Rede von
Nicolette
Kressl
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Zunächst eine Anmerkung zu
Ihnen, Herr Jacoby. Ich finde es schon rührend, wie Sie
sich nun plötzlich um Sozialhilfeempfängerinnen und
Sozialhilfeempfänger kümmern,
nachdem Sie als Koalition diese Gruppe über Jahre ver-
unglimpft haben, indem Sie über Lohnabstand und über
zu hohe Leistungen und Leistungsmißbrauch diskutiert
haben.
Peter Jacoby
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 12. Sitzung. Bonn, Freitag, den 4. Dezember 1998 709
(C)
(D)
Zweitens. Familien steuerlich zu entlasten ist eines
der entscheidenden Ziele sozialdemokratischer Politik.
Für uns und diese Regierung ist diese Aufgabe vor-
dringlich, zum einen weil wir Schritt für Schritt die Be-
lastungen zurückführen müssen, die Sie den Familien
bei Steuern und Abgaben über Jahre hinweg aufge-
brummt haben, und zum anderen weil für uns die Fami-
lien zu den Leistungsträgern in der Gesellschaft gehö-
ren, die ein Recht auf eine gerechte und leistungsge-
rechte Besteuerung haben.
Das Gesetz, das wir heute abschließend beraten, trägt
dazu einen wichtigen Teil bei: mit der Erhöhung des
Kindergeldes, mit dem niedrigeren Eingangssteuersatz –
übrigens berücksichtigen wir dabei endlich die Men-
schen, die Sie bei der Entlastung völlig außen vor gelas-
sen haben, als der Solidaritätszuschlag gesenkt wurde –
und mit dem höheren Grundfreibetrag. Damit bleiben
wir in der Kontinuität unserer Politik.
Die Opposition bleibt übrigens ebenfalls in der Kon-
tinuität ihrer Politik.
Sie haben nämlich schon immer die Familien mit Wor-
ten hochgehalten, dann aber fast nichts für ihre Entla-
stung getan.
Zu Ihrer Kontinuität in diesem Bereich gehört auch,
daß Sie erst vor kurzem ganz verschämt den Zehnten
Jugend- und Kinderbericht verstecken mußten, weil in
diesem Bericht deutlich geworden ist, was Sie für die
Familien nicht getan haben.
In diesem Bericht ist deutlich geworden, daß wir hier
nicht über Belastungsverteilungen spekulieren müssen.
Vielmehr hat Ihre Politik dazu geführt, daß Familien in
diesem Land erhebliche Nachteile haben. Schon allein
aus diesem Bericht ergibt sich die Notwendigkeit des
Gesetzes, über das wir gerade diskutieren.
Trotz dieser Fakten erzählen aber immer wieder Red-
ner und Rednerinnen der jetzigen Opposition, manchmal
Herr Thiele, manchmal Frau Frick, was sie alles schein-
bar für die Familien getan haben.
Die Wirklichkeit aber ist eine andere, Herr Ramsauer.
Die SPD hat Sie 1995 aus der Opposition heraus regel-
recht dazu zwingen müssen, die Kindergelderhöhung
vorzunehmen.
Wir alle hier erinnern uns doch noch an diese lächerli-
chen 30 DM, die Herr Waigel für die Erhöhung des
Kindergeldes für das zweite Kind übrig haben wollte.
– Ja, später waren es 30 DM.
Und freiwillig haben Sie das alles nicht gemacht.
Es gab doch ein Bundesverfassungsgerichtsurteil zur
Steuerfreistellung des Existenzminimums, das Sie um-
setzen mußten.
Mit dieser Umsetzung haben Sie sich dann auch noch
Zeit gelassen, bis wir Sie endlich dazu getrieben haben.
Sie werden sich auch noch daran erinnern, daß Sie
ohne die SPD im Bundesrat die bereits beschlossene Er-
höhung des Kindergeldes auf 220 DM wieder einkassiert
hätten. Das ist eine ganz delikate Form der Steuererhö-
hung, und die haben Sie dann ja auch umgesetzt.
Ihre Begründung war damals: „Wir hätten es ja gerne
gemacht, aber die Haushaltslage ließ es einfach nicht
zu.“ Sie wissen ganz genau, daß in dem Verfassungsge-
richtsurteil eindeutig steht, die Haushaltslage reiche als
Rechtfertigung nicht aus, um Familien nicht ausreichend
steuerfrei zu stellen. Genau darum geht es heute: um
eine verfassungsgemäße und leistungsgerechte Besteue-
rung von Familien.
Was ich an Ihrer Argumentation übrigens für poli-
tisch sträflich halte, ist: Mit Ihrem scheinbaren Bedauern
– „Wir würden ja so gerne, aber wir können nicht!“ –
erwecken Sie den Eindruck, als ginge es bei dieser Er-
höhung des Kindergeldes um kleine Wahlgeschenke, so-
zusagen Almosen. Aber dafür, den Spitzensteuersatz auf
39 Prozent zu senken, hätten Sie Geld gehabt.
Mit diesem Gesetzentwurf dagegen machen die Re-
gierungsfraktionen deutlich, daß wir wissen, um was es
geht: um gerechte Besteuerung und darum, über die Er-
höhung des Kindergeldes die Leistung von Familien ein
Stück anzuerkennen. Daß Sie das anscheinend immer
noch nicht richtig kapiert haben, ist mir jetzt erst wieder
in den Verhandlungen im Finanzausschuß klargewor-
den. Statt um Inhalte zu diskutieren – dazu haben Sie
fast nichts gesagt –, haben Sie sich in Geschäftsord-
nungsdebatten geflüchtet.
Sie konnten nicht einmal in der Sache abstimmen, weil
Sie mit der Nase immer noch in den Geschäftsordnungs-
akten steckten.
Nicolette Kressl
710 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 12. Sitzung. Bonn, Freitag, den 4. Dezember 1998
(C)
Bei dem wenigen Inhaltlichen, das dann kam, wurde
wieder deutlich: Für Sie ist Kindergeld ein Bonbon, das
man dann verteilt, wenn noch ein bißchen Geld übrig ist.
Was für ein falsches Verständnis von gerechter Besteue-
rung ausgerechnet bei Ihnen!
Es geht nämlich nicht um Geschenke, sondern darum,
den Familien netto das zu lassen, was sie sich erarbeitet
haben und was ihnen entsprechend auch zusteht.
Wir legen mit diesem Gesetzentwurf Schritte vor, die
dazu hinführen, die ungleiche Lastenverteilung von Fa-
milien und von Menschen ohne Kinder, die seit langem
größer geworden ist, auszugleichen. Daß dies nötig ist,
macht der Kinder- und Jugendbericht sehr deutlich – ich
zitiere daraus ein kleines Stück –:
Familien brauchen gesicherte und vorhersehbare
Rahmenbedingungen für ein Leben ohne andauern-
de Sorge um eine Verschlechterung der familialen
Existenzbedingungen.
Jetzt hören Sie gut zu:
Gegen diesen Grundsatz ist in den vergangenen an-
derthalb Jahrzehnten
– das sind 15 Jahre, komisch, fast die Dauer Ihrer Regie-
rungszeit –
immer wieder verstoßen worden, weil viele Ände-
rungen von Steuer- und Versicherungsregelungen
zu Lasten der Familien gegangen sind.
Wir haben Sie als Opposition immer wieder auf die-
ses Problem hingewiesen.
Das hat überhaupt nichts geholfen. Für uns ist es selbst-
verständlich und konsequent, daß wir unsere Mehrheiten
jetzt dazu nutzen, daran endlich etwas zu ändern.
Behaupten Sie also nicht, es gebe keine steuerlichen
Entlastungen. Es kann ja sein, daß die steuerlichen Ent-
lastungen nicht dorthin gehen, wo Sie sie gerne hätten.
Aber daß uns diese Art der Schwerpunktsetzung nicht
weitergebracht hat, wird an den Arbeitslosenzahlen und
an der Steuer- und Abgabenbelastung deutlich, die Sie
zurückgelassen haben.
Es mag auch sein, daß Ihnen unsere Prioritäten nicht ge-
fallen. Aber glauben Sie tatsächlich, Sie hätten das Al-
leindefinierungsrecht dafür, wer in dieser Gesellschaft
Leistung erbringt und wer leistungsgerecht besteuert
wird? Das ist nicht der Fall.
Dieser erste Entlastungsschritt bewirkt auch, daß zum
Beispiel eine Familie mit zwei Kindern mit einem zu
versteuernden Einkommen von 60 000 DM nach Split-
tingtabelle eine steuerliche Entlastung von fast 1 200
DM im Jahr bekommt. Was also soll das Gezetere, es
werde nicht entlastet?
Klar ist auch, daß dies ein erster Schritt in einem Ge-
samtpaket ist, in dem weiter entlastet wird, übrigens
natürlich auch bei den Körperschaftsteuersätzen und den
Sätzen für gewerbliche Einkünfte. Für uns ist es selbst-
verständlich, daß die Rahmenbedingungen für den Kon-
sum und die Rahmenbedingungen für Investitionen ver-
bessert werden müssen. Aber für uns ist auch selbstver-
ständlich, daß sich diejenigen, die starke Schultern ha-
ben, nicht der Finanzierung dieser Gesellschaft und ihrer
Aufgaben entziehen können. Wenn die Aufgaben wieder
von mehr Schultern getragen werden, dann können wir
die Lasten auf jeder einzelnen Schulter Schritt für
Schritt reduzieren. Das ist die erkennbare Schrittfolge,
für die dieses Gesetz den ersten Schritt darstellt. Wir
werden diese Schritte sehr konsequent gehen.
An dieser Grundlinie ändern natürlich auch Diskus-
sionen um die Ausgestaltungsdetails nichts. Auf diesem
Weg wissen wir sehr genau zwischen denen, die berech-
tigte Argumente vortragen – dazu ist der politische
Dialog ja auch da –, und denen zu unterscheiden, die
laut zetern können, weil sie sowieso schon starke
Schultern haben und damit die entsprechende Möglich-
keit, besonders lautstark zu zetern.
Dies ist unser erster Schritt zur Steuerentlastung, die wir
mit Entlastungen in anderen Bereichen verzahnt haben.
Das war doch auch Ihr entscheidender Fehler. Sie re-
den von Entlastungen in 1996 und vergessen, daß Sie in
Wirklichkeit belastet haben. Sie haben den Menschen
andere Belastungen durch die Erhöhung des Rentenver-
sicherungsbeitrags, durch Zuzahlungen im Gesundheits-
bereich aufgedrückt. Jetzt müssen Sie hier nicht argu-
mentieren, daß das für die Binnennachfrage nichts
bringt. Natürlich nicht; denn Sie haben im Endeffekt
zwar steuerlich entlastet, aber insgesamt belastet. Auch
darüber sollten wir nachdenken.
Weil wir keine Wundermittelchen versprechen wol-
len, konzentrieren wir die Entlastungen in diesem ersten
Schritt auf das, worauf es ankommt. Es ist auch politi-
sche Aufgabe zu sagen, wenn es nicht Geschenke für
alle gibt, dann schauen wir, wo sie hin müssen. Das ma-
chen wir auch.
Dieser erste Schritt ist ein richtiger und passender
Teil in dem Mosaik, das wir für eine sinnvolle und ge-
rechte Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik zusam-
menfügen. Sie, meine Damen und Herren von der Oppo-
sition, täten gut daran, dieses Gesetz nicht abzulehnen.
Danke schön.
Nicolette Kressl
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 12. Sitzung. Bonn, Freitag, den 4. Dezember 1998 711
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