismus ma-
chen. Wir müssen dem verwundeten Amerika helfen.
Aber wir müssen gleichzeitig den Krieg verhindern und
diese große Allianz bewahren.
Politik ist manchmal sehr schwer. Aber ich sage all de-
nen, die jetzt Befürchtungen und Angst haben: Wir bitten
euch um Vertrauen und wir bitten euch auch darum, uns
bei dieser schwierigen Aufgabe zu begleiten.
Vielen Dank.