Rede von
Willi
Birkelbach
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Diskussion über die sozialpolitischen Aspekte des Schumanplans ist von den Befürwortern immer wieder auf Art. 3 e) hingewiesen worden. Dort heißt es:
Die Organe der Gemeinschaft haben ... auf eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter hinzuwirken.
Das liest sich recht schön. Wenn man aber die einzelnen Bestimmungen des Vertrags, die sich mit sozialpolitischen Fragen befassen, genauer ansieht, dann spürt man, daß gerade das konzediert und festgelegt worden ist, was von der öffentlichen Meinung in allen fortschrittlichen Ländern als eine selbstverständliche Mindestleistung seit langem anerkannt ist. Man kann hier nicht so tun, als ob mit der Abfassung der sozialpolitischen Bestimmungen im Schumanplan so etwas wie eine neue Ära eingeleitet worden sei. Hier. ist gerade eine Mindestforderung angesprochen worden, deren Erfüllung nahezu nirgends eine unmittelbare Verbesserung für die betreffenden Arbeitergruppen bedeutet.
Zunächst möchte ich auch noch ein wenig auf das eingehen, was Herr Kollege Albers eben gesagt hat, wobei er meiner Auffassung nach doch ein wenig zu optimistisch davon sprach, welchen Anteil die Arbeitnehmervertretung in den SchumanplanOrganen und bei deren Beschlüssen haben würde. Der hauptsächlichste Ausschuß, der hier in Frage kommt — das dürfte der Beratende Ausschuß sein —, entspricht seiner Zusammensetzung nach längst nicht dem, was wir z. B. als .die Erfüllung der Forderung auf Mitbestimmung betrachten würden. Darüber hinaus ist es klar: Die Vollmachten, die diesem Organ zugestanden worden sind, beginnen und enden doch praktisch damit, daß die Hohe Behörde das Recht und manchmal auch die Pflicht hat, diesen Ausschuß anzuhören. Ich möchte sagen, diese Art, eine Mitbestimmung zu vertreten, ist vielleicht dort noch gerechtfertigt, wo es keine starke, selbstbewußte Arbeiterbewegung gibt, die wirklich auf die Zustimmung der Massen zählen kann.
Eines möchte ich herausstellen: Wir haben in Deutschland nach 1945 eine Arbeiterbewegung entstehen sehen, die ihre Aspirationen und ihre Ansprüche ein wenig höher spannt als das, was hier zugestanden worden ist.
Darum möchte ich gleich anschließend etwas weitergehen und sagen: Was bedeutet es, wenn man davon spricht, daß in der Hohen Behörde auch die Gewerkschaften vertreten sein werden? Das bedeutet, man hat sich darauf geeinigt, beim Beginn der Tätigkeit der Hohen Behörde eine Gewerkschaftspersönlichkeit mit hereinzunehmen, ohne daß irgendwelche Garantien dafür vorhanden sind, daß das auch eine Dauerlösung sei oder .daß das eventuell ausgeweitet würde. Bitte, meine Damen und Herren, wir müssen uns an die Tatsachen halten. Wir haben den Verdacht, daß man hier manchmal dann etwas konzediert, wenn man sich über die wirkliche Machtverteilung von vornherein klar ist.
Die Hohe Behörde hat nun verschiedene Aufgaben zugewiesen bekommen. Wir sehen dabei u. a. auch eine gewisse Vollmacht, sozialpolitische Maßnahmen mehr oder weniger unmittelbar einzuleiten. Dabei ist es nun so: niemand hätte von vornherein den Gedanken haben können, daß z. B. ein unmittelbares Recht auf Lohnsenkung hätte zugestanden werden können. Das ist auch nicht geschehen. Im Gegenteil, man hat der Hohen Behörde die Vollmacht gegeben, darauf hinzuwirken, daß Dumping-Löhne unterdrückt und überwunden werden können. Wir glauben, daß das eine der Selbstverständlichkeiten ist, von denen ich ge-
sprochen habe. Ich möchte sagen, wenn es bei dieser Art von Mindestbestimmungen, von Minimalgrenzen nach unten geblieben wäre, dann wäre wenig zu dem zu bemerken, was hier sonst an Sozialpolitik in Frage steht. Es ist aber doch so, daß z. B. im Art. 68 unter Hinweis auf den Zusammenhang mit dem Art. 67 des Vertrags Möglichkeiten eröffnet sind, die wir als alles andere denn als günstig für die Arbeitnehmer bezeichnen können.
Wenn auch heute in dieser Debatte und gestern in der Erklärung des Herrn Bundeskanzlers dargelegt worden ist, daß die Hohe Behörde kein unmittelbares Recht habe, Anweisungen z. B. auf dem Gebiet der Sozialversicherung zu geben, so müssen wir doch festhalten, daß die Bestimmungen, die sich im Art. 68 finden, immerhin eine Einwirkung auf die Bewegungsfreiheit, auf die Freiheit der Gesetzgeber überhaupt und auch auf die Freiheit der Lohnpolitik seitens der Tarifvertragspartner bedeuten. Es heißt in Art. 68 unter Ziffer 5:
Falls in einem der Mitgliedstaaten eine Änderung der Vorschriften über die Finanzierung der Sozialversicherung oder der Mittel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und ihrer Wirkungen oder eine Änderung der Löhne die in Artikel 67 Paragraphen 2 und 3 genannten Wirkungen hat, kann die Hohe Behörde die Vorschriften jedes Artikels anwenden.
Die Vorschriften des Art. 67 geben der Hohen Behörde die Vollmacht, dann, wenn gewisse Maßnahmen schädliche Auswirkungen auf die Kohle-und Stahlindustrie innerhalb oder außerhalb der Hoheitsgebiete haben, eine Empfehlung an die betreffende Regierung zu richten, Ausgleichsmaßnahmen zu verfugen. Was bedeutet das? Das bedeutet doch, daß man in den betreffenden Ländern bei der Neugestaltung der Sozialversicherung z. B. oder bei Lohnverhandlungen davon Kenntnis hat, daß spätere Möglichkeiten bestehen, wonach die Regierung etwas unternehmen muß. Das bedeutet doch: Bereits im vorbereitenden Stadium, im Stadium der Verhandlungen, der Ausschußberatungen und wie Sie es sonst nennen wollen, wird diese Möglichkeit im Auge behalten, so daß das doch die Freiheit des Gesetzgebers beeinträchtigt. Weil das so ist, glaube ich, kann man nicht ohne weiteres davon sprechen, daß die Bedenken, die im Bundesrat in bezug auf die Beeinträchtigung, die Behinderung einer Sozialversicherungsreform oder auch die Behinderung der Tarifvertragsfreiheit aufgetaucht sind, durch den Text dieses Vertrags widerlegt sind.
Ich weiß, daß Sie bei all dem vielleicht noch darauf hinweisen, daß ja der Herr Bundeskanzler einen doppelten Grund angeführt hat, warum anscheinend für Deutschland die Frage der Maximalbegrenzung von möglichen Sozialleistungen nicht eine große Rolle spielen würde. Er hat gesagt, unsere geologischen Verhältnisse und die Tatsache, daß wir im Vergleich mit anderen Ländern nicht an der Spitze liegen, bedingten, daß wir noch ein ziemliches Feld vor uns hätten. Eben weil wir in Deutschland der-Auffassung sind, daß die Arbeiterbewegung und nicht zuletzt auch die Sozialdemokratische Partei eine Zukunft haben, und weil wir wissen, daß die Sozialleistungen in Deutschland längst nicht dem entsprechen, was bei einer entsprechenden Wirtschafts und Finanzpolitik möglich gemacht werden könnte, deswegen glauben wir, daß wir uns nicht für 50 Jahre hier sozusagen eine Obergrenze in unserem eigenen Haus ziehen lassen sollten.
Das ist ein Punkt, der einer näheren Betrachtung durchaus wert ist; es gibt aber sicherlich noch eine Reihe von anderen Punkten. Dabei spielt das eine Rolle, was wir bereits über die Möglichkeiten dargelegt bekommen haben, daß 'die Hohe Behörde z. B. Beihilfen dann gewähren kann, wenn infolge von Standortverlagerungen Erwerbslosigkeit, Betriebsstillegungen oder Betriebseinschränkungen in Frage kommen. Wir sind der Auffassung, daß gerade infolge der verschlechterten Startbedingungen für Deutschland und infolge anderer Dinge, die wir heute angesprochen haben, durchaus die Gefahr gegeben ist, daß derartige Standortverlagerungen in einem gewissen Umfange eintreten. Wir meinen, daß das, was im Schumanplan selbst als Unterstützung für die Arbeitnehmer festgelegt ist, längst nicht dem entspricht, was man gerechterweise verlangen könnte. Die Beihilfen, die z. B. gewährt werden, um eine Wiedereinstellung abzuwarten, eine Beihilfe zu den Umschulungskosten, zur Erlangung eines neuen Arbeitsplatzes usw. — Beihilfen, die übrigens nur unter der Voraussetzung gewährt werden, daß ein gleich hoher Betrag von den Regierungen zur Verfügung gestellt wird —, diese Beihilfen sind nicht genügend, um das zusätzliche Risiko abzudecken, das die Arbeitnehmer in Wirklichkeit hier eingehen. Ich möchte Ihnen ein Beispiel dafür geben. Wenn jemand heute in irgendeinem Betrieb z. B. der Stahlindustrie beschäftigt ist und das Alter von 50 oder 55 Jahren erreicht hat, rechnet er mit ziemlicher Sicherheit damit, daß er zu der kärglichen Sozialversicherungsrente 'zusätzlich noch eine Werkspension bekommt. Viele von diesen Menschen würden es überhaupt als unerträglich ansehen müssen, wenn ihnen dieser vermeintliche Anspruch, der zum Teil nicht einmal rechtlich gesichert ist, sondern sich aus der Gewohnheit und aus der langjährigen Übung ergibt, irgendwie entzogen werden oder entgehen könnte. Bieten Sie einem Arbeitnehmer in diesem Alter eine besser bezahlte Stellung an, eine Stellung, in der er vielleicht sogar weniger körperlichen Anstrengungen unterliegt, so werden Sie die Erfahrung machen, daß er es trotz besserer Stundenbezahlung ablehnt, in einen anderen Betrieb zu gehen, weil er auf diese Art Versorgung nicht verzichten will.
In bezug auf diese Dinge finden Sie hier im Schumanpian nichts. Wir möchten Ihnen sagen, bei allen Verhandlungen und bei allen Betrachtungen wäre es notwendig, gerade dem Problem des Berufswechsels oder des Arbeitsplatzwechsels der älteren Arbeitnehmer besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Wir werden uns mit diesem Problem hier noch zu beschäftigen haben.
Dabei möchte ich gleich zu einem anderen Punkt übergehen, der in der Debatte auch erwähnt worden ist und hinsichtlich dessen meiner Auffassung nach von den Möglichkeiten z. B. der Freizügigkeit über die Grenzen ein etwas zu optimistischés Bild gezeichnet worden ist. In Art. 69 heißt es:
Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, jede auf
die Staatsangehörigkeit gegründete Beschränkung hinsichtlich der Beschäftigung anerkann-
ter Kohle- und Stahlfacharbeiter, die Staatsangehörige eines Mitgliedstaates sind, in der Kohle- und Stahlindustrie zu beseitigen.
Das bedeutet, daß sie in der Kohle- und Stahlindustrie unter diesen Voraussetzungen Beschäftigung finden können. Wie ist es aber, wenn nach einer gewissen Zeit infolge gewisser wirtschaftlicher Umstände eine Erwerbslosigkeit in dem betreffenden Land zu verzeichnen ist und diese Menschen dort aus den neuen Stellungen ausscheiden müssen, nicht weil sie diskriminiert werden, sondern weil auch Franzosen dabei arbeitslos werden, oder sagen wir: Belgier oder Luxemburger, je nachdem, um welches Land es sich handelt? Unter diesen Bedingungen ist längst nicht gesichert, daß z. B. den eingewanderten Kohle- und Stahlfacharbeitern das gleiche Recht wie den einheimischen Arbeitskräften zusteht, in einem andern Wirtschaftszweig Arbeit zu finden oder eine Beschäftigung anzunehmen.
Wir sind der Auffassung, daß nach der Auslegung des Vertrages, so wie er uns hier im Text vorliegt, diese Art von Interessen der Arbeitnehmer nicht geschützt ist, und wir möchten der Regierung die Aufforderung unterbreiten, gerade diesem Punkt besondere Aufmerksamkeit zu widmen und zu entsprechenden Vereinbarungen zu kommen, weil wir aus der Vergangenheit hier eine gewisse Erfahrung haben, die besonders im Falle Frankreichs allzu ungünstig ist. Wir haben feststellen müssen, daß gerade dort, wo in der Kohlenindustrie z. B. immer ein gewisser Bedarf für Fremdarbeiter vorhanden War, diese Fremdarbeiter gleichzeitig so etwas wie einen Krisenpuffer darstellten. Das heißt, daß sie, wenn ein Rückgang der Beschäftigtenziffer unvermeidlich war, zunächst einmal mit bei denen waren, die ihre Beschäftigung verloren. Darüber hinaus war es aber mehr oder weniger geübte Praxis, dafür zu sorgen, daß diese Arbeitskräfte sich in absehbarer Zeit wieder dahin orientieren konnten, woher sie gekommen waren. Wir möchten diese Art von Risiko ausschalten. Das geschieht nicht dadurch, daß man auf die gleichen Rechte z. B. in der Sozialversicherung verweist. Wir möchten vielmehr hier eine echte vertragliche Regelung haben, damit die Risiken, die derartige Arbeitskräfte eingehen, auch wirklich abgedeckt sind.
Ich möchte noch eine weitere Bemerkung machen, die von dem Grundgedanken ausgeht, daß man die Gesamtentwicklung und auch die Ansprüche, die die Arbeitnehmer stellen können, nur dann vernünftig beurteilen kann, wenn man einen wirklichen Einblick in die Zusammenhänge hat und wenn man die Möglichkeit hat, sich an Hand von konkreten Zahlen zu orientieren. Nun hat die Hohe Behörde entsprechend den Artikeln 46 und 47 des Vertrages durchaus die Möglichkeit, sich entsprechende Aufklärungen zu verschaffen, j a, sie hat sogar die Möglichkeit, eigene Nachprüfungen durchzuführen. Warum hat man nun die Möglichkeit, zum ersten Mal zu international überprüften tatsächlichen Ergebnissen zu kommen, nicht so ausgewertet, daß wirklich die Öffentlichkeit — und hierbei die Arbeitnehmer besonders — den vollen Einblick bekommt? In bezug auf die Publizitätsvorschriften finden wir dabei eine deutliche Unterscheidung. So heißt es z. B. gerade in diesem Art. 46, daß die Hohe Behörde das Recht hat, alle Untersuchungen vorzunehmen und dabei dann auch zu einer Aufstellung von Programmen zu kommen.
Dabei wird gesagt: Die Hohe Behörde veröffentlicht nach Vorlage beim Beratenden Ausschuß die allgemeinen Ziele und die Programme. — -Anschließend heißt es dann: Die Hohe Behörde kann die oben erwähnten Untersuchungen und Auskünfte veröffentlichen. Diese Auskünfte beziehen sich auf die „Beurteilung der Verbesserungsmöglichkeiten für die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiterschaft in den zu ihrem Aufgabenkreis gehörenden Industrien und zur Beurteilung der Gefahren . .diese Lebensbedingungen bedrohen." Mit andern Worten, was wir hier fordern müßten, ist ein echter Anspruch auf die Veröffentlichung dieser Unterlagen, wodurch die Möglichkeit eröffnet wird, endlich zu Grundlagen für eine echte übernationale Sozialpolitik, wenn Sie wollen, zu kommen. Ich glaube, daß gerade in dieser Hinsicht der Plan entscheidende Dinge unterlassen hat, daß es gerade dort Möglichkeiten gegeben hätte, nun wirklich aufzuzeigen, ob man eine fortschrittliche Politik betreibt.
Ich möchte zusammenfassend sagen: bei einer genaueren Betrachtung der sozialpolitischen Bestimmungen muß man leider feststellen, daß der Schutz der Arbeitnehmerinteressen im Bereich der Lohn-und Sozialpolitik nur ein sehr unvollkommener ist.