Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Vielleicht haben wir
alle erst am letzten Wochenende, als wir nach langen Ta-
gen in Berlin ein paar Stunden Zeit zum Nachdenken hat-
ten, vielleicht auch mit unseren Familien und unseren
Freunden gesprochen haben, richtig verstanden, was in
der letzten Woche wirklich geschehen ist. Die Ereignisse
dieses Tages, die Bilder, die uns seitdem fast ununterbro-
chen begleiten, werden das Bewusstsein der amerikani-
schen Nation über Jahrzehnte prägen. Unser Verhalten, so
wie wir uns auch und gerade als Deutsche in den nächs-
ten Wochen und Monaten den amerikanischen Freunden
gegenüber zeigen, wird das Verhältnis zwischen Deutsch-
land und Amerika für Jahrzehnte prägen.
Ich will deshalb zu Beginn nicht den fast schon zu oft
gesagten Satz wiederholen, dass der 11. September 2001
die Welt grundlegend verändert hat. Aber ich will mit be-
sonderem Nachdruck zum Ausdruck bringen, dass wir
alle heute zu einem klaren Ja zur Gemeinschaft der freien
Völker, zum Bündnis, zur NATO, und vor allem zu unse-
ren Freunden in den Vereinigten Staaten von Amerika ge-
fordert sind.
Dies ist nicht die Zeit für ein Ja, aber.
Wir Deutsche stehen in der Pflicht, innerhalb der nord-
atlantischen Allianz einen Teil der Solidarität zurückzu-
geben, die wir insbesondere von Amerika in über 50 Jah-
ren erfahren haben. Wir können und müssen das
Fundament für die atlantische Allianz im 21. Jahrhundert
legen. Die Attentate vom 11. September 2001 markieren
den ersten Testfall für die neue NATO, die sich bereits mit
dem strategischen Konzept von 1999 auf die veränderte
Sicherheitslage eingestellt hat. Man muss fast sagen: In
kluger Voraussicht hat die NATO vor zwei Jahren festge-
stellt, dass Sicherheitsinteressen des Bündnisses durch
Akte des Terrorismus, der Sabotage, des organisierten
Verbrechens, sogar durch die Unterbrechung der Zufuhr
lebenswichtiger Ressourcen berührt sein können. Dies ist
auf grausame Weise vor wenigen Tagen Realität gewor-
den eine Realität, der wir alle uns jetzt stellen müssen.
Auch deshalb geht es bei weitem nicht allein um die
Dankbarkeit von uns Deutschen für Solidarität im Bünd-
nis. Herr Bundeskanzler, Sie haben mit Nachdruck und,
wie ich finde, richtigerweise darauf hingewiesen: Wenn
die NATO den Bündnisfall auslöst dies ist das erste Mal
in der Geschichte der NATO und es ist eine historische
Entscheidung , dann kommt darin auch zum Ausdruck,
dass es in unserem ganz eigenen Interesse liegt, ohne je-
den Vorbehalt an der Bekämpfung des internationalen
Terrorismus mitzuwirken.
So wie New York und Washington hätte es auch Paris,
Frankfurt oder Berlin treffen können. Und es hat uns un-
mittelbar getroffen; denn Sie haben es bereits gesagt,
Herr Bundeskanzler auch viele deutsche Staatsbürger
sind bei diesen menschenverachtenden Attentaten ums
Leben gekommen.
Wichtig ist, dass wir uns jetzt Klarheit verschaffen und
dass wir den vielen, die uns heute zuschauen und zuhören,
sagen, worum es geht. Wir haben es mit den Feinden der
offenen Gesellschaft, mit einem totalitären Anspruch der
Unfreiheit, der sich gegen uns alle richtet und der die
Grundwerte der demokratischen und der freiheitlichen
Gesellschaften infrage stellt, zu tun. Deshalb ist eine klare
und unmissverständliche Antwort erforderlich. Es darf
keinen Zweifel geben, dass alles getan wird, um die Täter
und die Hintermänner zur Verantwortung zu ziehen. Der
freiheitliche demokratische Rechtsstaat muss sich als
wehrhaft erweisen, wenn er auch gegenüber seinen eige-
nen Staatsbürgern glaubwürdig bleiben will.
Deshalb, Herr Bundeskanzler, haben wir Ihr Angebot
an die amerikanischen Freunde zu uneingeschränkter So-
lidarität von Anfang an unterstützt. Aber täuschen wir uns
nicht darüber, dass es schwierig wird. Es wird ziemlich si-
cher neben allen Bemühungen um Diplomatie, Auf-
klärung und Strafverfolgung auch militärische Aktionen
geben, ja geben müssen. Das Ziel solcher militärischer
Operationen wird nicht sein, Vergeltung zu üben. Jeder
Einsatz gegen die Terroristen, gegen ihre Infrastruktur,
gegen das Umfeld, das sie schützt und das ihre Taten über-
haupt erst möglich macht, ist Teil einer Strategie der
Prävention, für Freiheit, für Frieden, für das Recht und für
den Schutz auch unserer Bürger; denn Sicherheit ist und
bleibt die Grundlage auch unserer Freiheit.
Lassen Sie es mich mit einem Wort von Wilhelm von
Humboldt sagen:
Ohne Sicherheit vermag der Mensch weder seine
Kräfte auszubilden noch die Frucht derselben zu ge-
nießen. Denn ohne Sicherheit ist keine Freiheit.
Meine Damen und Herren, bei der Herausforderung,
Sicherheit in Freiheit zu gewährleisten, geht es nicht, wie
manche in diesen Tagen schreiben, um eine Auseinander-
setzung unterschiedlicher Kulturen oder Religionen. Die
Anschläge von New York und Washington sind weltweit
und von fast allen Staaten und von ganz unterschiedlichen
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 187. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2001
Bundeskanzler Gerhard Schröder
18305
Kirchen, Glaubens- und Religionsgemeinschaften und
deren geistlichen Oberhäuptern klar und eindeutig verur-
teilt worden. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ist
noch nie so schnell und so klar und so eindeutig und so
übereinstimmend zu einer zutreffenden Bewertung und
Beurteilung gekommen wie wenige Stunden nach diesem
Attentat. Die Vereinigten Staaten von Amerika haben ih-
rerseits bisher sehr besonnen reagiert. Dieses gemeinsame
Verhalten vieler Staaten und vieler engagierter Menschen,
auch und gerade in den Kirchen in aller Welt, hat eine
noch nie dagewesene Allianz gegen den internationalen
Terrorismus um den geht es überhaupt erst möglich
gemacht. So furchtbar die Anschläge waren, sie geben uns
jetzt vielleicht die Chance, weltweit zu einer Ächtung des
Terrorismus zu kommen und ihn wirklich wirkungsvoll zu
bekämpfen.
Gleichzeitig ist der Dialog der Kulturen und Religio-
nen wichtiger denn je. Dies gilt für unser Land, dies gilt
für Deutschland mit weit mehr als 2 Millionen hier leben-
den Mitbürgern islamischen Glaubens. Dies gilt aber
auch weltweit. Es war, wie ich meine, ein ermutigendes
und richtiges Zeichen, dass der amerikanische Präsident
vorgestern zum gemeinsamen Gebet in eine Moschee in
Washington gegangen ist.
Feindbilder helfen niemandem weiter. Es ist nicht zuletzt
das geistige Erbe und der Auftrag der Aufklärung, ein
friedliches Miteinander der großen Weltreligionen zu er-
möglichen.
Gerade deshalb gilt: Die Bekämpfung des internatio-
nalen Terrorismus, den wir in New York und Washington
so grausam erlebt haben, macht eine neue, umfassende Si-
cherheitspolitik nach innen und außen notwendig. Das
Kursbuch Sicherheit muss national, europäisch und
global neu geschrieben werden. Aufklärung und Präven-
tion heißt das erste Kapitel. Die Staaten und Staatenge-
meinschaften der freien Welt werden ihre Anstrengungen
deutlich steigern müssen, um schon im Vorfeld zu erken-
nen, wo bestimmte Entwicklungen einsetzen und An-
schläge geplant werden. Die Nachrichtendienste brau-
chen jede Unterstützung, um ihren von den demokratisch
legitimierten Regierungen gegebenen Auftrag auch wirk-
sam ausführen zu können: politisch, strategisch-konzep-
tionell, materiell und personell. Die Zeit jedenfalls, in der
die naiven Fantasten dieser Welt mit der Forderung nach
Abschaffung der Dienste auf Gehör stießen, dürfte end-
gültig vorbei sein.
Wir können es auch nicht hinnehmen, dass Deutschland
offensichtlich ein bevorzugter Rückzugs- und Ruheraum,
ja ein bevorzugter Trainings- und Vorbereitungsraum für
Terroristen ist, die sich auf einen gottgegebenen Auftrag
berufen und hierfür offenbar auch bei uns ein größeres
Umfeld vorfinden. Dagegen muss entschieden vorgegan-
gen werden.
Herr Bundeskanzler, Sie haben es in Ihrer Regierungser-
klärung gerade eben noch einmal erwähnt: Sie werden
heute Nachmittag im Bundeskabinett erste Vorschläge zur
Verbesserung der inneren Sicherheit in Deutschland verab-
schieden. Dies kann nach unserem Verständnis nur ein An-
fang eines später folgenden, umfassenden Konzeptes für
mehr Sicherheit auch nach innen sein. Ich sage Ihnen na-
mens unserer Fraktion eine zügige, sehr kooperative Bera-
tung zu, damit wir sehr schnell zu richtigen Ergebnissen
auch in der Gesetzgebung in Deutschland kommen können.
Meine Damen und Herren, ein Land wie Deutschland,
zweitgrößter NATO-Partner, bevölkerungsreichstes Land
der Europäischen Union, in der geopolitischen Mitte
Europas gelegen, muss auch seine internationale Verant-
wortung wahrnehmen. Absolute Priorität für Sicherheit
nach innen und außen, strategische Koordinierung der
Sicherheitsaufgaben in einem Aufgabenspektrum, das von
Prävention bis hin zu massiven militärischen Schlägen zu-
sammen mit den Bündnispartnern auch in entfernten Kri-
senregionen reicht darauf müssen wir uns vorbereiten:
politisch, materiell, personell und natürlich auch finanziell.
Wenn der amerikanische Präsident im Kongress ein
Maßnahmenpaket in der Größenordnung von 20 Milliarden
Dollar beantragt und innerhalb weniger Stunden 40 Milli-
arden Dollar bewilligt bekommt, dann ist dies ein deutli-
ches Signal auch an die Finanzpolitiker der Länder der
freien Welt, ihrerseits neue Prioritäten zu setzen und auch
in den öffentlichen Haushalten einen Beitrag zu leisten.
Diese Entscheidungen erfordern eine neue Setzung der
Prioritäten. Wir bieten Ihnen, Herr Bundeskanzler, dabei
eine nationale Allianz der Entschlossenheit an.
Sie können sich, auch wenn es um unpopuläre Entschei-
dungen geht, auf unsere Zustimmung, auf unsere Unter-
stützung verlassen.
Denn wir wissen: Wenn wir weiter in einer freien und offe-
nen Gesellschaft leben wollen, wenn Zivilisation und
Humanität in aufgeklärten Gesellschaften westlicher Prä-
gung die Lebensgrundlage auch unserer Kinder sein sollen,
wenn die Grundwerte unserer christlich-jüdischen, unserer
abendländischen Kultur weiter gelten sollen, dann dürfen
Terroristen unseren Lebensrhythmus nicht bestimmen.
Wir stehen vor einer wahrhaft historischen Herausfor-
derung. Die Freiheit muss jetzt neu verteidigt werden.
Ihren Bedrohungen muss offen entgegengetreten werden.
Den Feinden unseres freiheitlichen Gesellschaftsmodells
muss mit Augenmaß, aber unmissverständlich entgegen-
getreten werden. Der 11. September 2001 ist deshalb das
Ende aller Zweideutigkeiten.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 187. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2001
Friedrich Merz
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Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auch auf
das eingehen, was Sie, Herr Bundeskanzler, zum Thema
der Zuwanderung und der Einwanderung gesagt haben.
Die Umstände dieses Attentats zeigen aus meiner Sicht
einmal mehr, wie dringend wir ein umfassendes Konzept
zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung brau-
chen, das auch den Erfordernissen der inneren Sicherheit
gerecht wird und das vor allem die Integration der in
Deutschland lebenden Ausländer fördert.
Wer in diesem Zusammenhang auf Zeit spielt, der leug-
net die notwendigen Konsequenzen, die auch schon vor-
her zu ziehen gewesen wären. Wir als CDU/CSU-Bun-
destagsfraktion haben jedenfalls als erste Fraktion in
diesem Haus bereits vor zwei Jahren ein umfassendes
Konzept zur Integration vorgelegt. Noch vor der Som-
merpause haben wir unsere Vorschläge in einem umfas-
senden Antrag Umfassendes Gesetz zur Steuerung und
Begrenzung der Zuwanderung sowie zur Förderung der
Integration jetzt vorlegen präzisiert. Wir wollen noch in
dieser Legislaturperiode zu einer Lösung kommen und
bieten Ihnen auch hierzu die Zusammenarbeit an.
Bereits wenige Stunden nach den Attentaten haben wir
hier in diesem Hause eine erste Aussprache miteinander
geführt. Sie, Herr Bundeskanzler, haben am 12. Septem-
ber in Ihrer Regierungserklärung im Deutschen Bun-
destag den Vereinigten Staaten von Amerika die uneinge-
schränkte Solidarität Deutschlands zugesichert. Diese
Ihre Worte sind vor allem in Amerika auf große Zustim-
mung gestoßen; sie haben nicht nur in Washington große
Aufmerksamkeit gefunden.
Uneingeschränkte Solidarität darf und wird sich nicht
in Worten und Bekundungen des Mitgefühls und der
Trauer, so wichtig diese auch waren, erschöpfen. Den
Worten müssen Taten folgen. Es wird Schwierigkeiten,
auch Rückschläge dabei geben. Aber gerade dann wird
sich Solidarität erst wirklich beweisen. Der sichere
Freund bewährt sich in unsicherer Zeit. Deutschland muss
jetzt Kurs halten und darf keine Zweifel zulassen, auch im
Interesse unseres Landes und seiner Menschen.
Wenn Sie, Herr Bundeskanzler, Ihre Politik in diesem
Sinne fortsetzen, wenn Sie zu der zum Ausdruck ge-
brachten Solidarität auch weiterhin uneingeschränkt ste-
hen, dann werden Sie für diese Politik auch in Zukunft
in den nächsten Tagen, in den nächsten Wochen und in
den nächsten Monaten die uneingeschränkte Unterstüt-
zung unserer Fraktion finden.
Herzlichen Dank.