Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einer freien Gesellschaft regeln Gewerkschaften und Arbeitgeber Lohn- und Arbeitsbedingungen auf Grund ihrer Tarifautonomie selbständig.
Diese Errungenschaft steht hier mit keinem Wort, mit keiner Silbe zur Disposition.
Wenn Gewerkschaften und Arbeitgeber Lohn und Arbeitsbedingungen nicht autonom festsetzen, dann müßte der Staat das tun, dann wären wir in der Planwirtschaft. Zur Marktwirtschaft gehört die Tarifautonomie; Soziale Marktwirtschaft und Tarif-
autonomie sind ein Geschwisterpaar. Deshalb können wir, dürfen wir die Diskussion nicht so aufziehen, als sei das Streikrecht oder die Streikfähigkeit hier in Frage gestellt. Das Streikrecht ist ein elementares Freiheitsrecht. Bei uns kann man Gott sei Dank streiken; im Osten wird man zu Maiparaden abkommandiert, oder Arbeitnehmer werden ins Gefängnis geworfen, wenn sie streiken.
Gott sei Dank ist das bei uns nicht so, und dabei soll es auch bleiben: bei diesem Freiheitsrecht für Arbeitnehmer.
— Doch, es ist ganz wichtig, daß ich einige Selbstverständlichkeiten angesichts der Falschmeldungen, angesichts einer Kampagne, in der gegen Buhmänner gekämpft wird, hier klarstelle.
Zu unserer Vorstellung von Tarifautonomie gehört das Gleichgewicht der Kräfte. Wir sind die Bundesregierung, die eine Politik der Mitte vertritt, damit auch eine Politik der Balance.
Wir schlagen uns nicht auf eine Seite,
weder auf die Seite der Arbeitgeber noch auf die der Gewerkschaften. Wir sind für Machtbalance und Gleichgewicht der Kräfte.
— Ich will Ihnen ja gerade erklären, um was es geht, weil ich meine, daß die Diskussion uns sonst aus dem Ruder läuft. Es geht um nichts anderes
als um die Neutralität des Staates, um die Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit, um nicht mehr und um nicht weniger.
Sie ist eine unverzichtbare Bedingung des Arbeitskampfes.
Es geht überhaupt nicht — Herr Vogel, gestatten
Sie, daß ich in Ruhe unseren Standpunkt vortrage
— darum, Gewichte zu verschieben. Es geht auch nicht, Herr Kollege Kleinert, um eine harte oder eine weiche Linie. Es geht um Klarstellung, und Klarstellung kann nicht hart oder weich sein.
Klarstellung muß deutlich sein. Darum geht es.
13692 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. Dezember 1985
Bundesminister Dr. Blüm
Jetzt will ich mich durch diesen Wust von Verzerrungen und Falschmeldungen durchkämpfen.
Um was geht es? Ganz klar ist: Wer sich am Streik beteiligt, wer an Aussperrungen beteiligt ist, der erhält keine Leistung. Das stellt niemand in Frage. Ebenso klar ist, daß im Kampfgebiet auch an mittelbar Betroffene in der Regel nicht gezahlt wird. Auch das ist klar. Mir scheint sich auch zu verdeutlichen, daß für die mittelbar Betroffenen außerhalb des fachlichen Zuständigkeitsbereichs auch weiter gezahlt werden muß.
Wenn das geklärt werden könnte, wäre das eine sehr wichtige Hilfe für künftige Arbeitskämpfe.
Also konzentriert sich die Diskussion nur auf jenen Bereich von Arbeitnehmern, die nicht am Streik unmittelbar teilnehmen, nicht im Streikgebiet arbeiten, aber in der gleichen Branche beschäftigt sind.
Und jetzt entsteht die Frage: Wenn im Kampfgebiet stellvertretend für andere mitgekämpft wird, also um gleiche Ziele gekämpft wird, so war es der Sinn der bisherigen Neutralitätsanordnung, daß nicht gezahlt wird.
Will das irgend jemand bestreiten? So war das. So gibt es der Gesetzestext her. Ich lese es vor. Lieber Herr Ehrenberg, so haben Sie es gehandhabt. Ich habe es Ihnen vorhin schon gesagt.
— Im Metallarbeiterkampf 1978 unter der Rechtsaufsicht des sozialdemokratischen Arbeitsministers ist im mittelbar betroffenen Gebiet Nord-Württemberg nicht gezahlt worden und im mittelbar betroffenen Gebiet Nordrhein-Westfalen gezahlt worden, und zwar mit der Begründung, daß im einen Fall die Forderungen vergleichbar sind und im anderen nicht.
— Das will ich überhaupt nicht ändern. Lassen Sie mich doch in Ruhe ausreden! Herr Ehrenberg, ich habe 10 Minuten Zeit. Ich werde doch einmal 10 Minuten lang in Ruhe nicht nur Ihnen, sondern der ganzen Öffentlichkeit erklären können, daß Ihre Darstellung eine Falschmeldung war, eine Verdrehung von Tatsachen,
und auch Ihre Darstellung, Herr Vogel, eine Falschmeldung, eine Verdrehung von Tatsachen war. Auch in Zukunft wird in der Regel im allgemeinen an mittelbar betroffene Arbeitnehmer weiterhin Kurzarbeitergeld,
weiterhin Arbeitslosengeld gezahlt.
Wenn im mittelbar betroffenen Gebiet aber gleiche Ziele verfolgt werden, dann ruhen die Ansprüche nach der Neutralitätsanordnung, weil es nicht 1 sein kann und niemand verlangen kann, daß eine Gewerkschaft — ich betone: eine Gewerkschaft — mit zwei Gruppen ein gleiches Ziel verfolgt: mit einer Gruppe, die sie streiken läßt, und mit einer Gruppe, die sich von der Bundesanstalt in Nürnberg bezahlen läßt. So ist der Kompromiß, den Sie als den optimalen, den besten Kompromiß dargestellt haben.
— Herr Ehrenberg, ich bestätige Ihnen ausdrücklich noch einmal, daß ich den Rang des § 116 AFG überhaupt nicht in Abrede stelle und daß ich ihn für einen großen Kompromiß halte.
Der Streit ist entstanden — und deshalb besteht ein Klarstellungsbedürfnis —
weil Herr Franke, der Präsident der Bundesanstalt, die Anordnung, die dem § 116 folgte, anders als die Gerichte ausgelegt hat. Diesen Meinungsstreit können wir nicht über Jahre weiterschleppen. Denn sonst hätten die Arbeitnehmer keine Sicherheit, was denn nun letztlich gilt.
— Ich bitte Sie nochmals darum, eine Erläuterung des Gesetzestextes geben zu können. Ich bin bei der Kommentierung des Gesetzestextes und der Anordnung.
Es bleibt dabei: Wenn in dem Gebiet der mittelbar Betroffenen die gleichen Arbeitskampfziele verfolgt werden,
dann ruht die Leistung. Der Maßstab, den uns dafür die Bundesanstalt mit ihrer Anordnung — selbstverwaltungsgeformt — zur Hand gegeben hat, ist: nach Art und Umfang gleiche Forderungen. Diesen Begriff — das ist der Dreh- und Angelpunkt — haben die Gerichte mit „identische Forderungen" übersetzt. Jetzt appelliere ich an Ihren gesunden Menschenverstand. Wenn das „identisch" heißt, bedeutet das praktisch, es muß immer gezahlt werden. Denn dann braucht eine Gewerkschaft bei der 17. Nebenforderung im anderen Bezirk nur irgend etwas anderes zu fordern, und schon ist die Leistungspflicht gegeben. Ich kenne, sehr verehrter Herr Vogel, überhaupt keinen Kommentar, der „Gleichheit" mit „Identität" übersetzt hat.
Kommen Sie hier nach vorne und nennen Sie mir
einen Kommentar, der „Gleichheit" mit „Identität"
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. Dezember 1985 13693
Bundesminister Dr. Blüm
übersetzt hat. Dies klarzustellen dient der Tarifautonomie, dient den Arbeitnehmern.
Denn, meine Damen und Herren, ich bleibe dabei: Es ist ein Klarstellungsbedarf entstanden, nicht mehr als ein Klarstellungsbedarf.
Wir werden uns von niemandem davon abbringen lassen,
zusammen mit den Tarifpartnern
diese Klarstellung zu bewerkstelligen. Ich glaube, daß wir schon einige Schritte weitergekommen sind. Es ist schon etwas gewonnen, wenn sich die Standpunkte angenähert haben.
Ich halte es beispielsweise für durchaus klärungsbedürftig, wann durch Arbeitseinstellungen Ansprüche an die Bundesanstalt entstehen. Die Arbeitseinstellungen müssen durch den Arbeitskampf verursacht sein. Die Unternehmen müssen nachweisen, daß ihre Arbeitseinstellung nicht willkürlich vorgenommen wurde.
Es ist eine Klarstellung, die auch der Tarifautonomie nützt, daß von den Unternehmen die Arbeit nicht willkürlich eingestellt werden darf. Sie sind in Ihren Vorurteilen so gefangen, daß Sie jetzt schon schreien, wenn ich Gewerkschaftsstandpunkte vortrage.
Jetzt habe ich einen erklärten Gewerkschaftsstandpunkt vorgetragen. Trotzdem brüllt die Opposition mich an. Ich werde doch wohl die Meinung der Gewerkschaft wiedergeben können.
Meine Damen und Herren, ich will es kurz machen. Ich lasse mich durch niemanden irritieren, auch nicht durch Demonstrationen, die mit Vogelscheuchen arbeiten, auch nicht durch Verdrehung von Tatsachen.
Ich bleibe dabei: Die Tarifautonomie braucht die Neutralität des Staates — die ist ins Gerede gekommen; wir wollen die Dinge klarstellen —, damit die Arbeitnehmer nicht in eine Situation kommen, wo ihre Arbeitskämpfe fortdauernd von Gerichtsverfahren begleitet werden, wo sie fortdauernd in der Unsicherheit stehen, daß Leistungen unter Vorbehalt ausgezahlt werden, mit dem Risiko der Rückzahlung. Bis jetzt ist die Anordnung des Sozialgerichts nur eine „unter Vorbehalt". Wollen Sie die Arbeitnehmer in den Genuß einer Leistung kommen lassen, die zurückgezahlt werden muß?
Die Klarstellung dient auch den Arbeitnehmern. Meine Aufgabe ist es — dabei bleibe ich und lasse mich von niemandem irritieren —, nicht Gräben aufzureißen. Wir brauchen in dieser Zeit Brückenbauer.
Wir sind gemeinsam der Tarifpartnerschaft, der Tarifautonomie, der Sozialpartnerschaft verpflichtet.