Rede von
August-Martin
Euler
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DP)
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es wundert mich nicht, daß die Moskauer Lautsprecher mich in der von ihnen schon hinreichend gewohnten Art begrüßen.
Aber daß es in diesem Hause außer den Kommunisten noch Abgeordnete gibt,
die in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungsweise das sowjetische Sicherheitsbedürfnis statt unseres deutschen Sicherheitsbedürfnisses stellen, das ist allerdings sehr verwunderlich.
Ich glaube, wir sollten uns weniger Sorgen darum
machen, wo Väterchen Stalin seine Sicherheit findet.
Ihm braucht um seine Sicherheit nicht bange zu
sein, nachdem er aus dem zweiten Weltkrieg mit
einem Machtsystem hervorgegangen ist, das von
Wladiwostok bis nach Eisenach reicht und das er
in dieser Nachkriegszeit nicht nur mit friedlichen,
sondern mit agressiven Mitteln der direkten und
indirekten Kriegführung dauernd ausgeweitet hat.
Unser Sicherheitsproblem ist ja daraus erwachsen, daß die sowjetische Politik fortgesetzt aggressiv gewesen ist,
daß sie seit 1946 kein Jahr hat vergehen lassen, in dem sie nicht Angriffe gesetzt hat. Es waren ja nicht nur Angriffe außerhalb Deutschlands, sondern einer der schwersten und verbrecherischsten Angriffe fand auf Berlin mit der Hungerblockade gegen 21/2 Millionen deutsche Menschen
mitten im Frieden statt!
Das wird von den Neutralisten geflissentlich vergessen, genau so wie es von denen vergessen wird, die heute davon sprechen, daß die hier zur Debatte stehenden Verträge die deutsche Einheit verhindern oder erschweren. Gestern sagte hier der sozialdemokratische Kollege Brandt, die Spaltung Deutschlands werde durch die Verträge versteinert, und eben wiederholte mit anderen Worten auch Frau Wessel, daß die deutsche Einheit durch die Verträge verhindert werde. Ja, wer das sagt, der setzt doch voraus, daß ohne den EVG-Vertrag und ohne die westliche Integrierung der Bundesrepublik die Sowjetunion jetzt schon zur Herstellung der deutschen Einheit in Freiheit bereit wäre, der deutschen Einheit, wie wir sie verstehen, wohlgemerkt, und nicht, wie Sie sie verstehen;
denn wie Sie sie verstehen, das beweisen Sie ja seit 1945 in Mitteldeutschland.
Wir haben die erstaunliche Behauptung gehört, daß die Sowjets zu Verhandlungen mit dem Ziele der Herstellung der Freiheit in Gesamtdeutschland bereit seien; wir haben gehört, es habe bei ihnen ein diesbezüglicher Kurswechsel stattgefunden oder er bereite sich vor. All diese Behauptungen werden auch durch die letzte sowjetische Note widerlegt. Darin hat die Sowjetunion sehr nachdrücklich gerade die einzige materielle Erörterung abgelehnt, die der natürlichen Ordnung der Dinge entspräche: erst freie Wahlen, dann Bildung einer aus freien Wahlen in ganz Deutschland hervorgehenden Regierung und danach Friedensverhandlungen unter Teilnahme dieser aus wirklich freien Wahlen hervorgegangenen und dementsprechend demokratisch legitimierten deutschen Regierung. Die Note der Sowjets hat in nichts erkennen lassen, daß sie zu einer derartigen Gestaltung Deutschlands oder der Freiheit auch in Mitteldeutschland bereit wären.
Dagegen haben sie gerade in den seit der ersten Lesung vergangenen Monaten wiederum Tatsachen geschaffen, die viel beredter als all ihre Noten darüber Auskunft geben, was sie in Wahrheit wollen. Die erste Tatsache ist nachdrücklich genug: der Stacheldraht quer durch Deutschland mit der Fünf-Kilometer-Zone des Schweigens. Die zweite
sehr wesentliche Tatsache: die Menge der von den Sowjets entlang der Zonengrenze ständig hervorgerufenen Grenzzwischenfälle, obwohl keinem Volkspolizisten unbekannt ist, wo die Zonengrenze verläuft, und deshalb Grenzzwischenfälle ausgeschlossen sein sollten, nachdem der Stacheldraht und die Zone des Schweigens geschaffen sind.
Zum dritten: die gerade in den letzten Monaten mit aller Energie betriebene Sowjetisierung des gesamten wirtschaftlichen Lebens. Wir haben erlebt, daß die Landwirtschaft mit einer neuen Kollektivierungswelle überzogen wurde, die jetzt schon bis weit in den mittleren Besitz reicht. Es handelt sich um die Bestrebungen, Kolchosen zu bilden. In der gewerblichen Wirtschaft sehen wir die gleiche Tendenz. Immer mehr ausgesprochene Mittel-, ja schon Kleinbetriebe werden in die Verstaatlichung einbezogen. Wir kennen auch die Parolen von der Aktivierung des Sozialismus, mit denen nichts anderes als die völlige Sowjetisierung der ostzonalen Wirtschaft gemeint ist.
Nun aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, schließlich die vierte wesentliche Tatsache: inzwischen sind die Bereitschaften nicht nur zu militärischen Verbänden umgegliedert, sondern unter das Kommando sowjetischer Offiziere gestellt worden. Diese werden Instruktionsoffiziere genannt; aber tatsächlich liegt die Entscheidungs- und Befehlsgewalt bei ihnen. Diese Offiziere befinden sich nicht nur bei Einheiten wie Divisionen und Regimentern,' sondern ihre Anwesenheit geht hinunter bis in die Bataillone und Kompanien. Zum Ausdruck dessen, daß es sich bei dieser Volkspolizei um eine deutsche Truppe unter sowjetischem Kommando handelt, ist sie auch in eine Uniform gesteckt worden, die der sowjetischen sehr viel mehr angenähert ist, als es die bisherige Uniform der Volkspolizei gewesen ist.
Das sind die maßgebenden Tatsachen, die sich in den letzten Monaten in Deutschland vollzogen haben.
Dazu kommen entscheidende Tatsachen, außerhalb Deutschlands, an denen man die Tendenz der sowjetischen Politik ablesen kann. Da haben wir einmal die Fortdauer der Verhandlungen über den staatsrechtlichen Status einer Nation, die auch einmal von den Sowjets als befreite Nation bezeichnet worden ist. Inzwischen ist man zu 260 Verhandlungen über den österreichischen Staatsvertrag gelangt, ohne daß es gelungen ist, den Sowjets das Zugeständnis abzuringen, wie denn nun die Freiheit dieser befreiten Nation aussehen soll.
Die Waffenstillstandsverhandlungen in Korea werden seit anderthalb Jahren geführt, Sie sind offensichtlich nichts anderes als ein Mittel gewesen, um im Zeichen der Waffenstillstandsverhandlungen die kommunistische militärische Position in Nordkorea auszubauen. In Indochina haben wir eine verstärkte kommunistisch-sowjetische militärische Aktivität festzustellen.
Dazu die Wühlarbeit in Persien, im gesamten Vorderen Orient und in Afrika, — nun, meine verehrten Damen und Herren, diese Tatsachen sind entscheidender als Notenwechsel!
Wer diese Tatsachen verschweigt oder als nicht existent behandelt, der treibt Propaganda für die Sowjets.
In diesem Sinne treiben Propaganda für die Sowjets gerade die Männer und Frauen - mögen sie sich dessen auch nicht bewußt sein; aber tatsächlich ist es so: sie sind behilflich, Illusionen zu erzeugen —, die sich in der famosen Gesamtdeutschen Volkspartei zusammengefunden haben.
Diese Gesamtdeutsche Volkspartei mit ihrer Neutralisierungspolitik würde, wenn sie zum Zuge käme, nichts anderes bewirken, als daß Deutschland in die Lage Koreas gebracht würde
und daß lediglich für uns in Zukunft das eine in Frage stünde: wann denn der Zeitpunkt eines sowjetischen Angriffs, eines sowjetischen Überfalles gekommen wäre.
Die Gesamteinstellung der Sowjets, die aus all diesen von mir angeführten Tatsachen erhellt, findet schließlich ihren Niederschlag in der These, die Stalin aus Anlaß des Kommunistischen Parteitages in Moskau wieder aus der Mottenkiste hervorgeholt hat: der These von der Selbstzerfleischung des kapitalistischen Westens. Wenn die Kommunistische Partei, wenn Stalin als Machthaber der Sowjetunion diese These von der Selbstzerfleischung des kapitalistischen Westens, auf die die Sowjetunion warten könne, wieder hervorholt, dann bedeutet das doch, daß, solange man an die Erfüllung dieser These glaubt, keinerlei Bereitschaft zur Preisgabe von Gebieten des sowjetischen Machtbereichs feststellbar ist.
Die Hoffnung auf die Erfüllung ihrer These muß den Sowjets genommen werden. Sie sehen sich erst dann zu einem Wechsel ihrer Politik veranlaßt.
Sie sehen sich erst dann veranlaßt, von einer Politik der allenthalben befolgten und ausgenutzten Aggressionen, einer Politik des Kalten Krieges, zu einer solchen der Friedenskonsolidierung überzugehen, wenn sie nicht mehr hoffen können, daß sich die Völker der, wie sie sagen, „kapitalistischen Welt" selbst zerfleischen werden, daß sie sich in neue Konflikte stürzen werden oder aber daß sie jedenfalls nicht fähig sein werden, einen Zustand permanenter Desorganisation zu überwinden.
Ob wir den Sowjets diese Hoffnung nehmen, das hängt allein von uns Deutschen hier außerhalb des sowjetischen Machtbereiches ab. Es hängt gleichermaßen von den anderen europäischen Völkern und außerhalb Europas von den Völkern ab, die ebenfalls die Sache der Freiheit vertreten.
Unser Verhalten ist insofern entscheidend, als nur durch dieses Verhalten bewirkt werden kann, ob die Sowjets in Zukunft Deutschland als einen schwachen Punkt in der westlichen Front betrachten können.
Unsere Aufgabe muß sein, an die Stelle eines jetzt noch obwaltenden Zustandes der Zerrüttung durch Desorganisation zwischen den verschiedenen freien Völkern zu einem Zustand der Organisation zum Zwecke der Konzentration zu kommen.
Damit, daß wir eine dahingehende Politik einschlagen und verwirklichen wollen, wird der Ausgleich zwischen der westlichen und östlichen Welt nicht verhindert, sondern es wird überhaupt erst einmal die Voraussetzung dafür geschaffen,
daß er eines Tages möglich ist.
Es ist ja bisher deshalb nicht möglich, weil den Sowjets der Wille fehlt, der für einen Generalausgleich und damit für die Begründung einer langdauernden Friedenspolitik erforderlich wäre.
Dieser Generalausgleich, der eines Tages zu einer Neuabsteckung der Machtbereiche führen wird, ist aber gebunden an den sowjetischen Willen, auch das in Betracht zu ziehen, was die Sowjets heute noch nicht in Betracht ziehen, nämlich auf deutsche und andere europäische Gebiete zu verzichten, von denen sie wissen, daß sie zu 90, 95, ja 98 % von Menschen bewohnt sind, die nur eine Hoffnung und eine Sehnsucht haben: von der sowjetischen Herrschaft freizukommen.
Es ist seit dem Sommer dieses Jahres, soweit ich habe feststellen können, Sitte geworden, bei diesem Problem des — wie ich überzeugt bin — eines Tages eintretenden und zunächst einmal anzustrebenden Ausgleichs davon zu sprechen, daß wir für die Befreiung Mittel- und Ostdeutschlands einen Preis zu zahlen hätten. Ist es eigentlich Aufgabe deutscher Politiker, wenn man von den Kommunisten da drüben absieht, den Sowjets klarzumachen, daß sie einen Preis, und zwar einen möglichst hohen Preis dafür zu fordern hätten?
Sie, meine Damen und Herren von der SPD, leisten der Sowjetunion einen Dienst, indem Sie bei jeder Gelegenheit darauf hinweisen, daß wir wohl einen Preis leisten müssen.
Für uns handelt es sich darum, und dieser Standpunkt sollte von allen Deutschen vertreten werden, daß ein Unrecht, das man uns zugefügt hat, aus der Welt geschafft werden muß. Daß dieses Unrecht nur eintreten konnte kraft eines Vertrags, den die westlichen Mächte mit den Sowjets geschlossen haben, das steht auf einem anderen Blatt. Jedenfalls sollte das für uns nicht das maßgebliche Moment bei der Betrachtungsweise sein. Im übrigen sollten alle diejenigen, die von dem Preis sprechen, das eine bedenken: Wer sagt denn, wie eines Tages die Verhältnisse in der Welt aussehen werden, welcher Art der Preis wäre, wo in der Welt er läge, ob überhaupt auf politischem oder nur auf wirtschaftlichem Gebiet, in wirtschaftlichen Kompensationen, die der Westen dem Osten leisten kann und die für den Osten eines Tages außerordentlich wertvoll sein könnten?
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, alle diese Argumente zeigen, daß der Weg zu einem Ausgleich, zu einer Bereitschaft der Sowjets zum langandauernden Frieden nur über die defensiven Regionalpakte der westlichen Welt
im Rahmen der Vereinten Nationen führt; und defensive Regionalpakte dieser Art sind ja die Europäische Verteidigungsgemeinschaft und die NATO.
Es ist nicht richtig, wenn Kollege Brandt sagt, die Bundesregierung wolle eine bündnisfreie Politik unmöglich machen. Tatsache ist, daß eine bündnisfreie Politik uns und den anderen europäischen Völkern nicht aus der Gefahr heraushilft, in der wir heute durch das Dasein und den Charakter des sowjetischen Systems schweben. Im übrigen sollte es j a wohl hier keine Meinungsverschiedenheit darüber geben, daß sich der defensive Charakter des europäischen Verteidigungsvertrags nicht nur daraus ergibt, daß der Verteidigungszweck vertraglich festgesetzt ist. Wir wissen, wie wenig das unter Umständen zu besagen braucht. Viel wesentlicher ist, daß die europäischen Völker von Friedensliebe durchdrungen sind und daß die europäischen Völker, da es sich durchweg um demokratisch organisierte Völker handelt, überhaupt nicht in der Lage sind, einen Angriffskrieg vorzubereiten und einzuleiten. Das weiß niemand besser als Stalin und das Heer seiner Berater. Niemand weiß besser als die sowjetischen Machthaber, daß moderne Demokratien mit ihrer enormen Gebundenheit an die öffentliche Meinung in Wahrheit unfähig sind, einen Angriffskrieg vorzubereiten. Das können nur diktatorische Systeme.
Die Geschichte der letzten dreißig Jahre hat eindeutig gezeigt — und das ist allerdings ein sehr bedenklicher Tatbestand, den sich auch unsere Opposition zu Gemüte führen sollte —, welchen Vorsprung im rein Faktisch-Machtmäßigen moderne diktatorische Systeme dadurch gewinnen können, daß der gesamte Rüstungs- und Kriegsapparat lediglich davon abhängig ist, daß wenige Machthaber den Hebei der Macht betätigen, während in den demokratischen Staaten eine ungeheure Fülle von Widerständen zu überwinden ist bei jeder Erörterung von Verteidigungsfragen, geschweige denn, daß es sich um Beschlußfassungen handelt.
Der Weg über die Pakte, die EVG und die NATO, ist der einzige Weg, um die Sowjetunion einer echten Friedenspolitik zuzuführen, und das ergibt sich außer all den Gründen, die ich bereits angeführt habe, noch aus einem für uns besonders wichtigen Zusammenhang. Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft ist nämlich ein weit stärkeres Mittel zur Förderung der politisch-wirtschaftlichen Einheit Europas als die Montanunion. Die Montanunion war bereits gedacht als ein Mittel zur Integrierung Europas, ein Mittel auf dem Wege zur Föderalisierung Europas. Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft wird viel stärkere dynamische Kräfte auslösen, die in diese Richtung drängen. Für uns sind Verträge wie der Montanunion-Vertrag und der Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft bei Gott keine Idealverträge. Es haften ihnen viele Mängel an. Aber diese Verträge haben das eine Gute: sie sind die einzigen Mittel, um mit der erforderlichen Geschwindigkeit zu einem Tatbestand zu kommen, der weit umfassender ist; zu dem Tatbestand, den wir alle heißen Herzens anstreben: dem Tatbestand der wirtschaftlichen und politischen Einheit Europas.
Auch was den Umfang dieser Einheit anlangt, müssen wir damit vorliebnehmen, daß zunächst nur sechs Staaten an diesem Integrationsprozeß teilzunehmen bereit sind. Aber es sind immerhin Staaten mit 155 Millionen Menschen. Je erfolgreicher sich dieser Integrationsprozeß zeigt, je schneller er fortschreitet, je mehr er seine Produktivität im Materiellen und Verteidigungsmäßigen erweist, um so mehr dürfen wir gewiß sein, daß die wirtschaftliche und politische Einheit Europas dann auch einen größeren Kreis von Völkern und Staaten ergreift.
Für uns handelt es sich nicht um die Verträge als solche, sondern um die Verträge als Träger dynamischer Wirkungen, und diese Wirkungen weisen in die Richtung eines gesunden, auf der Basis der föderalistischen Prinzipien, der Gegenseitgikeit und Gleichberechtigung gegründeten Europas.