Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Frage, ob es berechtigt ist, der sogenannten Heimatvertriebenenwirtschaft und den Flüchtlingsunternehmen gewisse Begünstigungen zuzubilligen, die Frage, ob es in der Wirtschaft überhaupt noch Sonderprobleme geben kann, —diese Frage wird oft gestellt, und sie wird natürlich auch beantwortet. Aber sie wird verschieden beantwortet, und es gibt Leute, die heute denken oder sagen werden, die Heimatvertriebenen wollten wieder ihre Extrawurst zugeteilt haben. Die Wahrheit ist doch die, daß es eben Sondersorgen und daß es im deutschen Wirtschaftskörper Sonderprobleme gibt. Wir haben darüber ja erst am 15. Oktober in diesem Hohen Hause anläßlich der Debatte über die Investitionshilfe gehört. Es gibt heute noch Sorgen der demontierten einheimischen Wirtschaft, und auch die Existenzsicherung des Mittelstandes beispielsweise ist wirtschaftlich und politisch sehr bedeutsam. Es geht also nicht darum, eine Extrawurst zugeteilt zu bekommen; es geht aber um etwas anderes. Es ist wahr, man soll die Zeit der Begünstigungen und Förderungen einzelner Wirtschaftszweige nach Möglichkeit abkürzen, und man soll das Problem natürlich im Rahmen des Gesamtbildes sehen. Es ist ja keine Offenbarung; jeder von uns weiß, daß gerade in unseren Tagen Sach- und Sonderprobleme in großer Zahl auf uns zukommen. Es ist Aufgabe einer wirklich planvollen Überlegung, diese Sonderprobleme auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.
Ich möchte also sagen, daß in dieser Hinsicht der Antrag der CDU/CSU sicher des Nachdenkens wert ist. Man soll darüber Überlegungen anstellen.
Aber, Kollege Kuntscher, ich finde, dieser Antrag ist nicht ganz zeitgemäß, ist nicht termingerecht. Er kommt mir ein bißchen spät. Außerdem habe ich das Gefühl: er zeigt Züge der Unsicherheit und der Unklarheit, und er hat kein Profil. Es steckt vieles Richtige in diesem Antrag. Aber was sollen wir mit ihm anfangen? Ich möchte nicht bei Reminiszenzen verweilen. Aber am 23. September, anläßlich der Debatte über die Große Anfrage der SPD betreffend Vertriebenen- und Flüchtlingsprobleme haben wir hier ja diese ganze Problematik erörtert und durchdiskutiert. Heute ist das eine Neuauflage. Ich hoffe — und das werde ich noch zum Schluß deutlich aussprechen —, daß es nicht wieder so geht wie nach dem englischen Sprichwort: Der Gong zum Mittagessen hat geschlagen, aber Mittagessen hat keins stattgefunden.
Es geht wirklich darum, daß wir etwas Konkretes zeigen. Und darüber hinaus: da ist das Bundesvertriebenengesetz. Dort sind doch in den §§ 71, 72, 73 und 79 fast alle Voraussetzungen festgelegt, die Sie heute in Ihrem Antrag verlangen. Wahrscheinlich ohne es zu wollen, haben die Kollegen Götz und Kuntscher und die weiteren Antragsteller mit diesem Antrag indirekt und unausgesprochen zugegeben, daß der ganzen, sagen wir, Wirtschaft und Regierungspolitik die aufbauende gemeinsame Linie fehlt.
Das ist es ja eben. Man muß sich fragen: Warum sind denn bis jetzt so wenig Fortschritte in der Realisierung der §§ 71, 72, 73 und 79 des Bundesvertriebenengesetzes gemacht worden?
Da zeigt sich der Verfahrensweg und die Verfahrenspraxis der Bürokratie. Aber wenn es beispielsweise um den § 13 geht — § 13 des Bundesvertriebenengesetzes betrifft .die Beendigung der Inanspruchnahme von Rechten und Vergünstigungen —, da könnte ich Ihnen sagen, wie fix die Ämter sind, einen Abschluß der Wirksamkeit dieses Paragraphen zu finden. — Nun, natürlich muß eine Beendigung in Sicht sein, selbstverständlich muß die Betreuung einmal ein Ende nehmen. Das ist ja der Sinn unseres Verlangens nach rascher Eingliederung.
Ich will also nur sagen, daß es hier verschiedene Tempi gibt, bei § 71 anders als bei § 13.
Meine Freunde und ich haben — lang, lang ist's her! — im Jänner 1952 den Antrag gestellt, 500 Millionen DM für diese Zwecke zur Verfügung zu stellen. Das ist der sogenannte Odenthal-Plan gewesen. Und was ist geschehen? Unter Vorantritt des Bundesfinanzministeriums ist dieser Antrag zu Grabe getragen worden.
Das war der Tatbestand.
Ich begrüße es, daß man auch von seiten der CSU diesen Antrag stellt. Wir haben ja auch im April dieses Jahres anläßlich der Tagung der heimatvertriebenen Wirtschaft dazu gesprochen. Ich habe damals die Grundsätze, die Sie da verlangen, im Namen meiner SPD-Freunde entwickelt. Der Herr Bundeswirtschaftsminister hat auch dort seine Verbeugungen gemacht und Beteuerungen ausgesprochen. Bis heute habe ich aber nicht viel davon gehört, was daraufhin geschehen ist. Das ist nämlich der Punkt, über den wir uns noch ganz konkret unterhalten müssen, daß wir aus dem Zustand dieser unverbindlichen Beteuerungen herauskommen.
Ich glaube, Zustimmung auf allen Bänken zu erhalten, wenn ich sage, daß das Verlangen nach Förderung und Festigung der Vertriebenenbetriebe und Flüchtlingsunternehmungen die Stärkung der gesamtdeutschen Wirtschaftskraft und insbesondere die Unterstützung der mit Flüchtlingen und Vertriebenen überbelasteten Länder bzw. der uns allen bekannten Notstands- und Grenzlandgebiete bezweckt.
Dies würde der Milderung der strukturellen Arbeitslosigkeit dienen.
Trotz der saisonbedingten Erleichterungen auf dem Arbeitsmarkt, die ich begrüße, müssen wir doch sagen, daß die heute zur Debatte stehenden Betriebe konsolidiert werden müssen, weil sie nicht krisenfest sind und bei der ersten wirtschaftlichen Erschütterung zu Fall kommen können. Daran ist die Gesamtwirtschaft sehr interessiert. An die saisonbedingten Erleichterungen kann man nicht die Hoffnung knüpfen, daß sie von Dauer sein werden, weil der Schwerpunkt der Arbeitslosigkeit heute noch in den mit Vertriebenen und Flüchtlingen überbelegten Ländern, also auch in den Notstandsgebieten liegt.
Die Industriebetriebe, die heute zur Diskussion stehen, haben wichtige volkswirtschaftliche Aufgaben zu erfüllen. Sie wurden bei ihrer Gründung 1946, 1947 oder 1948 und 1949 durch die Gemeinden und die Länder und dann durch den Bund deswegen gefördert, weil sie einen wertvollen Beitrag zur Ergänzung ihrer wirtschaftlichen Struktur zu leisten versprachen und auch leisteten. Aus der Notwendigkeit, die besonderen deutschen Nachkriegsprobleme zu bewältigen, entwickelte sich nicht nur ein Sektor der freien Wirtschaft, sondern es zeigte sich auch die Notwendigkeit, den Sektor der Vertriebenenbetriebe zu fördern und zu unterstützen. Unter den Betrieben dieses Sektors befinden sich auch solche Industrien, die bis 1945 im Bundesgebiet überhaupt nicht oder nur spärlich vorhanden waren. Ich weise insbesondere auf die folgenden Industriezweige hin: Glas- und Schmuckwaren, Musikinstrumente, Lederhandschuhe, Spielwarenerzeugung, Strümpfe usw. Viele von ihnen haben heute eine sehr ansehnliche Exportleistung aufzuweisen. Ein einziges Beispiel sei aus der Fülle dieser Exportleistungen herausgegriffen: die Gablonzer Glas- und Schmuckwarenindustrie, die sogenannten Neu-Gablonzer Betriebe, deren Exportleistung im Jahre 1953 10 300 000 Dollar und in den ersten neun Monaten dieses Jahres 7 300 000 Dollar betragen hat.
— Darauf komme ich noch. Ich wollte damit nur den Anteil an der Gesamtwirtschaft zeigen, der ja auch wichtig ist.
Nun, Herr Samwer, zu der Frage der Vertriebenen- und Flüchtlingsunternehmungen, denen es schlecht geht. Dr. Götz hat — ich werde das nicht wiederholen — einen fundamentalen Mangel aufgezeigt, nämlich das Fehlen von genügendem Eigenkapital und die Tatsache, daß es zuviel kurzfristige und zuwenig mittel- und langfristige Kredite gibt. Der Kollege Götz hat beispielsweise die verschiedenen Textilindustrien miteinander verglichen. Aber auch allgemein ist die Situation nach den Erhebungen so, daß bei den Vertriebenen- und Flüchtlingsbetrieben die Bilanzen höchstens 20 bis 22 % Eigenkapital aufweisen. Das mittel- und langfristige Fremdkapital beträgt heute noch 33 % und das kurzfristige Fremdkapital sogar 45 %. Das ist doch ein sehr ungesunder Zustand.
Ja, dann krachen Vertriebenenbetriebe und Flüchtlingsunternehmungen zusammen, und man fragt sich, wo denn die Ursache dieses Zusammenbrechens liegt. Von einigen sehr wenigen üblen Fällen abgesehen, wo die menschliche Unvollkommenheit mitspielt, ist der Hauptgrund das Fehlen an Eigenkapital, nämlich die generelle und qualitative Unterfinanzierung. Wir wissen ja, wie das gemacht wurde. Aus der Not der Zeit und aus den Verhältnissen heraus wurde ein Mann auf das Amt gerufen, und man hat gesagt: „Sie brauchen 12 000 Mark, aber wir haben keine 12 000 Mark für Sie. Wir sind zur Breitenstreuung gezwungen. Vielleicht fangen Sie mit 6 000 Mark an. Versuchen Sie nur, es wird schon mit 6 000 Mark gehen." „Na ja", hat er gesagt, „ich versuch's". Er ist mit seinen 6 000 Mark abgezogen, und es ging nicht. Die 6 000 Mark waren auch beim Teufel. Dann gibt's Engagements, nicht nur der öffentlichen Hand, Engagements auch der Wirtschaft. Engagement-Verbindungen sind ja sehr viele. Hinzu kommen bei diesen Betrieben noch die Kettenreaktionen aus einem Gefühl der Solidarität, sei es des gleichen Schicksals oder der Heimatverbundenheit, und aus einer anderen Zwangslage heraus. Man hat natürlich mit Personen aus der alten Heimat, Lieferanten usw. Verbindungen aufgenommen. Die plumpsen nun auch mit in die Kettenreaktion hinein, und es zeigt sich eben mit nüchternen, kaufmännischen und wirtschaftlichen Augen gesehen ein sehr ernster, krisenhafter Zustand: unbezahlte Rechnungen, Wechselschulden, Lieferantenschulden,
— ich komme darauf zurück —, nicht davon zu reden, daß natürlich bei der Gründung die Anfangsgeschwindigkeit gering war.
Es gibt noch ein anderes sehr wesentliches Moment. Wer da zugeschaut, selber dringesteckt hat, der kennt doch den Weg, der oft vom Pferdestall und Bunker zum Betrieb führte mit unvollkommenen, eben nur — gestatten Sie mir dieses Wort — zusammengeschusterten Maschinen. Das war auch, wie Sie wissen, ein großes Handicap. Aber viel wichtiger scheint mir folgendes, und hier zeigen sich jetzt die Unterlassungssünden in unserer Gesetzgebung und die Unterlassungssünden bei der Regierung. Ich denke nur an den Lastenausgleich. Wäre er früher und effektiver eingetreten, hätten wir viele dieser Schwierigkeiten nicht gehabt.
Dies ist alles recht spät gekommen. Vieles muß nachgeholt und irgendwie aufgeholt werden. Man muß diese Unternehmungen konsolidieren, und wir müssen neben der Verbreiterung des Eigenkapitals die Umschuldung befürworten, die Umwandlung von kurzfristigen Krediten in lang- und mittelfristige, damit wir bei einem niedrigeren Zinssatz auch gleiche Wettbewerbsbedingungen schaffen. Darum geht es und um nicht mehr, um keine Vorrangstellungen.
Darüber hinaus möchte ich sagen: die bisherige, traditionelle Form der Besicherungsvorschriften ist nicht mehr haltbar. Sie muß auch geändert werden, weil der hohe Anteil des Fremdkapitals mit zu hoher Verzinsung den Nachweis eines Reingewinns verhindert. Das Fehlen eines Reingewinns aber verhindert, daß mit Hilfe der Vergünstigungen der Fremdkapitalanteil verringert wird. So entsteht ein Circulus vitiosus, aus dem schwer herauszukommen ist, wenn nicht eine rasche Umschuldung vor sich geht. Ich glaube, die Aktion für die Berliner Wirtschaft sollte ein nachahmenswertes Beispiel sein.
Erst später wird sich zeigen — nicht jetzt; es fehlen die Unterlagen und die Ergebnisse einer Statistik —, ob und wann der Abbau steuerlicher Begünstigungen anzustreben ist und wie dieser Wirtschaft außerhalb der Steuerreform geholfen werden kann. Ich denke da an § 10 a und an § 33 a. Weil die Auswirkungen dieser Maßnahmen noch nicht bekannt sind, begrüße ich auch die Forderung der Antragsteller unter Ziffer 4, solche Erhebungen durchzuführen.
Wir müssen aus der Sphäre der unverbindlichen, oft gehörten Beteuerungen herauskommen. Die Leistung und der Einsatz der Arbeitskraft der Arbeiter aus den Vertreibungsgebieten — das muß auch einmal gesagt werden — war ebenso enorm und anerkennenswert wie der Einsatz ihrer einheimischen Kollegen. Dieser Aufbauwille, der sich oft mit der Initiative vieler Unternehmer, mit ihren kaufmännischen, organisatorischen Fähigkeiten glücklich gepaart hat, hat es trotz mangelhafter und schlechter Startbedingungen doch dazu gebracht, daß heute 9000 industrielle Betriebe in der Vertriebenenwirtschaft fast 400 000 Personen beschäftigen. Daher muß im Interesse der Gesamtwirtschaft die Konsolidierung dieser Betriebe abgeschlossen werden. Das ist ein Gebot der Stunde, weil Rückschläge zu erwarten sind, wenn es ernste Störungen geben sollte, — und die kann es eines Tages geben!
Wir müssen uns also fragen: Was kann geschehen? Soll es bei der heutigen Diskussion bleiben — jeder wird seine Verbeugungen machen —, oder können wir diese Wanderdüne — das ganze Problem ist doch eine Wanderdüne — einmal zum Stehen bringen, d. h. dafür sorgen, daß auf dieser Wanderdüne einmal etwas Grünes wächst? Ich möchte daher den ernsten Appell an das Hohe Haus richten, der Anregung und meinem Antrag heute zuzustimmen, den vorliegenden Antrag sofort dem Ausschuß für Heimatvertriebene, dem Ausschuß für Wirtschaftspolitik, dem Ausschuß für Finanz- und Steuerfragen und dem Ausschuß für Geld und Kredit zuzuweisen, damit sich die betreffenden Ausschüsse unverzüglich an die Arbeit machen können und damit dieses vieldiskutierte Problem endlich wenigstens teilweise zu einem befriedigenden Abschluß kommt.