Rede von
Dr.
Hermann
Schäfer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Meine Damen und Herren! Es wäre fruchtbarer für unsere Auseinandersetzung und es wäre vor allen Dingen dankbarer für denjenigen, der nach dem Herrn Kollegen Schmid zu sprechen hat, wenn er in der Lage wäre, sich zu einer echten politischen Auseinandersetzung hierher zu begeben und sich dann auseinanderzusetzen mit einer wirklich gezeigten Alternative zu den Wegen, die die Bundespolitik geht.
Aber ich habe leider in den eineinhalb Stunden sehr aufmerksamen Zuhörens und auch des Willens, die Dinge zu begreifen — nämlich die Wege, die gegangen werden sollten —, nichts weiter wahrgenommen
als eine wundervolle Zusammenstellung — —
— Ja, Sie werden mir auch gestatten müssen, daß ich mal eine andere Meinung habe als Sie. Ich glaube, Sie müssen von der Tatsache ausgehen, daß es zum Wesen des Parlaments
— für dessen Rechte Sie sich ja sonst so empfindsam gebärden — gehört, auch einmal einem Menschen mit anderer Überzeugung zuzuhören.
Meine Damen und Herren, ich habe mich in den letzten eineinhalb Stunden eifrig bemüht, etwas von einem anderen politischen Weg zu hören, mit dem ich den Weg der Bundesregierung hätte vergleichen können.
Ich habe eine Fülle von Ausschnitten aus dem
Zettelkatalog der verschiedenartigen Geschehnisse
— Notenwechsel, Verträge, was weiß ich, diplomatischen Geschehnisse — gehört, wobei der Versuch gemacht wurde, die Dinge immer so — nach einem relativ einfachen Rezept — zu deuten: Alles das,
was inzwischen innerhalb der Verträge niedergelegt ist, ist unwesentlich und geringfügig; denn
irgendwo hat schon mal etwas Ähnliches gestanden;
infolgedessen ist es kein Fortschritt, wenn das jetzt in den hier verhandelten Verträgen vorhanden ist. Es ist eine Fülle von Punkten aufgezählt worden, die man gegebenenfalls hätte regeln können, die aber nicht geregelt sind. Es mag sein, daß manches darunter ist, was zu regeln wir für wünschenswert gehalten hätten.
— „Na also". Meinen Sie, dieses Vertragswerk sei für uns der Gipfel der Vollkommenheit? Aber wir haben eine ganz bestimmte realistische Vorstellung. Ich muß leider nach diesem Zwischenruf etwas primitiv anfangen,
ich muß nämlich doch einmal auf einige Grundvorstellungen der Außenpolitik hinweisen. Sie unterscheidet sich nämlich von der Innenpolitik durch ein sehr wesentliches Merkmal. Man kann in der Innenpolitik seinen Einfluß geltend machen, indem man sich an die Spitze der Organe einer staatlichen Gruppe, eines Staatswesens heranmacht, um von dort auf die Entwicklung einzuwirken. Man kann auf diese Weise die innerstaatliche Entwicklung bestimmen und beeinflussen. Leider gibt es zwischen den Völkern keine Zentralinstanz, von der aus man die Dinge regeln könnte, sondern die außenpolitische Gestaltung vollzieht sich so, daß man Kräfte und Gegenkräfte in einer bestimmten Richtung so zwischen den Völkern zu gruppieren bemüht ist, damit sich aus bestimmten Konstellationen und Kräfteverhältnissen eine Entwicklung ergibt, innerhalb deren man für sein eigenes Volk und für die Völker in der Welt ein Höchstmaß an Frieden und Ordnung herbeizuführen gedenkt. Voraussetzung ist, daß man von dem Prinzip ausgeht, daß die Zwecke der Außenpolitik in erster Linie Frieden und Ordnung zwischen den Volksteilen der Menschheit sein sollen, wenn man nicht von vornherein hinter den Dingen machtpolitische Zielgedanken hegt.
In den vorhin gehörten Ausführungen ging man z. B. von der Vorstellung aus. als ob diese Einederung Deutschlands ausschließlich ein Geschäft für die anderen wäre und alles, was wir mit den anderen zu tun bereit sind, immer nur zu deren Vorteil gereichte und für uns vorwiegend Nachteile darstellte. Ich glaube, es ist notwendig, diese Betrachtung vor der deutschen Öffentlichkeit doch einmal auf das richtige Maß zurückzuführen.
Auch da wieder — nach der Fülle der gravitätisch einherschreitenden Negationen — eine sehr einfache tatsächliche Feststellung:
Man sehe auf die Weltkugel und studiere da die Größenverhältnisse dieser Bundesrepublik und der übrigen Inhalte der Oberfläche des Globus. Dann gewinnt man nämlich auch das Gefühl für die echten Maße und die Möglichkeiten, eine Sicherheitspolitik für unser Land zu betreiben.
Ich wiederhole jetzt das, was ich nach unserem Zusammentritt hier vor etwas weniger als drei Jahren gesagt habe: All unser Mühen gilt der Festigung dieses neuen Staatswesens mit — ich will das jetzt nicht weiter erörtern — mehr oder weniger provisorischem Charakter! Dafür sind wir doch alle hierhergekommen. Jedenfalls haben alle diese Bemühungen nur dann einen Sinn, wenn der äußere Rahmen der Stetigkeit und der Sicherheit seiner Entwicklung so schnell wie möglich geschaffen wird. Diese einfache Vorstellung ist für alle Überlegungen maßgebend gewesen, die wir anzustellen haben. Dabei sind wir allerdings nicht davon ausgegangen, uns selbst mit der Vorstellung eines Übermaßes unserer Eigengewichte zu täuschen. Wir haben vielmehr davon auszugehen, daß wir unser Eigengewicht zu gewinnen, zu bekräftigen und zu verstärken haben mit dem Grade einer fortschreitenden Eingruppierung dieser Bundesrepublik in ein kollektives Sicherheitssystem der freien Völker.
Auch da ist wieder ein sehr einfacher Grundgedanke — wenn wir schon von Ost und West reden — für die Himmelsrichtung dieser Entscheidung bestimmend gewesen. Wir sind davon ausge-
gangen: Man kann sich nicht im Inneren seines Volkes um eine Demokratie bemühen und für die Festigung demokratischer Entwicklungen eintreten, wenn man sich nicht darüber klar ist, daß man das nur innerhalb einer Gruppenbildung freier demokratischer Völker zu erreichen vermag.
Insofern besteht zwischen der Grundtendenz der
Innen- und Außenpolitik eine absolute Kongruenz.
Wenn man von dieser sehr einfachen Vorstellung ausgeht,
dann sagt man sich, daß demokratische Lippenbekenntnisse nach innen keineswegs genügen. Vielmehr muß die Außenpolitik so gegründet sein, daß der innere demokratische Fortschritt möglichst störungsfrei verläuft. Zum zweiten muß man — möglichst eingebaut in eine wechselseitige Sicherheitsgewährleistung — die Möglichkeit haben, auch innerhalb der weltpolitischen Entwicklung die politischen Grundprinzipien, die Grundformen des staatlichen Lebens, die man im Innern anstrebt, auch nach außen hin in der Ordnung der Welt zur Geltung zu bringen. Also diesen Maßstab sollte man einmal an dieses Vertragswerk anlegen.
Es geht dabei um ein Ziel: die eigenen Freiheiten zu erhöhen und zu verteidigen. Nun darf ich wieder einmal darauf aufmerksam machen, daß sich j a dieses politische Streben nicht in einem Laboratorium, nicht in einem Vergnügungspark vollzieht, sondern in dieser weiten Welt mit ungeheuren Gegensätzen, Unterschieden und Spannungen zwischen Völkern und Interessen.
Alles, was neue politische Ordnung zu werden vermag, kann nur geschehen und gedeihen in der Stufenfolge eines organischen Wachstums. Vorhin wurde dem Herrn Kollegen Schmid zugerufen: Ja, wo ist denn dies oder jenes? Und dann machte er den Einwand: Diese Regelung hat ja nicht automatisch dieses oder jenes zur Folge. Als ob in der Außenpolitik überhaupt allein der Maßstab gelten kannte, eine Entwicklung sei deswegen gut oder böse, weil sie automatisch erfolgt!
Außenpolitik ist keine exakte Wissenschaft. Sie beruht nicht auf bestimmten Kausalgesetzen. Sie hat keine zwangsläufigen Gesetzmäßigkeiten. So besteht schon bei der Ausgangsstellung, bei den Grundvoraussetzungen einer außenpolitischen Konzeption eine Fülle von Vermutungen und Schätzungen. Deswegen ist auch die Auseinandersetzung so schwierig. Deswegen ist es so entsetzlich leicht, eine geistvoll klingende Negation aneinanderzureihen und in Wirklichkeit keine einzige positive Idee einer Alternative zu unseren Vorstellungen zu entwickeln.
Aber, meine Damen und Herren, weil diese Außenpolitik im Grunde genommen deswegen so schwer ist, weil sie nicht mit mathematischen Berechnungen arbeiten kann, gerade deswegen setzt sie ein besonderes Maß an Verantwortung voraus. Ich weiß nicht. ob diese damit gegeben ist. daß man sich zu einzelnen Vorgängen und Vorsätzen mit formalen oder juristischen Einwänden begnügt.
Ich greife als Beispiel die Frage der Souveränität heraus. Herr Kollege Gerstenmaier hat schon auf die Fragwürdigkeit dieses Begriffs hingewiesen. Herr Kollege Dr. Schmid hat ihm da in gewisser Weise zugestimmt. Ich will mich auf dieses Gebiet der Relativität aller Souveränitätsvorstellungen jetzt nicht begeben, sondern ich will nur fragen: Ja, ist denn das eine verwerfliche Beschränkung der Souveränität, wenn in einem System kollektiver Sicherheit alle Beteiligten zugunsten dieses gemeinsamen Zweckes Souveränitätsverzichte auf sich nehmen und der eigene Staat auch solche Verzichte auf sich nimmt? Diese Souveränitätsverzichte sind doch wechselseitig!
Daß je nach der Art der exponierten Lage unter Umständen die militärischen Bedingtheiten und die Voraussetzungen des Funktionierens des Sicherheitssystems verschiedenartig gestuft und geregelt werden müssen, ergibt sich nicht aus Rangunterschieden der Souveränitätshöhe, sondern aus den praktischen Notwendigkeiten einer folgerichtigen Anwendung des Sicherheitssystems. Daran wird aber wieder in dieser Polemik überhaupt nicht gedacht,
und es wird nun gesagt: In Wirklichkeit ist, weil in einem bestimmten Stadium durch die Notstandsklausel die Möglichkeit des Eingreifens gegeben ist, um die innere Sicherheit herzustellen, eine Souveränität fragwürdig.
Stellen Sie sich doch bitte die praktische Seite der Dinge vor. Da sind Truppen, da sind Menschen, die die Sicherheit dieses Gebietes aufrechterhalten sollen. Es wird dann in ihrem Rücken oder in diesem Staatsgebiet eine Unruhe angezettelt. Sollen sie dann erst ein kompliziertes System von allen möglichen Abstimmungen — oder was weiß ich — zur Durchführung bringen? Eine bessere Form, sich subversiven Kräften ausliefern zu wollen, könnte ich mir nicht vorstellen. Es ist heute nicht zitiert worden, aber es ging neulich einmal durch die Zeitungen, daß man sagte: Der ist ja der eigentliche Souverän, der den Belagerungszustand auslösen kann. Das ist genau so, als wenn Sie sagen würden, die Feuerwehr ist der eigentliche Hauseigentümer, weil sie bei einem Brand das Recht hat, das Haus zu betreten und eventuell sogar zu Löschzwecken eine Wand einzureißen.
Nein, wir müssen hier, glaube ich, die Dinge auf ihr richtiges Maß zurückführen.
Die Frage, um die es hier bei uns geht, ist in diesem System eine Steigerung unserer Sicherheit. Für die Anwendung der Notstandsklausel besteht zudem auch eine Möglichkeit einer Besserung der Eigenständigkeit. Diese Möglichkeit besteht in dem Maße. in dem wir selbst, in dem diese Bundesrepublik eigene Mittel und Kräfte gewinnt, bei ihr selbst die innere Ordnung mit stärkeren Garantien auszustatten. Das haben wir selbst in der Hand. Insofern besteht also die Möglichkeit, den Anwendungsumfang der Notstandsklausel sehr weitgehend selbst weiter zu bilden.
Hier ist über die Frage der deutschen Wiedervereinigung gesprochen worden in einer Weise, als sei dies Vertragswerk ein Hindernis solcher Wiedervereinigung. Einer meiner Fraktionskollegen wird im Laufe der Debatte sich ganz besonders dieser Frage zuwenden. Ich will nur soviel
dazu sagen: Ich habe in den Ausführungen des Vorredners auch wieder nach Lösungsvorschlägen gesucht. Sie sind dann gekommen mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit einer Viermächtekonferenz. Es ist dabei sehr kräftig, ja sehr markig gesagt worden, dort müßten die Ost- und Westmächte klipp und klar erklären, was sie nun hinsichtlich der gesamtdeutschen Entwicklung zu tun beabsichtigten. Einverstanden! Aber, meine Damen und Herren, wenn die Dinge so einfach wären! Leider ist die gesamtdeutsche Frage, das Anliegen der deutschen Wiedervereinigung über den Rahmen ihres eigenen — wie soll ich sagen? — geographischen Raumes hinausgewachsen und hineingestellt in die weltpolitischen Zusammenhänge. Sie ist nicht isoliert zu behandeln. Wegen dieser Frage allein werden Sie ein derartiges Gespräch daher nicht haben. Sondern Sie werden es dann mit einer Fülle von verwickelten Problemen der Weltpolitik zu tun bekommen. Ich widerspreche nicht dem Wunsch nach solchen Gesprächen. Aber ich möchte davor warnen, weil man gar nichts Besseres zu sagen vermag, allein in solchen Gesprächen, in einer solchen Viermächtekonferenz, die doch im System von Panmunjon, oder was weiß ich, bis in alle Ewigkeit ausgedehnt werden könnte, die bessere Patentlösung für die gesamtdeutsche Wiedervereinigung zu sehen. Meinen Freunden und mir scheint es jedenfalls unbefriedigend, der Lösung, die in diesen Verträgen mit dem Versuch angestrebt wird, eine Eingliederung Deutschlands in eine große weltpolitische Kräftegruppierung zu bewirken, allein die Forderung nach einer Viermächtekonferenz entgegenzustellen.
In dieser Eingliederung, in dieser Eingruppierung liegt für uns das bewegende Element. Das
hat nichts zu tun mit aggressiven Absichten, sondern es geht um die Möglichkeit der Wandlung. Im Außenpolitischen haben Sie nie absolute Gewißheiten, sondern in solchen verwickelten Zusammenhängen immer größere oder geringere Wahrscheinlichkeiten. Es geht uns um die Erwartung, diese erstarrten Fronten, diese erstarrten Beziehungen, diese verkrampfte Welt des kalten Krieges erneut und zugleich unter unserer Beteiligung in Bewegung zu bringen. Ich halte es dabei als Gegenleistung für einen Fortschritt, daß nicht in den vagen Formen der Noten aus der Washingtoner Konferenz, sondern in echten vertraglichen Bindungen die Beteiligung des Westens an der Wiederbefreiung der besetzten, der unerlösten deutschen Gebiete klar und bestimmt zum Ausdruck gekommen ist.
Meine Damen und Herren, es ist von den verschiedensten Unzulänglichkeiten gesprochen worden. Der Herr Bundeskanzler hat heute morgen gesagt, auch er hätte in vielen Dingen eine andere Fassung gewünscht. Ich gehe noch weiter: ich würde nicht nur eine andere Fassung, sondern in vielen Dingen einen anderen Inhalt vorgezogen haben; und ich stehe nicht an zu sagen, daß manches oder sogar vieles von dem, was hier in den Verträgen geregelt ist, in sehr bedenklicher Weise Restbestände von Gedankengängen und Denkweisen widerspiegelt, die im Grunde genommen in Vorstellungen des hinter uns liegenden Krieges ihre Wurzel haben.
Aber ist es nicht seltsam, was sich hier überhaupt
vollzieht? Es werden viele historische Analogien
versucht. Ich muß Ihnen sagen: ich sehe eigentlich keine für den einzigartigen Vorgang, der sich innerhalb der zur Erörterung stehenden außenpolitischen Entscheidungen des Bundestages abspielt. Da wird im Grunde genommen dreierlei zugleich gemacht. Da entsteht zunächst aus einem besetzten Gebiet, aus einem Besatzungszustand eine eigenständige staatliche Existenz. Da wird zum zweiten so etwas geschaffen wie eine Abwicklung des Kriegszustandes in den neugeordneten Beziehungen mit den bisherigen Besatzungsmächten, also so etwas wie ein Vorfriedensvertrag gemacht. Als drittes kommt dann ein Allianzverhältnis dazu, aber auch noch nicht einmal ein Allianzverhältnis in dem früheren Sinne einer Koalition, die einfach nationale Armeen addiert, sondern ein Allianzverhältnis, das mit einer Art von Fusion der Staaten, wenigstens mit einer Verschmelzung von Souveränitätsteilen dieser Staaten verbunden ist. Diese drei Stufen der Entwicklung sind nun in das eine Vertragswerk hineingepackt.
Dieser ungewöhnliche Akt vollzieht sich in einer Welt voller Vorurteile und unter Beteiligung von mindestens sechs Parlamenten, sechs Regierungen und sechs öffentlichen Meinungen, vor allen Dingen, wie ich eben sagte, von sechs Parlamenten, die die in repräsentativen Demokratien übliche Aufteilung in Regierungs- und Oppositionsparteien haben. Hier übrigens zeigt sich eine Gefahr wie bei allen Integrationsbemühungen in der letzten Zeit: Diese Wechselwirkungen in den Parlamenten nach Regierungs- und Oppositionsparteien erschweren den Integrationsvorgang allenthalben. Früher war es so: wenn Staaten sich verbanden, in eine Form gebracht wurden, dann geschah das durch irgendeinen Gewaltakt, durch Annexion, oder was weiß ich. Hier sollen Staaten aus demokratischer, aus freier Entscheidung zusammenwachsen. Also sie sollen sich gemeinsame supranationale Institutionen schaffen; und nun steht dieser Vorgang immer unter dem Gesetz von Regierung und Opposition. Das Ergebnis ist, daß die Integrationsbemühungen der Regierungen oft dadurch behindert und gestört werden, daß die Oppositionsparteien die alten nationalstaatlichen Instinkte weiter umschmeicheln und so das Zusammenwachsen der Völker erschweren.
Da wird dann eine politische Erörterung zugespitzt nicht unter dem Gesichtspunkt: wie erreichen wir ein Höchstmaß an für alle gleich wirksamer und erfolgreicher Gemeinsamkeit?. sondern es wird nach dem Gesichtspunkt gehandelt: wie hole ich mir bei einem Konsortialgeschäft für mich selber möglichst viel heraus? Das ist noch nie ein Verfahren gewesen. ein erfolgreiches Konsortialgeschäft zu machen.
Das ist aber der Denkfehler, der sich auch hier in unserem Hause immer wieder sehr verhängnisvoll zeigt. Die parlamentarische Demokratie der freien Völker des Westens darf sich nicht als langsam und lahm erweisen vor der Notwendigkeit, die Integrationsprozesse, zu denen unser Zeitalter drängt, möglichst rasch und schnell und entschlossen zu erledigen.
Wie gesagt, es ist sehr leicht für denjenigen, der Einwendungen aussprechen will, in diesen Verträgen manche Steckenpferde einer einst blühen-
den Besatzungspädagogik zu finden. Es ist nun einmal so, daß manche Pflänzchen — wenn Sie wollen, Unkräuter — leider noch weiter wuchern, auch da, wo man auf dem besten Wege ist, ein fruchtbares Gelände aus einem Brachland zu machen. Ich gebe zu, sie sind vorhanden. Aber da gibt es auch wieder eine sehr einfache Fragestellung für uns: wenn ich aus dem Zustand, sagen wir einmal, mit der Note fünf hineinwachsen kann in einen Zustand der Note drei bis zwei und nicht auf Anhieb die Note eins erreichen kann, soll ich dann lieber auf der Nummer fünf bleiben und auf die zwei bis drei verzichten?
Das ist die furchtbar einfache Frage, die hier zu stellen und zu entscheiden ist.
— Ja, furchtbar einfach, Herr Mellies. Es ist nämlich manchmal notwendig, dort, wo versucht wird, durch Kompliziertmachen von Geschehnissen und Ereignissen die Klarheit der Entscheidung zu vernebeln, durch den Nebel durchzustoßen und auf die einfachen Grundtatsachen hinzuweisen.
Ich will nicht weiter auf diese Dinge eingehen.
Wenn wir den Unterschied in der deutschen Außenpolitik zwischen Utopie und Realität erkennen wollen, dann bietet dazu auch Anlaß ein Ereignis, das sich vorgestern in Berlin abspielte, wo man einen meiner politischen Freunde einfach so von der Straße weg geraubt und irgendwohin gekidnapt hat. Das sind Tatbestände, Unterscheidungsmerkmale zwischen zwei Welten, die ein solches Ereignis symptomatisch verdeutlicht.
Sehen Sie, angesichts solcher Deutlichkeiten wird uns in der Frage: „dreieinhalb oder eins?" die Entscheidung nicht erschwert. Eine positive Entscheidung zu den unterzeichneten Verträgen wird durch ein solches Vorkommnis nur erleichtert.
Im übrigen sehen wir auch als ein sehr positives Element des Vertragswerkes die europäischen Chancen an, die gerade in dem EVG-Vertrag unserer Meinung nach verstärkt erscheinen. Denn hier wird mehr, als das in den Institutionen von Straßburg der Fall ist, an einem sehr entscheidenden konkreten Beispiel ein Element supranationaler Willensbildung und supranationaler Ordnung geschaffen und bewirkt. Uns scheint das wesentlich. Wir haben vorhin von meinem verehrten Herrn Vorredner gehört, daß das alles geringfügig sei; das sei das Klein-Europa, unendlich weit entfernt von der großen europäischen Einheit, nach der wir streben wollten und von der wir träumten.
— Ich komme gleich darauf! —
Nun, meine Damen und Herren, ich will Ihnen auch da wieder einmal ein unabänderliches Lebensgesetz nennen. Es besteht nämlich darin, daß, wer groß werden will oder was groß werden soll, klein anfangen muß. Das gilt auch für die politische Verknüpfung in Europa. Dieses Lebensgesetz scheint mir im Vertragswerk vertreten. Oder wollen Sie sagen: Weil ich nicht sofort das ganze Große bekommen habe, bekommen kann, verzichte ich auf den kleinen Anfang? Schön, wenn Sie das wollen, dann müssen Sie sich auch darüber klar sein, daß
Sie mit solchem Perfektionismus auf das Ganze und das Endgültige verzichten. Es gibt keine Vollkommenheit, die ohne einen Reifeprozeß entstehen könnte. Das Fertige ist niemals da wie bei einem Zauberer, der nur die Hand ausstreckt, um Armeen auf der flachen Hand zu entwickeln.
So glauben wir an die Wirksamkeit der Entwicklungsgesetze. Wir werden uns durch den Einwand, daß das Anfänge, daß das unzulängliche Anfänge sind, nie abhalten lassen, die Anfänge zu bejahen und zu beschreiten. Wir betreiben eine positive Politik und nicht die Negation, die sich damit rechtfertigt, daß sie auf die Unzulänglicheit der Anfänge hinweist.
Es ist eben ein Zuruf gemacht worden von der Beschränkung der Souveränitäten. Herr Kollege, in dieser Beschränkung der Souveränitäten sehe ich allerdings die einzige Möglichkeit, supranationale Wirklichkeit wachsen zu lassen.
Ich sehe in diesen Verträgen keineswegs, daß ausschließlich Deutschland Souveränitätsverzichte auferlegt sind, sondern ich sehe, daß sie auch den anderen beteiligten Völkern auferlegt werden. Wenn ich mich in die Seele manches anderen Volks versetze — nach bestimmten Geschehnissen und Erlebnissen der jüngsten Zeit, auch im Hinblick auf Traditionen, die bestimmte Einrichtungen des Staates und des Landes zu Elementen des nationalen Stolzes und Selbstgefühls werden ließen — und wenn ich sehe, daß sie manche schon vorhandenen Einrichtungen, die uns als Bestandteil in dem neuen Gemeinsamen noch zuwachsen, genau so einbringen müssen, dann weiß ich nicht, ob der für alle wirksame Souveränitätsverzicht manchmal nicht für uns sogar leichter ist als für die anderen Partner dieses Vertragswerkes.
Ich glaube — ich weiß, es wird mir dieser Satz mißdeutet werden —, wir werden den Mut haben müssen, auch einmal von der Seelenlage und dem psychologischen Innenverhältnis unserer Partner bei diesem Vertragswerk zu sprechen und davon auszugehen.
Dann ist hier weiter ein weniges von der Neutralität gesagt worden; d. h. man hat sie nicht direkt genannt. Man hat aber die Möglichkeit einer deutschen Verstärkung der Verteidigung, die beabsichtigte Erhöhung des Risikos für den Angreifer beiseite geschoben mit formalen Einwänden, mit Bezweiflungen der guten Absichten des einen oder des andern, mit der Fragwürdigkeit der materiellen Möglichkeiten. Auch darauf will ich ein kurzes Wort erwidern. Diese Neutralität ist doch nur eine Selbsttäuschung. Denken wir doch einmal zurück! Der Herr Bundeskanzler hat es heute morgen angedeutet, und ich glaube, man muß es noch einmal ein bißchen verdeutlichen. Warum kam denn dieser zweite Weltkrieg zustande? Weil die freiheitlichen Völker die rechtzeitige Vorbereitung von Gegenmitteln versäumt hatten. So konnte der tyrannische Eroberer zunächst glauben, er könne risikolos seinem Gewaltstreben nachgehen.
Wer also in der Enthaltsamkeit von Verteidigungsmitteln eine außenpolitische Lösung andeutet, ach,
der findet leicht den Beifall all der Bequemen. Sicherlich ist es mühsam, was da verlangt wird; es ist teuer, was da zu erwarten ist. Dieser Appell an die leichten Auswege findet immer Widerhall bei allen, die die unbequeme Wirklichkeit nicht auf sich selbst beziehen wollen. Aber er bewirkt die Minderung des Wagnisses für den tyrannischen Machtstreber. Insofern fördert er mittelbar dessen Chancen. Hier handelt es sich einfach um die Verteilung der Chancen. Das muß man bei diesem ganzen Vertragswerk sehen.
Es gibt noch viele Fragen. Eine will ich noch aufwerfen. Ich bitte, sich die Konsequenz der Ablehnung einmal klarzumachen. Der Herr Bundeskanzler hat bereits heute morgen davon gesprochen. Es bleibt dann bei dem gegenwärtigen Zustand mit seiner Beengtheit. Es bleibt bei Handelsbeschränkungen. Es bleibt bei Wirtschaftseingriffen. Es bleibt bei jenem „herrlichen" Sicherheitsamt, und es bleibt bei allen möglichen Beengungen von Handel und Wandel, von Ausfuhr und Einfuhr. Die Beharrung beim gegenwärtigen Zustand hätte doch nur Sinn, wenn andere Maßnahmen, die auch bleiben, einen Nutzen darstellen könnten. Man könnte für die Erhaltung des gegenwärtigen Zustandes doch nur eintreten, wenn man neben einigen Nachteilen auch einige Vorteile sähe. Leider ist dafür eine solche Beweisführung auch nicht gegeben worden. Wenn mir also die Frage gestellt wird, ob denn ein Nein eine bessere Situation bringt, so muß ich sie verneinen. Ich komme deswegen immer wieder zu dem Schluß: lieber die Stufe 31/2 als 5, auch wenn ich die 1 noch nicht erreichen kann.
Im Zusammenhang mit Betrachtungen über die
Möglichkeit von Vierer-Konferenzen sind auch Vorstellungen angeklungen, als ob sich eine andere Lösung ergeben könnte durch einen ähnlichen Status, wie wir ihn bei Österreich haben, oder in der Form eines Zustandes, wie wir ihn etwa unter einer Viermächte-Kontrolle hatten. Meine Damen und Herren, eine solche Einheit Deutschlands ist doch keine Einheit in Freiheit. Eine solche Einheit — ich darf Sie da auch einmal auf die wirtschaftliche Seite der Sache hinweisen — würde uns ja. gar nicht in die Lage versetzen, die Einheit zu realisieren.
In dem Augenblick, in dem der „Eiserne Vorhang" aufgeht, entsteht doch eine ungeheure Fülle von wirtschaftlichen Verpflichtungen, um diese große neue Kolonisationsaufgabe unseres Volkes zu verwirklichen,
aus einem verödeten, zerstörten und ausgepowerten Gebiet wieder einen fruchtbaren deutschen Lebensbereich zu machen.
Das wird gewaltige Anstrengungen und gewaltige Belastungen für uns bedeuten. Wir wollen sie auf uns nehmen, meine Damen und Herren, aber wir wollen uns dabei darüber klar sein, daß wir dazu die Hilfe derer brauchen, die bereit sind, auch in dieser Hinsicht nicht nur ein theoretisch, sondern in seiner ganzen wirtschaftlichen Struktur faktisch freies Deutschland aus diesen jetzt verödeten Gebieten zu machen.
Meine Damen und Herren, wir haben also hier zu entscheiden, ob wir uns einfach bei der Aufzählung all der Unzulänglichkeiten verlieren wollen, die in dem Vertrag enthalten sind, oder ob wir von der Einsicht ausgehen wollen, daß ein Vertragswerk, das unter den parlamentarisch-politischen Verhältnissen in den beteiligten Völkern, wie wir sie vorauszusetzen haben, aus einer Fülle von Kräften und Gegenkräften heraus entwickelt werden mußte, immer ein Kompromiß bleiben muß, bei dem für den einen oder den andern unerfreuliche Dinge unvermeidlich sind. Ich bin auch bereit zu sagen, daß, wenn nicht sogleich die Gipfelstufe erreicht werden kann, das für die weitere Entwicklung Nächstliegende getan werden sollte, damit die Chance wächst, einst einen höheren Vollkommenheitsgrad unserer zwischenstaatlichen Beziehungen zu erreichen. Ich bin mir absolut. klar darüber, meine Damen und Herren, daß der Weg, den wir zu gehen bereit sind, nicht der bequemere, sondern der mühevollere Weg ist.
— Der mühevollere, jawohl, aber es ist ein Weg, dem gegenüber ein anderer überhaupt gangbarer Weg bisher nie gezeigt worden ist,
und ich lasse mich nicht davon abbringen.
Wenn draußen Besserwisser sich so gebärden, sich so anstellen, als ob sie einen überlegenen Weg wüßten, und ich kriege hier nichts anderes zu hören als eine schier endlose Aneinanderreihung von sehr klangvoll formulierten Gemeinplätzen,
gemischt mit allen möglichen Zettelkastenexzerpten, dann, meine Damen und Herren, kann mich doch damit niemand von einer positiven Entscheidung abbringen. Ich glaube deswegen, im Namen meiner politischen Freunde sagen zu können, daß wir in aufgeschlossener Bereitschaft
in den Ausschüssen bei der Vorberatung der Ratifikation mitarbeiten werden. In diesen Verträgen sehen wir jedenfalls einen weiteren Schritt auf dem Wege der Außenpolitik, zu der wir ans bekannt und für die wir uns bereits in jenen Tagen entschieden haben, als wir hier zu den ersten Regungen unseres neuen Staatslebens zusammengekommen sind.