Herr Präsident! Verehrte Kol-
leginnen und Kollegen! Nach dieser einwöchigen Rede-
schlacht möchte man eigentlich mit Goethes Faust ausru-
fen: „Hier steh‘ ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als
wie zuvor.“
Wenn ich resümiere, dann stelle ich fest, dass in dieser
Woche seit Dienstag Behauptungen hin- und herge-
schleudert worden sind; es gab eine Art Pingpongspiel.
Ich vermisse Nachdenklichkeit, Erkenntnisgewinn und
irgendeine Veränderung an diesem Haushalt, die wir viel-
leicht im Laufe dieser Woche noch zustande gebracht hät-
ten. Daher werden wir ihm in seiner Gänze auch nicht zu-
stimmen – aber nicht, Herr Kollege Poß – er ist wohl im
Moment nicht im Saal –, wegen einer vermeintlichen So-
zialdemagogie, die Sie bei der PDS glaubten orten zu
müssen. Ich kann Ihnen nur raten: Fügen Sie dem verba-
len Missgriff von Herrn Merz jetzt nicht einen neuen
hinzu!
Das Niederschmetterndste für all jene, die – wenn sie
denn durchgehalten haben – die ganze Debatte verfolgt
haben, war aber wohl, dass CDU/CSU und F.D.P., wären
sie heute an der Regierung, vermutlich vieles von dem,
was die neue Koalition gemacht hat, auch gemacht hätten.
Die SPD und die Bündnisgrünen hätten das, was sie heute
als Regierungsfraktionen mit Inbrunst verteidigen, zu
ihren Oppositionszeiten gewiss mit scharfem Protest
zurückgewiesen und als Sozialraub bezeichnet.
Ich finde, wir muten der Öffentlichkeit da allerhand zu.
Die Orientierung wird immer schwieriger.
Was hat sich in dieser Woche alles ereignet? Manchem
war es äußerst wichtig, zu klären, ob sich Finanzminister
Eichel zu Recht oder zu Unrecht als Sparkommissar be-
zeichnen darf. Ich denke, das interessiert in diesem Land
niemanden. Wichtig ist doch, wo und wofür gespart wird.
Vom Sparwillen der Koalition war beispielsweise im
Verteidigungsetat nichts zu spüren.
Da wollte die CDU/CSU sogar noch draufsatteln.
Den Steuerverschwendungshinweisen des Bundes-
rechnungshofes wurde viel zu wenig nachgegangen.
Wenn man diesen Hinweisen stärker gefolgt wäre, dann
hätte man noch andere Finanzierungsquellen entdeckt.
Mitten in der Woche wurde uns mitgeteilt, dass sich die
Fraktionsspitzen von SPD und Bündnisgrünen darauf ge-
einigt haben, dass der Bund so mir nichts, dir nichts zwei
Drittel des EXPO-Defizits übernimmt. Im Haushalt steht
das noch ganz anders, und zwar ohne dass geklärt worden
wäre, wer für die bei der EXPO entstandene Finanzmisere
verantwortlich ist.
Angesichts des Tempos, mit dem beispielsweise – ich
nenne nur dieses eine Beispiel – das EXPO-Problem
gelöst wird, empört es geradezu, dass die Lösung anderer
Probleme, über die seit Jahren debattiert wird, auf die
lange Bank geschoben wird, Problemfälle, in denen es um
berechtigte soziale Ansprüche von Menschen und nicht
durch Fehlkalkulationen verursachte Defizite bei be-
stimmten Institutionen geht. Ich meine zum Beispiel die
Gewährung von Anpassungsgeld für Untertageberg-
leute in den neuen Ländern,
die ähnlich wie die westdeutschen Steinkohlekumpels
durch Strukturkrisen unschuldig ihre Arbeit verloren
haben bzw. noch verlieren werden. Bereits 1996, also
noch zu Zeiten der früheren Koalition, und 1999, also zu
Zeiten der jetzigen Koalition, haben wir das im Deutschen
Bundestag per Antrag thematisiert – leider erfolglos. In
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2000
Antje Hermenau
13499
diesem Jahr haben wir dieses Thema mehrfach in den
Ausschusssitzungen angesprochen und dazu Anträge
gestellt. Mit fadenscheinigen und hinhaltenden Argu-
menten sind unsere Anträge beschieden worden. Es wurde
zwar persönliche Sympathie für unser Anliegen geäußert,
aber mit persönlichen Sympathiebekundungen können
die Kumpels ihre Probleme nicht lösen. Sie brauchen tat-
sächlich praktische Lösungen.
Nachdem jetzt so viel persönliche Sympathie geäußert
worden ist – alle Haushaltsausschussmitglieder der F.D.P.
haben unserem Antrag zugestimmt –, zähle ich jetzt
darauf, dass wir das Problem alsbald gemeinsam lösen
können.
Regierung und Koalitionsfraktionen rühmten sich in
der Haushaltsdebatte, den Reformstau aufgelöst zu ha-
ben: Steuerreform vorangebracht, Gesundheitsreform
durchgeführt, Rentenreform vorbereitet und Haushalts-
konsolidierung vorangebracht. Ich finde, wenn der aufge-
löste Reformstau alles ist, was Sie vorzuweisen haben,
dann ist das noch lange kein Gütesiegel für Ihre Politik,
wenn nicht gleichzeitig die sozialen Wirkungen in Gänze
bilanziert werden. Die mehrfach in dieser Woche den Fa-
milien mit niedrigen und mittleren Einkommen vorge-
rechneten Entlastungen durch die Steuerreform werden
doch durch höhere Hort- und Kitagebühren, durch stei-
gende Versicherungsbeiträge, steigende Verkehrstarife,
steigende Heizkosten und durch Zuzahlungen für Ge-
sundheitsleistungen oft mehr als kompensiert. Das ist die
Wahrheit!
Hätten Sie beispielsweise das steuerfreie Existenzmini-
mum rascher angehoben, wie wir das gefordert haben,
und hätten Sie dafür den Spitzensteuersatz weniger stark
gesenkt, dann hätten Sie der Volkswohlfahrt insgesamt
mehr gedient.
Wie soll den 20- bis 40-jährigen jungen Leuten, die
schon länger arbeitslos sind und kaum Aussicht auf Aus-
übung einer existenzsichernden Arbeit haben, denn, wie
es Herr Riester wünscht, die private Altersvorsorge
schmackhaft gemacht werden? Das geht doch irgendwie
nicht zusammen.
Unter den Bedingungen voranschreitender Globalisie-
rung gebührt gerade auch den Kommunen eine Stärkung,
damit die Menschen dort, wo sie wohnen, das Gefühl be-
kommen, geborgen zu sein und gebraucht zu werden.
Wie geht das denn mit der Tatsache zusammen, dass die
rot-grüne Steuerreform den finanziellen Spielraum von
Ländern und Kommunen weiter einengt? 2001 werden
die Länder 19 Milliarden DM weniger Steuern einneh-
men. Diese Mindereinnahmen werden durch konjunktur-
bedingte Mehreinnahmen nicht wettgemacht. Die Länder
werden darauf mit Kürzungen der Zuweisungen an die
Gemeinden reagieren. Dadurch kommt es zu der absurden
Situation, dass sich der Bund zwar wegen gestiegener In-
vestitionsausgaben auf die Schulter klopfen kann, die
Länder und Kommunen aber kein Geld mehr haben,
um Schulen, Kitas oder Altenheime zu sanieren.
Diese Situation ist absurd.
Zu fragen bleibt auch, warum der Reformstau auf an-
deren Gebieten nicht zum Nachdenken anregt. Wann end-
lich wird die Schere zwischen Verteilung und Belastung
von Einkommen und Vermögen ernsthaft thematisiert?
Wir warten immer noch darauf, dass Sie Ihre Ankündi-
gung, die Erbschaftsteuer zu novellieren, erfüllen. Auch
unter Rot-Grün wächst leider die Kluft zwischen Arm und
Reich. Mit der Teilhabe am Haben und Sagen, wie es der
Kanzler gefordert hat – grundsätzlich kann man ihm da
nur Recht geben –, sieht es leider bei vielen Menschen
noch sehr mau aus.
Wann wird damit begonnen, den Berg an gesellschaft-
lich notwendigen Tätigkeiten, zum Beispiel im Bereich
der Kinder- und Jugendarbeit, im Bereich humaner
Dienstleistungen, die heute kaum entlohnt werden, durch
entsprechende Finanzierungsmodelle schrittweise zu ei-
ner vollwertigen Erwerbsarbeit umzugestalten? In diesen
Bereichen sind doch Verkrustungen entstanden, die auf-
gelöst werden müssen. Stattdessen macht Rot-Grün die
Senkung der Nettokreditaufnahme sozusagen zu einem
Glaubensbekenntnis. Wir wissen um die Schulden- und
Zinslast, die auf die jungen Generationen zukommt. Aber
auch ungelöste ökonomische, soziale und ökologische
Probleme belasten künftige Generationen.
– Ich komme zum Schluss, Herr Präsident.
Mein Resümee der Arbeit im Haushaltsausschuss lau-
tet: Es gab dort viel Schatten, aber auch viel, was mich ge-
freut hat. In guter Erinnerung habe ich die in der Regel
straffe Debattenführung, ein in der Regel sachliches
Klima und kollegiales Verhältnis und vor allem die Hilfs-
bereitschaft und die stete Umsicht der Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter im Sekretariat des Haushaltsausschusses.
Dafür bedanke ich mich sehr herzlich im Namen meiner
Fraktion.