Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist Ende Juni, also schon wieder beinahe drei Monate über das Ende des alten Haushaltsjahres hinaus. Die Frage, wann der Haushalt 1955 in Kraft gesetzt werden kann, ist noch durchaus offen. Der Bundesrat, der nun dran ist, hat drei Wochen Zeit, und man kann mit ziemlicher Sicherheit annehmen, daß er nach dem Beschluß dieses Hauses zum Inanspruchnahmegesetz den Vermittlungsausschuß anrufen wird, um eine Änderung des Prozentsatzes herbeizuführen, den der Bund aus der Einkommen- und Körperschaftsteuer erhält. Man geht wohl nicht zu weit, wenn man den 1. August als Termin der Verkündung des neuen
) Haushalts annimmt. Angesichts dieses Umstandes muß man die Frage stellen, ob es denn ein unerreichbares Ziel ist, daß dieses Haus nach dem Grundgesetz der Bundesverwaltung einen rechtskräftigen Haushalt zu Beginn eines Haushaltsjahres beschert. Ich komme auf Grund der Erfahrungen der letzten Jahre zu der Überzeugung, daß das wahrscheinlich nicht möglich sein wird, nie erreichbar.
Halten wir uns einmal an die Beratungsdaten des vorliegenden Etats: Nachdem er das Kabinett, den Bundesrat im ersten Durchgang und wieder das Kabinett passiert hatte, fand die erste Beratung am 8. Dezember 1954 statt. Der Haushaltsausschuß begann noch vor den Weihnachtsferien mit seiner Arbeit. Er hat sich in 44 zum Teil ganztägigen Sitzungen, wie ich Ihnen als Berichterstatter mitzuteilen die Ehre hatte, mit dem Haushaltsplan beschäftigt. Am 26. Mai konnten die Beratungen im Haushaltsausschuß abgeschlossen werden. Am 26. Mai! Heute schließen wir, wie ich hoffe, die dritte Beratung ab, also fast einen Monat nach dem Abschluß der Beratungen im Haushaltsausschuß. Dabei — das darf man, ohne irgend jemandem Vorschußlorbeeren zu spenden, feststellen — haben alle Beteiligten ihr Äußerstes getan, um die frühzeitige Beratung zu ermöglichen. Man kann das von den Ressorts sagen, die bereits um die Mitte des Vorjahres ihre Voranschläge an das federführende Finanzministerium eingereicht hatten, von dem Finanzministerium, das mit der endgültigen Fertigstellung des kabinettsreifen Entwurfs beschäftigt war, vom Kabinett, schließlich vom Bundesrat und von diesem Haus; vom Haushaltsausschuß will ich in diesem Zusammenhang nicht reden. Es ist also offenbar nicht zu schaffen. Die Frage erhebt sich: Warum kommen wir mit unseren Haushaltsberatungen eigentlich nie rechtzeitig zu Rande? Ich glaube, es ist ein wichtiges Thema, weil von der rechtzeitigen Verabschiedung des Haushalts abhängt, ob die Verwaltung während des Haushaltsjahres wirklich oder wenigstens. theoretisch unter einer geordneten Haushaltsgesetzgebung arbeitet.
Ich glaube, die Gründe für das Versagen in diesem Punkt — das Wort gebrauche ich ohne jedes Werturteil, lediglich als eine Feststellung — liegen wahrscheinlich in der verfassungsrechtlichen Konstruktion der Bundesrepublik.
Wir brauchen uns nur einen Augenblick zu vergegenwärtigen, daß jedes Jahr das Tauziehen um den Bundesanteil an der Einkommen- und Körperschaftsteuer viele Wochen in Anspruch nimmt und meistens die Deckungsfrage in ein undurchdringliches Dunkel hüllt, bis der Haushalt dann endgültig im Bundesgesetzblatt erschienen ist.
Praktisch ist es ja so, daß der Haushaltsausgleich bei dieser Konstruktion letztlich von der Zustimmung der Länder abhängt.
Wir kommen auf einen anderen Grund, den Umstand, daß nach der Einbringung des Haushalts in der Regel im günstigsten Fall, wenn er so eingebracht ist, wie im vergangenen Jahr, vielleicht noch eine Woche vor den Weihnachtsferien für die Beratungen im Ausschuß zur Verfügung steht und daß man dann erst in der zweiten oder dritten Januarwoche wieder anfangen kann, wenn man die Mitglieder des Ausschusses nicht unnötigerweise und lebensgefährlich strapazieren will. All das bringt Terminverluste. In die Beratungen fällt dann die Osterpause, und wir mußten in diesem Jahr sogar noch die Pfingstpause mit in unsere Planungen einbeziehen. Man verliert also auch dadurch Zeit, daß das Haushaltsjahr im April beginnt und daß in die Phase, in der wirklich beraten werden soll, eine Reihe von Ferientagen fallen, die unwiederbringliche Zeit kosten. Die Nichtübereinstimmung von Kalenderjahr und Haushaltsjahr ist mit einer der Gründe dafür, daß wir uns in der Regel mit der Verabschiedung ,des Haushalts verspäten. Und nicht zuletzt unser ganzes Haushaltsrecht mit seiner kameralistisch-fiskalischen Grundtendenz; die — hier muß ich etwas aussprechen, was mir seit langem Anlaß zu Überlegungen war — dieses Haus zwingt, sich mit einer Unsumme von Details zu befassen, wie sie in dieser Art wahrscheinlich kaum ein anderes Parlament bemühen, unsere Landtage ausgenommen, die unter dem gleichen Haushaltsrecht stehen.
Schließlich kann man durchaus zu dem Schluß kommen: Je detaillierter die Haushaltspläne sind, die ein Parlament zu beraten hat, um so fragwürdiger wird die tatsächliche Kontrolle der Verwaltung durch das Parlament.
Man muß die Frage stellen, ob man nicht einen anderen Weg suchen müßte, um das Parlament zu einer effektiven Kontrolle der Verwaltung instand zu setzen, ohne es mit Einzelheiten zu belasten, in deren Gestrüpp die Übersicht über die tatsächlichen Vorgänge in der Verwaltung leicht verlorengeht. Ich kann im Augenblick die Möglichkeiten nicht genau überschlagen. Vielleicht haben einige Herren aus diesem Hause in der nächsten Zeit Gelegenheit, sich in den Vereinigten Staaten anzusehen, wie man das dort macht. Ich habe den Eindruck, daß sich manches auch einfacher und effektiver machen läßt, als wir es hier machen.
Daß ich das ausspreche, ist einfach der Ausdruck einer Sorge, die ich gerade als Mitglied der Opposition habe, der an der Kontrolle der Verwaltung in einem noch viel höheren Maße gelegen sein muß als den Angehörigen der Regierungskoalition. Ich kann mir auch denken, daß eine wirksamere Kontrolle der Verwaltung nicht durch das Sich-Versenken in die Einzelheiten des Haushaltsplanes geschieht, der ja doch zu einem erheblichen Teil aus Schätzungen — Schätzungen, die zum Teil auch aus politischen Erwägungen so oder so ausgefallen sind — besteht, sondern durch das Heranrücken der Rechnung an den Abschluß eines Haushaltsjahres und die gründlichere Beratung der Ergebnisse des Vollzugs des Haushalts, als wir es bisher konnten, weil wir ja immer jahrelang hinter den Tatsachen herhinken, wenn wir die Rechnung beraten.
Allerdings müßte man dann auch dazu kommen, daß weit mehr als bisher aus den Beanstandungen beim Vollzug des Haushalts, wie sie der Rechnungshof dem Hause vorlegt, echte, fühlbare Konsequenzen gezogen werden, so daß auch ein Stück Erziehungsarbeit für die Verwaltung in der Prüfung der Rechnungsergebnisse liegt, was heute weitgehend nicht der Fall ist. Dazu kämen eine Stärkung der Kompetenz des Rechnungshofs und ein noch viel engerer Kontakt des Parlaments mit dem Rechnungshof als einem Instrument der parlamentarischen Kontrolle der öffentlichen Verwaltung.
Schließlich, meine Damen und Herren — auch das muß hinzugesetzt werden —, wäre eine Stärkung der Position des Parlaments gegenüber der Verwaltung gerade auch in finanziellen Fragen notwendig. Ich weiß, daß das ein sehr kompliziertes und dorniges Problem ist, das sich nicht nur in Formulierungen staatsrechtlicher Natur ausdrücken läßt. Es handelt sich hier auch um politisch-psychologische Faktoren, ja — ich will ganz offen sein — auch darum, ob das Parlament genügend Selbstbewußtsein gegenüber der Verwaltung und der an ihrer Spitze stehenden Regierung aufbringt.
Das Parlament ist nicht nur ein Instrument der Regierungspolitik, sondern eine selbständige verfassungsrechtliche Figur; es sollte sich aus seinem Selbstbewußtsein heraus bestimmte Dinge einfach nicht gefallen lassen.
Hier — und das wissen Sie haben gerade wir
von der sozialdemokratischen Opposition eine Fülle von Beschwerden gegen die Mehrheit dieses Hauses. Ich will sie hier nicht im einzelnen aufführen. Wir haben bei so vielen Gelegenheiten darüber gesprochen unid werden wieder darüber sprechen.
Eine wichtige Frage — vielleicht wichtiger, als es die Behandlung der einschlägigen Anträge bei dieser Haushaltsberatung verrät — betrifft die Überschneidung von Kalenderjahr und Haushaltsjahr. Die Wirkung auf die Wirtschaft, insbesondere auf die Bauwirtschaft, in der die öffentliche Hand in weitem Umfang als Auftraggeber auftritt, kann nicht übersehen werden. Wir müssen auch bei dieser Gelegenheit noch einmal den drin) genden Wunsch aussprechen, die Bundesregierung möge alles tun, was in ihrer Kraft liegt, um so schnell wie möglich eine Verständigung zwischen Bund, Ländern und allen sonst noch dafür notwendigen Instanzen herbeizuführen, damit wir endlich zu einer Übereinstimmung von Haushaltsjahr und Kalenderjahr kommen. Daß das geht, haben wir vorgestern hier bei einem sonst unbeobachteten Gegenstand erfahren müssen — ganz nebenbei —, beim Postetat, als der Herr Staatssekretär dem Hause mitteilte, daß die Post bereits ihr Haushaltsjahr mit dem Kalenderjahr gleichgezogen habe. Meine Damen und Herren, könnte nicht z. B. auch die Bundesbahn als der größte öffentliche Betrieb diesem Beispiel folgen? Wenn das geschähe, hätten wir schon einen recht beträchtlichen Sektor der öffentlichen Finanzwirtschaft umgestellt, und es wäre dann gar nicht mehr allzu schwer, auch einige andere Widerstände zu überwinden, die da und dort noch vorhanden sein mögen.
— Ja, das, mein lieber Herr Kollege, vermag ich nicht zu sagen, denn auch ich bin kein Prophet, Gott sei Dank nicht. — Daß eine Übereinstimmung der Länder und Gemeinden erreicht werden muß, ist klar; aber sie sollte im allseitigen Interesse so schnell wie möglich erzielt werden.
Meine Damen und Herren, die dritte Beratung und insbesondere diese Generalaussprache ist nicht der Ort für Einzelkritik am Haushalt. Das ist während der zweiten Beratung und während der Einzelberatung heute morgen in reichem Maße geschehen. Wir können uns deshalb darauf beschränken, jetzt von den Generalien der Haushaltspolitik, ja von der Politik im allgemeinen zu sprechen. Auf das letzte allerdings muß ich weitgehend verzichten, weil dieses Haus die bewegenden Themen unserer Tage ja immer wieder erörtert hat und auch jetzt offenbar vor einer großen politischen, vor einer wehrpolitischen Debatte steht. Ich möchte mich deshalb an die Haushaltsprobleme im weitesten Sinne halten.
Lassen Sie mich diesen Teil meiner Ausführungen mit einem Zitat beginnen. Es entstammt einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Entwurf des Haushalts 1955, aber es trifft, wie ich glaube, nicht nur auf den Entwurf zu, sondern auch auf den jetzt zu verabschiedenden, fertig beratenen Haushalt selbst. Ich nehme das Zitat aus dem Heft 15, Band 4 der Veröffentlichungen des Instituts für Finanzen und Steuern, das in Bonn seinen Sitz hat und das eine Broschüre „Der Bundeshaushalt" herausgebracht hat. Da wird unter der Überschrift „Der große Wandel gegenüber den Vorjahren" folgendes gesagt:
In den vergangenen Jahren ist das Ergebnis für den Bund immer günstiger gewesen als die Prognose. Das heißt, der Abschluß der Rechnungen war immer günstiger als die Schätzungen im Haushaltsvoranschlag. Das Risiko. das in der Deckung der Ausgaben des außerordentlichen Haushalts durch Anleihen lag, wurde nicht akut. Die Problematik der Deckung durch Globalabstriche oder Zuschüsse des außerordentlichen Haushalts zum ordentlichen Haushalt trat praktisch nicht in Erscheinung. Der Fehler, daß für die Abdeckung der Fehlbeträge aus den Vorjahren kein Deckungsposten eingesetzt wurde, ließ sich im Laufe des Rechnungsjahres gutmachen. Daß der Bundesanteil an der Einkommen- und Körperschaftsteuer regelmäßig niedriger festgesetzt wurde, als die Bundesregierung vorgeschlagen hatte, führte zu keiner Gefährdung des Bundeshaushalts. Aber diese ganze Entwicklung hatte ihren Grund ausschließlich in den Einsparungen bei den Verteidigungslasten. Nur durch die Einsparung von je 1,8 Milliarden DM bei den Verteidigungsausgaben konnte es gelingen, in den Jahren 1953 und 1954 zu verhältnismäßig günstigen Resultaten zu kommen.
Ich will das Zitat nicht fortsetzen. Ich will nur feststellen, daß das Institut zu dem Ergebnis kommt, daß diese Periode nun vorbei sei; der große Wandel liege darin, daß sich dieses „etatpolitische Wunder" nicht wiederholen werde.
Dieser Darstellung, meine Damen und Herren, kann man weitgehend zustimmen. Ich möchte in diesem Zusammenhang allerdings eine Beschwerde anbringen: daß im Haushaltsgesetz auch dieses Jahr wieder der § 75 der Reichshaushaltsordnung außer Kraft gesetzt wird. Gegen diese Praxis erhebt meine Fraktion nach wie vor die stärksten Bedenken; sie hat den dringenden Wunsch, daß man in künftigen Jahren wieder zu einer regulären Einsetzung der Fehlbeträge früherer Haushaltsjahre in den Haushaltsplan kommen möge.
Jetzt, meine Damen und Herren, komme ich zu einem sehr 'wesentlichen Punkt, nämlich zu der Frage nach dem Wert oder Unwert unserer Haushaltsberatungen überhaupt. Ich glaube, ein Parlament wie dieses muß sich auch die Aufgabe stellen, sich einmal selber ins Gesicht zu schauen und sich zu fragen, ob das, was es tut, denn in vollem
Umfang den Sinn hat, den es eigentlich haben sollte.
Was entscheiden denn unsere Haushaltsberatungen genau genommen? Etwa den Umfang der öffentlichen Einnahmen, d. h. die Belastung des Staatsbürgers idurch die Finanzansprüche der öffentlichen Hand? Das scheint mir nun ganz und gar nicht der Inhalt unserer Haushaltsberatungen zu sein. Denn die öffentlichen Einnahmen werden durch die Steuergesetze bestimmt, und deren Ergebnis hat der Finanzminister sicher in der Hand, soweit nicht Konjunkturschwankungen die Steuerquellen beeinflussen oder er durch vielseitigen Druck zu irgendeiner Art von Steuerreform gezwungen wird, die dann je nach Geschmack und Propagandabedürfnis als Große, Kleine oder gar keine Steuerreform bezeichnet wird.
Entscheiden wir in unseren Beratungen etwa über die Ausgaben der öffentlichen Hand? Ich glaube, auch da muß man hinzusetzen: doch nur zu einem sehr bescheidenen Teil. Das gilt sogar für die Ausgaben, die hier im Bundeshaushalt veranschlagt sind, sofern man unter „Entscheidung" nicht nur Billigung eines Vorschlages versteht, sondern Beeinflußbarkeit, Veränderungsmöglichkeit. Gerade im Bundeshaushalt ist der größere Teil der Aufwendungen in weitem Umfang durch andere Gesetze, die dieses Haus beschlossen hat, durch Rechtsverpflichtungen — oder was man aus politischen Gründen dafür ausgibt — fixiert. Das bewegbare, d. h. das durch den Bundestag nach Art und Umfang bestimmbare Element im Haushalt ist außerordentlich bescheiden, wie wir, die wir uns jahraus, jahrein mit diesen Fragen beschäftigen, zu unserem Leidwesen immer wieder erfahren mußten.
Der Bundeshaushalt wird aber in der Gesamtschau — und das ist schließlich der Standpunkt, von dem der Staatsbürger, der Steuerzahler auszugehen hat — noch problematischer, weil er nur einen Teil des gesamten Finanzbedarfs der öffentlichen Hand darstellt. Die 30 Milliarden dieses Haushalts sind etwas mehr als die Hälfte der Summe, die in der Bundesrepublik aus der Tasche der Staatsbürger in die Kassen der öffentlichen Hand fließt. Die Statistiken darüber sagen, daß im Lauf der Jahre eine zunehmende Umschichtung in den Ansprüchen, in den Finanzbedürfnissen der öffentlichen Hand eingetreten ist. Ich will das im einzelnen hier nicht analysieren; ich will nur feststellen, daß im Verhältnis zum Jahre 1951/52, wo der Finanzbedarf des Bundes und des Lastenausgleichsfonds zusammen 57,4 % des gesamten Finanzbedarfs der öffentlichen Hand ausmachte, im Jahre 1955/56 dieser Prozentsatz zwar um ein kleines gefallen ist, daß auch der Anspruch der Länder — einschließlich der Hansestädte — etwas gesunken ist, daß aber der Anteil der Gemeinden zwischen 1951/52 und 1955/56 von 18,7 auf 20,2 % gestiegen ist. Absolut aber ist der Finanzanspruch der öffentlichen Hand außerordentlich gewachsen.
Man kann das aus dem Wachstum des Sozialprodukts erklären und rechtfertigen, gewiß. Aber nichtsdestoweniger bleibt die Tatsache bestehen, daß der Teil des Sozialprodukts, den die öffentliche Hand für sich und ihre Aufgaben in Anspruch nimmt, eben einem dauernden Wachstumsprozeß unterworfen ist.
Es hat keinen Sinn, darüber zu orakeln, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen ist. Wenn man den Versuch macht, eine Änderung herbeizuführen, dann muß man — und das ist ja die Frage, die bei dem Thema Verwaltungsreform immer wieder im Hintergrund aufleuchtet — sich wirklich einmal überlegen, ob die gewordene Verteilung der Aufgaben auf die einzelnen Ebenen der öffentlichen Verwaltung und zwischen öffentlichem und privatem Sektor in unserer Gemeinschaft in Ordnung ist oder ob da andere Maßnahmen ergriffen werden müssen, die eine andere Verteilung auch der Finanzmasse ermöglichen.
Die Tendenz zum Wachstum des öffentlichen Finanzbedarfs ist unbestreitbar, und man kann auch nicht bestreiten, was z. B. in den Vorbemerkungen zum Haushalt 1955 — einer im ganzen sehr dankenswerten Leistung des Bundesfinanzministeriums — auf Seite 17 gesagt wird, daß nämlich „mit der wachsenden Größe der über die öffentlichen Haushalte laufenden Einkommensströme die direkte und indirekte Wirkung der Steuer- und Finanzpolitik auf die Wirtschaft steigt". Und richtig ist auch die Feststellung am gleichen Ort, daß das Bemühen, „die Beziehungen zwischen dem Staat als der Gesamtheit der dem öffentlichen Bereich angehörenden Körperschaften einerseits und der Volkswirtschaft andererseits aufzuhellen, auch finanzpolitische Bedeutung hat".
Ich zitiere nicht etwa um des Zitierens willens, sondern weil ich auf einen ganz bestimmten Punkt hinaus will. Wenn nämlich all diese Feststellungen richtig sind, dann müßten sich daraus doch bestimmte Konsequenzen für die rückschauende und vorausdenkende Darstellung der öffentlichen Haushalte in Zusammenhang mit dem Gesamthaushalt der Nation ergeben. Wir stehen ja in mehr als einer Hinsicht an einer Wende unserer Finanzpolitik, gerade, wenn man, wie die Bundesregierung, entschlossen ist, den öffentlichen Ausgaben noch ein beträchtliches Stück für die Rüstung hinzuzufügen. Wir werden immer wieder auf die Versprechungen zurückkommen, daß man in den nächsten Jahren die Rüstung ohne zusätzliche Belastung des Steuerzahlers und ohne sonstige Einschränkungen finanzieren und verkraften könne. Wenn die Bundesregierung und ihre Mehrheit ent. schlossen sind, dem öffentlichen Finanzbedarf noch dieses zusätzliche und, wie man heute allgemein anerkennt, unproduktive Stück hinzuzufügen, das heißt, eine neue Kostenmenge auf die Schultern des Bürgers zu legen — von anderen Folgen ganz abgesehen —, dann wird die organische, die bewußte Eingliederung aller Teile des öffentlichen Finanzbedarfs in den Gesamthaushalt der Nation unausweichlich, und unentbehrlich wird auch die öffentliche Vorlage einer Gesamtschau, die man heute allgemein unter dem Begriff „volkswirtschaftliche Gesamtrechnung" als ein Instrument der Balancierung öffentlicher und privater Finanzwirtschaft anerkennt.
Konkret also fragen wir: wo bleibt die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung für die Bundesrepublik? Wir stehen mit dieser Frage gar nicht allein. Ich will nicht Pressestimmen heranziehen, obwohl sich da sehr häufig die Beunruhigung der öffentlichen Meinung über gewisse Ungereimtheiten und Unausgeglichenheiten unserer Finanzwirtschaft ausdrückt. Wichtiger erscheint mir, daß zum Beispiel auch der Wissenschaftliche Beirat beim
Bundeswirtschaftsministerium in einem um die Jahreswende veröffentlichten Gutachten die gleiche Forderung erhebt. Ich darf aus einem Bericht darüber zitieren. Es heißt da:
Es ist unerläßlich, die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der einzelnen Ministerien stärker aufeinander abzustimmen. Das Wirtschaftskabinett hat dafür bereits vielversprechende Vorarbeit geleistet. Eine gute Zusammenarbeit der Ressorts wird aber nur möglich sein, wenn entsprechende Unterlagen zur Verfügung stehen. Es geht nicht an, daß jedes Ministerium mit seinen eigenen Zahlen arbeitet. Was wir brauchen, ist ein einheitliches Nationalbudget oder eine einheitliche Gesamtrechnung. Qualifizierte Fachleute müssen eine Gewähr dafür bieten, daß die erarbeiteten Zahlen in jeder Hinsicht richtig sind.
Der frühere niedersächsische Finanzminister Professor Dr. Georg Strickrodt, ein Mann, der der CDU angehört und der heute als Finanzwissenschaftler einen gewissen Ruf genießt, hat ebenfalls in Vorträgen und Publikationen nachdrücklich darauf hingewiesen, daß die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung als ein Element der Finanzverfassung eine Notwendigkeit unseres komplexen modernen Staatswesens geworden ist, bei dem der öffentliche Finanzbedarf in immer größerem Umfange alle Zweige der ökonomischen und sozialen Aktivität der Gemeinschaft beeinflußt und bestimmt. Und schließlich: sogar der Herr Bundesfinanzminister deutete in einem Brief an meinen Freund Helmut Schmidt an, daß auch er und sein Ministerium sich schüchtern gewisser Ansätze einer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung bedienen. Auch die „Allgemeinen Vorbemerkungen" zum Bundeshaushaltsplan für das Rechnungsjahr 1955 enthalten einen kleinen Anlauf in dieser Richtung.
Nach unserer Meinung ist das aber längst nicht genug, vor allem deshalb nicht, weil an die öffentliche Finanzwirtschaft ganz andere Probleme herantreten und weil vor allem auch die öffentliche Kontrolle der Ausgabenwirtschaft in einem Augenblick, in dem man sich anschickt, die Rüstungsaufgaben hinzuzufügen, ein eminentes Problem der parlamentarischen Demokratie wird, das nur dann bewältigt werden kann, wenn alle Unterlagen in weitestem Umfang öffentlich zur Verfügung stehen.
Meine Damen und Herren! Ich darf hier die sozialdemokratische Auffassung zu dieser wichtigen Frage in Umrissen darstellen. Um keine Legenden aufkommen zu lassen, möchte ich gleich vorweg sagen: Was wir fordern. hat nichts zu tun mit irgendeiner Form der Planwirtschaft in dem Sinne etwa, daß man als Grundlage für einen vom Parlament zu beschließenden starren Wirtschaftsplan solch ein Instrument fordere. Wir fordern nicht ein Nationalbudget als ein in die Zukunft weisendes Tableau mit Vollzugsverbindlichkeit, so wie es der Haushaltsplan ist. Was wir fordern, ist eine jährlich nachträglich vorzulegende volkswirtschaftliche Bilanz, eben das, was man volkswirtschaftliche Gesamtrechnung nennt. Solche nachträglichen Bilanzen mit Kommentaren, Analysen und daraus abgeleiteten Prognosen für die weitere Entwicklung werden ja im Schoße der Bundesregierung schon seit langem gemacht für bestimmte Zwecke, nämlich für die OEEC. Im Kabinett existiert ein interministerieller Arbeitskreis „volkswirtschaftliche Bilanzen", beim Ministerium Blücher. Hauptakteur ist das Statistische Bundesamt, das selbstverständlich die Unterlagen liefern muß, und sein Präsident. Die Ergebnisse, insbesondere auch die Globalprognosen, werden seit Jahr und Tag für die Finanzaußenpolitik gegenüber der NATO und der OEEC verwendet. Für die Innenpolitik auf dem Gebiet der Finanzen bemüht sich das Bundesfinanzministerium nach dem vorhin schon erwähnten Brief des Herrn Bundesfinanzministers an den Abgeordneten Helmut Schmidt um „überzeugende Aussagen" — das muß ich nun in Gänsefüßchen setzen — „über die Auswirkung der jeweils zur Erörterung stehenden Maßnahmen der Finanzwirtschaft oder Sozialpolitik".
Diese Arbeiten, von denen ich sprach, sind bisher quasi geheim. Sie werden in trockener, wissenschaftlich-akademischer Manier vom Statistischen Bundesamt veröffentlicht in einer Weise, die kaum der breiten Öffentlichkeit zugänglich ist. Aber die Regierung stellt offenbar keine gedankliche Verbindung zwischen ihrer Wirtschafts-, Finanz- und übrigen Politik und den Daten dieser Bilanz her. Nicht ohne Grund spricht Herr Professor Strickrodt deshalb in der „Deutschen Zeitung und Wirtschaftszeitung" von einer apokryphen Praxis, d. h. von einer — man kann es auch gut deutsch sagen, ohne den Ausdruck wörtlich zu übersetzen — etwas undurchsichtigen, ja zweifelhaften Praxis.
Bisher — und das ist das Ergebnis dieser im Verborgenen erarbeiteten Bilanzen — haben verschiedene Minister die Ergebnisse dieser Bilanzen zu sehr zweckgefärbten Prognosen verwendet. Der Herr Bundesfinanzminister — und dafür ist er ja Finanzminister — operiert auf der Basis der Ergebnisse solcher Untersuchungen in der Regel mit einer geringen Zunahme des Sozialprodukts und mit geringen Steuerzuwächsen. Der Grund ist sehr naheliegend. Der Herr Bundeswirtschaftsminister, der übrigens, wie ich hörte, hier im Hause war mit einer großen Rede in der Tasche und, ohne die Rede zu halten, das Haus wieder verlassen hat — den Grund kenne ich nicht —, verfolgt genau die gegenteilige Praxis. Bei ihm ist immer alles groß, auch auf Grund solcher mehr oder weniger geheimen Untersuchungsergebnisse.
Die politische Absicht dieser verschiedenartigen Praxis ist klar. Aber diese Praxis schafft keine Klarheit, sondern das Gegenteil. Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium, von dessen Gutachten ich bereits sprach, hat die wichtigsten Vorteile einer echten volkswirtschaftlichen Gesamtbilanz in fünf Punkten formuliert. Man kann dieser wissenschaftlichen Autorität wohl zutrauen, daß sie nicht aus einem politischen Vorurteil, oder um der Bundesregierung Unannehmlichkeiten zu bereiten, zu solchen Ergebnissen kommt, sondern daß es sehr wohl überlegt ist. Dieser Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium sagt, die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung sei 1. ein unerläßliches Hilfsmittel zur Koordinierung der wirtschaftspolitischen Maßnahmen des Staates, 2. ein bedeutsames Instrument für die autonome Lohnpolitik der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen, 3. eine Vervollständigung der Marktanalysen der einzelnen Unternehmungen, 4. eine Möglichkeit zur Erarbeitung von Aussagen über die zukünftigen Auswirkungen wirtschafts-
politischer Maßnahmen — eine eminent wichtige Sache, 5. eine zuverlässige Methode der wirtschaftlichen Analyse auf lange Sicht, der besonders im Rahmen von Entwicklungsprogrammen große Bedeutung zukomme.
Wir Sozialdemokraten können diesen Formulierungen in vollem Umfange zustimmen. Aus ihnen ergibt sich zugleich, daß es keineswegs so ist, wie manche Leute, die gegen die Verwendung volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen auftreten, meinen, daß nämlich diese volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen Hebel zu planerischen Exzessen seien. Im Gegenteil, sie sind gegenüber jeder Form der Wirtschaftspolitik neutral, und keine moderne Gesamtpolitik kann auf sie verzichten.
Meine Damen und Herren! Besonders erforderlich ist es — ich betone es nochmals —, die Notwendigkeit der Koordinierung hervorzuheben, nachdem man doch immerhin auf eine gewisse Art von Rüstungswirtschaft zusteuert. Ich will die Frage nicht erörtern, wer diese Rüstungswirtschaft kontrollieren und lenken soll; das ist eine Sache für sich.
Wie stellen wir uns praktisch eine solche volkswirtschaftliche Gesamtrechnung vor? Ich will auch dazu einige Bemerkungen machen. Wir glauben, daß dafür Beispiele vorhanden sind. Es gibt die Empfehlungen der Vereinten Nationen, und es gibt die volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen, die Statistiken der OEEC, an denen ja die Bundesrepublik bereits durch einen eigenen Beitrag mitarbeitet. Es ist nicht einzusehen, warum man nur für die finanzielle Außenpolitik mit solchen Dingen arbeitet und nicht auch im Innern davon vollen Gebrauch macht.
Zu diesen die Gliederung, den Aufbau und die Methode bestimmenden Empfehlungen, von denen ich sprach, wäre eine einfache Form der Darstellung zu setzen, die zumindest etwas über die Einkommensbildung und -verwendung, über die Kapitalsbildung und -verwendung aussagen muß, ja, eine Investitionsbilanz enthalten muß, eine Zahlungs- und Handelsbilanz, eine Sozialleistungsbilanz, die konsolidierten Kosten der öffentlichen Haushalte und den Versuch einer konsolidierten Kostendarstellung der privaten Haushalte. Zu diesen Unterlagen wäre ein Kommentar notwendig, der verantwortlich vom Kabinett verabschiedet wird und der auch Schlußfolgerungen für die künftige Politik enthält. Über den Termin läßt sich reden, je nachdem das Haushaltsjahr mit dem Kalenderjahr beginnt oder bleibt, wie es gegenwärtig ist. Jedenfalls müßten die Unterlagen rechtzeitig zur Verabschiedung des Haushalts vorliegen, damit das Parlament neben den reinen Haushaltsziffern auch eine volle Übersicht darüber hat, wie sich diese Zahlen in die Gesamtbilanz eingliedern.
Wir würden, wenn wir das tun — ich habe die Sorge, daß wir dabei einigen erheblichen Bedenken begegnen werden —, keineswegs als Pioniere erscheinen. Im Gegenteil. In den Vereinigten Staaten wird diese Praxis seit langem geübt. Jedes Jahr wird dem Kongreß zu Jahresbeginn der „Economic report of the president" erstattet, eine volkswirtschaftliche Gesamtbilanz für die Vereinigten Staaten. In England wird jedes Jahr kurz vor der
Etateinbringung der „Economic survey" veröffentlicht, und das ist nicht etwa eine Erfindung der Labour-Regierung von 1945; im Programm der konservativen Regierung von 1947 wird ebenfalls ein „national budget of our economy" — ein Nationalbudget unserer Wirtschaft — gefordert. Man braucht außerdem nur darauf hinzuweisen, daß eine Reihe von Staaten in Europa, Holland, Norwegen, Schweden, eine ausgedehnte und erprobte Praxis auf dem Gebiete der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen als Unterlage für die gesamte Regierungspolitik haben.
Wir sind überzeugt, daß auch die Bundesrepublik diesen Weg beschreiten muß, denn nur so wird die Lösung bestimmter vordringlicher Probleme unseres sozialen und ökonomischen Lebens unter den jetzt sich herausbildenden Bedingungen möglich sein.
Ein gutes Beispiel zur Illustration liefert die Sozialpolitik. Niemand in diesem Hause wird bestreiten, daß eine spürbare Verbesserung der Altersrenten unserer arbeitenden Bevölkerung nicht länger auf sich warten lassen kann. Der Bundesarbeitsminister hat nach langen Jahren der Vorbereitung, nachdem er es von Zeit zu Zeit als unmittelbar bevorstehend angekündigt hatte, endlich vor einigen Wochen die versicherungstechnischen Bilanzen für die Rentenversicherung der Arbeiter und die Rentenversicherung der Angestellten vorgelegt. Der darin aufgezeigte versicherungstechnische Fehlbetrag ist zwar weit geringer, als man zeitweise angenommen hatte. Er ist aber immer noch so groß, daß — offenbar als Sicherungsmaßnahme — bereits heute eine Erhöhung des gegenwärtigen Beitragssatzes oder eine Erhöhung der öffentlichen Zuschüsse oder eine Verbindung beider Maßnahmen in Angriff zu nehmen wäre. Wie sieht es in Wirklichkeit aus, jenseits dieser versicherungstechnischen Bilanz? Darüber gibt eine Veröffentlichung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Auskunft, die unter der Überschrift „Die Rentenversicherung 1953 bis 1998 im Rahmen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung" — das ist der ganze Titel dieser Veröffentlichung — erschienen ist. Ich darf daraus zitieren:
Volkswirtschaftlich ist allerdings die den Vorausberechnungen zugrunde gelegte Voraussetzung konstanter Löhne und Gehälter und damit konstanter Beiträge zur Sozialversicherung durchaus unrealistisch. Schon vom Jahre 1953 bis zum Jahre 1954 haben das Nettosozialprodukt um über 8 %, die Bruttolohn- und Gehaltssumme sowie das Beitragsaufkommen der Sozialversicherung um fast 9 % zugenommen. Wenn auch mit einem derartigen Zuwachs künftig auf die Dauer nicht zu rechnen ist, so wird doch über sehr lange Zeit eine durchschnittliche Wachstumsrate des Sozialprodukts von 2 bis 3 % schwerlich unterschritten werden. Dies würde aber bereits eine Verdreifachung des Sozialprodukts innerhalb von 45 Jahren bedeuten.
Man muß j a bei einer Reform über solche Zeiträume hin denken. Man kann nicht für den Tag oder für das nächste Jahr Berechnungen anstellen.
Es ist anzunehmen, daß die Löhne und Gehälter ihren Anteil am Sozialprodukt wahren und entsprechend im gleichen Ausmaß steigen werden. Dagegen wird die Entwicklung des Beitragsaufkommens hinter diesem Satz zu-
rückbleiben, da ein steigender Anteil der Löhne und Gehälter die Pflichtversicherungsgrenze überschreiten wird.
Soweit das Zitat.
Um zu zeigen, in wie hohem Maße die Ergebnisse der Vorausberechnungen von einer realistischen Annahme über das volkswirtschaftliche Wachstum abhängen, wurde vom Institut für Konjunkturforschung in Berlin eine leichte Steigerung für das Aufkommen der Rentenversicherungen, und zwar eine Wachstumsrate von jährlich 2 % für die Invalidenversicherung und von 1,5 % für die Angestelltenversicherung unterstellt. Die übrigen Voraussetzungen für die Vorausberechnung wurden beibehalten. Das überraschende Ergebnis einer derartigen Abwandlung der amtlichen Vorausberechnungen kann so zusammengefaßt werden — auch ein Zitat —:
Bei der Invalidenversicherung würden unter den neuen Voraussetzungen die Einnahmen innerhalb von 45 Jahren statt auf jährlich 5,6 Milliarden DM auf 10,5 Milliarden DM ansteigen. Das würde nicht nur ausreichen, um bei gleichbleibenden Versicherungsleistungen auf die Dauer Überschüsse der Einnahmen über die Ausgaben zu erzielen, sondern darüber hinaus wäre es möglich, die Renten und sonstigen Versicherungsleistungen um zunächst 20 %, später sogar um einen weit höheren Satz aufzubessern. Auch die Angestelltenversicherung wäre unter der neuen Voraussetzung in der Lage, eine Verbesserung ihrer Leistungen im durchschnittlichen Ausmaß vorzunehmen.
Ich habe diese Zitate nicht gebracht, um mich oder meine Fraktion mit den Ziffern zu identifizieren, sondern um zu zeigen, wie man die Möglichkeiten einer volkswirtschaftlichen Gesamtbilanz benutzen kann, um lange, lange Prozesse einigermaßen vorauszuberechnen und dadurch bei entscheidenden wirtschafts- oder sozialpolitischen Maßnahmen einen sicheren Boden unter den Beinen zu haben.
Nun möchte ich mich für einen Augenblick noch einigen anderen Fragen zuwenden, die im Zusammenhang mit dem Haushalt nicht ohne Interesse sind. Wir sprechen viel vom Wachstum der öffentlichen Verwaltung. Es gibt darüber amtliche Zahlen. Sie sind allerdings nicht bis in die letzte Zeit fortgeführt. Das ist bei der Überschneidung der Haushaltsjahre mit den Kalenderjahren auch nicht ohne weiteres möglich. Wenn man sich diese Zahlen ansieht, dann ist unverkennbar, daß die Bundesrepublik und die in ihr tätigen Gebietskörperschaften etwa im Jahre 1953 schon auf einem räumlich viel kleineren Gebiet beinahe einen so hohen Personalbedarf hatten wie das Deutsche Reich etwa im Jahre 1930.
Ich will hier nicht darüber sprechen, was diese Zahlen über Fehlentwicklungen aussagen. Aber ich meine, wir sollten sie uns einmal gründlicher ansehen, vor allem dann, wenn es darum geht, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung zu überprüfen und aus dem vielbesprochenen Schlagwort von der Verwaltungsreform eine Realität zu machen, mit der wir uns dann auch sehen lassen können.
Meine Damen und Herren, eine deutlich spürbare Tendenz zur Ausweitung der Verwaltung — und
das trotz des allgemeinen Rufes nach Verwaltungsvereinfachung — läßt sich auf vielen anderen Gebieten und in vielen anderen Zahlen wiederfinden. Die finanzielle Seite der Aufblähung der Verwaltung ergibt sich aus dem Personalaufwand, nicht nur nach der Zahl der Beschäftigten, sondern auch nach dem Volumen an Geld, das dafür in Anspruch genommen wird. Im Jahre 1954, also im vergangenen Haushaltsjahr, betrug der Personalaufwand — wobei ich nichts gegen die beschäftigten Personen sage, sondern nur das Faktum feststelle — der öffentlichen Hand in der Bundesrepublik, also Bund, Länder, Gemeinden und die verschiedenen Wirtschaftsunternehmungen in öffentlicher Hand wie Bundespost und Bundesbahn, insgesamt 17,3 Milliarden DM, d. h. ein gutes Drittel des gesamten öffentlichen Finanzvolumens. Im einzelnen sind daran beteiligt die Bundesverwaltung mit 2,1 Milliarden DM, die Länderverwaltungen mit 5,2 Milliarden DM, die Gemeindeverwaltungen einschließlich der Gemeindeverbände mit 3,4 Milliarden DM, die Bundesbahn mit 3,4 Milliarden DM, die Bundespost mit 2,0 Milliarden DM und die sonstigen öffentlichen Unternehmungen mit 1,2 Milliarden DM.
Der reine Finanzbedarf der öffentlichen Haushalte hat ebenfalls von Jahr zu Jahr zugenommen. Wir sehen es an den Abschlußzahlen unserer Bundeshaushalte. Aber für die Gesamtheit der öffentlichen Haushalte ist doch bezeichnend, daß — ich will ein Jahr nehmen, das einigermaßen vergleichbar ist, nämlich das Jahr 1950 — der öffentliche Finanzbedarf von 27,3 Milliarden DM im Jahre 1950 auf 43,4 Milliarden DM im Jahre 1953 angewachsen ist. Darin spiegelt sich eine gewaltige Steigerung der öffentlichen Aufgaben und Ausgaben wider, und immer wieder erhebt sich die Frage, ob das in allen Fällen so sein muß.
Dabei können wir feststellen — und das ist nun ein Punkt, an dem wir auch bei den Haushaltsberatungen immer wieder hängengeblieben sind —, daß sich in allen Zweigen der Verwaltung eine Tendenz zur Umwertung früherer Werte bemerkbar macht, die eigentlich bisher nicht genügend gerechtfertigt werden konnte. Wo früher ein Regierungsrat saß, da sitzt jetzt schon nicht mehr diese Inkarnation des früheren höheren Beamten, da sitzt ein Regierungsdirektor oder gar ein Ministerialrat.
Die Zahl der höheren Beamten ist in einer Weise gewachsen, die man sich nur dadurch erklären kann, daß entweder das Streben nach einer höheren Besoldung nicht auf dem Wege über eine ordentliche Besoldungsreform zu befriedigen war, sondern auf dem Wege über eine höhere Einstufung befriedigt werden mußte — aber das ist auf die Dauer ein unerträglicher Zustand! —
oder daß sonst irgendwelche tiefgreifenden psychologischen Veränderungen in den Menschen vorgegangen sind, so daß heute ein Ministerialrat eben nur noch das wert ist, was früher ein Regierungsrat wert war.
Ich weiß es nicht, ich kann es nicht beurteilen. Es
wird uns immer wieder gesagt: Ja, wenn wir
irgendwo verhandeln, dann kann doch ein bloßer
Oberregierungsrat nicht mit einem Ministerialrat verhandeln; der wird ja gar nicht gleichgewertet. — Meine Damen und Herren, dieser Aberglaube an Rang und Titel ist einfach ein deutscher Unfug, den wir nicht akzeptieren sollten!
Schließlich, meine Damen und Herren, möchte ich auf einen Punkt zu sprechen kommen, der in diesem Zusammenhang gerade für das Parlament nicht ohne Bedeutung ist. Wir haben durch einen Beschluß des 1. Deutschen Bundestages die Institution des Bundesbeauftragten für die Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung geschaffen, in Personalunion mit dem Präsidenten des Bundesrechnungshofs. Man kann sagen, daß sich diese Institution etwas eingelebt hat und daß sie in vielfacher Hinsicht zur Prüfung einzelner Verwaltungen herangezogen wird. Was dann aus dem Ergebnis dieser Prüfungen wird, ist eine ganz andere Sache. Nichtimmer finden sie den Weg in die Wirklichkeit. Häufig bleibt so ein Gutachten irgendwo stecken im Gestrüpp der Interessen, im Kampf der Ressorts miteinander. Gegengutachten, die gar nicht verlangt worden sind und die meistens den Standpunkt der Interessenten repräsentieren, werden ins Feld geführt, um die sachlichen und gründlich erarbeiteten Ergebnisse des Bundesbeauftragten und seiner Behörde wertlos zu machen, zu entkräften und aus dem Sattel zu heben. Mir scheint, meine Damen und Herren, daß das Parlament insbesondere die Aufgabe hätte, wenn schon Aufträge an eine solche Institution erteilt werden, die Ergebnisse ihrer Arbeit so ernst zu nehmen, daß man nicht eines Tages sagen müßte: Wir haben da eine völlig überflüssige Sache geschaffen, deren Ertrag im umgekehrten Verhältnis steht zu dem Aufwand, den man damit getrieben hat, oder zu den Erwartungen, die man darauf gesetzt hat. Ich sage das nicht, weil ich im Einzelfall Kritik üben will, sondern weil ich uns alle daran mahnen wollte, daß eine solche Institution wie der Bundesbeauftragte für die Wirtschaftlichkeit vom Standpunkt des Parlaments und der parlamentarischen Kontrolle jede Förderung und jeden Respekt verdient.
Wir können uns einer solchen Institution als eines ausgezeichneten Mittels zur Kontrolle der Verwaltung, ja dartiber hinaus, und das ist der wunde Punkt, auf den ich zu sprechen komme, auch zur Vereinfachung der Verwaltung bedienen. Denn da scheint mir eben bei uns in der Bundesrepublik noch manches nicht ganz begriffen zu sein. Die Aufgaben des Herrn Bundesbeauftragten sind doch nicht nur so zu verstehen, daß er die Stellen- und Organisationspläne nachprüft und ausrechnet, ob eine Aufgabe, mit dem oder jenem Rang bedient werden und in diesen oder jenen Zusammenhang hineingestellt werden muß. Er sollte auch nachprüfen, ob in der Gesamtverwaltung nicht zu viele Überschneidungen vorhanden sind, ob nicht zu viele Instanzenzüge da sind, die den Gang der Geschäfte aufhalten zum Schaden der Staatsbürger, die von dieser Verwaltung etwas wollen.
Es gibt nicht nur die Überschneidung von Aufgaben, es gibt auch die Überschneidung, die Häufung von Kompetenzen, so daß das ganze Gewirr
der Verwaltung für viele Menschen, die sich ihrer
bedienen müssen, völlig undurchsichtig wird. Wir
haben immer wieder feststellen müssen, daß an
vielen Stellen im Bereich der Bundesressorts Doppel- und Mehrfacharbeit gemacht wird. Auch das müßte einmal einer gründlichen Prüfung unterworfen werden. Außerdem - das ist vielleicht ein kleinerer Punkt, aber ein Punkt, der möglicherweise finanziell nicht ohne Bedeutung ist — sollten wir, solange wir noch diese Form der Haushaltsgestaltung haben, einmal die vielen, vielen kleinen Titelchen unter die Lupe nehmen und feststellen, ob nicht manches Töpfchen nur deshalb existiert, damit sich ein Referent daran wärmen kann, ich meine nicht im finanziellen Sinne, sondern in dem Sinne, daß er sich dabei eben seine Position, seine Planstelle halten kann. Manches ist da einfach eingefroren, und weil es einmal da ist, deshalb soll es auch so bleiben? Wir glauben. nicht, daß das so sein muß.
Schließlich, meine Damen und Herren, komme ich zu einem zentralen Anliegen der sozialdemokratischen Fraktion, ich möchte sagen, geradezu zur Gretchenfrage der parlamentarischen Demokratie. Wir sind im Begriffe, auf ein Gewässer hinauszusegeln, das zwar manchem unserer Landsleute bekannt ist, aber denen, denen es bekannt sein müßte, den Trägern der politischen Verantwortung, vermutlich nicht genug bekannt ist, nämlich auf das weite und gefährliche Meer von Militärausgaben. Wir sind schon skeptisch geworden gegenüber den Möglichkeiten, eine echte parlamentarische Kontrolle der zivilen Verwaltung durchzuführen. Noch skeptischer müßte man 'eigentlich sein, wenn es sich darum handelt, die schlechten Traditionen der deutschen Vergangenheit auf diesem Gebiete zu vermeiden, und zwar deshalb, weil die Anfänge, die wir hier erlebt haben und bei denen es noch nicht um den Kern der von mir erwähnten Frage geht, für den Fortgang nicht gerade ermutigend sind. Wenn wir nicht dazu kommen, in vollem Umfang eine strikte parlamentarische Kontrolle über alle militärischen Ausgaben zu etablieren — eine Kontrolle, die von den politischen Vorurteilen gegen die Opposition frei ist, die das als eine Gesamtaufgabe des Parlaments betrachtet —, dann, glaube ich, werden wir früher oder später an dem Punkt landen, wo wieder einmal das Militär dem Parlament ein X für ein U vormachen und im Schatten des Geheimnisses tun kann, was es will, zum Schaden der Demokratie!
Das Parlament sollte sich heute schon, wie immer man politisch zu diesen Entwicklungen steht — und die Haltung meiner Fraktion ist ja kein Geheimnis —, auf den Standpunkt stellen: In Fragen der Militärausgaben gibt es vor dem Parlament kein Geheimnis.
Damit, meine Damen und Herren, komme ich zu dem letzten Punkt. Ich berühre die große Sorge, die die sozialdemokratische Bundestagsfraktion für die innere Entwicklung der deutschen Demokratie hat. Mein Freund Walter Menzel hat dieses Thema heute vormittag hier behandelt, und ich habe es daher nicht nötig, auf Einzelheiten einzugehen. Ich muß allerdings sagen: die Resonanz, die seine Ausführungen gefunden haben, hat mich und viele meiner Freunde einigermaßen bestürzt gemacht. Ich bin der Überzeugung, daß die deutsche Demokratie keineswegs über den Berg ist und daß wir vor einer Entwicklung stehen, die alles an Gefahren, an Drohungen für eine freie Entfaltung des
staatsbürgerlichen Selbstbewußtseins in einer freien demokratischen Ordnung in sich hält.
Nicht als ob wir meinen, daß das Stahlhelm-Treffen da und dort oder das Treffen der Nazi-Internierten aus der Zeit nach 1945 oder sonstige größenwahnsinnige Unternehmen der ewig Gestrigen bereits heute die demokratische Ordnung bedrohten. Aber wir sollten uns doch darüber klar sein, daß sich in diesen Ansätzen eines offenbart, was ich leider als ein Resultat der politischen Entwicklung in der Bundesrepublik in den letzten Jahren bezeichnen muß: der Glaube mancher Leute von vorgestern, daß die Entwicklung sie eigentlich bestätigt habe und daß man ohne sie nicht auskomme.
Ist es notwendig, daß wir immer wieder den Aberglauben dieses Typs von Zeitgenossen bestätigen? Sollten wir nicht vielmehr uns alle die Frage vorlegen — und ich bin überzeugt, daß es in diesem Hause in fast allen Fraktionen Männer und Frauen gibt, die dieselbe Sorge erfüllt —, sollten wir nicht einen Weg suchen, um gerade diese Gefahren einer Entwicklung, die Sie wollen, die wir bekämpft haben und noch bekämpfen, rechtzeitig ins Auge zu fassen und aufzufangen, ehe sie uns allen über den Kopf wachsen?
Ich möchte mit einem Satz schließen, der in einer Broschüre enthalten ist, die in diesen Tagen vom Amt Blank herausgegeben worden ist, eine Broschüre, die die Rolle des künftigen deutschen Soldaten behandelt, mit einem einzigen Satz, der am Schluß meiner Ausführungen stehen soll: „Entscheidend ist das Gesetz des Anfangs". Ich wollte, Herr Blank und die Regierung, der er angehört, hätten begriffen, wieviel Wahrheit in diesem Satz ist.
Daß wir Sozialdemokraten einen Bundeshaushalt ablehnen, dessen politische Grundlage wir ablehnen und bekämpfen, bedarf in diesem Zusammenhang nur der Erwähnung.