Rede von
Dr.
Liesel
Hartenstein
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!
In der Debatte zur Regierungserklärung, Kollege Fischer, im November 1994, hat Frau Minister Merkel Erstaunliches verkündet:
Wir werden das Prinzip der umweltgerechten und nachhaltigen Entwicklung Schritt für Schritt zum Maßstab unseres Handelns machen.
Das war ein gewichtiges Wort. Das ließ Hoffnungen aufkommen.
Nur: Heute, fast ein Jahr später, habe ich keine einzige Silbe davon gehört, wie man diese Absicht umgesetzt hat oder versucht hat umzusetzen. Keine einzige Silbe!
- Ich habe sehr gut zugehört!
Im Gegenteil, wenn wir heute zurückblicken, dann muß ich sagen: Die Hoffnungen vom letzten Jahr sind zerstoben. Es macht sich - trotz all dem, was Frau Minister vorgetragen hat - Enttäuschung breit. Von einem wirklichen Umsteuern zu einer nachhaltigen Entwicklung kann überhaupt keine Rede sein.
Im Prinzip ist die Umweltpolitik dieser Bundesregierung durch Stagnation gekennzeichnet, und zwar durch totale Stagnation.
Frau Minister Merkel, ich will gar nichts von dem in Abrede stellen, was Sie hier in bezug auf die neuen Länder vorgetragen haben. Dort ist viel geschehen. Dies ist alles in Ordnung. Aber ob es sich um Rauchgasentschwefelungen handelt oder um was auch immer: Wir müssen doch wissen, hier geht es ausschließlich um nachgeschalteten Umweltschutz, der zu reparieren versucht, was vorher durch unsere Wirtschaftsweise angerichtet worden ist.
Sie haben Umwelt und Verkehr genannt. Das Dreiliterauto wird angestrebt - in Ordnung. Katalysator, Senkung des Benzolgehalts - das sind alles richtige Ziele. Aber strukturell verändert das gar nichts; die Umweltschäden, die durch den Verkehr entstehen, werden weiter zunehmen.
Dr. Liesel Hartenstein
Hier habe ich keinerlei konzeptionelle Vorstellungen von Ihrer Seite gehört. Ich muß das einfach so sagen, weil es aus meiner Sicht Tatsache ist. Solange das Waldsterben immer schlimmere Ausmaße annimmt, solange nichts für den Klimaschutz getan wird,
sollte man besser das Wort „nachhaltige Entwicklung" nicht mehr in den Mund nehmen.
Frau Kollegin Homburger, ich rechne damit, daß der nächste Redner der Koalition mir sagt: und haben wir doch eine Wärmeschutzverordnung! Jawohl, die haben wir.
Aber erstens kam sie viel zu spät, zweitens verlangt sie lediglich eine Reduzierung um 30 % beim Energieverbrauch von Gebäudeheizungen, und dies nur für Neubauten, obwohl technisch viel mehr möglich wäre,
und drittens ist das nur ein winziger Schritt, wirklich nur ein winziger Schritt und kein echter Durchbruch zum Klimaschutz. Das ist unsere Beurteilung.
Ich denke, die Bundesregierung sollte zwei Grundwahrheiten beherzigen, zwei Erfahrungen, die wir alle miteinander gemacht haben:
Erstens. Umweltschutz ist kein Dekorationsstück, das man sich in guten Zeiten ans Revers heftet und das man nach Belieben verschämt wieder ablegt, wenn die Zeiten wirtschaftlich schlechter werden. Nein, Umweltpolitik muß integraler Bestandteil einer vernünftigen Wirtschaftspolitik sein. Das ist bei dieser Bundesregierung nicht der Fall,
Zweitens. Schadensreparatur ist allemal teurer als Schadensvermeidung. Deshalb setzen wir voll auf Vermeidung. Ich habe den Eindruck, die Bundesregierung hat dieses schlichte Einmaleins der Ökologie immer noch nicht gelernt oder es schon wieder vergessen. Die Verbraucher können ein Lied davon singen, wie es ist, wenn Schadensreparaturen Geld kosten, z. B. wenn sie ihre Wasserrechnung erhalten. Die Verschmutzung der Flüsse und die Verseuchung des Grundwassers durch Nitrate und Pflanzenschutzmittel usw. verursachen enorme Kosten bei der Wasseraufbereitung. Das muß der Verbraucher bezahlen, wenn er will, daß sein Trinkwasser sauber ist.
Nur wenn wir endlich einsehen, daß wir nicht mehr Naturgüter verzehren, nicht mehr Wasser verbrauchen, nicht mehr Bäume fällen dürfen, als die Natur wieder bereitstellen kann, wird es auch gelingen, die ökonomischen, nicht nur die ökologischen
Lebensgrundlagen für uns und für die zukünftigen Generationen zu bewahren. Erst dann sind wir auf dem richtigen Weg. Hehre Formeln allein helfen nicht weiter.
Ich möchte versuchen, das Konzept für den ökologischen Umbau sozusagen auf die praktische Ebene herunterzudeklinieren. Das heißt dann doch nichts anderes, als daß wir alle Produktionsformen und alle Verhaltensweisen unterstützen müssen, die a) weniger Rohstoffe verbrauchen, b) weniger Abfälle erzeugen, c) weniger Energie verschwenden, d) weniger Schadstoffe emittieren und e) weniger Boden verbrauchen, sprich: weniger Boden versiegeln. Im Gegenzug müssen wir alle umweltschädlichen Nutzungsformen verteuern. Das verstehen die Leute übrigens auch, wenn man offen mit der Bevölkerung darüber redet.
Das geht nicht ohne die Wirtschaft und auch nicht gegen die Wirtschaft; das ist klar. Aber der Staat muß endlich die richtigen Rahmenbedingungen dafür setzen, und er muß im selben Atemzug für den sozialen Ausgleich sorgen. In diesen Kernfragen bleibt die Bundesregierung bis heute sprachunfähig und handlungsunfähig.
Ich habe nicht nur von fehlender Langzeitperspektive, sondern auch von Stagnation im praktischen Handeln gesprochen. Das gilt auch für das Ordnungsrecht, Frau Minister. Einige Maßnahmen sind wirklich überfällig. Es sind Versäumnisse in den letzten Jahren zu konstatieren. Ich will nur zwei Beispiele nennen.
Erstes Beispiel: 1996 tritt das Kreislaufwirtschaftsgesetz in Kraft. Fast jeder zweite oder dritte Paragraph enthält Verordnungsermächtigungen. Besonders dringlich, ja überfällig wäre z. B. eine genaue Definition von Abfällen und Wirtschaftsgut, ebenso eine genaue Abgrenzung von werkstofflicher und energetischer Verwertung. Hier ist unbedingt eine Klärung nötig, denn es gibt es eine Menge Schlupflöcher. Heute wandern Hunderttausende Tonnen Kunststoffverpackungen in die Hochöfen der Stahlindustrie, Überschrift: Verwertung. So war das in der Verpackungsverordnung nicht gedacht.
Das heißt, hier muß Klarheit geschaffen werden. Heute wird nämlich der Verbraucher in der falschen Vorstellung gehalten, er bezahle mit seinem Obolus für die Rückführung der Stoffe in den Wirtschaftskreislauf. Das ist jedoch nicht der Fall.
Im übrigen, Frau Homburger, war es höchst interessant - das muß ich doch einflechten -, daß gestern in der Mitgliederversammlung der Arbeitsgemeinschaft für Umweltfragen, der Vertreter der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Politik und der Umweltverbände angehören, die fehlenden Verordnungen
Dr. Liesel Hartenstein
in erster Linie von der Wirtschaft reklamiert wurden, nicht von den Umweltverbänden. Das bedeutet, die Wirtschaft ist verunsichert, weil die Regierung ihre Hausaufgaben schlicht nicht macht.
- Wir haben es doch miteinander gemacht. Sie wissen genausogut wie ich, daß Art. 19 längst in Kraft ist. Aber die Verordnungen sind nicht da.
Zweites Beispiel - meine Redezeit geht zu Ende, und Sie sind sicherlich gleich an der Reihe -: Seit 1991 schmort der Entwurf für eine Mehrwegverordnung in den ministeriellen Schubladen. Inzwischen breiten sich die Einwegdosen sintflutartig aus, insbesondere im Bereich Bier. 21/2 Milliarden Biereinwegdosen überschwemmen heute den deutschen Getränkemarkt. Das ist ziemlich genau die Hälfte aller Getränkedosen überhaupt, auch für Erfrischungsgetränke, die in Deutschland auf dem Markt sind. Nicht umsonst haben die Umweltminister der neuen Länder vor wenigen Tagen die Notbremse gezogen. Sie verlangen ein Pflichtpfand für Einweggetränkedosen. Ich frage die Bundesregierung, wann sie endlich vom § 7 der Verpackungsverordnung Gebrauch machen will und wann sie endlich die überfällige Mehrwegverordnung erlassen will.
Offensichtlich ist sie nicht fähig, die wirtschaftlichen Folgen der Einwegschwemme zu erkennen. Eine Kleine Anfrage der SPD-Fraktion, die im August beantwortet wurde, enthält z. B. die Frage nach den Auswirkungen auf die kleineren und mittelständischen Brauereien. In verblüffender Naivität ist da zu lesen, die Bundesregierung könne nicht erkennen, daß durch den Vormarsch der Einwegdosen Konzentrationstendenzen gefördert würden und daß ein Verdrängungswettbewerb im Brauereibereich stattfinde. - O heilige Einfalt! möchte ich sagen, wenn es nicht eine Blasphemie wäre.
Von knapp 1 300 Brauereien in der Bundesrepublik sind 90 % mittelständische Betriebe. Sie haben regionale Versorgungsgebiete, sie haben kurze Transportwege, sie füllen fast ausschließlich in Mehrwegpfandflaschen ab: alles umweltfreundlich. Je mehr Einwegdosen aber die Supermärkte und Tankstellen überschwemmen - zu Dumpingpreisen wohlgemerkt -, desto akuter wird die Existenzgefährdung für alle diese Betriebe, und desto akuter wird die Gefahr für die Arbeitsplätze, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Die Bundesregierung aber schaut mit geschlossenen Augen zu, bis das Rad nicht mehr zurückzudrehen ist.
Liebe Kollegen vor allen Dingen von der F.D.P.,
was Sie hier zulassen, ist Monopolisierung in Reinkultur,
nach dem Motto: Die Großen fressen die Kleinen. Das heißt, es gibt weniger Markt, es gibt weniger Wettbewerb. Nach Ihrer eigenen Interpretation verstehen Sie sich doch als Hüter des Wettbewerbs. Wir kämpfen aber dafür. Das ist der Unterschied.
- Für den Wettbewerb.
Das waren ein paar kleine, aber typische Beispiele für die Erstarrung der Politik. Ich kann nur sagen: Das alles ist gerade nicht der Weg zu einer nachhaltigen Entwicklung, den Frau Merkel versprochen hat. Er führt pfeilgerade in die Gegenrichtung. Er zementiert nämlich die Verschwendungswirtschaft.
Wir fordern Sie auf, endlich umzukehren. Wir brauchen Zukunftsorientierung. Wir haben unser Konzept dafür auf den Tisch gelegt. Es ist höchste Zeit, darüber zu reden. Wir laden Sie herzlich dazu ein.
Danke schön.