Rede von
Dr.
Norbert
Lammert
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der rhetorische Aufwand dieser Auseinandersetzung und der verbale Dissens, der von einem Teil der Redner der Opposition geradezu lustvoll zelebriert worden ist, steht in einem schwer begreiflichen Mißverhältnis zu den völlig unstreitigen Prinzipien, um die es hier geht: erstens Tarifautonomie, zweitens Streikrecht, in diesem Zusammenhang selbstverständlich auch Streikfähigkeit der Gewerkschaften — weil ansonsten das Streikrecht zu einem nostalgischen Erinnerungsposten verkommen würde — und drittens Neutralitätspflicht des Staates.
Ich denke, daß in diesen drei Prinzipien sämtliche demokratischen Kräfte — nicht nur, aber insbesondere — in diesem Hause völlig miteinander übereinstimmen. Nicht ob es eine Neutralitätspflicht des Staates geben soll, sondern wie diese Neutralitätspflicht des Staates unter den gegebenen Bedingungen und unter den möglichen Ausprägungen von Tarifauseinandersetzungen aufrechterhalten und gesichert werden kann, ist der Gegenstand dieser Debatte.
Die Klärung genau dieser Frage liegt unbestreitbar im unmittelbaren Interesse sowohl der Wirtschaft wie der Arbeitnehmer.
Eigentlich, Herr Kollege Cronenberg, sollte der Wortlaut des § 116 AFG deutlich genug sein, durch die Gewährung von Arbeitslosengeld dürfe nicht in Arbeitskämpfe eingegriffen werden.
Ich teile insofern persönlich die Auffassung des Kollegen Rappe, daß eigentlich nicht der § 116 AFG das Problem sei, sondern daß es eigentlich um die Neutralitätsanordnung der Bundesanstalt für Ar-
13694 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. Dezember 1985
Dr. Lammert
beit von 1973 gehe. Dies ist in der Tat meine Einschätzung des Problems.
Aber gerade durch den Verlauf der Tarifauseinandersetzung des letzten Jahres ist genau dies in Streit geraten, und zwar nicht nur in den Streit zwischen den Tarifpartnern, sondern in einen Rechtsstreit. In genau diesem Rechtsstreit ist auch der Staat selbst durch die rechtliche Anfechtung der Verfügung des Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit einbezogen worden. Genau dies, Herr Kollege Vogel, markiert den Handlungsbedarf.
Weder den Unternehmen noch den von Streik und Aussperrung betroffenen Arbeitnehmern ist die Rechtsunsicherheit — und damit verbunden auch die Einkommensunsicherheit bei Zahlung unter Vorbehalt — und die bis zu einer letztinstanzlichen Entscheidung sich über Jahre hinwegschleppende Unklarheit darüber zuzumuten, was das eigentlich für mögliche künftige Tarifauseinandersetzungen bedeuten könnte.
Niemand von uns hat ein originäres Interesse an einer Neuregelung, und schon gar nicht an einer gesetzlichen Neuregelung dieses sensiblen Problems.
— Umgekehrt, Herr Ehrenberg: Niemand von uns hat das Recht, der Herausforderung auszuweichen und welchen gesellschaftlichen Gruppen auch immer die Definition der Rechte und Pflichten des Staates zu überlassen.
Wer gegen die notwendigen Aktivitäten der Bundesregierung in diesem Zusammenhang polemisiert, möge über die Bemerkung des stellvertretenden Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes Gustav Fehrenbach, nachdenken, die vorgestern in den Zeitungen zu lesen war. Ich zitiere: „Am Ende müssen die Gewerkschaften prüfen, inwieweit sie durch ihre Verhaltensweisen auch zu der Situation beitragen, über die jetzt diskutiert wird."
Ich persönlich akzeptiere weder die Selbstherrlichkeit von Arbeitgeberverbänden, die wochenlang gemeint haben, markige Aufforderungen an den Gesetzgeber, er möge tätig werden,
ersetzten das eigene Bemühen um den notwendigen Konsens, noch akzeptiere ich die bisweilen demagogische Arroganz von Gewerkschaftern, sie könnten an Stelle der Verfassungsorgane die Neutralitätspflicht des Staates definieren.
In einem Kommentar der „Süddeutschen Zeitung" heißt es:
Das ist keine Polemik mehr, sondern schon Demagogie, wenn Mayr seinen Gewerkschaftsmitgliedern und der Öffentlichkeit suggeriert, die
Bundesregierung plane „einen beispiellosen verfassungs- und völkerrechtswidrigen Angriff auf die Existenz der Gewerkschaften" und damit eine „Zerstörung der Demokratie".
Deshalb müsse man sich zur Wehr setzen, gegebenenfalls mit „betrieblichen Aktionen", die der Deutsche Gewerkschaftsbund angedroht hat.
Die „Süddeutsche Zeitung" fährt fort:
Wenn die Feststellung einer Verfassungswidrigkeit nicht mehr dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten bliebe, sondern dem Urteil von Gewerkschaftsvorsitzenden anheimgegeben würde, die umgehend zum politischen Streik aufrufen — dann, und nur dann, müßte man von einem „Anschlag" reden, von einem Kampf gegen den demokratischen Rechtsstaat.
Ich ganz persönlich halte eine gesetzliche Neuregelung des § 116 AFG weder für wünschenswert noch für zweckmäßig.
Wer aber gemeinsame Bemühungen um eine Einigung der Anwendung dieser Gesetzesbestimmung verweigert, provoziert genau diese gesetzliche Regelung, und wer sie — wie ich — gerne vermeiden möchte, ist aufgefordert, sich an den Bemühungen zu beteiligen, wie sie der Arbeitsminister im Sinne eines tragfähigen Kompromisses unternimmt.