Rede von
Dr.
Ulrich
Lohmar
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf zunächst unserem Kollegen Hubrig sehr herzlich zu seiner Jungfernrede gratulieren,
obwohl es natürlich schwerfällt, bei einem ausgewachsenen Mann wie Ihnen, Herr Kollege Hubrig, diesen alten parlamentarischen Begriff zu verwenden.
Bei der sachlichen Würdigung, die ja nun aber sofort danach von seiten des parlamentarischen Gesprächspartners einsetzen muß, ist mir eine alte menschliche Erfahrung eingefallen, daß nämlich der zeitliche Abstand zu einem Erlebnis die Erinnerung verklärt. Ich meine das in bezug auf die Anmerkungen, die Sie, Herr Hubrig, zur Ara Stoltenberg hier vorgetragen haben
und die den Kennern der damaligen Situation, jedenfalls auf meiner Seite des Hauses, allenfalls ein nachsichtiges Lächeln abverlangen können. Denn viele Dinge, die Sie heute kritisch angemerkt haben, hätten sich eigentlich schon damals sagen lassen. Die Situation, die Sie als wesentlichen Grund für die veränderte Betrachtung mancher Dinge angeführt haben, hat sich in den letzten drei Jahren eben nicht so fundamental verändert, als daß man damals manches nicht schon hätte anders und richtiger sehen können. Aber das war eben bei Herrn Stoltenberg nicht möglich.
Ich muß sagen, Herr Stoltenberg hat, was Ihre Rede angeht, einen würdigen Nachfolger gefunden. Sie hielt sich, wenn ich mir dieses zurückhaltende Urteil aus der Sicht einer der Regierungsfraktionen erlauben darf, im gleichen schlichten technokratischen Rahmen, den wir von Herrn Stoltenberg jahrelang gewöhnt gewesen sind.
Mit dem Wort technokratisch meine ich eine Haltung, die Effizienz fordert, ohne vorab die gesellschaftlichen Zielvorstellungen zu klären.
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Dr. Lohmar
— Ich hatte gerade die Parallele zwischen Herrn Stoltenberg und Herrn Hubrig gezogen. Was den jetzigen Bundesminister für Bildung und Wissenschaft angeht, so will ich dazu gleich etwas sagen.
Lassen Sie mich zu dem kommen, was die Regierung auf unsere beiden Großen Anfragen geantwortet hat. Die Koalitionsfraktionen hatten ja schon in der Formulierung ihrer Anfrage zum Ausdruck gebracht, daß es ihnen um eine für uns nicht neue, aber für die Regierung im zeitlichen Ablauf der letzten Jahre neuartige Bewertung technologischer Großprojekte ging und geht, nämlich um die Frage: Welchen gesellschaftlichen Nutzen haben eigentlich solche technologischen Großprojekte? Anders gefragt: In welchem Maße und auf welche Weise ist die Regierung mittlerweile von der naiven — ich wiederhole — technokratischen Betrachtungsweise abgekommen, die Industrie einerseits nur Geld verdienen und die Wissenschaft andererseits einfach vor sich hin forschen zu lassen,
ohne auf den gesellschaftlichen Kontext dessen, was beide tun, zu achten und sie in einen kooperativen Verbund zu der gesamtgesellschaftlich orientierten Willensbildung auf der staatlichen Ebene zu bringen?
Unser Eindruck ist, daß die Antwort der Regierung von einem beträchtlichen Maß an Entschlußkraft zu einer solchen Neuorientierung bestimmt ist. Sie läßt sich von den gleichen Maßstäben leiten wie z. B. der Brooks-Report der OECD in seinen wesentlichen Maßstäben.
Der Überblick, den die Regierung auf beide Große Anfragen gegeben hat, geht von einer allmählich erkennbar werdenden neuen Rangfolge der technologischen Großprojekte aus, die man natürlich, Herr Hubrig, unterschiedlich bewerten kann. Aber daß sich eine solche neue Rangfolge abzeichnet, ist unverkennbar. Die Bundesregierung sagt selbst, daß die neuen Technologien und das, was sie darunter zusammenfaßt, neben der elektronischen Datenverarbeitung — hier wiederum nicht mehr mit dem Schwerpunkt einer produktionsorientierten Förderung, sondern mit den Schwerpunkten der Anwendung und Ausbildung die beiden Hauptakzente der Technologiepolitik sind, wogegen relativ und absolut die Aufwendungen für bisher dominierende Großprojekte zurückgetreten sind und wohl weiter zurücktreten sollen.
Man kann sich die Schlüssigkeit dieser Neuorientierung gut klarmachen, wenn man die technologischen Großprojekte einmal nicht nach dem Instrumentarium, sondern nach ihrer ökonomisch-gesellschaftlichen Zielrichtung unterscheidet. Die Antwort: Atom gleich Energiegewinnung und -sicherung fällt hier leicht. Bei der Datenverarbeitung liegt die Antwort gleichfalls nahe: Der Effekt der Datenverarbeitung liegt in einer Leistungssteigerung und Rationalisierung auf vielen Ebenen der Gesellschaft. Bei der Meeresforschung ist die Antwort klar: Sie ist wichtig für die Ernährung von Menschen und für manche andere unmittelbar greifbare Resultate. Bei der
Weltraumforschung zögert man schon bei der möglichen Beantwortung der Frage nach der unmittelbaren Umsetzbarkeit in gesellschaftlichen Nutzen, wenn man die Lage der Bundesrepublik und ihre Möglichkeiten, gemessen an denen der UdSSR und der USA, in Betracht zieht.
Die Regierung drückt ihre neuen Rangordnungen noch nicht in solchen gesellschaftlichen Zielbeschreibungen aus, sie bleibt bei den instrumentellen Beschreibungen. Aber dahinter ist erkennbar geworden, daß die Frage nach dem gesellschaftlichen Nutzen der jeweiligen Großprojekte in den Vordergrund der Betrachtungen der Bundesregierung getreten ist. Wir finden, dies ist eine richtige Entwicklung, die damit sichtbar gemacht wird.
Ich möchte ein anderes Stichwort aus der Antwort der Regierung aufgreifen, nämlich ihre These, daß wir einen stärkeren Verbund von Grundlagenforschung und industrieller Entwicklung brauchen, eine Forderung, die auch Sie, Herr Hubrig, in Ihrer Rede aufgestellt haben. Wir finden auch dies berechtigt und meinen, daß man diesen Verbund vor allem in den Bereichen kleiner und mittlerer Unternehmen schaffen muß, also da, wo man landläufig von Gemeinschaftsforschung spricht. Hier kooperative Hilfen im Bereich der Forschung und Entwicklung anzubieten ist eine Aufgabe, die über die des Ressorts von Herrn Leussink hinausreicht und zusammen mit anderen Bereichen der Bundesregierung gemeinsam in Angriff genommen werden muß.
Der Grundsatz der Regierung, daß jede staatliche Förderung nur eine Hilfe zur Selbsthilfe sein darf, gilt, meine ich, im technologischen Bereich noch mehr, als er sich im allgemeinen ohnehin von selber verstehen sollte. Wir haben unsere Erfahrungen mit staatlichen Förderungsmaßnahmen. Der Hinweis auf die Hilfe zur Selbsthilfe war eine in diesem Sektor seit langem notwendig gewordene Bemerkung der Bundesregierung.
Uns scheint es auch einleuchtend zu sein, daß die Regierung in ihrer Antwort auf die Anfrage der SPD-Fraktion so weit gegangen ist, zu sagen, daß sie das Problem eines möglichen Rückflusses von Gewinnen an den staatlichen Förderer ernsthaft untersuchen will, oder, um eine andere Formulierung der Bundesregierung aufzugreifen: daß sie nach neuen und gangbaren Wegen sucht, um eine größere Nutzanwendung von Forschungs- und Entwicklungsergebnissen im Bereich der Technologie für die Allgemeinheit sicherzustellen.
Die Grenzen einer technologischen Selbsthilfe der Industrie wie der Möglichkeiten, Resultate der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen oder einen Rückfluß von Gewinnen vorzusehen, liegen selbstverständlich in der Leistungsfähigkeit jeweils eigenständiger Unternehmen, die wir ja nicht zu Abhängigen des Staates machen wollen — sonst hätte der Grundsatz der Hilfe zur Selbsthilfe gar keinen Sinn —, sondern die wir in die Lage verset-
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Dr. Lohmar
zen wollen, sich am Markt selber zu behaupten. Dazu gehört nicht eine volle staatliche Abdeckung ökonomischer Risiken, die einzelne Unternehmen auf sich nehmen wollen und auf sich nehmen müssen, sondern eine vernünftige Teilung der Risiken und der Chancen im technologischen Bereich.
Ein weiteres Stichwort darf ich aus der Antwort der Regierung erwähnen. Die Regierung spricht sich aus — wie ich meine, zu Recht — für die Einbindung einer kritischen Öffentlichkeit in die Formulierung und in die Entscheidungsvorbereitung auch in der Forschungs- und Technologiepolitik. Von jungen Wissenschaftlern an den Forschungszentren in unserem Lande erfahren Sie, daß sie es über Jahre vermißt haben, als Partner angesprochen zu werden und in diese kritische Öffentlichkeit als Partner von Regierung und Parlament ernsthaft einbezogen zu werden. Was dies bei dem traditionell in unserem Lande gespannten Verhältnis von Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften für historische Hintergründe hat, hat z. B. Herr Ganshorn auf dem Physikerkongreß in diesem Jahr noch einmal ausführlich dargelegt — bis hin zu seiner Forderung, wir müßten uns Mittel und Wege überlegen, gerade die im naturwissenschaftlich-technologischen Bereich tätigen Wissenschaftler stärker auch in ihrer Eigenschaft als Staatsbürger anzusprechen und zu engagieren. Der Wille der Regierung, hier mehr kritische Öffentlichkeit zu schaffen, zeigt in die richtige Richtung. Allerdings wird das kaum ohne Konsequenzen gehen, nicht ohne einen neuen kooperativen Arbeitsstil an unseren Forschungsinstituten — nicht nur an den Universitäten, sondern auch außerhalb der Hochschulen, auch in der Industrie.
Herr Kollege Hubrig hat in diesem Zusammenhang von der wünschenswerten Mitwirkung von Wissenschaftlern gesprochen und dazu gemeint, man könne kein Patentrezept vorlegen, in welcher Weise dies praktisch geschehen solle. Meine Fraktion ist der Meinung, daß die Regierung mit ihren vorgelegten und jetzt allmählich in die Praxis überführten Leitlinien für die Mitbestimmung der Wissenschaftler an Forschungsinstituten einen Anfang in dieser Richtung gemacht hat, der ausgebaut werden muß und der auch in der Industrie, soweit das nicht schon geschieht, eine jeweils angemessene Form der Anwendung finden sollte.
Meine politischen Freunde und ich neigen — vielleicht im Gegensatz zu Ihrer Fraktion, Herr Hubrig — wohl dazu, es hier nicht auf eine Mitwirkung beschränken zu wollen, sondern eine wirkliche Kooperation aller Wissenschaftler zu verlangen.
Hierher gehört auch die Frage des Managements. Die Bundesregierung spricht sie an. Dem, was dort zu lesen steht, ist vielleicht der Hinweis hinzuzufügen, daß wir für die Leitung großer Forschungszentren einen neuen Typ von Forschungsmanagern brauchen, weder einen solchen, der nur an einer autonom ausgerichteten, theoretisch fixierten Forschung der Hochschulen orientiert ist, noch einen solchen, dessen Denken sich in dem Rahmen der industriellen Produktion erschöpft. Vielmehr braucht man Manager, die beides einzuschätzen gelernt haben und in der Lage sind, den gesellschaftlichen Bezug, in dem die Arbeit von Großforschungszentren gesehen werden muß, in die Entscheidungen einzubeziehen.
Ich meine, daß die Regierung solche Entwicklungen durch ihr neues Beratungswesen besser fördern kann als durch das 1969 vorgefundene Beratungswesen des Wissenschaftsministeriums der sogenannten evangelisch-süddeutschen Mafia, wie wir sie im Jargon des Wissenschaftsausschusses gelegentlich genannt haben. Es geht um den Ersatz solcher Honoratiorengremien durch projektorientierte, zeitlich und sachlich an begrenzte Aufgaben gebundene Gruppen, denen man eine konkrete Zielvorgabe gibt und deren Tätigkeit man dann auch besser kontrollieren kann.
Es ist eine größere Beweglichkeit und eine präzisere Zielorientierung in die Beratungsstruktur des Ministeriums gekommen, was die Zusammenarbeit des Staates mit der Wissenschaft wie mit der Wirtschaft erleichtern kann. In diesem Zusammenhang sollte sich das BMBW noch stärker der Zusammenarbeit mit der Kommission für wirtschaftlichen und sozialen Wandel zuwenden, die auf Anregung meiner Fraktion — Sie erinnern sich — vor einiger Zeit als Partner auf der Regierungsebene einbezogen worden ist.
Ein letztes Stichwort aus den Antworten der Regierung auf die Großen Anfragen: Ich meine die Leistungskontrolle. Beispielsweise die Anmerkungen des Bundesrechnungshofes zu wesentlichen Teilen der Technologiepolitik in den vergangenen Jahren vor 1969 — enthalten eine Reihe von Anregungen für eine bessere und effektivere Leistungskontrolle auch durch die Bundesregierung.
Was den Bundestag angeht, meine Damen und Herren, so muß ich aus einer nun schon mehrjährigen Erfahrung in der Zusammenarbeit mit mehreren Bundesministern auf diesem Gebiet sagen: Es hat bis jetzt keinen Bundesminister gegeben, der das Parlament bzw. den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft so rechtzeitig und so präzise an der Vorarbeit gerade im technologischen Bereich beteiligt hat, wie Herrn Leussink.
Man kann dazu nicht nur den Datenverarbeitungsbereich anführen, sondern muß auch die Bereitschaft des Ministers hervorheben, uns in die Überlegungen zum Forschungsbericht IV, den wir ja bald eingehend miteinander besprechen werden, einzubeziehen, bevor die Drucklegung erfolgt — in anderen Fragen sogar schon, bevor das Kabinett im ganzen mit den Vorlagen des BMBW vertraut gemacht worden ist. Ich halte das, wenn man von der gleichen Informationschance von Parlament und Regierung ausgeht, für einen sehr guten und effizienten Stil, den wir uns lange gewünscht haben und der jetzt
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in der Zusammenarbeit mit dem BMBW endlich erreicht worden ist.
Meine Damen und Herren, die Sozialdemokraten unterscheiden sich in dem eigentlichen Ansatz ihrer Technologiepolitik von der großen Oppositionspartei dadurch, daß sie die gesellschaftliche Zielorientierung dessen, was wir im technologischen Bereich unternehmen, an den Anfang stellen und erst in diesem Kontext die Frage nach der Effektivität aufwerfen und beantworten.
Für uns sind beide Ziele, die gesellschaftliche Nutzenerwägung und die technologische Effektivität, keine Gegensätze; wir vermögen das eine ohne das andere nicht zu tun.
Deswegen möchten wir die Regierung ermuntern, bei ihrem Versuch zu bleiben, die Technologiepolitik weder als einen technischen Selbstzweck noch als ein bloßes Hobby von Wissenschaftlern oder nur im Rahmen der Nützlichkeit für begrenzte wirtschaftliche Interessen zu sehen, sondern sie an dem Maßstab zu messen, der sich durch die Antwort der Regierung hindurchzieht: an den gesellschaftlich verwertbaren Resultaten dessen, was wir hier miteinander unternehmen.