Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Folgende amtliche Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Bundeskanzler hat mit Schreiben vom 13. Mai 1975 gemäß § 30 Abs. 4 des Bundesbahngesetzes vom 13. Dezember 1951 den Wirtschaftsplan der Deutschen Bundesbahn für das Geschäftsjahr 1975 mit der Bitte um Kenntnisnahme übersandt. Der Wirtschaftsplan liegt im Archiv zur Einsicht aus.
Der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit hat mit Schreiben vom 14. Mai 1975 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Rollmann, Frau Stommel, Frau Schroeder , Burger, Ey und Genossen betr. Intensivierung des Pflegekinderwesens — Drucksache 7/3555 - beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 7/3627 verteilt.
Ich rufe nunmehr Punkt 2 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags des Auswärtigen Ausschusses zu den Empfehlungen und Entschließungen der Nordatlantischen Versammlung auf ihrer 20. Jahrestagung vom 11. bis 16. November 1974 in London
— Drucksachen 7/3046, 7/3561 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Mattick Abgeordneter Blumenfeld
Ich gebe dem Herrn Abgeordneten Mattick als Berichterstatter das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Auswärtige Ausschuß hat mit der Drucksache 7/3046 die Empfehlungen und Entschließungen vorgelegt, die die Nordatlantische Versammlung auf ihrer Jahrestagung in London verabschiedet hat. Ich glaube, es ist eine gute Gelegenheit — es ist darüber hinaus ein guter Zeitpunkt —, über das Bündnis als Ganzes zu sprechen.Ende nächster Woche wird die Versammlung ihre jährlichen Ausschußsitzungen abhalten und dabei intensiv über die gegenwärtigen Probleme der NATO zu diskutieren haben. Ende dieses Monats wird die NATO-Gipfelkonferenz zusammentreten. Dabei werden sehr grundsätzliche Fragen des Atlantischen Bündnisses zur Debatte stehen. Ich persönlich betrachte diese Aussprache als bitter notwendig. Der Schwerpunkt dieser Debatte wird dabei sicherlich auch über das hinausgehen müssen, was in den Empfehlungen und Entschließungen im November vorigen Jahres gesagt wurde und gesagt werden konnte.Die Versammlung hat seit ihrer Gründung bereits eine Reihe wichtiger Beschlüsse hervorgebracht. Aus den zahlreichen Anregungen möchte ich nur den Bericht des Neuner-Ausschusses hervorheben, der sich mit der Zukunft des Atlantikpaktes beschäftigt, starke Beachtung gefunden hat und immer noch in der Diskussion steht.Der parlamentarische Kontakt, der im Rahmen der NATO-Parlamentarierkonferenz gepflegt wird, ist nicht nur für diejenigen, die in dieser Versammlung tätig sind, von hohem informatorischen Wert; er hat politische Auswirkungen. Es ist deshalb absolut notwendig, wenn in den Ihnen hier vorliegenden Entschließungen der Politische Ausschuß zu einer Vertiefung der Beziehungen zwischen der Versammlung und den Regierungen der Mitgliedstaaten des Nordatlantischen Bündnisses aufgefordert wird.In der Erklärung von Ottawa vom 19. Juni 1974 über die atlantischen Beziehungen war bereits darauf hingewiesen worden — ich zitiere —, „daß der Zusammenhalt des Bündnisses nicht nur in der Zusammenarbeit zwischen ihren Regierungen, sondern auch in dem freien Meinungsaustausch zwischen den gewählten Vertretern der Völker des Bündnisses Ausdruck gefunden hat".In der Erklärung heißt es demgemäß, daß der Ausbau der Verbindungen zwischen Parlamentariern gefördert werden soll.Auch die Vertiefung der Beziehungen zwischen der Versammlung und dem Nordatlantikrat war ein besonderes Anliegen der Versammlung. Unter anderem wird dazu in einer Empfehlung des politischen Ausschusses der Vorschlag gemacht, daß der Nordatlantikrat bei seiner Frühjahrstagung der Minister eine Delegation der Versammlung empfängt, um mit dieser Delegation einen Gedankenaustausch zu pflegen. Der Rat wurde außerdem dazu aufgefordert, in bestimmten Fragen den Rat der Versammlung einzuholen. Hier hat der Generalsekretär den Einwand gemacht, daß das zeitlich Schwierigkeiten mit sich brächte. Ich hätte dafür eigentlich kein Verständnis.Die Hauptprobleme, um die es auf der Jahrestagung der Versammlung in London ging, waren vor allen Dingen vier Themen: 1. die Lage auf der Südflanke der NATO, insbesondere die Zypernkrise, !das Verhältnis zwischen Griechenland und der
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MattickTürkei — zwei Bündnispartner —, der Nahe Osten sowie die Entwicklung in Portugal; 2. die mit steigenden Rohstoffpreisen und der Inflation zusammenhängenden wirtschaftlichen Fragen im Rahmen der Allianz; 3. Möglichkeiten einer stärkeren Zusammenarbeit innerhalb des Bündnisses, insbesondere bei der Rationalisierung und Standardisierung; 4. das Ost-West-Verhältnis und die sich hier vollziehenden politischen und militärischen Entwicklungen.Ich muß an dieser Stelle darauf verzichten, den Inhalt der Entschließungen hier im einzelnen wiederzugeben. Dies alles werden Sie in der Drucksache nachgelesen haben. Ich möchte mich hier bemühen, die Schwerpunkte zu nennen, um die es ging:Der politische Ausschuß hat sich vor allem mit der Lage im östlichen Mittelmeerraum befaßt und dazu zwei Entschließungen vorgelegt. Er hat mit großer Eindringlichkeit die Mitgliedstaaten des Nordatlantischen Bündnisses und die EG-Staaten aufgefordert, mit dazu beizutragen, in dieser Region eine stabile und ausgewogene Wirtschaftslage herzustellen. Als besonders dringlich wurde dabei eine schnelle, wirksame und unbürokratische Hilfe für die Flüchtlinge auf Zypern angesehen. Der Ausschuß war ferner der Auffassung, daß das Zypernproblem unter Beteiligung der auf Zypern lebenden griechischen und türkischen Volksgruppen und zwischen den in dieser Frage engagierten Staaten auf dem Verhandlungswege gelöst werden muß.Der politische Ausschuß hat der Versammlung auch eine Entschließung vorgelegt, in der die Aufstellung eines europäischen Solidaritätsplans für die südeuropäischen Staaten des Atlantischen Bündnisses empfohlen wird. Diese Empfehlung geht von der richtigen Annahme aus, daß die wirtschaftlichen und die sozialen Probleme dieser Länder den Prozeß der Demokratisierung vor allem in Griechenland und Portugal stören könnten. Ich nehme an, daß darüber auf der Brüsseler Tagung in der nächsten Woche noch einmal gesprochen werden muß. Es muß, verehrte Kolleginnen und Kollegen, zu einer Verständigung zwischen Griechenland und der Türkei kommen; und wer anders als das Bündnis sollte darauf hinwirken, da beide Länder Bündnispartner sind?Der politische Ausschuß hat sich darüber hinaus generell mit den inneren Problemen des Bündnisses auseinandergesetzt und dabei festgestellt, daß politische, wirtschaftliche und militärische Fragen heute noch stärker dazu zwingen, sich enger zusammenzuschließen und intensiver zusammenzuarbeiten. Die entsprechende Entschließung der Versammlung fordert deshalb dazu auf, die Prioritäten des Bündnisses zu überprüfen und die Bündnispolitik im Hinblick auf die gegenseitigen Probleme, vornehmlich solcher unmittelbar der NATO-Grenzen, neu zu definieren.Manche meiner Kollegen in der Versammlung haben dabei möglicherweise sogar an die Ausweitung der NATO gedacht. Ein solcher Schritt würde, so glaube ich, diese jedoch mit Sicherheit überfordern. In nächster Zeit wird es wohl in erster Liniedarauf ankommen, nicht eine Ausweitung der NATO vorzunehmen, sondern einen Schrumpfungsprozeß zu verhindern.Ich möchte zwei weitere Gesichtspunkte der Probleme im Inneren des Bündnisses hervorheben: die Aufforderung an die europäischen Staaten des Bündnisses, im Rahmen der Allianz — ich betone ausdrücklich: im Rahmen der Allianz — zusammenzuarbeiten, und die Aufforderung an die Mitgliedstaaten, sich in ihren Beziehungen zum Osten gegenseitig zu konsultieren und, wie es wörtlich heißt, sich jeglicher einseitiger Schritte zu enthalten, die geeignet sind, den gegenwärtigen Entspannungsprozeß zu beeinträchtigen.In diesem Zusammenhang möchte ich auch berichten, daß der Politische Ausschuß beschlossen hat, einen Unterausschuß mit dem Ziel einzusetzen, die Bedeutung und die Möglichkeiten der Entspannung für die Zukunft zu untersuchen. Ich habe diesen Vorschlag sehr begrüßt, denn ich sehe darin gerade jetzt eine wichtige Aufgabe. Dieser Unterausschuß ist bisher noch nicht zusammengetreten, weil es im Ständigen Ausschuß Widerstände gab. Wir sollten alles daransetzen, diesen Unterausschuß während der kommenden Ausschußtagungen der Versammlung ins Leben zu rufen, und zwar nicht nur deshalb, weil dies so beschlossen worden ist, sondern auch, weil es in dieser Situation der Mühe wert ist.Der Militärausschuß hat es ebenfalls als die wichtigste Aufgabe des Bündnisses angesehen, die europäische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Verteidigung im Rahmen der Eurogruppe zu erweitern und zu vertiefen. In der Entschließung wird das Fehlen Frankreichs bei der Arbeit der Eurogruppe bedauert, und es wird im übrigen als Verbesserung empfohlen, das Instrumentarium der Europagruppe auf eine breitere Grundlage als die Zusammenarbeit im Rüstungsbereich zu stellen.Der Militärausschuß war ferner über die Verstärkung des sowjetischen Seekriegspotentials besorgt und empfahl dem Ausschuß für Verteidigungsplanung, Mittel und Wege zu finden, um dieser Bedrohung zu begegnen und der zunehmenden Verwundbarkeit der Nord- und der Südflanke der NATO erneut Aufmerksamkeit zu schenken. Um angesichts des zunehmenden wirtschaftlichen Drucks in allen Mitgliedstaaten die Verteidigungsfähigkeit aufrechtzuerhalten, wurde empfohlen, diesen Mangel durch größere Standardisierung und Rationalisierung aufzufangen.Das Interesse des Bündnisses an der MBFR-Verhandlung hat der Militärausschuß erneut unterstrichen. Er hat dabei noch einmal daran erinnert, bei Reduzierungen der alliierten militärischen Präsenz wie auch einheimischer Streitkräfte den gemeinsamen Grundsätzen der NATO Rechnung zu tragen. Ich möchte im Zusammenhang mit den MBFR-Verhandlungen in Wien darauf aufmerksam machen, daß hier im Gegensatz zu den KSZE-Verhandlungen in Genf so gut wie keine Fortschritte zu erkennen sind. So kompliziert die Materie auch sein mag: Für uns ist es von größter Bedeutung, auf diesem Gebiet voranzukommen. Die Abrüstungsverhandlungen in
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MattickWien müssen nach Beendigung der KSZE noch an Bedeutung und Gewicht hinzugewinnen. Darauf sollten wir vorbereitet sein.Von besonderer Bedeutung im Rahmen der Diskussion, die die Versammlung auf ihrer Jahrestagung in London im vorigen Jahr geführt hat, waren auch die Wirtschaftsprobleme, von denen die Mitgliedstaaten der Allianz besonders stark betroffen waren. Die tiefgreifenden Auswirkungen der Ölpreiserhöhungen, die zunehmende Inflation und die daraus entstehenden Zahlungsbilanzschwierigkeiten einzelner NATO-Mitglieder waren die Hauptsorge in den Beratungen des Wirtschaftsausschusses der NATO. Der Ausschuß machte eindringlich auf den engen Zusammenhang zwischen politischer, wirtschaftlicher und militärischer Stabilität des Bündnisses aufmerksam und forderte die Regierungen der Mitgliedstaaten auf, durch verstärkte wirtschaftliche Zusammenarbeit wirtschaftliche Zusammenbrüche, finanzielle Instabilität und soziale Unruhe zu verhindern. Mit fast allen Problemen, die in den Empfehlungen und Entschließungen der Versammlung verabschiedet wurden, hat die NATO auch heute noch zu kämpfen.Ich habe hier nicht alle Entschließungen im einzelnen aufführen können, so nicht das, was der Ausschuß für Erziehung, Kultur und Information über Menschenrechte oder der Wirtschaftsausschuß, der Militärausschuß und der Ausschuß für Wissenschaft und Technik gemeinsam zur Energieversorgung im Bereich des Atlantischen Bündnisses vorgeschlagen haben. Der Ausschuß für Erziehung und Kultur hatin seiner Entschließung noch einmal die Bedeutung der humanitären Fragen auf der Genfer Sicherheitskonferenz hervorgehoben.Welche Bedeutung die Energiepolitik für uns alle hat, haben wir sehr deutlich zu spüren bekommen. Die Versammlung fordert zur Sicherstellung der Energieversorgung dazu auf, eine enge Zusammenarbeit mit den Ölförderländern zu suchen, Programme zur Energieeinsparung zu finden und nach alternativen Energiequellen zu suchen.Dieser kurze Bericht deckt nicht alle Einzelheiten und Empfehlungen und Entschließungen; er gibt Ihnen jedoch einen Überblick über die wichtigsten Probleme, die in den Hauptausschüssen der Nordatlantischen Versammlung diskutiert wurden.Meine Damen und Herren, das Bündnis ist heute im Vergleich zu der Situation, die wir im November vorigen Jahres in London vorgefunden haben, psychologisch in einer noch weitaus schwierigeren Lage. Dies zwingt uns dazu, angesichts der bevorstehenden Ausschußsitzungen der Nordatlantischen Versammlung und vor allem angesichts des bevorstehenden NATO-Gipfels deutlich auf die Grundsätze hinzuweisen, von denen wir uns leiten lassen müssen, um einen gefährlichen Schrumpfungsprozeß abzuwenden. Wir stehen heute vor allem unter dem Eindruck der Ereignisse in Vietnam, die in Amerika, aber auch hier einen tiefen Schock hinterlassen haben. Wir haben es seit der Jahrestagung der Nordatlantischen Versammlung im November vorigen Jahres ferner erlebt, daß die Nahost-Mission Kissingers ein Fehlschlag wurde und damit weiterhin Unsicherheit in einer Region besteht, die auch für Europa von größter Bedeutung ist.Es gibt nach wie vor eine Reihe von Krisenherden, für die im Interesse des Bündnisses eine Lösung gefunden werden muß. Ich nenne dabei nachdrücklich Zypern. Eine Stabilisierung der Südflanke der NATO ist dringend notwendig, und auf Zypern ist ein Zustand, der jede Sekunde zu einem neuen Ausbruch führen kann. Nach wie vor liegen mehr als 20 000 Flüchtlinge in den Wäldern, und ihre Wohnungen stehen leer, weil es zwischen den beiden Bündnispartnern zu keiner Verständigung über die Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Wohnungen kommt. Es ist Aufgabe des Bündnisses, sich zu bemühen, dazu zu helfen, daß man in dieser Frage schnell eine Lösung findet.
Amerika ist heute dabei, angesichts der jüngsten Entwicklungen seine Außenpolitik neu zu ordnen. Diese Neuordnung betrifft nicht nur Asien, sondern auch andere Regionen dieser Welt und vielleicht auch das Verhältnis der beiden Supermächte zueinander. Wir können davon nicht unberührt bleiben.Worauf es jetzt vor allem ankommt, ist, die richtigen Schlußfolgerungen aus den Ereignissen zu ziehen, vor denen wir heute stehen. Vor zwei falschen Schlußfolgerungen möchte ich an dieser Stelle besonders warnen, erstens vor der These, daß die Entspannungspolitik nicht fortgesetzt werden kann, zweitens vor der These, daß Westeuropa die verteidigungspolitische Autonomie anstreben müsse. Würden wir den Vereinigten Staaten das erste raten und selber das zweite zu tun versuchen, stünde uns die schlimmste Krise noch bevor, eine Krise, die nicht nur erneut zwischen Ost und West einen Graben aufreißen würde, sondern auch zu Auseinandersetzungen zwischen Amerika und Westeuropa führen müßte. Was heute nottut, ist nicht die Rückkehr zu alten Verhaltensmustern, sondern die Besinnung auf das, was die Allianz für die Zukunft attraktiv macht.Bei dieser Überlegung dürfen wir uns nicht allein von militärisch-strategischen Gesichtspunkten leiten lassen. Der Wert eines Bündnispartners wird nicht so sehr durch die strategische Bedeutung seines Territoriums bestimmt, sondern in noch größerem Maße durch die Anziehungs- und Überzeugungskraft seines politischen Systems in den Augen seiner Bevölkerung.
Wenn wir eine Lehre aus den Ereignissen in Vietnam ziehen können, so ist es doch die, daß man letzten Endes auch Territorium verliert, wenn man die Menschen nicht für sich gewinnen kann.Diese Einsicht erfordert zuallererst, daß das Bündnis sich als Garant der Freiheit der Eigenentwicklung seiner Mitglieder verstehen muß. Wenn wir diesen Grundsatz nicht beherzigen, besteht die Gefahr, daß wir gegenüber Portugal eine falsche Politik betreiben. Statt Portugal entgegenzukommen, nachdem es sich selbst aus einer faschistischen
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MattickDiktatur und kolonialer Politik befreit hat, reden wir Portugal beinahe aus der NATO heraus. Aktive Hilfe zu leisten, ist erforderlich.Freiheit der Eigenentwicklung heißt zweierlei: Demokratie und Selbstbestimmung im Innern und Freiheit von unerwünschter Einmischung von außen. Jede Gesellschaft hat das Recht, auch Hilfe von außen anzunehmen, um sie für selbstgesetzte Ziele zu verwenden. Aber Hilfe, meine Kolleginnen und Kollegen, muß erwünscht sein, sie darf nicht aufgezwungen sein. Die Marshall-Plan-Hilfe, die die Vereinigten Staaten den demokratischen europäischen Staaten am Ende des Zweiten Weltkrieges gewährt haben, war ein Beispiel für die Form der Hilfe, die dauerhafte Früchte trägt und im Falle Westeuropas auch Früchte getragen hat.
Sorgen wir gemeinsam dafür, daß wir nicht durch eine ideologisch fixierte Betrachtungsweise selber einen Prozeß in Bewegung setzen, der das Bündnis in die Auflösung treibt!Die NATO muß flexibel und tolerant genug sein, um auch sozialistische Entwicklungen auf demokratischer Grundlage ertragen zu können. Nicht jede Verstaatlichung ist Kommunismus. Das Bündnis war auch schon zu früheren Zeiten bereit, solche Verstaatlichung, als es sich um Frankreich und England handelte, zu ertragen. Es wäre ein verhängnisvoller Fehler, Kolleginnen und Kollegen, wenn wir, nachdem wir ein faschistisches Portugal und eine Militärjunta in Griechenland in der NATO geduldet haben, heute einem im Prozeß der Demokratisierung befindlichen Portugal Schwierigkeiten machten, seine Mitgliedschaft im Bündnis aufrechtzuerhalten.Für die bevorstehende NATO-Gipfelkonferenz reicht es nicht, nur einen demonstrativen Zweck zu verfolgen, um Festigkeit und Gemeinsamkeit zur Schau zu tragen. Dies würde niemanden beeindrucken. Ich möchte hier zum Abschluß das unterstreichen, was in der Süddeutschen Zeitung vom 9. April zu lesen steht:Die inneren und äußeren Gefährdungen der NATO sind zweifellos gewachsen, aber die Behauptung, sie seien das Ergebnis sowjetischer Subversion, würden ebenso in die Irre führen wie die Hoffnung, das Bündnis mit Hilfe des kommunistischen Buhmannes zu kitten. Die NATO kann sich nur helfen, wenn sie über Ursache und Therapie ihrer Krise ohne ideologische Scheuklappen nachdenkt.Soweit die Süddeutsche Zeitung.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, dies war der Bericht über die letzte Tagung der NATO-Parlamentarierkonferenz. Ich bitte, daß wir in der Diskussion Wert darauf legen, die kommende NATO-Gipfelkonferenz und die Ausschußsitzungen der Parlamentarierkonferenz mit unserer Hilfe zu unterstützen.
Das Wort hat als weiterer Berichterstatter der Herr Abgeordnete Blumenfeld.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach dem sehr ausführlichen Bericht des Kollegen Mattick möchte ich nur einige ergänzende Bemerkungen machen, ein paar der wesentlichen Entschließungen ansprechen und in meiner Eigenschaft als Mitberichterstatter die Ausführungen vertiefen, die der Herr Kollege Mattick dazu als Berichterstatter gemacht hat.Es ist richtig und wichtig, darauf hinzuweisen, daß die Nordatlantische Versammlung die einzige Versammlung der westlichen Welt ist, in der europäische Abgeordnete mit ihren nordamerikanischen Kollegen
— mit ihren nordamerikanischen Kollegen, Herr Kollege van Delden; dazu gehört nach meinem Verständnis auch Kanada — zusammenkommen und gleichberechtigt, d. h. mit demselben Status, miteinander diskutieren und sich über die Lage des gemeinsamen Bündnisses beraten. Ich erwähne das, weil wir eine Vielzahl von Versammlungen internationaler Natur haben, die alle aber nicht diese Auszeichnungen haben. Ob das nun die bilateralen Zusammenkünfte zwischen europäischen Abgeordneten und amerikanischen oder kanadischen sind oder auch in anderem und größerem Rahmen wie denen der IPU, nichts ist vergleichbar mit dem Charakter der Nordatlantischen Versammlung, des parlamentarischen Gegenstücks zum Nordatlantikrat.Warum erwähne ich das? Ich erwähne es deswegen, weil die Vertiefung der Beziehungen, die einen ganz wesentlichen Teil unserer Beratungen im Politischen Ausschuß ausmachten, darauf abzielt, zu versuchen, das Bündnis auch auf der parlamentarischen Seite zu stärken. Wenn wir uns die verschiedenen Verteidigungsbündnisse in der Welt ansehen — im südostasiatischen Bereiche, früher im Bereich des Mittleren Ostens, im lateinamerikanischen, nordamerikanischen Bereiche und natürlich auch im nordatlantischen —, dann stellen wir fest, daß bei all diesen Verteidigungs- und Kooperationspakten politischer wie militärischer Natur der parlamentarische Unterbau gefehlt hat oder fehlt. In der Nordatlantischen Versammlung sind wir seit langer Zeit der Meinung, daß dies eine wichtige Begründung dafür ist, daß manche Bündnisse erodiert sind und daß auch das Nordatlantische Bündnis — von dem der Kollege Mattick mit Recht gesagt hat, daß es in einer teilweise schwierigen Spannungslage ist — nur deswegen eine bisher noch so gesunde Basis hat, weil es sich abstützen kann und abstützt auch auf Beratungen der wichtigsten politisch-parlamentarischen Persönlichkeiten des gesamten Bündnisses.Wir wünschen uns allerdings, daß auf europäischer Seite — ich nehme da den Deutschen Bundestag nicht aus — ein wenig mehr an Präsenz der sogenannten politischen Prominenz im Nordatlantischen Bündnis versammelt wäre. Wenn wir uns die nordamerikanische Präsenz ansehen, so sind dort die Fraktionsvorsitzenden der Demokraten und der Republikaner regelmäßig vertreten. Die Präsidentschaftskandidaten beider Parteien lassen es sich nicht nehmen, jeweils bei diesen Nordatlantischen
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BlumenfeldVersammlungen auf den Plenartagungen und in den Ausschüssen das Wort zu ergreifen, wobei allerdings, wenn ich das hinzufügen darf, die Zeit für ihre Ausführungen und die Zeit, die sie in der Versammlung und in den Ausschüssen verbleiben, manchmal in einem umgekehrten Verhältnis zueinander stehen. Aber die Tatsache, daß dort wirklich politische Prominenz erscheint und daß dies auf europäischer Seite nicht immer beantwortet wird, ist mit ein Grund für einen mangelnden oder fehlenden Dialog.Meine Damen und Herren, auf diesen Versammlungen der NATO-Parlamentarier — nächste Woche findet, wie der Kollege Mattick schon bekanntgegeben hat, wieder eine Ausschußsitzungswoche statt, und unmittelbar danach versammeln sich die Regierungschefs und Außenminister des Bündnisses —, bei diesen unseren Zusammenkünften haben wir uns vorgenommen, diese Beziehungen zwischen Nordamerika und Europa in der Zukunft wirklich fester zu binden, sie zu vertiefen und zu versuchen, sie auch mit einem gewissen Maße an regierungsamtlicher Autorität zu versehen.Wir werden — und damit wende ich mich dem Außenminister zu in Kürze die Mitgliedsländer besuchen, ihre Regierungen wie ihre Parlamentspräsidenten aufsuchen, um festzustellen, ob die Parlamente wie auch die Regierungen willens sind, dieser Vertiefung der Beziehungen zwischen der Nordatlantischen Versammlung und den einzelnen Mitgliedsländern einmal zu entsprechen und zweitens dieser Nordatlantischen Versammlung die Basis und die Autorität zu geben, die sie braucht, um den politischen Willen der Regierungen, den Zusammenhalt des Bündnisses auch unter den Volksvertretern, unter den Parlamentariern abzustützen. Ich halte das für eine ungemein wichtige Frage, denn sie wird Aufschluß darüber geben, ob dieses Nordatlantische Bündnis den Herausforderungen der kommenden Zeit entsprechen kann und ob es sich bewähren kann. In diesem Zusammenhang verweise ich genau wie Herr Mattick als Berichterstatter auf die entsprechenden Empfehlungen und Entschließungen dieser unserer Vorlage.Meine Damen und Herren, es bestand in London gar kein Zweifel darüber, daß die Probleme im Inneren dieses Bündnisses sehr groß sind. Wir werden darüber nicht nur in den Regierungen und unter den hohen Beamten der Regierungen, sei es im Bereich der Verteidigung, sei es im Bereich der Außenpolitik oder auch der Informationspolitik der einzelnen Regierungen, miteinander sprechen müssen, sondern wir werden uns auch darüber unterhalten müssen, inwieweit wir in der Lage sind, zwischen den wesentlichen Parlamentsausschüssen der europäischen Parlamente und des amerikanischen Kongresses und des kanadischen Unterhauses einen Rapport, eine Einvernehmlichkeit, einen kontinuierlichen Dialog herzustellen, der es uns ermöglicht, Spannungsherde im Inneren des Bündnisses, die es immer geben wird — und wir verweisen nur auf die Spannungen zwischen der Türkei und Griechenland —, rechtzeitig zu eliminieren bzw. sie mit Hilfe auch der parlamentarischen Arbeit aufzulösen. Wir messen eben derVertiefung der Beziehungen in diesem unserem Bündnis eine große Bedeutung bei und meinen, daß die Arbeit der Regierungen allein zum Erhalt eines solchen großen Bündnisses, zur Verteidigung unserer Freiheit, unserer parlamentarischen demokratischen Rechtsstaatlichkeit nicht ausreicht, sondern daß dies nur mit der Hilfe, der vollen Kooperation und Unterstützung der Parlamentarier geht.Ich möchte einen zweiten Punkt aufgreifen dürfen, den Herr Mattick auch erwähnt hat. Ich meine die politischen Spannungsprobleme aktueller Natur, die das Bündnis und damit natürlich auch die parlamentarische Versammlung in London stark beschäftigt haben. Damals, im November vergangenen Jahres, stand ganz weit im Vordergrund die Zypernfrage. Ein Kollege dieses Hauses, Herr Damm, hat eine besondere und sehr beachtete Entschließung hinsichtlich Zypern vorgebracht. Er wird dazu sicherlich noch das Wort ergreifen, so daß ich darauf nur zu verweisen brauche.Meine verehrten Damen und Herren, wichtig war hier aber, daß sich die türkische Delegation in London — hervorragend besetzt mit den wichtigsten Parlamentariern der damaligen Regierungspartei und der damaligen Opposition, die inzwischen die Plätze gewechselt haben; einige der früheren Parlamentarier der Opposition sind jetzt in der Regierung — ausdrücklich mit der Entschließung einverstanden erklärt hat, die wir vorgelegt haben. Sie zielte darauf ab, daß die Türkei als einer der an den Spannungen, an den akuten Fragen um Zypern Beteiligten sich bereit erklären sollte, die europäische Hilfe, Unterstützung und Vermittlung im Rahmen des NATO-Bündnisses bzw. der Europäischen Gemeinschaft, also der europäischen Partner der NATO, entgegenzunehmen. Das war nicht so ganz einfach; denn zu diesem Zeitpunkt glaubte ein jeder, daß es der amerikanische Partner sei, der als der zunächst Angesprochene die Spannungen lösen sollte. Die türkische Delegation war dankbar für die Anregungen des Politischen Ausschusses und für die Diskussion dort; sie war bereit, in dieser Frage europäische Hilfe — damit ist politische wie auch wirtschaftliche Hilfe gemeint — entgegenzunehmen. Leider fehlte zu diesem Zeitpunkt eine griechische parlamentarische Delegation. Griechenland war durch seinen Botschafter vertreten; aber dieser konnte natürlich die parlamentarische Seite nicht ersetzen.Das wird in der kommenden Woche in Brüssel anders sein. Dort werden sowohl die Türken als auch die Griechen parlamentarisch voll vertreten sein. Es wird ein Vorspiel sein für die politische Begegnung zwischen dem griechischen Ministerpräsidenten Karamanlis und seinem türkischen Partner, Herrn Demirel, die ja, wie wir vernommen haben, beide zur nordatlantischen Gipfelkonferenz der Regierungschefs in Brüssel eintreffen werden.Ich erwähne die Notwendigkeit und auch die Bedeutung der parlamentarischen Plattform für die griechisch-türkische Auseinandersetzung im Rahmen des NATO-Bündnisses, weil man hier versuchen kann, durch palamentarische Verhandlungen die Maximalpositionen, die beide Seiten im Verlaufe
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Blumenfeldder letzten Monate bezogen haben, wenn auch nicht ganz aufzulösen, aber doch zu reduzieren.
Es ist unerträglich für das Bündnis — so wurde es auch in London sowohl im Politischen Ausschuß wie im Militärausschuß bezeichnet —, daß zwei NATO-Partner mit den Waffen in den Händen auf die Speerspitzen des anderen starren und jederzeit bereit zu sein scheinen, ihre Spannungsprobleme, wenn es nicht anders geht, auch durch militärische Auseinandersetzungen zu lösen, wobei jeder natürlich weiß, daß das überhaupt gar keine Lösung sein kann.Die europäischen Regierungen wurden, wie der Kollege Mattick schon ausgeführt hat, in den Entschließungen sowohl des Politischen Ausschusses wie auch anderer Ausschüsse aufgefordert, sich intensiv in die Lösung des Zypernproblems und anderer damit zusammenhängender Fragen einzuschalten. Ich bin als Berichterstatter und zugleich Vorsitzender des Politischen Ausschusses nicht ganz untätig gewesen und habe die Bundesregierung gebeten — das habe ich in Schreiben an den Herrn Außenminister und an den Herrn Bundeskanzler getan —, in dieser Frage initiativ zu werden, politisch wie wirtschaftlich: die wirtschaftliche und finanzielle Hilfe, die wir damals neben der humanitären Hilfe als dringend angesehen haben, für die Vorbereitung der Lösung des Zypernproblems, nunmehr im Rahmen der ihnen geeignet erscheinenden europäischen Gremien aufzugreifen.Ich muß, Frau Präsidentin, einfach hinzufügen, daß die Antworten, die ich von der Regierung erhalten habe, nicht sehr viel mehr darstellten, als uns darauf hinzuweisen, wie schwierig die Lösung dieses Problems sei. Ich kann nicht sagen, daß das sehr hilfreich war. Auch andere europäische Regierungen haben sich bisher darin erschöpft, daß sie gesagt haben: Das Problem ist vielschichtig, schwierig und kaum lösbar. Aber das ist nicht die Antwort auf die Frage der Parlamente und der Nordatlantischen Versammlung. Das muß mit allem Nachdruck festgestellt werden.
Vielleicht sieht sich der Herr Bundesaußenminister heute in der Lage, etwas mehr zu sagen. Ich bin mir darüber im klaren, daß er angesichts der unmittelbar bevorstehenden Gespräche mit dem griechischen Ministerpräsidenten über ein gewisses Maß an Vorschlägen für Lösungsmöglichkeiten nicht hinausgehen kann. Aber ich meine, die Erklärung eines der ganz wichtigen europäischen Partner des Nordatlantischen Bündnisses könnte auch schon einen Fingerzeig für die Beratungen geben, die Ende dieses Monats in Brüssel stattfinden.Herr Bundesaußenminister, ich muß Ihnen sagen, daß kaum einer der in der Nordatlantischen Versammlung vertretenen europäischen Parlamentarier die Zurückhaltung versteht, die darin zum Ausdruck kommt, daß mit Blick auf den kommenden Winter noch nicht einmal entsprechende wirtschaftliche, soziale und finanzielle Mittel bereitgestellt wordensind, um den mehr als 200 000 Flüchtlingen auf Zypern ein weiteres bitteres Schicksal zu ersparen.
Das ist nicht verständlich. Wenn im Rahmen des NATO-Bündnisses die europäische Seite die Fragen, die sie unmittelbar angehen — wie hier zwischen zwei europäischen Partnern dieses Bündnisses —, nicht aufgreift und nicht energischer eine Lösung herbeiführt — wer sollte es dann tun?
Der Hinweis darauf, daß die Sowjetunion bei einer solchen europäischen Initiative unter Umständen die Stirn runzeln könnte, schlägt überhaupt nicht durch. Im Gegenteil: Die Tatsache, daß sich Europa dieser Frage annimmt, bedeutet, daß die amerikanischen Verbündeten sehr dankbar wären und damit bei der Lösung des Zypernproblems auch etwas zurückträten, was im übrigen noch vor kurzem bei einer Zusammenkunft zwischen Kongreß-abgeordneten und den Mitgliedern europäischer Parlamente sehr deutlich zum Ausdruck gekommen ist. Europa hat im Rahmen des NATO-Bündnisses eine ganz besondere Aufgabe und Verantwortung, sich nunmehr neben den amerikanischen Bündnispartner zu stellen und ihn politisch zu entlasten
in den großen Aufgaben der Erhaltung des Friedens und der Bemühung um eine Lösung im Mittelmeer.In London haben wir uns zu dem Zeitpunkt, im November 1974, Frau Präsidentin, weniger um die Nahostfrage gekümmert, die damals zurücktrat hinter den unmittelbaren Bereich, den der Kollege Mattick in seinem Bericht und ich herausgestellt haben, sprich: Griechenland, Türkei und Zypern.Nur muß ich einfach feststellen, daß ich mit dem Kollegen Mattick in einer Frage weder von der Sache her noch aus den Beratungen in der Nordatlantischen Versammlung einig sein kann, wenn er sagt, daß die NATO eigentlich für die Zukunft schrumpfen müßte, um sich auf ihre Aufgaben zu konzentrieren. Genau das Gegenteil ist die Auffassung der Mehrheit der Mitglieder der Nordatlantischen Versammlung gewesen, und es ist nicht etwa nur meine Meinung, die ich hier wiedergebe, aber sie ist zufälligerweise dieselbe. Es ist einfach notwendig, zu erkennen, daß 20 Jahre und mehr, nachdem dieses große Verteidigungsbündnis der westlichen Welt ins Leben gerufen wurde, die Einwirkungsmöglichkeiten und auch die Spannungen und die von außen auf uns zukommende Problematik eine Verkürzung nur auf die eigenen geographischen Grenzen des Bündnisses nicht mehr unterstützen bzw. nicht mehr als berechtigt erscheinen lassen. Ich will damit zum Ausdruck bringen, daß heute das nordatlantische Bündnis weit über seine geographischen Grenzen hinaus politisch — politisch, meine verehrten Damen und Herren! sich engagieren muß und im Hinblick auf die militärische Beobachtung und Verhütung ebenfalls über die Grenzen hinausschauen muß. Wir brauchen doch nur den Konflikt im Nahen Osten anzusehen oder die Möglichkeiten des Abschneidens unserer Energieversor-
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Blumenfeldgung, um völlig klar zu sehen, was damit angesprochen ist. Mit anderen Worten: auch aus dem Text der Entschließungen der Nordatlantischen Versammlung ist nicht herauszulesen, daß die Meinung, das Bündnis müsse zusammenschrumpfen, irgendeine Berechtigung hat.Frau Präsidentin, ich glaube zum Abschluß sagen zu dürfen und sagen zu können, daß die Tagung, die in London stattgefunden hat, von einer großen Bedeutung gewesen ist in der Richtung, daß hier zum ersten Male die ganz akuten Probleme des Bündnisses in seiner Gesamtheit angesprochen und die Fragen an die Regierungen und an die nationalen Parlamente gerichtet wurden: Wie haltet ihr es denn mit unserer gemeinsamen Verteidigung, und wie haltet ihr es mit der Unterstützung unseres amerikanischen Bündnispartners?
Ich danke den Berichterstattern und eröffne die Aussprache.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Brandt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine politischen Freunde und ich erkennen die Bedeutung der Empfehlungen, die uns hier unterbreitet worden sind und die die Herren Berichterstatter eben erläutert haben.Für mich steht im Kern dessen, was sich aus diesen Empfehlungen der Nordatlantischen Versammlung ableitet, in diesem Augenblick das, was mit dem Verhältnis zwischen Amerika und Europa, zwischen Nordamerika und Westeuropa zusammenhängt, und das möchte ich so sagen: Unsere amerikanischen Freunde sind in Schwierigkeiten, und zu Freunden steht man gerade dann, wenn sie Probleme haben.
Die amerikanischen Schwierigkeiten haben ja nicht allein mit dem Schock zu tun, den der Rückzug aus, der Fehlschlag in Vietnam zwangsläufig mit sich führen. mußte.Es gibt noch andere Gründe für die — man darf es so nennen — irritierte Unsicherheit, mit der die Amerikaner in den zurückliegenden Wochen über ihre weltpolitische Rolle diskutiert haben. Die Diskussion ist ja nicht abgeschlossen. Wie sollte sie es sein können? Aber niemand — niemand, der ernstgenommen werden will — sollte sich hierdurch verwirrren lassen, meine ich. Die rücksichtslose, ja, zuweilen peinigende Selbstprüfung, der sich die Amerikaner unterziehen, ist kein Zeichen von Schwäche. Ich bin jedenfalls davon überzeugt: die Vereinigten Staaten werden aus dem Prozeß, in dem sie sich gegenwärtig befinden, mit neuer innerer Kraft hervorgehen, von den materiellen Ressourcen ganz abgesehen.Schon um die Monatswende März/April, als das Vietnam-Drama noch nicht ganz abgeschlossen war, konnte man deutlich erkennen, daß zwei Komponenten der amerikanischen Politik Bestand behalten oder sogar noch an Gewicht zunehmen würden: einmal die erstrangige Bedeutung des Atlantischen Bündnisses und damit des Verhältnisses zu Westeuropa. Außenminister Kissinger nannte dies vor ein paar Tagen einen „Eckstein der Stabilität in der Welt". Er sprach von der „Priorität der Bündnissysteme unter den sich wandelnden globalen Bedingungen". Das war das eine, was man erkennen konnte und wovon ich sagte, es sei eigentlich noch stärker geworden im Verständnis der an der Erörterung Beteiligten.Zum anderen, bei allen Belastungen: die Beziehungen zur Sowjetunion, die Beziehungen Washingtons zu Moskau. Der amerikanische Außenminister kommentierte dies so: „Wenn durch die Gefahr nuklearer Massenvernichtung das Überleben der Zivilisation auf dem Spiel steht, läßt sich" — ich zitiere ihn — „der Frieden nicht durch militante Rhetorik verteidigen". Ich halte dies für eine realistische Beurteilung der Lage, und ich meine, daß es in diesem Augenblick darauf ankommt, nicht Mißtrauen um sich greifen zu lassen, sondern den Gedanken der atlantischen Partnerschaft zu konkretisieren, weiter zu konkretisieren, jedenfalls den Dialog zwischen uns in Westeuropa und unseren Freunden in Amerika so konstruktiv wie irgend möglich zu führen, gerade jetzt. Darauf kommt es an.
Da wir sonst bei uns in der Bundesrepublik keinen Mangel an politischen Streitgegenständen haben, würde es nicht schaden, wenn wir bei einer Gelegenheit wie der heutigen Debatte feststellen könnten: dies jedenfalls ist nicht umstritten, dies jedenfalls braucht nicht umstritten zu sein. Mehrheit und Minderheit, wenn ich es recht verstanden habe, Koalition und Opposition, bekräftigen gerade, so hoffe ich, in dieser Situation, daß sie miteinander zum Atlantischen Bündnis stehen, daß für uns die deutschamerikanische Freundschaft keine opportunistische Angelegenheit war und daß sie über politische Klimawechsel hinweg hält.
Bleiben wir, meine verehrten Kollegen, einen Augenblick beim amerikanisch-europäischen Verhältnis. Warum sollte es, so frage ich, eigentlich Schaden leiden, da doch jedermann weiß oder wissen sollte, daß die Auseinandersetzung in Südostasien und die Probleme in Europa vernünftigerweise nicht einfach auf einen Nenner zu bringen waren und sind? Warum sollte eigentlich bei uns in Deutschland und bei uns in Europa die Glaubwürdigkeit der Vereinigten Staaten Schaden gelitten haben? Ich sehe auch nicht, daß es, von Randgruppen abgesehen, solche Zweifel bei uns gibt, zumal bei uns in der Bundesrepublik Deutschland.Ich sehe eher — und ich tadele dies natürlich nicht —, daß es einen amerikanischen Selbstzweifel gibt. Werden die Europäer — so fragte oder fragt man sich dort — unsere Bündnisverpflichtungen noch als hinreichend glaubwürdig empfinden? Und wer wollte neben anderem den moralischen Ernst verkennen, der hinter einer solchen fast selbstquälerischen Frage steht!
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11856 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
BrandtAber ich meine, wir sollten unseren amerikanischen Freunden sagen — ich habe es auch bei anderer Gelegenheit schon getan —: Wälzt diesen Stein, der keiner zu sein braucht, nicht auch noch auf eure eigenen Schultern! Macht euch nicht zu Gefangenen der Vorstellung, die amerikanische Glaubwürdigkeit in der Allianz gegenüber Westeuropa oder gar im Verhältnis zu uns hier in Deutschland sei angeknackst, sei womöglich in der Gefahr, zerstört zu werden! Davon kann überhaupt keine Rede sein. Anders ausgedrückt heißt dies: Laßt uns auf beiden Seiten des Atlantik früh genug aufpassen, daß wir uns nicht gegenseitig in eine Vertrauenskrise hineinreden oder daß wir in sie hineingeredet werden!
In Wirklichkeit ist es doch so: Bei allen Unsicherheiten in dieser Welt gehört es zu den gesicherten Erscheinungen, daß die Bindungen zwischen Nordamerika und Westeuropa nicht erschüttert sind, daß die westliche Partnerschaft solide verankert ist. Und ich bin froh, daß wir mit unserer Bundeswehr einen nicht überzogenen, aber überzeugenden Beitrag dazu leisten.
Als ich kürzlich in Amerika war, meine Damen und Herren, konnte ich aus meiner Sicht guten Gewissens folgendes sagen: Nach allem, was ich überblicken kann, hat es in den letzten Jahren nie einen Zeitpunkt gegeben, zu dem man wie jetzt hätte sagen können: Es gibt keine eigentlichen Streitfragen zwischen Amerika und Europa, d. h. Westeuropa. Das wird natürlich nicht immer so bleiben. Die Interessen werden nicht immer genau übereinstimmen. Zumal dann, wenn, wie ich hoffe, Europa rascher eng zusammenwächst, als es dies bisher tut, werden die Interessen im einzelnen, wenn man über die Sicherheit hinausgeht, nicht immer genau übereinstimmen können. Aber heute ist es so, und das verdient festgehalten zu werden.Nun reden wir über das Verhältnis zwischen Amerika und Europa nach Vietnam. Dies ist keine Vietnam-Debatte. Und wer wollte in der gebotenen Ausgewogenheit und mit dem Verzicht auf Selbstbetrug jetzt eine solche Debatte führen wollen?! Vielleicht werden wir sie einmal nachholen müssen. Ich würde mich einer solchen Debatte - ohne eigene Unzulänglichkeiten verschweigen zu wollen — nicht entziehen.Was das heutige Thema, das der Allianz, angeht, so ist es doch wohl so — das sage ich jetzt, was meine politischen Freunde in diesem Hause angeht —: Wir deutschen Sozialdemokraten haben jedenfalls seit unserem Parteitag 1968 in Nürnberg den USA, unseren amerikanischen Verbündeten, versichert — und dies seitdem wiederholt —, unser Vertrauen in die Bündnisgarantie werde nicht berührt, wenn sie, unsere amerikanischen Verbündeten, sich aus den Verstrickungen in Vietnam lösen würden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Mertes?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte sehr!
Herr Kollege Brandt, wie beurteilen Sie die Äußerung Ihres früheren Regierungssprechers, unseres Kollegen Conrad Ahlers, die er vor einigen Wochen gemacht hat und die — ich zitiere — lautet:
Es war ein Glück für die Bundesrepublik, daß die sozialliberale Koalition die deutsche Außenpolitik seit 1969 aus einer zu starren Bindung an die USA befreit hat.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich finde, Sie sollten diese Frage an den Kollegen Ahlers selbst stellen
und sollten außerdem, wenn ich den Text richtig in Erinnerung habe er liegt mir jetzt nicht vor —, auch noch das lesen — was sich bei solchen Gelegenheiten meistens empfiehlt —, was vor dem zitierten Satz und danach steht.
Ich habe soeben an das erinnert, was der sozialdemokratische Parteitag 1968 gesagt hat. Ich darf hinzufügen: Ich habe dies, nämlich unser Vertrauen in die Bündnisgarantie werde bei einem SichHerauslösen oder Sich-Herauslösen-Müssen nicht berührt, ohne es an die große Glocke zu hängen, Herr Kollege, auch meinem damaligen amerikanischen Kollegen als Außenminister — oder, wenn ich so sagen darf: aus der „Gewerkschaft" der Außenminister — nahezubringen versucht.Wir haben die Parallele zwischen Vietnam und Deutschland nicht gelten lassen. Wir haben uns andererseits, was manche der jugendlichen Rigoristen nicht gelten lassen wollten, von Zensuren ferngehalten. Aber dies hat sich doch wohl herumgesprochen: Das, worum es sich in Vietnam handelte, hatte nicht nur mit der Auseinandersetzung zwischen einer kommunistischen und einer nichtkommunistischen Gesellschaftsordnung zu tun. Dort ging es auch um Entkolonialisierung, auch — wie immer von einzelnen Gruppen, Personen, Schichten verstanden — um nationale Unabhängigkeit. Außerdem stießen dort nicht nur zwei, sondern drei Weltmächte aufeinander. In dem von mehr als 30jährigem, unerbittlichem Krieg überzogenen Land hat es dann doch wohl auch auf allen Seiten Vertragsbrüche und Grausamkeiten gegeben. Jedenfalls in Übereinstimmung mit meinen politischen Freunden und vermutlich nicht nur mit diesen — habe ich gesagt und bleibe dabei: Idealisierungen, was jenen mehr als 30jährigen Krieg angeht, Idealisierungen in der einen oder anderen Richtung gehen an der Wirklichkeit vorbei.
Inzwischen haben der amerikanische Außenminister und andere führende Persönlichkeiten seines Landes selbst Zweifel angemeldet, ob die Vereinigten Staaten seinerzeit gut beraten gewesen seien, als sie sich auf das Engagement in Indochina einließen.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975 11857
BrandtHerr Kissinger hat noch etwas anderes gesagt, was manchem bei uns zu denken geben sollte. Der amerikanische Außenminister meinte vor ein paar Tagen in seiner St.-Louis-Rede, man müsse die Ansicht überwinden, als ob jedes Problem und jeder amerikanische Rückschlag in der Welt durch sowjetische Aktionen verursacht würden. In Portugal, im Nahen Osten, selbst in Indochina — so der amerikanische Außenminister — resultierten die Schwierigkeiten mehr aus gebietlichen Gegebenheiten oder, wie er hinzufügte, aus unangemessenen amerikanischen Reaktionen als aus sowjetischen Interventionen. Ich möchte dem Argument jetzt nicht weiter nachgehen; ich möchte es nur festgehalten wissen.
Der amerikanische Außenminister sprach - ichsagte es eben von Portugal. Ich frage, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen: Was hat der Westen eigentlich im Laufe eines guten Jahres getan, um den Portugiesen bei dem zu helfen, worum es für sie eigentlich geht,
nämlich Zusammenarbeit zum Nutzen der wirtschaftlichen und demokratischen Stabilität?
Ich habe es meist, wenn ich Äußerungen dazu verfolgt habe, so verstanden, als ob gefragt würde,wann Portugal zur Demokratie zurückkehren werde,
während es doch in Wirklichkeit eben erst 50 Jahre der Diktatur hinter sich hatte.
Ich habe weithin den Respekt vermißt, den wir dem portugiesischen Volk dafür schuldig waren,
daß es sich bei der Wahl zur verfassunggebenden Versammlung so überzeugend für den Weg der Demokratie oder, wie die Mehrheitsparteien dort sagen, für einen sozialistischen Weg in Demokratie ausgesprochen hat.
Das Atlantische Bündnis hat sich früher nicht in die inneren Verhältnisse Portugals eingemischt. Warum sollten jetzt ganz andere Maßstäbe angelegt werden?Die Bewegung der Streitkräfte und die Regierung in Lissabon versichern, daß sie zu den bestehenden Verträgen stehen, und das heißt konkret: auch zum Bündnis. Sonst käme ja der Ministerpräsident Gonçalves nicht in der nächsten oder übernächsten Woche nach Brüssel. Nehmen wir sie, die Bewegung der Streitkräfte und die Regierung in Lissabon, doch heim Wort!
Lassen wir uns doch bitte vor allem etwas einfallen, was über Brüsseler Kleinkariertheiten hinausführt und Portugal, dem traditionsreichen, aber zurückgebliebenen Land an der Südwestküste unseres Kontinents, zu einer gesicherten Perspektive in der europäischen Zusammenarbeit verhilft!Vergessen wir vielleicht auch dies nicht: Die portugiesische Entkolonialisierung, die letzte europäische Entkolonialisierung in Afrika, bedeutet für das Bündnis, kann für das Bündnis auch bedeuten, daß es dort nicht zusätzlich belastet bleibt, sondern entlastet wird.
Aus dieser neuen Lage kann sich sogar eine uns allen willkommene Brückenfunktion in bezug auf das südliche Afrika ergeben.Ich habe Portugal aus gutem Grunde hervorgehoben. Aber ich möchte, daß wir, die Europäische Gemeinschaft und das Atlantische Bündnis, uns insgesamt zu einer aktiveren und positiveren Haltung gegenüber den Problemen durchringen könnten, die sich uns im Raum des Mittelmeeres und zumal an dessen nördlicher Küste präsentieren. Dazu ist ja durch die Berichterstatter schon einiges gesagt worden.
Ich sage das übrigens auch im Hinblick darauf, daß unsere Regierung dieser Tage den Regierungschef von Griechenland zu Gast haben wird, den Regierungschef jenes griechischen Volkes, dem wir uns nicht nur traditionell, sondern auch ganz konkret bei der Konsolidierung seiner neugewonnenen Freiheit herzlich verbunden fühlen.
Nun hat, meine Damen und Herren, der amerikanische Außenminister in der von mir schon ein paarmal erwähnten Rede auch deutlich gemacht, daß das Bemühen um Entspannung kein Ersatz für eigene Bemühungen und eigene Entschlossenheit sein kann. Dem werden wir alle — oder die meisten von uns — gern zustimmen. Gleichzeitig ließ er, der amerikanische Außenminister, alle Interessierten wissen, die USA rechneten damit, daß die Gespräche mit der Sowjetunion über die Begrenzung der Raketenrüstung trotz des augenblicklichen Stillstands noch in diesem Jahr erfolgreich abgeschlossen werden würden und daß es bald darauf zu echten Verhandlungen über andere Rüstungsfragen kommen werde.Henry Kissinger erinnerte an unser Wissen darum — an das seiner Landsleute und an das der Verbündeten seines Landes —, daß wir es mit Ländern von entgegengesetzten Ideologien, wie man in Amerika und Rußland sagt, von entgegengesetzten Ideologien und Wertmaßstäben zu tun habe. Gleichzeitig sagte er, man sollte sich hüten vor dem ichzitiere ihn - Sirenengesang, Entspannung sei eineFalle, eine Einbahnstraße von einseitigen Konzessionen. Diese Einsicht, diesen Rat sollten wir auch nicht beiseiteschieben. Was gestern ein Sprecher der Opposition — wie ich finde, reichlich belehrend —
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11858 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Brandtan die Adresse von Herrn Kissinger gesagt hat, lag, wenn ich es offen sagen darf, meiner Meinung nach neben der Sache, zu der ich gleich zwei Sätze sagen will.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie einen Moment: Sie haben eine nur 25minütige Redezeit. Sie werden sicher etwas länger brauchen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Noch zwei, drei Minuten, Frau Präsidentin!
Im Rahmen der Geschäftsordnung ist das möglich. Sie beantragen, etwas länger zu sprechen? Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Diese Äußerung lag, wie ich sagte, meiner Meinung nach neben der Sache und diente auch nicht der gerade jetzt gebotenen vertrauensvollen Zusammenarbeit.
Es ging dabei — wie Sie, Herr Kollege, noch besserwissen als die meisten, an die ich mich jetzt wende— um die Genfer Runde der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Ich bin der Auffassung, daß jener andere Sprecher der Opposition— ich meine den Kollegen Kiep — recht hat, der vor einigen Tagen erklärte, bisher habe sich der Zusammenhalt des Westens und besonders der Europäer gerade bei den Genfer Verhandlungen eindrucksvoll bewährt; auf diese Weise seien für die NATO-Länder befriedigende Ergebnisse erzielt worden.
— Dann ist es um so besser.Ich sage im übrigen nicht erst hier, sondern habe dies auch in Washington gesagt und habe dafür, auch an maßgeblicher Stelle, Zustimmung gefunden, meine Damen und Herren: Der Stabilisierung der politischen Verhältnisse in Europa würde es dienen, wenn die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit durch die Regierungschefs nicht in ein Niemandsland entlassen werden würde.
Was will ich damit sagen? Ich will damit sagen: Relativ bald sollten alle Beteiligten, z. B. auf der Ebene der stellvertretenden Außenminister, einander darüber berichten, was in einem ersten Jahr oder in den ersten anderthalb Jahren nach der Gipfelkonferenz in Helsinki, die ja wohl im Spätsommer stattfinden wird, tatsächlich geschehen sein wird,
was die einzelnen Regierungen wirklich in die Wege geleitet haben, um die Empfehlungen nicht bloß auf dem Papier stehenbleiben zu lassen. Denn darauf kommt es doch an!
Im übrigen zeigt, so meine ich, jede objektive Prüfung, wie sehr diejenigen sich verkalkuliert haben, die gemeint hatten, unser eigener Beitrag zur Entspannung würde die westliche Gemeinschaft schwächen. Das Gegenteil hat sich als richtig erwiesen.
Daran ändern auch solche Kommentare nichts, die man in der einen oder der anderen überregionalen Zeitung lesen kann, Kommentare, die, was meine Auffassung von Entspannungspolitik angeht, falsche Thesen aufstellen, urn diese dann, wie man glaubt, eindrucksvoll widerlegen zu können. Das ist nicht seriös und eines Blattes, das sich in der Tradition der alten „Frankfurter Zeitung" wähnt, im Grunde auch nicht würdig.
— Ich möchte das jetzt abschließen, zumal nach der verständlichen Mahnung durch die Frau Präsidentin.Ich möchte aber noch zu einem anderen Punkt, der wichtiger ist als der eben erwähnte, eine Bemerkung machen.In sowjetischen Verlautbarungen hören wir viel darüber, daß der Rüstungswettlauf beendet werden sollte und daß es möglich sein müßte, Mittel für produktive Aufgaben freizusetzen. In Wirklichkeit aber erleben wir, daß sich neue Schauplätze für Wettrüsten auftun. Was in der vor uns liegenden Drucksache über die Verstärkung des sowjetischen Seekriegspotentials ausgeführt wird, gehört in diesen Zusammenhang. Und in denselben Zusammenhang gehört, was Herr Kissinger über die — ich zitiere — „Ausdehnung sowjetischer militärischer Macht in allen Teilen der Welt" gesagt hat.Jeder sollte richtig verstehen, was ich hier für meine politischen Freunde anmerke: Die Wiener Verhandlungen über einen gleichgewichtigen Truppenabbau sind eine Sache — wir hoffen, daß sie nach der Konferenz in Helsinki und nach dem Raketen-Abkommen der Supermächte wirklich ernsthaft in Gang kommen werden —, aber inzwischen und daneben gibt es auch noch eine Wirklichkeit. Wenn diese durch zunehmenden Rüstungswettlauf gekennzeichnet ist, dann werden alle schönen Reden über Abrüstung entwertet.
Meine Damen und Herren, ich wiederhole: Zu Freunden muß man gerade dann stehen, wenn sie Schwierigkeiten haben.
Ich unterstreiche: Das Atlantische Bündnis ist nicht gefährdet, und wir brauchen bei allem, was uns sonst im Disput der Parteien trennt, nicht auch noch über das zu streiten, was in Wirklichkeit nicht umstritten ist. Unsere Sicherheit ist und bleibt davon abhängig, daß das Atlantische Bündnis intakt bleibt
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Brandtund daß wir mit unserer Bundeswehr unseren angemessenen Beitrag dazu leisten. Unsere Sicherheit wird zum anderen davon abhängig sein, ob es allen Widrigkeiten zum Trotz zunehmend gelingt, Spannungen abzubauen und Zusammenarbeit an die Stelle von Konfrontation treten zu lassen. Meine Freunde und ich möchten die Bundesregierung, Herr Bundesaußenminister, ermutigen und unterstützen, es an diesem doppelten, an diesem gekoppelten deutschen Beitrag zur Sicherheit nach außen auch in Zukunft nicht fehlen zu lassen. Der Sicherheit unseres Staates und seiner Bürger sind wir ohnehin alle gleichermaßen verpflichtet.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Jaeger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Fraktion der ChristlichDemokratischen und Christlich-Sozialen Union begrüßt es, daß heute zum erstenmal über die Empfehlungen und Entschließungen der Nordatlantischen Versammlung, der Konferenz der Parlamentarier der NATO-Staaten, diskutiert wird. Auch daraus geht die immer größere Bedeutung hervor, die diese parlamentarische Versammlung gewonnen hat. Sie ist eine Repräsentation der Parlamentarier der Mitgliedstaaten und sorgt sichtbar und auch in ihrer Wirkung dafür, daß aus der NATO als einem Bündnis der Regierungen und der Staaten auch ein Bündnis der Völker wird. Sie gewährleistet den freien Meinungsaustausch ziwschen den gewählten Vertretern der Nationen, aber auch eine weitergehende Information; durch sie sollen die nationalen Parlamente und durch diese wieder die Öffentlichkeit informiert werden. Gerade in diesem kritischen Augenblick erscheint uns Information über die Gefahren, die uns drohen, über die Aufgaben des Bündnisses sowie über seine Zukunftsperspektiven ganz besonders wichtig.So trägt die Nordatlantische Versammlung sicherlich zur Verlebendigung des Bündnisses bei und ist, wie mein Freund Blumenfeld als Berichterstatter besonders unterstrichen hat, die einzige Stätte parlamentarischer transatlantischer Begegnung. Europa einerseits und die Vereinigten Staaten und Kanada andererseits können hier offiziös und zwanglos miteinander Gespräche führen, so daß wir hier eine besonders wirksame Ausdrucksform des atlantischen Dialogs sehen, den wir benötigen, wenn das Bündnis mehr als eine Augenblickserscheinung sein soll.Meine Damen und Herren, die politische Lage, die ich nicht weiter zu erörtern brauche, hat früher geplante, weitergehende Absichten auf eine Institutionalisierung der Nordatlantischen Versammlung als eines offiziellen NATO-Parlaments zurückstellen lassen. Trotzdem hat diese Versammlung an Bedeutung gewonnen. Ich darf als deutscher Abgeordneter, aber auch als Vorsitzender der Fraktion der christlich-demokratischen und konservativen Abgeordneten der Nordatlantischen Versammlung dem Generalsekretär, Dr. Luns, besonders für die große Bereitwilligkeit danken, mit der er sich immer dem Parlament und seinen Ausschüssen zur Verfügung stellt und die vielfachen Fragen beantwortet.
Trotzdem müssen wir uns darüber klar sein, daß die Demokratie hier in gewisser Hinsicht noch in den Kinderschuhen steckt. Ich denke nur daran, daß ich unter den Resolutionen auch eine solche wiederfinde, in der die Nordatlantische Versammlung die Minister des Rates ersucht, schriftliche Anfragen der Abgeordneten zu beantworten. Ich glaube, der Prozeß der Demokratisierung bedarf hier noch eines lebhaften Fortschritts.
Wenn ich hier namens meiner politischen Freunde zu den politischen Problemen des westlichen Verteidigungsbündnisses Stellung nehme, so scheide ich ein Gebiet aus, über das mein Freund Carl Damm sprechen wird: jenen „Solidaritätsplan" zur wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Hilfe für das südliche Europa, den man in London auf der Versammlung in den Couloir-Gesprächen vielfach abkürzender- und erläuternderweise einen „Marshall-plan für das südliche Europa" genannt hat. Ich weiß, daß etliche unserer Kollegen von der anderen Seite dieses Wort für zu hoch gegriffen halten; vielleicht haben sie in gewisser Hinsicht sogar recht. Wir werden ihnen nicht im Wege stehen, diesen Plan dann einen „Damm-Plan" zu nennen,
sowohl nach dem Erfinder Carl Damm
als auch nach der Zielsetzung, gegen den Kommunismus einen Damm durch soziale und wirtschaftliche Maßnahmen zu bilden.
Das Bündnis der NATO besteht 26 Jahre. Wir Deutsche haben 1975 ein Jubiläum, das Jubiläum unserer 20jährigen Mitgliedschaft, die wir unter Konrad Adenauer und gegen den Widerstand der damaligen Opposition erwirkt haben. Das Verdienst der NATO allerdings war so groß, daß auch diese damalige Opposition sich schließlich und endlich zu der von uns vertretenen NATO-Politik bekannt hat. Der Erfolg der NATO in 26 Jahren ist auch überzeugend. Denn sie hat die Sicherheit der Bundesrepublik einschließlich West-Berlins garantiert und keinen Quadratmeter westlichen Bodens in Europa in diesen Jahren verlorengehen lassen.Trotzdem können wir nicht übersehen, daß in den letzten Jahren gewisse Erosions- und Ermüdungserscheinungen im Bündnis eingetreten sind. Daran mögen verschiedene Umstände schuld haben, aber sicherlich auch die Politik der von meinem Vorredner geleiteten Bundesregierung, die Illusionen geweckt hat, die nicht erfüllt werden konnten, und Zukunftshoffnungen, die wir alle haben, bereits als Wirklichkeit ausgegeben hat.
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11860 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Dr. JaegerEine Entspannungseuphorie im eigenen Land, aber, wie ich nicht leugnen kann, auch in anderen Ländern des Bündnisses — hat an manchen Orten zu einem Nachlassen des Verteidigungswillens geführt, vor allem auch gerade in der Öffentlichkeit der westlichen Völker. Darüber machen wir uns Sorgen, die man aussprechen muß, wenn man sie beheben will.Die sowjetische Zeitung „Iswestija" hat am 23. April dieses Jahres geschrieben, die NATO sei nicht mehr die, die sie vor 20 oder noch vor 5 Jahren gewesen war, sie sei anders geworden und lasse Symptome der Anpassung erkennen. Man soll diese journalistischen Ausführungen, die ja nicht die Meinung eines Privatmannes sind, denn sie kommen aus einem totalitären Lande, und es handelt sich um eine offizielle Zeitung , keineswegs leichtfertig abtun.
— Ich bin kein Freund von Fanfarenstößen.
Aber ich werde Ihnen gleich weiterhelfen, damit Sie meinen Gedankengang besser verstehen, als Sie ihn jetzt verstehen oder verstehen wollen. Ich will es deswegen tun, Herr Kollege Wehner, weil es sich um eine ernste Angelegenheit handelt. Denn wenn die „Iswestija" und wenn gar die sowjetische Politik glauben sollten, die NATO sei nicht mehr so fest gefügt in ihrem politischen Willen und ihrer militärischen Kraft, dann würde unsere Politik der Friedenserhaltung durch Abschreckung gefährdet werden.
Der Harvard-Professor Kissinger, der heute der Außenminister der Vereinigten Staaten ist, hat in den Anfangszeiten der NATO die Doktrin der Politik der Abschreckung dadurch umrissen, daß er gesagt hat, zur Abschreckung brauche es dreierlei: die Fähigkeit, den Willen und die Glaubwürdigkeit. Mit meinem Vorredner zweifle ich nicht an der Fähigkeit der NATO und insbesondere der Vereinigten Staaten zur massiven Vergeltung, selbst wenn wir heute von einem Gleichgewicht der atomaren Kräfte in der Welt sprechen müssen. Ich zweifle auch nicht an dem Willen der Vereinigten Staaten, ihres jetzigen und eines künftigen Präsidenten, notfalls die Macht der Abschreckung einzusetzen. Aber beides würde dann nicht mehr helfen, wenn die Glaubwürdigkeit von Fähigkeit und Abschreckungswillen nicht mehr gegeben wäre.
Wenn eines dieser drei Dinge fehlt - und sei es„nur" die Glaubwürdigkeit -, dann ist Kriegsgefahr akut. Die Politik der Abschreckung ist bei einem Kriegsausbruch gescheitert. Denn unsere Politik — die der CDU/CSU und sicherlich auch die der heutigen Bundesregierung — bestand und bestehtnicht darin, irgendeinen Krieg zu gewinnen - denman heutzutage nicht mehr gewinnen kann —, sondern den Krieg eben zu vermeiden.
Sicherlich macht auch der Stand der materiellen Verteidigungskraft Sorgen, wenn man nach dem Osten blickt. Bereits vor einem Jahr, als die Nordatlantische Allianz ihr 25jähriges Bestehen feierte, erklärte der Generalsekretär der NATO, Dr. Luns, hier in Bonn auf einer Kundgebung der Deutschen Atlantischen Gesellschaft — unter seinen Zuhörern waren auch der Bundesminister der Verteidigung und der Führer der parlamentarischen Opposition —, zunehmendes nukleares Gleichgewicht und wachsendes konventionelles Ungleichgewicht zugunsten des Ostens seien die beunruhigenden Zeichen der Zeit; trotzdem sei unsere Sicherheit noch gewährleistet. Dr. Luns betonte das Wörtchen „noch", und ich fürchte, heute, ein Jahr später, muß es noch stärker betont werden.Das militärische Kräfteverhältnis in Europa hat sich in den letzten Jahren stetig zugunsten des Ostens verschoben. Im vergangenen Monat erklärte der neue Oberkommandierende der europäischen NATO-Truppen, General Haig, in einem Interview mit der „Welt", den 800 000 Mann der NATO-Truppen stünden in Europa heute 1,2 Millionen Soldaten des Warschauer Paktes gegenüber. Das Verhältnis der Kampfpanzer aber sei noch erheblich ungünstiger für uns: 22 000 des Warschauer Pakts gegen 6200 der NATO.In der Tat hat die Sowjetunion gerade in den' letzten fünf Jahren die Kampfkraft an ihrer Westgrenze um 25 % erhöht. Ich möchte hinzufügen: in diesen letzten fünf Jahren, in denen nicht nur die Sowjetunion, sondern auch die Bundesregierung so oft und eindringlich von Entspannung gesprochen hat. Daran kann man wieder einmal sehen, wie sehr Worte und Tatsachen auseinanderklaffen. Es ist beachtlich: das Bruttosozialprodukt der Sowjetunion beträgt nur wenig mehr als 50 % dessen der Vereinigten Staaten. Trotzdem gibt die Sowjetunion jährlich etwa 30 Milliarden DM mehr für Verteidigungsausgaben aus als die USA.
Wenn man noch ein Verständnis dafür haben kann — vom sowjetischen Standpunkt aus , daß sie die nukleare Rüstung verstärkt hat, weil sie hier einen Nachholbedarf gegenüber den Vereinigten Staaten hat, so ist es ganz unverständlich, daß die Sowjets auch die konventionelle Kraft verstärkt haben, obwohl sie auf diesem Gebiet sowieso schon weitaus die Stärkeren sind unverständlich jedenfalls dann, wenn man glaubt, die Sowjetunion würde ihre Truppen allein für Verteidigungszwecke ausrüsten. Eine Verstärkung der konventionellen Streitkräfte auf europäischem Boden kann nur offensive Absichten haben.Neben der forcierten sowjetischen Aufrüstung auf dem Gebiet der Interkontinentalraketen und der konventionellen Land- und Luftstreitkräfte ist das
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975 11861
Dr. Jaegerbesorgniserregendste militärpolitische Phänomen die mit aller Macht vorangetriebene Flottenrüstung der Sowjetunion, die schon erwähnt wurde. Hand in Hand mit ihr geht ein weltweiter Aufbau von Flottenstützpunkten auf allen Weltmeeren, getreu dem Wort des Oberbefehlshabers der sowjetischen Kriegsmarine, Gorschkow, die Präsenz der sowjetischen Kriegsflotte müsse so stark sein, daß die Sowjetunion in der Lage sei, zu jeder Zeit und an jedem Ort der Welt vernichtend zuzuschlagen. Eine Resolution der Nordatlantischen Versammlung spricht von einer neuen Dimension der Bedrohung für den Westen, weil das Seekriegspotential des Ostens unabhängig von Land- und Luftangriffen auf Europa jederzeit einsetzbar ist.Ich frage Sie, meine Damen und Herren: Wozu benötigt die traditionelle Landmacht Rußland eine so starke Kriegsflotte und ein über die Welt ausgedehntes Netz von Stützpunkten, wenn nicht zu Zwecken offensiver Art?Insgesamt möchte ich feststellen, daß die Sowjetunion und der Warschauer Pakt ihre mit dem Ende der 60er Jahre einsetzende verstärkte Aufrüstung unvermindert fortsetzen, nicht mehr im Zeichen des sogenannten kalten Krieges, sondern im Zeichen der, von Moskau aus gesehen, weitaus offensiveren Phase der sogenannten friedlichen Koexistenz, d. h. also im Übergang von der Konfliktstrategie zur Einflußstrategie. Dazu kommt für die Streitkräfte des Warschauer Pakts in Mitteleuropa auf Grund der Vorwärtsverlagerung von Truppen und Material die Fähigkeit zum Angriff aus dem Stand, der gefährlichsten Form eines Angriffs, weil er ohne sichtbare Vorbereitungen und praktisch ohne Vorwarnzeit erfolgen kann und also als Überraschung käme.Es geht aber nicht nur um diese offensiven sowjetischen Maßnahmen, die der Allianz schwere Sorgen bereiten. Wir sehen auch die Zangenstrategie, die politisch und militärisch gegenüber Europa angewendet wird. An der Südflanke ist sie im vergangenen Jahr besonders aktuell gewesen und hat in den Beratungen der Nordatlantischen Versammlung ihren besonderen Ausdruck gefunden. Gewiß gibt es hier auch erfreuliche Ereignisse. Gerade ein Tag, an dem Karamanlis, jener Staatsmann, der Griechenland aus der Diktatur in die Demokratie geführt hat, Gast des deutschen Bundeskanzlers ist, ist dazu angetan, unsere Freude über den Weg, den das griechische Volk innenpolitisch gefunden hat, zum Ausdruck zu bringen.
Aber, meine Damen und Herren, die offenbar nicht rasch zu beseitigenden Gegensätze in Zypern, das Blutbad, das auf dieser Insel angerichtet wurde, das soziale Elend, das dort herrscht, lenken unsere Aufmerksamkeit dorthin. Überlegen Sie sich, was außenpolitisch dort geschehen ist: die Distanzierung Griechenlands von der NATO, die Verweigerung der amerikanischen Waffenhilfe an die Türkei auf Grund eines Beschlusses des Kongresses, die Empörung der Türken über diese mangelnde amerikanische Unterstützung, der britische Auszug aus dem Mittelmeer und die geplanten Kürzungen von Stärke und Dienst-zeit der Truppen in Italien. Man kann nur sagen: hier läuft alles nach den Wünschen der Sowjetunion.
Leider haben wir eine, wenn auch andersartige, so doch in der Wirkung ähnliche Entwicklung an der Nordflanke zu verzeichnen. Die Geographie macht es schon besonders schwer, sie zu verteidigen. Wir sehen außerdem, daß die sowjetische nördliche Flotte die stärkste Konzentration militärischer Macht in Nordeuropa ist. Schon unter Chruschtschow wurden die U-Boote im Norden von 30 auf 145 Stück verstärkt, inzwischen noch weiter. Ich will Sie mit Zahlen nicht aufhalten. Jedenfalls ist die Übermacht der Sowjetunion gerade an der Nordflanke besonders stark. Sie wird durch neutralistische Strömungen in den skandinavischen Ländern noch unterstützt.Zu der Überlegung einer Zangenbewegung politischer und ebenfalls militärischer Art gehört auch das, was die Sowjetunion mit Portugal geplant hat. Sie haben wahrscheinlich von den sensationellen Enthüllungen gehört, die der ehemalige Generalmajor und Parteisekretär der Kommunisten im Verteidigungsministerium der Tschechoslowakei, Jan Senja, gegenüber der Londoner „Times" gemacht hat. Er teilte mit, schon bei seiner Flucht in den Westen im Februar 1968 habe er dienstliche Kenntnis von einem langfristigen Moskauer Plan gehabt, in Portugal bis 1976 oder 1977 eine kommunistisch beherrschte „progressive demokratische Regierung" zu etablieren, und zwar mit Hilfe kommunistischer Infiltration der Streitkräfte.
Dieser Plan ist auch dann bemerkenswert, wenn er — wie wir immer noch hoffen — scheitern sollte. Noch ist es ja nicht so weit. Aber die Gefahr, die uns droht, dürfte damit deutlich genug aufgezeichnet sein.Ich leugne nicht, daß die portugiesischen Wahlen gerade unter den dortigen Verhältnissen nicht minder eindrucksvoll sind als die Wahlen in Griechenland. Die Wahlen enthielten ein Bekenntnis zur Demokratie und eine Absage an den Kommunismus. In Griechenland hat eine demokratische Rechtspartei den Sieg davongetragen, in Portugal eine demokratische Linkspartei.Meine Damen und Herren, ich stehe persönlich nicht in dem Verdacht, der Zielsetzung jener Partei nahezustehen, die der frühere Außenminister Soares leitet. Gerade deshalb möchte ich sagen: Man soll in Portugal dem Führer der stärksten Partei und seinen Freunden die Möglichkeit geben, zu regieren, in gleicher Weise, wie in Griechenland andere Offiziere dem Führer einer rechtsgerichteten politischen Partei die Führung überlassen haben.
Es ist sowieso guter demokratischer Brauch, daß diestärkste Partei im Parlament die Regierung führt.
Aber es ist außerdem ein Gesetz der Demokratie,daß sich im Parlament die Mehrheiten frei bilden.
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11862 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Dr. JaegerEs ist zudem Sinn der Demokratie, daß sich Demokraten gegen Totalitäre auch und gerade in den Parlamenten zusammenfinden.Wenn Herr Kollege Brandt vorhin gefragt hat, was der Westen eigentlich getan habe, um die junge Pflanze der Demokratie in Portugal zu fördern, dann kann ich darauf nur antworten: Soweit es Deutschland betrifft, muß er diese Frage an seine, an diese Bundesregierung richten. Wir, die Opposition, haben und hätten Sie nicht gehindert, die Demokratie in Portugal nachdrücklich zu unterstützen.
Wenn wir, meine Damen und Herren, heute über die Lage der NATO sprechen, müssen wir auch einen Blick über Europa hinaus tun: nach den Vereinigten Staaten und nach Südostasien. Was in Kambodscha und in Vietnam in diesen Wochen geschehen ist und geschieht, hat unzählige Menschen in unserem Lande mit Sorge erfüllt. Die Flüchtlingsströme, die Ermordung Unschuldiger durch kommunistische Aggressoren erinnern an Ereignisse, die unser Volk vor 30 Jahren im Osten Deutschlands erleben mußte. Manche stellen sich insgeheim die Frage: Wenn dies in Vietnam wieder möglich ist, kann ähnliches eines Tages auch in Europa geschehen?Die Vereinigten Staaten — die wichtigste Macht des westlichen Bündnisses -- haben die schwerste innere Krise seit dem Sezessionskrieg hinter sich. Sie haben sie innenpolitisch gemeistert, in einer Weise, in der sich die Institutionen der demokratischen Verfassung Amerikas eindrucksvoll bestätigt haben.
Aber eine Erschütterung des Selbstvertrauens ist zurückgeblieben; sicherlich auch eine Folge davon, daß das Selbstvertrauen der Amerikaner vor dreißig Jahren für uns differenzierte Europäer vielleicht etwas zu naiv gewesen ist.So stehen die Amerikaner vor der Situation, daß sie im Krieg in Vietnam zwar das Recht auf ihrer Seite gehabt haben, aber nicht das Glück. Wenn ein Volk zum ersten Mal in seiner Geschichte einen Krieg nicht gewinnt, dann hat das schwere psychologische Folgen. Dabei ist der Krieg nicht wegen eines Mangels der äußeren Macht der Vereinigten Staaten zu dem Ende gekommen, das er gefunden hat, sondern zum Teil durch eine falsche Strategie, indem man die Theorien der Professoren der Ostküste über Stufe und Pause, die man bezüglich der modernen Strategie entwickelt hatte, anwandte; aber vor allem, weil der Osten, weil der Vietcong den psychologischen Krieg in den Vereinigten Staaten selbst geführt und gewonnen hat.
Die Wichtigkeit des psychologischen Krieges kann ich nur jedem, der in Europa Verantwortung hat, auch dem Verteidigungsminister und seinem Parlamentarischen Staatssekretär, ans Herz legen. Man soll diese Dinge nicht nebensächlich behandeln oder lächerlich machen. Mao Tse-tung und Ho Tschi Minhwissen beide — und wir sollten es auch wissen —, daß die militärische Kriegsführung nur ein Teil des Krieges ist.
Herr Kollege Wehner, ich habe in meinem Leben versucht, mir meine politische Bildung möglichst auf allen Seiten zu holen. Das kann man sowohl im nationalen wie im kommunistischen China. Ich habe beide besucht; ich kann Ihnen nur das gleiche empfehlen.
Aber, Herr Wehner, da Sie vielleicht noch größere Hemmungen haben, ins nationale China zu reisen, möchte ich sagen: reisen Sie auch ruhig allein ins kommunistische China; Sie können dort sehr viel an Außenpolitik lernen.
Auch heute, ehe die Wunden des Krieges in Vietnam in den Vereinigten Staaten vernarbt sind, können wir feststellen, daß die Interessen der USA in Europa grundsätzlich anders gelagert sind als in Vietnam; denn Vietnam ist eine Randzone Asiens, Deutschland aber ist das Zentrum der alten Welt. In Vietnam ist die psychologische Folge des amerikanischen Rückzugs schlimmer als die realpolitische. Die Herrschaft aber über das mittlere Europa würde die Vorstufe der Weltherrschaft für die Sowjetunion bedeuten. Das kann Amerika gar nicht zugeben.Im übrigen hat nicht nur de Gaulle, sondern auch Konrad Adenauer von Anfang an ernste politische Bedenken gegen die Fesselung Amerikas und seiner Streitmacht in Vietnam gehabt.
Sie haben beide eine Schwächung der Stellung Europas befürchtet, und wir wissen ja auch, daß die amerikanischen Kampftruppen in unserem Lande in jenen Jahren zum Teil ausgekämmt wurden und daß wir nunmehr wieder von einer Erhöhung der amerikanischen Kampfkraft sprechen können.Die Folge aus allem kann doch nur sein, daß Europa und Amerika noch enger zusammenrücken, daß die Konsultation noch besser, die Zusammenarbeit noch effektiver wird und daß die gemeinsamen Zielsetzungen klarer und schneller erfolgen.Ich bin überhaupt der Auffassung, daß die Beziehungen zwischen Europa und Amerika und zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten nicht eng genug sein können. Es war meinem Vorredner sichtlich sehr unangenehm, als mein Freund Dr. Mertes Conrad Ahlers aus dem „stern" zitiert hat, der dort geschrieben hat, die deutsche Außenpolitik sei durch die Regierung Brandt aus zu starrer Bindung an die USA befreit worden. Herr Ahlers ist ja nicht ein Hinterbänkler, er ist auch kein Juso. Er war Staatssekretär im Presse- und Informationsamt,
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975 11863
Dr. Jaegerund er hat die menschlich angenehme Eigenschaft, laut auszusprechen, was man in der Koalition hinter vorgehaltender Hand flüstert,
sozusagen die sozialistische Katze aus dem liberalen Sack zu lassen.
— Herr Wehner, auch Ihre Zwischenrufe können die Zeilen des Herrn Ahlers im „stern" nicht aus der Welt schaffen.
— Nun, ich meine, einen unbedeutenden Mann werden Sie nicht zum Staatssekretär im Presse- und Informationsamt gemacht haben, und ob Sie einen unbedeutenden Mann in Ihrer Fraktion haben, Herr Kollege Wehner, das zu beurteilen überlasse ich Ihnen.
Meine Damen und Herren, die Lockerung der Beziehungen zu den Vereinigten Staaten, die Herr Ahlers feiert, haben wir immer bedauert; wir freuen uns, wenn heute Herr Brandt für eine engere Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten eintritt. Es gäbe ja nur eine Alternative zu der engen Bindung Europas an die Vereinigten Staaten: die Finnlandisierung dieses Erdteils.
Auch deshalb, meine Damen und Herren, brauchen wir die atlantische Solidarität.
Ich will nicht wiederholen, meine Damen und Herren, was das alte Klagelied der NATO ist: daß man rationalisieren und standardisieren und bei der starken finanziellen Belastung der Rüstungen die Ausgaben kostenwirksam ansetzen soll. Ich betone aber: der Glaubwürdigkeit nuklearer Abschreckung muß auch die Effektivität, konventioneller Verteidigung hinzugefügt werden. Aber was ebenso wichtig oder noch viel wichtiger ist, das ist, daß wir Europäer den Amerikanern einen Teil ihrer Last abnehmen und daß wir, auch zur Überwindung unserer eigenen Schwierigkeiten, uns endlich auch auf dem Verteidigungsgebiet stärker zusammenschließen. Schließlich haben die Amerikaner, hat ein Kennedy uns nahegelegt, mit einer Stimme zu sprechen. Die Alternative zur Einigung Europas ist nur die politische Ohnmacht unseres Kontinents.
Die Euro-Gruppe ist, wie Sie in den Empfehlungen der Nordatlantischen Versammlung gelesen haben, die einzige Form für praktische europäische Verteidigungsanstrengungen, aber ich finde die Ergebnisse allzu bescheiden und nur auf das Gebiet der Rüstung beschränkt. Ich glaube, auch dies sollteanders und Frankreich schließlich wieder in diese Arbeit einbezogen werden. Jedenfalls aber habe ich mich gefreut, aus den Worten meines Vorredners zu hören, daß auch er den europäischen Zusammenschluß für ein aktuelles Problem hält und nicht mehr wie seinerzeit als Bundeskanzler für eine Sache der nächsten Generation.
— Ich habe Herrn Brandt wörtlich zitiert.
— Nein, ich habe wörtlich zitiert; trösten Sie sich!
Meine Damen und Herren, es ist Ihnen heute zum zweitenmal unangenehm, daß zitiert wird, aber ich kann Sie davon nicht befreien.Vielleicht aber könnten Sie eher zustimmen — ich weiß es nicht —, wenn ich festhalte: die Sowjetunion will natürlich die Spaltung Europas. Sie hält an dem alten Grundsatz des „divide et impera" fest, des Teilens und Herrschens, der für eine große Macht gegenüber kleinen Ländern immer so praktisch, aber für uns Europäer in unseren kleinen Ländern ebenso unpraktisch wie lebensgefährlich ist.
Da Sie schon von China sprachen: Ich habe als Leiter einer Parlamentsdelegation aller politischen Parteien dieses Land besucht und zusammen mit meinen Kollegen ein langes Gespräch mit dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Teng Hsiao-ping gehabt, der gestern in Paris eingetroffen ist — ein Mann, der inzwischen zum drittwichtigsten Mann seines Landes geworden ist.
— In einem kommunistischen Land möchte ich nicht einmal der unbedeutendste sein!
— Also, Herr Wehner, an Ihre Bedeutung kommt ja sowieso niemand heran!
Dieser Mann ist sicher Kommunist, aber als solcher kennt er die Sowjets besser als die meisten hier in Europa.
Er hat von einer ernsthaften Kriegsgefahr in Europa gesprochen, er hat uns die Einigung Europas ans Herz gelegt, und er hatte sogar nicht einmal Bedenken gegen die amerikanischen Truppen in Europa.
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11864 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Dr. JaegerWenn dies schon ein Kommunist, der natürlich einst im Bündnis mit den Sowjets stand, einsieht, wieviel leichter sollten wir es einsehen und aus unserer falschen Sicherheit aufschrecken!Aber, meine Damen und Herren, selbst wenn Sie — ich glaube, etwas leichtfertig — den Gedanken einer Kriegsgefahr in Europa völlig von der Hand weisen,
irgendeinen Sinn muß doch die sowjetische Rüstung haben, und wenn sie nicht den Sinn der Kriegführung hat, dann hat sie den Sinn der Erpressung. Eine Erpressung wollen wir Europäer und wir Deutschen auch nicht haben. Wir wollen nicht ihre Opfer sein.
Vielleicht, Frau Präsidentin, können Sie großzügig sein und auch mir eine kleine Überschreitung meiner Redezeit gestatten.
Ja, da Sie als erster Redner Ihrer Fraktion 45 Minuten sprechen können.
Ich darf also noch hinzufügen — ich muß es tun, nachdem mein Vorredner davon gesprochen hat —, daß die KSZE, die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, vom Standpunkt der NATO aus große und ernste Probleme bietet. Es geht nicht nur um die internationale und multilaterale Absicherung der sowjetischen Auslegung der Ostverträge — eine Sache, die uns Deutsche speziell interessiert —, sondern es geht auch um eine Weichenstellung für die von mir schon erwähnte sowjetische Hegemonie über ganz Europa. Ich sehe diese Gefahr um so größer, als leider der Zusammenhang mit den Wiener Verhandlungen über MBFR gelöst worden ist.
Meine Damen und Herren, ich habe hier einen absichtlichen oder unabsichtlichen falschen Zungenschlag, um mich sehr zurückhaltend auszudrücken, in den Ausführungen des Herrn Kollegen Brandt gehört. Er sprach von der „gleichgewichtigen" Abrüstung. Wir sprechen, wie es im offiziellen Namen der Konferenz heißt, von der „ausgewogenen" Abrüstung. Wenn man gleichmäßig abrüstet und gleichzeitig hüben und drüben je eine Division abzieht, wird das Verhältnis zugunsten der anderen Seite nur noch stärker. Dies muß berücksichtigt werden.
Ich kann mich auch nicht mit der hübschen Formulierung, man dürfe die Konferenz nicht ins Niemandsland entlassen, abfinden. Ich sehe in einem ständigen europäischen Organ einen neuen diplomatischen Erfolg der Sowjetunion, den Kurs, den sie auf dieser Konferenz begonnen hat, fortzuführen, und ich möchte hoffen, daß man davon Abstand nimmt.
Ich möchte zum Schluß meiner Ausführungen noch zu dem Korb III dieser Konferenz kommen, um nicht nur über militärische und „hochpolitische" Dinge zu sprechen, sondern auch über Probleme, die den einzelnen Menschen berühren und nicht minder bedeutsam sind: die Freiheit für Menschen, Informationen und Meinungen. Ich kann mich hier auf eine Entschließung der Nordatlantischen Versammlung beziehen, die auf die Sowjetunion hingewiesen, ihre Auswanderungsbeschränkungen kritisiert, die Unterdrückung der freien Meinungsäußerung bedauert und die Verfolgung Andersdenkender festgestellt hat. Die Nordatlantische Versammlung hat in einer Entschließung, die einstimmig angenommen worden ist, davon gesprochen, daß es eine Verpflichtung gegenüber den Menschenrechten und eine lebenswichtige Verbindung zwischen den Grundfreiheiten und einer echten Ost-West-Entspannung gibt.
Wenn das auf der ganzen Welt gilt, dann gilt es erst recht in Deutschland. Wir bedauern das furchtbare Ereignis des Kindesmordes, das sich gerade in Deutschland ereignet hat und der Entspannung im Wege steht.
Meine Damen und Herren, Realpolitik ist das Gebot der Stunde. Wir dürfen uns nicht in das Wolkenkuckucksheim zerplatzter ostpolitischer Illusionen einschließen und dort verbleiben. Herr Pachmann, der tschechoslowakische Schachgroßmeister, hat, wie ich gestern abend im Fernsehen hörte, in einer Rede, ich glaube, hier in Bonn gesagt: „Der Frieden setzt die Freiheit voraus."
Für uns, für das ganze Bündnis sind Frieden und Freiheit gemeinsames Ziel und voneinander nicht zu trennen. Das erfordert den Geist der Wachsamkeit. Das erfordert die Bereitschaft zur Verteidigung der Freiheit. Das erfordert die Liebe zu dieser Freiheit, die stärker sein muß als der Hang zur Bequemlichkeit. Dies müssen wir uns erhalten und, soweit es bei den Völkern des Westens verlorengegangen oder eingeschlafen sein sollte, wiedererwecken.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975 11865
Ich würde es für einen grundsätzlichen Fehler halten, wenn man die Motive, von denen aus China seine Förderung der europäischen Einheit und seine Warnungen vor der Sowjetunion ausspricht, nicht im gleichen Zusammenhang mit nennt. Denn sicherlich wird hier nicht um unsertwillen irgend etwas getan oder gesagt.
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11866 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Ronneburger— Selbstverständlich gibt es Parallelitäten von Interessen, die auch in keiner Weise ausgeschaltet werden sollen.
Ich warne nur vor der Illusion,
daß sich die Äußerungen Chinas ausdrücklich aufeuropäische, westeuropäische Interessen beziehen.
Ich möchte hier ausdrücklich darauf hinweisen, daß es hier zwar sicherlich diese von Ihnen, Herr Dr. Mertes, angesprochene Parallelität, aber auch ein ganz starkes Eigeninteresse der Volksrepublik China gibt, das man natürlich im Auge haben muß, wenn man diese Äußerungen zu werten versucht.
— Wir unterhalten uns vielleicht außerhalb des Hauses; sonst wird meine Zeit hier ungebührlich belastet und das Interesse des Hauses vielleicht zu sehr auf unsere speziellen Auseinandersetzungen gelenkt. —Die Mitglieder des Bündnisses— so heißt es an anderer Stelle, meine Damen und Herren —bekräftigen ihre Überzeugung, daß der Nordatlantikvertrag die unerläßliche Grundlage für ihre Sicherheit ist und damit das Streben nach Entspannung ermöglicht.Dies, was hier über das Streben nach Entspannung gesagt ist, sollte man, meine ich, sehr deutlich hören und beachten. Hier gibt es nun wiederum eine Parallelität der Interessen des Nordatlantischen Bündnisses,
nämlich das Interesse am Frieden und das Interesse, auf der Basis einer uneingeschränkten Verteidigungsbereitschaft Entspannung zu erreichen.Herr Kollege Dr. Jaeger, ich halte Ihren Vorwurf an die Bundesregierung und damit an diese Koalition für völlig jeder Grundlage entbehrend, wenn Sie sagen, hier seien Illusionen erzeugt worden,
die die Verteidigungsbereitschaft des Nordatlantischen Bündnisses geschwächt hätten. Denn diesen Vorwurf, Herr Kollege, richten Sie an eine Bundesregierung und an eine Koalition, die seit 1969 wohl unbestritten ihren vollen Beitrag innerhalb der Nordatlantischen Allianz zur Verteidigungsbereitschaft geleistet hat.
Hier sind keinerlei Einschränkungen erfolgt. Sie haben mit Ihren vielfältigen, auch internationalen Kontakten ja wahrscheinlich oft genug Gelegenheit gehabt, dies auch von unseren Freunden im Ausland bekräftigt zu hören. Hier ist nicht von Illusionen unsererseits die Rede, hier ist nicht von einem Nachlassen unserer Verteidigungsbemühungen die Rede. Vielleicht sollten wir — dazu wäre unter Umständen ein Blick nach Holland, auf den jüngsten Sozialistenkongreß sinnvoll — im Rahmen dessen, was wir selbst für unsere Verteidigung tun, etwas mehr Wert darauf legen, den Beitrag auch aller unserer Partner immer wieder herauszufordern und als notwendig zu bezeichnen.
— Vielen Dank, Herr van Delden, für die Unterstützung.Gestatten Sie mir noch einen Hinweis auf Ottawa. Alle Mitglieder des Bündnisses sind sich darin einig, daß die fortdauernde Anwesenheit kanadischer und substantieller amerikanischer Streitkräfte in Europa eine unersetzliche Rolle bei der Verteidigung Nordamerikas wie auch Europas spielt. Das ist sicherlich auch eine Frage, auf die man noch einmal wird zurückkommen müssen, wenn man innerhalb des nordatlantischen Bündnisses — dazu ist wohl heute die Gelegenheit — auf das Verhältnis zwischen den USA und den europäischen Verbündeten innerhalb der Allianz zu sprechen kommt.Die Empfehlungen haben zum Teil diesen grundsätzlichen Bezug. Ebensowenig wie Herr Mattick sich dazu in der Lage sah, bin ich davon ausgegangen, daß ich hier die Empfehlungen insgesamt auch nur nennen könnte oder im einzelnen zu ihnen Stellung nehmen sollte. Aber es gibt ja eine Reihe anderer Empfehlungen, die mir außerordentlich wichtig scheinen, die das Bündnis von außen her berühren, die auf Probleme eingehen, die für das Bündnis von entscheidender Bedeutung sind, und zum Teil auch den Zusammenhalt innerhalb der Allianz ansprechen.Ich will die Themen hier nur einmal nennen: Zypern, Südostflanke und alles, was in diesem Zusammenhang in bezug auf die Frage genannt werden muß — Herr Dr. Jaeger, hier stimme ich Ihnen einmal zu —: Wieweit ist die Allianz eigentlich in der Lage, an der Südostflanke, im Süden insgesamt, auch an der Nordflanke ihre Verteidigungsbereitschaft aufrechtzuerhalten? Das ist eine der dringenden Fragen an die Allianz, und das ist sicherlich eine der Fragen, der sich auch die Nordatlantische Versammlung in Zukunft ganz dringend anzunehmen haben wird.Nur: Hier gibt es bereits diese Empfehlung der Versammlung bezüglich des Solidaritätsplanes für die südeuropäischen Mitgliedstaaten, auf den hier auch schon Bezug genommen worden ist. Es gibt darüber hinaus — das sollte man, so meine ich, nachdrücklich feststellen — von seiten der Bundesrepublik Deutschland, von seiten der Bundesregierung ganz deutliche Hilfen in dieser Richtung für jene
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975 11867
RonneburgerLänder, die auf den Weg der Demokratie zurückgefunden haben und die sicherlich in der Situation, in der sie sich im Augenblick befinden, unserer Hilfe dringend bedürfen, um diesen Weg zur Demokratie auch durchhalten zu können.
Die Verteidigungshilfe, welche die Bundesrepublik Griechenland und der Türkei wiederum gewährt, und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit — eine übrigens von Portugal her anerkannte Bereitschaft zur Zusammenarbeit und zur Wirtschaftshilfe von seiten der Bundesregierung — sind unbestritten. Sie müssen natürlich ergänzt werden, Herr Professor Carstens, durch die Solidarität im Bündnis. Dies kann nicht die Aufgabe eines Allianzpartners sein, sondern dies ist eine Frage an die Allianz insgesamt und an ihre Bereitschaft, solche Hilfe zu leisten, weil demokratische, aber auch wirtschaftliche Entwicklungen selbstverständlich verteidigungspolitische Auswirkungen haben können, ja, unter Umständen sogar haben müssen.Von daher ergibt sich von der Verteidigungspolitik her die Notwendigkeit, wirtschaftspolitische Entscheidungen mit in ein solches Verteidigungsbündnis, wie es der Nordatlantikpakt ist, einzubeziehen.
Von den Kollegen Brandt und Jaeger ist hier auch auf die Rüstung des Warschauer Paktes hingewiesen worden. Ich will in dieser Hinsicht im Augenblick nur auf das Bezug nehmen, was der Bundesaußenminister, Herr Genscher, über die NATO-Konferenz am 12./13. Dezember 1974 in Brüssel gesagt hat. Er hat gesagt, daß diese Rüstungsanstrengungen des Warschauer Paktes nicht verschwiegen werden dürften, sondern daß man sich darauf einstellen müsse.Dies ist Anlaß für mich, noch einmal nachdrücklich auf die Frage der Verteidigungsbereitschaft des NATO-Bündnisses und auf die Notwendigkeit hinzuweisen, Entspannungspolitik nicht auf Kosten der Verteidigung, sondern auf der Basis einer uneingeschränkten Bereitschaft zur Verteidigung jener Werte zu betreiben, die ja auch in der Präambel des Nordatlantikpaktes ausdrücklich genannt worden sind.In diesen Empfehlungen besteht natürlich auch — ich sagte es vorhin schon — ein indirekter Bezug auf die Nahost-Probleme und auf die Probleme anderer Gebiete, wie es dort wörtlich heißt, vornehmlich solcher unmittelbar jenseits der NATO-Grenzen. Ich will im Augenblick nach dem, was bereits gesagt worden ist, auf die Nahost-Frage nicht im einzelnen eingehen, aber doch soviel sagen, daß wohl unübersehbar ist, daß es Zusammenhänge zwischen den Friedensbemühungen in Nahost und der Kapitulation Südvietnams sowie dem Sieg der Roten Khmer in Kambodscha gibt.Ich meine, daß man daher zu diesem Thema Südostasien doch einige Sätze sagen soll. Ich halte es für nötig, darüber zu sprechen, weil einige oppositionelle Politiker und Publizisten diese tragischen Ereignisse in einer meiner Meinung nach unzulässigen Art und Weise auf europäische Verhältnisse projiziert haben. Während z. B. Herr Dregger meinte, die Niederlage Saigons sei nicht nur ein politisch-militärischer Rückschlag für Amerika, sondern eine moralische Niederlage des gesamten Westens, und der außenpolitische Sprecher der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion, Herr Marx, öffentlich folgerte, nun sei der Friede unsicherer geworden, erklärte demgegenüber erfreulicherweise Herr Carstens, zwischen der Situation in Vietnam und der Situation in Westeuropa bestünden sehr große objektive Unterschiede.
— Ich glaube doch, daß hier ein Widerspruch besteht, und bin gern bereit, darauf auch noch einzugehen. — Herr Matthias Walden hat aus den Ereignissen in Vietnam sogar die Schlußfolgerung gezogen, nun habe das Bühnenweihfestspiel „Entspannung" als grimmige Schauerballade geendet.Ich komme damit zu der Frage, wie es eigentlich um die Politik der Entspannung steht, ob sie mit Vietnam, mit Saigon gescheitert ist oder ob sie weitergeführt werden kann oder weitergeführt werden muß.
Aber ich würde in diesem Zusammenhang gern zunächst einmal auf jene Unterschiede hinweisen, die auch Fritz Ulrich Fack in einem Artikel in der „Frankfurter Allgemeinen" genannt hat, auf die politischen, historischen, ethnischen, sozialen Unterschiede zwischen den Ereignissen in Südvietnam und der Situation in Europa. Diese Unterschiede sind wahrscheinlich unbestritten, und es wird, so hoffe ich, nicht ernsthaft zur Bildung von Parallelen zwischen jenen Entwicklungen und Europa kommen, obwohl zumindest eine Ihrer Bemerkungen, Herr Dr. Jaeger, heute in diese Richtung gegangen ist.Aber eine Lehre, meine ich, sollten wir in der Bundesrepublik Deutschland und in der Allianz aus den Ereignissen in Südostasien offenbar doch ziehen: Der gute Wille und die riesige Hilfe Amerikas allein können ein Staatswesen nicht wirksam vor einer äußeren und inneren Aggression schützen, wenn dieser Staat es nicht vermag, die Mehrheit seiner Bürger für sich zu engagieren,
zu mobilisieren und dieses Engagement in Verteidigungsbereitschaft und Verteidigungsfähigkeit umzusetzen.
So aber, meine Damen und Herren, ist und bleibt ein Vergleich Südostasiens mit Westeuropa unzulässig, ja, er wäre politisch gefährlich, weil hier Ursache und Wirkung verwechselt werden. Das ständige Äußern von Zweifeln an der Verteidigungsbereitschaft und Verteidigungsfähigkeit des Bündnisses oder an seiner Glaubwürdigkeit, Herr Dr. Jaeger, könnte gerade jenen Pessimismus auslösen, der es erschweren könnte, daß diese Verteidigungsfähigkeit und Verteidigungsbereitschaft auf Dauer sichergestellt werden.
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11868 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
RonneburgerZweifel an der Allianz oder vor allen Dingen an den Vereinigten Staaten, sind sie nach diesen Entwicklungen möglich, oder sind sie unter Umständen gar notwendig? In Amerika ist, meine ich, nach dem Verzicht Präsident Johnsons auf seine Wiederkandidatur 1968, durch die Proteste der studentischen Jugend gegen den Vietnamkrieg 1969/70 — Sie, Herr Dr. Jaeger, haben aus einer ganz anderen Sicht darauf hingewiesen —, durch die WatergateAffäre und die dadurch bedingte Schwächung der Position der US-Präsidentschaft ein neuer Prozeß des Nachdenkens über die Rolle der USA in der Weltpolitik in Gang gekommen. Diese Diskussion zeigt schon heute, daß dort klarer als bisher die Grenzen, aber auch die Möglichkeiten der Macht der USA gesehen werden.Dieser Prozeß der Selbstklärung, auf den Sie, Herr Kollege Brandt, ja auch schon hingewiesen haben, ist insofern positiv und stärkend für das Bündnis, als deutlich erkannt wird, wie notwendig gerade in der heutigen Situation die Aufrechterhaltung der Allianz und die Zusammenarbeit zwischen den Vereinigten Staaten und Europa sind. Fatal aber wäre es — und davor warne ich mit allem Nachdruck —, wenn die Europäer diesen Prozeß negativ beeinflussen würden, indem sie ihrerseits Zweifel an der Bündnistreue und Bündnisfähigkeit Amerikas etwa öffentlich bekundeten. Die klaren Ausführungen Präsident Fords vor dem US-Kongreß u. a. zu den europäisch-amerikanischen Beziehungen zeigen deutlich, daß auch jenseits des Ozeans die Überzeugung vorhanden ist, daß Europa und Amerika in einer atlantischen Lebensgemeinschaft historisch, geistig, moralisch, militärisch und ökonomisch miteinander verflochten sind. Dies schließt natürlich, wie auch hier schon gesagt worden ist, nicht aus, daß es in einzelnen Sachfragen zu gelegentlichen Konfrontationen kommen wird.
Aber wenn z. B. der Ministerpräsident Schwedens, Herr Palme, nach den Ereignissen in Vietnam gesagt hat, jetzt könnten die USA ihre Glaubwürdigkeit wiedergewinnen, so würde ich dies gern etwas anders ausdrücken und sagen, die Vereinigten Staaten haben nach Vietnam, so sehr man diese Ereignisse aus den verschiedensten Gründen beklagen mag, ein höheres Maß an Handlungsfreiheit wiedergewonnen, als sie es in gewissen Zeiten der Auseinandersetzung in Südostasien gehabt haben.
Und kein Zweifel kann und sollte daran bestehen, daß für die Vereinigten Staaten die Aufrechterhaltung dieses Bündnisses und der innere Zusammenhalt dieses Bündnisses jetzt noch wichtiger geworden sind, als sie es früher waren.
Herr Kissinger hat dies an mehreren Stellen ausdrücklich bestätigt und u. a. gesagt, daß die Verbündeten der Vereinigten Staaten in Westeuropa, Kanada und Japan Vorrang in der amerikanischen Außenpolitik hätten. Ich habe keinen Grund, dem irgend etwas hinzuzufügen außer der klaren und ganz unbeeinträchtigten Überzeugung, daß es hier tatsächlich aus den verschiedensten Gründen eine Notwendigkeit des Zusammenhalts über den Atlantik hinweg gibt. Es gibt damit für die FDP-Fraktion dieses Hauses kein Abrücken von den Fundamenten unserer Bündnispolitik.Wir wissen, daß in einer sich schnell wandelnden Welt mit einem latenten Nord/Süd-Konflikt Europa seine Position nur behaupten kann, wenn es über die ökonomische Integration hinaus — oder vielleicht an ihr vorbei, wie es sich in Genf gezeigt hat — zu einer politischen Union, gerade auch für die Außen- und die Verteidigungspolitik kommt.
In diesem Zusammenhang verstehe ich eigentlich nicht die gelegentliche und auch von Herrn Dregger geäußerte Forderung nach neuen Konstruktionen. Die Zusammenarbeit im Bündnis funktioniert, die Zusammenarbeit der Eurogroup ist nicht in Frage gestellt, und schließlich funktioniert auch die Westeuropäische Union, vielleicht einmal geschaffen, um Frankreich den Beitritt der Bundesrepublik zum NATO-Pakt leichter erträglich zu machen, mit ihrer ja übrigens sehr deutlichen Klausel im Art. 4 im Sinne eines Beistandspakts. Hier geht es nicht um neue Instrumente, sondern darum, die bestehenden Instrumente zu nutzen, sie vielleicht auszubauen. Denn neue Instrumente — dies sollte hier einmal deutlich gesagt werden — würden ja in jedem Fall nur in Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten funktionieren können und dürfen.
Es geht uns um eine Fortsetzung der Entspannung indem Sinne, wie es auch Inhalt des NATO-Paktes ist.In diesem Zusammenhang würde ich gegenüber allen Unterstellungen gern noch einmal auf die Reihenfolge zwischen Ost- und Westpolitik der Bundesregierung hinweisen. Ausgangspunkt war das Eingebundensein der Bundesrepublik Deutschland in das westliche Bündnis. Dies war die Grundlage für die Ostpolitik. Aber ich wiederhole jene These, die ich von dieser Stelle aus schon einmal geäußert habe: daß unsere Ostpolitik auch Voraussetzung war für das Weitergehen der Entwicklung in Europa und im westlichen Bündnis. Ich glaube, daß diese meine These inzwischen durch die Verhandlungen in der KSZE deutlich unterstrichen und unterstützt worden ist. Ich habe leider nicht mehr die Zeit, auf die Situation der KSZE in diesem Zusammenhang einzugehen. Ich will zum Schluß kommen.Ich meine, daß ein Scheitern der Entspannungspolitik — Herr Dr. Jaeger, damit komme ich noch einmal auf Sie und Ihre These von den geplatzten Illusionen zurück — doch nur dann zu konstatieren wäre, wenn sich die Interessenlage beider Weltmächte oder auch die Interessenlage der beteiligten mittleren Staaten geändert hätte. Dem ist aber nicht so. Im Gegenteil! Die ökonomischen und gesellschaft-
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Ronneburgerlichen Probleme, vor die wir uns in Ost und West gestellt sehen, müssen einer Lösung zugeführt werden. Andernfalls könnte die Zivilisation auf diesem Planeten durch ein Zeitalter der Barbarei abgelöst werden.Gerade der 30. Jahrestag der deutschen Kapitulation gibt uns Anlaß zur Besinnung und zur Vorausschau. Die Rolle der Bundesrepublik Deutschland sowohl im ost-westlichen Entspannungsdialog als auch in der Auseinandersetzung mit den Völkern der dritten und vierten Welt und als Partner des westlichen Bündnisses muß die eines friedensfördernden, auf Ausgleich hinzielenden, verläßlichen Partners sein.
Das Wort hat Herr Bundesminister Genscher.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch die Bundesregierung begrüßt die Möglichkeit, heute den Bericht der deutschen Delegation zu der Nordatlantischen Versammlung zu diskutieren und dabei vor dem Hintergrund der weltpolitischen Entwicklung der letzten Monate erneut über Fragen des westlichen Verteidigungsbündnisses zu sprechen.Ich darf vorab als Auffassung der Bundesregierung feststellen, daß die Arbeit der Nordatlantischen Versammlung wohl kaum jemals so wichtig war wie in der gegenwärtigen Situation. Die Fragen, die uns heute beschäftigen, beziehen sich ja nicht nur auf den militärisch-technischen Teil des Bündnisses, sondern es geht um den inneren Zustand, um das Selbstverständnis des Bündnisses und seine Zukunftsperspektiven.
Das sind politische Fragen, die eine politische Antwort erfordern. Diese Antwort muß nicht nur von den Regierungen, sie muß ebenso von den nationalen Parlamenten gesucht und gefunden werden.Die 20. Jahrestagung der Nordatlantischen Versammlung hatte sich diese Aufgabe gestellt. Die Bundesregierung begrüßt deshalb die Anregung der Versammlung, die Beziehungen zwischen der Versammlung und dem Nordatlantikrat zu vertiefen. Schon im vergangenen Jahr hatte der NATO-Ministerrat in Ottawa beschlossen, den Ausbau der Verbindungen zu den Parlamentariern zu fördern, und zwar in der richtigen Erkenntnis, daß der politische Meinungsaustausch zwischen und die Meinungsbildung unter den Parlamentariern aller Mitgliedstaaten für den Zusammenhalt des Bündnisses unentbehrlich sind.Das Verteidigungsbündnis des Westens hat als Grundlage Wertvorstellungen, deren Verwirklichung einer starken und breiten parlamentarischen Unterstützung bedarf. Die Glaubwürdigkeit und die Handlungsfähigkeit des Bündnisses brauchen demokratische Mitwirkung. Deshalb muß es dieAufgabe der Regierungen der Mitgliedstaaten sein, die Rolle der Nordatlantischen Versammlung nicht als ein bequemes Alibi zu verstehen, sondern ihren Empfehlungen die gebotene Beachtung zu schenken. Die Bundesregierung, auf deren Initiative nicht zuletzt die entsprechenden Aussagen von Ottawa zurückgehen, ist entschlossen, die Mitwirkung der Parlamentarier im Bündnis zu stärken und damit auch die Verankerung des Bündnisses in den nationalen Parlamenten. Unter diesem Gesichtspunkt wird die Bundesregierung die Empfehlungen der Nordatlantischen Versammlung würdigen, und zwar sowohl für ihre Arbeit hier in der Bundesrepublik Deutschland wie auch im NATO-Ministerrat.Welche Probleme stellen sich nun für das Bündnis, und auf welche Fragen muß es Antwort geben, und zwar heute in einer weltpolitischen Landschaft, in der es entscheidend auf das feste Zusammenstehen der Partnerstaaten im Bündnis ankommt? Uns alle betreffen natürlich die Ereignisse in Südostasien, im Nahen Osten, im Mittelmeerraum. Wir alle — alle Partner, wenn auch unterschiedlich in der Wirkung — sind mit Rohstoff- und Energieproblemen konfrontiert. Diese Entwicklungen geben uns Anlaß zu einer vertieften Betrachtung der Situation im Bündnis. Das Ergebnis dieser Betrachtung kann doch nur sein: Wir müssen unsere Politik der Friedenssicherung unbeirrt fortsetzen. Wir müssen das westliche Bündnis erhalten und stärken als Grundlage unserer Politik der Friedenssicherung. Wir müssen die enge Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten von Amerika weiter ausbauen. Denn nur im Bündnis mit den USA ist unsere Sicherheit gewährleistet. Wir wissen, nicht nur wir können uns auf die Vereinigten Staaten verlassen. Die Vereinigten Staaten können sich auch auf uns, auf ihre europäischen Partner verlassen. Unsere Freundschaft ist fest und beständig. Der amerikanische Außenminister hat recht, wenn er sagt, daß die deutsch-amerikanischen Beziehungen nie zuvor so gut waren wie jetzt.
Die NATO ist ein Instrument der Friedenssicherung. Das Bündnis, seine Funktionsfähigkeit und sein Bestand stehen für uns nicht zur Disposition. In diesem Rahmen leistet auch unsere Bundeswehr ihren Beitrag zur Sicherung des Friedens.
Unsere Politik der Friedenssicherung beruht auf vier Grundsatzentscheidungen: der Entschlossenheit zur Mitwirkung im Atlantischen Bündnis, dem konsequenten Weiterarbeiten an der Vollendung der politischen Einigung Europas, dem ernsthaften Bemühen um Fortschritte in der Entspannungspolitik — ein Bemühen, dessen Ernsthaftigkeit unsere Ostpolitik unter Beweis stellt — und schließlich dem Willen zu weltweiter Partnerschaft mit den Staaten der Dritten Welt.Nach der Meinung der Bundesregierung sind die Rahmenbedingungen für die Politik der Entspannung und des Ausgleichs mit den Staaten Osteuropas unverändert vorhanden. Das gleiche gilt für die Interessenlagen, und zwar auf beiden Seiten. Der so-
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11870 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Bundesminister Genscherwjetische Außenminister hat es gestern für seine Regierung noch einmal bestätigt. Es gibt in Wahrheit zu der von uns gemeinsam mit unseren Verbündeten verfolgten realistischen Entspannungspolitik keine vertretbare Alternative.
Die auch in den westlichen Staaten gelegentlich gestellte Frage, ob NATO-Bündnis und Entspannungspolitik sich gegenseitig ausschließen oder ob sie sich auch nur behindern, ob also ein Widerspruch innerhalb der Gesamtkonzeption der Friedenssicherung da sei, diese Frage verkennt die ganz elementare Tatsache, daß erst das Bündnis, daß seine Existenz die Voraussetzungen für eine realistische Entspannungspolitik geschaffen hat.Entspannungspolitik ist nach Auffassung der Bundesregierung überhaupt nur möglich auf der Grundlage eines intakten und handlungsfähigen Bündnisses. Der Generalsekretär der NATO hat dazu kürzlich mit Recht festgestellt:Nur wenn das Vertrauen der westlichen Regierungen in die Fähigkeit der Allianz zur Verteidigung auch gegen einen militärischen Angriff ungeschwächt ist, bleiben die Aussichten für eine ausgewogene Entspannungspolitik erhalten.Das heißt als Nutzanwendung auf die praktische Politik der Partner des Bündnisses: Wer die Entspannung fördern will, muß das Bündnis fördern. Von dieser Grundvorstellung läßt sich die Bundesregierung bei ihrer Politik der Friedenssicherung leiten.Vergessen wir nicht, meine Damen und Herren, die NATO hat seit ihrem Bestehen für ihre Mitgliedstaaten Sicherheit und damit Frieden ermöglicht. Vergessen wir auch nicht, was uns und anderen unter dem Schutz der NATO möglich war: der Wiederaufbau der zerstörten Länder, Standhaftigkeit in der Periode des kalten Krieges und seit den 60er Jahren die Chance der Entspannungspolitik mit dem Bemühen, die Gegensätze im Ost-West-Verhältnis abzubauen.Die Bundesrepublik Deutschland verfolgt ihre Entspannungspolitik auf zwei Wegen, einmal zweiseitig, zum anderen in multilateraler Zusammenarbeit. Die Verträge von Moskau, Warschau und Prag und der Grundlagenvertrag mit der DDR haben einen soliden Rahmen geschaffen, den es jetzt konsequent auszufüllen gilt. Zu dieser konsequenten Haltung gehört, daß wir die Rolle Berlins im internationalen Entspannungskonzept erkennen und entsprechend wahrnehmen.
In Berlin muß sich die Entspannungspolitik bewähren. Ich halte es für eine bedeutsame Entscheidung, daß unsere Bündnispartner sich in der Erklärung von Ottawa 1974 eben diese wichtige Grundposition deutscher Außenpolitik voll und ohne Einschränkung zu eigen gemacht haben.Multilateral bemühen wir uns um eine erfolgreiche Beendigung der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Auf dieser Konferenz hat sich die Solidarität nicht nur der europäischen Staaten, sondern auch der Mitgliedstaaten der Allianz bewährt. Ausgehend von der Auffassung der Bundesregierung, daß die Entspannung auch dem Einzelmenschen, gerade dem Einzelmenschen dienen, ihm greifbare Ergebnisse bringen müsse, bemühen wir uns im Rahmen dieser Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa mit besonderem Nachdruck um humanitäre Fragen, um die Verbesserung von Reisemöglichkeiten und die Förderung des Informationsaustausches. Die Bundesregierung trägt damit dem Anliegen Rechnung, das in der Entschließung „Menschenrechte" des Ausschusses der Nordatlantischen Versammlung für Erziehung, Kultur und Information zum Ausdruck kommt. Meine Damen und Herren, wenn wir das bisher Erreichte auf diesem Gebiet würdigen, sollten wir es nicht gering schätzen.Zu den multilateralen Bemühungen im Rahmen der Entspannungspolitik gehören auch die MBFRVerhandlungen in Wien. Die Bundesregierung unterstützt die Auffassung des Miiltärausschusses, daß beiderseitige und ausgewogene Truppenverminderungen erforderlich sind. Eine numerisch oder prozentual gleiche Reduzierung würde den für eine langfristige Entspannung notwendigen Kräfteausgleich eben nicht erreichen, sondern im Gegenteil die gegenwärtige Disparität festschreiben und mit ihrer vertraglichen Hinnahme auch noch legitimieren.Die Bundesregierung unterstreicht die Auffassung der Nordatlantischen Versammlung, daß einseitige Schritte im Rahmen der Entspannung den Entspannungsprozeß nicht fördern, sondern — wie es wörtlich heißt — „geeignet sind, den gegenwärtigen Entspannungsprozeß zu beeinträchtigen". Wir sagen auch ganz klar, daß eine multilaterale Entspannungspolitik eine klare Bündnispolitik weder ersetzen noch überflüssig machen kann. Auch nach Abschluß der Konferenzen — KSZE und, wie wir hoffen, eines Tages auch MBFR — wird das atlantische Bündnis seine Funktion behalten. Das klar auszusprechen ist notwendig, nach innen und nach außen; nach innen, um dem Irrtum zu begegnen, man könne sich einseitiges Nachlassen in den Verteidigungsanstrengungen leisten; nach außen, um klarzustellen, daß auch in Zukunft Bündnispolitik — und ich füge hinzu: auch die Politik der europäischen Einigung — legitim in das europäische Entspannungskonzept eingepaßte Zielvorstellungen betrifft, die zusammen mit dieser Politik der Friedenssicherung dienen.Zu Recht hat sich die Nordatlantische Versammlung mit der Rolle der europäischen Mitgliedstaaten des Bündnisses befaßt. Hier muß deutlich sein: Wir wollen das eine Bündnis; denn es gibt nur eine Sicherheit für die Europäer wie für ihre atlantischen Partner. Die Erklärung von Ottawa hat das in aller Klarheit ausgesprochen, wenn sie feststellt, daß die fortdauernde Anwesenheit kanadischer und substantieller amerikanischer Streitkräfte in Europa eine
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975 11871
Bundesminister Genscherunersetzliche Rolle bei der Verteidigung Nordamerikas wie Europas spielt, und wenn sie umgekehrt sagt, daß die Streitkräfte der europäischen Verbündeten zur Verteidigung Europas wie auch Nordamerikas dienen. Ohne die Anwesenheit der Amerikaner in Europa kann das Bündnis seine Aufgabe nicht erfüllen, weder für uns noch für die Vereinigten Staaten.
Die Bemühungen um eine engere Zusammenarbeit der europäischen Verbündeten in der Verteidigung, d. h. — um es mit den Worten der Nordatlantischen Versammlung zu sagen — das Beschreiten eines gemeinsamen europäischen Weges darf deshalb — ich zitiere die Entschließung — nicht zu Unstimmigkeiten im Bündnis führen. Europa muß seine wachsende Bedeutung im Rahmen des Bündnisses erkennen und sich dieser Verantwortung stellen. Diese Erkenntnis und diese Entschlossenheit sind sichere Garanten vertrauensvoller atlantischer Partnerschaft. Dasselbe gilt für den fortschreitenden Prozeß der europäischen Einigung. Das politisch geeinte Europa wird ein politisch und wirtschaftlich stärkeres und damit auch verteidigungspolitisch leistungsfähigeres Europa sein. Es wird aber kein Bündnis neben dem Bündnis sein, sondern es wird eine Stärkung des einen Bündnisses durch erhöhte europäische Leistungsfähigkeit bewirken. Durch die Zusammenfassung der europäischen Kräfte wird auch eine größere Ausgewogenheit eintreten. Die europäische Seite wird stärker, vielleicht auch selbstbewußter werden. Aber gerade auf diese Weise wird sie den Vereinigten Staaten ein noch effektiverer und handlungsfähigerer Partner sein können.Auch nach Erreichung einer europäischen Union bleiben Europa und die Vereinigten Staaten in ihrer Sicherheit wie in ihrer Wirtschaft interdependent; sie bleiben eine Schicksalsgemeinschaft. Diese Schicksalsgemeinschaft ist auf Dauer gegründet. Das Wort vom gemeinsamen Schicksal gilt nicht weniger innerhalb Europas. Meine Damen und Herren, wir werden die großen Herausforderungen der Zukunft nur gemeinsam lösen, oder wir werden sie nicht lösen. Europa ist dabei nicht nur das Europa der Neun. Europäische Solidarität — was sollte anderes aus der Erkenntnis vom gemeinsamen europäischen Schicksal als Schlußfolgerung gezogen werden — kann nicht nur eine auf die Neun beschränkte Solidarität sein. Hier ist mehr von uns verlangt.Deshalb gerade in diesem Zusammenhang und an dieser Stelle ein Wort zu Portugal. Die Erkenntnis, wie wichtig wirtschaftliche Leistungsfähigkeit für die politische Stabilität ist, muß auch unser Verhältnis zu Portugal bestimmen.
Die Bundesregierung hat es begrüßt, daß die Wahlen in Portugal eine eindeutige Willensbekundung der portugiesischen Wähler für demokratische Parteien ergeben haben. Das sollten wir mit allem Respekt als ein hoffnungsvolles Zeichen registrieren und anerkennen.
Wir nehmen als Bundesregierung mit genau der gleichen Befriedigung das Bekenntnis der verantwortlichen Kräfte in Portugal zur NATO-Mitgliedschaft entgegen. Der Besuch des portugiesischen Außenministers in der kommenden Woche wird der Bundesregierung Gelegenheit geben, über alle gemeinsam interessierenden Fragen mit der portugiesischen Regierung zu sprechen. Die Bundesregierung sucht diese Kontakte mit den Verantwortlichen in Portugal.Nun sind im In- und Ausland in den letzten Monaten Besorgnisse über mögliche Entwicklungen in Portugal geäußert worden. Ich meine, die Außerung von Besorgnissen allein reicht nicht aus, um die erwünschte demokratische Entwicklung in Portugal zu fördern. Was Portugal jetzt braucht, ist Hilfe und Verständnis bei der Lösung seiner schwerwiegenden wirtschaftlichen Probleme.
Wir alle haben ein Interesse an der wirtschaftlichen Konsolidierung Portugals. Hier liegt eine wichtige Aufgabe der europäischen Gemeinschaft; ihr ist hier eine Bewährungsprobe gegeben. Ich sage das mit aller Offenheit an die Adresse aller, die es in anderen Ländern angeht: Es wird sich zeigen müssen, ob die Regierungen der Europäischen Gemeinschaft die Kraft haben, die ökonomische Hilfe für Portugal als Voraussetzung der politischen und demokratischen Stabilisierung dieses Landes höher einzuschätzen als partikulare Interessen, etwa bei der Abwehr Portugals als eines lästigen Mitbewerbers, sei es bei Portwein oder anderen Produkten.
Das Ziel, Portugal den Weg nach Europa zu öffnen, ist eine europäische Aufgabe, die wir auch im Interesse der Handlungsfähigkeit des Bündnisses erfüllen müssen.Zu den erfreulichen Ereignissen gehört auch die Rückkehr Griechenlands zur Demokratie, wobei wir auch hier unsere europäische Verpflichtung erkennen müssen. Herr Kollege Blumenfeld hat heute morgen mangelnde Aktivitäten beklagt. Ich denke, es lohnt sich, sich noch einmal zu befassen mit den Initiativen der Bundesregierung, mit den Initiativen der Europäischen Gemeinschaft und, was die humanitäre Hilfe angeht, das zu studieren, was der Bundesminister des Innern zu Beginn des Jahres dem Vorsitzenden des zuständigen Ausschusses darüber berichtet hat.Was die Aktivität der Bundesregierung für die und bei der Lösung des Zypernkonflikts angeht, so möchte ich aber an dieser Stelle betonen, was ich an anderer Stelle schon gesagt habe: Wir werden auch in Zukunft das behutsame, vertrauensvolle Vorgehen der spektakulären Aktion vorziehen.
Mit guten Gründen hat die Nordatlantische Versammlung den ökonomischen Fragen eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt, und zwar nicht
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11872 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Bundesminister Genschernur unter dem Gesichtspunkt der Energieversorgung. In Wahrheit ist die Verteidigungsfähigkeit in einem doppelten Sinne abhängig von der ökonomischen Situation in den Mitgliedstaaten: einmal wegen der Gefahr, daß die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Mitgliedstaaten nicht mehr ausreicht, ihre Bündnisverpflichtungen zu erfüllen; zum anderen weil wirtschaftliche Instabilität leicht politische Instabilität nach sich ziehen kann. Das bedeutet, daß die Bemühungen um die Lösung der ökonomischen Probleme in den Mitgliedstaaten der NATO zugleich eine große verteidigungspolitische Bedeutung haben. Auf dem NATO-Gipfel am 28. und 29. Mai werden wir auch den Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Verteidigung zu behandeln haben. Die Bundesregierung hat das Vorhaben eines solchen Gipfeltreffens von vornherein geprüft, die amerikanische Initiative unterstützt, und sie bereitet dieses Gipfeltreffen sorgfältig vor. Der Besuch des amerikanischen Außenministers in der Bundesrepublik kurz vor dem Gipfeltreffen wird diese gründliche Vorbereitung unterstützen.Meine Damen und Herren, die bei den Bündnispartnern ohnehin vorhandenen wirtschaftlichen Probleme werden begleitet durch die schnelle Entwicklung der Waffentechnik, wo das Prinzip „immer wirkungsvoller" natürlich mit der Folge „immer teurer" bezahlt werden muß. Auch angesichts der in den öffentlichen Haushalten erkennbaren Grenzen stelle ich für die Bundesregierung fest: Alle Mitgliedstaaten sollten die Notwendigkeit der Verteidigungsaufwendungen erkennen und sie ihren Bürgern verständlich machen.
Meine Damen und Herren, ich denke, daß allerdings dieser Punkt auch Anlaß ist, im ganzen Hause anzuerkennen, daß die Bundesregierung und die Bundesrepublik Deutschland sich dieser Notwendigkeit in den letzten Jahren genauso gestellt hat wie in der Zeit davor.
In der Tat lassen uns die Rüstungsanstrengungen des Warschauer Pakts keine andere Wahl. Deshalb ist es vernünftig, die Lasten moderner Rüstung durch Rationalisierung und Standardisierung zu vermindern. Das verlangt Zusammenarbeit bei der Rüstung. Wir müssen den Kostendruck immer modernerer Waffen durch Standardisierung abfangen und die Wirksamkeit der Verteidigungsausgaben optimieren. Allein durch die Verzettelung der Forschungs- und Entwicklungsausgaben entstehen jährlich Milliarden Verluste. Die Bundesregierung wird sich dieser Frage und ihrer Lösung auch in Zukunft mit besonderem Nachdruck annehmen. Auch hier müssen Partikularinteressen überwunden und die übergeordneten Gesichtspunkte einer wirkungsvollen und gemeinsamen Verteidigung gesehen werden.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einen Augenblick noch bei den ökonomischen Problemen bleiben, weil sie unmittelbar in die zentrale Frage nach der Zukunft des Bündnisses führen. Wir dürfen uns hier keinen Illusionen hingeben: Mindestens ebenso bedeutungsvoll wie die direkte Auswirkung wirtschaftlicher Probleme für die Fähigkeit zur Unterhaltung funktionsfähiger Streitkräfte ist der Zusammenhang zwischen ökonomischer und politischer Stabilität. Wir Deutschen wissen aus eigener schmerzlicher Erfahrung, welche Gefahren sich aus wirtschaftlicher Instabilität für die demokratischen Strukturen ergeben können. Die demokratische Stabilität ist eine Grundvoraussetzung für die Verteidigungsfähigkeit des Bündnisses. Für uns ergibt sich aus der demokratischen, freiheitlichen und rechtsstaatlichen Ordnung unseres Gemeinwesens zugleich auch die Verteidigungswürdigkeit unseres Staates und damit die innere Legitimation des Bündnisses und auch der Bundeswehr in diesem Bündnis. Wo die Bürger ihre Ordnung guten Gewissens bejahen können, sind sie auch bereit, die notwendigen Leistungen, und seien es auch Opfer für die Sicherheit dieser Ordnung, auf sich zu nehmen.Wir haben über diesen Zusammenhang, meine Damen und Herren, in diesem Hause schon wiederholt diskutiert, meist verbunden mit Fragen der inneren Sicherheit. Die Dinge liegen im Bereich der äußeren Sicherheit genauso. Unser Staat gibt uns die freiheitlichste Ordnung, die wir je in unserer Geschichte hatten und die es uns zugleich ermöglicht, soziale Leistungen zu verwirklichen, von denen noch die Generation vor uns kaum zu träumen wagte. Es hat hier in diesem Hohen Hause bei vergangenen Debatten keine Meinungsverschiedenheit darüber gegeben, daß eine freiheitliche Gesellschaftsordnung, die auf sozialer Gerechtigkeit beruht, die notwendige Voraussetzung politischer Stabilität ist. Deshalb ist es zu begrüßen, daß sich die Nordatlantische Versammlung in ihren Entschließungen auch mit gesellschaftspolitischen Fragen befaßt und damit die Bedeutung der gesellschaftspolitischen Entwicklung für die Zukunft des Bündnisses anerkennt.Meine Damen und Herren, die Festigkeit und Abwehrkraft des Bündnisses beruht eben nicht nur auf technischer Ausstattung, auf der Zahl der Waffen, sondern vor allen Dingen auf der Bejahung unserer freiheitlichen Systeme durch die Bürger in den Staaten des Bündnisses.
Gesellschaftliche Prozesse haben eben nicht nur ihre Auswirkungen auf die Verteidigungsfähigkeit der Bündnispartner; sie beeinflussen auch den Verteidigungswillen. Daß ein Land ohne Freiheit mit chaotischen politischen und wirtschaftlichen Zuständen von seinen Bürgern kaum Verteidigungsbereitschaft erwarten kann, versteht sich von selbst. Aber wir müssen auch dem gefährlichen Mißverständnis entgegentreten, man könne finanzielle Engpässe in den öffentlichen Haushalten durch eine Umfunktionierung des Verteidigungshaushalts in einen Dispositionsfonds zur Erfüllung aller Wünsche lösen.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975 11873
Bundesminister GenscherWir müssen weiterhin unseren vollen Verteidigungsbeitrag leisten, und wir werden das tun.Genauso wichtig ist das klare Bekenntnis zum Bündnis und zu seiner friedenssichernden Funktion. Dasselbe gilt für die Rolle der Vereinigten Staaten im Bündnis und die Präsenz amerikanischer Truppen in Europa. Hier liegt eine Führungsaufgabe von Regierungen und Parlamenten für die Meinungsbildung in allen Mitgliedstaaten. Dasselbe gilt für die Stärkung des Selbstbehauptungswillens der freiheitlichen Ordnungen nach innen und außen.Deshalb begrüßt die Bundesregierung die Forderung der Nordatlantischen Versammlung, die Aufklärung besonders der jüngeren Generation über das Bündnis zu verstärken. Diese jüngere Generation ist in einer Periode des Friedens in Europa aufgewachsen. Aber ist ihr bewußt genug, daß sie diesen Frieden nicht zuletzt dem Bündnis verdankt? Wir wollen den Generationen nach uns diesen Frieden erhalten. Also gewinnen wir sie auch für das Bündnis!Lassen Sie mich zusammenfassen. Unsere Bündnispolitik ist ein integrierter Bestandteil unserer gesamten Innen- und Außenpolitik. Sie steht nicht isoliert da, sondern sie ist auf das engste verbunden mit den Grundsatzfragen der Staatspolitik, der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, der Europapolitik und der Entspannungspolitik. Die Bewahrung einer freiheitlichen Ordnung im Innern braucht zur äußeren Absicherung ein starkes und in sich gefestigtes Bündnis, wie umgekehrt das Bündnis, wenn es Bestand haben soll, auf stabile demokratische Strukturen in den Mitgliedstaaten angewiesen ist.Die Bemühungen zur Wiedergewinnung und Bewahrung der ökonomischen Stabilität in den Mitgliedstaaten dienen damit auch dem Ziel, die politische Stabilität in unserem Teil Europas zu sichern. Wirtschaftlich leistungsfähige Bündnispartner sind am ehesten bereit und in der Lage, ihre Bündnisverpflichtungen zu erfüllen. In enger Abstimmung mit den Bündnispartnern in der Gemeinschaft setzen wir die Politik der europäischen Einigung konsequent und beharrlich fort. Europäische Einigung und Bündnis stehen nicht in Konkurrenz zueinander. Im Gegenteil, ein politisch starkes und einiges Europa fördert auch ein politisch starkes und einiges Bündnis. Schließlich bleibt das Bündnis die unerläßliche Voraussetzung für die Fortsetzung unserer Entspannungspolitik.Meine Damen und Herren, auf der Grundlage des Bündnisses soll die Entspannungspolitik den Frieden sicherer machen. Von diesem Ziel lassen wir uns nicht abbringen. Wir wollen für unser Volk, für die Völker Europas den sicheren Frieden.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Carstens.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch ich möchte der Nordatlantischen Versammlung dafür danken, daß sie uns durch die Resolutionen, die uns vorliegen, Gelegenheit gegeben hat, zu wichtigen Fragen des nordatlantischen Bündnisses heute Stellung zu nehmen. Ich möchte insbesondere unseren deutschen Kollegen in der Nordatlantischen Versammlung dafür danken, daß sie den Anstoß zu der heutigen Debatte gegeben haben. Denn ich meine, die Debatte, die wir geführt haben und weiter führen, ist wichtig, nicht zuletzt deswegen, weil sie in einigen wichtigen Fragen Übereinstimmung zwischen allen, die bisher gesprochen haben, ergeben hat, nämlich in der Frage der Bewertung und der Einschätzung des nordatlantischen Bündnisses und unseres Verhältnisses zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Herr Außenminister Genscher hat es gesagt, Herr Brandt, mein Kollege Jaeger, Herr Ronneburger haben es gesagt: wir sollten den Vereinigten Staaten bei der Überwindung der Schwierigkeiten helfen, in denen sie sich jetzt befinden. Wir sollten ihnen klarzumachen versuchen, daß der Rückschlag, den sie in Vietnam erlitten haben — zu verheimlichen, daß das ein unbestreitbarer Rückschlag ist, hätte keinen Sinn —, ihr Verhältnis zu Europa nicht zu berühren braucht und nicht berühren sollte, daß wir Europäer, insbesondere wir Deutschen, das Bündnis mit den Amerikanern als Grundlage unserer Sicherheit ansehen, daß wir auf die amerikanische Bündniszusage vertrauen und daß wir uns mit unseren amerikanischen Freunde in bestimmten freiheitlichen Grundüberzeugungen über Demokratie und Menschenrechte verbunden fühlen.
Meine Damen und Herren, in der heutigen Debatte ist mehrfach die Weltlage angesprochen worden. Ich möchte auf das, was sich in Indochina ereignet hat, jetzt nicht im einzelnen eingehen. Es ist von einer menschlichen Tragödie die Rede gewesen; wir alle haben sie miterlebt. Aber, meine Damen und Herren, wir sollten uns doch eigentlich auch nicht scheuen, zu sagen, daß hier wieder einmal Verbrechen an Menschen in einem unvorstellbaren Ausmaß begangen worden sind.
Ich meine, wenn wir uns schon bei anderen Gelegenheiten — einige von uns tun dies immer wieder — über die Verletzung von Menschenrechten, die Ermordung von Menschen in anderen Ländern der Welt erregen, dann wäre es richtig und angebracht, daß wir unsere Stimme anklagend auch gegen die Verletzung der Menschenrechte und die Tötung von Menschen in diesem Teil in Indochina erheben.
Meine Damen und Herren, wir können aus den Ereignissen in Indochina eine weitere Folgerung ziehen, hinsichtlich derer es, wie ich glaube, auch keine Meinungsverschiedenheit zwischen uns gibt: Der Einfluß der Sowjetunion in diesem Bereich ist stärker geworden. Es ist nicht nur die Sowjetunion, sondern es sind auch andere kommunistische Mächte, insbesondere China, die dort an Einfluß gewonnen haben. Aber ganz sicher hat die Sowjetunion ebenfalls an Einfluß gewonnen.Nun gilt für die Sowjetunion in gewisser Weise, was für die Amerikaner gilt: auch für die Sowjet-
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11874 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Dr. Carstens
union ist Indochina ein anderer Komplex als Europa und Westeuropa. Aber, ich meine, wir müssen angesichts des sich vergrößernden weltpolitischen Einflusses der Sowjetunion doch sehr genau beobachten und registrieren, was die Sowjetunion und ihre Bundesgenossen auch uns, den Westeuropäern und speziell uns Deutschen, gegenüber unternehmen.Herr Kollege Brandt hat auf die Steigerung des sowjetischen Rüstungspotentials hingewiesen. Ich habe das begrüßt, um so mehr, als ich in der Vergangenheit derartige Hinweise oft vermißt habe. Herr Kollege Brandt, Sie werden ebenso wie ich registriert haben, daß der Warschauer Pakt in den letzten Wochen in der Lübecker Bucht das größte Flottenmanöver, das dort jemals veranstaltet worden ist, durchgeführt hat.Aber wir müssen nicht nur im Bereich der Rüstungspolitik, sondern auch in dem Bereich der sogenannten ideologischen Auseinandersetzung registrieren, daß unsere östlichen Nachbarn mit großer Härte und Schärfe an ihrer bisherigen Politik festhalten. Herr Honecker sagte am 5. Mai dieses Jahres folgendes:Der Gang der Geschichte bestätigt unwiderlegbar, daß es keine Kraft in der Welt gibt, die imstande wäre, den Siegeszug des Sozialismus aufzuhalten. Die Entspannung ist zur Haupttendenz der internationalen Entwicklung geworden.Meine Damen und Herren, was ich an diesen Sätzen bemerkenswert finde, ist die unmittelbare Verbindung, die Herr Honecker einerseits zwischen dem unaufhaltsamen Siegeszug des Sozialismus, wie er sich ausdrückt, und andererseits der Entspannungspolitik herstellt.
Meine Damen und Herren, welche Folgerungen müssen wir aus all dem ziehen? Für uns alle hat die Erhaltung des Friedens höchste Priorität. Wir erkennen alle miteinander an, daß das Atlantische Bündnis diesen Frieden für uns wirksam sichert und daß wir ohne das Bündnis in unserer Sicherheit und Freiheit wie in der Möglichkeit, friedlich zu leben, gefährdet wären. Der oft ausgesprochene und auch heute von dem Bundesaußenminister wiederholte Satz, daß Entspannungspolitik den Frieden sicherer mache, meine Damen und Herren, wäre nur dann und nur insoweit unbestreitbar richtig, wenn der Osten und der Westen unter Entspannungspolitik das gleiche verständen.
Das ist aber leider, wie sich aus dem von mir soeben zitierten Satz des Herrn Honecker und vielen anderen Äußerungen östlicher Politiker ergibt, eben nicht der Fall, während der Satz, daß das Atlantische Bündnis den Frieden sichert, eindeutig, unzweideutig richtig ist.Meine Damen und Herren, aus alle dem ergibt sich, daß wir an dem Bündnis festhalten müssen und daß wir insbesondere unsere Bindungen an dieVereinigten Staaten verstärken müssen. Ich glaube, alle die Reisen, die in den letzten Wochen von Kollegen aus dem Bundestag in die USA unternommen worden sind und die diesem Zweck gedient haben, waren zu begrüßen. Ich möchte das jedenfalls für meine Person ausdrücklich sagen.Aber wenn wir immer davon sprechen, daß wir an dem Bündnis festhalten, meine Damen und Herren, dann sollten wir auch erkennen und werten — und, wie ich meine: richtig werten —, welches unsere eigene Rolle in dem Bündnis ist.
Wir sollten unsere eigene Rolle in dem Bündnis nicht unterbewerten. Wir, die Bundesrepublik Deutschland, sind für das Bündnis auch ein unersetzlicher Partner. Deswegen, meine ich, sollten wir auch im Bündnis unsere eigenen nationalen Interessen mit Ruhe und mit Festigkeit vertreten. Dazu gehören unsere Forderungen, die sich auf die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands beziehen, dazu gehört die Forderung nach Selbstbestimmung für alle Deutschen, dazu gehört die Forderung nach Gewährung von mehr Menschenrechten an die Deutschen in der DDR. Es muß doch eine uns unabläßlich quälende Sorge sein, daß Tausenden von Menschen in der DDR die Menschenrechte vorenthalten werden, daß Christen — evangelische und katholische Christen — dort wieder einmal verfolgt werden, daß Tausende von Menschen in Gefängnissen sitzen, weil sie von einem Menschenrecht Gebrauch gemacht haben, weil sie nämlich den Versuch unternommen haben, ihr eigenes Land zu verlassen. Dies sind doch Dinge, die uns ständig, jeden Tag, quälen müssen.
Zu unserem Verständnis des Bündnisses sollte gehören, daß wir diese unsere Sorgen auch unseren Bündnispartnern vortragen und sie dazu zu gewinnen suchen, mit uns zusammen etwas zu tun, damit auf diesen Gebieten Fortschritte möglich werden.
Dazu gehört natürlich auch, daß die bevorstehende Deklaration, wie immer sie heißen mag, welche die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit abschließen soll, daß dieses Schlußdokument einen Friedensvertrag mit Deutschland nicht vorwegnehmen oder präjudizieren darf. Das sind doch vitale und elementare deutsche Interessen. Wir sollten uns nicht scheuen, auch sie unseren Bundesgenossen zu unterbreiten, die Unterstützung unserer Bundesgenossen dafür zu gewinnen zu suchen.Ich habe nie verstanden, wie ein deutscher Politiker sagen konnte, daß wir unsere Bundesgenossen nicht ständig mit den sogenannten querelles allemandes, den innerdeutschen Streitigkeiten, behelligen sollten. Meine Damen und Herren, was hier als querelles allemandes, als innerdeutsche Streitigkeiten, bezeichnet wird, sind in Wahrheit vitale Interessen des deutschen Volkes. Sie auszusprechen und für sie einzutreten, ist unsere Pflicht.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975 11875
Dr. Carstens
Das alles bedeutet nicht - ich möchte das mitNachdruck unterstreichen —, daß wir — die CDU/ CSU — uns gegen eine Fortsetzung der Entspannungsbemühungen aussprechen. Im Gegenteil: Wir müssen das in unseren Kräften Stehende tun, um auf diesem dornenvollen und schwierigen Weg Fortschritte zu erzielen. Aber diese Entspannungspolitik darf keine Einbahnstraße sein; der Herr Kollege Brandt hat es heute gesagt.Herr Kollege Brandt, wenn sie in den Jahren 1970 bis 1972 nach diesem Grundsatz gehandelt hätten, wäre uns vieles an Rückschlägen erspart geblieben, was wir seitdem erlebt haben.
- Ich habe das so oft vor diesem Hohen Hause ausgeführt, meine verehrten Herren,
daß ich es mir ersparen kann, im einzelnen zu wiederholen, worauf ich mich stütze, wenn ich dies sage.
- Wenn Sie es unbedingt hören wollen, Herr Kollege Wehner,
bin ich gern bereit, es an Ihre Adresse noch einmal zu sagen:
Das sogenannte Bahr-Papier vom Mai 1970 enthält die Erfüllung aller sowjetischen Forderungen an die Bundesrepublik Deutschland, und es enthält kein Wort über die deutschen Gegenforderungen und die eigenen deutschen Interessen, die wir in der Ostpolitik vertreten mußten.
Dieses sogenannte Bahr-Papier ist das typische Beispiel für eine Einbahnstraße, so, wie ich dies verstehe.
Herr Kollege Brandt, Sie haben Kritik an Außerungen meines Kollegen Mertes geübt. Aber ich glaube, Ihre Kritik ging fehl. Mein Kollege Mertes hat sich ebensowenig, wie ich es hier tue, gegen Entspannungsbemühungen und gegen die Fortsetzung dieser Entspannungsbemühungen ausgesprochen, sondern er hat darauf hingewiesen, daß es im Rahmen dieser Entspannungspolitik bestimmte elementare deutsche Positionen und deutsche Interessen gibt, die von der Bundesregierung und von uns allen vertreten werden müßten.
Meine Damen und Herren, das Atlantische Bündnis muß nicht nur erhalten, sondern auch mit neuem Leben erfüllt werden.
Das ist von vielen gesagt worden, und ich möchte das sehr unterstreichen. Das Bündnis muß effizienter werden, muß leistungsfähiger werden. Vielleicht kann man auch über konkrete Vorschläge nachdenken, die vor einigen Tagen mein Kollege Wörner zur Diskussion gestellt hat. Ich möchte nur einige davon erwähnen: eine Verlängerung der Geltungsdauer des NATO-Vertrages, eine konkrete Verpflichtung, die realen Verteidigungsleistungen jährlich um einen bestimmten Prozentsatz zu steigern, und ein wirtschaftliches Hilfs- und Sanierungsprogramm für die Südflanke der NATO einschließlich Zypern.Was den Verteidigungsbeitrag der Bundesrepublik Deutschland anlangt, so hat der Herr Bundesaußenminister mit Recht festgestellt, daß die Bundesrepublik, daß unser Land zur gemeinsamen Verteidigung auch in den letzten Jahren einen beträchtlichen Beitrag geleistet hat. Wir alle haben das gemeinsam unterstützt. Ich möchte nur darauf hinweiweisen, daß die CDU/CSU es gewesen ist, die den Verteidigungsminister, Herrn Leber, bei seinen diesbezüglichen Bemühungen stets uneingeschränkt unterstützt hat, was man wohl von den anderen Fraktionen dieses Hohen Hauses nicht in gleicher Weise sagen kann.
— Jedenfalls nicht von Ihrer Fraktion, Herr Kollege Ehrenberg! Vielleicht lesen Sie sich die Protokolle über die Abstimmungen beim Verteidigungshaushalt aus den zurückliegenden Jahren noch einmal durch.
Aber, meine Damen und Herren, auch das ist gesagt worden, auch das unterstreiche ich: Nicht nur im militärischen Bereich muß das Bündnis sich bewähren. Wir müssen darüber hinaus den Herausforderungen, die uns auf vielen anderen Gebieten entgegentreten, gemeinsam begegnen. Wir müssen dies vor allen Dingen im wirtschaftlichen Bereich, im monetären Bereich im Sinne einer Partnerschaft zwischen Europa auf der einen und Nordamerika auf der anderen Seite tun. Eine gegenläufige Wirtschafts-, Währungs- oder Energiepolitik, um nur diese drei Beispiele zu nennen, würde dem Bündnis schweren Schaden tun, ebenso ein Rückfall in Protektionismus oder Isolationismus.
Die wirtschaftliche Stabilität — ich unterstreiche auch hier die Ausführungen des Außenministers — ist für alle Mitgliedstaaten des Atlantischen Bündnisses eine Voraussetzung für ihr weiteres Gedeihen und für die Erhaltung ihrer inneren und letztlich auch äußeren Sicherheit. Und wirtschaftliche Stabilität können die Partnerstaaten des Atlantischen Bündnisses sicherlich nur in gemeinsamen Anstrengungen erreichen.Wir müssen auch die europäische Einigung vorantreiben. Das ist gesagt worden; ich will es nur noch einmal unterstreichen. Im Rahmen der KSZE, Herr Kollege Brandt, hat sich eine gute Koordinie-
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11876 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Dr. Carstens
rung der europäischen Partner der Neunergemeinschaft ergeben. Wir erkennen das ausdrücklich an, und wenn mein Kollege Kiep dies kürzlich bestätigt hat, so liegt darin in gar keiner Weise ein Widerspruch zu dem, was irgendein anderer Kollege aus unserem Kreise gesagt hat.Wir müssen allerdings erkennen, daß die letzte Sitzung der Eurogroup der NATO enttäuschend verlaufen ist. Frankreichs Rückkehr in die Währungsschlange stellt demgegenüber ein positiv zu bewertendes Element dar. Der europäische Einigungsprozeß bleibt schwierig, langwierig und zähflüssig. Um so wichtiger ist es, daß wir, sobald wir können, ein Signal setzen,
indem wir uns für die direkten Wahlen für ein Europäisches Parlament — ich dachte immer, Herr Kollege Wehner, daß wir wenigstens in diesem Punkte miteinander übereinstimmen —
einsetzen.
Meine Damen und Herren, wir dürfen, glaube ich, wenn wir über das Atlantische Bündnis und die Notwendigkeit der gemeinsamen Verteidigung sprechen, nicht übersehen, daß diese Auseinandersetzung etwas zu tun hat mit einer Auseinandersetzung, die sich in unserem Lande ereignet und abspielt, nämlich mit der Auseinandersetzung mit den kommunistischen Gruppen und mit dem, was sich die „Neue Linke" nennt.
— Seien Sie ganz beruhigt; dies ist nur ein Erinnerungsposten.
— Wir werden auf diese Sache noch zurückkommen. Wir müssen erkennen, daß die DKP — ob das die Kollegen von der SPD nun lächerlich finden oder nicht — die Partei der DDR in der Bundesrepublik Deutschland ist;
sie wird finanziell und politisch aus der DDR gesteuert und unterstützt. Und wir müssen erkennen, daß die DKP über ein Netz von Verbindungen zu anderen linken Gruppen in unserem Lande verfügt. Dies ist eine Frage, die wir ernst nehmen sollten, der wir uns stellen sollten und bei der wir gemeinsam überlegen sollten, wie wir Schaden für unser Land abwenden können.Meine Damen und Herren, wir haben in diesen Tagen eine ganze Reihe von Jubiläen zu verzeichnen gehabt. Es fing an mit dem 30. Jahrestag derKapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945. Ich habe dazu gesagt und möchte es wiederholen, daß dies nach meiner Auffassung für uns Deutsche kein Grund zum Feiern gewesen ist. Denn wenn auch dieser Tag sicherlich das Ende einer schrecklichen Zwangsherrschaft über unser Land bedeutet hat, so hat an diesem Tage doch gleichzeitig eine tiefe Zäsur in unserer Geschichte stattgefunden, bei der wir einen großen Teil von Gebieten, die Jahrhunderte zu uns gehört hatten, verloren haben und bei der viele Millionen Deutsche ihre Heimat verloren. An diesem Tage begann in Deutschland die Trennung zwischen dem, was heute „Bundesrepublik Deutschland", und dem, was jetzt „DDR" heißt, und an diesem Tage begann die Errichtung eines Systems auf deutschem Boden, in dem wiederum Menschenrechte und Selbstbestimmung verletzt werden.Ich habe die Erklärung des Bundeskanzlers aus diesem Anlaß aufmerksam gelesen und darin einen Satz gefunden, der folgendermaßen lautet:Wir haben 1945 wohl nicht hoffen dürfen, schon so bald so viel Hilfe, Versöhnungsbereitschaft, gute Nachbarschaft und Partnerschaft zu finden. Wir sind dafür dankbar. Ich schließe dabei nicht nur unsere näheren Nachbarn, sondern ausdrücklich auch die USA und die Sowjetunion ein.
Meine Damen und Herren, die Gleichstellung unserer Beziehungen zu den USA und der Sowjetunion in der Weise, wie das hier geschieht, finde ich höchst befremdlich und mit den wirklichen Verhältnissen nicht in Einklang stehend.
Aber wir haben nicht nur die 30. Wiederkehr des Tages der Kapitulation der deutschen Wehrmacht zu verzeichnen gehabt, sondern wir haben auch die 25. Wiederkehr des Tages verzeichnen können, an dem der Schuman-Plan verkündet wurde, des 9. Mai 1950, eines wichtigen, folgenreichen und bis heute für uns alle verpflichtenden Tages; denn er hat die Grundziele der europäischen Einigungspolitik für uns und für andere europäische Länder festgelegt.Auch haben wir am 5. Mai dieses Jahres die 20. Wiederkehr des Tages des Eintritts der Bundesrepublik Deutschland in die NATO begehen können. Ich meine, hier wäre schon eher ein Anlaß vorhanden gewesen, sich daran zu erinnern, daß an diesem Tage die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Eintritt in das Nordatlantische Bündnis zugleich ihre volle Souveränität wiedererlangte und erreicht wurde, daß ihre Bundesgenossen sich mit ihr zusammen engagierten für die großen, zentralen Ziele der deutschen Politik, nämlich die Wiedervereinigung unseres Landes in Freiheit. Ich meine, daß dies eine politische Leistung war
— damals gegen den Widerstand der SPD durchgesetzt, Herr Kollege Wehner —, eine historische
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975 11877
Dr. Carstens
Leistung, an die wir uns in diesen Tagen ebenfalls erinnern sollten.
Das Wort hat der Abgeordnete Corterier.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich vorweg ganz kurz zwei, drei Sätze zur Nordatlantischen Versammlung sagen: In ständig zunehmendem Maße werden Fragen unserer Außen- und Sicherheitspolitik in den internationalen parlamentarischen Gremien — von der Beratenden Versammlung des Europarats bis zur Westeuropäischen Union und vom Europäischen Parlament bis zur Nordatlantischen Versammlung — beraten. Wenn die Beratungen und die Beschlüsse in diesen internationalen Gremien für den Deutschen Bundestag voll wirksam werden sollen, müssen wir das, was dort beraten und beschlossen worden ist, ständig in unsere Arbeit und unsere Beratungen hier einbeziehen; denn es muß einen lebendigen Kreislauf der Ideen zwischen dem Deutschen Bundestag und den internationalen Zusammenschlüssen geben, in denen er durch seine Vertreter mitwirkt. In diesem Sinne begrüßt meine Fraktion die heutige Aussprache auf der Grundlage der Beschlüsse der letzten Jahreskonferenz der Nordatlantischen Versammlung. Wir sind der Meinung, daß es eine solche Aussprache jedes Jahr nach der Konferenz der Nordatlantischen Versammlung geben sollte.
Gestatten Sie mir jetzt, bevor ich zu dem komme, was ich eigentlich sagen wollte, ein paar kurze Bemerkungen zu dem, was Herr Kollege Carstens soeben gesagt hat. Kollege Carstens hat gefordert, wir sollten unsere Rechte im Bündnis wahrnehmen und vor allem auch im Bündnis kräftiger unsere Stimme für die Menschen in der DDR erheben. Herr Kollege Carstens, ich glaube, genau das tun wir ständig und vor allem dann, wenn wir gemeinsam mit unseren Bündnispartnern — etwa auf der KSZE im Korb 3 — für menschliche Erleichterungen eintreten, die ja auch den Menschen in der DDR zugute kommen sollen.
Herr Kollege Carstens, Sie haben dann ein ziemlich böses Wort über die Entspannungspolitik der gegenwärtigen und auch der früheren Bundesregierung unter Führung von Bundeskanzler Brandt gesagt. Sie haben gesagt, sie sei als Einbahnstraße mit einseitigen Vorteilen für den Osten betrieben worden. Dieser Vorwurf ist die exakte Parallele zu dem, was in Amerika Außenminister Kissinger ständig vorgeworfen wird, und zwar von Kritikern am äußersten rechten Rand der amerikanischen Politik.
— Wir reden jetzt über Amerika und die Bundesrepublik; in dem Zusammenhang brauchen wir nicht über Häftlinge zu reden.
Herr Carstens, ich glaube, Sie sind cia in keiner sehr sympathischen Gesellschaft. Außer der Opposition gibt es im Westen kaum jemanden, der nicht mit uns der Meinung wäre, daß wir mit unserer Ostpolitik ausgewogene Ergebnisse erzielt haben. Kaum jemand im Westen hat — um nur ein Beispiel zu nennen — wie offenbar die Opposition übersehen, wie unvergleichlich besser die Position Berlins heute ist, als sie in den fünfziger und sechziger Jahren war.
Ganz kurz ein Wort noch zu dem, was Sie über die europäische Einigung gesagt haben. Sie haben da noch einmal das Thema der Direktwahlen, das ein bißchen ein Lieblingsthema von Ihnen zu sein scheint, aufgegriffen. Ich möchte Ihnen dazu, weil es da anscheinend einige Mißverständnisse gegeben hat, sagen, daß wir selbstverständlich einig sind, daß auch wir möglichst bald Direktwahlen haben wollen. Aber diese Direktwahlen — das muß ich gleich hinzufügen — kann es nicht auf der Basis des völlig unzulänglichen Entwurfs geben, den Ihre Fraktion im letzten Jahr dazu vorgelegt hat,
sondern die Basis muß meiner Meinung nach ein sehr guter Entwurf sein, den das Europäische Parlament vor einigen Monaten verabschiedet hat und von dem ich hoffe, daß ihn sich der Ministerrat sehr bald zu eigen machen wird, so daß wir dann die Grundlagen für diese Direktwahlen schaffen können.
Ein letztes Wort, Herr Kollege Carstens, zu dem, was Sie über die linken Gruppen gesagt haben. Sie müssen nun wirklich Verständnis dafür haben, wenn wir hier etwas allergisch reagieren — nicht weil uns das Thema als solches unbehaglich wäre, sondern weil Sie es doch mit einer gewissen Penetranz eigentlich in jede Debatte einführen, die wir in diesem Hause haben.
Sie führen dieses Thema ein, Sie ziehen es an den Haaren herbei, gleichgültig welches Thema zur Debatte steht. Ich habe den Eindruck, wenn wir nicht heute diese Debatte über die Nordatlantische Allianz hätten, dann hätten Sie es notfalls auch bei der Beratung des Gesetzes über die Tierkörperbeseitigung, die ja auch in dieser Woche anstand, vorgetragen.
— Ich, Herr Kollege Lenz, möchte mich an das halten, was hier aus der Tagesordnung steht. Ich möchte keine Witzchen machen, sondern ich möchte etwas zur Nordatlantischen Allianz sagen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten van Delden?
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11878 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Nein, ich möchte jetzt wirklich zum Thema kommen nach diesen Vorbemerkungen.
Später stehe ich gerne zur Verfügung.Was im Augenblick zur Debatte steht, ist, wie gesagt, die Allianz und sind meiner Ansicht nach vor allem die Grundlagen des Bündnisses, vor allem aber das politische Selbstverständnis des Bündnisses. Diese Debatte geht nicht von uns aus. Sie ergibt sich einerseits aus den weltpolitischen Krisenherden, deden das Bündnis sich gegenübersieht, und andererseits aus der inneramerikanischen Debatte, die ja notwendigerweise auch die gesamte Außenpolitik der Vereinigten Staaten umschließen muß. Dies ist bei einem Lande wie den Vereinigten Staaten und bei dem weltpolitischen Gewicht, das dieses Land besitzt und weiterhin besitzen wird, nicht anders möglich.Die Schlußfolgerungen, die in den ersten außenpolitischen Stellungnahmen in Amerika nach dem Vietnam-Debakel gezogen wurden, sind ja teilweise hier schon angesprochen worden. Sie lassen meiner Meinung nach klar erkennen, daß man nicht in einen neuen Isolatismus verfallen will, sondern im Gegenteil eine stärkere Konzentration auf die zentralen Bereiche des außenpolitischen Engagements der Vereinigten Staaten sucht. Dies hat Präsident Ford in seiner außenpolitischen Botschaft vom 10. April deutlich gemacht. Dies hat auch Außenminister Kissinger inzwischen schon bei vielen Gelegenheiten erklärt.James Goldborough hat im Zusammenhang mit dem amerikanischen Rückzug aus Vietnam an die Beendigung des Algerien-Krieges durch Frankreich erinnert und darauf hingewiesen, daß Frankreich sich ja nach der Aufgabe Algeriens keineswegs von der Weltpolitik zurückgezogen hat, sondern im Gegenteil die Hände frei bekam, um eine sehr aktive— wenn auch selbstverständlich nicht allseits akzeptierte — Außenpolitik zu betreiben.
— Vom Inhalt sehe ich jetzt einmal ab, sondern ich stelle die Tatsache fest, daß es möglich war, nach diesem Algerien-Debakel eine aktive Außenpolitik zu führen.
Ich meine, daß dieses Beispiel für die Vereinigten Staaten bis zu einem gewissen Grade lehrreich sein kann.Präsident Ford hat die Bündnispartner der Vereinigten Staaten wissen lassen, daß die Verbindung mit den großen Industrienationen in Europa, in Nordamerika und Japan eine starke Stütze der amerikanischen Außenpolitik bleibt, und zwar mit einem größeren Grad an Konsultation und Gleichheit als jemals zuvor. Unsere Welt, so hat er erklärt, erlaubt uns nicht den Luxus der Abdankung oder der inne-ren Zwietracht. Er erinnerte an die Entschlossenheit von Präsident Truman am Ende des Zweiten Weltkrieges und forderte dazu auf, „nicht mit erhobenem Zeigefinger anzuklagen, sondern aufbauend auf unsere Erfolge Schaden zu beheben, wo wir ihn vorfinden, das Gleichgewicht wiederherzustellen und als geeintes Volk voranzugehen".Außenminister Kissinger erklärte zuletzt am 12. Mai in St. Louis, daß die Vereinigten Staaten ihre internationalen Verpflichtungen nicht abstreifen können und sich nicht den Luxus des Rückzuges von der Weltpolitik erlauben können.Wir können meiner Auffassung nach in Europa und nicht nur auf der Grundlage dieser Äußerungen der Ford-Administration davon ausgehen, daß die inneramerikanische Diskussion über Vietnam nicht zu einem Isolationismus, sondern eher zu einem stärkeren Engagement gegenüber Europa führen wird. Dies gilt auch für den Kongreß, der ja lange auf eine Einschränkung des amerikanischen militärischen Engagements gedrängt hat. Aber viele von den Abgeordneten des Kongresses, die dem amerikanischen Engagement in Vietnam kritisch gegenübergestanden haben, sehen heute, daß einseitige amerikanische Truppenkürzungen in Europa und weitgehende Kürzungen des Verteidigungshaushaltes nicht ernsthaft zur Diskussion stehen können. Selbst Senator Mansfield, der sich bisher stark für eine Truppenverringerung der USA in Europa eingesetzt hat, ist jetzt sehr viel zurückhaltender geworden.In diese Richtung geht gerade in den letzten Tagen auch eine Erklärung von 57 demokratischen Kongreßabgeordneten, unter denen sich viele neugewählte Kollegen befinden, eine Erklärung, die, wie ich glaube, in der Betonung der fortbestehenden weltpolitischen Rolle Amerikas besonders wichtig ist.Ich möchte aber betonen, daß wir die Vereinigten Staaten bei ihrer Konzentration der Kräfte in der Nach-Vietnam-Ära unterstützen müssen, damit diese Hinwendung zu Europa nach Vietnam nicht eine Episode bleibt. Auch wir Europäer können uns nicht den Luxus der inneren Zerrissenheit und des Partikularismus leisten. Auf den Schutz der Amerikaner können wir nur dann voll vertrauen, wenn erhebliche eigene Anstrengungen für unsere Sicherheit von uns unternommen werden. Eine der entscheidenden Lektionen aus dem Vietnamkrieg ist, daß die Amerikaner nur denen helfen, die bereit sind, sich auch selbst zu helfen. Dies sollten vor allem diejenigen europäischen NATO-Verbündeten nicht vergessen, die unter dem Druck — zugegebenermaßen sehr großer wirtschaftlicher Schwierigkeiten — an einseitige Verrringerungen ihrer Verteidigungsleistungen denken. Wenn die atlantische Erklärung von Ottawa Bestand haben soll und die geplante NATO-Gipfelkonferenz zu einer langfristigen Stabilisierung des Bündnisses führen soll, muß auch in Europa der Zusammenhalt gestärkt, dann müssen unsere Verteidigungsleistungen aufrechterhalten werden, solange es keine Abrüstungsvereinbarungen mit dem Osten gibt. Das Bild Europas in der Welt muß einheitlich sein.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975 11879
Dr. CorterierIch warne jedoch davor, in dieser Situation die Glaubwürdigkeit des amerikanischen Engagements hier in Europa in Zweifel zu ziehen. Herr Kollege Carstens hat erfreulicherweise sehr klar Stellung bezogen und hat deutlich gemacht, daß aus seiner Sicht an der amerikanischen Garantie kein Zweifel bestehen könne. — Herr Mertes, Sie nicken so zustimmend.
Ich möchte gerade gleich auf Äußerungen von Ihnen eingehen, die ganz anders klingen, und auch auf Äußerungen eines anderen Kollegen aus der Oppositon.
Hier ist es so, daß offenbar einige, die bisher als besonders zuverlässige Atlantiker gegolten haben, so eine Art Aufwallung neogaullistischer Art in den letzten Tagen und Wochen erleben.
— Herr Mertes, lassen Sie mich bitte die Zitate einmal bringen. Dann können wir uns darüber unterhalten. Zwei Zitate von Herrn Marx und von Ihnen scheinen mir das, was ich eben gesagt habe, zu belegen. Herr Marx hat in einem Artikel im CDU-Pressedienst vom 2. Mai folgendes zur Situation nach Vietnam angeführt:Im Lande draußen — man muß es offen sagen — steigt die Angst, Europa, Deutschland, Berlin seien heute gefährdeter als vordem.Und er fährt fort:Es wird ungeheurer Anstrengungen bedürfen, damit im Volk den Worten der Verbündeten, ihren Zusicherungen und Gelöbnissen noch zugehört, daß dem Wert des Bündnisses noch geglaubt wird.
Soweit der Kollege Marx.Ich darf nun das zitieren, Herr Kollege Mertes, was Sie im Deutschland-Union-Dienst gestern geschrieben haben:Amerika muß jetzt alles tun, daß sich im Unterbewußtsein der heranwachsenden deutschen Politiker der 80er Jahre nicht der Slogan festsetzt: Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen, von Amerika lernen heißt nachgeben lernen.
Meine Damen und Herren, das muß man zweimal lesen,
bevor man das für möglich hält. Ich möchte meinerMeinung dahin Ausdruck geben, daß ein sehr klarerGegensatz zwischen dem, was Kollege Carstens gesagt hat, und dem, was die Kollegen Mertes und Marx hier ausgeführt haben, besteht.
— Ich will gerade noch dieses Argument zu Ende führen. Ich stehe gleich zur Verfügung.Ich meine, daß dies eine Form der Auseinandersetzung mit der amerikanischen Außenpolitik nach Vietnam ist, die sehr wenig hilfreich ist. Wer solche Zweifel sät, kann nicht gleichzeitig Vertrauen und Glaubwürdigkeit von der anderen Seite erwarten.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Mertes?
Herr Kollege Corterier, sind Sie bereit, folgenden Satz in diesem Hohen Hause zur Kenntnis zu nehmen, der ebenfalls in meinem gestrigen Aufsatz im DeutschlandUnion-Dienst steht:
Unser Vertrauen in die Glaubwürdigkeit dei Sicherheitsversprechen der Vereinigten Staaten von Amerika für die Bundesrepublik Deutschland einschließlich Berlin beruht nicht nur auf der ermutigenden Erfahrung der letzten 30 Jahre. Unser Vertrauen beruht auch in den kommenden Jahren auf der Überzeugung, daß der Präsident, die Regierung und die gewählte Volksvertretung Amerikas trotz der tiefgreifenden politischen und militärischen Kräfteverschiebungen aus weisem, purem Eigeninteresse weiterhin eine Gefährdung des freien Deutschland und des freien Berlin als eine unmittelbare Gefährdung Amerikas erkennen.
Herr Kollege Corterier, wenn Sie meinen Aufsatz aufmerksam gelesen haben, kann Ihnen nicht entgangen sein, daß ich in gar keiner Weise Mißtrauen gegenüber den Vereinigten Staaten geäußert, sondern aus Solidarität mit dem Bündnis, mit Amerika, auf ganz bestimmte mögliche Gefährdungen der politischen Fundamente des Bündnisses in der Zukunft hingewiesen habe.
Herr Kollege Mertes, das, was Sie eben vorgelesen haben, klingt schon sehr viel besser.
Trotzdem bleibe ich dabei: Dieser „Slogan" ist in einer sehr bedenklichen Form formuliert, und ich halte ihn nicht für gut. Für noch weniger gut halte ich das, was Herr Kollege Marx gesagt hat. Hier wird doch deutlich zum Ausdruck gebracht, daß unsere Bevölkerung den Zusicherungen und den Beteuerungen der Amerikaner nicht mehr glaube und daß es besonderer Anstrengungen bedürfe, um diese
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11880 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Dr. CorterierBevölkerung zu überzeugen, daß die amerikanische Garantie noch gelte. Wenn das nicht der Sinn der Ausführungen von Herrn Marx ist, dann muß ich bezweifeln, ob ich noch lesen kann. Ich kann Ihnen nur sagen: Ich habe eine derartige Stimmung bei der Bevölkerung in meinem Wahlkreis nicht feststellen können. Offenbar redet Herr Marx da mit anderen Leuten.
- Sie haben von der KSZE gesprochen; Sie habenaber auch von Vietnam gesprochen. Ich glaube, es ist dann doch wohl erlaubt, diesen Satz zu zitieren.
Ich muß jetzt beinahe dasselbe sagen, was vorhin schon einmal gesagt worden ist: Das können wir im Detail offenbar nur außerhalb des Plenarsaals klären.Was die zukünftige amerikanische Außenpolitik nach Vietnam angeht, so wird deutlich, meine ich, daß eine undifferenzierte Eindämmungspolitik gegenüber dem Kommunismus auch ein so mächtiges Land wie die Vereinigten Staaten in eine Sackgasse führen kann. Amerika ist sich bewußt geworden, daß scheindemokratische Regime untaugliche Partner sind. Gerade auch unter diesem Aspekt hat das demokratische Westeuropa in der Nach-VietnamEpoche die Chance, noch deutlicher als bisher Kernstück amerikanischer Außenpolitik zu sein.In der gegenwärtigen Situation ist es deshalb meiner Meinung nach sowohl politisch als auch militärisch falsch, etwa erneut eine westeuropäische Atomstreitmacht zu fordern. Vor allem ist es aber psychologisch ein schwerer Fehler, in der Bündnisdiskussion, wie wir sie jetzt haben, die Sicherheit für die Bundesrepublik unter einem französischen Nuklearschirm zu fordern. Dies muß notwendigerweise Mißtrauen gegenüber der amerikanischen Nukleargarantie hervorrufen.Wenn die Auffassung des Kollegen Dregger, daß der Beistand, den uns die Vereinigten Staaten leisten, für die Sicherheit Westeuropas nicht ausreicht, Allgemeingut werden würde, dann müßte dies zu einer nicht wiedergutzumachenden Erschütterung der Allianz und des Vertrauens in die Vereinigten Staaten in unserem Land führen,
ganz abgesehen davon, daß die Vorstellungen, die Herr Dregger in Richtung Frankreich entwickelt hat, weder zureichend durchdacht sind noch — das stellt man fest, wenn man sich mit der französischen Politik etwas befaßt — die geringste Chance auf Verwirklichung haben. Das, was ich eben gesagt habe, ist nicht nur meine Meinung oder die meiner Partei; dies hat ein der CDU nahestehender Kommentator, nämlich Hans Rühle, in der „Deutschen Zeitung"vorn 25. März 1975 dargelegt. Rühle verwirft in seinem Aufsatz die gaullistische Option mit — wie ich glaube — überzeugenden Argumenten. Er schreibt — und ich zitiere —:Dregger hat sich offenbar für die Großmacht Frankreich und Bundesrepublik Deutschland entschieden, wobei er der Meinung zu sein scheint, die militärische Defensivgröße „Zweitschlagskapazität" begründe einen Großmachtstatus. Gerade dies aber ist nicht der Fall. Was man braucht, um der indirekten Strategie der Sowjetunion begegnen zu können, hat der Nahost-Krieg schlagend bewiesen: militärische Parität, und zwar sowohl was das ganze Waffenspektrum als auch die strategischen Optionen anlangt.
— Und Mut braucht man auch, selbstverständlich. Den braucht man immer in der Politik, Herr Kollege Lenz.Dem ist nichts hinzuzufügen, außer daß Rühle überzeugend nachweist, daß die französische Nuklearstreitmacht der Bundesrepublik keinen wirklichen Schutz bieten kann.Die Argumentationsweise, wie sie von Herrn Dregger und anderen Sprechern der Opposition vorgetragen und im „Bayernkurier" lautstark unterstützt wird, muß notwendigerweise zu einer Gefährdung des Bündnisses führen. Dies ist dieselbe Linie, die Herr Strauß mit seinem Vorschlag einer Teilung der NATO verfochten hat. So wichtig Frankreich als Partner sein muß — und die Bundesregierung tut bekanntlich alles, um die Partnerschaft im militärischen Bereich zu erhalten und auszubauen —: für das atlantische Bündnis wäre es sicherlich besser, wenn sich Frankreich in stärkerem Maße an der Arbeit beteiligte, die in der Euro-Gruppe geleistet wird. Solange Frankreich auch außerhalb dieser europäischen Zusammenarbeit im Rahmen der NATO bleibt und seine Sonderstellung im Bündnis beibehält, ist eine bilaterale nukleare Zusammenarbeit nicht eine Verstärkung unserer Sicherheit, sondern eine Schwächung. Das sollten wir ganz deutlich festhalten.Ich möchte nun nicht noch einmal Dinge wiederholen, die, was die Südflanke angeht, was die wirtschaftlichen Fragen angeht, schon gesagt worden sind.Ich möchte, bevor ich zum Schluß komme, noch ganz kurz eine Bemerkung zu einer besonderen Problematik anfügen. Und zwar bin ich der Meinung, daß eine der Hauptgefahren, die sich für die Vereinigten Staaten nach dem Vietnamkrieg in der nächsten Zeit ergeben wird, nicht so sehr der mögliche Isolationismus gegenüber Westeuropa, sondern als Folge der Ereignisse in Vietnam vielmehr eine mögliche Isolierung der Vereinigten Staaten in der Dritten und Vierten Welt sein könnte und damit vor allem auch ein erheblicher Verlust an Anziehungskraft des gesamten Westens gegenüber diesen Ländern.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975 11881
Dr. CorterierIch bin der Auffassung, daß wir unseren amerikanischen Freunden diese Gefahr deutlich vor Augen führen sollten. Amerika hat ja lange eine klar antikoloniale Politik geführt und hat sich damit am Ende des zweiten Weltkrieges auch in einen Gegensatz zu manchen seiner europäischen Verbündeten gestellt, die eine Kolonialpolitik betrieben haben. Heute ist es angebracht, darauf aufmerksam zu machen, daß die Dritte und Vierte Welt einer verstärkten Aufmerksamkeit aller Mitgliedstaaten der Allianz bedarf. Es wird sicherlich keine leichte Aufgabe sein, hier Mittel und Wege zu finden, um eine neue Kooperation in die Wege zu leiten. Die Europäer sollten aber mit dazu beitragen, daß unnötige Konfrontationen mit den jungen Staaten der Dritten Welt, die ja eine zentrale Rolle bei der Nutzung der Rohstoffe spielen, vermieden werden und daß vor allem auch den Ländern, die von Ölpreiserhöhungen, Inflation und Rezession in der Vierten Welt so schwer betroffen sind, geholfen werden kann.Diese Aufgabe erfordert es, alte ideologische Scheuklappen abzulegen, nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch bei uns.
— Ich glaube, Herr Matthöfer hat diese Scheuklappen
im Unterschied zu manchen Ihrer Freunde schon längst abgelegt.
Unsere Erwartungen im Hinblick auf die Nordatlantische Allianz richten sich jetzt vor allem auf die bevorstehende NATO-Gipfelkonferenz. Die Erwartungen, die wir mit der NATO-Gipfelkonferenz verbinden, konzentrieren sich darauf, dem Bündnis die notwendige politische Flexibilität und Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen, die es braucht, um die vor uns liegenden Probleme zu meistern. Die Krise, die das Bündnis im Augenblick durchzumachen hat, ist in erster Linie psychologischer Natur. Um sie zu bewältigen, ist viel politisches Einfühlungsvermögen erforderlich. Im Laufe seiner mehr als 25jährigen Geschichte hat das Bündnis schon zahlreiche Krisen erlebt, aber auch immer wieder überwunden.Wir sollten angesichts der bevorstehenden NATO-Gipfelkonferenz das Unsere dazu beitragen, dem Bündnis und den Vereinigten Staaten in einer schwierigen Phase die notwendige Neuorientierung zu erleichtern.
Das Wort hat der Abgeordnete Hoppe.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Aussprache über den Bericht der deutschen Delegation zur Nordatlantischen Versammlung hat die Bundesregierung genutzt, um in dankenswerter Offenheit die Probleme der Atlantischen Allianz anzusprechen und gleichzeitig die Ziele darzulegen, die sie mit ihrer Politik im Bündnis verfolgt. Ob die Opposition die Gunst der Stunde in gleicher Weise genutzt hat, mögen andere beurteilen.
Mir schien es so, als wäre heute ein gemeinsamer Akkord in den Fragen unserer Sicherheit und Außenpolitik möglich gewesen.
Es wäre nach meiner Auffassung deshalb besser gewesen,
wenn die im Interesse unserer Sicherheit notwendige und tatsächlich auch weitgehend bestehende Gemeinsamkeit nicht unnötig relativiert worden wäre.
Meine Damen und Herren, es kann doch nicht der von Herrn Carstens zitierte Ausspruch von Erich Honecker sein, das die Opposition an einer zwingend notwendigen Entspannungspolitik zweifeln läßt.
Meine Damen und Herren, Honeckers Hinweis auf den unaufhaltsamen Siegeszug der Kommunisten und des Sozialismus wird Demokraten ja wohl nicht schrecken und von der Richtigkeit ihrer Politik abbringen können.
Wenn der Oppositionsführer das dann aber zum Anlaß nimmt, so zu tun, als würde die Regierung und würden die Koalitionsparteien nicht nach der vorhandenen Einsicht über die Gefährlichkeit des Anspruchs der Kommunisten auf Weltherrschaft handeln, dann, verehrter Herr Kollege Carstens, wird deutlich, daß Sie eben nur Opposition um jeden Preis treiben wollen. Sie negieren einfach, was die Bundesregierung gerade zu diesem Aspekt hier heute ausgeführt hat. Gerade auf die Notwendigkeit,
Entspannungspolitik auf der Grundlage der Sicherheitspolitik zu treiben, ist eingehend hingewiesen worden.
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11882 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
HoppeMeine Damen und Herren, in dieses Bild paßt dann auch die Klage des Oppositionsführers über die 30-Jahr-Feiern zur Kapitulation. Für die Bundesrepublik gibt es in der Tat aus diesem Anlaß nichts zu feiern, Herr Professor Carstens.
Aber wir sind auch nicht so geschichtslos, daß wir an diesem Ereignis stillschweigend vorübergehen könnten,
und wer an der Veranstaltung des Bundespräsidenten teilgenommen hat, wird dies auch begriffen haben.
Meine Damen und Herren, wenn die Bundesregierung diesen Augenblick zum Anlaß nimmt, mit erfreulicher Klarheit ihr Bekenntnis zur atlantischen Allianz zu erneuern, und wenn sie in diesem Zusammenhang ihre Politik präzisiert, die auf eine baldige Verwirklichung der Europäischen Union hinzielt, ist dies zu begrüßen und sie verdient dabei unsere uneingeschränkte Unterstützung. Der Bundesregierung aus ihrer Bündnispolitik aber den Vorwurf einer Entspannungsfeindlichkeit machen zu wollen, ist absurd. Derartige Vorwürfe von östlicher Seite sollen offenbar von eigenen militärpolitischen Kraftakten ablenken. Die nicht auszurottende Methode, nach der Devise „Haltet den Dieb!" politische Auseinandersetzungen zu führen, ist ein absolut ungeeignetes Mittel, uns von dem richtigen Weg der Politik abzubringen.Meine Damen und Herren, der deutsche Beitrag zur Friedenssicherung und zum Abbau der Spannungen in Europa ist ein einheitliches Konzept, das in nüchterner und realistischer Einschätzung allerdings gerade auf der Sicherheitsgarantie des atlantischen Bündnisses beruht.
Die Bundesregierung verdient volle Unterstützung, wenn sie darauf gestützt einen baldigen erfolgreichen Abschluß der KSZE durch ihre Politik zu begünstigen versucht, um eine Normalisierung der Beziehungen der Staaten und Menschen untereinander zu fördern.
Der Vollzug der anstehenden Beschlüsse der KSZE wird dann sehr wahrscheinlich im Tagesgeschehen praktischer Politik erneut die Grenzen der Kooperationsmöglichkeit mit der kommunistischen Welt deutlich machen,
jene Grenzen, die heute immer noch bestehen, jene Grenzen, die es durchsichtiger und durchlässiger zu machen gilt, um Entspannungspolitik für alle glaubwürdiger und wahrhaftiger werden zu lassen.Meine Damen und Herren, der Außenminister hat wiederholt klargemacht, daß die Ergebnisse der Genfer Konferenz nicht zu einer Beeinträchtigung des Verteidigungspaktes der NATO führen dürfen und daß das Recht des deutschen Volkes auf Wiedervereinigung, auf Wiederherstellung seiner staatlichen Einheit in freier Selbstbestimmung gewahrt bleiben muß.
Für die Entwicklung Europas — über Verteidigungsgemeinschaft und Wirtschaftsgemeinschaft hinaus -zu einer politischen Einheit war es dabei gewiß förderlich, daß der Zwang zur Abstimmung einer gemeinsamen Position auf der KSZE schließlich zu mehr Gemeinsamkeit der westlichen Staaten geführt hat und daß dabei entscheidendes Vertrauenskapital angehäuft werden konnte. Dem Prozeß der europäischen Einigung wird dies mit Sicherheit zugute kommen.Im Einklang mit den Aufgaben des Bündnisses und mit der Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft werden naturgemäß auch die Abrüstungsverhandlungen geführt. Das Ergebnis der MBFR muß die Herstellung eines ausgewogenen Kräfteverhältnisses in Mitteleuropa sein, in dem durch Reduzierung der Streitkräfte der Zustand eines Gleichgewichts des militärischen Personalstandes auf beiden Seiten erreicht wird.
Nur so kann vermieden werden, daß für die Bundesrepublik das bestehende Sicherheitsrisiko erhalten oder gar vermehrt wird.
Die Bundesregierung wird in Absprache mit ihren Verbündeten unbeirrt an dem Ziel festhalten, das derzeit bestehende Mißverhältnis des militärischen Streitkräftepotentials zu beseitigen. Auch hier hat sich die Zusammenarbeit der atlantischen Allianz bewährt. Der kontinuierliche Dialog um ein gemeinsames Verhandlungskonzept hat gleichzeitig zur Vertiefung des Zusammenhalts der westeuropäischen Staaten unter Einschluß des amerikanischen Verbündeten beigetragen. Wer das Bündnis als Sicherung einer Friedenspolitik bewahren will, darf dabei keine Politik aus nationaler Enge treiben. Engstirnigkeit verbietet sich hier von selbst. Die Sorgen und die Nöte der Partner im Bündnis müssen zu eigenen Sorgen werden, und es ist schon sehr erfreulich, wenn die innenpolitischen Strukturen der Bündnispartner dann auch so sind, daß diese Identifizierung ohne Not und ohne Bedrückung möglich ist.Die Entwicklung Portugals sollten wir nicht nur mit großer Anteilnahme verfolgen, sondern auch mit der Bereitschaft zur Hilfe und zur materiellen Unterstützung begleiten, ohne daß wir die Absicht hätten, uns in innere Angelegenheiten einzumischen. Es ist gut, daß sich die Bundesregierung hier mit Nachdruck um einen Solidaritätsbeitrag der EG bemüht.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975 11883
HoppeDie möglichen Gefahren der innenpolitischen Entwicklung in Portugal wird gewiß niemand übersehen. Aber es wäre andererseits fatal, wenn eines Tages der freien Welt der Vorwurf gemacht werden könnte, sie habe sich dem demokratischen Portugal versagt, indem sie ihre Hilfe von unrealistischen, aus sicherem Hort schulmeisterlich formulierten Erwartungen abhängig gemacht habe, und dadurch die Chance für eine demokratische Entwicklung Portugals vertan.
Auf die militärischen Kraftanstrengungen der Sowjetunion in ganz Europa hat die Bundesregierung leider immer wieder hinweisen müssen. An den Fakten, die Aufrüstung und militärische Stärke signalisieren und die keineswegs im Einklang mit Abrüstung und Entspannung stehen, kann nun einmal nicht gedeutelt werden. Die Bundesregierung erfüllt deshalb nur ihre Schutzpflicht gegenüber der Bevölkerung, wenn sie die Verbündeten ermahnt, in den Verteidigungsanstrengungen nicht nachzulassen.Man mag in diesen Tagen durchaus von Sorgen im Bündnis sprechen, und man muß vielleicht auch tatsächlich über eine Verbesserung des inneren Zustands nachdenken. Aber es wäre völlig falsch, von einer Existenzkrise des Bündnisses zu reden
oder so zu tun, als befände sich das Bündnis in Auflösung und läge schon in Agonie. Es gibt zwar Probleme — und sie sind nicht gering —, aber sie müssen das Bündnis nicht schwächen, sondern können im Gegenteil neue Initiativen zur Überwindung der derzeitigen Situation mobilisieren. Mit dem Bundesaußenminister und der Bundesregierung geht die Fraktion der Freien Demokraten davon aus, daß das Bündnis die ihm gestellten Aufgaben lösen wird.Meine Damen und Herren, die Europäer scheinen die ihnen dabei zufallenden Aufgaben inzwischen begriffen zu haben. In der Tat ist es ermutigend, zu sehen, daß die Zusammenarbeit besonders mit der französischen Regierung im Hinblick auf die Wiederbelebung der Aktivitäten für eine europäische politische Einheit enger und ersprießlicher wird. Die Bundesregierung darf einer breiten Unterstützung in diesem Parlament gewiß sein, wenn sie zur Festigung des Bündnisses ihre aktiven Beiträge leistet. Dies gilt sowohl in ideeller wie in finanzieller Hinsicht. Wir dürfen mit unseren Anstrengungen im Ringen um Europa nicht nachlassen. Aber wir müssen uns ebenso davor hüten, Europa am deutschen Wesen genesen lassen zu wollen. Meine Damen und Herren, wir haben hier noch viel zu tun. Aber wir sollten das ohne Aufdringlichkeit tun, sonst könnte dies mehr schaden als nützen.Herr Kollege Professor Carstens, es geht nicht darum, daß die Rolle der Bundesrepublik im Bündnis unterbewertet wird. Wir sollten uns vielmehr davor hüten, daß sie anmaßend überbewertet werden kann. Gerade unter dem Eindruck der vielen 30-Jahr-Feiern aus Anlaß der deutschen Kapitulation muß von uns — und ich sage das nicht zuletzt in großem Respekt vor der Entscheidung des französischen Präsidenten —, Augenmaß bewiesen werden. Zur Selbstbesinnung und zur Selbstbescheidung bleiben wir aufgefordert. Auf diesem Wege werden wir am ehesten die Voraussetzungen für die politische Einheit Europas schaffen.
Das sichert auch in der Zukunft im festen Bündnis mit den Vereinigten Staaten jene atlantische Gemeinschaft, die den offenen Dialog mit allen Ländern in der Welt führt, den Austausch von Meinungen und Gütern sucht und damit dem Frieden und der Entspannung dient. Wir erhalten damit eine Gemeinschaft, die mit ihrem militärischen Potential gleichzeitig in der Lage ist, jeden Angriff auf ihre staatlichen Territorien abzuwehren, und die gleichwohl bereit ist, über den Abbau der militärischen Präsenz konstruktiv zu verhandeln.Meine Damen und Herren, auf Dauer gesehen gebietet die menschliche Vernunft, und zwar in Ost und West, dies: Wer die ständig wachsenden Bedürfnisse der Menschen in einer lebenswerten und humanen Welt umfassend befriedigen will, muß sich von den immensen Kosten der Rüstung entlasten. Einseitige Vorleistungen wird und kann es dabei aber nicht geben.
Die Völker in Ost und West werden diesen Weg der Vernunft nur gemeinsam — und das heißt: nur im Gleichschritt der Abrüstungsmaßnahmen — gehen können. Ob und wann dieser Zustand erreichbar sein kann, mag zweifelhaft sein. Nach diesem Ziel zu streben und die eigene Politik darauf auszurichten sollte für uns nicht umstritten sein. Nur wenn wir uns ernsthaft um die Lösung dieses Konflikts bemühen, dürfen wir von uns sagen, daß wir von unserer Freiheit den rechten Gebrauch gemacht haben.
Wir unterbrechen jetzt die Sitzung. Sie wird um 14 Uhr mit der Fragestunde fortgesetzt.
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.Wir kommen zum Punkt 1 der gemeinsamen Tagesordnung:Fragestunde— Drucksache 7/3602 —Zuerst rufe ich den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes auf. Zur Beantwortung der Fragen steht die Frau Parlamentarische Staatssekretärin Schlei zur Verfügung.
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11884 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Vizepräsident Dr. JaegerIch rufe die Fragen 122 und 123 des Herrn Abgeordneten Hösl auf. — Der Herr Abgeordnete ist nicht im Saal; die beiden Fragen werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.Ich rufe die Frage 124 des Herrn Abgeordneten Dr. Jahn auf:Wie beurteilt die Bundesregierung die Ausführungen von Bundesbauminister Ravens in der „Frankfurter Rundschau" vom 18. April 1975: „Was Gesetz werden kann? Da kommt die unberechenbare Obstruktion des Bundesrates."?Ich darf bitten, Frau Staatssekretär!
Herr Kollege Dr. Jahn, die Bundesregierung sieht in der Äußerung des Bundesbauministers Ravens keine unkorrekte Betrachtungs- oder Ausdrucksweise. Minister Ravens wollte mit seiner Bemerkung auch keineswegs eine unnötige Verschärfung der Diskussion um das Verhältnis Bundesrat — Bundestag in die Welt setzen.
Obstruktion ist nach „Duden" soviel wie Widerstand oder parlamentarische Verzögerung. Nach „Brockhaus", der sich damit auf die verfassungsrechtliche Literatur stützt, ist Obstruktion „der Versuch der Minderheit, in der Volksvertretung ... Mehrheitsbeschlüsse unter Ausnutzung geschäftsordnungsmäßiger Mittel zu verhindern". Die Definitionen legen es also nicht nahe, die Äußerung als unzutreffend zu qualifizieren. Die Bundesregierung sieht darin nichts, was ein verfassungsmäßiges Unwerturteil begründen würde.
Eine Zusatzfrage hat der Herr Abgeordnete Dr. Jahn .
Frau Staatssekretärin, hält also die Bundesregierung Äußerungen dieser Art eines Bundesministers über den Bundesrat mit der Stellung und Achtung des Bundesrates im Verfassungsgefüge für vereinbar?
Das habe ich Ihnen soeben gesagt: Es ist durchaus legitim, Obstruktion in gewisser Weise zu betreiben — nach dieser Definition, Herr Abgeordneter.
Eine zweite Zusatzfrage hat der Herr Abgeordnete Dr. Jahn.
Ich darf Sie dann weiter fragen, Frau Staatssekretärin: Wird also die Bundesregierung nichts tun, damit Äußerungen dieser Art eines Bundesministers über den Bundesrat künftig unterbleiben?
Die Bundesregierung sieht keinen Anlaß dazu.
Ich rufe die Frage 125 des Herrn Abgeordneten Dr. Jahn auf:
Sind der Bundesregierung Fälle bekannt, die es gerechtfertigt erscheinen lassen, von einer Obstruktion des Bundesrates zu sprechen?
Herr Kollege, Ihnen und allen Beteiligten sind die Gesetzesvorhaben, insbesondere aus dem gesellschafts- und bildungspolitischen Bereich, bekannt, bei denen die Stimmenmehrheit im Bundesrat zu wesentlichen Modifikationen geführt hat. Mit Genehmigung des Herrn Präsidenten möchte ich hierzu noch ergänzend aus der Antrittsrede des Bundesratspräsidenten Kubel in der Sitzung vom 8. November 1974 zitieren dürfen. Er sagte:
Die Statistik sagt über dieses Problem sehr wenig aus. Wir alle wissen doch, daß es der Mehrheit im Bundesrat möglich ist, in den verschiedenen Beratungsdurchgängen und im Vermittlungsausschuß den Inhalt eines Gesetzes so zu verändern, daß es mit dem ursprünglichen Ziel nicht mehr voll übereinstimmt. Der Bundesrat darf aber weder als Akklamationsorgan für die Mehrheitsentscheidungen des Bundestages noch als Instrument der Opposition mißbraucht werden.
Dem hat die Bundesregierung nichts hinzuzufügen.
Eine Zusatzfrage hat der Herr Abgeordnete Dr. Jahn .
Frau Staatssekretärin, können Sie diesem Hohen Hause eine Mitteilung darüber machen, wie viele Gesetze bislang am Bundesrat gescheitert sind?
Darüber kann ich Ihnen gern eine Mitteilung machen, aber die müßte ich Ihnen schriftlich zugehen lassen, weil sie noch zusammengestellt wird.
Eine zweite Zusatzfrage hat der Herr Abgeordnete Dr. Jahn .
Frau Staatssekretärin, würden Sie dann auch bereit sein, die Gesetze, die bisher am Bundesrat gescheitert sind bzw. gescheitert sein sollen, genau beim Namen zu nennen?
Herr Kollege, wir würden die Gesetze aufführen, die wesentlich verändert worden sind, und sicherlich auch Ihren Wunsch, den Sie soeben geäußert haben, erfüllen können.
Eine Zusatzfrage hat der Herr Abgeordnete Dr. Arndt .
Frau Staatssekretärin, können Sie bestätigen und meine Meinung teilen, daß die Anrufung des Vermittlungsausschusses beim Gesetz über die Ratifikation des Staatsvertrags mit der CSSR ein klassisches Beispiel einer solchen Obstruktion war, da bei einem völkerrechtlichen Gesetz gar nichts vermittelt werden kann, sondern der
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975 11885
Dr. Arndt
Vorgang sich offensichtlich nur als eine zeitliche Hinauszögerung darstellte?
Ich kann das bestätigen, Herr Kollege. Ich könnte auch noch andere Gesetze nennen, bei denen schon im Vorfeld der Beratung zu einer Gesetzes-reform von einem Vertreter des Bundesrats ohne Kenntnis auch nur des Referentenentwurfs angekündigt wurde, diese Reform werde so nicht stattfinden, z. B. die Reform der beruflichen Bildung.
Herr Abgeordneter Dr. Czaja zu einer Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, kann und darf die Bundesregierung die legitime Ausnutzung des Gesetzgebungsverfahrens durch den Bundesrat als Obstruktion des Bundesrats bezeichnen?
Nach dem „Duden" ja, Herr Kollege.
Keine Zusatzfrage. Ich danke Ihnen, Frau Staatssekretärin.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen. Die Frage 126 wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 127 des Herrn Abgeordneten Rollmann auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß die israelische Botschaft einen Sonderdruck aus dem Buch „Das ist mein Volk" des ehemaligen israelischen Außenmlnisters Abba Eban verschickt, in dem ausgeführt wird, die nationalsozialistische Rassenlehre sei „das offizielle Glaubensbekenntnis des deutschen Volkes" gewesen, daß „die Deutschen daran gingen, die Juden physisch auszurotten" und daß „die Deutschen Millionen Menschen umgebracht" hätten?
Zur Beantwortung steht Herr Staatsminister Moersch zur Verfügung. Bitte sehr!
Herr Abgeordneter, der Bundesregierung ist bekannt, daß der genannte Sonderdruck von der israelischen Botschaft verschickt worden ist.
Keine Zusatzfrage. Dann rufe ich die Frage 128 des Herrn Abgeordneten Dr. Rollmann auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß die Propagierung solcher Auffassungen, die ignorieren, wie viele Deutsche die nationalsozialistische Judenverfolgung verabscheut und unter Gefahr für ihr eigenes Leben ihren jüdischen Mitmenschen beigestanden haben, nicht geeignet ist, die falsche These von der Kollektivschuld des deutschen Volkes an der nationalsozialistischen Judenverfolgung 30 Jahre nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus, dessen erste Opfer vor Angehörigen anderer Völker Angehörige unseres eigenen Volkes gewesen sind, erneut aufzuwärmen, und wird sie bejahendenfalls dies in geeigneter Form gegenüber dem israelischen Botschafter zur Sprache bringen?
Die Bundesregierung hat keinen Grund zu der Annahme, daß der Beitrag aus den Reihen des deutschen Volkes selbst im Kampf gegen den Nationalsozialismus sowie seine Rassenlehre verkannt wird. Wir bewahren den mutig geleisteten Widerstand dieser Deutschen als ein auch uns heute verpflichtendes Erbe.
Auch in Israel ist man sich durchaus bewußt, daß Deutsche unter Gefahr für Leib und Leben jüdischen Mitmenschen in ihrer Verfolgung Beistand geleistet haben. Die offizielle israelische Institution „Yad Washem", die dem Andenken an die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus gewidmet ist, hat bereits über 80 Deutsche, die unter Einsatz ihres Lebens jüdische Mitmenschen gerettet haben, mit der „Medaille der Gerechten" ausgezeichnet.
So, wie in Israel die Haltung der einzelnen Deutschen nicht mit der offiziellen Haltung zur Zeit des Nationalsozialismus gleichgestellt wird, sieht die Bundesregierung auch in den Ausführungen des ehemaligen israelischen Außenministers Abba Eban kein Wiederaufleben der These von der Kollektivschuld des deutschen Volkes an den Judenverfolgungen des nationalsozialistischen Deutschland.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Rollmann.
Darf ich fragen, Herr Staatssekretär, was die Bundesregierung denn sonst in den Äußerungen des ehemaligen israelischen Außenministers sieht? Denn dort heißt es ja immer, daß die Rassenlehre das offizielle Glaubensbekenntnis des deutschen Volkes war, daß die Deutschen darangingen, die Juden physisch auszurotten, und daß die Deutschen Millionen Menschen umgebracht hätten.
Herr Abgeordneter Rollmann, diesem Vertreter der Bundesregierung steht die Anrede „Staatsminister" zu.
Danke schön, Herr Präsident.
Herr Abgeordneter, die Bundesregierung hat nicht die Aufgabe, Buchveröffentlichungen von Autoren im einzelnen kritisch zu werten. Die Standpunkte der Bundesregierung sind in vielen Äußerungen klargestellt worden. Ich habe eben auf Ihre präzise Frage zu diesem Punkt eine Antwort gegeben.
Ich bin sicher: Man kann aus einem Buch das eine oder andere Zitat herausnehmen, das einen ganz bestimmten Eindruck vermittelt. Aber wir haben gerade auch aus dem Wirken des Außenministers Abba Eban den Eindruck, daß er die Beurteilung der Vergangenheit durchaus in dem Sinne vornimmt, wie es in der Antwort der Bundesregierung dargestellt ist.
Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Rollmann.
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11886 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Ist der Tatbestand nicht anders zu beurteilen als bei einem beliebigen Buch, das sonst irgendwo erscheint, da es sich hier immerhin um einen Sonderdruck handelt, der von der Botschaft eines in der Bundesrepublik Deutschland vertretenen Landes verschickt worden ist?
Herr Abgeordneter, ich möchte dringend davon abraten, Botschaften für den Inhalt von Büchern, die von ihnen verteilt werden, in vollem Umfang verantwortlich zu machen; sonst müßten Sie die Tätigkeit von „Inter Nationes" einstellen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Arndt.
Herr Staatsminister, teilen Sie meine Meinung, daß niemand aus der Geschichte seines Volkes aussteigen kann und daß daher das Wort des ersten Bundespräsidenten zutrifft, nach dem es im Hinblick auf die Morde an europäischen Juden, die immerhin im deutschen Namen geschahen, zwar keine Kollektivschuld, wohl aber eine Kollektivscham gibt oder wenigstens geben sollte?
Herr Abgeordneter, ich teile diese Meinung nicht nur, sondern ich muß hinzufügen, daß Bundespräsident Scheel dieses Problem in einer Ansprache kürzlich ausführlich dargelegt hat. Es ist völlig unmöglich, im Rahmen einer Fragestunde mit Frage und Antwort solche Themen gründlich zu behandeln. Ich bedaure, daß hier auf Grund von Einzelzitaten aus einen Buch diese gemeinsame Auffassung überhaupt in Frage gestellt werden konnte.
Keine weitere Zusatzfrage. Ich komme zu der Frage 129 des Abgeordneten Werner:
Entspricht die Stellungnahme von Bundesminister Genscher im Flensburger Tageblatt, „er könne als Außenminister die Interessen der Bundesrepublik Deutschland im Ausland nicht mehr angemessen vertreten, wenn Kabinettmitglieder sich über fremde Regierungen je nach persönlicher Auffassung öffentlich äußern", der Meinung der Bundesregierung im Hinblick auf die Äußerung von Bundesminister Matthöfer, die chilenische Regierung sei eine „Mörderbande"?
Bitte sehr, Herr Staatsminister!
Herr Abgeordneter, der Bundesminister des Auswärtigen hat in einem Interview mit dem Flensburger Tageblatt, abgedruckt am 10. 4. 1975, auf die Frage:
Findet es Ihre Zustimmung, daß ein Mitglied der Bundesregierung — ich meine Herrn Matthöfer — die Regierung eines Staates, mit dem wir immerhin diplomatische Beziehungen haben, als „Mörderbande" bezeichnet, als „ehrlose Lumpen, schmutzig bis in den letzten Winkel ihrer verrotteten und verlausten Seelen"?
folgendes geantwortet:
Also es ist so: Wenn einzelne Mitglieder der
Bundesregierung die verschiedenen Regierungen dieser Welt je nach ihrer persönlichen Auffassung so qualifizieren würden, dann könnte der Außenminister die Interessen der Bundesrepublik nach draußen nicht mehr angemessen vertreten.
Der Bundesminister des Auswärtigen hat damit auf die Probleme hingewiesen, die sich für die Arbeit der Bundesregierung ergeben. Diese Einstellung des Bundesministers des Auswärtigen wird von der Bundesregierung, insbesondere auch von Bundesminister Matthöfer, geteilt.
Bundesminister Matthöfer legt im übrigen Wert auf die Feststellung, daß er in der Frage des Flensburger Tageblatts falsch zitiert wurde. Die Bezeichnung „ehrlose Lumpen" hat Bundesminister Matthöfer ausdrücklich auf alle Machthaber bezogen, die Menschen foltern lassen, nicht aber auf eine bestimmte Regierung.
Im übrigen verweise ich auf die Antwort der Bundesregierung in der Fragestunde vom 17. April 1975 zu diesem Fragenkomplex.
Herr Abgeordneter Werner zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, können Sie mir sagen, welche Schlußfolgerungen denn der Herr Bundeskanzler und das Kabinett aus dem, was Sie gerade hier auch als Auffassung der Bundesregierung dargestellt haben, im Hinblick auf persönliche Äußerungen ziehen, vor allen Dingen im Hinblick darauf, daß die Äußerungen des Herrn Bundesministers Matthöfer nicht einmalig waren, sondern nach dem Bericht des Flensburger Tageblattes auch noch in der Süddeutschen Zeitung wiederholt worden sind?
Herr Abgeordneter, ich habe, glaube ich, zunächst das Zitat in den richtigen Zusammenhang gestellt. Im übrigen hat die Bundesregierung darauf, glaube ich, in zwei Fragestunden klar Antwort gegeben, einmal in schriftlicher und einmal in mündlicher Form. Ich habe dem nichts hinzuzufügen.
Noch eine Zusatzfrage? — Bitte sehr!
Herr Staatsminister, darf ich Sie bitten, die Meinung der Bundesregierung, wie Sie sie vorhin dargestellt haben, daß eine koordinierte und aufeinander abgestimmte Politik im Hinblick auf auswärtige Staaten nicht möglich sei, dahin gehend zu präzisieren, daß aufgrund der persönlich gefällten Urteile und Äußerungen einzelner Kabinettsmitglieder die Bundesregierung als Ganzes die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen hat — sowohl in sachlicher als auch in personeller Hinsicht.
Herr Abgeordneter, ich kann nicht erkennen, auf
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975 11887
Staatsminister Moerschwelche Sätze meiner Antwort sich der erste Teil Ihrer Frage bezogen hat.
Eine weitere Zusatzfrage? — Das ist nicht der Fall.
Die Fragen 130 und 134 werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Damit kommen wir zu der Frage 131 des Abgeordneten Graf Stauffenberg:
Trifft die Meldung des Generalanzeigers vom 22. April 1975 zu, die Bundesregierung werde, was die Ausreisemöglichkeiten für Deutsche unter polnischer Herrschaft anbelangt, keine „maximalistische Haltung" einnehmen, und wie bezeichnet die Bundesregierung ihre Verpflichtung, allen Deutschen unter polnischer Herrschaft zur freien Ausreise zu verhelfen?
Ich darf Sie bitten, Herr Staatsminister.
Herr Abgeordneter, bereits in der Antwort auf die vorhergehende Frage des Kollegen Roser, die, wie mir soeben mitgeteilt wurde, schriftlich beantwortet werden muß und die sich auf denselben Artikel des Generalanzeigers bezog, habe ich darauf hingewiesen, daß ich mir die Darstellung des Autors im Generalanzeiger, die zu interpretieren im übrigen nicht meine Sache ist, nicht in allen Punkten zu eigen machen will. Zur Umsiedlungsfrage hat die Bundesregierung ihre Haltung in zahlreichen Äußerungen in der letzten Zeit dargelegt. Sie hat erklärt, wie wichtig die Lösung dieser Frage für die gegenseitigen Beziehungen ist und daß der polnischen Bereitschaft, die Frage im Sinne der Anliegen der betroffenen Menschen zu lösen, entscheidendes Gewicht für eine dauerhafte deutsch-polnische Verständigung zukommt. Über die Gesamtproblematik ist erst jüngst durch den Bundesminister der Auswärtige Ausschuß ausführlich unterrichtet worden.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Graf Stauffenberg.
Herr Staatsminister, bedeutet diese Ihre Antwort im Klartext, daß die Bundesregierung versuchen wird, alle Deutschen, die die Aussiedlung oder Umsiedlung wünschen, in diesen Bemühungen zu unterstützen, soweit es nur irgend in ihren Kräften steht?
Herr Abgeordneter, die Bundesregierung hat sich dazu wiederholt und präzise in dem Sinne geäußert, daß sie sich um alle diejenigen bemüht, die das wünschen. Ich bin dankbar, daß auch ein Kollege aus Ihren Reihen, nämlich der Abgeordnete Dr. Schröder, sich jüngst in ganz ähnlicher Weise geäußert hat,
Eine weitere Frage, Graf Stauffenberg? — Nein. Dann Herr Abgeordneter Dr. Hupka.
Herr Staatsminister, habe ich Sie recht verstanden, daß der Ausdruck „maximalistische Position" gar nicht gefallen ist?
Herr Abgeordneter, Sie haben mich recht verstanden. Ich habe gesagt, daß es sich hier um eine Interpretation eines Berichterstatters handelt und nach meiner Kenntnis nicht um ein Zitat, das ein Mitglied der Bundesregierung zu verantworten hätte. Es ist auch nicht in diesem Sinne zitiert.
— Ich habe das nicht finden können, Herr Abgeordneter. Vielleicht kann das irgendwo verifiziert werden.
Noch eine Zusatzfrage? — Keine mehr.
Wir kommen zur Frage 132 des Abgeordneten Dr. Wittmann . — Er ist nicht im Saal; die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 133 des Abgeordneten Dr. Schweitzer auf:
Hat die Bundesregierung nach der letzten polnisch-deutschen Schulbuchkonferenz speziell im Hinblick auf den dort von maßgeblicher polnischer Seite unterbreiteten Vorschlag zur Gründung einer gemeinsamen Regierungskommission für entsprechende Fragenkomplexe schon Konsultationen mit den Bundesländern eingeleitet, oder beabsichtigt sie, entsprechende andere Schritte zu unternehmen, um dazu beizutragen, daß unter anderem nunmehr endlich der sogenannte Ostkunde-Erlaß der Kultusminister der Länder einer zeitgemäßen Revision unterzogen wird?
Herr Abgeordneter, Ihre Annahme, daß der Bundesregierung ein polnischer Vorschlag für die Einsetzung einer gemeinsamen Regierungskommission zur Behandlung von Fragen auf dem Gebiet der Schulbuchrevision vorliegt, trifft nicht zu.In diesem Zusammenhang darf ich aber erwähnen, daß die Bundesregierung mit Interesse und Genugtuung zur Kenntnis genommen hat, daß im Anschluß an die 7. Deutsch-Polnische Schulbuchkonferenz, die vom 13. bis 15. April dieses Jahres im Internationalen Schulbuchinstitut in Braunschweig durchgeführt worden ist, eine Begegnung der Mitglieder der Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission mit dem derzeitigen Präsidenten der Kultusministerkonferenz, dem niedersächsischen Minister für Kunst und Wissenschaft, Prof. Grolle, und den Kultusministern und -senatoren der Länder Hamburg, Baden-Württemberg, Bremen und Rheinland-Pfalz stattgefunden hat. Die Bundesregierung begrüßt den Schritt der Bundesländer, der geeignet ist, die deutsch-polnischen Beziehungen auch auf diesem Gebiet zu verbessern. Die Bundesregierung glaubt, daß Kontaktaufnahmen zwischen den Vertretern der Schulbuchkonferenzen, der Kultusministerkonferenz und den Kultusministern der Länder geeignet sein werden,
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11888 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Staatsminister Moerschum in der Frage der Umsetzung der Empfehlungen Fortschritte zu erzielen.Zweitens. Bei dem von Ihnen angesprochenen Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 13. Dezember 1956 handelt es sich um Empfehlungen zur Ostkunde. Hierzu hat die Kultusministerkonferenz in einem weiteren Beschluß vom 22. Juni 1973 eine Erklärung abgegeben, die feststellt, daß diese Empfehlungen — ich zitiere —heute nicht mehr in ihrer Gesamtheit Grundlage von aktuellen Maßnahmen der Kultusverwaltungen der Länder sind.Die Bundesregierung nimmt an, daß die Kultusminister und -senatoren der Länder, wie es in diesem Beschluß heißt, dieser ihrer Auffassung bei ihren Richtlinien für den Unterricht Rechnung tragen und Rechnung getragen haben.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Schweitzer.
Herr Staatsminister, da ich mich in meiner Frage in der Tat auf dieselbe Schulbuchkonferenz bezog, die Sie jetzt in Ihrer Beantwortung erwähnt haben, möchte ich noch einmal nachfragen, ob die Bundesregierung nicht doch Möglichkeiten sieht, im Hinblick auf — unter anderem — Art. 32 des Grundgesetzes in dieser Richtung tätig zu werden, da ja ein solcher polnischer Vorschlag unterbreitet worden ist, wenn auch im Augenblick noch nicht durch die diplomatischen Kanäle. Immerhin ist der Vorschlag als solcher auf dem Tisch. Ich wiederhole die Frage: Sehen Sie Möglichkeiten, diese ganzen Dinge etwas zu formalisieren, und sehen Sie die Möglichkeit, daß die Regierung im Hinblick auf den von mir erwähnten Grundgesetzartikel tätig wird?
Herr Abgeordneter, es tut mir leid; ich habe den Inhalt von Art. 32 des Grundgesetzes im Moment nicht im Kopf. Vielleicht können Sie mir ihn eben sagen. Dann kann ich die Frage besser beantworten.
In Art. 32 steht sinngemäß, daß der Bund an sich für die Pflege der auswärtigen Beziehungen verantwortlich ist und daß, wenn Interessen der Länder berührt werden, natürlich eine entsprechende Konsultation mit den Ländern stattzufinden hat. Es wäre doch denkbar, daß die Bundesregierung sich bei den Ländern einschaltet und mit dafür sorgt, daß ein solches von polnischer Seite gewünschtes Regierungsabkommen realisiert werden kann.
Herr Abgeordneter, daß die Bundesregierung sich um eine Koordinierung bemüht, habe ich hier darzulegen versucht. Die Rechtslage ist aber, glaube ich, genauso kompliziert wie bei dem berühmten Urteil zum Reichskonkordat. Das ist exakt der gleiche Punkt, wenn ich es recht sehe. Die Tatsache, daß
die Kultusminister selbst eine Revision ihrer Empfehlungen empfohlen haben — so muß ich wohl sagen —, zeigt ja, daß offensichtlich eine weitgehende Übereinstimmung in den politischen Wertungen besteht. Von ausländischen Kritikern aber wird in diesem Falle wohl verkannt, daß in unserem Verfassungsgefüge definitive Entscheidungen etwa über Schulbücher und die Benutzung von Schulbüchern nicht ohne weiteres möglich sind, daß der Lehrer selbst die Auswahl vorzunehmen hat und daß es jetzt entscheidend darauf ankommt, daß die privaten Unternehmen, die Schulbücher drucken, welche dann weiterempfohlen werden — ihre Einführung kann nicht verordnet werden —, sich auf Grund neuer historischer Kenntnisse an die Revision der alten Schulbücher machen.
Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Schweitzer.
Angesichts dieses Tatbestandes, der uns hier natürlich auch bekannt ist, möchte ich Sie, Herr Staatsminister, noch einmal fragen, ob die Bundesregierung bereit wäre, erneut die Möglichkeiten zu überprüfen, die sich im Hinblick auf die Realisierung dieses polnischen Vorschlages — auch aus der Sicht der Regierung — ergeben könnten.
Die Bundesregierung wird das gerne tun, und ich hoffe, daß wir dabei den gemeinsam gewünschten Erfolg haben werden.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka.
Herr Staatsminister, können Sie mir darin zustimmen, daß die Ostkunde an unseren Schulen als Bestandteil des Lehrprogramms wesentlich dazu beiträgt, daß unsere Jugend — auch entsprechend der Begründung zum Karlsruher Urteil vom 31. Juli 1973 — über das ganze Deutschland informiert wird?
Herr Abgeordneter, ich weiß nicht, was jetzt in den Richtlinien und Lehrplänen der Länder für die Ostkunde im einzelnen vorgesehen ist. Ich bin mit Ihnen der Meinung, daß eine umfassende Information — wo immer sie denkbar ist — notwendig ist, ganz besonders auch eine — nicht nur einseitige — Information über geschichtliche Verläufe und ihre Ursachen. Ich glaube, das ist der Sinn auch dieser gemeinsamen Konferenzen.
Im übrigen vertraue ich auf die Urteilsfähigkeit auch junger Menschen, was die Hinnahme von bestimmten Lehrinhalten angeht. Sonst wäre ja die heutige Generation, die in anderen Schulen gewesen ist, ziemlich verloren gewesen.
Herr Abgeordneter Dr. Czaj a!
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975 11889
Herr Staatsminister, können Sie widerlegen, daß das von Ihnen vorhin wiedergegebene Teilzitat aus der Beschlußfassung der Kultusministerkonfrenz durch den einmütigen Beschluß zu ergänzen ist, daß sich eine Neufassung der Ostkunderichtlinien auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 31. Juli 1973 gründen müsse, wie es auf Antrag Baden-Württembergs von der Kultusministerkonferenz beschlossen worden ist?
Herr Abgeordneter, wenn eine solche Frage wieder eingereicht wird, bin ich gern bereit, die ganze Empfehlung zu zitieren. Ich habe die Empfehlung hier. Ich glaube, sie ist allen zugänglich. Ich habe auch nicht behauptet, daß ich vollständig zitieren konnte. Das ist im Rahmen der Fragestunde unmöglich.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Freiherr von Fircks.
Herr Staatsminister, ist Ihnen bekannt, ob die von dem Kollegen Schweitzer genannten polnischen Initiatoren in Polen selbst bisher schon etwas in der Hinsicht getan haben, daß die polnischen Schulbücher — dies wäre für die polnischen Initiatoren ja das Nächstliegende — zunächst einmal im Sinne einer Entzerrung der geschichtlichen Darstellungen bereinigt werden?
Herr Abgeordneter, ich kann jetzt keine Einzelheiten nennen, aber ich erinnere mich, daß wir in der Fragestunde vor einiger Zeit einen Fall hatten, in dem bedauert wurde, daß die Sache auf polnischer Seite in Teilbereichen schneller funktioniert als bei uns. Ich habe darauf hingewiesen, daß die Kompetenzfrage in Polen eben eine andere ist als hier. Daraus schließe ich, daß in Polen ganz offensichtlich Änderungen vorgenommen worden sind. Sie wissen, daß nicht in allen Bereichen — das gilt vor allem für diejenigen, die uns besonders wichtig sind — bereits gemeinsame Revisionen vorgenommen worden sind. Das es hier noch offene Stellen gibt, ist evident; sonst müßte die Kommission ja nicht wieder zusammentreten.
Ich rufe die Frage 5 des Herrn Abgeordneten Dr. Schweitzer auf:
In welchem Umfange sind im Haushaltsjahr 1975 Maßnahmen der Bundesregierung zur Förderung polnischer Wissenschaftler in der Bundesrepublik Deutschland zu erwarten?
Herr Abgeordneter, der wissenschaftliche Austausch mit Polen ist in den vergangenen Jahren besonders gefördert worden. Im Haushaltsjahr 1975 ist der hierfür vorgesehene Ansatz im Kulturetat des Auswärtigen Amts um etwa 8 % erhöht worden. Es ist deshalb zu erwarten, daß die von den Mittlerorganisationen vorgesehenen Programme im Jahre 1975 in vollem Umfang durchgeführt werden.
Ob die Zahl der polnischen Wissenschaftler, die
die Bundesrepublik Deutschland 1975 besuchen, sich
auf der gleichen Höhe wie 1974 bewegen oder höher liegen wird, hängt verständlicherweise nicht nur von unseren Programmen ab.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Schweitzer.
Herr Staatsminister, waren bei der Abwicklung solcher Programme nach Auffassung der Bundesregierung bisher irgendwelche politischen oder administrativen Schwierigkeiten — insbesondere von polnischer Seite — zu beobachten, oder ist das relativ reibungslos verlaufen?
Wir haben nicht den Eindruck, daß dort irgendwelche Schwierigkeiten aufgetaucht sind. Die Zahlen, die ich für Polen hier vorliegen habe und die ich mit Zahlen bei anderen Staaten vergleiche, zeigen, daß es mit Polen besonders gut gelungen ist, diesen Austausch zu fördern.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Sauer.
Herr Staatsminister, beruht diese finanzielle Unterstützung auf Gegenseitigkeit; mit anderen Worten: Können Sie konkret sagen, wieviel deutsche Wissenschaftler von der polnischen Regierung finanziell unterstützt werden und insbesondere, ob ihnen Gelegenheit gegeben wird, in den deutschen Ostgebieten Studien zu betreiben?
Ich muß nachprüfen, wie die Zahlen im einzelnen aussehen. Das gehört nicht unmittelbar zu der Frage. Ich weiß aber, daß eine ganze Reihe von deutschen Wissenschaftlern in Polen zu Gast ist, und ich habe nicht gehört, daß es gebietsweise Einschränkungen gegeben hat.
Ich habe Ihnen gesagt, daß ich das nachprüfen werde. Denn verständlicherweise hat die Bundesregierung keine Zahlen über Ausgaben anderer Regierungen.
Frage 135 des Abgeordneten Zoglmann:Treffen Pressemeldungen zu, die Bundesregierung beabsichtige, sich mit der Sowjetunion über die Einbeziehung des Landes Berlin in deutsch-sowjetische Verträge, insbesondere in das Abkommen über technisch-wissenschaftliche Zusammenarbeit, in der Weise zu einigen, daß Bedienstete von Bundesämtern und -institutionen mit Sitz in Berlin nicht in dieser Eigenschaft, sondern nur als Angehörige entsprechender Berufsverbände in den Austausch einbezogen werden, und muß — bejahendenfalls — eine solche Regelung nicht wie eine Verleugnung der Bindungen zwischen dem Bund und dem Land Berlin wirken und damit einer Aushöhlung des Viermächteabkommens über Berlin Vorschub leisten?Bitte, Herr Staatsminister.
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11890 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Herr Abgeordneter, über die Einzelheiten der Einbeziehung Berlins in das Abkommen über die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit sind wir mit der Sowjetunion noch in Kontakt. Es liegt nicht in unserem Verhandlungsinteresse, zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu Einzelheiten dieser Gespräche hier Stellung zu nehmen. Ich darf aber darauf verweisen, daß der Auswärtige Ausschuß ausführlich unterrichtet ist.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Zoglmann!
Herr Staatsminister, würden Sie bestätigen, daß die Bediensteten der Bundesregierung in Berlin in dieser Materie anders behandelt werden sollen als die Bediensteten der Bundesregierung in anderen Bundesländern?
Herr Abgeordneter, ich habe eben dargelegt, daß wir in Kontakt mit der sowjetischen Regierung über diese Fragen insgesamt stehen und daß es jetzt nicht opportun wäre, hier Einzelheiten auszubreiten. Deswegen bedauere ich auch, diese Zusatzfrage jetzt nicht beantworten zu können.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Zoglmann!
Herr Staatsminister, würden Sie mir bestätigen, daß im Viermächteabkommen über Berlin der Bundesrepublik das Vertretungsrecht der ehemaligen Reichshauptstadt übertragen wurde, und würden Sie mir dann zugeben, daß die Verhandlungen, die Sie jetzt mit der Sowjetregierung führen, nur so verlaufen können, daß Sie dieses Recht auch da voll durchsetzen?
Herr Abgeordneter, ich glaube, es kann nicht im Zusammenhang mit der ursprünglich gestellten Frage eine Debatte über das Viermächteabkommen stattfinden. Daß aber im Viermächteabkommen Einzelheiten nicht in jedem Falle geregelt sind, beweist die Tatsache, daß wir bei Einzelabkommen über Einzelheiten sprechen.
Herr Abgeordneter Jäger zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, muß ich aus Ihrer Weigerung, die Frage des Kollegen Zoglmann mit einem klaren Nein zu beantworten, schließen, daß die Bundesregierung in der Tat Erwägungen der in seiner Frage angedeuteten Art anstellt?
Sie können aus dem, was ich nicht gesagt habe, nichts schließen. Ich habe auch nicht mit Nein geantwortet. Ich habe gesagt, daß Einzelheiten der zweiseitigen Abkommen zu regeln sind, während die generellen Richtlinien im Viermächteabkommen enthalten sind.
Ich komme zu Frage 136 des Abgeordneter Spranger. — Er ist nicht da. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Fragen 137 und 138 des Abgeordneten Schedl werden auf seinen Wunsch ebenfalls schriftlich beantwortet; die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich komme zu Frage 139 des Abgeordneten Dr. Czaja:
Wurde bei der Unterzeichnung der Europäischen Konsularkonvention im Jahr 1968 eine Erklärung im Sinne von Ziffer 17 des „Explanatory report on European Convention consular functions and its protocols" zu den Fragen Deutschlands und der deutschen Staatsangehörigkeit abgegeben?
Bitte, Herr Staatsminister!
Herr Abgeordneter, eine derartige Erklärung wurde bisher nicht abgegeben.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Czaja!
Wird dies bei der Hinterlegung der Ratifikationsurkunden — in Beachtung der Anweisungen für den Abschluß von Verträgen — nachgeholt werden?
Herr Abgeordneter, ich kann jetzt darauf keine bindende Antwort geben, was im einzelnen getan werden wird. Ich glaube, das wird klarer, wenn ich die nächste Frage beantwortet habe, die Sie ebenfalls gestellt haben, die Frage 140,
Zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Czaja!
Herr Staatsminister, können Sie widerlegen, daß es eine Anweisung des Auswärtigen Amtes — eine verbindliche, eine gedruckte Anweisung — gibt, daß eine solche Interpretationserklärung bei der Hinterlegung der Ratifikationsurkunden abgegeben werden muß, wenn, wie das in Ziffer 17 der zitierten Erklärung gesagt ist, Rechte der Staatsangehörigen betroffen sind?
Herr Abgeordneter, zunächst muß ich sagen, daß Sie ganz offensichtlich aus einer Schrift zitieren, die einen bestimmten Stempel trägt, nämlich „VS-V, Nur für den Dienstgebrauch". Im einzelnen kann ich Ihnen sagen — —
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975 11891
Staatsminister Moersch— Dann war das ein Irrtum. Ich hatte das eben mißverstanden. Sie hatten das letzte Mal eine Richtlinie herangezogen, die nicht veröffentlicht ist. Es ist ein bißchen schwer, dazu Stellung zu nehmen.Ich darf die Frage nach der Ziffer 17 wie folgt beantworten. In Ziffer 17 des „Explanatory report" heißt es, daß die Erklärung jederzeit abgegeben und geändert werden kann. Die Bundesregierung hält es für ratsam, zunächst abzuwarten, von welchen Ländern die europäische Konsularkonvention ratifiziert werden wird. Das Ratifizierungsverfahren ist bisher lediglich von Norwegen und Italien eingeleitet worden. Die Bundesregierung läßt sich über die Frage der Ratifizierung der Konvention in den Mitgliedsländern des Europarats von Zeit zu Zeit unterrichten. Gemäß Art. 50 tritt die Konvention drei Monate nach Hinterlegung der fünften Ratifikation oder Annahmeurkunde in Kraft.
Keine Zusatzfrage? — Dann kommen wir zur Frage 140 des Abgeordneten Dr. Czaja:
Welche Schwierigkeiten verhindern das Inkrafttreten der Europäischen Konsularkonvention, und wie steht es um das deutsche Vertragsgesetz?
Die Europäische Konsularkonvention geht in einer Reihe von Bestimmungen über das Wiener Übereinkommen vom 24. April 1963 über konsularische Beziehungen hinaus oder steht zu letzterem in Widerspruch. Zahlreiche Staaten sind der Ansicht, daß die Europäische Konvention in einigen Punkten, z. B. der eingeschränkten Jurisdiktion des Empfangsstaates über Handelsschiffe, die sich in dessen Häfen befinden, Einschaltung von diplomatischen und konsularischen Vertretungen bei der Durchführung von Wahlen im Entsendestaat, zu weit in ihre Gebietshoheit eingreift. Diese Staaten wollen daher einer Ratifizierung nicht nähertreten. Die Bundesregierung hat die Prüfung noch nicht abgeschlossen, inwieweit es möglich sein wird, durch die Einlegung von Vorbehalten die Europäische Konvention in Einklang mit dem Grundgesetz zu bringen.
Eine Zusatzfrage.
Nachdem die Bundesregierung dieses Abkommen, diese Konvention unterzeichnet hat, frage ich Sie, ob sie nach den allgemeinen Regeln des Völkerrechts nicht verpflichtet ist, alles zu tun, um nunmehr das Gesetzesverfahren einzuleiten, um so mehr als es sich um ein Europaratsabkommen handelt und die Europafreundlichkeit die Bundesrepublik Deutschland damit unterstrichen werden könnte?
Herr Abgeordneter, diese Konvention ist, wenn ich das recht weiß, im Jahre 1968 unterzeichnet worden. Da sich inzwischen, wie ich eben vorgetragen habe, bei einigen Staaten große Zweifel ergeben haben, ob dies aus innerstaatlichen Gründen möglich ist, wird die Bundesregierung dem Parlament eine Gesetzesvorlage doch erst vorlegen können, wenn diese Zweifelsfragen international geklärt sind. Ich
bedaure, daß hier ein solcher Fall eingetreten ist. Aber es muß ja möglich sein, daß nach der Unterzeichnung eine nochmalige Prüfung auf die rechtlichen Möglichkeiten auf Grund innerstaatlicher Verhältnisse vorgenommen wird, und die Bundesregierung steht hier in engem Kontakt zu den Mitunterzeichnern.
Zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Czaja.
Herr Staatsminister, Sie können doch aber auch nicht leugnen, daß sieben oder acht Europaratsmitglieder diese Konvention, die in positiver und umfangreicher Form nicht nur Vorrechte und Befreiungen wie das Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen, sondern die konsularischen Funktionen regelt, ebenfalls unterzeichnet haben und daß diese konsularischen Funktionen für die Vertretung der Rechte deutscher Bürger betreffend Erbrecht, Schiffahrtsrecht usw. von erheblicher Bedeutung sind.
Herr Abgeordneter: ich habe vorhin auf Ihre Zusatzfrage darzulegen versucht, daß bisher nur zwei Staaten — mad ich glaube, das ist nicht unwichtig —, nämlich Norwegen und Italien, das Ratifizierungsverfahren eingeleitet haben. Ich frage mich, welche Frage Sie stellen würden, wenn die Bundesregierung hier ein Gesetz vorlegte, von dem sie in der Begründung selbst nicht zweifelsfrei sagen kann, daß dies nach dem Grundgesetz so möglich ist.
— Jede Regierung, Herr Abgeordneter, steht im Wort auch für Unterzeichnungen früherer Regierungen. Es ist aber die Pflicht dieser Regierungen, die Frage der grundgesetzlichen Vereinbarkeit im Benehmen mit den Mitunterzeichnern zu klären. Ich habe gesagt, daß wir prüfen, in welcher Form wir durch Erklärungen die Rechtswirksamkeit für uns herstellen können. Ganz offensichtlich sind von den zahlreichen Unterzeichnern bisher nur zwei in der Lage, diese Frage zu klären, also eine deutliche Minderheit. Wir befinden uns, wenn Sie wollen, wenn nicht in guter Gesellschaft, so jedenfalls in zahlreicher Gesellschaft.
Wir kommen zur Frage 141 des Abgeordneten Dr. Hupka:
Wie beurteilt die Bundesregierung die durch die Volksrepublik Polen seit dem 1. April 1975 angeordnete Erhöhung des Zwangsumtausches von 20 DM auf 25 DM pro Person und Tag angesichts der wiederholt abgegebenen Erklärungen, daß ein zunehmender Reiseverkehr zur Normalisierung des deutsch-polnischen Verhältnisses entscheidend beitrage?
Nach Kenntnis des Auswärtigen Amtes hat die Regierung der Volksrepublik Polen den Umtauschsatz von Devisen in polnische Zloty für Privatpersonen aus westeuropäischen Ländern bei Reisen in die Volksrepublik Polen von 7 US-Dollar pro Person und Tag auf 10 US-Dollar pro Person und Tag mit Wirkung vom 1. April 1975 erhöht. Die polnische Regie-
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11892 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Staatsminister Moerschrung hat damit einen einheitlichen Umtauschsatz für alle Besuchsreisenden aus der westlichen Welt eingeführt, da Privatpersonen beispielsweise aus den USA und Kanada bei einem Besuch in der Volksrepublik Polen auch schon vor dem 1. April 1975 einen Betrag von 10 US-Dollar pro Tag umtauschen mußten.Für Besucher aus der Bundesrepublik Deutschland hat sich durch diese Maßnahme der Tagessatz von 20 DM auf 25 DM erhöht. Von der Umtauschpflicht gibt es jedoch eine Reihe von Ausnahmen. So können z. B. bei Reisen nach Polen Rentner oder andere finanziell schwächer gestellte Personen eine Befreiung oder Ermäßigung vom Zwangsumtausch bei der Polnischen Botschaft in Köln beantragen. Darüber hinaus entfällt der Zwangsumtausch, wenn Dienstleistungen im voraus mit Devisen wie z. B. bei den Pauschalreisen der Touristikunternehmen gezahlt werden.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Hupka.
Herr Staatsminister, können Sie mir aber darin zustimmen, daß der gegenwärtige neue Zustand mit dem erhöhten Zwangsumtausch ein schlechterer Zustand ist, als er vor Abschluß des Warschauer Vertrages für Reisende in die Gebiete jenseits von Oder und Neiße und in die Volksrepublik Polen bestanden hat?
Herr Abgeordneter, ich weiß nicht, ab man das so pauschal sagen kann. Inzwischen haben sich ja auch die Währungsrelationen verändert. Ich werde das gern einmal nachprüfen. Aber ich mache nochmals darauf aufmerksam, daß hier ja durch die Ausnahmeregelungen ganz offensichtlich vermieden werden soll, daß Härten entstehen.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Hupka.
Herr Staatsminister, Sie haben die Reisenden aus Amerika angeführt. Aber Sie sind doch sicherlich mit mir darin einer Meinung, daß die meisten Reisenden, die sich in die Gebiete jenseits von Oder und Neiße und in die Volksrepublik Polen begeben, aus der Bundesrepublik Deutschland stammen.
Sicherlich sind es sehr viele von hier. Ich habe mir aber sagen lassen, daß ungewöhnlich viele Besucher aus den USA — es gibt ja dort sehr viele Polen — nach Polen reisen. Ich glaube, die Zahlen sind sehr hoch, und sie sind hier kaum bekannt.
Herr Abgeordneter Sauer zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, sieht die Bundesregierung in dieser Erhöhung der Gebühren durch die polnischen Regierung eine Nachahmung der Visa-Maßnahmen der DDR, und ist zu befürchten, daß die Bundesregierung die Rücknahme dieser polnischen Maßnahme genauso teuer bezahlen wird, wie es bei den Visa-Verhandlungen mit Ost-Berlin der Fall war?
Herr Abgeordneter, Sie verkennen bei Ihrer Frage, daß der Vergleich hier deswegen nicht angestellt werden kann, weil die polnische Maßnahme sich nicht einseitig auf Besucher aus der Bundesrepublik Deutschland bezieht, sondern eine generelle Maßnahme für alle Besucher aus westlichen Ländern ist und eine Anpassung an bestehende Sätze für Besucher aus den USA und Kanada darstellt. Der Fall DDR ist hier, glaube ich, als Sonderfall zu sehen. Ich würde es bedauern, wenn der Besucherverkehr dadurch beeinträchtigt werden sollte. Aber die Ausnahmeregelungen, die hier vorgesehen sind, geben Anlaß zu der Meinung, daß dies nicht der Fall sein muß.
Ich rufe die Frage 142 des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka auf:
Ist die dem deutschen Botschafter in Warschau Mitte 1973 durch den polnischen Gesundheitsminister zugesagte Auskunft bezüglich der Auszahlungen auf Grund des deutsch-polnischen Abkommens vom 16. November 1972 über 100 Millionen DM für Wiedergutmachungsleistungen wegen pseudomedizinischer Versuche inzwischen erfolgt, und geht bejahendenfalls daraus hervor, daß die unmittelbar Betroffenen als Individuen in den Genuß der finanziellen Leistungen der Bundesrepublik Deutschland gelangt sind?
Ich möchte an die Antwort erinnern, Herr Abgeordneter, die ich auf eine Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Czaja in der 15. Sitzung des Deutschen Bundestages am 16. Februar 1973 gegeben habe. Darin habe ich bereits darauf hingewiesen, daß die Bundesrepublik Deutschland in dem am 16. November 1972 mit der Volksrepublik Polen abgeschlossenen Abkommen vereinbart hat, die Verteilung des festgesetzten Betrages solle dem Ermessen der polnischen Seite überlassen bleiben. Die polnische Regierung hat ihrerseits in dem Abkommen erklärt, daß mit den vereinbarten Zahlungen alle finanziellen Forderungen wegen der pseudomedizinischen Menschenversuche, die an polnischen Staatsbürgern in nationalsozialistischen Konzentrationslagern vorgenommen worden sind, in den Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen als endgültig erledigt gelten. Es ist ein Prinzip dieses wie auch anderer ähnlicher Abkommen über pauschale Wiedergutmachungsleistungen mit anderen Staaten, die Verteilung des Betrages dem Vertragspartner zu überlassen, der seinerseits die Bundesregierung von Individualforderungen freistellt.Unter diesen Umständen hat die Bundesregierung keinen vertraglichen Anspruch darauf, über die Verteilung der Pauschalentschädigung im einzelnen Rechenschaft zu erhalten. Es besteht jedoch kein Anlaß, daran zu zweifeln, daß die polnische Seite ernsthaft bemüht ist, das Abkommen vom 16. November 1972 seinem Zweck entsprechend durchzuführen.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975 11893
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Hupka.
Herr Staatsminister, da Sie bereits aus dem Protokoll des Deutschen Bundestages zitiert haben, möchte ich Ihre Ausführungen aus der Sitzung des Bundestages vom 19. September 1974 zitieren. Sie haben damals gesagt, „daß wir eine Mitteilung über die Verwendung der Mittel" — laut Auskunft der polnischen Regierung —„erhalten würden, sobald sie verteilt seien. Da sie ganz offensichtlich noch nicht verteilt sind, ist diese Mitteilung bisher nicht erfolgt." Ist daraus zu schließen, daß die Mittel noch nicht verteilt worden sind?
Herr Abgeordneter, ich darf hier folgendes klarstellen: Die Äußerung des polnischen Gesundheitsministers, die ich in Beantwortung einer Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Czaja in der Fragestunde vom 19. September 1974 — Sie haben Sie zitiert — erwähnte, wurde nicht in Erfüllung einer vertraglichen Verpflichtung gemacht. Es läge deshalb nicht im Interesse der von allen Seiten dieses Hauses erstrebten Verbesserung unserer Beziehungen zu Polen, wenn die Bundesregierung diese Fragen noch während der Abwicklung des Abkommens in der Öffentlichkeit erörtern würde. Die Bundesregierung ist jedoch bereit, etwaige weitere Informationen, die ihr über die Abwicklung des Abkommens zugehen, in Ausschußberatungen den interessierten Abgeordneten mitzuteilen.
Eine zweite Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, ist dann aber nicht der Schluß erlaubt, daß bei derartigen pauschalen Zahlungen zumindest die Gefahr besteht, daß die Empfänger, für die das Geld bestimmt ist, nicht in den Genuß dieses Geldes kommen?
Herr Abgeordneter, die Bundesregierung hat wiederholt erklärt — und ich wiederhole es hier noch einmal —, daß wir keinen Anlaß haben, daran zu zweifeln, daß die polnische Seite ernsthaft bemüht ist, das Abkommen entsprechend seinem Zweck durchzuführen. Diese Frage müßte dann bei allen Abkommen gestellt werden, die in ähnlicher Form von der Bundesregierung mit anderen Staaten abgeschlossen worden sind.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Sauer.
Herr Staatsminister, da vor der deutschen Botschaft in Warschau Demonstrationen wegen angeblichen Fehlverhaltens der deutschen Bundesregierung stattgefunden haben, darf ich Sie fragen: Welche Öffentlichkeitsarbeit hat die deutsche Botschaft in Warschau diesbezüglich unternommen, um die Dinge klarzustellen?
Herr Abgeordneter, ich glaube, das muß im einzelnen nachgeprüft werden. Das ist nicht Gegenstand dieser Frage gewesen. Aber ich meine, daß etwa eine Erörterung dieser Frage hier ein Stück Öffentlichkeitsarbeit darstellt.
— Ja.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Schweitzer.
Herr Staatsminister, wären Sie bereit, den Kollegen Hupka davon in Kenntnis zu setzen, daß eine ganze Reihe von betroffenen polnischen Opfern mit Sicherheit eine solche Entschädigung gar nicht entgegennehmen wollten und sie mit anderen Angehörigen des polnischen Volkes in der Regelung dieser ganzen Frage in erster Linie eine ernste symbolische Problematik und ein Problem der moralischen Wiedergutmachung gesehen haben und daß das auch eigentlich von allen Parteien in diesem Haus so gesehen worden ist, als dieser Regelung seinerzeit zugestimmt wurde?
Herr Abgeordneter, ich kann nur konstatieren, daß offensichtlich sehr unterschiedliche Meinungen auf allen Seiten über die Möglichkeit solcher Regelungen überhaupt bestehen. Ich habe mich darauf zu beschränken, das festzustellen, was in dem Abkommen steht, und auf die Modalitäten hinzuweisen. Die Meinungsbildung ist frei.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Czaja.
Herr Staatsminister, Sie haben soeben zweimal gesagt, Sie hätten keine Zweifel daran, daß sich die polnische Regierung ernstlich bemühe, die Mittel, die mit Abkommen vom 16. November 1972 genehmigt worden sind, auszuzahlen. Sind Sie nicht der Auffassung, daß diese ernstlichen Bemühungen, wenn sie noch nicht abgeschlossen sind, etwas lange dauern — von November 1972 bis jetzt —, und läßt das nicht eigentlich Rückschlüsse für weitere Forderungen zu?
Ich glaube, daß die Schlußfolgerung, die Sie im letzten Satz gezogen haben, nicht gerechtfertigt ist.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jäger .
Herr Staatsminister, teilen Sie meine Auffassung, daß die Volksrepublik Polen unter der Voraussetzung, daß sich ernsthafte Anzeichen dafür vortragen lassen, daß die von der Bundesrepublik Deutschland gezahlten Mittel den individuellen Anspruchsberechtigten bisher in
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11894 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Jäger
großem Umfang nicht zugeflossen sind, diese Vereinbarung gröblich mißbraucht hätte?
Herr Abgeordneter, Sie werden mit Ihrer Frage wohl nicht erwarten, daß ich auf hypothetische Erwägungen eine konkrete Antwort gebe. Ich habe dargestellt, daß wir keinen Anlaß zu Zweifeln haben. Ich habe meine Bereitschaft erklärt, zu einem geeigneten Zeitpunkt, wenn wir entsprechende Informationen besitzen, den Auswärtigen Ausschuß zu informieren. Ich glaube, daß es den deutsch-polnischen Beziehungen nicht nützt, wenn wir das Thema etwa in dieser Form von Frage und Antwort weiter erörtern.
Die Frage 143 des Abgeordneten Dr. Wittmann ist bereits vom Bundesministerium des Innern beantwortet worden.
Wir kommen zur Frage 144 des Abgeordneten Reddemann:
Ist die am 5. Mai 1975 von Radio Moskau verbreitete Behauptung richtig, daß Dr. Meyer-Landrut vom Auswärtigen Amt dem Bonner Korrespondenten der kommunistischen Partei-Zeitung „Prawda", Michailow, mehrere Tage vor der Veröffentlichung Einblick in die Erklärung des Bundeskanzlers vom 8. Mai 1975 gab?
Bitte, Herr Staatsminister!
Herr Abgeordneter, die Antwort lautet: Nein. Der neue Korrespondent der „Prawda" hat Herrn Dr. Meyer-Landrut einen Höflichkeitsbesuch abgestattet, bei dem auch der 30. Jahrestag des Endes des zweiten Weltkrieges zur Sprache kam. Auf entsprechende Fragen wurde der Korrespondent über die Absicht des Herrn Bundespräsidenten und des Herrn Bundeskanzlers informiert, anläßlich dieses Tages öffentliche Erklärungen abzugeben. Zum Zeitpunkt der Unterredung lag der Text dieser Ansprachen noch nicht vor. Zur allgemeinen Unterrichtung über die grundsätzliche Haltung der Bundesregierung wurde der Text der 1970, also der bei dem 25. Jahrestag abgegebenen Erklärungen zur Verfügung gestellt.
Ich füge hinzu: Wie mir inzwischen von dem Betroffenen mitgeteilt wurde, handelt es sich um ein redaktionelles Versehen, daß hier zwei Dinge verwechselt worden sind, was ja, wie Sie aus Ihrer Berufspraxis wissen, bei Zeitungen gelegentlich vorkommen soll.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Reddemann.
Herr Staatsminister, darf ich daraus dann die Schlußfolgerung ziehen, daß Herr Michailow offenbar nicht begriffen hat, was man ihm vorgelegt hat, und daß sein Bericht in der „Prawda" deswegen falsch war?
Ich habe eben nicht auf den Korrespondenten Bezug genommen, sondern auf die Redaktion. Sie wissen,
daß die Redaktionen souveräne Gebilde sind, was die Bearbeitung von Manuskripten betrifft.
Ich rufe die Frage 145 des Abgeordneten Reddemann auf:
Hatte Dr. Meyer-Landrut Weisung, den „Prawda"-Korrespondenten vorzeitig zu informieren oder gar zu konsultieren?
Ist die Frage mit Ihrer Antwort erledigt?
Ich glaube, die Beantwortung dieser Frage entfällt auf Grund des vorher Gesagten.
Dann kommen wir zur Frage 146 des Abgeordneten Wohlrabe:
Welche Staatsoberhäupter und Regierungschefs ausländischer Staaten haben seit Januar 1975 die Bundesrepublik Deutschland besucht bzw. werden ihr bis Dezember 1975 einen Besuch abstatten?
Bitte sehr!
Seit Januar 1975 haben in der Bundesrepublik Deutschland keine Staatsbesuche stattgefunden. Hingegen haben in diesem Zeitraum die Regierungschefs von Australien, Neuseeland und Kanada der Bundesrepublik Deutschland Besuche abgestattet.
Der Besuch des griechischen Ministerpräsidenten steht unmittelbar bevor. Der Besuch des belgischen Premierministers und der Besuch des israelischen Ministerpräsidenten sind in der Presse für Juni bzw. Juli 1975 bereits erwähnt worden. Mit einer Reihe von Staatsoberhäuptern und Regierungschefs schweben Verhandlungen.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, ich würde gerne wissen: Bei welchem dieser Arbeitsbesuche bzw. Staatsbesuche — das wird ja jeweils unterschiedlich gehandhabt — hat die Bundesregierung den betreffenden Besuchern angeboten, auch Berlin zu besuchen?
Herr Abgeordneter, das ist Ihre Frage 147. Vielleicht darf ich sie beantworten.
Ich rufe die Frage 147 des Herrn Abgeordneten Wohlrabe auf:
Welche dieser ausländischen Gäste haben im Rahmen ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland Berlin besucht, bzw. beabsichtigen, auf Vorschlag der Bundesregierung oder auf eigenen Wunsch, Berlin in ihr Besuchsprogramm einzubeziehen?
Bei den Reisen ausländischer Staats- und Regierungschefs in die Bundesrepublik Deutschland muß Art und Zweck des Besuches berücksichtigt werden. Die weit überwiegende Zahl hochrangiger ausländischer politischer Persönlichkeiten kommt zu bestimmten Arbeitskontakten mit der Bundesregierung. Daher ist der Aufenthalt in aller Regel auf Bonn beschränkt.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975 11895
Staatsminister MoerschAus dieser Tatsache erklärt sich, daß die drei in meiner vorhergehenden Antwort genannten Regierungschefs Berlin nicht besucht haben. Voraussagen für die restlichen 7 1/2 Monate dieses Jahres wären noch verfrüht. Die Haltung der Bundesregierung, die ich Ihnen bereits hier dargelegt habe, ist unverändert: Sie hält es für erwünscht, daß sich hochrangige ausländische Gäste bei offiziellen Besuchen in der Bundesrepublik Deutschland auch nach Berlin begeben. Sie begrüßt es daher, daß der Außenminister der Vereinigten Staaten am 21. Mai Berlin besuchen wird.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Wohlrabe.
Ist denn sichergestellt, Herr Staatsminister, daß allen Besuchern auch angeboten wird, Berlin zu besuchen?
Herr Abgeordneter, wir haben, wenn wir Besuche vorbereiten, folgende Methode: Der Besuch eines Bundeslandes oder mehrerer Bundesländer im Rahmen eines ausgedehnteren Besuchsprogrammes kommt im wesentlichen nur bei Staatsbesuchen und offiziellen Besuchen von Regierungschefs und Außenministern in Betracht. Bei der Programmgestaltung derartiger Besuche schlägt die Bundesregierung auch die Einbeziehung Berlins vor. Sie hat jedoch im Einzelfall den Wünschen des Gastes Rechnung zu tragen. Die Erfahrung hat gezeigt, daß bei den Besuchern eine Präferenz für Nordrhein-Westfalen, Hamburg und Bayern festzustellen ist.
Eine Zusatzfrage.
Das, Herr Staatsminister, hatten Sie schon früher beantwortet, denn dieses Thema war ja schon viermal Gegenstand der Erörterung gewesen.
Ich würde deshalb gern wissen, ob die Bundesregierung den zukünftigen Besuchern — ich denke z. B. an den israelischen Ministerpräsidenten Rabin — vorschlagen wird, Berlin zu besuchen, und ob bisher von den anderen Staatsbesuchern nur Wünsche der Art, wie Sie sie eben genannt haben, vornehmlich geäußert worden sind und nicht auch andere.
Herr Abgeordneter, ich habe mich bemüht klarzustellen — ich fürchte, es ist mißverstanden worden —, daß die Bundesregierung bei allen Besuchern Wert darauf legt, daß sie nicht nur sehr kurz und nicht nur zu Arbeitsbesuchen hier sind und daß sie ein Besuchsprogramm absolvieren. Dabei schlagen wir jeweils Berlin vor.
Herr Abgeordneter Schulze-Vorberg.
Herr Staatsminister, gehört zu den zu erwartenden Staatsbesuchen, von denen Sie in Ihrer ersten Antwort sprachen, auch der Besuch des amerikanischen Präsidenten, der ja in der nächsten Woche in Europa erwartet wird?
Herr Abgeordneter, mir ist nicht bekannt, daß der amerikanische Präsident die Absicht hat, die Bundesrepublik Deutschland zu besuchen. Er wird nach offiziellen Ankündigungen Brüssel besuchen. Sollte sich eine Änderung ergeben, wird es die Öffentlichkeit rechtzeitig erfahren.
Herr Abgeordneter Jäger .
Herr Staatsminister, davon ausgehend, daß die Bundesregierung jeweils auch einen Besuch in West-Berlin anbietet oder vorschlägt: Läßt die Bundesregierung ihren ausländischen Besuchern gegenüber erkennen, daß sie entscheidenden politischen Wert darauf legt, daß dieser Besuch in Berlin auch stattfindet und daß ein solcher Besuch den Interessen der Bundesrepublik Deutschland und Berlins dienen kann?
Herr Abgeordneter, da es sich um politische Besucher handelt, werden politische Fragen mit politischem Hintergrund erörtert. Das gilt ganz generell.
— Aber sicher!
Herr Staatsminister, ich danke Ihnen für Ihre Ausdauer.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Es steht Herr Staatssekretär Rohr zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 53 des Herrn Abgeordneten Kiechle auf:
Treffen Pressemeldungen zu, wonach durch eine inzwischen den Ressorts zugeleitete Richtlinie des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten eine Kürzung der Getreidefrachthilfe von bisher 25 % auf 15 % ab 1. Mai 1975 vorgesehen ist, und aus welchen Gründen und mit welchen Konsequenzen erfolgt dies?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, die Frachthilfe für Getreide wird ab 1. Juni 1975 — also nicht ab 1. Mai — geändert. Es ist zutreffend, daß dabei der Subventionssatz auf 15 vom Hundert der Fracht ermäßigt wird. Die neuen Sätze sollen für den Rest des Getreidewirtschaftsjahres 1974/75 und für das gesamte Getreidewirtschaftsjahr 1975/76 in Kraft bleiben.
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11896 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Staatssekretär RohrDer Haushaltsansatz für die Frachthilfe hat sich seit ihrer Einführung im Jahre 1962 bis heute fast verdoppelt. Um die für 1975 und voraussichtlich 1976 bereitgestellten Mittel in Höhe von 40 Millionen DM nicht zu überschreiten, war eine Anpassung erforderlich. Sie ist auch gegenüber den Erzeugern vertretbar, da diese durch die Interventionspreise abgesichert sind.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kiechle.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mir zu, daß durch die Senkung der Frachtbeihilfe ein Teil dieser Erzeugerpreiserhöhung wieder weggenommen wird?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich kann Ihnen in dieser Frage nicht zustimmen. Ich hatte ausgeführt, daß die Erzeuger durch die Interventionspreise abgesichert sind. Im übrigen haben sich — darauf möchte ich auch hinweisen — seit Einführung der Frachthilfe einige Dinge geändert. Z. B. gibt es jetzt einheitliche Interventionspreise für Gerste und Roggen, die es früher nicht gab.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kiechle.
Herr Staatssekretär, wenn Sie schon keinen Zusammenhang hinsichtlich des Nettoerlöses der Erzeuger durch diese Maßnahme, bezogen einerseits auf Preiserhöhungen, andererseits auf Abzug bei der Frachtbeihilfe, sehen, frage ich Sie, ob sich nicht dadurch, daß die Getreidefrachten steigen und die Beihilfen, bezogen auf den einzelnen Doppelzentner oder die Tonne, sinken, ein kumulierender Effekt zu Lasten der deutschen Landwirtschaft ergeben muß.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich muß darauf hinweisen, daß die Frachthilfe seinerzeit bei ihrer Einführung an der Hälfte der Frachten orientiert war. Dementsprechend war auch die Regionalisierung ausgerichtet. Dies war aber in späterer Zeit nicht mehr der Fall, sondern bei der Regionalisierung ist auf das Frachtgefälle keine Rücksicht mehr genommen worden. Auch von daher gesehen glaube ich, daß sich keine Auswirkungen ergeben werden.
Wir kommen zur Frage 54 des Abgeordneten Freiherr von KühlmannStumm:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Auswirkungen der Nichtvermarktungsprämie für Rinder auf Erzeuger und Verbraucher?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, die Bundesregierung beurteilt die bisherigen Auswirkungen der Erzeugerprämie für Schlachtrinder auf Erzeuger und Verbraucher positiv, und das aus drei Gründen.
Erstens. Da Prämie und Intervention sich gegenseitig ausschließen, sind die Interventionsangebote erheblich zurückgegangen.
Zweitens. Die Marktpreise haben — allerdings auch im Zusammenhang mit anderen Faktoren — ein Niveau erreicht, das dem Erzeuger einschließlich der Prämie zu einem Erlös verhilft, der zur Zeit über dem Interventionspreis liegt.
Drittens. Die Prämie ist schließlich eine verbraucherpreisneutrale Maßnahme zur Stützung der Erzeugererlöse.
Herr Staatssekretär, können Sie angeben, in welcher Höhe beispielsweise in den Niederlanden und in Belgien, umgerechnet in D-Mark, derartige Prämien gezahlt wurden, und sind Sie nicht der Ansicht, daß aus der unterschiedlichen Höhe der Prämien Wettbewerbsnachteile für die deutsche Landwirtschaft entstehen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, da die Prämien in allen Ländern unterschiedlich sind, bin ich im Augenblick nicht in der Lage, Ihnen für alle Länder die genauen Höhen zu sagen. Ich will Ihnen dies gerne schriftlich nachreichen. Ich darf darauf hinweisen, daß es einige Länder gibt, z. B. Frankreich und Italien, die gar keine Prämie zahlen. Die Bundesregierung ist bei den Verhandlungen immer der Ansicht gewesen, daß die unterschiedlichen Beihilfen letztlich zu Wettbewerbsverzerrungen führen können. Sie hat deswegen die Kommission gebeten, den Warenverkehr genau im Auge zu behalten und zu berichten, falls sich Anzeichen für eine Wettbewerbsverzerrung ergeben.
Eine zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist es eigentlich gelungen, die im Herbst 1974 angelaufenen Überschüsse an Rindfleisch in Höhe von ca. 200 000 t, die in EWG-Kühlhäusern lagern, abzubauen, und befürchten Sie nicht, daß durch den Angebotsstoß und eine schrittweise Aufhebung des allgemeinen Einfuhrverbots der EWG für Rindfleisch die Rindfleischpreise erneut zum Nachteil der deutschen Landwirtschaft stark nach unten tendieren werden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, es ist im Augenblick so, daß die Bestände in den Interventionslägern zwar verringert, aber nicht vollständig abgebaut sind. Die Bundesregierung ist der Ansicht, daß sich die EWG aus handelspolitischen Gründen eine Fortführung des Importstopps nicht leisten kann. Sie hat es daher begrüßt, daß
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975 11897
Staatssekretär Rohreine schrittweise Lockerung in Aussicht genommen ist. Sie sieht darin keine Gefahren für die Erzeugerpreiserlöse.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Eigen.
Herr Staatssekretär, müssen Sie nicht bei Ihrer Antwort beachten, daß der Bundesminister im Ministerrat der Möglichkeit unterschiedlicher Bezuschussung für Rindfleisch zugestimmt hat?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe nicht bestritten, Herr Abgeordneter, daß die Bundesregierung zugestimmt hat. Ich habe darauf hingewiesen, daß sie Sorge hatte, daß sich aus der unterschiedlichen Prämienhöhe Gefahren für den Marktablauf ergeben können. Deswegen hat sie die Kommission um sorgfältige Untersuchung dieses Fragenkreises und Beobachtung des Marktes gebeten.
Ich rufe die Frage 55 des Abgeordneten Freiherr von Kühlmann-Stumm auf:
Aus welchem Grund ist anläßlich der letzten Agrarministerverhandlung in Brüssel die vorgeschlagene Erhöhung der Beteiligung des Agrarfonds am europäischen Bergbauernprogramm an dem Widerstand der Bundesregierung gescheitert?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, die Erhöhung der Beteiligung des EG-Agrarfonds an der Ausgleichszulage des europäischen Bergbauernprogramms ist nicht allein am Widerstand der Bundesregierung gescheitert. Lediglich Frankreich, Großbritannien, Irland und Italien hatten eine höhere Beteiligung gefordert, während sich die übrigen Mitgliedstaaten für einen Erstattungssatz in Höhe von 25 % aussprachen.
Die Bundesregierung hält es für richtig, daß die Eigenbeteiligung und damit die Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten möglichst hoch bleibt, weil ihr dies für eine angemessene Anwendung des neuen Programms erforderlich erscheint.
Außerdem waren die Zuschüsse der Gemeinschaft so zu bemessen, daß der Plafonds eingehalten wird, der für den Strukturteil des Agrarfonds festgelegt ist. Daran hat die Bundesregierung als Nettozahler verständlicherweise ein besonderes Interesse. Auch deswegen ist sie für einen Erstattungssatz von 25 % eingetreten.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Freiherr von Kühlmann-Stumm.
Herr Staatssekretär, ist es richtig, daß Bundesländer — ich denke dabei an Hessen im Jahre 1972 — Bundesmittel für Gemeinschaftsaufgaben zur Förderung der Agrarstruktur in der Vergangenheit nicht in Anspruch genommen haben, da sie nicht bereit waren, die entsprechenden Komplementärmittel zur Verfügung zu stellen? Und besteht nicht die Gefahr, daß
auf Grund der leeren Kassen dies beim Bergbauernprogramm ebenfalls geschieht?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, der erste Teil Ihrer Frage, der sich auf die Gemeinschaftsaufgabe bezieht, hat, was die Zahlen betrifft, keinen Zusammenhang mit der Frage, die Sie gestellt haben. Wenn Sie dieser Sache genau nachgehen wollen, bin ich bereit, Ihnen die Unterlagen dafür zu geben.
Was den zweiten Teil der Frage betrifft, so ist nach der Angabe der Bundesländer nicht zu befürchten, daß sie keine Komplementärmittel zur Verfügung stellen können.
Keine Zusatzfrage mehr.
Ich rufe die Frage 56 des Abgeordneten Stahl auf:
Welche Anzahl von Landwirten hat von der Möglichkeit, Landabgaberente zu beziehen, Gebrauch gemacht, und wie ist das Verhältnis von Antragstellern zu bisherigen positiven Bescheidungen?
Herr Staatssekretär, bitte!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident, darf ich die beiden Fragen 56 und 57 im Zusammenhang beantworten?
Bitte sehr! Entsprechend rufe ich auch die Frage 57 des Abgeordneten Stahl auf:
Welche Betriebsflächengröße haben die im Rahmen der Landabgaberente übertragenen Betriebe bzw. Landflächen, und von welchen Betriebsgrößen werden sie übernommen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bis Ende 1974 gingen bei den landwirtschaftlichen Alterskassen 45 780 Anträge auf Landabgaberente ein. Hiervon sind 33 236 — das sind rund 73 % — bewilligt worden. 7 598 Anträge — das sind rund 17 % — mußten abgelehnt werden. 3 071 Anträge waren am Jahresende noch nicht entschieden. Die restlichen 1 875 Anträge wurden auf sonstige Weise erledigt, z. B. durch Zurücknahme des Antrags.
19 198 abgebende Betriebe haben eine Größe bis zu 10 ha, 11 658 eine Größe über 10 ha. 11 700 aufnehmende Betriebe haben eine Größe bis zu 10 ha und 35 511 Betriebe eine Größe über 10 ha.
Die abgebenden Gartenbau- und Sonderkulturbetriebe sowie die Pachtbetriebe bzw. -flächen sind hierin nicht enthalten, weil sie nicht nach Größenklassen ausgewiesen sind.
Bis Ende 1974 wurden insgesamt 32 430 Betriebe mit zusammen 283 000 ha LN abgegeben. Ich wäre bereit, Ihnen zu dieser Frage eine ins einzelne gehende Aufstellung zu übergeben.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Stahl.
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11898 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Herr Staatssekretär, könnten Sie etwas über die Höhe der Zahlungen an Landabgaberente pro Fall sagen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich kann Ihnen über die Höhe pro abgebenden Betrieb, soweit Sie das auf die Gesamtlaufzeit beziehen, keine Angaben machen. Dies ist auch außerordentlich schwer, da das von verschiedenen Kriterien des Einzelfalles abhängt.
Zu einer zweiten Zusatzfrage Herr Abgeordneter Stahl.
Herr Staatssekretär, fallen unter die Regelung der Landabgaberente auch solche Betriebe, die langfristig bzw. schon mehrere Generationen in Pacht waren?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Unter die Landabgaberente fallen grundsätzlich nur Betriebe, die im Eigentum stehen, Herr Abgeordneter. Unter gewissen Bedingungen können jedoch auch Pächter Landabgaberente erhalten.
Herr Abgeordneter Stahl!
Ist diese Regelung für einen beschränkten Personenkreis, Herr Staatssekretär, der schon fast in mehreren Generationen derartige Höfe gepachtet hat, nicht eine unbillige Härte?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, man wird einen Abgabetatbestand nicht daran binden können, daß der Pächter bereit ist, Land abzugeben, sondern die Verfügungsgewalt steht dem Eigentümer zu, und nur an dessen Willensrichtung kann man sich beim Abgabetatbestand binden. Das Gesetz hat daher besondere Vorschriften für den Fall der Abgabe durch einen Pächter vorgesehen.
Eine Zusatzfrage hat der Herr Abgeordnete Horstmeier.
Herr Staatssekretär, können Sie die Hauptgründe für die Ablehnung der Anträge nennen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Hauptgründe für die Ablehnung kann ich Ihnen, Herr Abgeordneter, nicht nennen. Es ist auch dieses eine Sache, die bei uns statistisch nicht erfaßt ist. Ich darf sagen, daß ein Teil der Anträge zurückgenommen worden ist und ein Teil der Anträge abgelehnt werden mußte, weil sie die Voraussetzungen nicht
erfüllt haben. Es gibt aber keine statistische Erfassung im einzelnen.
Keine Zusatzfrage mehr? Dann rufe ich die Frage 58 des Herrn Abgeordneten Eigen auf:
Auf welche Weise will die Bundesregierung die deutsche Landwirtschaft vor Wettbewerbsverzerrungen schützen, die durch eine günstige Erntefinanzierung in Frankreich und anderen Ländern der Europäischen Gemeinschaft entstehen können?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich besteht zur Zeit keine Wettbewerbsverzerrung bei der Erntefinanzierung zu Lasten der deutschen Landwirtschaft. Nach dem letzten Monatsbericht der Deutschen Bundesbank betrug der Zinssatz für Wechselkredite im März 1975 durchschnittlich 7,69 %. Seitdem ist der Zinssatz weiter stark zurückgegangen; er liegt zur Zeit teilweise nur noch wenig über dem Diskontsatz der Deutschen Bundesbank von 5 %. Mit einem Anhalten dieser relativ günstigen Situation ist zu rechnen. Es besteht deshalb für die Bundesregierung zur Zeit keine Veranlassung, zusätzliche Maßnahmen zur Finanzierung der Ernte 1975 zu ergreifen.
Im übrigen sind im Getreidewirtschaftsjahr 1975/ 76 durch die rund 25%ige Erhöhung der Monatszuschläge für Getreide die tatsächlichen Lager- und Finanzierungskosten in der Bundesrepublik größtenteils abgegolten. Für diese Erhöhung hatte sich die Bundesregierung nachdrücklich eingesetzt.
Keine Zusatzfrage.
Dann rufe ich die Frage 59 des Herrn Abgeordneten Eigen auf:
Aus welchen Gründen vermindert die Bundesregierung die Zuschüsse für Seminare der Landjugend, obgleich ihr bekannt ist, wie schwierig wirkungsvolle Landjugendarbeit ist?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, die Förderung der Landjugendarbeit muß sich nach den verfassungsrechtlichen Bestimmungen auf bundeszentrale Informationsveranstaltungen mit agrar-, ernährungs- und forstpolitischer Zielsetzung beschränken. Für diesen Zweck sind den vier Landjugendorganisationen in den letzten Jahren folgende Beträge bewilligt worden: 1973: 600 000 DM; 1974: 650 000 DM. Verwendet wurden jedoch im Jahre 1973 nur 450 000 DM und im Jahre 1974 nur 490 000 DM. Wegen dieser Soll-Ist-Differenz wurde in den Haushaltsberatungen für 1975 der Titelansatz gekürzt. 1975 werden den Landjugendorganisationen 570 000 DM zur Verfügung stehen.
Eine Verminderung der Zuschüsse für Seminare, auf denen das Schwergewicht der Arbeit liegen sollte, braucht dadurch jedoch nicht einzutreten. Geringfügige Einschränkungen sind erforderlich bei der Förderung von Lehrfahrten in EG- und EFTA-Länder sowie in Staaten des Ostblocks. Dies wird angesichts der Haushaltslage für vertretbar gehalten.
Eine Zusatzfrage? — Bitte sehr, Herr Abgeordneter Eigen!
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975 11899
Herr Staatssekretär, ist die Antragstellung für die Landjugend, das Geld zu erlangen, nicht so kompliziert gemacht, daß die Gelder aus diesem Grunde nicht alle verbraucht worden sind?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich habe nicht den Eindruck. Die Antragstellung ist entsprechend den haushaltsrechtlichen Vorschriften ausgestaltet. Ich habe bis jetzt keine Beanstandung gehört, daß sie zu schwierig sei.
Eine Zusatzfrage hat der Herr Abgeordnete Immer.
Herr Staatssekretär, kann man aus dem in Ihrer Antwort angegebenen Rückgang der angeforderten Mittel schließen, daß auch stärker Mittel der Bundesländer für diese Seminare in Anspruch genommen werden können?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich habe vorhin schon darauf hingewiesen, daß der Bund nach der verfassungsrechtlichen Lage nur bundeszentrale Veranstaltungen fördern kann. Dies war früher anders. Früher hatte der Bund auch regionale Veranstaltungen gefördert; davon hat sich der Bund zurückziehen müssen. Ich gehe davon aus, daß die Länder ihre Zuständigkeit wahrnehmen und diese Angelegenheiten fördern.
Eine Zusatzfrage hat der Herr Abgeordnete Horstmeier.
Herr Staatssekretär, können Sie sagen, welche Länder diese Aufgaben nach dem Karlsruher Urteil übernommen haben?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, alle Länder sind nach unserer Verfassung für diese Aufgaben zuständig. Der Bund hat die Länder mehrfach auf die Rechtslage hingewiesen und sie, gerade weil die Organisationen an ihn herangetreten sind, gebeten, von ihrer Kompetenz auch Gebrauch zu machen. Ich kann nicht im einzelnen sagen, wie die Länder im Rahmen ihrer Zuständigkeit verfahren.
Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Buschfort zur Verfügung.
Die Frage 60 des Herrn Abgeordneten Ziegler wird auf seinen Wunsch schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Fragen 61 und 62 werden ebenfalls schriftlich beantwortet, da der Fragesteller, der Herr Abgeordnete Scheffler nicht im Saal ist. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Die Fragen 75 und 76 der Frau Abgeordneten Schleicher werden auf ihren Wunsch ebenfalls schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 77 des Herrn Abgeordneten Niegel auf:
Wie stellt die Bundesregierung sicher, daß die monatlichen Arbeitsmarktdaten wie bisher vollständig aufbereitet und sachverständig interpretiert vom Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit veröffentlicht werden, und wie rechtfertigt die Bundesregierung, daß die Daten für die Monate März und April seitens der Bundesregierung vorzeitig sowie unvollständig und in einseitiger Auswahl an die Öffentlichkheit gelangten?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär!
Herr Kollege Niegel, an der Praxis, daß der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit die monatlichen Arbeitsmarktdaten aufbereitet, veröffentlicht und interpretiert, hat sich in der letzten Zeit nichts geändert. Die Bundesregierung hat Arbeitsmarktdaten nur auf entsprechende Fragen von Journalisten bestätigt.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Niegel.
Herr Staatssekretär, können Sie mir bestätigen, daß der Pressereferent Ihres Hauses, Herr Dr. Hillebrand, am 2. Mai 1975, genau zwei Tage vor den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen und im Saarland, bei den drei Agenturen Deutsche Presseagentur, DDD und AP angerufen hat und darauf hinwies, daß die Zahl der Arbeitslosen im April um 27 000 auf 1 080 000 gesunken und die Arbeitslosenquote von 4,9 auf 4,7 % zurückgegangen sei, daß er auf die ausdrückliche Frage der dortigen Journalisten nach der Entwicklung der Kurzarbeit erklärt hat, das sei ihm nicht bekannt, und daß er — der Anrufer — ausdrücklich bat, als Quelle nicht das Bundesarbeitsministerium bekanntzugeben, daß er jedoch erklärte, die Zahlen seien absolut zuverlässig?
Diese Angaben kann ich nicht bestätigen. Ich kann Ihnen nur bestätigen, daß wir auf entsprechende Anrufe von Journalisten geantwortet haben.
Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Niegel.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, Nachforschungen dieser Art auf Grund meiner vorigen Frage in Ihrem Hause anstellen zu lassen, damit Sie nicht Gefahr laufen, diesem Parlament in Unkenntnis dessen, was in Ihrem Hause vorgeht, die Unwahrheit gesagt zu haben?
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11900 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Ich bin zu einer Überprüfung bereit.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Müller-Hermann.
Herr Staatssekretär, trifft es zu und können Sie es notfalls prüfen lassen, daß Journalisten am Freitag vor den Wahlen in Nordrhein-Westfalen und im Saarland animiert worden sind, bei der Pressestelle Ihres Hauses Erkundigungen über die neuesten Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt einzuziehen, daß drei Auskünfte erteilt worden sind — Reduzierung der Arbeitslosenzahl auf etwas über eine Million, Rückgang der Arbeitslosenquote um 0,2 %, Anstieg der Zahl der offenen Stellen — und daß auf konkrete Fragen, wie es mit der Arbeitslosenentwicklung in Nordrhein-Westfalen und mit den Kurzarbeiterzahlen aussehe, gesagt wurde „Darüber liegt uns Zahlenmaterial nicht vor", obwohl am selben Tag, also am 2. Mai, bei der Sitzung des Planungsausschusses für Gemeinschaftsaufgaben alle diese Angaben auch die regionale Aufgliederung — vorgelegen haben? Trifft es zu, daß Agenturen — ich muß sagen: unter Außerachtlassung der notwendigen Sorgfaltspflicht — mit diesen Zahlen dazu beigetragen haben, die Öffentlichkeit zu täuschen, wenn nicht zu belügen?
Herr Kollege Müller-Hermann, ich kann Ihnen nicht bestätigen, daß die Öffentlichkeit getäuscht wurde; denn hätten wir Wert darauf gelegt, diese Kurzarbeiterzahlen zu veröffentlichen, die in der Tat für Nordrhein-Westfalen günstig gewesen wären, hätten wir dies sicherlich getan.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Lutz.
Herr Staatssekretär, könnten Sie bestätigen, daß just am 2. Mai der CDU die Kurzarbeiterzahlen sehr bekanntgewesen sein müssen, weil Professor Biedenkopf sehr detaillierte und sehr präzise Kenntnisse an diesem Tage offenbarte?
Ich schließe daraus, Herr Kollege, daß die Opposition offenbar gut informiert gewesen ist. Ich kann hier aber nicht unterstellen, daß sie andere Informationen hatte als die Bundesregierung.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Breidbach.
Herr Staatssekretär, wären Sie auch bereit zu prüfen, ob es stimmt, daß aus der
Presseabteilung Ihres Hauses vorher Journalisten gebeten worden sind, gezielt die Fragen zu stellen, die notwendig waren, um ein Bild von der tatsächlichen Lage zu zeigen, das eindeutig auf eine Wahlkampfunterstützung von SPD und FDP in NordrheinWestfalen hinauslief?
Herr Kollege Breidbach, ich habe die gleiche Frage vor wenigen Minuten beantwortet.
Die Frage 80 des Abgeordneten Höcherl wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich komme zur Frage 81 des Abgeordneten Dr. Sprung:
Waren dem Herrn Bundeskanzler die Zahlen über die Entwicklung am Arbeitsmarkt im April mit 1 087 100 Arbeitslosen und 899 600 Kurzarbeitern sowie die Abnahme der Auftragseingänge im März, die um 12,2 % unter den entsprechenden Vorjahreswerten lagen, bekannt, als er am 1. Mai in einem Interview mit der NRZ erklärte: „Es geht jetzt ganz eindeutig aufwärts, die aufwärtsgerichteten Zeichen mehren sich . . . Der Tiefstpunkt der Konjunktur ist durchschritten. Von nun an geht es in der Bundesrepublik aufwärts. Ich bleibe also bei meiner Frühsommerprognose.", und wie läßt sich diese Äußerung mit den oben angeführten Realitäten vereinbaren?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär!
Der Herr Bundeskanzler und auch andere Mitglieder der Bundesregierung haben immer wieder zum Ausdruck gebracht, daß sich im Zuge des erwarteten und durch die konjunkturwirksamen Maßnahmen von Bundesregierung und Bundesbank eingeleiteten wirtschaftlichen Wiederaufschwungs im Laufe des Jahres 1975 auch die Arbeitslosenzahlen merklich verringern werden. Wenn auch die Arbeitsmarktentwicklung im vergangenen Monat nicht ganz den Erwartungen entsprach, so ist doch die Arbeitslosigkeit weiter zurückgegangen. Zu berücksichtigen bleibt, daß der Arbeitsmarkt auf eine wirtschaftliche Erholung mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung reagiert.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, den zweiten Teil der Frage haben Sie nicht beantwortet, nämlich die Frage nach der Statistik über die Auftragseingänge. Trifft es zu, daß der Bundeswirtschaftsminister jeweils die Sperrfrist für die Freigabe der monatlichen Daten über die Auftragseingänge festlegt, und welche Gründe haben den Bundeswirtschaftsminister dazu bewogen, die Sperrfrist für die Daten über die Auftragseingänge im März auf den 6. Mai 1975 zu legen, also auf den Tag nach den Wahlen in Nordrhein-Westfalen und im Saarland?
Herr Kollege Sprung, ich kann Ihnen diese Frage nicht beant-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975 11901
Parl. Staatssekretär Buschfortworten. Sie hatten mir die Frage gestellt, ob dem Herrn Bundeskanzler etwas über Daten bekannt gewesen ist. Welche Informationen der Wirtschaftsminister hat, kann ich Ihnen nicht sagen; dann müssen Sie diese Frage an den Wirtschaftsminister richten.
Vielleicht kann die Frage auch schriftlich beantwortet werden, um ein Einvernehmen herzustellen. — Bitte sehr!
Herr Staatssekretär, trotzdem noch einmal: Der zweite Teil der Frage, der nämlich lautete, ob dem Herrn Bundeskanzler auch die Statistiken über die Auftragseingänge bekannt gewesen seien, ist nicht beantwortet worden.
Herr Kollege, diese Frage kann ich gern beantworten. Der Herr Bundeskanzler kannte einige Grunddaten der Arbeitsmarktsituation im April, nicht jedoch die Entwicklung der Auftragseingänge. Die volle Kenntnis dieser Daten hätte an seinen Erwartungen bezüglich der Entwicklung im Jahre 1975 nichts geändert.
Herr Abgeordneter Zeitel.
Herr Staatssekretär, halten Sie es für richtig, daß bei den bekannten Zahlen über den Rückgang der Arbeitslosigkeit bei einer gleichzeitig um das Mehrfache höheren Zahl der Kurzarbeiter der Bevölkerung gesagt wurde, die Arbeitsmarktlage habe sich verbessert?
Herr Kollege, ich bin sehr wohl der Auffassung, daß man dazu Veranlassung hatte. Denn Sie wissen so gut wie ich, daß sich die Zunahme der Kurzarbeit speziell auf ein Land bezogen hat, daß wir aber im übrigen in anderen Bereichen Rückgänge sowohl der Zahl der Kurzarbeiter als auch in der Arbeitslosenquote hatten. Wenn Sie nun glauben, man könne die Entwicklung im Landesarbeitsamtsbezirk Niedersachsen/Bremen jetzt in bezug auf VW so dramatisieren, ist das Ihre Sache. Wir müssen nur feststellen, daß die Entwicklung in diesen zwei Ländern die Zahlen so verändert hat.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Müller-Hermann.
Herr Staatssekretär, wollen Sie dann wenigstens wahrheitsgemäß bestätigen, daß die Arbeitslosenquote, wenn man sie von den saisonalen Einflüssen befreit, im Monat April kräftig angestiegen ist?
Herr Kollege
Müller-Hermann, wir werden Fragen natürlich immer wahrheitsgemäß beantworten. Nur wissen Sie so gut wie ich, daß Konjunkturmaßnahmen immer verzögert auf die einzelnen Bereiche des Arbeitsmarktes wirken. Deshalb sollten Sie jetzt nicht mit den saisonbereinigten Zahlen argumentieren.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Becker.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mit mir darin überein, daß die saisonbereinigte Arbeitslosenquote von März auf April von 3,9 auf 4,6 °/° gestiegen ist, d. h. — saisonbereinigt — von 898 000 auf 1 062 000?
Herr Kollege, ich darf wiederholen, daß damit auf eine andere Art der Berechnung abgestellt würde. Der nächste Kollege wird dann möglicherweise sagen: Wie ist es eigentlich mit dem internationalen Vergleich? Darüber hinaus vermag ich einen Zusammenhang Ihrer Frage mit der, die wir im Moment beantworten, nicht zu erkennen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Ehrenberg.
Herr Staatssekretär, würden Sie mir bestätigen, daß es sehr unterschiedliche Methoden der Saisonbereinigung gibt, alle gleich unzuverlässig, und würden Sie mir darüber hinaus bestätigen, daß, saisonmäßig betrachtet, Weihnachten in diesem Jahr zu Ostern stattfand?
Herr Kollege, ich habe bereits darauf hingewiesen, daß wir unterschiedliche Berechnungsmethoden kennen. Offenbar wird immer gerade die Methode genommen, die aus der jeweiligen politischen Richtung heraus am günstigsten erscheint.
Im übrigen, Herr Abgeordneter Dr. Ehrenberg, meine ich, daß nicht Weihnachten zu Ostern, soridern Ostern zu Weihnachten stattgefunden hat.
Ich komme zur Frage 82 des Abgeordneten Horstmeier:
Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um die sozialrechtliche Gleichbehandlung von Waisen von landwirtschaftlichen Unternehmern herzustellen, die keinen Anspruch auf Familienhilfe nach dem KVLG mehr haben, jedoch die Voraussetzungen für den Bezug von Waisengeld nach dem 18. RAG erfüllen?
Herr Kollege Horstmeier, die Bundesregierung hat bereits die Prüfung der Frage eingeleitet, ob auch Waisen von landwirtschaftlichen Unternehmern, denen Anspruch
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11902 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Parl. Staatssekretär Buschfortauf Waisengeld eingeräumt wird, in der Krankenversicherung der Landwirte pflichtversichert werden sollten. Diese Prüfung, die in erster Linie finanzielle Probleme aufwirft, ist noch nicht abgeschlossen. Ich bitte daher um Verständnis, wenn ich Ihre Frage nicht abschließend beantworten kann.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Horstmeier. Bitte!
Herr Staatssekretär, wird man bei den Überlegungen auch die Möglichkeit einbeziehen, schon jetzt eingetretene Tatbestände rückwirkend zu regeln?
Herr Kollege Horstmeier, das muß man sicherlich prüfen. Es kommt auch darauf an, welche gesetzliche Regelung der Bundestag hier — wenn überhaupt — treffen wird.
Ich komme dann zu der Frage 83 des Abgeordneten Russe. — Herr Russe ist nicht im Saal; die Frage wird schriftlich beantwortet, ebenso die Frage 84. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich komme zur Frage 85 des Abgeordneten Dr. Müller-Hermann:
Welche Gründe haben den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung veranlaßt, von der bisher geübten Praxis, die Zahlen über die Entwicklung am Arbeitsmarkt durch den Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg bekanntzugeben, bei den Zahlen für den Monat April abzuweichen und einen Teil dieser Daten selbst zu veröffentlichen?
Herr Kollege, an der Praxis, daß der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit die monatlichen Ergebnisse in bezug auf die Arbeitsmarktdaten aufbereitet, veröffentlicht und interpretiert, hat sich auch im letzten Monat nichts geändert. Die Bundesanstalt für Arbeit ist allerdings verpflichtet, die Arbeitsmarktdaten dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung vorzulegen, der nach dem Arbeitsförderungsgesetz auch Art und Umfang der Statistiken sowie der Berichterstattung bestimmen kann.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Müller-Hermann.
Herr Staatssekretär, hat es in diesem Fall mit dem Präsidenten der Bundesanstalt eine dahin gehende Abstimmung gegeben, daß er schwieg und Sie vor den Wahlen die Ihnen positiv erscheinenden Zahlen — unter Verschweigung der negativen Zahlen — veröffentlichten?
Mir ist eine solche Abstimmung nicht bekannt. Darüber hinaus möchte ich noch einmal darauf aufmerksam machen, daß der Präsident der Bundesanstalt — wie in jedem
Monat — seine Zahlen veröffentlicht hat und die Bundesregierung derartige Pressemitteilungen nicht herausgegeben hat.
Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Müller-Hermann.
Herr Staatssekretär, glauben Sie, daß die Glaubwürdigkeit der Bundesregierung zunimmt, wenn sie die Öffentlichkeit mit einer derartigen Manipulation von Daten offensichtlich zu täuschen versucht,
indem sie der Öffentlichkeit positive Entwicklungen mitteilt und mit den sehr viel ernster zu nehmenden negativen Entwicklungen hinter dem Berge hält?
Herr Kollege Müller-Hermann, zunächst einmal weise ich den Vorwurf der Manipulation zurück.
Im übrigen will ich Ihnen aber gern bestätigen, daß es sicherlich angenehmer ist, positive Daten zu veröffentlichen, zumal wenn man nach diesen gefragt worden ist.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Breidbach.
Herr Staatssekretär, wenn sich an der Praxis der Veröffentlichung der Zahlen der Arbeitsmarktstatistik nach Ihrer Interpretation nichts geändert hat: Aus welchem Grund hat dann der zuständige Pressereferent in Ihrem Hause die anrufenden Journalisten nicht richtigerweise an die Bundesanstalt für Arbeit verwiesen, denn dort wären doch in der Tat die authentischen Zahlen zu erhalten gewesen?
Herr Kollege Breidbach, ich habe vorhin darauf hingewiesen, daß auch das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung berechtigt ist, solche Daten zu veröffentlichen. Wir werden auch zukünftig, wenn wir gefragt werden und Informationsmaterial haben, Fragen von Journalisten entsprechend beantworten.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Zeitel.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß die Methode der saisonalen Bereinigung von den Vertretern der Regierungskoalition in der Wirtschaftsdebatte hier im Hause in der Argumentation verwandt worden ist, so daß sie doch nicht so behandelt werden kann, wie Sie das tun?
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975 11903
Herr Kollege, ich weiß nicht, welcher Zusammenhang hier mit der Frage des Kollegen Müller-Hermann bestehen soll. Ich weiß auch nicht, ob Sie sich die Ausgangsfrage einmal angesehen haben.
Eine zweite Zusatzfrage steht Ihnen nicht zu. Herr Abgeordneter Dr. Arndt!
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Meinung, daß es in höchstem Maße unwahrscheinlich ist, daß — wie hier eben gesagt wurde — der Herr Präsident der Bundesanstalt für Arbeit sich aus Wahlkampfgründen auf eine Absprache mit der Bundesregierung über die Manipulation von Zahlen eingelassen hat, da dieser Herr ja, wie man aus der langjährigen Mitgliedschaft in diesem Hause weiß, Mitglied der CDU ist?
Herr Kollege Arndt, ich möchte dazu noch einmal ausdrücklich folgendes sagen. Wir haben an den uns vorliegenden Zahlen nichts verändert. Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit hat im übrigen die Daten zu dem bisher schon üblichen Zeitpunkt bekanntgegeben. Auch daran ist nichts geändert worden. Es hat auch keine entsprechenden Absprachen gegeben.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Kratz.
Herr Staatssekretär, kann man aus Ihrer Antwort schließen, daß Herr Professor Biedenkopf, der ja — ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Beantwortung der Frage meines Kollegen Lutz — auch Zahlen bekanntgegeben hat, diese Zahlen eventuell durch Indiskretionen irgendeiner Stelle erhalten hat?
Herr Kollege, das ist nichts Neues.
Wir stellen seit vielen Monaten fest, daß, bevor der Präsident der Bundesanstalt seine Daten veröffentlicht, immer wieder Zeitungsmeldungen — jeweils aus München oder Nürnberg — erscheinen.
- Ich kann Ihnen, wenn Sie es gerne möchten, im einzelnen belegen, unter welchem Datum welche Zeitungen jeweils vorab Veröffentlichungen vorgenommen haben.
Freilich besteht offenbar ein Unterschied. Als die Zahlen damals für die Regierungskoalition ungünstig waren, hat es keiner kritisiert, daß vorab veröffentlicht wurde. Jetzt, da die Zahlen günstig sind,
kritisiert man und gestaltet die Fragestunde so, wie wir es heute erleben.
Herr Abgeordneter Jäger .
Herr Staatssekretär, muß ich aus Ihrer Antwort auf die Frage des Kollegen Breidbach entnehmen, daß die Bundesregierung ihr Recht auf Information anfragender Journalisten auch in Zukunft so ausüben wird, wie das im letzten Fall geschehen ist, nämlich unvollständig und dadurch irreführend?
Herr Kollege, wir werden die Fragen, die uns gestellt werden, beantworten.
Herr Abgeordneter Gerster.
Herr Staatssekretär, wenn Sie die Manipulationsabsicht bei der Vorveröffentlichung der Arbeitslosenzahlen bestreiten: Wären Sie bereit, diesem Hohen Hause die sachlichen Kriterien zu nennen, die dazu geführt haben, daß der relative Rückgang der Arbeitslosenzahlen vorveröffentlicht wurde, die Zahl über den steigenden Anteil der Kurzarbeiter jedoch nicht?
Herr Kollege, ich sage es noch einmal: Wir haben weder die Arbeitslosenzahlen noch die Kurzarbeiterzahlen veröffentlicht.
Herr Abgeordneter Dr. Sprung.
Herr Staatssekretär, ist nicht zu befürchten, daß Bundesregierung und Regierungskoalition auf Grund der ständigen Beteuerungen, es gehe eindeutig aufwärts — die Konjunkturindikatoren beweisen das Gegenteil —, unglaubwürdig werden und sich hieraus eine zusätzliche Verunsicherung für den Bürger ergibt, die sich für die weitere konjunkturelle Entwicklung abträglich auswirken muß?
Herr Kollege, ich kann Ihre Auffassung nicht teilen. Wir haben in den letzten beiden Monaten eine rückläufige Tendenz bei den Arbeitslosenzahlen. Wir haben eine steigende Tendenz bei den offenen Stellen. Wir hatten weiterhin — abgesehen von der negativen Entwicklung in Niedersachsen/Bremen, bedingt durch die Einflüsse von VW — auch eine Besserungstendenz bei den Kurzarbeiterzahlen.
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11904 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Lutz.
Herr Staatssekretär, würde ein Pressesprecher Ihres Hauses seine Aufgabe wohl mißverstehen, wenn er fortlaufend Antworten auf nicht gestellte Fragen von sich gäbe?
Herr Kollege, ich bin der festen Überzeugung, daß unser Pressesprecher sich in einem guten Verhältnis und in gutem Einvernehmen mit den Journalisten befindet und daß er seine solide, gute Arbeit — wie bisher — fortsetzen wird.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Seiters.
Herr Staatssekretär, ich möchte noch einmal nachfragen: Wollten Sie mit Ihrer vorhergehenden Antwort ausschließen, daß Journalisten nach Kurzarbeiterzahlen gefragt haben?
Ich kann Ihnen diese Frage nicht beantworten. Ich bin nicht gefragt worden. Der Minister ist nicht gefragt worden. Ob nun von unseren 800 Beamten jemand gefragt worden ist, kann ich Ihnen jetzt nicht sagen. Ich will das gar nicht ausschließen. Ich darf nur noch einmal sagen, daß von uns Presseveröffentlichungen nicht herausgegeben worden sind. Welche Anfragen immer an ein Ministerium gestellt werden, das kann die Leitung eines Hauses nicht im einzelnen beantworten.
Ich kann keine zweite Frage vom selben Herrn zulassen. Ich meine zudem, daß jetzt sowieso dieser Punkt hinreichend erörtert ist.
Ich komme zu der Frage 86 des Abgeordneten Dr. Müller-Hermann:
Warum hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung bei der gezielten Bekanntgabe der Arbeitslosenzahlen für April verschwiegen, daß die Zahl der Kurzarbeiter gleichzeitig stark angestiegen ist und sich die Arbeitslosenquote — saisonbereinigt — verschlechtert hat?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Herr Kollege Müller-Hermann, zu Ihrer zweiten Frage möchte ich bemerken, daß bei der Auskunft über Ergebnisse der Arbeitsmarktstatistik auf gezielte Fragen von Journalisten geantwortet wurde. Diese Fragen konzentrierten sich auf die Gesamtarbeitslosenzahlen und die offenen Stellen. Eine Gesamtdarstellung wurde vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung nicht erwartet und auch nicht gegeben,
Im übrigen hätte bei der Darstellung der Kurzarbeiterzahlen darauf hingewiesen werden können, daß gerade in Nordrhein-Westfalen die Kurzarbeiterzahlen zurückgegangen sind.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Müller-Hermann.
Herr Staatssekretär, geben Sie mir recht, daß man durch Verschweigen von Daten in der Darstellung auch Tatbestände verändern kann?
Herr Kollege Müller-Hermann, sicherlich kann man durch Verschweigen etwas beeinflussen. Nur: hier ist nichts verschwiegen worden. Wir haben auf entsprechende Fragen von Journalisten geantwortet.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Müller-Hermann.
Herr Staatssekretär, da Sie ja so viel auf die gute Zusammenarbeit mit der Presse Wert zu legen scheinen, darf ich Sie fragen, ob Sie wenigstens zur Kenntnis genommen haben, daß die gesamte Publizistik — in der Presse, in den Wochenzeitungen, im Rundfunk und im Fernsehen — diesen Vorfall zum Anlaß genommen hat, die Manipulationspolitik der Regierung aufs schärfste zu kritisieren, und zwar quer durch alle Couleurs der deutschen Publizistik?
Herr Kollege Müller-Hermann, ich kann Ihnen diese Auffassung nicht bestätigen.
Auch ich lese die Tagespresse und bin zu einem ganz anderen Ergebnis gekommen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Breidbach.
Herr Staatssekretär, können Sie ausschließen oder gegebenenfalls dem Hause mitteilen, ob Informationen stimmen, die mir zugänglich gemacht worden sind, nach denen Ihr Pressereferent, Herr Dr. Hillebrand, sehr wohl und nachdrücklich auch nach den Kurzarbeiterzahlen gefragt worden ist?
Herr Kollege Breidbach, ich kann Ihnen das nicht bestätigen. Mir sind solche Mitteilungen nicht gemacht worden,
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975 11905
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Becker.
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß durch den starken Anstieg der Kurzarbeiterzahlen der positive Effekt durch die Abnahme der Arbeitslosenzahl weit ins Gegenteil umgekehrt wird? Denn für 89 % der Kurzarbeiter betrug der Arbeitsausfall bis zur Hälfte der betriebsüblichen Arbeitszeit.
Herr Kollege, auch diese Interpretation kann ich Ihnen nicht bestätigen, da die Dauer der Kurzarbeit sich verändert hat, und zwar zugunsten der Beschäftigten. Die Kurzarbeitswerte haben sich damit verbessert.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Kratz.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß es nicht nur den hier von der Opposition jetzt aufgegriffenen Vorfall und die dazu gestellten Fragen, sondern auch in der Vergangenheit Fragen von Journalisten zu diesem Punkt gegeben hat, und wenn ja, wären Sie in der Lage, eventuell das eine oder andere dazu zu sagen, vom Zeitraum der Fragen her?
Herr Kollege, wir haben aktenkundig, in welchem Umfange früher Veröffentlichungen — und zwar nicht von uns — erfolgten, und zwar immer dann, wenn es sich um negative Werte handelte. Ich bin gern bereit, Ihnen diese Unterlagen einmal zur Verfügung zu stellen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Zeitel.
Herr Staatssekretär, wären Sie bereit, in Ihrem Hause prüfen zu lassen, ob von Journalisten nach der Zahl der Kurzarbeiter gefragt worden ist und welche Antwort darauf von Ihrem Hause erteilt worden ist?
Ja.
Eine Zusatzfrage, Abgeordneter Lutz.
Herr Staatssekretär, könnten Sie bestätigen, daß der Manipulationsvorwurf keineswegs von den bundesdeutschen Zeitungen erhoben wurde, sondern in Form der Berichterstattung als Vorwurf des Professors Carstens abgedruckt worden ist?
Herr Kollege Lutz, ich kann Ihnen das bestätigen. Ich bin mit Ihnen der Auffassung, daß dieser Vorwurf mir erst
heute in dieser Fragestunde deutlich gemacht worden ist.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Niegel.
Herr Staatssekretär, wenn Sie vorhin sagen konnten, Ihnen sei z. B. über die Frage wegen der Kurzarbeit nichts bekannt: Haben Sie zur Vorbereitung der Fragestunde Ihren Pressereferenten und die zuständigen Herren, die für den Arbeitsmarkt verantwortlich sind, gefragt, inwieweit sie den Journalisten Auskunft gegeben haben bzw. inwieweit sie veranlaßt haben, daß die Presse informiert wurde?
Ich wäre schlecht beraten gewesen, wenn ich vor dieser Fragestunde nicht mit dem Pressereferenten gesprochen hätte.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Sprung.
Herr Staatssekretär, kann die Bundesregierung bestätigen, daß während der Rezession 1966/67 die damalige Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung zeitweise sogar halbmonatlich Arbeitsmarktdaten bekanntgab und daß sie dabei von der Bundesregierung in keiner Weise behindert, bevormundet oder für Propagandazwecke eingespannt wurde?
Herr Kollege Sprung, die Bundesanstalt für Arbeit wird auch heute durch die Bundesregierung in ihrer Tätigkeit nicht beeinträchtigt. Darüber hinaus ist es natürlich eine personelle Frage, ob man die Arbeitsämter draußen ständig mit statistischen Arbeiten beschäftigt oder ob man dafür sorgt, daß rechtzeitig das Arbeitslosengeld ausgezahlt wird.
Wir stehen am Ende der Fragestunde; das rote Licht ist aufgeleuchtet. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.Die Fragen 91, 93, 98, 99, 101, 102, 104 bis 108 sind von den Fragestellern zurückgezogen worden. Die übrigen nicht behandelten Fragen werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen zum Stenographischen Bericht abgedruckt.Wir kehren zurück zu Punkt 2 der Tagesordnung: Beratung des Antrags des Auswärtigen Ausschusses zu den Empfehlungen und Entschließungen der
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11906 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Vizepräsident Dr. JaegerNordatlantischen Versammlung auf ihrer 20. Jahrestagung vom 11. bis 16. November 1974 in London.Das Wort hat der Abgeordnete Damm. Für ihn sind 30 Minuten Redezeit angemeldet.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich mit allem, was heute morgen gesagt worden ist, voll einverstanden wäre, würde ich die Debatte hier am Nachmittag nicht verlängern. Ich muß aber einer Reihe von Aussagen, die hier heute morgen insbesondere von seiten der Koalition gemacht worden sind, widersprechen. Das beginnt, meine Damen und Herren, mit der Lageanalyse, mit der wir es zu tun haben, wenn wir unsere Atlantische Allianz betrachten. Ich finde, daß es ganz angebracht ist, hier, wenn auch nur indirekt, weil er sicherlich objektiv verhindert ist, den Verteidigungsminister zu Wort kommen zu lassen. Der Bundesverteidigungsminister hat im Zusammenhang mit seiner Vietnambetrachtung davon gesprochen, daß wir es mit drei Formen kommunistischer Bedrohung zu tun haben. Er hat davon gesprochen, daß es sich einmal, wie er sagt, um die sogenannte friedliche Koexistenz handele:Diese Form des Miteinanders zwischen Kommunismus und freiheitlicher Lebensart wird von den Kommunisten nur so lange praktiziert, wie die Pluralität der Lebensauffassungen nicht überwindbar ist.Ich füge hinzu, meine Damen und Herren, die Phase der sogenannten friedlichen Koexistenz, das ist in meinen Augen die Phase des Versuchs der Einschläferung des Westens durch den Osten. Ich weiß natürlich, daß eine Menge Leute in diesem Lande, soweit sie die Koalition unterstützen, gerne von der Phase der Normalisierung reden. Ich kann allerdings nichts an Normalisierung im Verhältnis zum Osten erkennen.Leber spricht zweitens von der Überwindung der westlichen Lebensart durch den Kommunismus unterhalb der Schwelle von Waffengebrauch durch Infiltration, durch Mobilisierung der Massen, Manipulation der öffentlichen Meinung und Druck von außen.Schließlich sagt er — was immer wieder gern verschwiegen wird und weswegen es wichtig ist, dies hier auch noch einmal zu erwähnen —, daß der Kommunismus auch heute die Absicht habe, sich und seine Ideologie mit Schwert und Feuer auszubreiten, wenn das ohne Risiko möglich sei.Meine Damen und Herren, wenn es diese verschiedenen Formen der kommunistischen Bedrohung nicht gäbe, brauchten wir auch das Nordatlantische Bündnis nicht.Nun hat heute morgen der Kollege Hoppe von der FDP gesagt, es stehe ganz gut um die NATO. Er sehe eigentlich gar nicht, wo von uns Gründe für kritische Bemerkungen hergenommen würden. Insbesondere könne er keinerlei Vorleistungen der westlichen Seite gegenüber der östlichen Seite erkennen. Nun ist er ja jetzt nicht hier, aber vielleicht wird es ihm übermittelt, damit er es zur Kenntnis nehmen kann: Meine Damen und Herren,die Liste der Vorleistungen des Westens gegenüber dem Osten in militärischer Hinsicht ist leider nahezu endlos.
Soll ich etwa hier im einzelnen aufführen, was in Dänemark passiert ist, was in Holland und Belgien mit der Verkürzung der Wehrdienstzeiten passiert ist? Muß ich an die jüngsten Beschlüsse des britischen Kabinetts zur drastischen Senkung seiner Verteidigungsausgaben erinnern, die nicht zuletzt dazu führen, daß sich Großbritannien aus dem von uns heute so oft behandelten Mittelmeerraum zurückziehen wird? Meine Damen und Herren, soll ich Sie an die erschreckenden Beschlüsse erinnern, die die sozialistische Partei, die stärkste Regierungspartei Hollands, vor kurzem auf ihrem Parteitag gefaßt hat?Wenn man die heutige Weltszene von Indochina bis Portugal betrachtet, so kann ich verstehen, daß George Meany, der amerikanische Gewerkschaftsführer, dazu gesagt hat: Überall ist der Kommunismus auf dem Vormarsch; überall ist der Westen auf dem Rückzug.
Heute morgen ist hier Sejna, der ehemalige tschechische General, zitiert worden, der davon gesprochen hat, daß es sich bei dem, was an kommunistischer Infiltration in Portugal stattgefunden hat und was an kommunistischer Machtausübung in Portugal zur Zeit geschieht, um einen langfristig angelegten Plan Moskaus handele; er habe davon dienstliche Kenntnis gehabt. Ich bin nicht abgeneigt, dieser Meldung zu glauben.Meine Damen und Herren, um das noch einmal ganz deutlich zu machen, was Georg Leber am 5. April in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung geschrieben hat, will ich einen Absatz im Wortlaut zitieren. Er sagt, immer in bezug auf die Geschehnisse in Vietnam:Wenn es ohne Risiko möglich ist und für opportun gehalten wird, wird nicht gezögert und wird auch künftig nicht gezögert werden, der Ausbreitung der Ideologie des Kommunismus auch mit Schwert und Feuer den Weg zu bereiten.Er hat dann hinzugefügt, das geschehe im Augenblick in Vietnam und Kambodscha. Er hat gesagt, wir würden es vermutlich schon bald anderswo in der Welt erleben, wenn das Kapitel Vietnam und Kambodscha abgeschlossen sei.Das Erstaunlichste an diesem Artikel Georg Lebers ist die in meinen Augen unglaubliche Resonanz aus den Reihen der Parteifreunde des Verteidigungsministers. Ich will gar nicht im einzelnen die Jusos zitieren, die natürlich die ersten waren, die auf Lebers Äußerungen kritisch eingegangen sind. Wir können vergessen, daß die Äußerungen der Jusos sofort in den osteuropäischen Zeitungen und Medien zitiert worden sind. Aber auch Willy Brandt hat im Zusammenhang mit Lebers Artikel vor einer sinnlosen Diskussion über Vietnam gewarnt und die Ansicht geäußert, daß die Formel
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Dammvon einem Konflikt zwischen freier Welt und Kommunismus falsch und gefährlich sei.
Der Parteivorsitzende der SPD hat sich ja heute morgen erneut zu diesem Komplex hier geäußert. Ich hatte das Gefühl, daß er noch einmal eine Debatte mit Leber über diesen Punkt gesucht hat. Er hat davon gesprochen, daß in Südvietnam beide Seiten Unmenschlichkeiten und Vertragsbrüche begangen hätten.Meine Damen und Herren, das ist nicht zu bestreiten; aber diese undifferenzierte Art der Betrachtung ist zum einen sachlich falsch und zum anderen ganz gefährlich für die westliche Position.
Ich will Ihnen das erläutern. Vertragsbrüche: Es ist unstreitig, daß in dem Waffenstillstandsvertrag von 1973 stand, daß es einen Versöhnungsrat in Südvietnam geben sollte. Thieu hat diese Forderung des Waffenstillstandsvertrages mißachtet. Richtig, das ist eine Form der Vertragsverletzung. Aber es ist ebenso unstreitig, daß es der Waffenstillstand — und das ist ja der Sinn jedes Waffenstillstandes überhaupt — nicht zuließ, daß Nordvietnam und der Vietcong weitere Divisionen in den Süden brachten, und daß der Waffenstillstand es erst recht nicht zuließ, daß erneut Kampfhandlungen aufgenommen wurden. In Wirklichkeit haben wir es mit der Wiederaufnahme der Kriegshandlungen durch die Nordvietnamesen und den Vietcong zu tun gehabt. Wenn das nicht eine viel größere, eine viel mehr ins Gewicht fallende Verletzung des Waffenstillstandsvertrages gewesen ist, dann — denke ich — wird man sich überhaupt nicht mehr darüber unterhalten können, was ein Waffenstillstand wert sein soll oder nicht.Zu den Unmenschlichkeiten: Es ist überhaupt keine Frage, daß es Exzesse unmenschlicher Art gewesen sind, die mit dem Namen My Lai in Verbindung gebracht werden und gebracht werden müssen. Aber niemand auf der westlichen Seite hat wirklich zur Kenntnis genommen, daß während der interimistischen Besetzung Hués durch die Kommunisten Zehntausende von Bürgern dieser Stadt wahllos erschossen und umgebracht worden sind, dabei viele, indem sie bei lebendigem Leibe eingegraben wurden.Das eine waren Exzesse einzelner amerikanischer Soldaten; sie sind durch nichts zu beschönigen. Aber was in Hué passiert ist, sind nicht Ausrutscher von einzelnen Soldaten der kommunistischen Armee, sondern das war die befohlene Exekutierung von gegnerischen Einwohnern dieser Stadt zum Zwecke der Einschüchterung der gesamten südvietnamesischen Bevölkerung. Darin liegt ja auch der eigentliche Grund dafür, daß die Südvietnamesen in diesen großen Scharen vor den vorrückenden Kommunisten geflohen sind.
Zu dem, was Leber in der FAZ geschrieben hat, hat sich dann auch am 15. April 1975 das SPD-Präsidium in einer Vietnam-Erklärung geäußert, einerErklärung, die die Frankfurter Rundschau als Seitenhieb auf Georg Leber bezeichnet hat. Am 17. April 1975 konnte man dann im „Stern" lesen, daß Herbert Wehner dem ehemaligen Bauarbeiter Leber vor der versammelten Fraktion politischen Nachhilfeunterricht erteilte.
„Die Dinge sind komplizierter und differenzierter", soll laut „Stern" Wehner zu Leber gesagt haben. „Das gibt Streit, Genosse Leber. So geht das nicht." Und zu alledem hat der Bundeskanzler kein Wort gesagt. Im „Stern" steht der lapidare Satz: „Schweigend duldete Kanzler Schmidt die Keile für seinen Verteidigungsminister."Da lobe ich mir den Hamburger Altbürgermeister Weichmann, der vor wenigen Wochen in bezug auf diese Situation und Lebers Äußerung gesagt hat: „Und wir sollten den deutschen Verteidigungsminister nicht alleinlassen mit seinen ,Leberschmerzen." Weichmann ist allerdings auch jemand, der gegen eine Entspannungspolitik ist, wo, wie er sagt, die einen spinnen und die anderen spannen.
Nun ist heute morgen auch noch einmal wieder in Zweifel gezogen worden, ob es denn in diesem Lande eigentlich Antiamerikanismus gegeben habe, wie ja der Bundesverteidigungsminister in seinem Artikel in der FAZ auch vorwurfsvoll in die eigene Richtung blickend behauptet hat. Ich möchte doch daran erinnern, daß z. B. der frühere „Konkret"-Herausgeber, der Herr Röhl — der, wie ich der Zeitung entnommen habe, in diesen Tagen der Sozialdemokratischen Partei beigetreten ist —,
1973 geschrieben hat:
Nachdem die Amerikaner aus Vietnam getrieben sind, wird es Zeit, ihnen klarzumachen, daß sie auch in Europa nichts zu suchen haben.
Auch der Bezirksverband Hessen-Süd der SPD hat im Jahre 1973 im Zusammenhang mit den Ereignissen in Vietnam von dem damaligen Bundeskanzler Brandt und seinem Finanzminister Schmidt gefordert — wörtliches Zitat —, „die Devisenzahlungen für die US-Armee sofort einzustellen". „Keine Mark mehr für die Banditen des Vietnamkrieges." Das ist ja auch der Grund gewesen, warum der damalige Finanzminister Schmidt, als er Ende März 1973 in den Vereinigten Staaten war, dort vor Journalisten gesagt hat:Wenn die Jusos auf den Gedanken kommen sollten, auf dem Parteitag antiamerikanische Reden zu halten, werden sie von uns etwas auf den Hut kriegen, und von dem Hut wird nicht viel übrigbleiben.Das war ein kraftvoller Ausdruck. Das hat dazu geführt, daß sich manche deutsche Zeitungen an die guten alten Zeiten von „Schmidt-Schnauze" erinnert haben. Aber gefolgt ist daraus nichts, und ich habe
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11908 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Dammnicht den Eindruck, daß von dem Hut der Jusos nichts mehr übriggeblieben wäre.
Herr Abgeordneter, diese Bezeichnung ist unparlamentarisch.
Ich nehme das zur Kenntnis, Herr Präsident.
Aber ich darf darauf aufmerksam machen, daß ich nur zitiert habe.
Das ist mir entgangen. Aber vielleicht kann man auch bei einem Zitat vorsichtig sein.
Ich will das berücksichtigen, Herr Präsident.Die gefährlichste Form der Bedrohung ist im Augenblick nach meiner Meinung das, was Leber als Überwindung der westlichen Lebensart unterhalb der Schwelle von Waffengebrauch nennt. Das ist auch der Punkt, in den hinein der Antrag der Nordatlantischen Versammlung zielt, den, wie heute schon erwähnt worden ist, ich im November initiiert habe, einen Hilfsplan, einen Solidaritätsplan, wie es offiziell heißt, für die südeuropäischen Partnerstaaten durchzuführen.Türkei, Griechenland, Italien und Portugal sind aus den unterschiedlichsten Gründen Länder, in denen die innere Stabilität wegen der mangelnden wirtschaftlichen und sozialen Stabilität nicht nur gefährdet, sondern nicht gegeben ist.
— Das ist durchaus möglich. Sie haben sicher nicht das Glück gehabt, 20 Jahre von einer christlichdemokratischen Regierung regiert zu werden
— nein, ich rede von Portugal und von Griechenland und von der Türkei —, so daß wir eben hier eine Lage haben, die in der Tat mit der unsrigen nicht zu vergleichen ist. Das ist ja auch der Grund, warum wir nicht nur verpflichtet, sondern auch in der Lage sind, ihnen zu helfen.Meine Damen und Herren, in der Entschließung, die wir im November einstimmig gefaßt haben, heißt es u. a.:Die Versammlung ist sich dessen bewußt, daß eine politische und wirtschaftliche Stabilität in den südeuropäischen Mitgliedstaaten in hohem Maße zum Zusammenhalt des Bündnisses beiträgt. Die Versammlung fordert die Regierungen der Mitgliedstaaten des atlantischen Bündnisses, insbesondere der europäischen Mitgliedstaaten, auf, die Durchführung einer konkreten Regionalpolitik für die EG-Staaten zu unterstützen und überdies die südeuropäischen Bündnisstaaten bei der Schaffung neuer unddauerhafter Arbeitsplätze und bei der Stabilisierung ihrer nationalen Volkswirtschaften zu unterstützen.Das, worüber wir uns hier heute zu unterhalten haben, meine Damen und Herren, ist die wirkliche Reaktion auf diese Aufforderung. Der Kollege Brandt hat heute morgen — und in diesem Punkte stimme ich völlig mit ihm überein — fragend zur Regierungsbank blickend gesagt: Was ist eigentlich in dem zurückliegenden Jahr von unserer Seite für Portugal geschehen?
Wie käme er auf die Idee, das zu fragen, wenn er nicht selbst den Eindruck hätte, daß der Westen, die Bundesrepublik eingeschlossen, sehr viel Zeit hat verstreichen lassen, die wertvoll hätte genutzt werden müssen?
Meine Damen und Herren, Mario Soares, der frühere portugiesische Außenminister, hat vor etwa zwei, drei Monaten selbst wörtlich einen europäischen Marshallplan für Portugal gefordert. Ich habe gar keinen Zweifel daran, daß er sich dabei an das erinnert hat, was die Nordatlantische Versammlung im November einstimmig beschlossen hatte. Die Frage, die in unserer Bevölkerung möglicherweise unterschiedlich beurteilt wird, ob man denn einem Land, in dem die Kommunisten inzwischen einen so großen Einfluß ausüben wie in Portugal, überhaupt helfen solle und könne, wird hier in diesem Hause einhellig dahin beantwortet, daß man es tun müsse, daß man jeden Versuch wagen müsse, um Portugal davor zu bewahren, ganz kommunistisch zu werden.Meine Damen und Herren, es ist richtig, wenn darauf hingewiesen worden ist, daß 50 Jahre Diktatur in Portugal durch die Ereignisse, die mit dem Namen Spinola zunächst verbunden waren, abgelöst worden sind; aber es muß wohl gesagt werden, daß die Gefahr, daß sich an Stelle der rechten Diktatur eine linke in Portugal etabliert, absolut realistisch und nicht von der Hand zu weisen ist. Im übrigen höre ich aus Portugal, daß zur Zeit dort 30mal soviel politische Häftlinge in den Gefängnissen säßen, als das zur Zeit Caetanos der Fall gewesen ist.
Die Notwendigkeit massiver wirtschaftlicher Hilfe, z. B. für Portugal, kann ich nicht besser umschreiben, als es der langjährige Korrespondent der „Welt", Rolf Götz, in Lissabon jüngst getan hat. Er hat geschrieben:Die Wirtschaftspolitik wird die Zukunft dieses Landes bestimmen. Sie kann Chaos, Hunger und Zwangswirtschaft bringen, die klassische Ausgangsposition für ein sozialistisches System östlicher Prägung. Sie kann aber auch das Elend auffangen. Dazu braucht sie jedoch ausländische Hilfe, nicht in Form von Solidaritätswochen, wie sie die DDR anbietet, sondern in Form massiver Investitionen.Und er sagt weiter:Und dazu ist nur der Westen, sagen wir esdeutlicher, dazu sind zur Zeit nur die Vereinig-
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Dammten Staaten und die Bundesrepublik in der Lage.Er schließt diesen Aufruf wie folgt:Die Portugiesen haben mit ihrer Wahl jedem Zwangssystem eine deutliche Absage erteilt. Helfen wir ihnen, jene gesetzlichen Voraussetzungen zu schaffen, die es ihnen erlauben werden, sich selbst zu helfen.Meine Damen und Herren, genau das ist die Absicht des, wie ich es lieber nenne, europäischen Marshallplans für unsere südeuropäischen Verbündeten.Wie kann man das machen? Ich habe in London davon gesprochen, daß erstens Kapitalkredite zum Ausgleich der Zahlungsbilanzdefizite dieser Länder, zweitens öffentliche Investitionshilfen ebenso wie private, aber öffentlich verbürgte Investitionen für konkrete Projekte nötig seien. Das entscheidende Ziel unserer Hilfe muß es sein, in diesen vier Ländern Arbeitsplätze, Dauerarbeitsplätze, zu schaffen, die die große Arbeitslosigkeit dort beseitigen helfen und die es — ich sage dies mit Blick auf Portugal — möglich machen, daß die vielen hunderttausend Portugiesen aus den Kolonien überhaupt zurückgeführt werden.
Schließlich, meine Damen und Herren, kann ich mir sehr viele indirekte Maßnahmen zur Hilfe vorstellen, wie z. B. Ausbildungsbeihilfen zur Berufsförderung.
Herr Abgeordneter Damm, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Arndt?
Aber bitte! Ja, natürlich!
Herr Kollege Damm, halten Sie es unter den soeben geschilderten Umständen nicht für sehr verderblich, daß zwei große deutsche Illustrierte aus dem Burda- und dem Bauer-Verlag deutschen Urlaubern empfohlen haben, nicht nach Portugal zu fahren, weil dort unsichere Verhältnisse herrschten, obwohl Portugal einen wesentlichen Teil seiner Deviseneinkünfte aus dem Fremdenverkehr bezieht?
Herr Dr. Arndt, ich möchte Ihnen gerne mit einem Beispiel aus der Türkei meine mit der Ihren übereinstimmende Ansicht zum Thema Tourismus darlegen. Ich bin im Auftrag der Nordatlantischen Versammlung in Griechenland und in der Türkei gewesen. Dort habe ich feststellen müssen, daß die frühere Regierung, die Regierung Ecevit, in Gestalt ihres Handelsministers zu einem über viele Jahre hin vorangetriebenen Projekt leider nein gesagt hat, in der Südtürkei, in Antalya, ein großes Ferienzentrum zu bauen. Daran waren die Lufthansa, Neckermann, die Deutsche Entwicklungsgesellschaft, aber auch türkische Stellen, beteiligt. Die letzte Entscheidung hatte der Handels-minister. Er ist nicht mehr im Amt. Der Grund für seine Ablehnung war die Sorge um den Import von Unmoral durch die Touristen.Ich erwähne das aus folgendem Grund. Diese Länder werden auch ihrerseits alles Notwendige tun müssen, um Touristen aufnehmen zu können. Wenn ich lese, daß in Portugal Bedienstete in den Hotels nicht mehr willens sind, ihrer Arbeit wirklich nachzugehen, kann ich natürlich verstehen, daß kein Mensch mehr dorthin fahren will. Ich bin Ihrer Meinung: man muß die Quellen zur wirtschaftlichen Stabilisierung nutzen, die diese Länder haben. Aber diese Länder müssen ihrerseits eine ganze Menge tun, um diese Quellen auch wirklich nutzbar zu machen.Die entscheidende Frage ist natürlich, woher das Geld kommen soll. Ich bin, wie gesagt, der Ansicht, daß es sich zum einen um staatliche Kredite, z. B. für Infrastrukturmaßnahmen, insbesondere aber um Investitionen der privaten Wirtschaft handeln sollte.Aber wer investiert schon in politisch unsicheren Ländern? Das ist eine berechtigte Frage. Um zu den in großem Umfang notwendigen Investitionen in diesen Ländern anzureizen, ist es meines Erachtens erforderlich, daß die helfenden Staaten diese Investitionen gegen jedes politische Risiko voll absichern. Darum ist es nötig, daß sich die Länder, die hier in Frage kommen, die Bundesrepublik und andere, darüber verständigen, daß sie und wie sie private Investitionen in dem notwendigen Umfangauch tatsächlich absichern wollen.Welche Ansatzpunkte im einzelnen für die Türkei und Griechenland möglich sind, habe ich in einem Bericht über die Reise, von der ich vorhin gesprochen habe, dargestellt. Das kann ich hier im Detail nicht ausführen. Die Bundesregierung hat diesen Bericht natürlich sofort zur Kenntnis bekommen. Ich begrüße es ausdrücklich, daß eine Forderung unserer Entschließung, nämlich der Europäische Regionalfonds, inzwischen verwirklicht worden ist. Aber jedermann in diesem Hause weiß ja, daß er nur Italien helfen kann.Die inoffiziellen Reaktionen auf die weitergehenden Forderungen sind leider noch allzu zögernd. Ich möchte den Außenminister ermutigen, seine zurückhaltende Betrachtung aufzugeben und mit dem Mut zum Risiko — ich sage: zum europäischen Risiko — den Versuch zu wagen, zu helfen, bevor es zu spät ist. Wenn nämlich, meine Damen und Herren, die Allianz eines Tages im Süden eine neue Verteidigungslinie aufbauen müßte, so wäre das in jedem Falle sehr viel teurer als ein europäischer Marshall-Plan.
Und, meine Damen und Herren, ich frage mich, wo denn eigentlich eine solche Verteidigungslinie verlaufen sollte.In diesen Tagen sind erste, zarte Gesprächsfäden zwischen griechischen und türkischen Zyprioten geknüpft worden. Es besteht wieder eine Hoffnung, daß es auf Zypern zu einem Kompromiß kommt. Wenn wir wollen, daß das nicht nur für Zypern hoch-
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11910 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Dammexplosive Problem wirklich gemeistert wird, müssen wir bereit sein, auch unser Vertrauen, und zwar ausgedrückt in handfester D-Mark, zum Pfand zu setzen.Nun wird gesagt: Aber wir selbst haben doch gar nicht genug Geld. Es stimmt, daß unsere Finanzen sehr strapaziert sind. Darum denke ich, meine Damen und Herren, neben den genannten Finanzquellen auch an eine Europa-Anleihe. Ich persönlich wäre bereit, der Bundesregierung zu folgen, wenn sie ihren europäischen Partnern, die zur Hilfe fähig sind, vorschlüge, von ihren Bürgern ein europäisches Solidaritätsopfer zu fordern, etwa in der Art, wie vor vielen Jahren das Notopfer Berlin.Wenn aber unsere finanziellen Möglichkeiten nicht ausreichen, unseren Verbündeten wirksam zu helfen, dann muß spätestens aus diesem Grunde die finanzielle Seite unserer Ostpolitik überprüft werden. 1 Milliarde DM an Jugoslawien, aber nur 180 Millionen DM an Griechenland!
Ich mache gar kein Hehl daraus, meine Damen und Herren, daß mir dafür das politische Verständnis fehlt. — 1 Milliarde DM an Polen, so lautet die erneuerte Zusage. Wahrscheinlich ist sie inzwischen sogar noch etwas angehoben worden.Ich bin grundsätzlich dagegen, daß wir zweimal für dieselbe Sache bezahlen.
I Aber unabhängig davon entscheide ich mich, wenn ich wählen muß, weil mein Geld nicht reicht, für meine Verbündeten.
Mein Eindruck ist — um jetzt von der DDR zu sprechen, meine Damen und Herren —, daß die Bundesregierung grundsätzlich davon ausgeht, daß wir den Ausbau bzw. den Bau westwärts führender Straßen-, Bahn- und Wasserverbindungen bezahlen. Ich dachte, dafür zahlen wir eigentlich die Benutzungsgebühr.Ich finde im Gegensatz zum Bundeswirtschaftsminister, daß es nicht unbedenklich ist, daß das Volumen unseres Handels mit dem Ostblock, wie er vor kurzem in diesem Hause gesagt hat, das unseres Handels mit den USA erreicht habe.
Die Sowjetunion braucht für ihre Rüstung einen großen Teil des russischen Sozialprodukts. Sie kann nicht erwarten, daß der Westen diese Lücke in ihrem Kapitalbedarf durch Kapitalexport schließt und die eigene Verteidigungsfähigkeit vernachlässigt.Natürlich kam, meine Damen und Herren, wie immer sofort Widerspruch aus den eigenen Reihen. Der „Vorwärts" schrieb unter der Überschrift „Alleingang" : „Das ist nicht die Politik der Bundesregierung" und forderte Leber auf, die Finger von der Wirtschaftspolitik zu lassen, die ihn nichts angehe.Natürlich, meine Damen und Herren, fehlte auch Herbert Wehner nicht. In einem Interview mit der sowjetischen Zeitschrift „Sa Rubeshom" sagte er auf die Frage, wie er die Ergebnisse und Aussichten der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der Sowjetunion einschätze — ich zitiere wörtlich —:Die bisherigen Ergebnisse sind nicht mehr als Ansätze. Von unserer Bundesrepublik Deutschland muß der Sprung über den Schatten der Vergangenheit gewagt werden. Die Sowjetunion muß als Partner erkennbar und spürbar werden. Die gegenwärtige Energieversorgungskrise zwingt zum Durchdenken aller bisherigen Vorstellungen.Meine Damen und Herren, ich mache überhaupt kein Hehl daraus, daß ich entschieden anderer Meinung bin, als Herbert Wehner sie in diesem Interview ausgedrückt hat. Die Bundesrepublik Deutschland hat nach meiner Meinung allen Grund, vor der Sowjetunion auf der Hut zu sein, anstatt über den Schatten der eigenen Vergangenheit zu springen, damit die Sowjetunion bei uns als Partner sichtbar und spürbar wird. Ich kann mir natürlich auch mit der Sowjetunion Partnerschaft vorstellen. Aber ich finde, zuvor muß die Sowjetunion kontrollierbare Beweise von Friedfertigkeit statt von Friedenspropaganda liefern. Für meine Ohren klingt es beunruhigend, wenn die „Tribuna Ludu" am 24. April diesen Jahres aus Anlaß des 20. Jahrestages des Warschauer Paktes schreiben konnte — wörtliches Zitat —:Nach koordinierten Aktionen und der ständigen Erhöhung der Kampfbereitschaft der dem Vertrag angegliederten Armeen ist der Warschauer Vertrag zu einer Kraft geworden, die es möglich machte, eine Politik der Stärke zugunsten des Friedens zu betreiben.Meine Damen und Herren, die Sowjetunion hat in Wien eine gute Möglichkeit, ihre Bereitschaft zum Abbau ihrer überdimensionalen Streitkräfte in Mitteleuropa unter Beweis zu stellen, aber statt dessen verstärkt sie ihre Rüstung von Tag zu Tag und findet trotzdem im Westen Regierungen — Unternehmen natürlich sowieso —, die bereit sind, die Rüstungslücke im sowjetischen Sozialprodukt durch westlichen Kapitalexport zu schließen. Ich halte das nicht nur für töricht, sondern für lebensgefährlich.Daß Lenin vor 50 Jahren von den taubstummen kapitalistischen Hamsterern gesprochen hat, die, wie ihre Regierungen, der Sowjetunion Kredite eröffnen werden, welche, wie er sagt, „die Kassen der kommunistischen Organisationen in ihren Ländern füllen, und die mit der Lieferung von Waren aller Art unsere Kriegsproduktion vergrößern und verbessern werden, die wir, die Sowjetunion, für künftige siegreiche Angriffe gegen unsere Lieferanten benötigen", beweist mir einmal mehr, daß mein Urteil richtig ist. Darum sage ich: Das Kapital, das wir im Osten anlegen wollen, ist bei unseren Verbündeten besser angelegt — in jedem Fall dann, wenn wir nicht genug Geld haben, um nach beiden Seiten Kredite zu geben.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975 11911
DammMeine Damen und Herren, ich komme zum Schluß und greife ein Wort auf, daß Kissinger gesagt haben soll. Es wird berichtet, Kissinger habe gesagt, in zehn Jahren sei Europa marxistisch. Für mich ist es nicht entscheidend, ob der amerikanische Außenminister das wirklich gesagt hat. Entscheidend ist in meinen Augen, daß viele Europäer denken, er habe das gesagt. Ich persönlich bin überzeugt, daß wir nach wie vor die Möglichkeit haben, das zu verhindern, wenn wir nur wollen. Ich bin auch überzeugt, daß wir uns auf Amerika verlassen können, wenn wir den Amerikanern zeigen, daß sie sich auf die Europäer und die Europäer sich aufeinander verlassen können.Der Bundespräsident hat in den zurückliegenden Wochen die Europäer mehrmals eindringlich zur Bündelung ihrer Kräfte aufgefordert. Ich finde das gut. Immerhin, er war vier Jahre unser Außenminister und hat eine Menge Gelegenheit gehabt, daran mitzuwirken. Er sagt aber auch — wörtlich —: „Wir haben keine Zeit zu verlieren. Zu viele Jahre der Unentschlossenheit liegen hinter uns." Darum also, meine Damen und Herren, fangen wir an mit der praktischen Solidarität in Europa! Portugal, Italien, Griechenland und die Türkei brauchen unsere schnelle und wirksame Hilfe. Errichten wir für die verbündeten Völker im Süden Europas ein Zeichen der Hoffnung, wie es der Marshallplan vor 25 Jahren für uns gewesen ist!
Das Wort hat der Abgeordnete Wehner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ungern habe ich mich noch zu Wort gemeldet und um das Wort gebeten. Es tut mir leid — obwohl ich nicht überrascht davon bin —, daß der Versuch, heute hier aus Anlaß des Berichts über Empfehlungen der Nordatlantischen Versammlung, der von den beiden Berichterstattern sehr sachlich kommentiert worden ist, ernsthaft über das Verteidigungsbündnis und über unser Verhältnis zum Partner Vereinigte Staaten von Amerika zu sprechen, nun so endet und so mißdeutet wird.Wenn Sie die Ausführungen des Herrn Kollegen Willy Brandt und andere Beiträge zur Debatte vom Vormittag im Protokoll nachlesen werden, wird mancher von Ihnen nicht verstehen, weshalb diese Debatte von einem Sprecher der Opposition zu diesem Abschluß gebracht worden ist.
Ich äußere mich dazu nicht weiter. Aber das, was hier mein Herr Vorredner, der Abgeordnete Damm, an Fehldarstellungen und Wertungen über eine Rede und meinen Anteil in einer Debatte der Fraktion der SPD aus Anlaß eines Artikels des Herrn Kollegen und Bundesministers der Verteidigung Georg Leber gesagt hat, veranlaßt mich, den Herrn Präsidenten darum zu bitten, den unveränderten Text von der Tonbandaufnahme dieser Rede Ihnen hier zur Kenntnis bringen zu dürfen.
Ich habe am 8. April in der Fraktionssitzung der e SPD im Deutschen Bundestag aus Anlaß von Fragen und Einwänden zum Artikel Georg Lebers in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 5. April folgendes erklärt:Ich selber mache mich nicht anheischig, hier eine Interpretation des Artikels, um den es dabei geht, zu geben. Hätten wir dafür Zeit, wäre ich der Meinung, daß hinsichtlich einiger, nicht unwesentlicher Passagen Georg Leber selbst, wenn nicht zugeben, so einsehen würde, daß sie zu politischen Mißdeutungen Anlaß geben können, vielleicht sogar müssen.
Ich persönlich, Georg, habe Respekt für das, was du da beabsichtigt hast, und auch dafür, daß du dich gegen jene wendest, die Seite ergreifen in einem Krieg, aber wenn dann der Krieg weitere Wendungen genommen hat, nun schweigen bzw. beschönigen. Das ist eine ganz bittere Sache. Nur eines ist auch bitter, Georg: Dies ist ein Krieg, der seit mehr als 30 Jahren als Kolonialkrieg und als Bürgerkrieg geführt worden ist. Ich habe dich nicht zu belehren, ich habe überhaupt niemand zu belehren. Aber das weiß ich noch: Als der jetzige Außenminister Kissinger mit mir ein langes Gespräch führte, um auch meine Ansicht über Vietnam zu hören — das war noch einige Monate, bevor er der Sicherheitsbeauftragte des inzwischen Nicht-Mehr-Präsidenten Nixon wurde —, habe ich ihm meine Meinung gesagt. Unter anderem auch die Konklusion: Amerika, diese Weltmacht, kann überhaupt nicht mehr raus aus einer Entwicklung, von der sie glauben machen will, sie steuere sie; in Wirklichkeit wird sie selbst in den Dschungel hineingezogen von Leuten, die sich selbst unmittelbar überhaupt nicht stellen müssen.Ich habe hier nicht Kissinger zu interpretieren. Kissinger hat mir damals sehr schlicht gesagt, daß er diese meine Ansicht teile und daß es die entscheidende Frage ist, daß Amerika rauskommt aus dieser Verurteilung zur Nichthandlungsfähigkeit in Fragen der Weltpolitik. Das war seine Meinung. Ich bin der Überzeugung, es ist sie sogar geblieben, abgesehen von dem, was ihm inzwischen sein Amt aufgedrängt hat.Ich habe damals keinen Hehl daraus gemacht, daß hier eine Reihe amerikanischer Präsidenten gezeigt haben, daß sie in wesentlichen Fragen, die zu einer der Aufgaben einer, nun sagen wir einmal: zur Weltmacht verurteilten Macht gehören, versagt haben. Das trifft Kennedy nach meiner Meinung, das trifft Johnson nach meiner Meinung. Das ist nicht einfach eine Frage Nixon. Und diejenigen, die dann glaubten, sie konnten alle ihre Empörung an Nixon wetzen, die hätten sie früher auch schon äußern können und wären dabei nicht besser gefahren.Mir hat er damals gesagt — ich sage das ja nicht, damit es heute verbreitet wird; und der
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11912 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
WehnerMann kann jederzeit sagen, das war einmal, und ich würde ihm nicht widersprechen —, es würde aber einen Erdrutsch geben in der amerikanischen Politik. Besagter Mann hat sich dann darangemacht. Er hat ja in seiner Art und auf seine Weise und in dem Rahmen, in dem amerikanische Politik es schließlich zuließ — und dann noch in einer Zeit, in der Watergate und anderer Dreck immer höher anstieg, bis er ihnen allen zusammen bis in die Mundöffnung hineingegangen ist —, einen Versuch gemacht.Mir schien es viel wichtiger, Georg, daß man — ich verlange das weder von dir, noch erwarte ich das von anderen — heute einmal sehr sachlich über das Pariser Abkommen schreibt, daß man darüber Erläuterungen gibt, damit dieser Unfug hier nicht auch noch — und hier gedeiht ja Unfug ganz schnell, hier am meisten, weil man keine Verantwortung hat, hier wetzt man die Zungen und die Federn und die Kugelschreiber —, damit das aufhört, also ob die eine Seite gebrochen und die andere Seite eingehalten hätte. Hier haben sich mehrere nicht daran gehalten. Das war aber vorauszusehen, denn das war und ist ein Bürgerkrieg. Ich habe mir einmal erlaubt, aus Anlaß einer Antwort auf eine Reihe von Fragen, die mir ein sowjetischer Korrespondent — was selten vorkommt — gestellt hat, diese Fragen vor Jahren, nachdem die Sache mit dem Pariser Abkommen gelungen war, aufzuwerfen, was denn daraus wird, wie denn nun die diesen Auseinandersetzungen zugrunde liegenden Ursachen weiter behandelt werden. Dazu ist vieles zu sagen. Und weil ich aus deinen Bemerkungen den berechtigten Unterton herausgelesen habe — und ich kenne dich, glaube ich, auch gut genug, um dich da nicht mißzuverstehen: Du wendest dich hier einfach dagegen, daß man billig Seite wählt und je nachdem die einen oder anderen verurteilt. Um so mehr tut es mir eben leid, daß du der Versuchung nicht entgangen bist, das dann zu einer verallgemeinernden Belehrung in Fragen dann also dessen, was man so gerne verallgemeinernd „Kommunismus" nennt, zu bringen. Da liegt die schwache Stelle. Aber, wir brauchen nicht zu streiten über „Kommunismus".Ich habe gelesen, am 4. April in der Stuttgarter Zeitung, einen Artikel des dort häufigen außenpolitischen Leitartiklers Fritz von Globig — ein hoch intelligenter Artikel —, der, wenn man bedenkt, was für ein Blatt und was für ein Mann und was für ein Stoff das ist, jedem von uns eine Masse Einsichten gibt. Und ich habe dann bedauert, daß am Tag darauf dieser so ganz andere Artikel erschienen ist.Ich war gerührt, weil ich deine guten Absichten erkannte und weil ich auch daran dachte, wie es gewesen war und wie ungerecht hier viele gewesen sind, als — es ist noch nicht lange her, ich glaube, es war Weihnachten und Neujahr '72 auf '73 — damals diese schauerlichen Bombardements der nordvietnamesischen Wohnstädte und Dörfer durch die amerikanische Luftwaffe geführt wurden und man sich damals darüber erregte und bei uns wiederum erregte, daß einige sich nicht genügend erregten. Wir haben damals ja auch im Bundestag ein gutes Nachspiel gehabt. Der damalige Bundeskanzler hat da manches geklärt und verdeutlicht. Nur: dies wird nun jetzt ein Zankapfel.Du hast die Frage gestellt, wo denn Streit in der SPD ausgelöst worden sein soll durch diesen Artikel. Davon bin ich überzeugt, daß es dabei nicht dem, der den Artikel verfaßt und gezeichnet hat, darauf ankam, Streit in der SPD herauszufordern.Wenn du nicht der anderen Konfession angehörtest, würde ich dir sagen, du bist mir vorgekommen wie Martin Luther: „Hier stehe ich und kann nicht anders" usw. Ich will dir ja damit nicht zu nahe treten, denn du gehörst der anderen Konfession als ich. Ja nun, so ist das nun einmal im Leben. Aber das war so ungefähr Luther in Bronze. Ja, das ist doch eine positive Wertung, weil ich ganz genau weiß, was dir dabei geblutet hat, und um so mehr bedrückt es mich, daß dies nun eine wer weiß wie lange dauernde Kette von Auseinandersetzungen und von Beschuldigungen wird. Sperling hat auf eine nächste Gelegenheit hingewiesen. Wir hatten inzwischen schon eine in den Zeitungen erlebt. Da gab es dann schon die erste scharfe Salve dazu. Wenn es jemand könnte — noch besser wäre es, wenn es Georg Leber selber könnte, aber das wäre eine Zumutung —, dazu einiges Erläuternde zu schreiben, würde uns das vieles helfen. Schrecklich wäre, wenn sich Fraktion und Partei zerzausten und zerstritten in dieser Frage, wer am besten für die Freiheit sei. Das ist unmöglich.Ich denke ja noch daran — ich sehe gerade Erhard Eppler —, wie wir den Bericht damals gehört haben von einer Delegation unserer Fraktion, die in Vietnam gewesen ist — wir haben ja die ganze Zeit auch schwierige Wanderungen gemacht —, und wie damals, vor etwa neun Jahren, in Südvietnam die Lage geschildert worden ist.Hier wird keiner sein, der guten Gewissens Partei für den Herrn Thieu — ich glaube, so läßt er sich aussprechen — ergreifen wird. Andererseits heißt das nicht, daß man damit Seite wählt, um zu sagen, dort muß das Regime so sein, wie es die anderen wollen. Das ist noch die andere Stellung dazu. Bei uns allerdings darf man auch das. Wir waren immer der Meinung — und das war unsere Mehrheitsauffassung —, daß nichts unversucht bleiben dürfte seitens der Weltmächte, auch der Nichtweltmächte und der Mittelmächte und der kleineren auch mit Hilfe ihrer Bündnispartner usw. — nichts unversucht bleiben dürfe, um das, was es an Kolonial- und daraus entwickelten Bürgerkriegen gibt — und dies ist ein solcher —, daß dies nicht überschwappt, daß dies nicht wie Steppenbrand wird und daß die Bemühungen
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Wehnerum Entspannung, die ja keine lyrische Angelegenheit, sondern der Versuch ist, die Auseinandersetzung über Gegensätze, die nicht gelöst werden können durch gutes Zureden, jedenfalls ohne Gebrauch der Waffen und ohne Unterdrückung anderer zu führen. Das ist sicher keine Illusion, sonst hätte unsere ganze Entspannungspolitik keinen Sinn. Und am meisten — wenn man das steigern dürfte — leid täte es mir, wenn der Eindruck sich verfestigen würde, als habe da nun mal einer nicht nur aus seinem Herzen nicht eine Mördergrube machen lassen wollen, sondern als habe er es einmal den anderen gegeben, die „den Kommunismus" nicht richtig durchschauen.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Ich hätte Ihnen das nicht zugemutet, aber ich möchte, daß das im Protokoll des Deutschen Bundestages steht, damit falsche Darstellungen, wie sie heute hier am Schluß von jemandem gegeben worden sind — er hat sie natürlich von anderen übernommen —, und daran geknüpfte Wertungen endlich minimiert werden, Herr Kollege.
Das Wort hat der Abgeordnete Hoppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ausführungen des Herrn Kollegen Damm brauchten mir nicht durch Dritte übermittelt zu werden. Dank der technischen Einrichtungen dieses Hauses konnte ich ihn direkt hören. Aber ich muß bekennen, die Ausführungen sind mir deshalb in weiten Teilen nicht verständlicher geworden, sie sind mir weitgehend unverständlich geblieben.
Herr Kollege Damm, ich darf Ihnen sagen: Sie haben sich für Ihren Beitrag einen falschen Ansatz gesucht. Ich lebe nicht in einer Scheinwelt, und ich habe deshalb heute vormittag keineswegs davon gesprochen, daß es im Augenblick mit der NATO zum besten bestellt sei.
— Nein, das habe ich nicht getan. Aber ich habe geglaubt, die Feststellung wagen zu können, daß es für die Diagnose des gegenwärtigen Zustandes und für die notwendige Therapie eine gemeinsame Position von Bundesregierung, Koalition und Opposition in diesem Hause geben könnte. Von dieser Auffassung, Herr Kollege Damm, lasse ich mich auch durch Ihren Beitrag nicht abbringen. Ich meine, dem könnte auch jetzt noch so sein und wir sollten uns dieses Stück Gemeinsamkeit auch nicht zerreden lassen.
Das Wort hat Herr Staatsminister Moersch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um einer irrtümlichen Interpretation der Politik der Bundesregierung vorzubeugen, muß ich zu zwei Punkten Stellung nehmen, die der Herr Kollege Damm angesprochen hat und die die Hilfe für die südeuropäischen Staaten betreffen.Herr Kollege Damm, ich kann nicht finden, daß irgendein Widerspruch zwischen der Politik der Bundesregierung und den Ausführungen des Kollegen Brandt etwa im Hinblick auf Portugal, auch was die Hilfe betrifft, zu konstruieren sei. Ich glaube, daß die Bundesregierung sich von niemandem in der Welt den Vorwurf machen lassen muß, daß sie sich nicht rechtzeitig und intensiv der wirtschaftlichen Probleme in diesen Staaten, die Sie erwähnt haben, angenommen hat. Die Bundesregierung hat vor den Wahlen in Portugal — das ist nicht ganz unwichtig — ihre Hilfsmaßnahmen, die sie in Aussicht stellt, konkretisiert und hat sie mit den Betroffenen besprochen. Das hat eine sehr positive Resonanz dort gefunden.Ich meine, Herr Kollege Damm, daß Sie sicher recht haben, wenn Sie sagen, es müsse dafür gesorgt werden, daß von westlicher Seite — Sie haben die USA und die Bundesrepublik Deutschland genannt — in diesen Ländern nicht nur vom Staat, sondern auch von privater Seite investiert werde. Ich möchte Sie bitten, dafür zu sorgen, daß in Ihrer Fraktion eine einheitliche Meinung über diese Frage entsteht. Es war einer Ihrer Kollegen, der durch mißverständliche Äußerungen einige Aufregung verursachte, nämlich durch. Äußerungen, die so interpretiert wurden, als wolle er der westlichen Industrie von Investitionen in Portugal abraten. Das war, wohlgemerkt, kein Sprecher der Bundesregierung, sondern ein Mitglied der CDU/CSU-Fraktion.Ich möchte hier darauf verweisen, daß im Haushaltsplan selbst ja die Hilfeleistungen — und zwar nicht nur für Griechenland, sondern auch für die Türkei — ausgewiesen sind. Ich nehme an, daß Sie — wie wir — bereit sind, diese Leistungen für Kapitalhilfe im Entwicklungsbereich zu den Bevölkerungszahlen in Relation zu setzen.Herr Kollege, Sie haben vergessen, zu erwähnen, daß es die Bundesregierung war, die — unter Kritik vieler Ihrer Kollegen — Italien Währungsbeistand geleistet hat, als es notwendig war, dort für mehr Stabilität zu sorgen.
Wenn Sie heute anderer Meinung sind, nehmen wir das dankbar zur Kenntnis. Wir haben auch die Regionalfonds-Regelung in der Europäischen Gemeinschaft durchgesetzt.Was die anderen beiden Beispiele — Polen und Jugoslawien —, die Sie im Zusammenhang mit diesen Hilfen herangezogen haben, betrifft, so möchte ich Sie doch bitten, zwei Dinge zur Kenntnis zu nehmen. Zum einen: Die jetzige Bundesregierung hält die Entscheidungen, die in der Zeit 1968/69 getroffen worden sind, für richtig. Der Kollege Kie-
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11914 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Staatsminister Moerschsinger hat darüber offensichtlich eine andere Meinung gehabt als Sie. Es gibt nicht wenige Ihrer Fraktionskollegen — auch dies bedürfte wohl der Klärung -, die im Falle Polen eine andere Meinung vertreten, als sie von Ihnen der Bundesregierung vorgehalten worden ist.
Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten van Delden?
Bitte schön!
Herr Staatsminister, darf ich Sie daran erinnern, daß wir nicht den Kredit an Italien als solchen kritisiert haben, sondern daß nur die Art und Weise der Gewährung — quasi am Parlament vorbei — der Ansatzpunkt unserer Kritik war?
Herr Abgeordneter, wenn ich aus Ihren Worten schließen darf, daß Sie mit der Sache jetzt voll einverstanden sind — sie hat sich ja als erfolgreich erwiesen —, können wir, glaube ich, die Angelegenheit begraben. Allerdings verstehe ich dann um so weniger, weshalb der Kollege Damm diese Kritik in seinen Ausführungen vorhin wieder aufgebracht hat.
Ich will ja die Debatte hierüber nicht fortsetzen. Fest steht jedenfalls, daß es ein unberechtigter Vorwurf an die Bundesregierung war,
daß sie nicht das Notwendige und Mögliche gerade zur wirtschaftlichen Stabilisierung in dieser Region unternommen habe. Wenn ich die Ausführungen der Oppositionssprecher zum Haushalt, die Ausführungen der Haushaltsexperten mit dem vergleiche, was hier an Forderungen auf den Tisch kommt, so kann ich Sie nur bitten, innerhalb Ihrer eigenen Reihen die Positionen so zu klären, daß man wirklich weiß, was die Auffassung der Opposition zu diesen Fragen ist.
Wird weiter das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Dann kann ich die Aussprache schließen.Wer dem Antrag des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 7/3561 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Der Antrag ist einstimmig angenommen.Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Pflanzenschutzgesetzes— Drucksache 7/2874 —a) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 7/3541 — Berichterstatter: Abgeordneter Löfflerb) Bericht und Antrag des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
— Drucksache 7/3540 —Berichterstatterin: AbgeordneteFrau Dr. Riedel-Martiny
Ich danke den Berichterstattern für ihre Berichte.Ich rufe in zweiter Beratung die Art. 1 bis 6 sowie Einleitung und Überschrift auf. — Das Wort wird nicht gewünscht. Wer den aufgerufenen Bestimmungen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Es ist so beschlossen.Wir treten in diedritte Beratungein. — Das Wort in der allgemeinen Aussprache wird nicht begehrt.Wir kommen damit zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Auch keine Enthaltungen. Es ist einstimmig so beschlossen.Wir haben dann noch über den Antrag des Ausschusses unter Ziffer 2 abzustimmen. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Es ist so beschlossen.Ich rufe Punkt 4 der Tagesordnung auf:Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Sitzstaatvereinbarung vom 10. Dezember 1974 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und dem Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie— Drucksache 7/3332 —a) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 7/3628 — Berichterstatter: Abgeordneter Blank
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975 11915
Vizepräsident Dr. Jaegerb) Bericht und Antrag des Ausschusses für Forschung und Technologie
— Drucksache 7/3553 —Berichterstatter: Abgeordneter LaermannAbgeordneter Lenzer
Ich danke den Berichterstattern für ihre Berichte.Ich rufe in zweiter Beratung Art. 1, 2, 3 sowie Einleitung und Überschrift auf. — Das Wort wird nicht gewünscht. Wer den aufgerufenen Bestimmungen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Es ist so beschlossen.Wir kommen nunmehr zur Schlußabstimmung, nachdem das Wort auch weiterhin nicht gewünscht wird. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Auch keine Enthaltungen. Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen.Ich rufe Punkt 5 der Tagesordnung auf:Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag von 15. Juli 1974 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Haschemitischen Königreich Jordanien über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen— Drucksache 7/3264 —Bericht und Antrag des Ausschusses für Wirtschaft
— Drucksache 7/3528 —Berichterstatter: Abgeordneter Zeyer
Ich danke dem Berichterstatter für seinen Bericht.Ich rufe in der zweiten Beratung Art. 1, 2, 3 sowie Einleitung und Überschrift auf. — Das Wort wird nicht gewünscht. Wer den aufgerufenen Bestimmungen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Es ist so beschlossen.Das Wort wird nicht mehr gewünscht. Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich vom Platze zu erheben. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Auch keine Enthaltungen. Einstimmig angenommen.Ich rufe Punkt 6 der Tagesordnung auf:Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 17. September 1974 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Malta über dieFörderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen— Drucksache 7/3378 —Bericht und Antrag des Ausschusses für Wirtschaft
— Drucksache 7/3529 —Berichterstatter: Abgeordneter Zeyer
Ich danke dem Herrn Berichterstatter, dem Abgeordneten Zeyer, für seinen Bericht.Ich rufe in zweiter Lesung die Art. 1, 2, 3, Einleitung und Überschrift auf. — Das Wort wird nicht gewünscht. Wer den aufgerufenen Bestimmungen, der Einleitung und der Überschrift zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Es ist so beschlossen.Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich vom Platze zu erheben. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Auch keine Enthaltungen. Einstimmig angenommen.Ich rufe Punkt 7 der Tagesordnung auf:Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 21. Juni 1974 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Arabischen Republik Jemen über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen— Drucksache 7/3379 —Bericht und Antrag des Ausschusses für Wirtschaft
— Drucksache 7/3530 —Berichterstatter: Abgeordneter Zeyer
Ich danke dem Berichterstatter, dem Abgeordneten Zeyer, für seinen Bericht.Ich rufe in der zweiten Beratung die Art. 1, 2, 3, Einleitung und Überschrift auf. — Das Wort wird nicht begehrt. Wer den aufgerufenen Bestimmungen, der Einleitung und der Überschrift zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Es ist so beschlossen.Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich vom Platze zu erheben. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Ich sehe keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Auch keine Enthaltungen. Einstimmig angenommen.
Ich rufe auf — meine Damen und Herren, ich darf um Ruhe bitten — Punkt 8 der Tagesordnung:
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11916 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Vizepräsident Dr. JaegerZweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Beseitigung von Tierkörpern, Tierkörperteilen und tierischen Erzeugnissen
— Drucksache 7/3225 —Bericht und Antrag des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
— Drucksache 7/3570 —Berichterstatter: Abgeordneter Büchler (Erste Beratung 152. Sitzung)Ich danke dem Berichterstatter, dem Abgeordneten Büchler , für seinen Bericht.Ich rufe in zweiter Lesung die §§ 1 bis 21, Einleitung und Überschrift auf. — Das Wort wird nicht gewünscht. Wer den aufgerufenen Bestimmungen, der Einleitung und der Überschrift zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Es ist so beschlossen.Wir kommen zurdritten Beratung.Wird das Wort in der allgemeinen Aussprache begehrt? — Das ist nicht der Fall. Dann kommen wir zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich vom Platze zu erheben. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Ich sehe keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Auch keine Enthaltungen. Einstimmig angenommen.Wir kommen zu Punkt 9 der Tagesordnung:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Futtermittelgesetzes— Drucksache 7/2990 —a) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 7/3629 — Berichterstatter: Abgeordneter Löfflerb) Bericht und Antrag des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
— Drucksache 7/3581 —Berichterstatter: Abgeordneter Solke
Ich danke den Berichterstattern, einerseits dem Abgeordneter Löffler, andererseits dem Abgeordneten Solke, für ihre Berichte. Wir kommen in zweiter Lesung zu den §§ 1 bis 25, Einleitung und Überschrift. — Wird das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Wer den aufgerufenen Bestimmungen, der Einleitung und der Überschrift zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Es ist so beschlossen.Wir kommen zurdritten Beratung.Das Wort wird nicht begehrt. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich vom Platze zu erheben. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Ich sehe keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Auch keine Enthaltungen. Einstimmig angenommen.Wir kommen zu Punkt 10 der Tagesordnung:a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Lenz , Erhard (Bad Schwalbach), Schulte (SchwäbischGmünd), Dr. Hauser , Vogel (Ennepetal), Sick und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes— Drucksache 7/3055 —Bericht und Antrag des Rechtsausschusses
— Drucksache 7/3450 —Berichterstatter:Abgeordneter DürrAbgeordneter Erhard
b) Beratung des Berichts und des Antrags des Ausschusses für Verkehr und für das Post-und Fernmeldewesen zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSUbetr. Neufassung des Verwarnungsgeldkataloges— Drucksachen 7/2755, 7/3562 — Berichterstatter: Abgeordneter WurcheIch danke den Berichterstattern, zu a) den Abgeordneten Dürr und Erhard , zu b) dem Abgeordneten Wurche, für ihre Berichte.Ich eröffne die zweite Beratung über den Gesetzentwurf in der Fassung der Drucksache 7/3450. Zu Art. 1 liegt ein Änderungsantrag vor. Wer wünscht dazu das Wort? — Herr Abgeordneter Lenz .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf die beiden Änderungsanträge zur zweiten und dritten Beratung zusammen begründen.
Der Änderungsantrag in der zweiten Lesung entspricht unserem ursprünglichen Antrag, unter die Kontrolle des Parlaments nicht nur Rechtsverordnungen, sondern auch allgemeine Verwaltungsvorschriften zu bringen, und zwar in der Form, daß eine Minderheit des Parlaments verlangen kann, daß sie im Parlament behandelt werden und darüber abgestimmt wird. Der Rechtsausschuß hat einstimmig dem Petitum zugestimmt, was die Rechtsverordnungen angeht. Er hat sich in seiner Mehrheit nicht entschließen können, auch die allgemeinen Verwaltungsvorschriften einzubeziehen. Die allgemeinen Verwaltungsvorschriften sind möglicher-
Dr. Lenz
weise der wichtigere Teil; denn z. B. der Bußgeldkatalog ist eine allgemeine Verwaltungsvorschrift und keine Verordnung und ist für die Bürger einschneidender als manche Verordnung, die hier erlassen wird.
Die Bundesregierung hat vorgetragen, es wäre eine Vermischung von Funktionen der Regierung und des Parlaments, wenn man das so mache. Ich finde, das Wort „Vermischung" hat einen negativen Beigeschmack. Wir sollten das wertneutral „Mitwirkung" nennen, und es ist natürlich ohne Zweifel eine solche Mitwirkung. Eine solche Mitwirkung ist, glaube ich, zulässig, wenn das Parlament wegen der Bedeutung der Sache ein berechtigtes Interesse an der Mitwirkung hat. Das hat das Bundesverfassungsgericht in Sachen Rechtsverordnungen auch anerkannt. Zu unserem Problem Stellung zu nehmen, hatte es noch keinen Anlaß, weil es eine derartige Vorschrift noch nicht gab. Ich glaube aber, der gleiche Rechtsgedanke muß auch hier gelten: Wenn ein berechtigtes Interesse des Parlaments vorliegt, dann soll eine solche Mitwirkungsmöglichkeit schon gegeben sein. Das Argument der Vermischung der Gewalten hat das Bundesverfassungsgericht bei den Rechtsverordnungen nicht als Argument anerkannt.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Arndt?
Ich bitte darum.
Herr Kollege Lenz, wie erklären Sie sich den Gegensatz, daß wir beide uns gemeinsam in der Enquete-Kommission Verfassungsreform bemühen, die Last der Gesetzgebungsaufgaben in diesem Parlament zurückzudrängen, abstraktere Gesetze zu machen, Sie hier aber genau das Gegenteil fordern?
Herr Kollege, ich glaube, die beiden Sachen sind in vollkommener Übereinstimmung; denn dadurch, daß wir hier auswählen können, was wir behandeln, erreichen wir genau das Ziel, das wir in der Enquete-Kommission anstreben.
Im übrigen zeigt ein Blick ins Gesetz — wenn Sie einmal hineinschauen —, was der Verordnungsgeber da alles machen kann und was der Verfasser von allgemeinen Verwaltungsvorschriften alles machen kann. Es sind Bestimmungen, die für die Mehrzahl unserer Mitbürger von unmittelbarer Bedeutung sind. Sie betreffen also 20 bis 30, vielleicht sogar mehr Millionen Menschen.
Im übrigen darf ich noch auf einen Gesichtspunkt hinweisen. In dem vor uns liegenden Bereich sind Verwaltungsvorschrift und Rechtsverordnung möglicherweise austauschbar. Infolgedessen würden wir unserer Sache gar keinen guten Dienst erweisen, wenn wir das eine Loch zustopften, das andere aber aufließen. Die Regierung könnte dann durch das offengelassene Loch genau das tun, was sie durch das verstopfte nicht mehr darf.
Deswegen, meine Damen und Herren, möchte ich Sie dringend bitten, unserem Änderungsantrag zur zweiten Lesung Ihre Zustimmung zu geben. Der Antrag hat in seiner Tendenz in der ersten Lesung die Zustimmung aller Fraktionen und sehr viele lobende Worte gefunden. Der Kollege Kleinert hat damals von einer Sternstunde des Parlaments gesprochen. Wenn ich die Besetzung von heute nachmittag sehe, habe ich allerdings den Eindruck, es ist eine bewölkte Sternstunde, meine Damen und Herren. Ich möchte Sie dringend bitten, den guten Intentionen der ersten Lesung die Treue zu bewahren und dem Änderungsantrag zur zweiten Lesung die Zustimmung zu geben.
Meine Damen und Herren, wenn das wieder abgelehnt wird — ich will es einmal ganz wertneutral sagen, Kollege Schäfer —, dann bieten wir Ihnen als zweitbeste Lösung den Änderungsantrag zur dritten Lesung an. Er ist zwar bei weitem nicht so gut wie der Änderungsantrag zur zweiten Lesung. Aber er ist immerhin besser als gar nichts. Deswegen: Wählen Sie die bessere Lösung; nehmen Sie den Änderungsantrag zur zweiten Lesung an! Dann brauchen Sie über den Änderungsantrag zur dritten Lesung gar nicht mehr abzustimmen.
Im übrigen möchte ich die Gelegenheit benutzen, denjenigen zu danken, die die zügige Beratung und heutige Abstimmung durch ihre Mitarbeit gefördert haben.
Das Wort hat Herr
Abgeordneter Dürr.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Lenz hat beide Abänderungsanträge begründet. Ich möchte zu beiden Änderungsanträgen Stellung nehmen.Allgemeine Verwaltungsvorschriften sind inner-dienstliche Akte, die sich nicht an den Bürger wenden. Zwar sieht das Grundgesetz in Art. 84 Abs. 2 und in Art. 85 Abs. 2 die Zustimmung des Bundesrates vor, aber nicht des Bundesrates als Gesetzgebungsorgan. Es handelt sich vielmehr um eine Mitbestimmung der Länder durch den Bundesrat, der Länder, an deren Verwaltungen sich diese Vorschriften richten.Der Bundestag als Parlament ist also nicht betroffen, sofern es sich nur um Angelegenheiten der Exekutive handelt, d. h. dann, wenn Verwaltungsvorschriften nur den Bereich umfassen, den Verwaltungsvorschriften umfassen dürfen, also innerdienstliche Akte, die sich nicht an den Bürger wenden.Nun kommt es gelegentlich zu Grenzüberschreitungen. Hinter dem Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU steht der Verdacht, daß solche Grenzüberschreitungen, die beileibe nicht vorsätzlich zu sein brauchen, öfters vorkämen. Wir sind der Meinung, daß es richtig und vernünftig ist, den Änderungsantrag auf Drucksache 7/3632, den die Oppositionsfraktion zur zweiten Lesung gestellt hat, abzulehnen. Wir halten den Antrag erstens wegen
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11918 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Dürrder Gewaltenteilung und zweitens überhaupt für nicht nötig, wenn keine Grenzüberschreitungen vorkommen, und allein auf Grund der Erörterung dieses Problems wird die Bundesregierung ihrerseits aufpassen, daß sie niemanden, insbesondere nicht den Bundestag, durch Grenzüberschreitungen provoziert. Auch der Bundestag wird aufpassen, daß solche Grenzüberschreitungen nicht vorkommen.Wenn dem Änderungsantrag, den Herr Kollege Lenz gerade begründet und für die dritte Lesung angekündigt hat, von uns zugestimmt wird, dann hat der Bundestag durch rechtzeitige Information auch die Möglichkeit, hier mit aufzupassen. Er hat — darauf will ich der Kürze der Zeit wegen gar nicht eingehen — auch die Möglichkeit, durch eine Verschärfung dieses Gesetzes dafür zu sorgen, daß Grenzüberschreitungen wirksamer entgegengetreten wird.Ich meine also, diese fleet in being ist nicht erforderlich, sondern dieser Hinweis und auch diese Erörterung heute
— mag sein! — bringen uns auf den richtigen Weg. Wir brauchen den Änderungsantrag auf Drucksache 7/3632 nicht. Deshalb bitten wir, ihn abzulehnen.Ich kündige an, daß wir dem Änderungsantrag auf Drucksache 7/3625 in der dritten Lesung zustimmen werden.
Zu diesem Antrag liegen keine Wortmeldungen mehr vor.
Wir kommen zur Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 7/3632. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das letzte war die Mehrheit. Der Antrag ist abgelehnt.
Wir kommen nun zur Einzelabstimmung in der zweiten Lesung. Wer den Art. 1, 2, 3, Einleitung und Überschrift in der Fassung des Ausschußberichtes die Zustimmung geben will, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen angenommen.
Wir kommen nunmehr zur
dritten Beratung.
Das Wort in der dritten Beratung hat der Abgeordnete Dreyer.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Namens der CDU/CSU möchte ich zu der von uns initiierten und heute zur Verabschiedung anstehenden Änderung des Straßenverkehrsgesetzes folgende Erklärung abgeben.Erstens. Die CDU/CSU begrüßt es, daß ihre Gesetzesinitiative von allen Fraktionen des Hauses getragen wird und damit heute mit breiter Mehrheit verabschiedet werden kann. Nach unserer Meinung unterstreicht das in besonderer Weise die Notwendigkeit dieser gesetzlichen Regelung, mit der dem Gesetzgeber Bundestag ein Mitsprache- und Mitentscheidungsrecht bei Verordnungen im Rahmen des Straßenverkehrsgesetzes eingeräumt wird.Daß heute unter Punkt 10 b der Tagesordnung des Deutschen Bundestages ein Antrag der Fraktion der CDU/CSU zur geplanten Neufassung des Verwarnungsgeldkataloges zur Beratung steht, ist als ein besonders plastisches Beispiel dafür anzusehen, wie in großem Umfang in die Rechtssphäre von Millionen Bürgern als Autofahrern und Verkehrsteilnehmern eingegriffen wird, ohne daß der Gesetzgeber Bundestag darüber unmittelbar mit zu entscheiden hätte. Der Antrag der CDU/CSU zum Verwarnungsgeldkatalog ist ja nur eine Hilfskonstruktion, um von seiten des Parlaments auf die Ausgestaltung dieses Kataloges Einfluß zu nehmen, indem nämlich die Bundesregierung aufgefordert wird, bei der Neufassung dieses Kataloges bestimmte Dinge zu tun bzw. zu unterlassen.Zweitens. Unser Antrag hat immerhin bewirkt, daß die Erhöhung der Verwarnungsgelder in vielen Fällen erheblich reduziert wurde, insbesondere bei den sogenannten Bagatelldelikten. Wie schwach diese Hilfskonstruktion eines Antrages dennoch ist, ergibt sich aus der Tatsache, daß die Bundesregierung den neuen Verwarnungsgeldkatalog bereits zu einem Zeitpunkt dem Bundesrat zur Verabschiedung zuleitete, als die zuständigen Ausschüsse des Bundestages oder gar der Bundestag selbst noch gar nicht über den Antrag der Union entschieden hatten.
Drittens. Wer ermessen will, wie tiefgreifend im Rahmen des Straßenverkehrsgesetzes in die Rechtssphäre der Bürger als Autofahrer und Verkehrsteilnehmer eingegriffen werden kann, dem seien nur folgende Maßnahmen in Erinnerung gerufen. Der Bußgeldkatalog hat im Jahre 1974 zu 1,4 Millionen Bußgeldbescheiden und zu 2,1 Millionen Eintragungen in die Verkehrssünderkartei geführt.
Mit dem Mehrfachtäterpunktsystem ist ohne Mitbestimmung des Gesetzgebers Bundestag ein System geschaffen worden, das für Millionen von Verkehrsteilnehmern nur Minuspunkte, aber keine Pluspunkte verteilt, dessen Grad an Perfektion zweifellos bestechend ist, das aber bei der Punktbemessung völlig unberücksichtigt läßt, ob der Verkehrsteilnehmer leichtfertig, also grob fahrlässig, gehandelt hat
oder ob ihm bei der Berücksichtigung der gesamten Verkehrslage nur ein äußerst geringes Verschulden angelastet werden kann.Die gesamte Straßenverkehrsordnung entzieht sich der Mitberatung des Parlaments. Das Thema Richtgeschwindigkeiten oder Höchstgeschwindigkeiten auf Straßen bzw. Autobahnen hat eine weiß
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975 11919
DreyerGott breite öffentliche Diskussion ausgelöst. Wer aber nicht mitreden konnte, war der Gesetzgeber Bundestag.
Dies sind nur einige markante Beispiele, die sich leicht durch weitere ergänzen ließen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Gerne!
Bitte schön, Herr Kollege!
Herr Kollege Dreyer, könnten Sie sich vorstellen, daß sich auch die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundeskanzleramt für dieses Thema interessieren könnte?
Sicher stößt das auf das Interesse des gesamten Parlaments und letzten Endes auch der Bundesregierung.
Ich meine, meine Damen und Herren, dies sind nur einige markante Beispiele, die sich leicht durch weitere ergänzen ließen. Bemerkenswert ist allerdings, daß es sich bei einigen der genannten Punkte, vielleicht sogar bei den gravierendsten, nicht um Verordnungen, sondern um allgemeine Verwaltungsvorschriften handelt, die nach dem Willen der Koalitionsfraktionen nicht mit in diesen Gesetzentwurf aufgenommen werden sollen.
An uns als Verkehrspolitiker wenden sich tagtäglich Bürger mit ihren Sorgen und Nöten oder gar mit konkreten Verbesserungsvorschlägen im Rahmen des Straßenverkehrsgesetzes oder im Rahmen der angesprochenen Maßnahmen. Tagtäglich erlebt man ihre Verwunderung, wenn sie erfahren, daß das Parlament mit diesen Dingen eigentlich gar nichts zu tun hat. Es ergibt sich hier in der Tat eine recht seltsame Arbeitsteilung. Die Verordnungen und allgemeinen Verwaltungsvorschriften im Rahmen des Straßenverkehrsgesetzes werden am Parlament vorbei in Kraft gesetzt, aber mit den Beschwerden, den Sorgen und Nöten und den Verbesserungsvorschlägen sollen sich dann die Parlamentarier herumschlagen. Man kann nur begrüßen, daß der vorliegende Gesetzentwurf dazu beiträgt, diese Art von Arbeitsteilung endgültig zu beenden.
Das Wort hat der Abgeordnete Dürr.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt in diesem Haus eine Übung und daher auch eine entsprechende Vermutung, daß nur die Sachen besonders bedeutend seien, über die besonders lange gesprochen werde. Bitte, entnehmen Sie deshalb aus der Tatsache, daß ich nur eine kurzeErklärung abgeben werde, nicht, daß ich und meine politischen Freunde dieses hier angeschnittene Problem der Änderung des Straßenverkehrsgesetzes für unbedeutend halten würden.In einer Zeit, in der die Befugnisse der Parlamente im allgemeinen und dieses Bundestags im besonderen zunehmend beschnitten werden,
verdient es Aufmerksamkeit und Anerkennung, wenn dieser Bundestag sich Kompetenzen wieder zurückholt.Lassen Sie mich eine Anmerkung zu der Rede des Kollegen Dreyer machen. Hier geht es um wesentlich mehr als um die Änderung eines Bußgeldkatalogs. Ich will jetzt nicht auf einige Passagen der Rede von Herrn Dreyer, die vielleicht etwas unfreiwillige Komik enthielten, eingehen, um Ihre Zeit nicht zu lange in Anspruch zu nehmen. Ich möchte nur sagen: es handelt sich beim Straßenverkehrsrecht um wichtige Sachen, die viele, fast alle Bürger berühren.
Sehr viele, nicht nur die Führerscheininhaber, interessieren sich für Probleme und Regelungen des Straßenverkehrsrechts, und sicher weit mehr als 10 Millionen Bürger der Bundesrepublik, nämlich nahezu alle, fühlen sich nicht völlig zu Unrecht als Sachverständige, weil sie tagtäglich mit dem Straßenverkehr zu tun haben.
Wenn die Kompetenzen des Parlaments durch dieses Gesetz erweitert werden, müssen logischerweise Kompetenzen anderer vermindert werden. Hier sind es Kompetenzen der Bundesregierung. Daß die Bundesregierung dem Wunsch des Parlaments, seine Befugnisse zu erweitern, nicht einen hinhaltenden Widerstand entgegengesetzt hat, sondern von der Einbringung dieses Gesetzentwurfs an den Wunsch des Parlaments geachtet hat, verdient unseren Respekt.
Was den Änderungsantrag, der noch zur Abstimmung ansteht, betrifft, so soll durch ihn dafür gesorgt werden, daß der Bundestag auch über die allgemeinen Verwaltungsvorschriften rechtzeitig informiert wird.Eines müssen wir der Bundesregierung zugestehen — und das werden wir sicher alle, soweit wir sachkundig sind, tun , daß sie auch zu der Zeit, in der der Bundestag weniger oder auf vielen Gebieten im Straßenverkehrsrecht nichts zu sagen hatte, dem Parlament die Information bis zum letzten Komma und bis zur letzten Einzelheit jedenfalls nie versagt hat. Das verdient hier auch festgehalten zu werden.Wir stimmen dem Gesetzentwurf zu.
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11920 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Das Wort hat der Abgeordnete Kleinert.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir stimmen dem Gesetz wie auch dem Änderungsantrag ebenfalls zu. Ich habe bereits in der ersten Lesung darauf hingewiesen, daß es wünschenswert sein kann, auf einem Gebiet einen Anfang zu machen, auf dem sich die Diskrepanz zwischen der in der Öffentlichkeit vermuteten Zuständigkeit des Parlaments und seiner tatsächlichen Zuständigkeit besonders deutlich bemerkbar macht, daß wir aber, vielleicht nachdem einige Erfahrungen mit dieser Regelung gesammelt worden sind, bei den Worten „Verordnung" und „Verordnungsermächtigung" als Parlament auch in anderen Fällen immer sehr hellhörig sein und nicht von Anfang an davon ausgehen sollten, daß es sich hierbei um eine Einzelregelung handeln muß, sondern daß wir uns vielmehr überlegen sollten, wo die Zusammenarbeit zwischen dem Parlament und der Bundesregierung, wie es hier geschehen ist, noch etwas enger verzahnt werden kann.
Ich möchte damit in gewisser Weise, was ich höchst ungern und deshalb auch selten tue, Herrn Kollegen Dürr widersprechen, wenn er sagt, hier habe die Bundesregierung etwas abgeben müssen, weil wir etwas mehr bekommen hätten. Ich glaube, das wird der Regelung, die hier getroffen worden ist, nicht ganz gerecht. Denn tatsächlich handelt es sich nur darum, daß für das Haus zusätzliche Möglichkeiten eröffnet werden, während die ursprünglichen Möglichkeiten der Bundesregierung zunächst einmal erhalten bleiben. Diese Art der Zusammenarbeit auch auf anderen Gebieten für die Zukunft ins Auge zu fassen ist, meine ich, etwas, an das man hier erinnern sollte.
Noch eine zweite Bemerkung. Es sind eindrucksvolle Zahlen genannt worden, z. B. wie viele Bußgeldbescheide jährlich ergehen. Eine weitere Zahl ist in diesem Zusammenhang nicht genannt worden, nämlich wieviel Geldmittel dadurch in welche öffentlichen Kassen fließen. Ich möchte hier einmal darauf hinweisen, daß die rechtspolitisch gemeinte Ausgliederung der kleinen Geldstrafen in den Bereich der Ordnungswidrigkeiten einen Nebeneffekt gehabt hat, der uns rechtspolitisch schwer zu schaffen macht. Das hat nämlich dazu geführt, daß die enormen Beträge, die hier aufkommen, nicht mehr wie früher über den Justizfiskus in den verschiedenen Ländern, sondern über die Länderinnenministerien oder über Gemeinde- und Landkreiskassen eingenommen werden. Das erweckt den Eindruck, als ob eine nachteilige Entwicklung zwischen dem Aufkommen im Bereich der Justiz und ihren Kosten entstanden wäre. Dieser Eindruck täuscht aus den dargelegten Gründen.
Deshalb und auch mit Rücksicht darauf, daß heute bei der Ausgestaltung des Rechtsweges ein Wechsel zwischen zwei Gewalten eintritt, wenn gegen einen Bußgeldbescheid Einspruch eingelegt wird, sollte man sich für die Zukunft überlegen, ob diese Vorgänge trotz ihrer Behandlung als Ordnungswidrigkeit nicht — zweckmäßigerweise wieder im Justizbereich behandelt werden.
Meine Damen und Herren, Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Zur Abstimmung in dritter Lesung liegt ein Änderungsantrag auf Drucksache 7/3625 vor. — Herr Kollege Lenz, ich nehme an, daß Sie die Begründung in Ihrer Rede zur zweiten Lesung bereits mitgeliefert haben.
Jetzt kommen wir zur Abstimmung über diesen Änderungsantrag. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um sein Handzeichen. - Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig so beschlossen.
Dann stimmen wir in
dritter Beratung
über den Gesetzentwurf mit der Änderung ab. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig so beschlossen.
Nunmehr kommen wir zur Abstimmung zu Punkt 10 b der Tagesordnung. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — So beschlossen.
Wir kommen zu Punkt 11 der Tagesordnung:
Große Anfrage der Abgeordneten Dr. Schneider, Mick, Dr. Müller-Hermann, Höcherl und der Fraktion der CDU/CSU
betr. Ziele und Aufgaben der Wohnungspolitik
— Drucksachen 7/3002, 7/3523 —
Die Antwort auf die Große Anfrage liegt Ihnen vor. — Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Schneider.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage betreffend Ziele und Aufgaben der Wohnungspolitik bedachte die „Süddeutsche Zeitung" mit einem Kommentar, der die bezeichnende Überschrift trägt: „Rätsel der Wohnungspolitik". In der Tat muten die verschränkten und relativierenden, reichlich vieldeutigen und immer wieder im Konjunktiv formulierten Antworten der Bundesregierung rätselhaft an. Frei nach „Faust" könnte man sagen, Herr Professor Schäfer: Auf zwölf Seiten wenig Klarheit.
— Herr Professor Schäfer, Sie sind ein Professor, gelehrt und haben das Vorspiel bei „Faust" gelernt, wo es heißt: Auf zwölf Seiten wenig Klarheit, viel Irrtum und ein Fünkchen Wahrheit.
— Ja, das sagt sogar die Lustige Person in dem „Vorspiel auf dem Theater", Herr Professor.Erstaunlich, meine Damen und Herren, an dem Ganzen ist nur, wie lange die Bundesregierung ge-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975 11921
Dr. Schneider
braucht hat, um ihre äußerst verlegene, ausweichende und mangelhafte Antwort zu geben. Sie brauchte vier Monate. Aber selbst nach einer Bearbeitungszeit von vier Monaten läßt sie keinerlei Ansätze für eine wohnungspolitische Gesamtkonzeption sichtbar werden.Die Große Anfrage der Opposition konzentrierte sich auf folgende Schwerpunkte:— auf welche Weise der Konjunktureinbruch in der Bauwirtschaft überwunden und langfristig die notwendige Verstetigung der Bautätigkeit erreicht werden soll;— durch welche Maßnahmen die von dem Konjunktureinbruch überlagerte Struktur- und Absatzkrise der Bau- und Wohnungswirtschaft überwunden und insbesondere die Halde unverkäuflicher und unvermietbarer Wohnungen abgebaut werden kann;— durch welche Möglichkeiten die langfristigen Finanzierungsprobleme im Wohnungsbau gelöst werden können;— von welchen Verhältnissen zwischen dem Neubau und der Modernisierung von Wohnungen die Bundesregierung ausgeht und schließlich— nach welchen Grundsätzen die wünschenswerte Verzahnung von Objekt- und Wohngeldförderung erreicht werden soll.Schon am 15. Januar 1975 hat Bundesminister Ravens in einer Ausschußsitzung festgestellt, daß sich Bundes- und Länderminister einig seien, daß die Gesamtkonzeption für den sozialen Wohnungsbau im wesentlichen auf folgende Fragen eingehen muß. Wieviel Sozialwohnungen müßten in Zukunft für wen und in welcher Form gebaut werden und in welcher Zahl und vor allem an welchem Ort? Dabei, meine Damen und Herren, ist davon auszugehen, daß gegenwärtig etwa 75 % aller Familien im sozialen Wohnungsbau anspruchsberechtigt sind; in einer Stadt wie Hamburg sind es sogar 80 % aller Familien, die im sozialen Wohnungsbau anspruchsberechtigt sind.Weiter darauf: Welche Mieten und Belastungen können den Haushaltungen zugemutet werden, die in die sozialen Wohnungen einziehen? Wie soll gefördert werden? Wie soll die finanzielle Last auf Bund, Länder und Gemeinden verteilt werden? Wie kann die Förderung des sozialen Wohnungsbaus optimal mit dem Wohngeld und der Modernisierung verzahnt werden?Ich muß leider feststellen: die Bundesregierung hat keine einzige dieser Fragen beantwortet. Sie räumt nur ein, daß alle ihre Aussagen über die Entwicklung des Wohnungsmarktes, die künftige Ausgestaltung der Wohnungspolitik und die Höhe des voraussichtlichen Bedarfs an Sozialwohnungen mit erheblichen Unsicherheiten belastet sind. Das Gesamtkonzept zur Neuorientierung der Wohnungspolitik darf sich nicht nur auf die Förderung des Wohnungsbaus beschränken, es muß vielmehr .den Wohnungsbestand mit einbeziehen, und zwar nicht nur hinsichtlich seiner Verbesserung — wie bei Sanierung und Modernisierung —, sondern auch hinsichtlich seiner Verteilung. Die Beratung mit den Ländern, auf die die Bundesregierung anspielt, bezieht sich aber nur auf die Förderung des Wohnungsbaus und die Auseinandersetzung um die zweckmäßigste Förderung der Modernisierung. Die Bundesregierung wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Wenn der Bund mit den Ländern aber verhandeln will, muß er zuerst seine eigene Position festlegen.Aus unserer Sicht ist die Lage der Wohnungswirtschaft und des Wohnungsbaus wie folgt zu kennzeichnen.Erstens. Der Grundbedarf an Wohnungen ist gesättigt. Das marktwirtschaftliche Angebot muß sich auf den Ersatzbedarf und auf spezifische Bedarfsfelder konzentrieren. Die sozialpolitisch motivierte Wohnungsbaupolitik des Staates muß auf ganz bestimmte Bedarfsgruppen ausgedehnt werden.Zweitens. Der wahrscheinlich anhaltende Anstieg der Gesamtgestehungskosten und die weitere Verteuerung der Hausbewirtschaftung — die Betriebskosten, die Erhaltung, Instandsetzung und Verwaltung — führen dazu, daß Mieten und Lasten weiter steigen werden — im Zweifel stärker als die Realeinkommen —, zumal auch die kommunalen Gebühren, Abgaben und Lasten, die auf die Mieten durchschlagen, von Jahr zu Jahr weiter ansteigen werden. Vielfach sind die Hausbesitzer ja nur unbezahlte Inkassoagenten der Kommunen, die ihre Gebühren jeweils an die Gemeinschaft, an die Kommunen weiterzuleiten haben.Drittens. Die Bereitschaft, die Mieten für neugeschaffenen Wohnraum zu zahlen, die zur nachhaltigen Deckung der Kosten notwendig sind, wird allgemein schwächer. Gleichzeitig wird die Bereitschaft zu Investitionen im Wohnungsbau weiter nachlassen. Nur durch verstärkte Bildung von Eigentum an der eigengenutzten Wohnung wird es möglich sein, für Neu- und Ersatzbauten das erforderliche Eigenkapital und die nachhaltige Deckung der Wohnbelastung aus dem laufenden Haushaltseinkommen aufzubringen. Sparkraft und Sparwille breiter Bevölkerungsschichten sind noch ungebrochen. Sie müssen noch stärker als bisher auf das Gut Wohnung ausgerichtet werden. Hier erhält die Vermögensbildung für die weitaus meisten Sparer einen handgreiflichen Sinn.Viertens. Die Objektförderung des sozialen Wohnungsbaus, vor allem auf dem 1. Förderungsweg, ist an ihre Grenze gestoßen. Sie muß auf den Bau von Wohnungen zugunsten von Personenkreisen konzentriert werden, die den spezifischen Zweck der Wohnung bei der Nutzung nicht ändern oder aufgeben, z. B. durch Verkleinerung von Hausbalten, deren Einkommens- und Vermögenssituation sich jedenfalls im Verhältnis zur allgemeinen Einkommensentwicklung nicht mehr wesentlich verbessert, so daß der Subventionszweck nicht gefährdet wird, also keine Fehlsubventionierung entsteht, und diese Förderung billiger als die gerechtere Individualförderung ist.Fünftens. Der Bestand an öffentlich geförderten Sozialmietwohnungen erfüllt seinen Subventions-
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11922 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Dr. Schneider
zweck nur unvollkommen, weil die Mieten dank der Zufälle der Baujahre und der Finanzierung den Wohnwert nur unvollkommen wiedergeben, wenigstens ein Teil der Mieterhaushalte, vor allem hinsichtlich des älteren Bestands, den Einkommensgrenzen entwachsen ist — ich spreche das Problem der Fehlsubventionierung an — und insoweit die Wohnungen für bedürftigere Haushalte blockiert und vor allen Dingen — ganz entscheidend — die seit 1970 geförderten Wohnungen durch die periodische Kürzung der Aufwendungsbeihilfen in ein Mietniveau hineinwachsen, das über dem der freifinanzierten Wohnungen liegt.
Diese Wohnungen sind ungesund, unsolide finanziert. Sie bilden eine wohnungspolitische Lawine, die auf uns zurollt. Hier tickt eine Bombe!
Sechstens. Die Modernisierung erhöht zwar den Gebrauchswert vor anderen Wohnungen, verteuert die Wohnung aber so sehr, daß ohne Subventionen, wenn überhaupt, nur eigengenutzte Wohnungen, Mietwohnungen jedoch nur mit Subventionen modernisierungsfähig sind.Siebtens. Die städtebauliche Sanierung stockt häufig nicht nur wegen der komplizierten Vorbereitung oder wegen Schwierigkeiten in der Ordnungsphase, sondern vor allem auch aus Mangel an Investitionsbereitschaft der Bauherren wegen fehlenden Kapitals oder schrumpfender Absatzerwartungen.Meine Damen und Herren, dies ist der Sachverhalt, von dem eine wohnungspolitische Debatte insgesamt auszugehen hat. Wir wissen, daß der Stellenwert der Wohnungspolitik verfassungsrechtlich besonders qualifiziert ist. Freilich: Im Gegensatz zum Grundgesetz, das keine Bestimmung enthält, die ausdrücklich das Recht auf Wohnraum garantiert, enthalten drei Länderverfassungen Artikel, die ein Recht auf Wohnraum konstituieren. Es handelt sich zunächst um die Verfassung des Freistaates Bayern vom 2. Dezember 1946, ferner um die Landesverfassung der Freien und Hansestadt Bremen vom 21. Oktober 1947 sowie um die Verfassung des Landes Berlin vom 1. September 1950.Die Verfassung des Freistaates Bayern hat als erste deutsche Verfassung überhaupt jedem Bewohner Bayerns einen Anspruch auf eine angemessene Wohnung garantiert und die Förderung des Baus billiger Volkswohnungen zur Aufgabe des Staates und der Gemeinden gemacht.
Freilich: Ein subjektiver Anspruch des einzelnen auf Wohnraum besteht durch diese Verfassungsvorschrift nicht. Indessen kommt diesen Verfassungsbestimmungen ein hoher wohnungspolitischer Wert zu; die Regierungen und Parlamente werden unter einen wohnungspolitischen Imperativ gestellt, wie er auch wohl in Artikel 20 in Verbindung mit Artikel 1 Abs. 1 des Grundgesetzes konstituiert sein dürfte, denn zweifellos muß als Ausgangspunkt der Wohnungspolitik eine sozialstaatliche Grundposition gelten, die menschenwürdige Verhältnisse in allen Lebensbereichen postuliert.Unter „Wohnungspolitik" im Sinne der Großen Anfrage der CDU/CSU-Fraktion vom 18. Dezember 1974 verstehen wir die Gesamtheit aller staatlichen Maßnahmen, die auf eine angemessene, dauerhaft gesicherte Versorgung der Bevölkerung mit Wohnungen gerichtet ist. Die wohnungspolitische Verantwortung der Bundesregierung erschöpft sich somit keinesfalls im Kompetenzbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau; die Richtlinienkompetenz des Herrn Bundeskanzlers ist hier gefordert, und zwar heute mehr denn je, weil die Wohnungspolitik in den Brennpunkt der Wirtschafts-, Finanz- und Konjunkturpolitik gerückt ist.Ich frage: Was tut der Bundeskanzler? Was meint er? Das ist weitestgehend unbeantwortet. Ich hätte es auch außerordentlich begrüßt, wenn zur Aussprache über unsere Große Anfrage, insbesondere aber über die Antwort der Bundesregierung, der Herr Wirtschaftsminister, der Herr Finanzminister, die Frau Familienminister und der Sozialminister anwesend wären, denn Wohnungspolitik berührt diese Sachbereiche sehr, sehr zentral.
— Meine Herren von der SPD, wir haben nicht den Bundesrat, sondern die Bundesregierung gefragt, und die soll heute Antwort geben!
Herr Wohnungsbauminister, ich habe — in aller Offenheit gesagt — den Eindruck gewonnen, und deswegen weise ich auf die Richtlinienkompetenz des Kanzlers besonders hin, daß man Sie bei der Beantwortung der Großen Anfrage im Bundeskabinett in weiten Teilen und auf großen Strecken hat allein stehenlassen.
Daß dies so geschehen kann, wundert mich um so mehr, als der Herr Bundespräsident, Walter Scheel, anläßlich der Eröffnung der Bundesgartenschau in Mannheim die öffentliche Verantwortung der Planer besonders hervorgehoben und uns aufgefordert hat — und seine Aufforderung hat sich sicherlich an die Bundesregierung, an das Parlament, die Parteien und die Öffentlichkeit gleichermaßen gerichtet —, im Blick auf Landschaftspflege und Städteplanung neue Wertordnungen aufzustellen und nach ihnen zu handeln. Neue Wertordnungen erfordern natürlich auch ein Umdenken innerhalb der Bundesregierung.Mit Rücksicht darauf, daß über den von der Bundesregierung soeben erst verabschiedeten Städtebaubericht eine eigene parlamentarische Aussprache stattfinden wird, will ich auf die städtebaulichen
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Dr. Schneider
und raumordnerischen Aspekte der Wohnungspolitik nicht näher eingehen. Ich gehe im einzelnen auch nicht ein auf die wohnungspolitische Studie, die der Wissenschaftliche Beirat für Familienfragen im November 1974 vorgelegt hat. Denn dies kann im Rahmen der weiteren Aussprache und insbesondere bei der Beratung des Zweiten Familienberichtes geschehen. Ich beschränke mich auf den Hinweis, daß ich es für die wohnungspolitische Entschlußkraft der Bundesregierung sehr bezeichnend finde, daß sie, jedenfalls nach dem Inhalt des Zweiten Familienberichtes, nicht bereit ist, aus dieser Studie die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. In wohnungspolitischer Hinsicht muß ich feststellen, daß dieser Familienbericht keineswegs familienfreundlich ist.Eines der aktuellsten Probleme in der Wohnungspolitik ist der Bestand an leerstehenden Wohnungen, das Problem der Wohnungshalde. Um die Wende zum Jahr 1975 standen in unserem Lande nach Angabe der Bundesregierung in ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage wahrscheinlich 200 000 Neubauwohnungen leer. In Fachkreisen wird diese Zahl beträchtlich höher geschätzt. Der Vorsitzende der gewerkschaftseigenen Wohnungsbaugruppe „Neue Heimat", Herr Albert Vietor, erwartet bis Jahresmitte ein Anwachsen der Halde auf 400 000 Einheiten.Die Bundesregierung hat schon auf die schlichte Frage nach der Größe der Wohnungshalde nervös und gereizt geantwortet, Sie sagte nämlich: Die Zahl der leerstehenden Neubabuwohnungen ist sicher niedriger, als es in tendenziösen Meldungen unterstellt worden ist. — Wollen Sie Herrn Vietor die Verbreitung tendenziöser Meldungen unterstellen?Erst am 9. Mai 1975 — erst vor wenigen Tagen also — bezifferte Helmut Tepper, der Direktor des Gesamtverbandes gemeinnütziger Wohnungsunternehmen, den Haldenbestand auf mindestens 300 000 Einheiten. Ich lasse jetzt dahingestellt, welche Zahl der Wirklichkeit am nächsten kommt, teile aber mit den Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftwissenschaftlicher Forschungsinstitute die Auffassung — sie haben sich dazu am 25. April 1975 geäußert —, daß es von der Struktur dieser Halde abhängt, inwieweit sie die Umsetzung von Wohnungsnachfrage in Neubautätigkeit tatsächlich verhindert. Denn daß die leerstehenden Bestände ein gewisses Hindernis für die Sicherheit der Arbeitsplätze sind, haben die fünf Institute ausdrücklich hervorgehoben.Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hatte schon Wochen vorher, am 27. März 1975, festgestellt — ich zitiere wörtlich —:Solange zumindest ein großer Teil dieser Wohnungen am Markt nicht untergebracht ist, werden die Wohnungsunternehmer als traditionelle Anbieter von Neubauten, wenn überhaupt, nur in geringem Maße geneigt sein, weitere Wohnungen zu bauen.Wer zur Bereinigung der Haldenprobleme eine wirkungsvolle Politik entwickeln will, muß von realistischen Zahlen ausgehen. Die von der Bundesregierung hierüber angestellten Erhebungen erfüllen die Voraussetzungen nicht. Es bedarf wohl keiner ausdrücklichen Begründung, daß nur solche Strukturdaten für die politische Praxis hilfreich sind, die etwas über die Größe, die Qualität, die Ausstattung, die Grundrißgestaltung, den Standort und das Kostenniveau aussagen.Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, daß sich das Land Nordrhein-Westfalen geweigert hat, die von der Bundesregierung erbetenen Erhebungen durchzuführen, läßt das föderalistische Verständnis der Regierung Kühn in einem äußerst kritischen und zweifelhaften Licht erscheinen.
Es ist geradezu skandalös, wenn sich eine sozialliberale Landesregierung — —
— Gerade weil der Wahlkampf vorbei ist, darf ich um so mehr sagen: In dieser entscheidenden Frage, wo es um Arbeitsplätze geht, wo es um eine grundlegende Datenforschung geht, wo die Bundesregierung eine Landesregierung um solche Erhebungen bittet, nenne ich es einen Skandal, zumindest einen miserablen Stil, wenn sich ein Land der Bundesregierung, dem Bund und auch dem Parlament gegenüber verweigert.
Ungeachtet der grundsätzlichen Zuständigkeit der Länder und Gemeinden sowie der Wohnungs- und Kreditwirtschaft halte ich es für notwendig und dringlich, Herr Minister, daß sich die vom Bund finanzierte Bau- und Wohnungsforschung verstärkt dieser Strukturuntersuchung und Marktbeobachtung zuwendet.Ich würde es auch begrüßen, Herr Minister, wenn die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag umgehend den Entwurf des Wohnungszählungsgesetzes 1975 zuleiten würde, dem der Bundesrat bereits am 12. Juli 1974 zugestimmt hat. Im Bundesrat wurde nämlich ausdrücklich darauf hingewiesen, daß in den Bereichen Raumordnung, Regionalplanung, Städtebau und Wohnungswesen für die Wirtschaftsentwicklung und Arbeitsmarktpolitik die Fortschreibung der letzten Zählung keine zuverlässigen Werte mehr liefert. Bereits am 8. Mai 1974 habe ich in einer mündlichen Frage eine Strukturanalyse der Halde gefordert. Mit Rücksicht auf das zu erwartende Wohnungszählungsgesetz wurde diese Angelegenheit dann aber nicht mehr weiterverfolgt. Seit über einem Jahr ist die Bundesregierung in dieser wesentlichen Frage, die die Voraussetzung schaffen muß für eine weitere sach- und maßstabbezogene Wohnungspolitik, untätig geblieben.
Herr Bundesminister Ravens hat mehrfach unterstrichen, daß sich die Bundesregierung der Problematik der Wohnungshalde bewußt sei. Die Bun-
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desregierung hält die Summe aller Einzelrisiken gesamtwirtschaftlich aber immer noch für vertretbar. Das Haldenproblem hat im Urteil der Bundesregierung noch keine Größenordnung erreicht, die das Allgemeinwohl gefährden könnte. Denn für diesen Fall hat die Bundesregierung im Dezember 1974 auf eine Anfrage von mir ihr Eingreifen angekündigt.An ihrer Politik der fatalistischen Untätigkeit hindert die Regierung auch nicht das Gutachten, das der Arbeitskreis sozialer Wohnungsbau beim Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ende April erstattet hat. Die Bundesregierung hat der deutschen Öffentlichkeit diese Expertise verschwiegen. Auch der Deutsche Bundestag muß sich insoweit auf die Veröffentlichungen in der Presse stützen. Es entspricht einem Gebot der parlamentarischen Fairneß, daß die Bundesregierung dem Parlament alle Erkenntnisquellen erschließt und jede Entscheidungshilfe bereitstellt, die ihr selbst zur Verfügung steht — jedenfalls in einer solchen Frage.Diese Forderung ist aus der Sicht der Opposition um so mehr gerechtfertigt, als Sie, Herr Bundesminister Ravens, davon gesprochen haben, die Vorschläge der CDU/CSU-Fraktion liefen auf eine generelle Übernahme des Marktrisikos durch die Öffentlichkeit hinaus. Herr Bundesminister, mit dieser Behauptung hat sich die Bundesregierung in das wohnungswirtschaftliche Abseits gestellt und den einmütigen Widerspruch aller Sachverständigen — auch der aus den Reihen der Koalition selbst — herausgefordert. Die Experten des Wohnungsbauministers selbst sind mit der Opposition der Auffassung, daß die Wohnungshalde die gegenwärtige Krise der Bauwirtschaft zementiere und daß eine auf den Haldenabbau gerichtete Politik vermögenspolitisch wünschenswert, konjunktur- und arbeitsmarktpolitisch aber unumgänglich ist.Meine Damen und Herren, wenn wir von Bauwirtschaft sprechen, denken wir nicht nur an die einzelnen Unternehmer, sondern an alle Beteiligten, nicht zuletzt an die Arbeitnehmer dieses Wirtschaftszweiges und an den Multiplikatoreffekt, der von der Bauwirtschaft im allgemeinen und von der Wohnungswirtschaft im besonderen ausgeht. Niemand soll aus seiner unternehmerischen Verantwortung entlassen werden. Das gilt ebenso für die Bauträger wie für die Kreditgeber.Die marktwirtschaftliche Ordnung steht nicht zur Diskussion. Im Gegenteil! Wer unsolide gewirtschaftet hat, soll das Schicksal des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs erleiden.
Wer für die Erhaltung von Arbeitsplätzen eintritt und sich zum Verteidiger einer breiten Streuung von Wohnungseigentum macht, sündigt nicht gegen das Prinzip der freien und sozialen Marktwirtschaft. Die Sünder sind vielmehr unter denen zu finden, die das Wirtschaftsgut „Wohnung" und die Wohnungswirtschaft als Ganzes über das sozial notwendige und marktwirtschaftlich zuträgliche Maß hinaus einerüberzogenen dirigistischen öffentlichen Kontrolle und Nutzung unterwerfen wollen.
Unsere Überlegungen zum Haldenabbau sind in erster Linie sozialpolitisch motiviert. Alle Maßnahmen sollen der Eigentums- und Vermögensbildung im sozialen Wohnungsbau dienen. Daß sie daneben noch eine konjunkturpolitische Wirkung auslösen werden und sollen, mindert ihren sozialen Charakter nicht im geringsten. Ohne Mitwirkung der öffentlichen Hand — das sagen alle Experten; ich werde Ihnen gleich noch aufzählen, welche Experten auch aus Ihren eigenen Reihen, sofern Sie die eigenen Leute noch als Experten gelten lassen wollen — wird es der Wohnungswirtschaft auch bei konstruktiver und verlustreicher Zusammenarbeit mit den Kreditinstituten nicht gelingen, eine Lösung durchzusetzen, die am Ende gesamtwirtschaftlich und damit auch sozialpolitisch akzeptiert werden kann. Die Untätigkeit kommt den Fiskus am teuersten zu stehen. Ich füge hinzu: Untätigkeit wäre am Ende auch die unsozialste aller denkbaren Verhaltensweisen.Die Gutachter des Wohnungsbauministers haben unter anderem festgestellt — ich zitiere wörtlich —:Das Durchhalten von Halden führt zu einer erheblichen Zinsbelastung. Unterstellt man Herstellungskosten von 150 000 DM, eine Fremdfinanzierung von 120 000 DM je Wohnung, eine Zinsbelastung hieraus von zirka 10 v. H. und eine Durchhaltefrist von durchschnittlich zwei Jahren, so ergibt sich über diesen Zeitraum hinweg eine Zinsbelastung von 4,8 Milliarden DM. Geht man davon aus, daß bei Eigentumsmaßnahmen eine dreimonatige Zwischenfinanzierung ohnehin bereits angesetzt war, verbleibt auf zwei Jahre verteilt eine Erhöhung des Risikos um insgesamt 4,5 Milliarden DM. Um die Dimensionen deutlich zu machen:— so sagen die Gutachter —Der Produktionswert des Sektors „Wohnungsvermietung ohne Nutzung von Eigentümerwohnungen" wird für 1974 auf 33,3 Milliarden DM geschätzt. Der Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt betrug 20,8 Milliarden DM, die Wertschöpfung rund 10,5 Milliarden DM.Soweit die Gutachter des Ministers.Bei der hier errechneten Zinsbelastung wird von 200 000 leerstehenden Einheiten ausgegangen; sie beruht auf einer zweijährigen Laufzeit. Sollte sich aber die Annahme der „Neuen Heimat", des Herrn Vietor, als richtig erweisen, so betrüge der Zinsaufwand in zwei Jahren nicht 4,6, sondern 9,6 Milliarden DM. Auch ist unschwer zu erkennen, in welchem Umfange hier Sammelwertberichtigungen der Kreditinstitute auf das Ertragsteueraufkommen durchschlagen müßten. In einem Gutachten — es war das Gutachten der GEWOS — wurde festgestellt, daß schon heute ein Ertragsteuerverlust von weit über 1 Milliarde DM pro Jahr hingenommen werden muß, resultierend allein aus den leerstehenden Wohnungen.
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Meine Damen und Herren, warum stellen wir diese Fragen immer wieder so hartnäckig? Herr Minister, Sie haben, wie ich heute aus der Zeitung entnommen habe, erst gestern erneut erklärt, daß die Bundesregierung bei ihrem Standpunkt verbleibe: Staatliche Hilfen zum Abbau der Halde von rund 200 000 Wohnungen — diese Zahl gaben Sie wieder an — seien nicht zu erwarten. Ich muß Sie wirklich ernsthaft fragen, Herr Minister, was Sie denn eigentlich dazu bringt, laufend von 200 000 Einheiten zu sprechen. Die „Neue Heimat" spricht von 400 000 Einheiten. Der Chef der „Gemeinnützigen Wohnungsunternehmen" spricht von weit über 300 000 Einheiten. Herr Minister, Sie gehen hier fortwährend und hartnäckig von einem Tatbestand aus, der einfach unrichtig ist. Es geht doch nicht darum, irgendeinen Spekulanten zu retten. Übrigens: Die Spekulanten sind schon alle den Bach hinunter. Sie haben mit ihrem Köfferle längst den Marsch zum Konkursrichter angetreten.
Darum kann es aber überhaupt nicht gehen. Ich werde Ihnen gleich sagen, wo die Spekulanten sitzen.Zunächst möchte ich aber noch folgendes feststellen. Der Deutsche Mieterbund hat durch seinen Präsidenten Dr. Paul Nevermann in diesen Tagen keine Bedenken dagegen erhoben, daß ein Teil der Konjunkturmittel zum Abbau der Halden leerstehender Wohnungen verwendet wird, soweit sich diese Wohnungen nach ihrer Planung, Lage und Ausstattung und bei Abbau übertriebener Preisvorstellungen als Sozialwohnungen eignen. Hier könne die Investitionsbereitschaft der Wohnungswirtschaft erhöht werden. So sagt Herr Nevermann vom Mieterbund.
— Er war früher SPD-Bürgermeister von Hamburg, ein Fachmann, der durchaus ein objektives Urteil hat.Auch der Vorsitzende der IG Bau, Steine und Erden, Herr Rudolf Sperner, ist nach seiner Kasseler Äußerung vom 11. Mai 1975, also vor wenigen Tagen, nicht gegen eine Subventionierung leerstehender Wohnungen. Er macht sie von folgenden Voraussetzungen abhängig: 1. Keine Schmälerung der Ausgaben für Sozialinvestitionen. 2. Die Voraussetzungen für Sozialwohnungen müssen vorliegen. 3. Es muß in der betreffenden Region echter Bedarf herrschen. Genau dasselbe fordern wir seit vielen Monaten. Genau das haben wir in unserer Großen Anfrage zum Ausdruck gebracht. Schon vor Wochen hat der Gesamtverband der Gemeinnützigen Wohnungsunternehmen auf das Junktim zwischen dem Abbau der Wohnungshalde und der Belebung der Bauwirtschaft hingewiesen.Meine Damen und Herren von der SPD, auf der Jahrestagung der GEWOS Mitte April 75 hier in Bonn versuchten die drei Referenten, Herr Professor Dr. Jürgensen, Kollege Dr. Ehrenberg und das Vorstandsmitglied Dr. Storck von der Deutschen Bau- und Bodenbank, nachzuweisen, daß der Prozeß des rapiden Abbaus von Baukapazitäten nicht nur die Baubranche selbst vor unlösbare Aufgaben stelle, sondern die gesamte volkswirtschaftliche Entwicklung nachteilig beeinflusse. Die drei Herren stellten fest, jede nicht gebaute Wohnung setze zwei Bauarbeiter frei oder belaste den Staat mit 50 000 DM.
Daß die Talsohle in der Bauwirtschaft leider noch keineswegs erreicht ist und sich der von uns allen erwünschte Aufschwung nicht zeigt, beweist die jüngste Entwicklung der Arbeitslosigkeit im Bauhauptgewerbe. Wer das auch noch bestreiten möchte, für den gibt es keine Medizin mehr.So erfreulich der Rückgang der absoluten Zahl der arbeitslosen Bauarbeiter im April auf 150 700 auch ist — eine immer noch erschreckend hohe Zahl —, so wenig darf übersehen werden, daß die Arbeitslosenzahl prozentual seit Januar 1975 gegenüber den Vergleichsmonaten des Vorjahres ständig zugenommen hat. Sie lag im Januar 1975 gegenüber dem gleichen Monat 1974 bei 75,4 %, stieg im Februar 1975 auf 85,1 %, im März auf 96,4 %, und sie hat im April den absoluten Höchststand von 131 % erreicht. Wer will denn diese Situation noch in irgendeiner Form verharmlosen? Wer malt hier schwarz?Wer die wohnungspolitische Diskussion während des abgelaufenen Jahres überblickt, kann die Unbeweglichkeit und Untätigkeit der Bundesregierung nur als Hilf- und Ratlosigkeit werten. Herr Minister Ravens, allen Ernstes: ist es nicht etwas zu billig, das Problem der Wohnungshalden allein auf unternehmerisches Fehlverhalten, auf blinde Spekulation und geldgieriges Profitstreben zu reduzieren? Sind denn viele gemeinnützige Wohnungsunternehmen durch sozialwidriges Profitstreben in eine schwierige und teilweise sogar existenzbedrohende Lage geraten?
Halten Sie etwa Herrn Albert Vietor für einen Spekulanten und die DGB-eigene „Neue Heimat" für ein profitgieriges Spekulationsunternehmen?
Fahren Sie einmal in unsere Städte und Gemeinden und fragen, wem die leerstehenden Hochhäuser gehören, wer sie geplant, ihre Planungen genehmigt hat und wer an ihnen als Unternehmer gescheitert ist?! Ich bin gern bereit. Es wäre eine erregende Reise.
Diejenigen, die da allzu leichtfertig von Spekulanten reden, die wollen wir mal fragen, wer der Spekulant ist. Ich brauche nicht auf ein Buch hinzuweisen, das einen recht beachtlichen Absatz in den letzten Monaten gefunden hat; Sie kennen das alles. Fragen wir auch, wer die Bodenpreise hochgetrieben hat, wer mit Bauland spekuliert hat und wer auf dem meisten und teuersten Bauland spekulativ sitzengeblieben ist?!
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11926 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Dr. Schneider
Wer ist das eigentlich? — Verehrter Kollege Conradi, ich werde noch einen anderen Zeugen zitieren.
Wo blieben denn der Staat, wo die Banken, wo letztlich die einfache Vernunft, um zu warnen, zu sichern oder zu reglementieren, als es an der Zeit gewesen wäre? Die regelmäßigen, aber leider nur verbalen Hinweise der Bundesbank in ihren Monats- und Jahresberichten mußten angesichts der gegebenen Situation verpuffen. Wenn Bund und Ländern mit degressiven Aufwendungsdarlehen regelmäßige Mietsteigerungen vorprogrammierten, kann man wohl kaum eine größere oder andere Vernunft von den Bauherren und den diese finanzierenden Banken erwarten, als sie durch die Großwetterlage der amtlichen Politik vorgegeben wurde.
Wer hat denn Signale gesetzt? Wer von der Bundesregierung hat der Bauwirtschaft Signale gesetzt? Etwa die Bundesregierung? War es nicht die Bundesregierung, die damals und heute jeden besorgten und kritischen Hinweis auf bestehende und wachsende wirtschaftliche Gefahren als Krisenpolitik, als Panikmache und Schwarzmalerei zurückgewiesen und bis zum persönlichen Angriff diffamiert hat?
- Herr Kollege Waltemathe, hören Sie gut zu. Was ich verlange, werde ich Ihnen gleich sagen, auch was ich kritisiere.
Die Bundesregierung hat lange Zeit eine jährliche Wohnungsbauquote von bis zu 600 000 Wohneinheiten für erforderlich gehalten. Bundesminister Dr. Vogel hat dieses Erfordernis noch 1973 im einzelnen mit dem Bedarf von Ersatzwohnungen für den öffentlich geförderten Wohnungsbau und den Wohnungsbau für ausländische Arbeitskräfte ziffernmäßig begründet. Endlich sollte die Bundesregierung bei ihren pauschalen und einseitigen Behauptungen, die Wohnungshalde beruhe auf Spekulation, bedenken, daß die Planungs- und Produktionsphasen im Wohnungsbau langfristiger Natur sind und sich bis zur Dauer von zwei Konjunkturzyklen erstrecken können.
— Herr Kollege Waltemathe, darüber sprechen wir, wenn wir miteinander über das Langzeitprogramm der SPD diskutieren, nicht heute,
heute habe ich dafür zuwenig Zeit.Was die Bundesregierung bisher veranlaßt hat — inzwischen habe ich gehört, daß sie heute etwas in Gang gebracht hat; das galt also bis gestern, wenn die Nachricht von heute stimmt —, das Regionalprogramm 1975 nicht zu verabschieden, bleibt ihr Geheimnis. Ihr Verhalten muß um so mehr erstaunen, als die Bundesregierung auf der einen Seite zur Konjunkturankurbelung im Wohnungsbau Konjunkturzuschüsse einsetzt und sich wundert, daß sie nicht in dem erhofften Umfange in Anspruch genommen werden, auf der anderen Seite aber nicht in der Lage ist, die öffentlichen Mittel bereitzustellen, deren Bewilligung erst die Voraussetzung zur Gewährung der Investitionszuschüsse schafft. In Bayern beispielsweise wurde bisher keine einzige Wohnung mit Zuschüssen aus diesem Investitionszulagengesetz gebaut. Keine einzige!
Meine Damen und Herren, alle Sachverständigen weisen darauf hin, daß die Bau- und Wohnungswirtschaft als Schlüsselindustrie nachhaltig auf andere Wirtschaftszweige ausstrahlt. Die Bauwirtschaft hat mit einem Koeffizienten von 5,5 den höchsten Multiplikatoreffekt. Sie ist die größte Binnen- und Konjunkturbranche in der Bundesrepublik Deutschland, sie ist mit einem Bauvolumen von 150 Milliarden DM im Jahre 1974 zu 13,4% am Bruttosozialprodukt beteiligt. Diese Dimensionen stehen vor Augen und machen den Ernst der Debatte deutlich.Die Wohnungswirtschaft ist ein Teil unserer wirtschaftlichen Gesamtordnung. Sie steht unter dem besonderen Gebot der Sozialstaatlichkeit und bedarf insoweit der immerwährenden staatlichen Förderung und gesellschaftspolitischen Unterstützung. Für die Wohnungswirtschaft freilich gilt das, was der Herr Bundeswirtschaftsminister Friderichs für die Marktwirtschaft im allgemeinen in seinem Buch „Mut zum Markt" geschrieben hat:Die Funktionsfähigkeit unseres marktwirtschaftlichen Systems beruht entscheidend auf dem Anreizmechanismus, Leistung durch Einkommen zu honorieren.
— So töricht, Herr Conradi, kann der Minister nicht mißverstanden werden.
Und es ist der gleiche Minister, der seinem Kollegen Ravens vorgeworfen hat, daß das Wohnraumkündigungsschutzgesetz die Investitionsbereitschaft in der Wohnungswirtschaft hemme. Inzwischen gab es eine Antwort im Bundestag, die keineswegs befriedigend, sondern die sehr ausweichend gewesen ist.Auch für die Wohnungspolitik brauchen wir ein Investitionsklima, in dem Vertrauen und Sicherheit über die künftige Politik — einschließlich ihrer gesellschaftspolitischen Zielsetzungen — herrschen. Wenn der vorhandene Wohnungsbestand nicht dem weiteren Verfall preisgegeben werden soll, ist es unbedingt erforderlich, Instandsetzung, Modernisierung von vorhandenem Wohnraum gleichwertig
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neben der Schaffung von neuem Wohnraum in die öffentliche Förderung aufzunehmen. Dabei müssen auch kostendeckende Mieten gewährleistet sein. Herr Bundesminister Ravens, ich habe Sie bei allen Ihren Äußerungen immer dahin verstanden, daß Sie auch für kostendeckende Mieten eintreten und daß die private und die gemeinnützige Wohnungswirtschaft in diesem Punkt lupenrein und nahtlos übereinstimmt.Der Bundesregierung ist zuzustimmen, wenn sie behauptet, daß das Ausmaß der Wohnungsbautätigkeit in marktwirtschaftlichen Systemen nicht von zentralen Planungen, sondern von zahllosen Einzelentscheidungen privater Haushalte und Wohnungsunternehmen bestimmt wird. Sie darf jedoch nicht die Tatsache verschweigen, daß sie für die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen verantwortlich ist, unter denen sich jegliche bau- und wohnungswirtschaftliche Aktivität erst entfalten kann.
Meine Damen und Herren, die Stetigkeit des Wohnungsbaus setzt eine Stetigkeit im Bausparen voraus, und eine Stetigkeit im Bausparen setzt eine Stetigkeit der staatlichen Bausparförderung voraus. Da der Bau von Wohnungseigentum ohne leistungsfähige Bausparkassen zum Siechtum verurteilt wäre, ergibt sich die Dringlichkeit, dafür zu sorgen, daß die Finanzierungskapazität der Bausparkassen nicht beeinträchtigt wird. Insbesondere die sozial förderungswürdigen Eigenheiminteressenten sind auf die Hilfe der Bausparkassen angewiesen.Die Steuerreform hat bereits für das Bausparen Erschwerungen gebracht, insbesondere für die Alleinstehenden und solchen Verheirateten, bei denen beide berufstätig sind, deren Auswirkungen bis heute im einzelnen noch nicht zu übersehen sind. Die jüngste Geschäftsentwicklung der Bausparkassen deutet jedoch darauf hin, daß der Rückgang des Bausparens weitaus stärker ausgefallen ist, als es mit der Steuerreform beabsichtigt worden war.Im ersten Vierteljahr 1975 wurden bei den privaten und öffentlichen Bausparkassen 10,1 % weniger Bausparverträge abgeschlossen als im gleichen Vorjahreszeitraum. Die Bausparsummen sanken um 7,8 %.Das Bausparen ist von besonderer eigentumspolitischer Qualität. Die hohe Priorität, die dem Eigenheim von der Bevölkerung beigemessen wird, beruht auf der millionenfachen Erfahrung, daß auf diese Weise nicht nur Eigentum in der wirtschaftlich hochwertigsten Form begründet, sondern zugleich ein zusätzlicher persönlicher Freiheitsraum eröffnet wird.Meine Damen und Herren, eine bedauerliche Tatsache ist — und das gehört auch zur Misere der gesamten Wirtschaftslage , daß die Rentenversicherungsträger nicht mehr den Wohnungsbau mitfinanzieren. Die Bundesversicherungsanstalt hat bei Darlehenshöchstbeträgen von 45 000 DM 1973 immerhin — bei einem Gesamtkontingent von 526 Millionen DM — 12 000 Darlehen bewilligt. 1972 waren noch 574 Millionen DM zur Verfügung gestellt worden. Die Bundesregierung hat bereits am21. März 1974 auf eine von mir gestellte Anfrage erklärt, daß sie keine Möglichkeit sehe, bei der BfA darauf hinzuwirken, die Einstellung der Förderungsmaßnahmen rückgängig zu machen.Ein anderes wesentliches Problem, das bei einer wohnungspolitischen Debatte zu erörtern ist, betrifft die Frage des langfristigen Kredits. Die Bundesregierung führt zur Frage 21 zu Recht aus, daß die restriktive Grundlinie der Geldpolitik unabdingbare Voraussetzung für die Überwindung der Inflationsmentalität, die den Boom im freifinanzierten Wohnungsbau vorangetrieben hatte, war und daß die Geldpolitik die Nachfrage nach Wohnungseigentum und damit auch den Angebotsüberhang bei Eigentumswohnungen mit beeinflußte. Die Pfandbriefinstitute sind im Kampf um die Stabilität des Geldwertes die natürlichen Bundesgenossen der Bundesbank, da die Stabilität die Basis ihrer langfristigen Geschäfte ist. Die stabilitätspolitischen Aufgaben waren jedoch einseitig der Bundesbank aufgebürdet, so daß sie zu einem extremen Hochzins greifen und deshalb mit ihrer globalen Konjunktursteuerung die Wirtschaftssektoren ungleich treffen mußte.Der soziale Wohnungsbau wird durch eine Hochzinspolitik besonders schwer betroffen. Die einseitige Verlagerung der Stabilitätspolitik auf die Bundesbank und der daraus folgende massive Einsatz der Hochzinspolitik führten zu dem Anstieg der Kapitalmarktzinsen auf nominal 10 %, effektiv über 11 %. Notwendig entsprach diesem Zinsanstieg der Kursverfall der umlaufenden niedrigverzinslichen Schuldverschreibungen und die drastische Verkürzung der Laufzeiten neuer Pfandbriefe. Der Kreislauf der Dinge schließt sich aber mit den Rückwirkungen der Verkürzung der Laufzeiten auf den Wohnungsbau. Denn die Pfandbriefinstitute müssen ihren Darlehensnehmern nunmehr Wohnungsbaukredite zur Verfügung stellen, deren Konditionen nach fünf bis zehn Jahren angepaßt werden müssen. Darin steckt das Risiko, daß der Erbauer eines Häuschens nach zehn Jahren bzw. bereits nach fünf Jahren vor einer ganz anderen Finanzierungssituation steht. Damit ist der Bruch im ganzen Baugeschehen, wie es traditionell gewesen ist, eingetreten. Ich meine damit den kongruenten Hypothekenzins mit einer Laufzeit bis zu 30 Jahren. Die ganze Misere unserer Wirtschaftslage kommt hierin zum Ausdruck.
Bei der Diskussion wohnungswirtschaftlicher Themen werden immer wieder die Finanzierungsgesichtspunkte übersehen oder zurückgestellt. Das muß ich dieser Bundesregierung in besonderem Maße ins Stammbuch schreiben. Das geschah zuletzt bei der Verabschiedung des Gesetzes über die Wohnbesitzwohnung, bei der der 15%ige Eigenkapitalanteil nunmehr als Mieterleistung ausgestaltet worden ist, die der Realkredit wie eine vorrangige Last behandeln muß und die daher die Finanzierung derartiger Bauvorhaben wesentlich erschwert.Die Bundesregierung hat die steuerlich angelegte Frage 10 abschlägig beantwortet. In ihr steckt eines der Kernprobleme der wohnungswirtschaftlichen Mi-
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sere überhaupt. Daß die Frage komplex ist und von ihrem Umfang her nicht vollständig sein kann, sieht jeder Sachkundige leicht ein. Was aber veranlaßt die Bundesregierung, sie derartig beiläufig zu behandeln? Wie eigentlich beurteilt die Bundesregierung den Brief, den bereits am 17. Februar 1975 Finanz- und Baufachleute, und zwar solche allerersten Ranges, an den Herrn Bundeskanzler und drei Bundesminister gerichtet haben? Welche politischen Folgerungen will die Bundesregierung aus dem wohnungspolitischen Gutachten des „Arbeitskreises Sozialer Wohnungsbau" ziehen? Herr Minister, ich muß Sie auch fragen: Wie beurteilt die Bundesregierung das GEWOS-Gutachten vom April 1975 zur Sicherung des sozialen Wohnungsbaus?Was die Einlassung der Bundesregierung zu § 7 b des Einkommensteuergesetzes betrifft, ist ihr lediglich zuzugeben, daß mit den beschlossenen steuerlichen Erleichterungen für einen Zweiterwerb eine notwendige technische Hürde abgebaut wurde, um auch in Konkursfällen die Vermarktung leerstehender Wohnungen zu ermöglichen. Impulse gehen von dieser Änderung nicht aus. Aber die Behauptung der Bundesregierung, die festgelegten Höchstbeträge des § 7 b entsprächen noch der gegenwärtigen Baukostensituation, trifft, wie das Bonner Städtebau-institut kürzlich nachgewiesen hat, nicht zu; denn die Baukosten für die Ein- und Zweifamilienhäuser — 150 000 DM bzw. 200 000 DM — sind seit 1965, was jedermann weiß, um weit über 80 % gestiegen. Diese Steuerbestimmung gibt dem Bauherrn eines Eigenheimes nicht mehr den steuerlichen Nachlaß, den der Gesetzgeber damit ursprünglich erreichen wollte.Ich darf auch die Ausführungen zu § 21 a des Einkommensteuergesetzes als unzutreffend zurückweisen, insbesondere den Hinweis, dieser Vorschlag sei sogar verfassungsrechtlich bedenklich. Das Gutachten zur Steuerreform hat sich mit der Frage der Versteuerung des eigenen Wohnwertes sehr eingehend befaßt. Das Gutachten hat sehr ausführlich Pro und Kontra abgewogen und hat sich dann sogar für eine Steuerbefreiung des Wohnwerts der eigenen Wohnung ausgesprochen. Das Gutachten kam wörtlich zu dem Ergebnis: „Insgesamt ist das Wohnen im eigenen Haus nicht billiger als das Zahlen von Miete." Denn diese Eigentümer haben ja vorher durch Konsumverzicht eine Eigenleistung erbrachtBei der steuerlichen Betrachtung der Wohnung darf nicht zuletzt die immer noch offene Frage nicht ausgeklammert werden, wann endlich die Grunderwerbsteuer mit ihrer mobilitätshemmenden Wirkung entfällt. Gewiß ein Problem der allgemeinen Finanzreform!Schließlich, Herr Minister, frage ich die Bundesregierung, welche allgemeinen Konsequenzen sie bisher aus den Erkenntnissen und Vorschlägen der Bau-Enquete gezogen hat. Die Bau-Enquete umfaßt vier dicke Bände, mehr als 2 000 Seiten, wurde mit hohem Kostenaufwand erstellt, von der Bundesregierung im Oktober 1971 in Auftrag gegeben und liegt der Bundesregierung seit November 1973 vor. Diese Antwort der Bundesregierung läßt erkennen,daß sie aus der Bau-Enquete mit ihren Folgerungen — auch zu dem Thema Verstetigung des Wohnungsbaus, auch zum Thema Finanzierung des Wohnungsbaus, auch mittelbar zu dem Problem der Halde — nicht eine einzige Konsequenz gezogen hat.Ich frage die Bundesregierung, wann sie bereit ist, die Bau-Enquete einmal allgemein zur Diskussion zu stellen, wann sie bereit ist, wirtschaftspolitisch, finanzpolitisch, konjunktur- und währungspolitisch daraus Konsequenzen im allgemeinen zu ziehen.Ich komme zum Schluß und fasse zusammen. Folgende Maßnahmen müssen integrale Bestandteile einer wohnungspolitischen Gesamtkonzeption sein:erstens Intensivierung, aber Beschränkung der Objektförderung zugunsten bestimmter Personenkreise, vornehmlich also auf Wohnungen für alte Menschen;zweitens daneben gezielter Einsatz der Objektförderung zur Altstadtsanierung, unmittelbar und für Ersatzbauten, sowie zur Modernisierung von Altbauten und älteren Sozialwohnungen;drittens Verbesserung der Wohnverhältnisse der Familien mit Kindern und der einkommensschwachen Familien mit Hilfe einer Individualförderung durch eine Wohngeldreform auf der Grundlage der Vorschläge des Beirates für Familienfragen vom November 1974;viertens Konzentration der Bauförderung durch Verbesserung des prämienbegünstigten Bausparens als des wesentlichen Mittels zur Vermögensbildung im kleinen Haus- und Grundbesitz für den Bau und Erwerb zur Eigennutzung.Diese Vorschläge erfordern, meine Damen und Herren, eine Neuorientierung der staatlichen Wohnungspolitik. Diese muß, nachdem im Bundesgebiet die beste Wohnungsversorgung seit dem Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert erreicht worden ist, sozialpolitisch auf die Behebung von Wohnungsnotständen im weiteren Sinne und gesellschaftspolitisch auf die Bildung von breitgestreutem echten Wohnungseigentum ausgerichtet werden. Dazu ist es erforderlich, nach einer einheitlichen Konzeption das Zweite Wohngeldgesetz zu novellieren, das Wohnungsbindungsgesetz zu novellieren und ein drittes Wohnungsbaugesetz zu konzipieren, in dem vor allem die Prämienbegünstigung des Wohnungsbausparens und der Rest der Objektförderung neu geregelt werden.Meine Damen und Herren, wir sind keine Illusionisten und wissen, daß das vorgeschlagene Programm der Abstimmung mit den Bundesländern bedarf, die erst nach Klärung zahlreicher Einzelfragen zu erreichen sein wird. Indessen erscheinen uns Sofortmaßnahmen unumgänglich. Diese müssen sich erstreckenerstens auf das Abschmelzen der Halden aus den wirtschaftspolitischen Gründen, die ich eben dargelegt habe, und diese Gründe stützen sich auf alle sachverständigen Äußerungen, die es in unserem Lande seit langem gibt,
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975 11929
Dr. Schneider
zweitens die Konzentration und Intensivierung der öffentlichen Objektförderung unddrittens die Rehabilitierung des Wohnungsbausparens in der Bausparförderung. Dabei ist besonders darauf Wert zu legen und zu beobachten, wie sich die Bauspartätigkeit entwickelt und wie sich die Steuerreform auf diesem Sektor im einzelnen auswirkt.Meine Damen und Herren, die Opposition hat nicht erst heute, sie hat seit Jahren — die CDU/CSU in der Zeit ihrer Regierungsverantwortung — ihr Augenmerk einer sozial ausgerichteten, wirtschaftlich vernünftigen Wohnungspolitik zugewendet.
— Ich habe es leider nicht verstanden.
— Wenn Sie den Namen Lücke sagen, dann geben Sie mir einen willkommenen Anlaß, festzustellen, daß unter dem Bundesminister Paul Lücke in unserem Lande eine grundsolide Wohnungsbaupolitik betrieben wurde.
Meine Damen und Herren, unter Paul Lücke
war es Millionen von kleinen Arbeitnehmern möglich,
Eigentümer eines Eigenheims oder einer eigenen Wohnung zu werden. Unter der sozialliberalen Koalition braucht selbst der nominell gut verdienende Facharbeiter mit zwei Kindern das Wohngeld, um überhaupt die Sozialmiete noch bezahlen zu können.
Selbst der Chef der Neuen Heimat, Albert Vietor, mußte zugeben, wieweit es unter dieser Regierung gekommen ist. Ich muß sagen, er ist mein Kronzeuge, und glauben Sie wenigstens dem. Er gehört a) Ihrer Partei an, b) ist er der Chef der DGB-eigenen Neuen Heimat, und dort gibt es bekanntlich keine Sünder, oder glauben Sie doch, daß es in der Neuen Heimat Sünder gibt, Sünder wider den Geist einer guten Wohnungspolitik?
Wenn dieser Albert Vietor am 10. April 1975 in der Presse erklären kann, daß die Kostenmiete pro Quadratmeter und Monat im sozialen Wohnungsbau um 14 DM steigt, und wenn er sagen kann, daß Ihre Politik zu 400 000 leerstehenden Wohnungen Mitte des Jahres führt, dann ist das doch eine Kritik, die vernichtender ein Oppositionssprecher niemals anbringen könnte.
Ich habe ja versucht, mich zurückzuhalten.Aber Paul Lücke hat sich in unserem Lande ein wohnungspolitisches Denkmal gesetzt. Sie finden das Denkmal, wenn Sie in unsere neu gebauten Städte gehen, nicht, wenn Sie an den leerstehenden Hochhäusern vorbeigehen, sondern wenn Sie an schönen Einfamilienhäusern vorbeigehen, an denen steht: Hier wohnt Karl Meier, Fritz Schulze, Josef Huber. Dort finden Sie die Denkmäler der Wohnungsbaupolitik unseres Freundes Paul Lücke.
Das Wort hat Herr Bundesminister Ravens.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich gleich zu Beginn der Debatte Voraussetzungen, Ziele und Grundlinien unserer Wohnungspolitik noch einmal deutlich machen. Aber lassen Sie mich zuvor einem ganz neuen Gefühl Ausdruck geben. Es ist für einen sozialdemokratischen Wohnungsbauminister ein neues Gefühl, Herr Kollege Schneider, nunmehr dafür gescholten zu werden, daß er dem Chef der „Neuen Heimat" nicht ausreichend Glauben schenkt, während er, wenn er draußen in Versammlungen steht und dort Ihren Mitgliedern zuhört, immer wieder zu hören bekommt, es sei eine böse Tat, daß Sozialdemokraten und „Neue Heimat" unter gewissen Umständen „eng zusammenarbeiteten". Vielleicht einigen wir uns einmal darüber, wo das vernünftige Maß in der Debatte mit Ihnen und in Ihrer Darstellung liegt.
Aber wir kommen auf dieses Thema sicherlich noch einmal zurück.Ich denke, ich sollte zuvor einige Anmerkungen zur aktuellen konjunkturpolitischen Lage machen; denn hier scheint mir die Opposition nicht ganz auf dem neuesten Stand zu sein. Die Bundesregierung hat in nüchterner Abwägung aller Konsequenzen gehandelt, dort eingegriffen, wo es notwendig war, und den strukturellen Anpassungsprozeß der Bau-und Wohnungswirtschaft erfolgreich abgestützt. Was einige befürchteten und Sie wahrscheinlich gar nicht ungern gesehen hätten, ist nicht eingetreten. Erste Anzeichen auf dem Arbeitsmarkt deuten darauf hin, daß unsere Politik erfolgreich war. Die Zahl der arbeitslosen Bauarbeiter ging bereits im März trotz ungünstiger Witterung gegenüber dem Vormonat um rund 30 000 zurück.
— Wir hatten im März eine Verdoppelung der Zahl der Schlechtwettertage. Sie können das in der amtlichen Statistik der Bundesanstalt für Arbeit nachlesen, Herr Schmöle. Es ist hilfreich, wenn man einmal dort hineinschaut.
— Nein, es war schlechter.
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11930 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Bundesminister RavensGleichzeitig hat sich in dieser Zeit die Zahl der offenen Stellen um rund 28 % auf 18 500 erhöht. Die Bundesanstalt für Arbeit meint dazu:Absolut gesehen ist dies, gemessen an der saisonüblichen Entwicklung, eine recht beträchtliche Abnahme, vor allen Dingen wenn man die ungünstigen Witterungsverhältnisse in der zweiten Monatshälfte berücksichtigt.
Diese günstige Entwicklung hat sich auch im April fortgesetzt. Die Zahl der arbeitslosen Bauarbeiter ging noch einmal um 35 700 auf nunmehr 150 700 zurück. Die Zahl der offenen Stellen erhöhte sich auf 22 000.Für die Beschäftigungszahlen haben wir noch keine endgültigen Ergebnisse. Aber es scheint sicher, daß es auch hier aufwärts geht und die Zahl der Beschäftigten im März schon wieder zugenommen hat. Im jüngsten Gemeinschaftsgutachten der Wirtschaftswissenschaftlichen Institute werden auch die weiteren Aussichten für das Jahr 1975 positiv beurteilt. Dort heißt es:Bei den Bauinvestitionen ist ein weiteres Abgleiten nicht mehr zu befürchten; sogar ein geringer Anstieg erscheint möglich. Im Wohnungsbau ist bei gesunkenen Hypothekenzinsen und geringer werdender Sorge um die Sicherheit der Arbeitsplätze eher wieder eine Zunahme der Bauneigung absehbar.Ich denke, auch wir sollten jetzt den nötigen Atem haben, um das Auslaufen der Konsolidierungsphase und ihr Einmünden in einen erneuten Aufschwung abzuwarten.
Die Bundesregierung hat durch die Kombination von konjunkturpolitischen Maßnahmen auf der Ausgaben- und Einnahmenseite deutliche Zeichen gesetzt. Sie, Herr Kollege Schneider, haben in Ihrer Rede so getan, als wäre die Regierung nicht tätig gewesen. Ihre Sorge, ich würde mit den Problemen der Bau- und Wohnungswirtschaft im Kabinett alleingelassen, ist unbegründet.
Der Wirtschafts- und der Finanzminister und der Bauminister haben in den vergangenen Monaten, in den hinter uns liegenden schweren Monaten, eng zusammengearbeitet und gemeinsam das unternommen, was für die Bauwirtschaft notwendig war. Ich möchte darauf noch einmal verweisen, um Ihrem Erinnerungsvermögen ein wenig nachzuhelfen.Ich darf auf die ergänzenden Subventionen verweisen, uni 1974 für 50 000 dringend benötigte Sozialwohnungen ein Darlehensvolumen von insgesamt 2,5 Milliarden DM zu verbilligen. Damit wurde es möglich, 1974 das Förderungsvolumen im sozialen Wohnungsbau mit rund 154 000 Wohnungen gegenüber dem Vorjahr mit 127 000 Wohnungen beachtlich zu erhöhen.Ich darf auf die vorzeitige Wiederzulassung erhöhter Abschreibungen nach § 7 b des Einkommenssteuergesetzes, auf die drei Konjunkturprogramme vom Februar, September und Dezember vergangenen Jahres mit einem zusätzlichen Ausgabenvolumen der öffentlichen Hand von rund 3 Milliarden DM, das vor allem auch der Bauwirtschaft und dem Wohnungsbau zugute gekommen ist, und auf die ergänzenden arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen wie Lohnkostenzuschuß und Mobilitätszulage verweisen. Ich verweise auch auf die zusätzlichen Investitionszulagen, die erstmals für alle Mietwohnungen, Genossenschaftswohnungen und Wohnheime im sozialen Wohnungsbau zur Verfügung stehen.Sie bezweifeln, Herr Kollege Schneider, die Wirksamkeit dieser Investitionszulage. Ich kann Ihnen sagen, daß z. B. die Wohnungsbauförderungsanstalt von Nordrhein-Westfalen bereits Mitte April eine Überzeichnung des Jahresprogramms 1975 im öffentlich geförderten Wohnungsbau um das Doppelte gemeldet hat. Dies zeigt, daß die Investitionsprämie ein wesentlicher Impuls für die Investitionsentscheidung im Bereich der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft und auch ein Impuls für die Entscheidung im Gesamtbereich des sozialen Wohnungsbaus gewesen ist. Hier zählen Zahlen und nicht irgendwelche Überlegungen, die vielleicht gerade passen. Nordrhein-Westfalen macht das als ein Beispiel deutlich.Im übrigen, Herr Kollege Schneider, sind die Mittel des Regionalprogramms — Sie haben recht — heute verteilt worden. Aber das hat einen ganz normalen Grund. Hier handelt es sich um Darlehensmittel des normalen Kapitalmarkts. Dazu bedarf es nach Haushaltsbeschluß vernünftigerweise ja wohl der Verhandlungen mit den Banken, hier mit der Kreditanstalt für Wiederaufbau, und mit dem Finanzminister. Die Verhandlungen sind zu Ende geführt worden. Sie wurden ohne Verzögerung geführt. Die Bewilligungsbescheide sind ohne Verzögerung an die Länder herausgegeben worden.Meine Damen und Herren, zu den Konjunkturmaßnahmen gehört die verstärkte Förderung der Altbaumodernisierung, für die einschließlich der Konjunkturprogramme 1974 und 1975 fast eine Dreiviertelmilliarde DM öffentlicher Mittel bei Bund und Ländern bereitgestellt wurden. Durch diese Maßnahmen hat sich die Datenkonstellation für unternehmerische Investitionsentscheidungen in den letzten Monaten wesentlich verbessert.Hinzu kam, daß die Bundesbank wegen der relativ günstigen Preisentwicklung den Diskontsatz mehrmals senken konnte. Nach anfänglichen Schwierigkeiten zeigt sich jetzt eine entsprechende Tendenz auch bei den Hypothekenzinsen. Das Volumen der Hypothekenzusagen hat bei den privaten Hypothekenbanken inzwischen fast wieder den Stand von 1973 erreicht. Auch wenn es sich dabei zum Teil um Konsolidierungskredite handelt, ist dies ein günstiges Zeichen.Die maßvollen Lohnabschlüsse in der Bauwirtschaft verringern den Kostendruck, und die durchgreifende Rationalisierung schafft die Grundlage für überdurchschnittliche Produktivitätsfortschritte.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975 11931
Bundesminister RavensSchließlich wurden ungesunde Inflationserwartungen abgebaut und unsolide Finanzierungspraktiken bereinigt.Meine Damen und Herren, die Rahmenbedingungen sind also günstig. Bundesregierung und Bundesbank ziehen an einem Strang.
Die unabhängigen Wissenschaftler zeigen sich optimistisch und werden dabei durch die vorliegenden Indikatoren gestützt. Ich verkenne nicht, daß es in zahlreichen Einzelfällen noch beachtliche Anpassungsschwierigkeiten gegeben hat. Aber insgesamt sind die Voraussetzungen für den wirtschaftlichen Aufschwung günstig.Zu den Rahmenbedingungen gehört aber auch, daß wir die mittelfristigen Daten nennen. Man kann eben nicht allein die aktuelle konjunkturpolitische Lage in den Vordergrund stellen und darüber wichtige strukturpolitische Probleme einfach vergessen. Die nächsten Jahre bringen uns mit Sicherheit einen enger werdenden finanziellen Spielraum in den öffentlichen Haushalten. Die Diskussion um die Steuerverteilung scheint mir hierfür ein Symptom zu sein. Sie läßt weiterhin deutlich werden, daß die allgemeine Knappheit an öffentlichen Mitteln Bund, Länder und Gemeinden in gleicher Weise trifft.Gleichzeitig erleben wir eine Verteuerung der Rohstoffe in ungekanntem Ausmaß. Allein für Rohöl stiegen die Preise innerhalb von wenigen Monaten um rund 300 %. Diese Energieverteuerung ist natürlich nicht ohne Konsequenzen für die Wohnkostenbelastung geblieben. Obwohl es uns 1974 gelungen ist, die durchschnittliche Steigerung der Mieten mit 4,9 % unter die Steigerung der Lebenshaltungskosten zu drücken, wurde dieser Erfolg durch Heizölverteuerung und Anhebung kommunaler Gebühren zum Teil aufgehoben.Im Bewußtsein unserer Bürger haben die Verteuerung der Rohstoffe, verengte Wachstumsspielräume sowie die Finanzenge der öffentlichen Hand bereits zu einem Umdenken geführt.Wir haben aus der sich so abzeichnenden Entwicklung für die Wohnungspolitik bereits Konsequenzen gezogen. Dabei konnten wir auf einer soliden Basis beginnen und auf dem aufbauen, was bisher geleistet worden ist.So war es erstmals in der Geschichte der Wohnungspolitik gelungen, das Angebot der Wohnungen so nachhaltig auszuweiten, daß wir heute bereits mehr Wohnungen als Mietparteien haben. Dieser Erfolg erhält eigentlich erst die richtige Dimension, wenn wir berücksichtigen, daß von den rund 10 Millionen Wohnungen, die es vor dem zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik auf dem Gebiet der Bundesrepublik gab, rund 2,3 Millionen durch Kriegseinwirkungen zerstört wurden. Zusätzlich mußten noch 13 Millionen Flüchtlinge, Heimatvertriebene und andere Zuwanderer mit Wohnraum versorgt werden.Nachdem der globale Ausgleich erreicht worden ist, kommt es jetzt darauf an, gezielt dort anzusetzen, wo es dem Bürger aus eigener Kraft nicht gelingen kann, seinen Wohnungsbedarf zu decken. Ich habe dieses Ziel einmal mit den Worten umrissen: „Wir müssen den sozialen Wohnungsbau noch sozialer machen." Damit wird der notwendige Übergang vom rein quantitativen Ansatz zu mehr qualitativen Aspekten deutlich.Das heißt: Wir können den Grund für eine öffentliche Förderung zukünftig nicht mehr allein darin sehen, daß überhaupt Wohnungen gebaut werden. Der vorhandene Angebotsüberhang wie auch der begrenzte Finanzierungsspielraum machen es notwendig, die Schwerpunkte künftig so zu setzen, daß vor allem den noch benachteiligten Gruppen unserer Bevölkerung geholfen wird.Dies sind einmal die kinderreichen Familien. Nach der Wohnungsstichprobe 1972 lebten rund 16 % aller Haushalte noch in überbelegten Wohnungen. Die Überbelegung konzentrierte sich dabei auf die Familien mit drei und mehr Kindern und erreichte etwa unter den Sechs-Personen-Haushalten bereits eine Quote von rund 60 %.Es sind weiter die älteren Mitbürger. Gerade für sie besteht ein großer Nachholbedarf, wenn man berücksichtigt, daß rund 8 Millionen Einwohnern im Rentenalter nur etwa 60 000 öffentlich geförderte Altenwohnungen gegenüberstehen.Dazu gehören ferner die ausländischen Arbeitnehmer in unserem Lande, die vielfach in unzureichenden Wohnungen untergebracht sind und die vor allem bei Zusammenführung mit ihrer Familienangehörigen angemessenen Wohnraum benötigen.Dazu gehören schließlich auch die 4 Millionen behinderten Mitbürger, für die wir immer noch zu wenig geeignete Wohnungen zur Verfügung haben und deren Rehabilitation sowie gesellschaftliche Integration durch die Wohnungsversorgung entscheidend mitbestimmt wird.Auf diese Gruppen werden wir in den kommenden Jahren unsere Unterstützung noch mehr zu konzentrieren haben. Angesichts auch zukünftig steigender Baukosten werden wir dazu die Förderung im Einzelfall erhöhen müssen. Nur dann kann über die Miethöhe der notwendige sozialpolitische Effekt erzielt werden.Es wäre unredlich, wenn wir dem Bürger nicht auch offen sagen, daß die verstärkte Förderung im Einzelfall nur auf Kosten des Förderungsergebnisses gehen kann. Wer eine erhöhte Subvention der einzelnen Wohnungen anstrebt — und dies ist notwendig —, entscheidet damit gleichzeitig, daß er insgesamt weniger Wohnungen subventionieren kann.
Wir können eben das gegebene Finanzvolumen nur einmal verteilen.Die Bundesregierung hat sich hier klar entschieden. Im Haushalt 1975 wurden der Bewilligungsrahmen für das Intensivprogramm mit seiner besonderen sozialpolitischen Zielsetzung sowie das Programm für alte Menschen gegenüber 1974 — inklusive der Rückflußmittel — von 370 Millionen DM auf
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11932 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Bundesminister Ravens433 Millionen DM erhöht. In Verhandlungen mit dem Bundesfinanzminister wurde erreicht, daß der Bund seine Förderungssätze im Rahmen dieses Programms auf bis zur 20 000 DM je Wohnung erhöhen, in etwa also verdoppeln kann. Dies sind wichtige Schritte, um die Förderungsprogramme des Bundes noch sozialgerechter zu gestalten.Nachdem der Kollege Schneider die Schuld — wenn hier überhaupt von Schuld zu sprechen ist —, nachdem er die Verantwortung allein beim Bund gesucht hat, darf ich darauf hinweisen, daß nach der Verfassung die Finanzierung und Durchführung des Wohnungsbaus auf Länderebene entschieden wird.
Es ist ja wohl kein Zufall, daß gerade die bayerische Staatsregierung auf diesen Tatbestand immer wieder erneut durch die Einbringung von Verfassungsklagen hinzuweisen versucht. Ich respektiere, daß das so ist.
— Herr Kollege, dies gehört mit hinein: Bund und Länder. Sie wissen wie ich, daß viele der Entscheidungen im Bereich der Wohnungsbaufinanzierung und der Programmzahlen nicht zuletzt durch die Länderhaushalte, durch die Entscheidungen der Kollegen in den Ländern bestimmt werden. Sie wissen, daß der Bund die Rahmenbedingungen schafft, daß er seine Programme aufbaut, daß er Vorgaben auch für den Einsatz seiner Mittel leistet. Dies ist eine Steuerungsfunktion, die aber der Ergänzung bei den Ländern bedarf.Wenn wir über die Länder sprechen, muß ich auch sagen: Die Entwicklung der Ausgangsmieten bei den jüngsten Förderungsjahrgängen des sozialen Wohnungsbaus ging in verschiedenen Bundesländern zum Teil über das tragbare Maß hinaus. Hinzu kam, daß durch die Degression von Aufwendungsbeihilfen die Mietsteigerungen künftiger Jahre bereits vorprogrammiert waren — in den Ländern, nicht im Bundesprogramm.
— Für einen anderen Personenkreis, mit einer anderen Zielrichtung, mit vorgegebenen Größenordnungen, Herr Kollege Schneider. Ich denke, wir sollten diese beiden Dinge sorgfältig auseinanderhalten.
Das geht im wesentlichen in Eigentumsmaßnahmenfür einen solchen Personenkreis hinein, dessen Einkommen erheblich über den normalen Grenzen liegt.Finanzierungsmethoden, die von den Ländern in der Annahme weiterhin hoher Einkommenssteigerungen eingeführt wurden, erwiesen sich bei geringerem Wachstumsspielraum, bei steigenden Energie- und Bewirtschaftungskosten in vielen Fällen als sozialpolitisch nicht mehr vertretbar. Wir haben daher mit den Wohnungsbauministern der Länder Lösungsmöglichkeiten zur Begrenzung der Ausgangsmieten und des subventionstechnisch bedingten Mietanstiegs erarbeitet.Dabei waren wir uns von vornherein darüber im klaren, daß es eine grundsätzliche Rückkehr zu einer massiven „ewigen" Mietverbilligung durch Kapitalsubventionen kaum noch geben kann. Der Weg hierzu ist nicht nur durch die Enge der öffentlichen Haushalte, sondern vor allem auch durch die hinter uns liegenden Erfahrungen mit der Fehlsubventionierung versperrt.Inzwischen habe ich den Ländern meinen Vorschlag zur Vereinheitlichung der Mietobergrenzen und der Begrenzung des Mietanstiegs zugeleitet. Er fußt auf gemeinsamen Vorarbeiten in einer von der Ministerkonferenz eingesetzten Bund-LänderKommission. Darin ist vorgesehen:Die Bewilligungsmieten liegen je nach Ortsgröße zwischen 4 DM und 4,70 DM.Zu den Bewilligungsmieten kommen realistische Betriebskostenpauschalen von durchschnittlich 0,50 DM bis 0,80 DM hinzu, um die Divergenz zwischen Bewilligungs- und Bezugsfertigkeitsmiete möglichst einzufangen. Hier hat einer der wirklichen Differenzpunkte in der Vergangenheit gelegen.Der subventionstechnisch bedingte Mietanstieg wird über 15 Jahre auf 3 % jährlich begrenzt.Ich hoffe, daß es auf dieser Grundlage schon bald möglich sein wird, nunmehr mit allen Bundesländern zu einer Einigung zu kommen.
Eine solche Einigung wäre die Voraussetzung für eine bessere Verzahnung von Objektförderung und Individualförderung.Schon in den letzten Jahren hat die Wohngeldförderung eine immer größere Bedeutung gewonnen. Wenn in der schwierigen konjunkturpolitischen Phase der letzten Monate immer wieder auf das dichte Netz der sozialen Sicherheit in unserem Lande hingewiesen wurde, dann ist heute das Wohngeld ein ganz wichtiger Knoten in diesem Netz der sozialen Sicherheit.
Inzwischen gibt es 1,57 Millionen Wohngeldempfänger — fast doppelt soviel wie 1968. Auch in dieser Legislaturperiode haben wir eine Anpassung vorgenommen, die zu einer Mehrleistung bei Bund und Ländern in Höhe von rund 460 Millionen DM führte. Die Änderung der Zweiten Berechnungsverordnung und der Rückgang der Beschäftigtenzahl haben uns veranlaßt, im Haushalt 1975 die Ausgaben für Wohngeld noch einmal um 130 Millionen DM zu erhöhen. Damit stehen bei Bund und Ländern heute 1,68 Milliarden DM Wohngeld zur Verfügung.Im jetzigen Wohngeldsystem haben sich jedoch Verschiebungen ergeben, die in absehbarer Zeit korrigiert werden müssen. So sind z. B. die Benachteiligung von Erwerbstätigen gegenüber Nichterwerbstätigen, die zugemutete Mietbelastung im mittleren und oberen Einkommensbereich sowie die Förderungsbeträge im unteren Einkommensbereich
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Bundesminister Ravenszu überprüfen. Außerdem, denke ich, ist der- Einkommensbegriff neu zu fassen und die Einkommensermittlung zu vereinfachen. Wenn wir berücksichtigen, daß nicht zuletzt durch die Kompliziertheit dieser Tatbestände, die ich nannte, ein Wohngeldfall schon heute bei der Erstbewilligung Verwaltungskosten in Höhe von 40 bis 50 DM verursacht, dann wird deutlich, welche Rationalisierungsreserven durch eine Vereinfachung hier liegen.Die Bundesregierung wird zu diesen Fragen im einzelnen noch im Wohngeld- und Mietenbericht Stellung nehmen. Sie hat dies bereits in ihrer Antwort auf die Große Anfrage der CDU/CSU gesagt und auf die schwierige Haushaltslage hingewiesen. Das bedeutet: Wir werden die Verbesserung des Wohngeldes in Konkurrenz zu anderen, nicht minder wichtigen öffentlichen Aufgaben sehen müssen.Im Rahmen der Neuorientierung ihrer Wohnungspolitik hat die Bundesregierung die Modernisierung der Altbausubstanz in unseren Städten und Gemeinden als gleichrangig mit der Neubauförderung herausgestellt. Die Erhaltung des Wohnungsbestandes wird sowohl unter städtebaulichen als auch unter wohnungspolitischen Zielsetzungen zunehmend an Bedeutung gewinnen.Die gemeinsamen Bund/Länder-Programme mit einem Förderungsvolumen von rund 300 Millionen DM jährlich sind nach unvermeidlichen Startschwierigkeiten inzwischen gut angelaufen. Mehrere Länder haben die Mittel des Jahresprogramms 1974 mittlerweile voll bewilligt.Trotzdem gab es aus einigen Ländern Kritik an der Konzentration der Mittel auf Modernisierungszonen. Dabei wurde auf verwaltungstechnische Schwierigkeiten verwiesen und der am Anfang zögernde Mittelabfluß mit der geforderten Schwerpunktbildung begründet. Vergleicht man allerdings die Abwicklung des Programms in den einzelnen Ländern miteinander, so scheint mir, daß der Mittelabfluß nicht durch die Schwerpunktbildung, sondern eher durch die Effizienz der jeweiligen Verwaltung beeinflußt wird. Vielleicht sollten die Kritikerländer zunächst einmal in ihren eigenen Verwaltungen nachsehen, die sich offenbar schwer dabei tun, öffentliche Mittel, d. h. Mittel der Steuerzahler, nicht mit der „Gießkanne", sondern nach strengen Kriterien zu vergeben.
Im übrigen wird über mögliche Korrekturen, die sich jetzt auch aus der Anwendung in der Praxis ergeben haben, nach zweijähriger Laufzeit der Programme in einer Ministerkonferenz zu sprechen sein. Wir stellen uns nicht gegen Verwaltungsvereinfachungen.Untersuchungen haben ergeben, daß gerade in den letzten Jahren in großem Umfang Modernisierungsmaßnahmen freiwillig vorgenommen worden sind. Wir schätzen die Zahl der freiwilligen Modernisierungen ohne öffentliche Hilfe auf etwa 500 000 pro Jahr. Es gibt jedoch noch eine große Zahl schwieriger und aufwendiger Modernisierungsvorhaben, die ohne Unterstützung aus öffentlichen Mitteln nicht durchgeführt werden können. Auf diese Fälle müssen wir unsere Förderung konzentrieren, weil hier in der Regel Probleme der Wohnungsversorgung benachteiligter Gruppen und städtebauliche Zielsetzungen zusammentreffen.In die Diskussion geraten ist auch die Begrenzung der Überwälzungsmöglichkeiten der Modernisierungskosten sowie der dabei vorgeschriebene Abzug öffentlicher Förderungsmittel. Insbesondere ein Land macht sich hier stark. Hierbei wird nur allzu leicht übersehen — und auch Sie, Herr Kollege Schneider, haben dies übersehen —, daß erhöhte steuerliche Absetzungsmöglichkeiten und zulässige Mieterhöhungen die Rentabilität von Modernisierungsmaßnahmen voll garantieren.
— Ja. Wir können dies einmal gerne im Ausschuß in Einzelfällen nachrechnen. Man muß sich allerdings auch darüber klar sein, daß man sich in einem solchen Fall die öffentlichen Förderungsmittel, die man aus der Staatskasse erhalten hat, nicht auch noch einmal vom Mieter bezahlen lassen kann. Das wäre ja wohl ein bißchen zuviel. Ich denke, das sollte selbstverständlich sein.
Meine Damen und Herren, die Konzentration der Wohnungsbauförderung auf bislang noch benachteiligte Gruppen bei Begrenzung von Ausgangsmieten und Mietentwicklung, die Verzahnung von Objekt- und Subjektförderung sowie die verstärkte Förderung der Altbaumodernisierung sind die tragenden Pfeiler einer neuen Ausrichtung der Wohnungspolitik. Dabei werden wir —wie bereits in den vergangenen Jahren — der Eigentums- und Vermögensbildung im Wohnungsbau weiterhin einen hohen Rang einräumen. Die breite Palette eigentumsfördernder Maßnahmen reicht von Wohnungsbauprämien, steuerlichen Begünstigungen von Beiträgen an Bausparkassen über Abschreibungserleichterungen, Grundsteuervergünstigungen und Grundsteuerbefreiungen bis hin zur Entwicklung neuer Vermögensbildungsformen im Wohnungsbau, wie wir sie jetzt mit dem Wohnbesitz anbieten. Und wir sagen heute noch, es wäre gut gewesen, Sie hätten diesem Gesetz Ihre Zustimmung nicht verweigert.
Die Palette reicht weiter bis hin zum steigenden Anteil an Eigentumsmaßnahmen in der öffentlichen Förderung, der im Jahre 1974 die Grenze von 50 % bereits erreicht haben dürfte. Wer bereit ist, zu registrieren, daß die öffentliche Hand allein an Wohnungsbauprämien und Steuervergünstigungen jährlich mehr als 6 Milliarden DM für die Eigentumsbildung aller Bürger bereitstellt, der dürfte fairerweise den Vorwurf der „Eigentumsfeindlichkeit" gegen diese Bundesregierung nicht mehr erheben.
Ich will hier gar nicht Lücke gegen Ravens oder Lücke gegen Lauritzen, um bei zwei L zu bleiben,
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11934 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Bundesminister Ravensausspielen. Herr Kollege Schneider, wenn es um die Frage der Eigenheim- und Eigentumsfinanzierung geht, möchte ich aber noch einmal dies sagen: Im langjährigen Durchschnitt der Nachkriegsjahre hat es aus vielerlei Gründen, die ich hier im einzelnen nicht untersuchen will, keinen Zeitpunkt gegeben, in dem der Anteil der Eigentumsförderung am sozialen Wohnungsbau über dieses schon so oft beschriebene Drittel hinausgegangen ist.
Im Jahre 1973 sind wir erstmals — um in der Sprache der Politik zu bleiben — aus dem 30%-Turm herausgekommen. Wir sind über die 40 % hinausgegangen.
— Dies ist nicht albern, sondern dies ist der Anteil der Eigentumsfinanzierung im öffentlich geförderten Wohnungsbau unter einem sozialdemokratischen Bundesminister.
— Wir haben veränderte Daten und Strukturen; darauf habe ich hingewiesen. Ich habe gesagt: Ich will dieses Drittel nicht untersuchen.
— Ich nehme nur die Schlußbemerkung von Herrn Schneider auf, und es muß mir erlaubt sein, auch festzustellen, daß unter den jetzt gegebenen Voraussetzungen im Jahre 1974 mehr als die Hälfte aller, die öffentliche Förderung in Anspruch genommen haben, Eigentum haben erwerben können. Dies muß man einfach feststellen.
— Im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus, d. h. unterhalb der Einkommensgrenzen, die Sie wie ich kennen. Das heißt also: der Personenkreis, um den wir uns zu kümmern haben.
— Bei einem Anteil von 40 % kommen wir — ausgehend von 127 000 Bewilligungen im Jahr 1973 — auf etwa 52 000 Eigentumsmaßnahmen.
— Sie haben immer eine Begründung. Bauen wir zu viel Eigentumswohnungen, gefällt es Ihnen nicht; bauen wir zu viel Mietwohnungen, gefällt es Ihnen auch nicht; was sollen wir eigentlich tun, um es der Opposition recht zu machen, Herr Orgaß?
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Jahn?
Herr Minister, wenn Sie hier schon ein so großes Plädoyer für die breite Streuung privaten Eigentums halten, wie erklären Sie sich dann Ihre eigene Haltung, aus der heraus Sie sich laufend weigern, zur Privatisierung großer Wohnungsbestände ein klares Ja zu sagen?
Ein Zweites. Warum haben Sie dann in der großen Debatte über den Wohnbesitzbrief unseren Antrag abgelehnt, der darauf abzielte, daß derjenige, der seinen Verpflichtungen nachgekommen ist, auch einen Rechtsanspruch auf Umwandlung seiner Wohnbesitzwohnung in eine echte Eigentumswohnung hat?
Herr Kollege, zu dem zweiten zuerst: Er hat einen Rechtsanspruch, denn im Gesetz heißt es — um es noch einmal zu sagen; ich weiß nicht, wie oft man das noch sagen muß —, daß durch Vertrag die Umwandlung in Volleigentum nicht ausgeschlossen werden darf. Der Rechtsanspruch besteht also. Ich weiß, auf was Sie abzielen.Der zweite Punkt ist, daß die Auflösung eines solchen Wohnbesitzfonds nur mit Zustimmung aller Fondsinhaber, d. h. aller Wohnbesitzinhaber erfolgt.
— Der Träger kann dies nur verweigern, wenn hier anderen, die außerhalb der sozialen Einkommensgrenzen liegen, etwas passiert. Sonst kann er es nicht.
Hier gibt es sehr diffizile Haftungsfragen. Hier muß man sich schützend vor diesen Personenkreis stellen, damit nicht derjenige, der an der Eigentumsumwandlung nicht teilnehmen will, nachher unter Umständen Haftungsfolgen allein zu tragen hat. Dies ist der Grund. Das hat mit Ideologie gar nichts zu tun. Dies ist vielmehr eine Frage des Schutzes und der Vernunft für die vielen kleinen Leute, um die es hier geht.
Sie haben weiter gefragt, warum ich mich gegen die Privatisierung des Wohnungseigentums bei gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften wende. Herr Kollege Jahn, Eigentum bei gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften ist ebensogut Eigentum wie beim Zahnarzt Meier oder beim Schlosser Müller — und ist damit geschützt. Das heißt, wer eine solche Zwangsprivatisierung will, der muß enteignen. Das ist das erste.
Hier haben wir es nicht mit Eigentum minderen Rechts, sondern mit Eigentum gleichen Rechts zu tun.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975 11935
Bundesminister RavensAber es gibt noch einen viel wichtigeren Grund. Wir haben uns in unserem Ausschuß oft und lange darüber unterhalten, wie wir es fertigbringen, den Bestand alter Sozialwohnungen für den Personenkreis zu nutzen, dessen Einkommen noch erheblich unter den Einkommensgrenzen des sozialen Wohnungsbaus liegt. Wir haben immer wieder gemeinsam festgestellt, daß der alte Bestand im Bereich des sozialen Wohnungsbau eigentlich eine der großen wohnungspolitischen, sozialpolitischen Manövrier-massen für die Zukunft ist, die man nicht leichtfertig aus der Hand geben sollte.
Dies ist der Punkt, um den es geht.
Meine Damen und Herren, zu Beginn einer konjunkturellen Aufschwungphase werden wir eine Antwort auf die Frage nach dem zukünftigen Volumen des Wohnungsbaus geben müssen. Dabei sind wir uns, so glaube ich, alle darin einig, daß die Wohnungsbauproduktion das Niveau von 600 000 bis 700 000 Wohnungen — wie in den vergangenen drei Jahren — nicht mehr erreichen kann und auch nicht mehr erreichen darf. Die Zeit der Rekorde in den Fertigstellungsziffern ist für den Wohnungsbau mit Sicherheit vorbei. Der Grad der Bedarfssättigung, die zu erwartende Stagnation der Bevölkerungszahl sowie die Entwicklung von Zahl und Struktur der privaten Haushalte lassen es realistisch erscheinen, von einem jährlichen Neubauvolumen auszugehen, das im Bereich von 400 000 bis 450 000 Wohneinheiten liegt.Herr Kollege Schneider, hier handelt es sich nicht um Schätzungen über einen breiten Daumen. Hier handelt es sich, wie wir dies schon in der Antwort auf die Große Anfrage gesagt haben, um die Ergebnisse sehr sorgfältiger Untersuchungen auf wissenschaftlicher Basis. Wir erwarten noch die endgültige Fassung des Gutachtens, das bei der Universität Münster in Auftrag gegeben wurde. Sie kennen die erste Fassung. Wir haben in der Großen Anfrage darauf verwiesen, daß wir das Gutachten, sobald der bereinigte Text vorliegt — in Münster wird noch daran gearbeitet , dem Bundestag zuleiten und auch dem Ausschuß zur Verfügung stellen werden.Wir wissen, daß es noch eines zweiten Schrittes bedarf, nämlich von der Bedarfsseite her zur Wohnungsmarktseite, zur Wohnungsmarktprognose zu kommen. Hier arbeiten wir mit einigen Instituten und zehn interessierten Städten zusammen, um Indikatoren für eine solche Marktanalyse zu entwickeln. Auch dies wird getan.Die Zahlen, die uns heute vorgelegt sind und die ich hier genannt habe, sind begründet und beinhalten den Neubedarf in Abhängigkeit von der Haushaltsentwicklung, den Nachholbedarf, um die Überbelegung von Wohnungen, vor allem bei den kinderreichen Familien, abzubauen, den Ersatzbedarf, der notwendig ist, um die Verringerung des Bestandes durch Abbruch und Zusammenlegung von Wohnungen auszugleichen.Eine Steigerung des wirtschaftlichen Wachstums kann den Richtwert nach oben drücken. Dies sind keine Zahlen, die für jedes Jahr immer wieder erscheinen. Wir sollten uns jedoch bei den gegenwärtigen Wachstumsaussichten auf dieses Niveau einstellen. 400 000 bis 450 000 Wohnungen jährlich können mit den vorhandenen Kapazitäten erstellt werden. Sie ermöglichen bei sozial gerechter Verteilung auf die Haushalte eine wesentliche Verbesserung der Wohnungsversorgung für die gesamte Bevölkerung.Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit dem Einwand entgegentreten, die Bundesregierung habe ihre Wohnungspolitik bis in die jüngste Zeit auf Wohnungsbaurekorde ausgerichtet und konfrontiere jetzt die Bau- und Wohnungswirtschaft mit deutlich geringeren Richtwerten. Ich darf Sie vielleicht daran erinnern — es ist ganz amüsant, es nachzulesen; ich habe es getan —, daß es in diesem Hause im Oktober 1970 eine sehr lebhafte wohnungspolitische Debatte am späten Abend gegeben hat. Einige der Kollegen, die damals meinem Kollegen Lauritz Lauritzen vorwarfen, er habe nur 500 000 Wohnungen fertiggestellt, während es unter Herrn Lücke immer 600 000 gewesen seien, sind hier noch in diesem Haus.
Damals ist dies eine der heftigen Auseinandersetzungen gewesen. Am Schluß der Auseinandersetzung hat man sich am späten Abend dann darauf geeinigt — und viele wissen dies auch noch —, daß man doch wohl eine mittlere Jahresrate von 500 000 Wohnungen als realistisch für die überschaubare Zeit ansehen sollte. Dies war auch die Zielvorstellung des langfristigen Wohnungsbauprogramms der Bundesregierung; sie hat dies immer wiederholt.Die übersteigerten Inflationserwartungen sowie ein überstarkes Sachwertstreben führten dann zu einer Wohnungsbautätigkeit, die weit über alle bislang gültigen Zielvorstellungen hinausging. In unserem marktwirtschaftlichen System konnten Bundesregierung und Bundesbank dieser Entwicklung nur durch die globalen Maßnahmen einer konsequenten Stabilitätspolitik entgegentreten. Das ist seit 1973 geschehen. Es mußte dann alle jene hart treffen, die bei ihren Investitionsentscheidungen geglaubt haben, auch weiterhin vom übersteigerten inflationären Wachstum profitieren zu können.Das Ergebnis ist uns allen bekannt. Durch das Zusammentreffen von strukturellen und konjunkturellen Faktoren ergab sich am Markt ein Überangebot kurzfristig nicht absetzbarer Wohnungen. Wie in der Antwort auf die Große Anfrage der CDU/ CSU bereits ausgeführt, dürfte die Zahl der leerstehenden Wohnungen auf Grund von Erhebungen der Länder etwa auf 200 000 zu schätzen sein. Ich bleibe bei dieser Zahl
— auch wenn Sie mich noch einmal wieder beschimpfen, ich glaube Herrn Vietor nicht genug. Ich gehe von den Zahlen aus, die Sie in der Anlage zur Antwort auf die Große Anfrage vorgelegt bekommen haben. Sie sehen, daß wir da sehr weit nach oben geschätzt haben. Es gibt im Augenblick keine Anzeichen dafür, daß sich die Zahlen verschoben haben.
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11936 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Bundesminister RavensDie Deutsche Bundesbank beurteilt das Haldenproblem so — ich darf mit Genehmigung der Frau Präsidentin zitieren —:Nun liegt in der Ausweitung der Zahl der nichtbewohnten Wohnungen im Prinzip ein marktkonformer Vorgang.Sie schreibt weiter in ihrem Jahresbericht 1974:Ein zunehmendes Angebot an Wohnungen belebt den Wettbewerb auf dem Wohnungsmarkt und erhöht die regionale Mobilität der Arbeitskräfte.Sie differenziert dann:Problematisch ist im wesentlichen nur die Konzentration von Wohnungshalden auf dem Teilmarkt der Eigentumswohnungen, die von Bauträgergesellschaften und auch von Baufirmen erstellt wurden.Dies ist richtig. Aber wenn man sich einmal die Größenordnung vor Augen führt: 200 000 sind weniger als 1 % des gesamten Wohnungsbestandes; damit die Größenordnungen stimmen! In der Wohnungswirtschaft hat es über Jahre hinweg überhaupt keine Diskussion darüber gegeben, daß zu einer Marktreserve eigentlich ein Plus von 3 % gehört. Problematisch, sagt also die Bundesbank, ist die Konzentration von Wohnungshalden an einem Ort in wenigen Händen.Herr Kollege Schneider, wenn Sie hier ein so feuriges Plädoyer für die Bau- und Wohnungswirtschaft gehalten haben, möchte ich Sie bei dieser Gelegenheit fragen: Ist für Sie die Marktwirtschaft eigentlich nur eine Schönwetterveranstaltung? Ist es wirklich Ihre Auffassung, daß wir dem Staat im Aufschwung lediglich so etwas Ähnliches wie eine „Nachtwächterrolle" zuweisen, in konjunkturell schwierigen Phasen aber von ihm verlangen sollen, daß er bedenkenlos Verluste sozialisiert?
— Hier geht es um globale Größenordnungen.Wenn man so wie Sie das Ergebnis freier Unternehmerentscheidungen beklagt und gleichzeitig den Staat aufgefordert hat, er möge die Ergebnisse dieser Unternehmensentscheidungen nun mit Steuermitteln korrigieren,
dann muß ich Sie fragen: Sind Sie also für Investitionslenkung, für Produktionskontrollen, für Rationierung?
— Nein? Dann also, wenn Sie so heftig protestieren, Herr Kollege Schneider, für eine Marktwirtschaft, die Gewinn und Verlust säuberlich trennt:
Gewinn für den Privaten, Verlust für die Steuerzahler, und Risiko und Chance aufteilt: Chance für den Privaten, Risiko für den Staat. Dies ist nicht mehr Marktwirtschaft, dies ist eine Perversion.
— Damit hat das überhaupt nichts zu tun.Wenn Sie, Herr Kollege Schneider, den Vorsitzenden der IG Bau, Steine, Erden, Herrn Rudi Sperner, in diesem Zusammenhang zitieren, dann sollten Sie es vollständig tun. Damit das ganze Zitat bekannt wird,
darf ich mit Ihrer Genehmigung, Frau Präsidentin, den Vorspann nennen, der hinzukommt, der davorsteht. In seiner Rede heißt es dort:Die Bestrebungen und Ratschläge, alle zur Zeit leerstehenden Wohnungen mit öffentlichen Mitteln zu subventionieren, können wir als IG Bau, Steine, Erden nicht befürworten;
denn dies würde nichts anderes bedeuten als die Sozialisierung der Verluste privater Spekulanten.
Herr Kollege Schneider, nun kann man hinzufügen — allerdings nur, wie wir in der Antwort auf die Große Anfrage gesagt haben —, wenn die Summe einzelwirtschaftlicher Risiken Existenz und Funktionsfähigkeit eines ganzen Wirtschaftszweiges bedroht, ist der Staat zum Handeln aufgerufen.
Erst dann sind allerdings Stützungsmaßnahmen notwendig. Diese Situation haben wir nach Einschätzung der Bundesregierung nicht.
Deshalb sind auch die Forderungen der Opposition nach zusätzlichen Maßnahmen unangebracht.
Sie sind falsch in Ansatz und Zeitpunkt und angesichts der finanziellen Enge in den öffentlichen Haushalten wenig überlegt.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Zeitel?
Herr Minister, da Sie offensichtlich genaue Vorstellungen über die Verteilung der Spekulationsgewinne haben: Können Sie dem
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975 11937
Dr. ZeitelHohen Hause einmal sagen, wie hoch die Fehlbestände im Bereich gemeinnütziger und öffentlicher Wohnungsunternehmen und im privaten Bereich sind? Erst wenn man das wüßte, könnte man doch großtönende Worte reden.
Ich kann Ihnen nur sagen, hier geht es um Entscheidungen, ganz gleich, ob sie im gemeinnützigen oder privaten Bereich gefallen sind.
Wer in Eigentumswohnungen spekuliert hat, muß wissen, daß er das Risiko in vollem Umfange zu tragen hat, ganz gleich, ob er ein gemeinnütziges oder privates Unternehmen ist. Hier herrscht Marktwirtschaft in diesem Land. Dies muß durchgehend gelten.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Schneider?
Herr Kollege!
Herr Bundesminister, ist Ihnen entgangen, daß ich bei meinen Ausführungen ausdrücklich darauf hingewiesen habe, daß es nicht darum geht, irgendeinen Wohnungsunternehmer aus seiner Misere herauszuholen, sondern daß es ausschließlich darum geht, leerstehende Wohnungen, die die Kategorien einer Sozialwohnung aufweisen, an den kleinen Mann, an den Eigennutzer und Endverbraucher zu bringen, daß es darum geht, eine sozialpolitische und vernünftige vermögenspolitische Aktion durchzuführen und nicht eine marktwirtschaftswidrige Aktion zugunsten der Unternehmer?
Herr Kollege Schneider, ich komme auf diesen Punkt noch zurück. Mir geht es zunächst einmal um die Grundsatzentscheidung, was in der Marktwirtschaft gilt und was nicht gilt. Das, glaube ich, ist die erste Frage,
die man beantworten muß. Darauf kann man dann weiter aufbauen.
Lassen Sie mich zunächst noch hinzufügen: Die von Ihnen geforderte Ausweitung der Höchstbeträge im Rahmen des § 7 b des Einkommensteuergesetzes, Herr Kollege Schneider, ermöglicht doch lediglich die Abwälzung überhöhter Baukosten, von denen Sie in Ihrer Rede selbst sagen, die wollten Sie nicht zu Lasten der öffentlichen Haushalte honorieren.
Für die Eigentumsbildung reichen die zur Zeit geltenden Höchstbeträge noch aus. Nach dem statistischen Mittel betrugen die reinen Baukosten für Einfamilienhäuser bei einer durchschnittlichen Bruttowohnfläche von 126,8 qm im Jahre 1974 152 215 DM, und die Förderungsgrenze liegt bei 150 000 DM.
— Das heißt, dies sind die durchgerechneten Sätze. Sie können diese Dinge nachprüfen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Im Moment nicht.
Im übrigen, Herr Kollege Schneider, muß ich Sie fragen — und ich darf dies einmal ein wenig in dieser Form, in der wir uns kennen, tun —: Haben Sie Ihre Vorschläge zum Haldenabbau eigentlich mit Herrn Kollegen Strauß abgestimmt?
Ich möchte hier nun nicht seine Sonthofener Rede, sondern seine Rede aus dem Bundestag anläßlich der Haushaltsdebatte von 1975 zitieren.
— Nein, ich will Sie nur an Beschlüsse Ihrer Fraktion erinnern. Manchmal ist das nötig.
Herr Kollege Strauß hat im März 1975 hier gesagt:
Wir haben am 6. November 1974 als Signal für den Ernst der Lage und als Hilfe für die Regierung einen befristeten Stopp aller finanzwirksamen Anträge von uns aus vorgenommen und dieses Angebot an die Regierungsparteien gestern ohne Frist in unserer Fraktion verlängert.
So weit Kollege Strauß. Wie ernst sind dann eigentlich Beschlüsse Ihrer Fraktion zu werten? Oder sollten Sie selbst es mit Ihren eigenen Vorschlägen
— Herr Kollege Schneider, und so schätze ich die nicht ein —, die auch von zahlreichen Interessentengruppen an uns herangetragen werden, vielleicht gar nicht so ernst gemeint haben? Hier muß die Opposition auch Farbe bekennen,
ob das, was hier Sparsamkeit heißt, oder das, was Mehrausgaben oder Minderausgaben im weitesten Feld heißt, für sie nun Gültigkeit hat.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Niegel?
Herr Bundesminister, Sie sprechen vom statistischen Durchschnitt und sagen, daß die Baukosten bei Einfamilienhäusern bei etwa
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11938 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Niegel152 000 DM lägen und die Förderungsgrenze voll ausreiche. Was hat man sich denn im Jahre 1964 gedacht? Als man die Förderungsgrenze mit 150 000 DM festsetzte, hat man doch auch eine gewisse Toleranzgrenze — nämlich von unten nach oben — gelassen. Wenn der Durchschnitt bei 152 000 DM liegt, beweist dies doch, daß bei vielen die Kosten höher sind und daß es sicherlich Leute gibt, die größere Häuser bauen müssen, weil sie größere Familien haben.
Ich weiß nicht, was sich der Finanzminister Ihrer Regierung damals gedacht hat, als er die Grenzen so hoch gesetzt hat. Ich will ihm freundlicherweise unterstellen, er habe an nichts anderes gedacht, als ausreichend für mehrere Jahre vorzuhalten.
— Bei einem Verhältnis von 152 000 zu 150 000 DM reicht es nach meiner Ansicht noch aus.Im übrigen, meine Damen und Herren, nachdem wir die Grundsatzfrage: wie ist das mit der Marktwirtschaft?, besprochen haben, möchte ich darauf hinweisen, daß die Bundesregierung durch Gewährung erhöhter Aufwendungsdarlehen im Rahmen ihres Regionalprogramms zur Entlastung des Haldenproblems beigetragen hat. Die Länder bemühen sich zudem, in Einzelfällen, in denen die Voraussetzungen erfüllt sind, leerstehende Neubauwohnungen in den sozialen Wohnungsbau zu übernehmen. Aber die Ergebnisse, die wir bisher von dort bekommen haben, sind wenig überzeugend, da in vielen Fällen die leerstehenden Wohnungen für eine Übernahme ungeeignet sind, häufig aber auch der Eigentümer an solchen Übernahmen überhaupt nicht interessiert ist.
Offenbar werden die Zukunftsaussichten von vielen Eigentümern gar nicht so pessimistisch beurteilt.Insgesamt - dies zeigen unsere ersten Zahlenaus 1974 — dürfte über beide Förderungswege nach vorsichtigen Schätzungen 1974 und 1975, wohl etwa in gleicher Höhe, eine Entlastung der Halde um jeweils rund 20 000 erreicht werden, — 20 000 Wohnungen, für die die Voraussetzungen zutreffen. Mehr sind es nicht gewesen. Zusätzliche Entlastung bringen dabei sicherlich auch die gezielten steuerlichen Entlastungen im Rahmen des § 7 b sowie im Rahmen des Grunderwerbsteuergesetzes.Sie haben, Herr Kollege — um auch das noch eben aufzunehmen —, darauf verwiesen, daß es ein Gutachten des „Arbeitskreises Sozialer Wohnungsbau" gibt. Ich muß Sie korrigieren. Dieses Gutachten gibt es nicht. Es gibt ein vorläufiges Gutachten einer Arbeitsgruppe, einer Untergruppe des Arbeitskreises. Da ich mich korrekt an das halte, was meine dem Ministerium zugeordneten Arbeitsgruppen beschließen, kann ich nur feststellen: dort ist in der Schlußsitzung durch die Arbeitsgruppe festgelegt worden, diese Arbeit zunächst dem Gesamtausschußzuzuleiten, um es über den Gesamtausschuß auf dem normalen Weg zu veröffentlichen.Sie werden sicher sein können, daß dieses Gutachten am selben Tage, an dem es durch den Arbeitskreis veröffentlicht wird, Ihnen zugestellt wird, am selben Tage! Ich halte mich gerade dann, wenn wir mit Sachverständigen und Mitarbeitern von außerhalb unseres Hauses zusammenarbeiten, sauber an das, was in solchen Gremien miteinander vereinbart worden ist.
— Es ist eben nicht fix und fertig, weil es noch nicht die Zustimmung des Arbeitskreises hat
und weil die Arbeitsgruppe darauf Wert legt, daß sich der Gesamtarbeitskreis auch unter anderen Aspekten mit diesem Gutachten beschäftigt.
— Nein, damit hat das gar nichts zu tun, Herr Kollege. Nur, man muß ja wohl einmal deutlich machen, wo man sich korrekt zu verhalten hat, um sich nicht den Vorwurf einhandeln zu lassen, man habe dem Bundestag bestimmte Dinge nicht zugestellt. Ich muß für mich erklären, ich habe mich korrekt an das gehalten, was dort beschlossen worden ist. Der Bundestag und die Kollegen im Ausschuß bekommen das dann vom Arbeitskreis beschlossene Gutachten unverzüglich zugestellt.
— Dazu komme ich.Im übrigen: In dieser sicherlich nicht einfachen Übergangsphase — hier ist Ihre Antwort — ist von verschiedenen Seiten mit dem Sozialpfandbrief ein Finanzierungsinstrument empfohlen worden, das sich bereits in den 50er Jahren als wenig tauglich erwiesen hat. Solange Probleme wie die zwangsläufige Spaltung des Kapitalmarktzinses mit all ihren Konsequenzen für den Kapitalmarkt, die zinstreibende Wirkung steuerfreier Papiere, die ja doch irgendwo einen Bremsriegel einschiebt, wenn es nach unten gehen soll, sozialpolitisch bedenkliche Verteilungswirkungen, weil gerade die Anlieger mit hoher Steuerprogression vom Sozialpfandbrief ganz besonders profitieren, und eine volkswirtschaftlich nicht vertretbare Einschränkung der Lenkungsfunktion des Zinses ungelöst sind, sollten wir uns davor hüten, den Sozialpfandbrief als ein Allheilmittel im Wohnungsbau vorzustellen.
— Auch ich mache es mir nicht zu eigen, wie Sie sehen. In diesem Fall habe ich eine sehr skeptische Haltung.Die Lösung anstehender Probleme in der Bau- und Wohnungswirtschaft verlangt eine vertrauensvolle Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Gemeinden. Hier sind wir in der letzten Zeit ein gutes
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975 11939
Bundesminister RavensStück vorangekommen. Ich hoffe, daß auch die heutige Debatte diese Zusammenarbeit weiter fördert, daß sie die Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Gemeinden voranbringt und daß sie die gemeinsame Aufgabe von Parlament und Regierung, mit den Problemen fertig zu werden, erleichtert.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Meermann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Sprecher der Opposition, der Herr Kollege Schneider
— die Würdigung kommt nachher; es ist Ihr gutes Recht zu fragen —, hat auf seine vielen Fragen
eine Antwort gegeben, die ich auf meine Weise aufgreifen möchte: Auf welcher Grundlage findet denn nun eigentlich die heutige Diskussion statt? Die Antwort ist: Wir haben in der Bundesrepublik 25 Jahre nach Kriegsende einen sehr hohen Stand der Wohnungsversorgung erreicht, einen so hohen Stand, wie wir ihn in unserer Geschichte überhaupt noch nie gehabt haben. Die Zahl der Wohnungen entspricht der der Haushalte; sie geht sogar etwas darüber hinaus. Das war möglich, weil die Einkommen der Bürger, und zwar der Erwerbstätigen wie auch der Rentner, sich ständig verbessert haben,
weil die Menschen bei uns den Willen haben, gut zu wohnen und in ihrer übergroßen Mehrheit — da teile ich Ihnen Ihre Meinung, Herr Kollege Schneider — auch bereit sind, einen angemessenen Teil ihres Einkommens dafür aufzuwenden, weil in der Zeit des Wiederaufbaus und in langen Perioden wirtschaftlichen Wachstums mit direkter und indirekter staatlicher Hilfe sehr hohe Wohnungsbauleistungen erbracht werden konnten, weil Bund, Länder und Gemeinden sich bemüht haben, durch Gesetzgebung und finanzielle Förderung auch die sozial Schwächeren am steigenden Wohnungsstandard teilhaben zu lassen, und weil auch das Wohngeld sie im Besitz ihrer Wohnungen gesichert hat.Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, hat schon immer, auch als sie in der Opposition stand, in der vordersten Front gestanden, wenn es galt, sich für die Wohnbedürfnisse der sozial Schwächeren einzusetzen.
Das ist erst recht jetzt, wo sie in der Regierungsverantwortung steht, ihr erklärtes wohnungspolitisches Ziel. Es geht um die ältere Generation, um die Familien mit Kindern, die Alleinstehenden und die Behinderten, und es geht selbstverständlich auch um die Gastarbeiter. Die Wohnbedürfnisse aller dieser Mitbürger dürfen nicht vom Marktgeschehen überrollt werden.
Darin werden wir uns nicht irremachen lassen, weder durch den gegenwärtigen Überhang — er betrifft ja nur Teilbereiche und ganz bestimmt nicht die sozial Schwächsten unter uns noch durch andere Schwierigkeiten, wie die Opposition sie heute allesamt der Bundesregierung in die Schuhe schieben möchte. Sie, meine Herren von der Opposition, haben Wohnungsnotständen dieser Gruppen in Ihrer Regierungszeit nur teilweise und nur sehr zögernd entgegengewirkt. Das erste Mietrecht, das sich wirklich sozial nennen konnte, haben wir gegen den erbitterten Widerstand Ihrer Partei im Bundestag und im Bundesrat durchsetzen müssen.
Ich darf Sie auch daran erinnern, daß Sie in den frühen 60er Jahren nicht bereit waren, dem damals katastrophalen Wohnungsnotstand der älteren Generation durch Bundeshilfe für altersgerechte Wohnungen zu begegnen. Sie lehnten unsere Anträge ab, und das nicht nur, weil Sie die finanziellen Möglichkeiten des Haushalts anders beurteilten als wir; Ihre Begründung lautete vielmehr auch, das sei in erster Linie Aufgabe der Länder und wohl auch der gewerbesteuerstarken Gemeinden und Städte, wo sich diese Probleme ganz besonders zeigten. Sie mußten diese Auffassung später revidieren, und heute darf ich wohl als einmütige Auffassung des ganzen Hauses feststellen, daß der Wohnungsbau für unsere älteren Mitbürger alle politischen Ebenen angeht, wobei der Bund die Initialzündung gibt.Bis einschließlich 1973 wurden rund 60 000 Altenwohnungen mit Hilfe des Bundes gefördert, davon der weitaus größte Teil in den Jahren der sozialliberalen Regierung. Aber wir haben auch strenge Maßstäbe an die Qualität dieser Wohnungen gelegt. Bundeswohnungsbauminister Lauritzen erließ im Jahre 1971 Planungsempfehlungen für Altenwohnungen, Wohnungen in Altenheimstätten und Wohnplätze in Altenheimen. Jeder Antrag wurde einzeln in Bonn geprüft, mancher Grundriß mußte verändert werden, und dies hat dazu beigetragen, daß wir insbesondere im Altenwohnungsbau in der ganzen Bundesrepublik einen beachtlichen Standard erreicht haben.
Sie, Herr Bundesminister Ravens, haben dann verstärkt fortgesetzt, was Ihre Vorgänger begonnen haben. Sie konnten durchsetzen, daß die Mittel für den Wohnungsbau für alte Menschen von 1973 auf 1974 nahezu verdoppelt und 1975 noch einmal um 20 Millionen DM auf rund 170 Millionen DM erhöht wurden.Bonn hat die Initialzündung gegeben. Nun sind die Länder am Zuge. Ich habe nur sehr wenig Verständnis dafür, wenn ein Land, das wirklich nicht zu den ärmsten zählt, die Komplementärmittel für das sogenannte Intensivprogramm nicht aufbringt und sich dann beschwert, wenn der Bund im näch-
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11940 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Frau Meermannsten Jahr andere Länder, die mit dem Geld etwas anzufangen wissen, stärker bedenkt.
— In der Tat! Ich sage Ihnen auch gern den Namen: es ist Baden-Württemberg.
Bei der Wohnungsversorgung unserer älterem Mitbürger hat sich auch die Kombination von Wohngeld und direkter Wohnungsbauförderung als besonders wirksam erwiesen. 68 % aller Wohngeldempfänger sind Rentner; ein großer Teil von ihnen lebt in Sozialwohnungen.
Es ist absolut keine Seltenheit, daß der Anteil des Einkommens, den Rentner für die Miete aufwenden müssen, durch das Wohngeld um bis zur Hälfte sinkt. Keiner braucht zu befürchten, daß er seine Wohnung aufgeben muß, wenn sein Einkommen beim Ausscheiden aus dem Berufsleben sinkt. Er ist in seiner Wohnung sicher. So hat das Wohngeld eine sehr wichtige Funktion beim Übergang vom Berufsleben in das Rentnerdasein gefunden, und auch der Entschluß, aus einer unbequemen Wohnung in eine gut ausgestattete Altenwohnung umzuziehen, wird durch das Wohngeld erleichtert. Es hat wesentlich dazu beigetragen, daß sich die Wohnungsversorgung unserer älteren Mitbürger gerade in den letzten Jahren erheblich verbessert hat.
Wir werden in unserer Sorge um den Bau von Wohnungen, die für sie besonders geeignet sind, nicht nachlassen. Wir wissen, wie wichtig es für die Gesundheit und die Lebensfreude älterer Menschen ist, in einer Wohnung zu wohnen, in der sie sich behaglich fühlen und die sie selbst bewirtschaften können. Mancher kann so vor dem Gang ins Altersheim bewahrt bleiben, den im Grunde doch niemand gern antritt.Allerdings wünschte ich — und dieser Wunsch richtet sich vor allem an die Gemeinden, an die Wohlfahrtsverbände und die Wohnungsbaugesellschaften —, daß nicht länger solche Massierungen von älteren Mitbürgern erfolgen, wie man sie mancherorts antrifft: Altenwohnungen, Altenheim, Altenpflegeheim, alles auf einem Areal, oder nur Altenwohnungen, die aber in großer Zahl. Dabei habe ich und hat wahrscheinlich auch noch niemand von Ihnen einen alten Menschen kennengelernt, der gern immer nur von seinesgleichen umgeben ist.Es spricht sicher vieles dafür, Heime und Pflegeheime möglichst nahe zusammen zu haben. Aber die Wohnungen sollten mehr in die Normalsiedlungen verstreut gebaut werden; zwar nicht einzeln, aber doch in kleineren Massierungen.
— Das ist jetzt auch eher möglich als in den vergangenen Jahren, weil jetzt mehr ambulante Hilfseinrichtungen geschaffen werden, Herr Kollege. Weitere sind im Entstehen begriffen, z. B. die Aktion „Essen auf Rädern" sowie andere Formen ambulanter Hilfe und Dienstleistungszentren, die die Bundesregierung ja auch durch Modellvorhaben unterstützt.
— Auch die Sozialstationen, sehr richtig!Viele möchten auch gern in ihrer vertrauten Umgebung bleiben, aber doch so wohnen, daß sie leichter mit den anfallenden Hausarbeiten fertig werden. Diesen älteren Menschen wird das von Ihnen, Herr Minister Ravens, initiierte Bund-LänderModernisierungsprogramm helfen. Ich denke dabei insbesondere an den Einbau von Zentralheizungen.Selbstverständlich sollen auch ältere Menschen an der Bildung von Wohnungseigentum beteiligt werden und alle staatlichen Hilfen dazu erhalten, aber nur dann, wenn sie selbst es wollen. Die SPD-Bundestagsfraktion hält es dagegen für unerträglich, wenn Förderungsmaßnahmen eines Landes zur Bildung von Wohnungseigentum dahin führen, daß die Wohnungsbaugesellschaften auch ältere Sozialwohnungen verkaufen, in denen seit vielen Jahren gute und vertragstreue Mieter wohnen, die gar nicht kaufen können oder wollen. Mir liegt das Schreiben eines Siedlungswerks aus Baden-Württemberg vor, in dem es heißt:Sollten Sie jedoch am Erwerb Ihrer Wohnung kein Interesse haben, bleibt es uns auf Grund der geltenden Gesetze freigestellt, Ihre Wohnung an einen Dritten zu veräußern.Sie können Sich vorstellen, wie sehr solche Schreiben gerade die älteren Mieter in Sorge und Aufregung versetzen. Diese Art falsch verstandener Eigentumspolitik führt nicht zu mehr sozialer Gerechtigkeit, sondern erzeugt sozialen Druck.
— Sicher gilt der Mieterschutz. Aber sagen Sie einem alten Menschen, der seit 25 Jahren in der gleichen Wohnung wohnt und damit gerechnet hat, dort bleiben zu dürfen, solange er eben dazu fähig ist, daß er ab nächsten Monat einen neuen Hausbesitzer hat, der keine andere Vorstellung hat, als die, ihn so schnell, wie es ihm der Mieterschutz erlaubt, herauszusetzen!
Wenn der neue Besitzer Eigenbedarf hat, kann er ihm nach 3 Jahren kündigen.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Mick?
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975 11941
Bitte, Herr Mick!
Frau Kollegin Meermann, sehen Sie unter diesem humanitären Gesichtspunkt auch einen Großteil der sogenannten fehlbelegten Wohnungen?
Das habe ich nicht verstanden.
Ich fragte, ob Sie in diesen humanitären Gesichtspunkt, den Sie jetzt ankündigen, auch einen Großteil der sogenannten fehlbelegten Wohnungen einbeziehen. Ich fragte Sie das deshalb, weil ich — jetzt völlig unparteiisch — der Meinung bin, daß dieses Problem so zu undifferenziert angesprochen wird.
Hier ging es mir nicht darum, Herr Kollege Mick, generell die Frage zu lösen, wer wieviel für seine Sozialwohnung bezahlen soll und wer in einer überbelegten oder unterbelegten Wohnung wohnt. Hier ging es mir vielmehr darum, zu sagen, daß, wenn ältere Sozialwohnungen von den Gesellschaften verkauft werden sollen, wenn andere Eigentümer dorthin kommen, dies auf alle Fälle eine Quelle großer Beunruhigung für die Mieter, insbesondere die älteren Mieter, darstellt.
— Nein, das will ich nicht.
— Herr Kollege Mick, Sie werden sich erinnern können, daß es einmal eine Konzeption von Minister Lücke gab, nämlich das sogenannte Rausschmeißergesetz, und daß wir uns ganz energisch dagegen gewehrt haben. Auf diesem Standpunkt steht die sozialdemokratische Fraktion heute noch.
Abgesehen davon — Herr Bundesminister Ravens hat vorhin schon darauf hingewiesen — ist der Ausverkauf preiswerter Sozialmietwohnungen auch wohnungspolitisch nicht zu vertreten; denn gerade an diesen besteht noch auf lange Zeit Bedarf. Sie sind nicht durch Neubauwohnungen zu ersetzen.Hier im Bundestag — wir haben es heute wieder erlebt — fordert die Opposition immer wieder den Verkauf von Sozialwohnungen aus dem Bestand der Gesellschaften an Private. Die Gefahr, daß wir nachgeben, besteht nicht. Aber ich möchte Sie sehr herzlich bitten, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, dieses Ziel doch auch nicht über die von Ihnen geführten Landesregierungen weiterzuverfolgen. Denn ob sich die Menschen in unserem Land, zumal unsere älteren Mitbürger, in ihrer Wohnung zu Hause und wirklich gesichert fühlen, hängt nicht ausschließlich von Bundesgesetzen und Bundesförderung, sondern auch von den Förderungsrichtlinien der Länder und dem sozialen Verhalten aller am Wohnungsgeschehen Beteiligten ab.Ich fasse zusammen. Wir haben unter den SPD/ FDP-Bundesregierungen sehr deutliche Fortschritte in der Wohnungsversorgung der älteren Generation gemacht. Bund, Länder und Gemeinden, Kirchen, Wohlfahrtsverbände und Wohnungsbaugesellschaften wissen aber auch, daß sie hier noch auf lange Zeit besondere Anstrengungen machen müssen. Auch die breite Öffentlichkeit ist in dieser Frage stark engagiert.Ich freue mich, feststellen zu können, daß neben dem familiengerechten Wohnen nun auch das altersgerechte Wohnen eine allgemein anerkannte politische Forderung geworden ist.
Zugunsten derer, die weder „Familie" noch „alt" sind, also der noch nicht im Rentenalter befindlichen Alleinstehenden, insbesondere der alleinstehenden Frauen, gibt es noch keinen entsprechenden Slogan und leider auch noch kein ausreichendes Problembewußtsein in der Öffentlichkeit. Es wirkt sich heute noch aus, daß die alleinstehenden Frauen unter den CDU-geführten Bundesregierungen allezu lange Stiefkinder der Wohnungspolitik waren. Auf sie wurde eine breitere Öffentlichkeit erstmals aufmerksam, als der Arbeitskreis „Belange der Frau" beim Bundeswohnungsbauminister im Jahre 1970 seine Schrift „Die wohnliche Versorgung Alleinstehender unter besonderer Berücksichtigung der alleinstehenden Frauen" herausgab. Zwar haben die alleinstehenden Frauen inzwischen am wachsenden Wohnungsstandard teilgenommen, aber die Wohnungsstichprobe 1972 bestätigt, daß sie einen weitaus höheren Anteil ihres Nettoeinkommens für die Miete abzweigen müssen als alle anderen Haushalte, was natürlich auch an ihrem durchschnittlich geringerem Einkommen liegt. Bei mehr als einem Fünftel von ihnen betrug die Miete mehr als 25 % ihres Nettoeinkommens, bei den Familien war die Vergleichszahl 8,1 %.Das Wohngeld hilft den erwerbstätigen Alleinstehenden nicht im gleichen Maße wie den Rentnern, bei denen sich die Art der Einkommensberechnung besonders vorteilhaft auswirkt. Es spricht ganz sicher vieles dafür — und ich bin dieser Meinung —, daß wir den Rentnern auch in Zukunft einen Vorsprung lassen. Mir erscheint es jedoch notwendig — ich bin froh, daß Sie, Herr Minister, diese Frage vorhin angeschnitten haben —, daß bei der Vorbereitung zur Wohngeldnovelle, mit der Ihr Haus beschäftigt ist, die Belange der übrigen Kleinhaushalte, gerade im Hinblick auf die alleinstehenden Frauen mit ihrem durchschnittlich geringen Einkommen, gründlich überdacht werden.Der Kollege Schneider hat die Bausparförderung für Alleinstehende angesprochen. In der Tat bringt die Neuregelung für sie Schwierigkeiten; die Förderung ist eingeschränkt worden. Ich stehe nicht an, zu sagen, daß dadurch eine gewisse Härte für die Alleinstehenden entstanden ist. Aber mit der Hal-
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11942 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Frau Meermannbierung der Prämie trug der Bundestag den Bedenken des Bundesverfassungsgerichts Rechnung, das schon 1964 die Gleichbehandlung von Ledigen und Verheirateten beanstandet hatte. Es ist, nebenbei gesagt, nicht das einzige Urteil des Bundesverfassungsgerichts, an dem die Frauen keine helle Freude haben.Die Neuregelung bringt — ich sagte es schon für Alleinstehende eine gewisse Härte mit sich. Man muß aber auch sehen, daß in den großen Familien, die besonders auf den Bau eines Eigenheims angewiesen sind, meist ein Verdienst für mehrere Personen reichen muß. Das Verdoppelungsprinzip, das auch für die Einkommensgrenzen bei der Prämiengewährung gilt, wurde deshalb nicht nur aus verfassungsrechtlichen Gründen von allen im Bundestag vertretenen Parteien gebilligt.Ganz anders, Herr Kollege Schneider, verhielt es sich bei der Steuerbegünstigung. Die sozialliberale Koalition wollte die Vorsorgeaufwendungen, einschließlich der Bausparkassenbeiträge, mit einem einheitlichen Satz von 22 % von der Steuerschuld absetzen. Der Höchstbetrag für Ledige hätte dann auf 9 600 DM festgesetzt werden können. Damit hätte die private Vorsorge über die Beiträge zur Sozialversicherung hinaus einen weiten Spielraum erhalten. Dies verhinderte aber die CDU/CSU-Mehrheit im Bundesrat, die mit der von ihr durchgesetzten Lösung den Freiraum für die Vorsorgeaufwendungen der Alleinstehenden erheblich einengte. Ich hoffe, aus Ihren Äußerungen, Herr Kollege Dr. Schneider, so etwas wie tätige Reue gehört zu haben. Ich würde mich freuen, wenn Sie sich bei Gelegenheit dafür einsetzten, daß sich das gerechtere SPD/FDP-Konzept doch noch durchsetzt.
Auch das Budget der alleinstehenden Mütter weist einen außerordentlich hohen Mietanteil auf. Sie wohnen auch in schlechteren Wohnungen als die vollständigen Familien. Das liegt nicht am Bundesgesetzgeber. Denn das Zweite Wohnungsbaugesetz verpflichtete die obersten Siedlungsbehörden schon lange, den Wohnbedürfnissen der alleinstehenden Frauen mit und ohne Kinder angemessen Rechnung zu tragen. Den Kollegen Orgaß wird es freuen, wenn ich sage, daß Hamburg hier mit besonders gutem Beispiel vorangegangen ist
— das kann ich leider von Ihnen hier nicht sagen -,
indem es seit einer Reihe von Jahren alleinstehenden Frauen mit Kindern die gleiche Förderung gewährt wie den jungen Ehepaaren.Offenbar hat dieses gute Beispiel aber nicht genügend Nachahmung gefunden, denn die alleinstehenden Mütter haben am sozialen Wohnungsbau immer noch nicht den ihnen gebührenden Anteil. Allerdings ist auch nicht jede Sozialwohnung für sie geeignet; denn sie sind ganz besonders auf die Nähe von Kindergärten und Kindertagesstätten angewiesen.Ich möchte es deshalb sehr begrüßen, daß die Bundesregierung im Rahmen ihres Demonstrativprogramms den Bau von sogenannten Servicehäusern fördert, in denen Kinderbetreuung und Haushaltsführung erleichtert werden. Die alleinstehenden Mütter wohnen hier nicht isoliert, sondern mit jungen Ehepaaren oder auch älteren Mitbürgern und Behinderten zusammen. Nebenbei gesagt: Alleinstehende Väter sind keineswegs ausgeschlossen, aber erstens gibt es von ihnen nicht so viele, und zweitens bleiben die meisten nicht so lange allein.Diese Servicehäuser sind nicht leicht zu finanzieren. Sie enthalten unterschiedliche Serviceeinrichtungen wie z. B. Gemeinschaftsräume, Spielräume, einen Raum zur Anlieferung von Gebrauchsgütern und Lebensmitteln, eventuell auch einen Kinderhort oder — in einem neueren Fall — Krankenschwesternbetreuung, was sehr wichtig ist für die berufstätigen Mütter. Andererseits müssen die Mieten mit Rücksicht auf die Einkommensverhältnisse der Mütter innerhalb der Grenzen für Sozialwohnungen bleiben.Erste Erfahrungen mit Servicehäusern wurden in Bremen-Osterholz-Tenever gemacht; vier weitere Häuser sind in Porz, Achim-Neuenheim, Heidenheim/Brenz und Delmenhorst im Bau, HeidelbergEmmertsgrund und Münster/Westfalen sind beabsichtigt.Mir liegt daran, das hier einmal zu sagen, weil es auch manche Kollegen hier in unserem Hause gibt, die keine Ahnung davon haben, daß es so etwas gibt, und andere meinen, Servicehäuser kämen nur für die ganz großen Städte in Frage.Herr Minister, Sie haben sich schon als Parlamentarischer Staatssekretär um den Bau von Servicehäusern sehr verdient gemacht. Sie dürfen der Unterstützung der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion sicher sein, wenn Sie sich weiter dafür einsetzen.
Wir halten es für ganz wichtig, daß Beispiele gesetzt werden, an denen sich Wohnungspolitik und Wohnungswirtschaft orientieren können, wenn es darum geht, wohnungsmäßige Benachteiligungen von alleinstehenden Müttern und anderen Personengruppen zu beseitigen.Wir begrüßen es daher ganz besonders, daß Sie die Förderung des Wohnungsbaus für Schwerbehinderte mit Bundesmitteln, die Minister Lauritzen begonnen hat, fortsetzen. Ihr Haus war ferner an der Entwicklung der DIN-Normen für Wohnungen für Schwerbehinderte wesentlich beteiligt, und es hat schließlich den Katalog der Schwerpunkte bei der Beseitigung baulicher und technischer Hindernisse herausgegeben, damit die Behinderten es künftig leichter haben, sich in ihrer Wohnung und in öffentlichen Gebäuden zu bewegen.Erfeulicherweise besteht in den Ländern die Tendenz, ihre Bauordnungen — soweit nicht schon ge-
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Frau Meermannschehen — entsprechend zu ändern. 5 000 mit Bundesmitteln geförderte Schwerbehindertenwohnungen sind ein guter Anfang. Sie helfen ihren Bewohnern, mit ihrem schwierigen Leben besser fertig zu werden; denn diese Wohnungen, die auf die Bedürfnisse der Behinderten abgestellt sind und in denen sie so wenig Hilfe wie irgend möglich benötigen sollen, sind eine absolute Voraussetzung für eine umfassende Rehabilitation, für die Eingliederung in die Gesellschaft und in das Berufsleben. Sie sind ein Anfang. Leider müssen wir mit ständig wachsenden Zahlen von Behinderten rechnen.2 000 zusätzliche Querschnittsgelähmte in jedem Jahr mahnen uns aber auch, bei jedem für Gesunde geplanten Wohnungsbau daran zu denken, daß hier einmal Behinderte wohnen könnten, und sie mahnen uns, wenigstens bestimmte Grundvoraussetzungen für sie zu erfüllen.Die Familien mit Kindern stellen die größte Zielgruppe unserer wohnungspolitischen Bemühungen dar. Zu viele von ihnen wohnen noch in überbelegten Wohnungen. Ich darf aber feststellen, daß sich auch für die Familien mit Kindern trotzdem die durchschnittliche Wohnfläche pro Kopf laufend erhöht hat. Ihre Wohnverhältnisse haben sich in den letzten Jahren nicht unerheblich verbessert. 1968 z. B. wohnten erst 42 % der Familien mit fünf und mehr Personen in Mietwohnungen mit fünf und mehr Räumen, wobei in dieser Statistik die Küche eingerechnet ist. 1972 waren es immerhin schon 51 %. Inzwischen dürfte sich ihre Lage weiter verbessert haben. Die Verbesserung wird aber nicht so bemerkt, weil gleichzeitig Haushalte mit höherem Einkommen und Ehepaare ohne Kinder ihre Wohnungsversorgung noch rascher verbessern konnten. Es ist daher auch für die künftige Wohnungsversorgung von Familien mit mehreren Kindern ganz wichtig, daß wir ihr Einkommen durch das neue Kindergeldgesetz angehoben haben und sie so auf dem Wohnungsmarkt wettbewerbsfähiger geworden sind.
Die Verbesserungen der Wohnungsversorgung für Familien mit Kindern in den letzten Jahren sind vor allem im Familienheimbau, aber — ich stellte es bereits dar — auch durch den Mietwohnungsbau erreicht worden. Es ist wirklich erfreulich, in welch großem Umfang in ländlichen Gebieten sowie in Klein- und Mittelstädten auch Haushalte mit niedrigem Einkommen Wohnungseigentum erwerben können. Ein starke Selbsthilfe, das öffentliche Förderungssystem und vor allem auch die Bausparprämien haben sich hier als ausgesprochen wirksam erwiesen.Da kinderreiche Familien aber oft nicht mit dem Bauen warten können, bis sie das Eigenkapital zusammen haben, hat die sozialliberale Koalition gerade auch im Hinblick auf sie im Gesetz zur Förderung von Wohnungseigentum und Wohnbesitz im sozialen Wohnungsbau verbesserte Möglichkeiten zum Nachsparen geschaffen. Wir hätten dieses Gesetz gern mit Ihnen, verehrte Damen und Herren von der Opposition, verabschiedet. Leider haben Sie sich aber bei einem Punkt — und nicht einmal dem wichtigsten — so verrannt, daß Sie das ganze Gesetz abgelehnt haben was sicher nicht zu denglücklichsten Beschlüssen Ihrer letzten Jahre gehört.
Das Einfamilienhaus ist für die kinderreichen Familien zweifellos die geeignetste Wohnform, auch dann, wenn sie kein Eigentum erwerben wollen oder können. Bei uns gibt es im Gegensatz zu den angelsächsischen Ländern noch sehr wenige Mieteinfamilienhäuser. Wir begrüßen es deshalb sehr, daß das Land Niedersachsen die ersten Mieteinfamilienhäuser im sozialen Wohnungsbau für große Familien geschaffen hat. Manche Familie ist dadurch vor dem sozialen Abgleiten bewahrt worden. Wir hoffen, daß die guten Erfahrungen, ,die in diesem Land mit Mieteinfamilienhäusern gemacht wurden, auch andere Länder zur Nachahmung anregen.Schwierig bleibt die Wohnungsversorgung der kinderreichen Familien in den großen Städten. Hier besteht auch im sozialen Wohnungsbau noch ein erheblicher Nachholbedarf an familiengerechten, preiswerten Wohnungen. Denn die älteren Sozialwohnungen sind überwiegend Kleinwohnungen. Ich erinnere daran das ist vielleicht auch einmal ganz interessant für die, die sich so gern an die LückeZeiten erinnern , daß auch in den förderungsstarken Nachkriegsjahren noch Wohnungen mit rund 50 qm für Vierpersonenhaushalte gebaut wurden. Daraus folgt, daß von den jährlich etwa 120 000 Wohnungen, die zur Wiederbelegung frei werden, nur ein kleiner Prozentsatz für Familien mit Kindern geeignet ist. Auch bei dem Umsetzungsprogramm — wenn etwa bei der Förderung im Regionalprogramm eine Sozialwohnung frei gemacht wirddürften vor allem kleinere Wohnungen frei werden.
— Entschuldigung? Ist die halbe Stunde schon um?
Ja.
O, dann muß ich mich beeilen.
Einige Minuten stehen Ihnen noch zur Verfügung.
Das schaffe ich nicht.
Frau Kollegin, Sie können sich noch einmal melden. Das ist durchaus im Rahmen der Möglichkeiten der Geschäftsordnung. Aber Sie können auch Ihre Rede noch mit einigen Sätzen abschließen.
Vielen Dank, dann melde ich mich noch einmal.
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11944 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Meine Damen und Herren, ich bedanke mich bei der Rednerin für ihr Verständnis für die Regelungen der Geschäftsordnung und erteile nunmehr dem Herrn Abgeordneten Wurbs das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU-Fraktion hat in ihrer Großen Anfrage 24 Fragen über Ziele und Aufgaben der Wohnungsbaupolitik gestellt, die heute hier beantwortet werden sollen. Zunächst weise ich, Herr Kollege Schneider, den Vorwurf der Opposition zurück, die Antwort der Regierung habe lange auf sich warten lassen.
Jedem Eingeweihten wird doch wegen der Komplexität der Materie klar sein, daß man eine derartige Antwort nicht aus dem Handgelenk schütteln kann, zumal noch weitere Ressorts beteiligt waren.Im Grunde muß man der CDU/CSU-Fraktion dankbar sein, wenn sie heute den Regierungsparteien Gelegenheit gibt, darzulegen, wie sehr sie, nämlich die Koalitionsfraktionen und nicht die Opposition, auf dem Boden der Marktwirtschaft stehen. Für uns ist Marktwirtschaft ein Prinzip, das es auch in Krisenzeiten beizubehalten gilt. Natürlich ist eine solche konsequente Haltung für Sie, Herr Kollege Schneider, das Signal, heute — und zuvor schon in Pressekonferenzen — von Konzeptions- und Hilflosigkeit zu reden.Ich bin durchaus mit Ihnen der Meinung, daß sich die Wohnungswirtschaft in der schwierigsten Phase der Nachkriegszeit befindet. Die These aber, die Entwicklung sei ausschließlich der Bundesregierung anzulasten, kann doch von Ihnen nicht ernsthaft aufrechterhalten werden.Wenn ferner von Ihnen als Hauptursache des Produktionsrückgangs im Baugewerbe der Einbruch im Wohnungsbau angeführt wird, ist dem nichts hinzuzufügen. Nur, mit dieser lapidaren Feststellung allein kann man das Problem nicht lösen; hier gilt es, nach den Ursachen zu suchen. Die Ursachen liegen meines Erachtens hauptsächlich darin begründet, daß in Zeiten inflatorischer Entwicklungen eine Flucht in die Sachwerte erfolgte und damit vorübergehend ein künstlicher Bauboom erzeugt wurde.Selbstverständlich ist es die einfachste Methode, in dieser schwierigen Phase, in der sich die Bau-und Wohnungswirtschaft unbestritten befindet, den Staat dazu aufzufordern, die Wohnungshalden abzubauen. Sie denken dabei z. B. an öffentliche Verkaufshilfen, erweiterte Abschreibungen nach § 7 b und andere steuerliche Erleichterungen sowie Umwandlung der leerstehenden Wohnungen in Sozialwohnungen.
Unabhängig davon, daß sich die von Ihnen errechneten Kosten für die Umwandlung nicht im Bereich von 550 Millionen DM bewegen dürften, sondern weit höher sind, treiben Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, ein doppeltes Spiel, wennSie einerseits eine sparsame Haushaltspolitik fordern, andererseits aber in Anbetracht der gegenwärtigen Haushaltssituation die Bereitstellung von zusätzlichen Beträgen in der Größenordnung von einer halben Milliarde DM und mehr fordern.
— Wie würden Sie sich diese Umschichtung vorstellen? In Ihren Vorstellungen liegt ein gewisser Widerspruch, den ich aber im Laufe meiner Ausführungen noch aufklären möchte.Im übrigen — und das darf nicht unerwähnt bleiben — sind sich auch Ihre Kollegen in den von Ihnen regierten Ländern nicht einmal darüber einig, ob und inwieweit eine nachträgliche Förderung leerstehender Neubauwohnungen mit öffentlichen Mitteln tatsächlich praktiziert werden soll. So klar, wie Sie sie hier schildern, scheinen die Dinge also doch nicht zu liegen.Aber noch einmal zurück zur Marktwirtschaft. Es kann und darf doch nicht angehen, daß im Wohnungsbau unter völliger Außerachtlassung der Marktsituation bzw. überspitzter Spekulationen am Bedarf vorbei gebaut wird und dann, wenn Schwierigkeiten eingetreten sind, das Marktrisiko nachträglich auf den Steuerzahler abgewälzt wird. Darauf läuft doch die Forderung der Opposition hinaus. Dies hat mit aller Nachdrücklichkeit am letzten Wochenende auch der Vorsitzende der IG Bau, Steine, Erden, Sperner, noch einmal betont. Ich möchte aber noch einen potenten Vertreter der Bauwirtschaft zitieren. Im gleichen Sinne hat sich der Präsident der deutschen Bauindustrie, Brunner, am 7. Mai 1975 geäußert. Er erklärte unter anderem:Im übrigen geht jede Mark, die dorthin gelenkt wird,— gemeint ist die Subvention zum Abbau der Halden —dem öffentlichen Bau verloren.Es ist marktwirtschaftlich durchaus logisch, daß die Wohnungswirtschaft — seien es nun Wohnungsbaugesellschaften oder private Bauherren — versucht, Grundstücks-, Bau- und Zinskosten über die Preise und Mieten wieder hereinzuholen. Doch muß festgestellt werden, daß die Wohnungsnachfrage inzwischen elastischer geworden ist. Folglich wird man künftig nicht mehr ausschließlich die Kosten sehen, sondern auch den Preis, den der Wohnungssuchende noch zu zahlen bereit und in der Lage ist. Vor diese schwierige Situation sieht sich die Wohnungswirtschaft gestellt. Erschwerend kommt noch hinzu, daß der Wohnungsbedarf — von einigen Ausnahmen abgesehen — weitgehend gedeckt ist. Wir werden uns daher künftig auf geringere Wachstumsraten einstellen müssen. Dies ist eine Realität, an der auch die Opposition nicht vorbeikommt.Meine Damen und Herren, auf der anderen Seite ist es aber auch nicht so, daß die Bundesregierung die Situation auf dem wohnungswirtschaftlichen Sektor verkennt oder gar verharmlosen will. Wir wissen alle, daß die Existenz von Wohnungshalden
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Wurbsnoch geraume Zeit die Bereitschaft der unternehmerischen Wohnungswirtschaft zu neuen Investitionen mindern wird. Gleichwohl hat die Bundesregierung mit marktwirtschaftlichen Mitteln versucht, der Wohnungswirtschaft neue Impulse zu geben, so durch das Gesetz über Investitionszuschüsse für Mietwohnungen, Genossenschaftswohnungen und Wohnheime im sozialen Wohnungsbau und das Gesetz zur Förderung von Investition und Beschäftigung und nicht zuletzt durch die Erweiterung des § 7 b für Zweiterwerber. Positiv auswirken wird sich nach meiner Auffassung auch das jüngst verabschiedete Gesetz über die Eigentumsbildung und den Wohnbesitz im sozialen Wohnungsbau.Meine Damen und Herren, im Baugewerbe hat ein Schrumpfungsprozeß eingesetzt, der bis zu einem gewissen Grade — ich betone hier ausdrücklich: bis zu einem gewissen Grade volkswirtschaftlich notwendig und politisch vertretbar ist, um die unvermeidbare Anpassung an die längerfristigen Gegebenheiten des Wohnungsmarktes zu erreichen. Geradezu unverständlich ist es aber, wenn die CDU/ CSU in Kenntnis der gewandelten Situation auf dem Wohnungsbausektor verlangt, daß über die aufgezählten Maßnahmen hinaus Gelder für produktive Maßnahmen eingesetzt werden, um Arbeitsplätze im Baugewerbe zu sichern. „Produktive Maßnahmen" kann in diesem Zusammenhang aber doch nur heißen: noch mehr bauen, obwohl eine entsprechende Nachfrage nicht besteht bzw. die Nachfrage sich gewandelt hat. Es wäre meines Erachtens auch völlig falsch, von dieser Stelle aus Erwartungen der Bauwirtschaft zu wecken, die einfach unrealistisch sind. Ein weiteres Schrumpfen der Bauwirtschaft kann meines Erachtens dadurch mit verhindert werden, daß künftighin der Sanierung und Modernisierung ein höherer Stellenwert eingeräumt wird, um vor allem den kleineren und mittleren Betrieben des Bau- und Ausbaugewerbes ihre Existenz zu sichern.
Herr Abgeordneter — —
Darf ich den Satz noch zu Ende bringen! — Weitere Abgänge an Facharbeitern wären auf Sicht verhängnisvoll, weil die qualifizierten Kräfte unwiederbringlich verloren sind und für spätere Jahre nicht mehr zur Verfügung stehen. — Bitte schön!
Herr Abgeordneter Jahn, der Herr Kollege gestattet die Zwischenfrage.
Vielen Dank, Herr Präsident. — Nachdem der Herr Bundestagsabgeordnete Wurbs sich hier dagegen ausgesprochen hat, im Rahmen des Möglichen mit öffentlichen Mitteln den Haldenabbau zu fördern, frage ich, ob das auch
die Meinung des Vizepräsidenten des Deutschen Handwerks ist.
Das ist durchaus meine Auffassung. Hier besteht kein Unterschied. Lassen Sie mich hierzu auch eine Erklärung geben. Wenn Sie öffentliche Mittel zum Haldenabbau verwenden wollen, so ist es ganz klar, daß Mittel verlorengehen, um Neubauten zu finanzieren. Denn beides werden wir nicht können. Das wird unsere Haushaltssituation nicht zulassen. Wir werden uns darüber Gedanken machen müssen, wie wir — à la longue möglicherweise — gewisse Wohnungen in Sozialwohnungen umwandeln können. Das ist aber keine Ad-hoc-Maßnahme, sondern dies bedarf einer langfristigen Überlegung. Es ist ein Prozeß und nicht eine Ad-hocEntscheidung.Im übrigen verkennt die Opposition das Grundprinzip der Marktwirtschaft. Das Ausmaß der Wohnungsbautätigkeit wird, abgesehen vom Bereich des sozialen Wohnungsbaues, nicht dirigistisch geplant oder, besser gesagt, verplant. Die Entscheidung, ob und in welchem Umfang gebaut wird, trifft in erster Linie der Privatmann oder Unternehmer. Beide richten sich eben danach — bzw. sollten sich zumindest danach richten —, wie die Marktgegebenheiten sind.Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auch noch ein Wort zu dem Versuch der Opposition sagen, der Regierung eine Feindlichkeit gegenüber privaten Investitionen zu unterstellen. Dies trifft weder für das Zweite Wohnraumkündigungsschutzgesetz zu, noch für das Gesetz über die Eigentumsbildung und den Wohnbesitz im sozialen Wohnungsbau. Im ersten Fall galt es — dies ist bis auf eine Ausnahme auch mit den Stimmen der Opposition gebilligt worden —, die durch das Gesetz vorgenommenen Verbesserungen der Rentabilität in den Vordergrund zu stellen. So werden vor allem durch die Verbesserung des Vergleichsmietenprinzips, durch die Möglichkeit, Modernisierungskosten ohne Kappungsgrenze umzulegen, ebenso wie durch die Umlegung erhöhter Kapitalkosten ganz entscheidende Schritte in Richtung auf die verbesserte Rentabilität für den Hausbesitz getan. Daß nicht alle Wünsche auch des Hausbesitzers und des Hausbesitzes befriedigt werden konnten, liegt auf der Hand. Aber ich glaube, hier ist eine wesentliche Verbesserung gegenüber dem Ersten Wohnraumkündigungsschutzgesetz erfolgt.Gleiches gilt nach meiner Auffassung auch für die Eigentumsbildung im sozialen Wohnungsbau. Hier werden Eigentumsmaßnahmen mit mehr als 50 % aller Mittel — also, Herr Kollege Jahn, überwiegend — gefördert. Dabei wird entgegen der Ansicht der Opposition keine Hintansetzung des privaten Mietwohnungsbaues betrieben.
Ferner ist festzuhalten, daß es sich in diesem Gesetz allein um Förderungsmaßnahmen im Rahmen des sozialen Wohnungsbaues handelt, daß also weniger privilegierte Gruppen der Bevölkerung Eigentum sollen bilden können, und daß es nicht der primäre
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11946 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
WurbsGesetzeszweck ist, privaten Investoren Renditeobjekte zu bescheren.Der Bundesminister für Wohnungsbau hat soeben auf die Bedeutung der Wohngeldförderung hingewiesen, insbesondere auf die Verdoppelung der Zahl der Empfänger seit 1968 und auf die Erhöhung der Förderungsmittel. So erfreulich diese Entwicklung auch sein mag, möchte ich doch mit aller Klarheit feststellen, daß hier eine Korrektur und ein Umdenken erfolgen muß, da wir nach meiner Auffassung aus Haushaltsgründen nicht in der Lage sein werden, laufend weiter steigende Wohngeldzahlungen zu leisten. Darüber hinaus werden wir eine mögliche Verbesserung des Wohngeldes im Zusammenhang mit anderen wichtigen gesellschaftspolitischen Aufgaben sehen müssen.Wir Freien Demokraten sind der Auffassung, daß die Wohnung wie jedes andere Wirtschaftsgut auch ihren Marktwert besitzt und daß dafür auch ein angemessener Preis zu zahlen ist. Hierbei müssen jedoch die benachteiligten Gruppen der Bevölkerung berücksichtigt werden. Ich denke besonders an kinderreiche Familien, ältere Menschen, behinderte Mitbürger, ausländische Arbeitskräfte. Um diese Gruppierungen werden wir uns in den kommenden Jahren in verstärktem Maße kümmern müssen.Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie verlangten auf Ihre Fragen zu Recht Antworten. Herr Kollege Schneider, Sie müssen aber auch der Koalition das Recht einräumen und zubilligen, an Sie Fragen zu stellen und entsprechende Antworten zu fordern.
— Das eine schließt doch das andere nicht aus. Lieber Herr Kollege Schneider, wir wollen doch hier den Sachverhalt aufklären, und da ist doch ganz klar, wenn Sie Fragen stellen, daß wir dann auch Fragen stellen, um uns schlauer zu machen.
Ich möchte Sie hiermit fragen, wie Sie die nachstehend aufgeführten Forderungen, die Sie vorhin in Ihren Ausführungen darlegten, mit der derzeitigen Haushaltslage in Einklang bringen wollen. Sie forderten vorhin unter anderem erstens die Subventionierung von Modernisierungsmaßnahmen im Wohnungsbau.
— Sie sprechen aber expressis verbis davon, daß Modernisierungsmaßnahmen nicht ohne Subventionierung möglich sind. Ich glaube, so pauschal, wie Sie es heute ausgedrückt haben, kann man den Satz nicht im Raum stehenlassen. Deswegen auch meine Frage.
— Wir werden uns darüber noch unterhalten.Sie haben zweitens Kaufhilfen zum Abbau der Halden gefordert. Damit sind doch gewiß öffentliche Hilfen gemeint, die hier zum Einsatz kommen sollten.Sie führten drittens aus, daß die seit 1970 durch Mietwohnungsbeihilfen finanzierten Wohnungen ebenfalls subventioniert werden sollten.
Viertens forderten Sie zusätzliche Mittel für den Eigenheimbau. Das hat Herr Dr. Jahn in einer Zwischenfrage vorhin auch noch einmal bekräftigt.Ich möchte fragen, wie Sie die erforderlichen Mittel für diese Maßnahmen im Haushalt einplanen wollen.Meine Damen und Herren, ich darf auch darauf hinweisen, daß Ihre Meinung, Herr Kollege Schneider, die Talsohle der Bauindustrie sei noch nicht erreicht, nicht von allen Beteiligten geteilt wird. So hat der Präsident der Deutschen Architektenvereinigung gerade in dieser Woche ausdrücklich darauf hingewiesen, daß seiner Ansicht nach die Talsohle erreicht und ein Aufschwung nunmehr zu erwarten sei.Noch ein Wort zu Ihren Bemerkungen zur Situation der Bausparkassen. Sie, Herr Kollege Schneider, beklagten den Rückgang der Bausparbeiträge auf Grund der Steuerreform und hier die Begrenzung der Einkommenshöhe beim Prämiensparen. Aber die CDU/CSU war es doch, die mit dem erzwungenen Kompromiß bei der Steuerreform die Höchstgrenze für die Sonderausgaben von 5 400 DM auf 1 800 DM pro Kopf reduzierte und damit die Möglichkeit des steuerbegünstigten Bausparens für die meisten Menschen beseitigt hat. Frau Kollegin Meermann hat diesen Punkt vorhin bereits angeschnitten. Wir sollten versuchen, diese Lösung zu korrigieren, um vor allem auch den Alleinstehenden die Möglichkeit zu geben, wieder in verstärktem Maße bausparen zu können.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluß noch zwei Punkte aus dem Bereich des sozialen Wohnungsbaus ansprechen. Neuerdings wird wieder häufiger der Sozialpfandbrief ins Gespräch gebracht, und zwar in einer Weise, als sei er das Allheilmittel zur Lösung vieler Probleme im Bereich des sozialen Wohnungsbaus. Hierzu wird mein Kollege Böger noch einige Ausführungen machen. Lassen Sie mich nur so viel sagen, daß wir Freien Demokraten die Beurteilung des Sozialpfandbriefes nicht unbedingt in allen Punkten teilen.Meine Damen und Herren, des weiteren möchte ich noch einmal einen Gedanken aufgreifen, den ich vor Jahren schon einmal vorgetragen habe und der nach meinem Dafürhalten angesichts der Haushaltssituation überlegenswert sein dürfte. Es sollte einmal überdacht werden, inwieweit ein Teil der bisher gewährten öffentlichen Darlehen im sozialen Wohnungsbau im Rahmen der zulässigen Sätze zur Fortführung des sozialen Wohnungsbaus umgeschuldet werden kann. Hier ließen sich erhebliche Beträge für andere Maßnahmen auf dem Wohnungsbausektor mobilisieren. Ich bin mir durchaus der rechtlichen und tatsächlichen Schwierigkeiten be-Wurbswußt, die im Zusammenhang mit diesem Komplex stehen. Vor allem geht es darum, ob der Kapitalmarkt solche Summen kurzfristig zur Verfügung stellen kann. Grundsätzlich bin ich der Meinung, daß man meinen Denkansatz — und nur als solchen möchte ich es verstanden wissen — dazu benutzen sollte, diese Möglichkeit einmal näher zu beleuchten.Meine Damen und Herren, was wir jetzt und in der vor uns liegenden Zeit brauchen, ist Mut zur realistischen Einschätzung veränderter Gegebenheiten, wachsende Einsicht in die begrenzten Ressourcen und Bereitschaft zur Leistung und notfalls auch Bereitschaft zum Verzicht jedenfalls auf weitere Verbesserungen. Es geht nicht um den Abbau sozialer Leistungen, sondern um die mittel- und langfristige Sicherung des Erreichten. So der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Herr Dr. Erdmann, in der „Deutschen Bauzeitung". Dem habe ich nichts mehr hinzuzufügen.
Frau Kollegin Meermann, der Herr Kollege Mick gibt Ihnen die Möglichkeit, schon jetzt das Wort zu ergreifen. Bitte!
Ich danke Ihnen, Herr Kollege.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es macht mich ganz glücklich, einmal eine Rede mit einem herzlichen Dank an die Opposition beginnen zu können. Herzlichen Dank, Herr Mick, daß Sie mir Gelegenheit geben, meine Rede zu beenden.
Ich hatte zuletzt von den kinderreichen Familien gesprochen. Eine durchgreifende Verbesserung der Situation der kinderreichen Familien ist sicherlich nur auf längere Sicht möglich. Als Schritte in diese Richtung betrachtet die sozialdemokratische Bundestagsfraktion die erhebliche Erhöhung des Bundesanteils an der Neubauförderung je Wohnung, die in den letzten Tagen mit den Ländern vereinbart wurde, ferner die von der Bundesregierung verstärkt geförderte Modernisierung dadurch ist auch der Zusammenschluß von zwei kleinen Wohnungen zu einer größeren eher möglich, und zwar so, daß dann auch noch tragbare Mieten herauskommen —, und schließlich die Förderung des Kaufs von Altbauwohnungen durch große Familien; diese Förderung wurde bisher allerdings nur von wenigen Ländern in Anspruch genommen. Diese Art der Förderung war jedoch auch nur für Familien mit mindestens fünf Kindern vorgesehen. Inzwischen haben Sie, Herr Minister, erreicht, daß diese Hilfe auch für Familien mit vier oder nur drei Kindern gewährt werden kann.Das Wohngeld bietet von seiner Anlage her gerade den Familien mit Kindern eine wesentlicheHilfe. Hierzu hat die Verbesserung des Wohngeldgesetzes erheblich beigetragen. Es wird von den Familien mit Kindern aber noch nicht ausreichend genutzt. Ihr Anteil an den Wohngeldempfängern ist nach wie vor gering. Hier mag noch eine gewisse Risikoscheu im Spiel sein. Offenbar behilft sich manche Familie lieber mit einer überbelegten Wohnung, bevor sie im Vertrauen auf das Wohngeld eine größere Wohung mietet. Vielleicht wissen viele Familien auch noch nicht, daß das Kindergeld, mit dem wir ihre wirtschaftliche Situation doch erheblich aufgebessert haben, bei der Einkommensberechnung zum Wohngeld keine Rolle spielt. Sie erhalten genausoviel Wohngeld, als wenn es kein Kindergeld gäbe. Wir sollten deshalb noch deutlicher als bisher immer wieder sagen, daß die Wohngeldleistungen auf Dauer angelegt sind, daß die Wohngeldempfänger mit Anpassungen rechnen können und daß wir sicherstellen werden, daß der reale Förderungswert in dieser sozialpolitisch so bedeutsamen Leistung erhalten bleibt.Ich möchte hier noch eine kurze Anmerkung machen zu dem Bericht der Sachverständigenkommission, der uns im zweiten Familienbericht der Bundesregierung zugeleitet worden ist und den Herr Kollege Dr. Schneider auch angesprochen hat. Wir werden ihn bei Gelegenheit sicher noch eingehend diskutieren. Bei allem gebührenden Respekt vor dem bemerkenswerten Gutachten der Sachverständigen: Wenn sie im Kapitel „Einkommensbelastung durch Miete" feststellen, daß 61 % der Familien mit zwei und mehr Kindern und einem Haushaltsnettoeinkommen von unter 800 DM im Jahre 1972 mehr als 25 % ihres Haushaltsnettoeinkommens für Miete ausgeben müssen, jedoch mit keinem Wort erwähnen, daß jede dieser Familien einen Anspruch auf Wohngeld, ja, auf beachtliches Wohngeld hat, dann muß ich mich doch wirklich fragen: Was soll das?Eingehend behandelt wird das Wohngeld dagegen in dem Kapitel „Kritik an der bisherigen Wohnungspolitik und ihren familienpolitischen Aspekten". Da heißt es nämlich, daß die wohnungsverteilungspolitische Funktion des Wohngeldes nicht zur Geltung komme. Daran ist natürlich etwas; ich habe es am Beispiel der kinderreichen Familie darzustellen versucht. Aber die sicherungspolitische Funktion des Wohngeldes ist doch da. Die Miete oder Belastung der Wohnung, in der die Familie wohnt, wird tragbar gemacht, und die Familie ist in der Wohnung sicher, auch wenn ungünstige Wechselfälle des Lebens eintreten.
In der besseren Wohnungsversorgung der Familie mit Kindern sieht die sozialdemokratische Bundestagsfraktion einen Kernpunkt der künftigen Wohnungspolitik. Ausreichend große Wohnungen sind eine wesentliche Voraussetzung dafür, daß Familien gut zusammenleben und daß die Kinder ihre volle Lernfähigkeit, Intelligenz und Kontaktfähigkeit entfalten. Kinder benötigen aber auch einen persönlichen Bereich innerhalb der Wohnung. Deshalb streben wir Sozialdemokraten das Ziel an: Jedem Schulkind ein eigenes Zimmer. Ich weiß, daß dieses Ziel nicht schon in den nächsten Jahren zu errei-
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11948 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Frau Meermannchen sein wird. Aber das soll uns nicht hindern, es ständig vor Augen zu haben und konsequent zu verfolgen.Unsere besondere Fürsorge hat auch den ausländischen Arbeitnehmern zu gelten, die es aus einer Reihe oft ganz unterschiedlicher Gründe besonders schwer haben, angemessenen Wohnraum zu finden. Ihre Wohnungsprobleme werden dadurch verschärft, daß sie sich überwiegend in den Verdichtungsräumen niedergelassen haben, in denen auch die deutsche Bevölkerung mit den Schwierigkeiten eines angespannten Wohnungsmarktes rechnen muß.Die Bundesregierung stellt in ihrer Antwort auf die Große Anfrage der CDU/CSU fest, daß sich die Wohnungsprobleme der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien am besten durch das Zusammenwirken von Arbeitgebern und Kommunen und der Arbeitsverwaltung lösen läßt. Der Bundestag hat aber auch den gesetzlichen Rahmen dafür abgesteckt, daß die vom Arbeitgeber überlassenen Unterkünfte menschenwürdig sind. Das war nötig; denn die bisher durchgeführten Kontrollen haben oft genug ergeben, daß hier in der Vergangenheit trotz der finanziellen Hilfen der Bundesanstalt für Arbeit sehr gesündigt wurde.Die Landesplanungsbauprogramme berücksichtigen die ausländischen Arbeitnehmer und ihre Familien im allgemeinen entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil. Das gibt mir Anlaß, auch einmal den Wohnungsbaugesellschaften, die sich um ihre Integration bemühen, herzlich zu danken. Das gleiche gilt auch für die übergroße Zahl der privaten Hausbesitzer.Um aber den wenigen anderen, die schlechte Wohnungen für gutes Geld an ausländische Arbeiter vermieten, besser auf die Finger klopfen zu können, möchte ich Sie, Herr Minister, bitten, eine gesetzliche Festlegung des sozialen Mindeststandards von Wohnungen vorzusehen, unterhalb dessen Wohnungen einfach nicht vermietet werden dürfen, nach Möglichkeit schon im Rahmen des Modernisierungsgesetzes.
Wir haben gewollt, daß die ausländischen Mitbürger zu uns kommen. Sie haben wesentlich dazu beigetragen, daß unser aller Lebensstandard gestiegen ist. Und hat es uns denn wirklich nur Sorgen gebracht, als wir entdeckten, daß wir Arbeitskräfte riefen und daß Menschen kamen? Hat uns das Mitdenken mit ihnen nicht auch reicher gemacht? Wir verdanken ihnen vieles. Wenn das nicht nur ein leeres Wort bleiben soll, dann gehört dazu, daß wir auch unter wirtschaftlich schwieriger gewordenen Verhältnisesn das Mögliche tun, für sie geordnete Wohnumstände zu schaffen. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion begrüßt es daher, daß Sie, Herr Minister, diesen Gesichtspunkt immer wieder entschieden herausstellen, wenn es um die Schwerpunkte künftiger Wohnungsbauförderung geht.Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Die in der Wohnungsversorgung benachteiligten Gruppen unserer Bevölkerung sind mit dersozialliberalen Bundesregierung ein Stück weitergekommen. Die SPD-Bundestagsfraktion wird dazu beitragen, daß sich das fortsetzt.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Mick.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Minister, Sie standen bei mir einmal auf dem Treppchen eines sachlichen Mannes. Sie sind heute von diesem Treppchen weggekommen. Ich hoffe, daß Sie bald wieder darauf zurückfinden. Ich kann mir das nur so erklären, daß Ihnen die Jahre im Bundeskanzleramt nicht gut bekommen sind.
Aber nun, meine Damen und Herren, zur Sache. Ich habe vor mir die letzte Nummer der Ausgabe „Gemeinnütziges Wohnungswesen". Ich möchte daraus zitieren; ich habe kein ausgearbeitetes Manuskript, Herr Präsident.Die Diskussion über den Wohnungsbau befindet sich immer noch in einem merkwürdig diffusen Zustand. Es wird von einem jährlichen Wohnungsbedarf von 450 000 Wohnungen gesprochen. Bei der Finanzierung und der Vermietung von Wohnungen sind „angemessen", „tragbar", „vertretbar" besondere Lieblingsvokabeln. Dies alles bei leeren Kassen der öffentlichen Hand, dies alles bei schlechten Rahmenbedingungen der Wohnungswirtschaft, bei einer von Wandlungskrisen geschüttelten Bauwirtschaft. Wer sich ohne politisches Scheuklappen um Orientierungspunkte in diesem Nebel bemüht, kann sie gerade jetzt finden. Es ist der Sachverstand der Wohnungswirtschaft, der Gesellschaft für Wohnungs- und Siedlungswesen, des Arbeitskreises Sozialer Wohnungsbau beim Bundesstädtebauministerium. Zur Abrundung mag auch die nach unserer Meinung enttäuschende Antwort der Bundesregierung auf eine Große wohnungspolitische Anfrage der Opposition heranzuziehen sein.
Das heißt für mich, die erste Frage zu stellen, Herr Minister: Warum machen Sie sich den vorhandenen Sachverstand, der zweifellos in sehr vielen Gremien zu Hause ist, nicht zu eigen, um endlich wieder zu einem allgemein verbindlichen Konzept in der Wohnungswirtschaft zu kommen? Dieses Konzept mag angreifbar sein, vielleicht wird es auch von uns angegriffen werden, aber man weiß doch, von wo es ausgeht und wohin es führt. Statt dessen verzetteln wir uns heute in tausend Einzelheiten, und niemand von uns weiß, wo die Reise hingeht.Nun wissen wir alle, daß es nicht einfach ist, zukünftige Entwicklungen zutreffend zu beurteilen. Aber mir scheint doch eine Feststellung hier lapidar zu treffen zu sein: Wir berauschen uns oft an schönen Gedanken und das, wie es die „Gemeinnützige Wohnungswirtschaft" formuliert, bei leeren öffent-Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung, Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975 11949Micklichen Kassen und bei mangelnden Finanzierungsmitteln. Meine Damen und Herren, wir könnten die wunderbarsten Dinge machen, wenn diese Kassen voll wären und vor allen Dingen wenn die, die es tun sollten, das notwendige Eigenkapital hätten, um entsprechendes zu tun. Die Zeiten, verehrter Herr Minister, wo etwa große Wohnungsunternehmen mit 4 % Eigenkapital ganze Städte aus dem Boden stampften, dürften endgültig vorbei sein.Nun muß ich Sie der ersten Unrichtigkeit zeihen. Es stimmt nicht, Herr Minister, daß wir Herrn Lauritzen angegriffen haben, daß er nicht genug Wohnungen gebaut hätte. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Ich habe in den Protokollen der Debatten nachgeblättert bzw. nachblättern lassen, die Sie anführen, als Leistungen gemeldet wurden: 1973 714 000 Wohnungen und 1974 604 000 Wohnungen. Zu diesem Zeitpunkt habe ich schon gewarnt und habe gesagt: Wem dienen diese Wohnungen? Wer soll diese Wohnungen beziehen? Diese Wohnungen werden doch nicht für diejenigen gebaut, die wirklich noch des Gutes Wohnung entbehren, sondern sie werden aus ganz anderen Gründen gebaut. Ich habe ferner gesagt: „Herr Minister, wir sind bereit, mit Ihnen eine Durststrecke zu gehen, auch bei einer verminderten Wohnungsbauleistung, wenn Sie uns aufzuzeigen vermögen, daß diese verminderte Wohnungsbauleistung die Stellen des Marktes trifft, wo diese Wohnungen benötigt werden." Man ist auf dieses Angebot nicht eingegangen. Die Talfahrt, verehrter Herr Minister, die wir angetreten haben, ist doch gerade und fast ausschließlich von daher zu beklagen, daß man — ich bitte, mir jetzt ein etwas abgegriffenes Wort nachzusehen — nicht rechtzeitig von der Kriegswirtschaft, nämlich von der akutesten Wohnungsnot, auf Friedenswirtschaft umgeschaltet, hier also nicht einen kontinuierlichen Übergang geschaffen hat.Meine Damen und Herren, machen wir uns doch nichts vor; die Bundesregierung konnte das auch gar nicht. Damals war von Konjunkturpolitik, damals war von Stabilitätspolitik noch in gar keiner Weise die Rede; denn die Maßnahmen der Bundesbank kamen zum Teil später. Man durfte doch damals noch nicht zugeben, daß in unserer Wirtschaftspolitik etwas nicht mehr lief. Man hat doch damals noch etwas verteidigt, was einfach nicht mehr zu verteidigen war. Das sollten wir in aller Deutlichkeit sehen und nicht um Tatbestände herumreden, die gegeben waren.Insofern wehre ich mich dagegen, wenn man sagt, die Wohnungshalden seien generell Fehlspekulationen — die gibt es auch — oder sie seien am Bedarf vorbei gebaut. Dieser Meinung bin ich nicht. Volle Schaufenster garantieren nicht dafür, daß nicht noch großer Hunger herrscht, und vorhandene Wohnungen, die leerstehen, sind kein Beweis dafür, daß nicht noch Wohnungen benötigt werden. Es kommt nur auf die Bedingungen an, unter denen sie zur Verfügung gestellt werden können.
Nun, Herr Minister, zeihe ich Sie einer weiteren Unsachlichkeit. Ich kann mir nur vorstellen, daß Sie sie aus politischen, aus parteipolitischen Gründen bewußt vorgetragen haben, indem Sie hier erklärten, wir wollten die Verluste sozialisieren und die Gewinne privatisieren. Wir sind doch nicht der Meinung, daß man Wohnungshalden in Sozialwohnungen umwandeln sollte, um den Erbauern, den Bauherren, ein nachträgliches risikoloses Geschäft zu ermöglichen. Wenn wir von „Umwandlung" sprechen, dann sprechen wir uns natürlich dafür aus, diese Wohnungen zu Bedingungen umzuwandeln, die der soziale Wohnungsbau an jede neu angefangene Wohnung stellt. Das ist unser Ziel, das ist unser Petitum, und diese Frage sollte man untersuchen, ehe man mit beiden Händen abwehrt.
Man kann niemanden überzeugen, daß er einen Gedanken äußert, der falsch ist, wenn man nicht den Versuch macht, auch den Nachweis zu führen, daß dieser Gedanke falsch ist. Herr Minister, Sie stehen dauernd mit erhobenen Händen da und wehren ab, wehren sich aber nicht einmal dagegen, daß Landesregierungen es einfach ablehnen, einem Wunsch des Parlaments nachzukommen und bestimmte Feststellungen zu treffen.Für mich ist es ganz klar, daß man, wenn man in der Politik, auch in der Wohnungspolitik, einen richtigen Weg sucht, wahrscheinlich auch manche Versuche anstellt, die eben nicht standhalten. Dann müssen sie eben fallengelassen und nach neuen Wegen gesucht werden. Ich vermisse das hier. Ich sehr nur immer auf breiter Front Rechthaberei, aber kein Eingehen auf Gedanken anderer, um zu untersuchen: Was ist daran, was kann man in diesen Fällen tun?Für mich ist es geradezu ein Treppenwitz, was z. B. der Kronberater der SPD in Miet- und Mietpreissachen, Herr Assessor Schlich, in der letzten Ausgabe der „Mieterzeitung" über Herrn Friderichs schreibt, nachdem dieser festgestellt hat, daß man, wenn man weiter Wohnungen finanzieren will, dies auch wirtschaftlich sicherstellen und Anreize dafür schaffen muß. Herr Schlich hat nämlich Herrn Friderichs, den ich von der Form her immer als den „sanften Friedrich" werte, nun zu einem „bösen Friedrich" gestempelt und dem Wirtschaftsminister gesagt: Schuster, bleib bei deinen Leisten! — Verehrter Herr Minister, wie mag das dann bei Ihnen im Kabinett gehen, wenn sich der Wirtschaftsminister nicht zu dem Appendix Wohnungsbau äußert? Denn in Wahrheit ist der Wohnungsbau, soweit es die wirtschaftliche Komponente angeht, doch ein Appendix der Wirtschaft. Allerdings haben wir uns — ich glaube, ich darf unterstellen, daß das unser gemeinsames Verdienst ist — immer dagegen gewandt, den Wohnungsbau unter rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu sehen.Sie sprachen, Herr Minister, von aufstrebenden Beschäftigungszahlen. Hier haben Sie, glaube ich, wieder danebengegriffen, oder Sie müßten mir nachweisen, wer nun recht hat, Sie oder der Hauptverband der deutschen Bauindustrie. Ich habe den
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Mick„Baukonjunkturspiegel" vom 6. dieses Monats vorliegen, also von einem Zeitpunkt nach den Wahlen in Nordrhein-Westfalen. Da ist nicht schwarzgemalt worden, um noch ein bißchen Stimmung für die Wahlen zu machen. Da heißt es:Die Auftragsbestände sind extrem niedrig, 2,2 Monate durchschnittliche Reichweite haben die vorhandenen Aufträge.Weiter heißt es:Die Zahl der arbeitslosen Bauarbeiter ging vonEnde Februar auf Ende März um rund 30 000Personen, d. h. von 216 000 auf 184 000, zurück.Aber das ist zu diesem Zeitpunkt eine völlig ungenügende Zahl, wenn ich unterstelle, daß in den Rezessionsjahren 1967 und 1968 der Rückgang 27 bzw. 36 % betragen hat, im langjährigen Durchschnitt sogar 43 %. Das sind keine Zahlen wegen der ich Sie unter Anklage stelle. Ich stelle Sie und Ihre Politik unter Anklage, daß Sie nicht kontinuierlich den Weg von der notwendigen Höchstleistung in der Bauwirtschaft zu einer allmählich abfallenden, geringeren Leistung oder aber zu einem Umdirigieren dieser Leistung gefunden haben. Konkret drückt sich das z. B. darin aus, daß das schon vor Jahren angekündigte Modernisierungsgesetz immer noch nicht auf dem Tisch des Hauses liegt und daß sich hier wiederum Entwicklungen völlig am Parlament vorbei vollziehen.Ich will nicht untersuchen, wieviel Mietwohnungen nun bei uns auf Halde liegen. Das scheint mir ein Streit um Worte zu sein. Aber ich warne auch vor Schlagworten, an denen man sich immer mehr zu berauschen scheint und die zu Fehlentwicklungen nicht nur führen, sondern auch dazu geführt haben. Ich denke z. B. an das Schlagwort „Zersiedlung der Landschaft". Das war die große Kampagne gegen den Eigenheimbau. Ihm wurde die „Verdichtung" als der letzte Schrei entgegengestellt. Dann das Schlagwort „städtebauliche Dominante" ! Meine Damen und Herren, den Erfolg können wir heute in unseren Städten überall sehen. Wir möchten, daß ein Großteil davon bald wieder verschwindet. Aber leider wird das ein frommer Wunsch bleiben.Ich möchte auch nicht, meine Damen und Herren, daß wir uns heute durch eine Sympathiewerbung über wohnungspolitische Notwendigkeiten hinwegtrösten. Zu einer solchen Werbung kommen die Städte zunehmend — ich erinnere an: „Stadt mit Herz", „die menschliche Stadt" usw. —, um die Menschen darüber hinwegzutäuschen, daß man nichts mehr menschlicher machen kann. Dabei hofft man, daß es, wenn man viel davon redet, von selbst besser wird.Nun, wenn ich mir die Beantwortung unserer Großen Anfrage ansehe, so ist für mich nur ein Punkt von größtem Interesse, nämlich daß unsere Große Anfrage im Grunde nichts Neues gebracht habe. Das ist ja auch ganz klar, Herr Minister: Wenn immer dieselben Probleme vorhanden sind, kann man auch immer nur dieselben Fragen stellen und darauf hoffen, daß auf diese Fragen endlich einmal befriedigende Antworten gegeben werden.Ich stelle fest, diese befriedigenden Antworten sind auch heute nicht gegeben worden. Ich bin gespannt, wann das der Fall sein wird. Sie werden erwarten müssen, Herr Minister, daß wir Sie unter Druck halten werden, um diese Antworten zu bekommen, und zwar nicht um der bloßen Kritik willen — davon war bei uns nie die Rede; wir haben immer konstruktiv gearbeitet; das unterstelle ich auch Ihnen, als Sie noch in der Opposition waren —, sondern weil es jetzt an der Zeit ist, daß man ein Bild von einer normalen Wohnungswirtschaft bekommt, daß wir uns von den Kategorien, unter deren Eindruck wir zugegebenerweise alle noch stehen — besonders die, die länger in diesem Geschäft tätig sind —, freimachen, daß wir hier jetzt zu Betrachtungen kommen, die real sind und trotzdem die große gesellschafts- und sozialpolitische Aufgabe der Wohnungswirtschaft nicht aus den Augen lassen.Wir sind uns — ich sagte das schon — über die Fragen des Kapitalbedarfs im klaren. Nun ist es meiner Meinung nach nicht angebracht, dann, wenn jemand einen Vorschlag macht, sofort zu sagen: Das nutzt nichts, wobei mir ganz klar ist, daß eine einzelne Maßnahme hier nicht hilft. Vielmehr müssen wir, wie wir das im Wohnungsbau immer getan haben, ein ganzes Bündel von Maßnahmen ansetzen, um jeweiligen Notsituationen gerecht zu werden. Dabei ist zu berücksichtigen, daß das, was früher gut war, heute nicht mehr gut zu sein braucht. Ich darf in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß wir dann, wenn der Kapitalmarkt flott war und etwas hergab, Mittel eingesetzt haben, mit denen wir dann, wenn der Kapitalmarkt nicht so flott war, sofort gescheitert wären, daß wir dann aber andere Mittel einzusetzen in der Lage waren.Ich will hier keine großen Worte über das machen, was hundertmal gesagt worden ist: daß wir nun, vom Neubau zur Sanierung und zur Modernisierung usw. kommen. Das ist alles richtig. Die Frage ist nur: Woher nehmen wir das Geld? Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, wir sind uns doch alle darüber im klaren, daß das auch ein Problem des Abbaus der Wohnungshalden ist. Ich kann mir nicht vorstellen, daß wir, solange wir Wohnungshalden von einem derartigen Umfang haben, privates Kapital ermutigen, in die Finanzierung weiterer Neubauten oder die Modernisierung bzw. Sanierung von Altbauten einzutreten. Vielmehr muß doch erst wieder Bedarf sichtbar werden, der klarmacht: So gut, wie diese Halden weggegangen sind, so gut wird auch das wieder weggehen, was ich im Augenblick neu erstelle.Ich habe den Eindruck, daß wir bei dieser Zukunftsaufgabe, die uns gestellt ist, verstärkt gestellt ist, vielleicht schon wieder etwas auf dem falschen Dampfer sitzen oder zu einseitig agieren. Ich bin mir darüber im klaren, daß ich dann, wenn ich in einer Großstadt modernisiere, saniere, nach Möglichkeit eine Zone einrichte. Aber ich habe Sorge, daß wir dann nur noch in Zonen denken, daß dann z. B. in ländlichen Räumen oder in Kleinstädten zu wenig passiert, weil da nur einzelne Objekte zu sanieren sind, die aber aus wirtschaftspolitischen
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MickGründen für den einzelnen kleinen Bauunternehmer, aber auch für den, der seine Wohnung instand setzen will, immerhin von größtem Interesse sind.Die Gefahr, verehrter Herr Minister, besteht doch auch darin: Ein Sachbearbeiter gäbe am liebsten die gesamten Mittel an einen Bewerber, denn dann hat er nur einmal Arbeit; dieselben Mittel an 100 Bewerber zu geben, erfordert hundertmal soviel Arbeit. Das sind doch Erfahrungen, die wir im Laufe der Jahre gemacht haben. Einer solchen Tendenz müssen wir entgegenwirken.Es ist ferner zu berücksichtigen, daß ein einzelnes Objekt in einer an sich noch halbwegs gesunden Umgebung die ganze Umgebung sehr schnell krank zu machen in der Lage ist. Auch das sollten wir von vornherein mit in unsere Überlegungen einbeziehen.Herr Minister, ich war über Ihre Antwort überrascht, als Sie auf unsere Frage nach dem Wohnungsbedarf der Gastarbeiter erwiderten, daß wir die Gastarbeiter in Altbauwohnungen stecken sollten, weil Neubauwohnungen in der Regel für diese Gastarbeiter zu teuer seien. Verehrter Herr Minister, ein Gastarbeiter bekommt genau denselben Tariflohn wie ein deutscher Arbeiter in vergleichbarer Stellung.Ich war jüngst mit unserer Fraktion im Kölner Severinsviertel, in einem der ältesten und urwüchsigsten Kölner Viertel. Ich mußte feststellen, daß dort in einzelnen Straßenzügen 30 % Gastarbeiter wohnen. Wenn ich durch Berlin-Kreuzberg komme und den Eindruck habe, als wäre ich in Ankara, dann ist das doch wohl kein Zustand. Diesen Zustand wünschen wir nicht etwa deswegen nicht, weil wir etwas gegen Gastarbeiter haben, sondern deshalb, weil wir sie integrieren wollen, weil wir keine neuen Ghettos schaffen wollen mit all den Folgen, die wir allesamt zur Genüge kennen.
Meine Damen und Herren, es ist leider unser Schicksal, daß wir mit unseren Debatten immer so an den Rand des Plenums gedrückt werden. Wir waren übereingekommen, z. B. bei der Haushaltsplanberatung auf eine spezielle Debatte zu verzichten, weil wir sagten: Die Große Anfrage steht an, da haben wir ausreichend Gelegenheit zu diskutieren. Ich glaube — jetzt möchte ich interfraktionell sprechen —, daß wir uns sehr wohl zu überlegen haben werden, ob wir in Zukunft so freigiebig auf die Möglichkeiten, unsere Probleme auch in diesem Plenum darzustellen, verzichten sollten, wie wir das getan haben.
Ich habe nämlich nicht den Eindruck, als ob man sich bei anderen natürlich auch wichtigen Problemen derselben Mäßigung befleißige, wie wir das in unserem Ausschuß getan haben.
Aus diesem Grunde bin ich mir darüber im klaren, daß diese Aussprache sehr viele Fragen offenläßt, daß vieles nur holzschnittartig, nur grob aufgezeigt werden kann und daß es vielleicht auch Grund zu neuen Mißverständnissen gibt.Wir haben, meine Damen und Herren, hier einen Entschließungsantrag eingebracht. Da Sie ihn alle gelesen haben, will ich ihn gar nicht näher begründen; es sind fast alles gute alte Bekannte, die uns von diesem Entschließungsantrag entgegensehen. Daß ich beantrage, daß das Plenum diesen Entschließungsantrag annehmen möge, ist klar; das ist meine Aufgabe. Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, der Meinung sein sollten, daß man diesen Antrag an den Ausschuß überweisen soll, dann darf ich um Überweisung nicht nur an den Wohnungsbauausschuß, sondern auch an den Finanzausschuß und den Wirtschaftsausschuß bitten, denn mir scheint eine Behandlung von Wohnungsbaufragen in diesen Gremien nicht unbedingt überflüssig zu sein.Verehrter Herr Minister, Sie haben mir in einer Replik einen guten Morgen gewünscht. Ich bedanke mich dafür herzlich. Ich wünschte Ihnen auch gern einen guten Morgen, aber bei dem jetzigen Stand der Dinge kann ich nur sagen: gute Nacht, Herr Minister. Sie werden noch nicht einmal sagen können: Nacht muß sein, wenn Ravens Sterne leuchten; denn zwischen den Sternen bei Nacht und der Sonne am Tage liegen sehr viele Wolken. Die Opposition bietet Ihnen ihre Mitarbeit an, um diese Wolken zu zerstreuen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schwedler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich erst einige Bemerkungen zu dem Entschließungsantrag der CDU/CSU-Fraktion auf Drucksache 7/3631 machen. Nachdem Sie, Herr Mick, diesen Antrag nicht einmal begründet haben, fand ich Ihren formalen Antrag, ihn heute hier schon im Plenum zu verabschieden, doch etwas weitgehend. Ich nehme daher für meine Fraktion Ihre Anregung auf, einen Antrag auf Überweisung zu stellen, und wir sind damit einverstanden, daß der Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau nach unserem Vorschlag federführend wird und sich die Ausschüsse für Wirtschaft und für Finanzen mitberatend beteiligen. Sicherlich werden wir dann nach dieser Ihrer Anregung und meinem Antrag in Ziffer 3 den Termin „30. Juni 1975" in „30. Juni 1976" abändern müssen, aber darüber werden wir uns unterhalten; Sie werden dann sicher auch in den Ausschüssen sagen, wie Sie sich eine Finanzierung der zusätzlichen Maßnahmen vorstellen, ohne daß der öffentlich geförderte Wohnungsbau in dem relativ bescheidenen Rahmen, in dem er jetzt schon läuft, geschmälert würde.Meine Damen und Herren, Bundesminister Ravens hat vorhin daran erinnert, daß sich bei der wohnungspolitischen Debatte in diesem Hause im Oktober 1970 alle Fraktionen darüber einig waren, daß der mittelfristige Wohnungsbedarf bei etwa 500 000 Wohnungen pro Jahr liegt. Diese Zahl legte die Bundesregierung dann auch ihrem langfristigen Wohnungsbauprogramm zugrunde. Die heutigen Schwierigkeiten der Wohnungswirtschaft gehen
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Schwedlerletztlich auf überzogene Erwartungen und Planungen zurück. Die Wohnungsbaugenehmigungen und -fertigstellungen gingen weit über die in den Vorausschätzungen des längerfristigen Bedarfs ermittelten Zahlen hinaus. Der von spekulativen Erwartungen genährte Boom hatte sich dabei auf den freifinanzierten Wohnungsbau konzentriert, so daß daneben auch der soziale Wohnungsbau unter den negativen Begleiterscheinungen dieses Booms zu leiden hatte. Die Wohnungsfertigstellungen der Jahre 1971 bis 1974 — mit der Rekordzahl von 714 000 Wohnungen im Jahre 1973 — zeigen, daß das Angebot in dieser Zeit der ursprünglich geschätzten Nachfrage um mehr als einen Jahresbedarf vorausgeeilt ist, und das zu überhöhten Kosten, die aus dem Kostenanstieg ab 1970 und der späteren Hochzinspolitik resultierten.Diese starken Bauleistungen hatten aber auf der anderen Seite das positive Ergebnis, daß die anomale Nachkriegssituation eines allgemeinen akuten Wohnungsmangels überwunden ist. In der Bundesrepublik kommt heute auf jeden Haushalt eine Wohnung; dem gegenwärtigen Bestand von mehr als 23 Millionen Wohnungen stehen weniger als 23 Millionen Haushalte gegenüber; statt fünf Personen im Jahre 1950 leben heute weniger als drei Personen in einer Wohnung; rund 40 % aller Haushalte haben ein Eigenheim oder eine Eigentumswohnung; die Wohnfläche pro Kopf stieg von 16,5 qm im Jahre 1956 auf 26 qm im Jahre 1972 — ein Erfolg des gerade in den letzten Jahren zu beobachtenden Größerwerdens der Wohnungen im freifinanzierten wie im sozialen Wohnungsbau, aber natürlich nicht nur der Wohnungen, sondern auch der Eigenheime.Trotzdem bleibt die Sorge für eine ausreichende gleichmäßige Wohnungsversorgung aller Schichten eine Daueraufgabe. Auch in Zukunft müssen gute Neubauwohnungen zu erträglichen Mieten erstellt werden, nicht nur um Ersatzwohnungen für nicht modernisierungsfähige und für im Rahmen der Stadtentwicklung wegfallende Wohnungen — das sind, wie wir wissen, jährlich etwa 200 000 — zu schaffen.Für die Familien, deren Versorgung uns wohnungspolitisch am meisten bedrängt, muß in erster Linie gesorgt werden. Meine Kollegin Frau Meermann hat das Problem der Wohnungen für kinderreiche Familien, für Alte, für sozial Benachteiligte, für Schwerbehinderte, auch für Gastarbeiter und ganz allgemein für Haushalte mit niedrigem Einkommen ausführlicher behandelt. Auf diese Aufgabe muß sich auch in Zukunft der soziale Wohnungsbau konzentrieren, gerade weil der finanzielle Spielraum in den öffentlichen Haushalten von Bund, Ländern und erst recht Gemeinden immer enger wird.Meine Damen und Herren, die Opposition fragt in den Punkten 1 bis 3 der Großen Anfrage konkret nach dem Bedarf im sozialen Wohnungsbau, erster und zweiter Förderungsweg, nach dem allgemeinen mittelfristigen Bedarf an Neubauwohnungen, nach der Zahl der notwendigen Ersatzwohnungen für Abbruchwohnungen, nach dem zusätzlichen Bedarf anWohnungen für Familienneugründungen usw. usw. So sehr ich die von Minister Ravens hier vorgetragene Gesamtbedarfszahl von jährlich mehr als 400 000 Wohnungen für realistisch halte, meine ich doch, daß es schwierig sein wird, gerade heute eine Übereinstimmung hinsichtlich des künftigen jährlichen — nicht langfristigen — Wohnungsbedarfs zu erzielen. Nachdem erreicht ist, daß wir mehr Wohnungen als Haushalte haben, ist nur der Bedarf an Ersatzwohnungen ein feststehender Faktor. Ich gehe immer vom Gesamtwohnungsbedarf aus und nicht nur von dem, was wir im sozialen Wohnungsbau leisten müssen und finanziell leisten können.Im übrigen stehen Angebot und Nachfrage in einem engen, in einem direkten Zusammenhang. Und die Nachfrage ist abhängig von der Bereitschaft privater Haushalte, so viel von ihrem Einkommen abzuzweigen, wie sie als Miete für die Wohnungsnutzung oder aber für die Finanzierung eines Eigenheims oder einer Eigentumswohnung aufzubringen hätten. Dabei wird sich erneut erweisen, daß insbesondere der Eigenheimbau einen relativ stabilen Sockel der Wohnungsbaunachfrage darstellt. Das hat sich im letzten Jahr besonders deutlich gezeigt. Während die Fertigstellungen von der Rekordzahl von 714 000 Wohnungen im Jahre 1973 im letzten Jahr auf 604 000 Wohnungen zurückgegangen ist, hat sich bei den Eigenheimen — ohne Eigentumswohnungen — das Volumen von 263 000 nur auf 230 000 Eigenheime im Jahre 1974 verringert.Minister Ravens hat auch auf den Anteil der Eigentumsmaßnahmen in der öffentlichen Wohnungsbauförderung hingewiesen, der, wie gesagt, im Jahre 1974 erstmals auf über 50 % angestiegen ist. Diese guten Tendenzen werden sich auch in diesem und in den kommenden Jahren fortsetzen.Zu den Wohnungshalden: Es trifft zu, daß diese Bestände an leerstehenden Neubauwohnungen häufig aus spekulativen Überlegungen entstanden und daß die Hoffnung auf ein weiterhin starkes Sachwertstreben bei zahlreichen wohnungswirtschaftlichen Unternehmen zu Belastungen der Liquiditäts-und Ertragslage geführt hat. Betroffen sind darüber hinaus vielfach auch Bauunternehmen und Kreditinstitute. Beide haben häufig nur zu bereitwillig die Expansion des freifinanzierten Wohnungsbaus mitgetragen.Die Bundesregierung hat im Rahmen des Regionalprogramms durch erhöhte Aufwendungsdarlehen meines Erachtens einen wichtigen Beitrag zur Lösung und Verringerung des Haldenproblems geleistet. Die Darlehen stehen allen Haushalten zur Verfügung, deren Einkommen die Einkommensgrenze des sozialen Wohnungsbaus um nicht mehr als 40 % übersteigen. Sie können bis zur Bezugsfertigkeit einer Wohnung beantragt werden. Darüber hinaus — Minister Ravens wies darauf schon hin — ermöglichen die im Dezember 1974 von uns und natürlich auch vom Bundesrat beschlossenen Steuererleichterungen im Rahmen des § 7 b des Einkommensteuergesetzes sowie des Grunderwerbsteuergesetzes sogenannte „Rettungskäufe". Sie tragen damit ebenfalls zum Haldenabbau bei.
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SchwedlerMeine Fraktion sieht jedoch in der gefordertenAusweitung des Höchstbetrages nach § 7 b des Einkommenssteuergesetzes kein geeignetes Mittel zum Haldenabbau, weil sie in vielen Fällen die Abwälzung von überhöhten Baukosten und auch Zinskosten auf den Erwerber begünstigt. Aufgabe des Staates kann es nicht sein, spekulative Übersteigerungen mit Steuererleichterungen zu honorieren.Ich meine vielmehr, daß die Bauherren leerstehende Neubauwohnungen zu einem der augenblicklichen Marktlage entsprechenden Preis veräußern sollten. Dabei entspricht es durchaus marktwirtschaftlichen Prinzipien, wenn der Bauherr seinen Angebotspreis senken muß. Wie Minister Ravens schon sagte: Wer in guten Zeiten Gewinne machen will, muß auch darauf gefaßt sein, in schwierigen Zeiten das Risiko zu tragen.Auch die häufig geforderte Umwandlung in Sozialwohnungen bietet in der Regel keine Lösung. Viele leerstehende Neubauwohnungen entsprechen in Qualität, Ausstattung, Grundrißgestaltung, Standort und Kostenmietniveau nicht den Anforderungen des sozialen Wohnungsbaus. Aber selbst wenn diese Voraussetzungen gegeben sind: Vielfach sind die Eigentümer nicht bereit, die Bindungen des sozialen Wohnungsbaus auf sich zu nehmen, weil sie die zukünftige Entwicklung, solange sie noch stillhalten können, optimistisch einschätzen. Ich glaube, auch der Kollege Wurbs hat schon gesagt, daß sich der Vorsitzende der IG Bau, Steine, Erden, Rudolf Sperner, nachdrücklich gegen eine Subventionierung ausden zur Verfügung stehenden öffentlichen Mitteln gewandt hat, Herr Dr. Schneider. Er hat gesagt: Wenn Subventionen, dann zusätzliche. Er hat leider — wie auch die Opposition — nicht gesagt, wo diese Mittel herkommen sollen. Ich meine, es wird Sache der Länder und Gemeinden sein, im Einzelfall zu prüfen — das ist auch schon geschehen , ob es Wohnungen gibt, die vom Standard her den Anforderungen des sozialen Wohnungsbaus entsprechen und deren Umfinanzierung weniger oder zumindest nicht mehr Mittel erfordert als die öffentliche Förderung eines Neubauprojektes. Ins Gewicht fällt dabei — das muß immer wieder betont werden — die Begrenztheit der öffentlichen Mittel von Bund, Ländern und Gemeinden. Die zur Verfügung stehenden öffentlichen Mittel werden durch die von Bundesminister Ravens erwähnte und von uns allen geforderte Verbesserung des Wohngeldgesetzes und durch die infolge der zu hohen Degression der Aufwandsbeihilfen der Wohnungsbaujahrgänge seit 1970 notwendige Nachfinanzierung stark reduziert. Ich möchte dabei daran erinnern, daß einige Länder — z. B. Nordrhein-Westfalen — bereits Härteregelungen getroffen haben, um die unerträglich gestiegenen Mieten im sozialen Wohnungsbau durch Nachfinanzierung auf ein erträgliches Maß zu senken.Ich will nicht behaupten, meine Damen und Herren, daß diese Wohnungshalden ihrer Finanzierung und Massierung nach eine sozialpolitisch erwünschte Leerraumreserve darstellen, die die Wohnungswirtschaftler und auch wir seit vielen Jahren in einer Größenordnung von etwa 3 % des Wohnungsbestandes als erstrebenswert bezeichnen. Auf die Relation der heutigen Situation möchte ich in diesem Zusammenhang aber doch aufmerksam machen. Die leerstehenden Wohnungen, die die Wohnungshalden bilden, machen etwa 1 % unseres Wohnungsbestandes aus.Dabei fällt mir übrigens ein, daß der hier heute zitierte und von mir menschlich sehr geschätzte Herr Lücke als Bundesbauminister den Standpunkt vertrat, daß bei einem Fehl von 3 % und bei nur teilweiser, nämlich 50- bzw. 60 %iger Anrechnung der Einpersonenhaushalte in Großstädten mit über 100 000 Einwohnern der Wohnungsmarkt als ausgeglichen anzusehen sei. Er hat diesen seinen Standpunkt 1960 dann auch gegen die Stimmen der Sozialdemokraten zum Gesetz — dem sogenannten Abbaugesetz — erheben können. In diesem Zusammenhang möchte ich nur sagen, daß das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung vor wenigen Tagen ein neues Gutachten für Wohnungsbedarf in Berlin aufgestellt hat. Dort wird von einer wünschenswerten 5 %igen Leerraumreserve ausgegangen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Mick?
Ja, natürlich!
Herr Kollege Schwedler, sind Sie wirklich der Meinung, daß wir dieses eine Prozent Wohnungshalden in die Argumentation einführen sollten? Oder könnten Sie nicht mit mir der Meinung sein, wenn dieses eine Prozent da liegt, wo auch heute noch Brennpunkte der Wohnungsnot sind, daß es dann sehr wohl schwer wiegt?
Herr Kollege Mick, ich habe nichts anderes sagen wollen. Ich habe ausdrücklich gesagt: ich will nicht behaupten, daß diese Wohnungshalden eine erwünschte Leerraumreserve darstellen, wie sie sonst von den Wohnungswirtschaftlern gefordert wird. Aber ich habe in dem Zusammenhang auf die Relation hingewiesen. Davor habe ich ja auch davon gesprochen, welche Möglichkeiten wir und die Länder im Augenblick haben, um hier hilfreich zu sein, und welche Voraussetzungen — ich will das nicht alles wiederholen — gegeben sein müssen. Wir sind uns einig, daß wir nicht argumentieren sollten: dies ist eine erwünschte Wohnraumreserve. Das ist völlig klar.
Denn wenn das eine erwünschte Wohnraumreserve wäre, würden — da Nachfrage da ist, aber nur zu vernünftigen Kosten — die Länder und Gemeinden sicherlich in mehreren Fällen einen vernünftigen Weg der Umfinanzierung finden.Gestatten Sie mir einige Bemerkungen zur bauwirtschaftlichen Situation. Bundesminister Ravens hat bereits die umfangreichen Stützungsmaßnahmen der Bundesregierung, die die Zustimmung von Bundestag und Bundesrat gefunden haben, im Jahre
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Schwedler1974 in Erinnerung gerufen. Auf jeden Fall ist es gelungen, durch diese Maßnahmen die konjunkturelle Talfahrt der Bauwirtschaft abzubremsen. Dafür sprechen auch die auf dem Arbeitsmarkt sichtbar werdenden Stabilisierungstendenzen. Wie Minister Ravens schon sagte, hat die Zahl der arbeitslosen Bauarbeiter auch im April erneut abgenommen; die Zahl der offenen Stellen für Bauarbeiter hat im April zugenommen. Die Bundesanstalt für Arbeit interpretiert diese Zahlen in ihrem Aprilbericht so: „Die Entwicklung bei den Bauberufen wurde durch die jahreszeitlich bedingten Auftriebskräfte bestimmt. Darüber hinaus dürften auch die leichten konjunkturellen Stabilitätstendenzen angehalten haben."Auch bei den Auftragsbeständen der Bauwirtschaft — auch ich habe den Konjunkturspiegel hier, Herr Kollege Mick — ist es nicht zu einer weiteren Abnahme gekommen. Der IFO-Konjunkturtest, auf den sich auch der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie beruft, zeigt deutlich, daß sich die Geschäftserwartungen für die kommenden sechs Monate merklich gebessert haben. Bund und Länder haben ihre Bauinvestitionen überwiegend auf dieses Frühjahr vorgezogen. Die Auftragsbestände im Bauhauptgewerbe — außer im Wohnungsbau — sind auf über zwei Monate angewachsen, im öffentlichen Hochbau liegen sie wesentlich darüber. Selbst im Wohnungsbau ist der Auftragsbestand Anfang dieses Jahres Januar/Februar gleichbleibend — auf 1,8 Monate angewachsen.Bei den Großunternehmen der Bauindustrie — ich halte das für einen interessanten und wichtigen Aspekt — hat sich die Umsatzstruktur durch den gestiegenen Anteil der Auslandsumsätze 1974 erheblich verändert und vergrößert. Nach den Angaben des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie kann davon ausgegangen werden, daß die Auftragssumme in 1974 über 4,5 Milliarden beträgt. 1973 lag sie bei rund 1,5 Milliarden DM. Dabei hat sich der Auslandsbau bisher auf eine kleine Zahl auslandserfahrener Unternehmer konzentriert. Aber die Anstrengungen zahlreicher mittelständischer Bauunternehmen, die ebenfalls versuchen, vor allem in den Ölländern Fuß zu fassen, werden in diesem Jahr zu einer weiteren Ausweitung und so auch zu ihrem Teil zu der Verbesserung der Situation der Bauwirtschaft beitragen.Auch auf dem Kapitalmarkt gibt es günstige Anzeichen, wenn sie auch noch nicht ausreichend sind. Die Hypothekenzusagen sind gestiegen. Die Sparkassenhypotheken lagen im Dezember 1974 gegenüber dem Vorjahresmonat um 160 % höher. Sicherlich gibt es in Einzelfällen zum Teil noch beachtliche Schwierigkeiten zu überwinden. Die Auswirkungen der Investitionszuschüsse und der Investitionszulagen werden sich erst in den kommenden Monaten in voller Breite zeigen. Dabei ist an die potentiellen Auftraggeber zu appellieren: bis zum 30. Juni 1975 muß mit dem Bau begonnen werden, um in den Genuß dieser siebeneinhalbprozentigen Zulage zu kommen.Positive Tendenzen ergeben sich auch aus einer fallenden Tendenz der Hypothekenzinsen, wenngleich ich auch meine, daß hier eine Beschleunigung entsprechend den vorgenommenen Diskontsenkungen der Bundesbank möglich sein sollte. Dabei erinnere ich daran, daß 1 % Zinssenkung bei der heute noch üblichen Finanzierung einer Mietsenkung von 1 DM bis 1,40 DM je Quadratmeter und Monat entspricht oder aber einer Baukostensenkung von etwa 8 bis 10 %.Meine Damen und Herren, Bundesregierung und Bundesbank haben deutliche Zeichen gesetzt, sie haben ihre Verantwortung wahrgenommen, Preisstabilität wiedergewonnen und die Grundlage für den wirtschaftlichen Aufschwung geschaffen. Mehr kann und darf der Staat in unserem Wirtschaftssystem nicht tun. Ich halte es für unangebracht, bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten eine stärkere staatliche Einflußnahme zu fordern, die man dann bei günstigerer Situation schnell wieder eindämmen möchte. Wir, die sozialliberale Koalition, nehmen die marktwirtschaftliche Ordnung zu ernst, um sie je nach Zweckmäßigkeit des Augenblicks zu korrigieren.
Meine Damen und Herren, wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Abgeordnete Böger.
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen! Meine Herren! Zuvor nur die Bemerkung, daß auch wir mit der Verweisung des Antrages auf Drucksache 7/3631 an die Ausschüsse einverstanden sind. — Meine Aufgabe ist es, zu einigen Punkten der Anfrage zur Wohnungspolitik deutlich zu machen, welche Auffassungen über Ziele und Aufgaben der Wohnungspolitik bei den Freien Demokraten bestehen.Vor jeder politischen Zielsetzung und neuen Aufgabenstellung muß die Bestandsaufnahme, die sachliche Analyse stehen. Das gilt auch für die Wohnungspolitik, und zwar sowohl im Bund wie in den Ländern. Die Wohnungswirtschaft und damit die weitere Wohnungspolitik — das haben alle Redner deutlich zum Ausdruck gebracht — haben mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen. Wir brauchen uns nur die leerstehenden unverkäuflichen Wohnungshalden anzusehen, die Baukostenentwicklung zu prüfen, die Spannungen im Bereich der Kapitalbeschaffung und in der Zinsentwicklung zu beobachten und die auf mittlere Sicht nur schwer abzusehende gesamtwirtschaftliche Entwicklung — Wachstum, Preis, Einkommensniveau — in die Überlegungen einzubeziehen.Hier zeigen sich konjunkturbedingte und strukturmäßige Verflechtungen und die Notwendigkeit von Anpassungsprozessen, mit denen die Wohnungspolitik fertig werden muß. Es ist festzustellen, daß frühere unter anderen Bedingungen angestellte langfristige Überlegungen und Programme für eine Wohnungspolitik auf Grund der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, auf Grund unerfüllter Bedarfserwartungen im privaten Bereich und wegen Veränderungen im Nachfrageverhalten, um nur einiges zu nennen, revidiert werden müssen. Nach dem ziemlich
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Dr. Bögerjähen Ende des ungestümen und in diesem Ausmaß ungesunden Baubooms und nach dem starken Rückgang der teilweise geradezu hektischen Nachfrage nach Wohnungseigentum als Vermögensanlage auf Grund der Geldentwertung stellen wir jetzt starke strukturelle Veränderungen fest, die die künftige Entwicklung des gesamten Wohnungsmarktes beeinflussen werden.Die Wohnungspolitik ist zur Zeit in einer Situation, aus der heraus sie fast nur kurz- oder allenfalls mittelfristig agieren, zum Teil sogar leider nur reagieren kann. Langfristig und global planen und agieren zu können wäre selbstverständlich wünsehenswerter; aber wir müssen mit den derzeitigen Widrigkeiten möglichst rasch fertig werden, und dazu gehört Flexibilität.Wir haben schon früher wiederholt betont, daß das Ausmaß der Wohnungsbautätigkeit von der Vielzahl der Einzelentscheidungen privater Bauherren bestimmt wird und — das ist unser Wille —auch weiterhin bestimmt werden soll. Das Streben nach Wohnungseigentum begrüßen wir, und die steigenden Wohnansprüche beweisen, daß es sehr vielen in unserem Staate wirtschaftlich gut geht. Dabei verkennen wir nicht die Notwendigkeit des Zusammenwirkens von privatem Wohnungsbau nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen, auf denen der größere Teil des Wohnungsbaues beruht, und der gesellschaftspolitisch erforderlichen Versorgung bestimmter Personengruppen, die benachteiligt sind und um die der Staat sich zu kümmern verpflichtet ist.Nach meinem Dafürhalten ist es wenig sinnvoll, darüber zu diskutieren, wie hoch die Zahl der leerstehenden oder sogenannten steckengebliebenen Wohnungen auf dem Markt nun eigentlich ist. Die Zahl ist hoch, und kein vernünftiger Politiker wird sich den daraus resultierenden volkswirtschaftlichen Gefahren verschließen: sei es, daß Kapital brachliegt, daß Zinsverluste eintreten oder Bauherren, Unternehmen und Kreditinstitute in Schwierigkeiten geraten.Die FDP befürwortet nachdrücklich alle Bestrebungen, die darauf hinauslaufen, möglichst bald zu genauen Bestandsaufnahmen des Wohnungsbauvolumens und zu gesicherten Wohnbedarfsanalysen zu gelangen. Die Intensität entsprechender Ermittlungen und Erhebungen sowie die Qualität der bereits vorhandenen Angaben sind in den einzelnen Bundesländern, Landkreisen und Städten noch recht unterschiedlich und müssen deshalb einheitlich verbessert werden. Wir begrüßen in diesem Zusammenhang die Bemühungen des Bundesbauministers, der regionalen Wohnungsmarktforschung stärkere Impulse zu geben. Mit der Opposition sind wir der Meinung, daß in künftigen Prognosen auch der zu schätzende Bedarf solcher Neubauwohnungen aufgenommen werden soll, die durch Abbruch oder Überalterung bisheriger Wohnungen oder durch Familienneugründungen erforderlich werden.Über die Notwendigkeit einer Konzentration der unmittelbaren wohnungspolitischen Förderungsmaßnahmen auf die Wohnbedürfnisse bestimmter benachteiligter Personengruppen — ältere Menschen,kinderreiche Familien, alleinstehende Personen mit Kindern, junge Ehepaare, Behinderte, um nur einiges zu nennen — gibt es unseres Wissens weder zwischen Bund und Ländern noch zwischen den hier im Bundestag vertretenen Parteien größere Meinungsverschiedenheiten.Zurück zu den Wohnungshalden. Sie sind vorhanden, und sie machen Sorge. Daß der Staat diese Wohnungshalden abbaut, wäre zwar die einfachste, aber nach unserer Auffassung nicht die richtige Methode. Wir jedenfalls bemühen uns, die Marktwirtschaft auch in Krisenzeiten beizubehalten.Zur Frage nach der Möglichkeit einer nachträglichen Umwandlung leerstehender Neubauwohnungen in Mietwohnungen des öffentlich geförderten sozialen Wohnungsbaues sind wir der Auffassung: Die meisten Eigentümer leerstehender Neubauwohnungen werden in der Erwartung, daß sich nach einiger Zeit die Nachfrage wieder belebt, gar nicht bereit sein, die Bindungen des sozialen Wohnungsbaues auf sich zu nehmen. Auch bei einer nachträglichen Förderung leerstehender Neubauwohnungen müßten die Wohnungen in Qualität, Ausstattung, Grundrißgestaltung, Standort und Mietniveau den Anforderungen des sozialen Wohnungsbaues entsprechen. Ob und wieweit in einzelnen Fällen eine nachträgliche Förderung in Betracht gezogen werden kann, muß unseres Erachtens aus der näheren Kenntnis der örtlichen Gegebenheiten von den Ländern und ihren Behörden entschieden werden. Dies ergibt sich schon aus der grundgesetzlichen Aufgabenteilung zwischen Bund und Ländern bei der Wohnungsbauförderung, wonach die Durchführung des öffentlich geförderten sozialen Wohnungsbaus und damit auch seine Finanzierung den Ländern obliegt.Zur Frage der CDU/CSU nach der Möglichkeit, den Verkauf von leerstehenden Eigentumswohnungen, die nicht für eine Umwidmung in den sozialen Wohnungsbau in Betracht kommen, durch steuerliche Maßnahmen zugunsten von solchen Personen zu fördern, die im sogenannten Regionalprogramm wohnungsberechtigt und zum Eigentumserwerb bereit sind, aber infolge der zu hohen Kaufpreise nicht dazu in der Lage sind: Eine solche Möglichkeit beurteilen wir - nun, sagen wir einmal — sehr zurückhaltend. Eine Erhöhung der nach § 7 b Einkommensteuergesetz abschreibungsfähigen Herstellungskosten für ein Einfamilienhaus von 150 000 DM auf 200 000 DM und eine entsprechende Erhöhung für Zweifamilienhäuser und Eigentumswohnungen bietet einen Anreiz, überzogene Preisvorstellungen in den Kaufpreisen zu verwirklichen. Es besteht die Gefahr, daß die Erwerber die Mehrkosten — Zinsen — tragen müssen, die durch eine längere Unverkäuflichkeit entstanden sind. Dieses Risiko soll aber nach unserer Auffassung der Bauherr tragen.Eine Erhöhung der Abschreibungssätze und eine Erweiterung der steuerlichen Abschreibungsfähigkeit der Schuldzinsen dergestalt, daß diese Zinsen, soweit sie den Nutzungswert der Wohnung übersteigen, als Verlust auf andere Einkünfte übertragen werden können, ist mit unserem Steuersystem nicht ohne weiteres vereinbar und wäre zudem mit
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Dr. Bögerstarken Steuermindereinnahmen verbunden, die, ganz abgesehen von der Haushaltslage, unseres Erachtens auch nicht in einem angemessenen Verhältnis zur zusätzlichen Nachfrage nach leerstehenden Neubauwohnungen steht.Dazu eine Nebenbemerkung: Für die Zukunft sollte man sich allerdings einmal ganz generell überlegen, wie Abschreibungszeiträume und Nutzungszeiträume besser und zeitgemäßer aufeinander abgestimmt werden können.Weil wir für die Marktwirtschaft sind, sind wir dagegen, daß — ich will hier nicht von Spekulationen reden — Fehlentscheidungen von Bauherren nachträglich durch steuerliche Maßnahmen der Allgemeinheit angelastet werden.Zu der schon behandelten Frage, 50 000 leerstehende Wohnungen in Sozialwohnungen umzuwandeln, was einen Kostenaufwand von etwa 550 Millionen DM bedeutet, nur eine zusätzliche Bemerkung. Wir wollen die im Gesetz zur Förderung von Wohnungseigentum und Wohnbesitz im sozialen Wohnungsbau beschlossenen Förderungsprioritäten nicht nachträglich über den Haufen werfen. Man kann das gegebene Finanzvolumen im sozialen Wohnungsbau — wie das Herr Minister Ravens soeben schon richtig angedeutet hat — nur ein einziges Mal verteilen.Wir sind, wie aus den Darlegungen der Herren Vorredner hervorgeht, alle davon überzeugt, daß auf Grund der vorhandenen Wohnungshalden die Bereitschaft der unternehmerischen Wohnungswirtschaft zu neuen Investitionen in der nächsten Zeit nicht allzu groß sein wird. Das ist aus Gründen, die schon behandelt worden sind, bedauerlich, darf uns aber nicht veranlassen — ich wiederhole das —, das Marktrisiko nachträglich auf den Steuerzahler abzuwälzen.Die Bundesregierung hat aber versucht, der Wohnungswirtschaft neue Impulse zu geben, indem sie das Gesetz über Investitionszuschüsse für Mietwohnungen, Genossenschaftswohnungen und Wohnheime im sozialen Wohnungsbau erlassen hat und das Gesetz zur Förderung von Investitionen und Beschäftigung. Grundsätzlich wollen wir auf dem Bau-und Wohnungsmarkt soweit als möglich das Spiel der freien Kräfte walten und Angebots- und Nachfrageverhalten sich einpendeln lassen.Wir glauben übrigens, daß aus der letzten Zeit eine Lehre gezogen wird, nämlich die, daß bei der Nachfrage nach Wohnungen der Preis wieder eine stärkere Rolle spielt. Noch vor kurzer Zeit bestand doch bei uns allen, zumindest im Unterbewußtsein, die Vorstellung, daß der Preis einer Wohnung nur eine sekundäre Bedeutung habe. Auf die größere Preisempfindlichkeit muß sich die Wohnungswirtschaft einstellen, und diese Empfindlichkeit gegenüber dem Preis wird sich auf die Kosten der Wohnungen auswirken; denn sie muß sich darauf auswirken.Lassen Sie mich ein Wort zu dem Plan sagen, der seit kurzem von einigen Seiten propagiert wird. Kollege Wurbs wies schon darauf hin. Um die Mieten des sozialen Wohnungsbaus niedriger gestaltenzu können - ein Ziel, aufs innigste zu wünschensoll nach diesen Vorstellungen ein Sozialpfandbrief geschaffen werden mit mäßigem Zins, aber steuerfrei. So etwas haben wir schon einmal gehabt, aber mit gutem Grunde wieder beseitigt. Der Erwerb solcher Pfandbriefe wäre nämlich auf Grund der Steuerprogression unseres Einkommensteuerrechts vor allem für diejenigen finanziell interessant, die ein sehr hohes Einkommen haben. Das Wort „Sozialpfandbrief" scheint mir daher fehl am Platze.Außerdem — das möchte ich mit allem Nachdruck sagen — sehen wir die Gefahr, daß die isolierte Emission von besonders begünstigten Pfandbriefen unerwünschte Kurseinbrüche bei alten niedrig verzinslichen Rentenwerten erzeugen und zu umfangreichen Kursstützungsmaßnahmen für solche Papiere führen kann.Zum Schluß! Die CDU/CSU wünscht ein Gesamtkonzept. In Ergänzung der Antwort der Bundesregierung möchte ich für die Freien Demokraten dazu auf folgendes hinweisen. Es erscheint wenig sinnvoll, zur Zeit ein starres Konzept zu verlangen, in dem man sich auf bestimmte Dinge, z. B. Förderungsvolumina und Zielgruppen im sozialen Wohnungsbau, festlegt und sich damit selbst für die Zukunft bindet; denn hier ist, wie die jüngste Vergangenheit gezeigt hat, ein flexibles System in Form von Rahmenrichtlinien vorzuziehen. Wirtschaftliche Strukturveränderungen auch in der Wohnungspolitik verlangen nach Maßnahmen, die diesen Veränderungen angepaßt sind und angepaßt werdenkönnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Schmöle.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Wohnungsbaupolitik ist nicht nur im Blick auf die Versorgung der Bevölkerung mit ausreichendem Wohnraum von Bedeutung, sie fällt auch ganz besonders gesamtwirtschaftlich ins Gewicht. So hat z. B. ein Gutachten der GEWOS festgestellt, daß ein Rückgang des Bauvolumens um 10 Millarden DM — und das sei, so hat GEWOS festgestellt, der Betrag, der beim Status quo in diesem Jahr bereits anfallen würde für das Jahr 1975 einen Rückgang der Gesamtproduktion von ungefähr 17 Milliarden DM zur Folge haben würde. Bei dieser Entwicklung, so stellt das Gutachten von GEWOS fest, sei damit zu rechnen, daß insgesamt 300 000 Arbeitsplätze in diesem Baugewerbe und den zuarbeitenden Unternehmen freigestellt würden. Wenn man diese Aspekte berücksichtigt, dann erscheint die Bedeutung des Wohnungsbaus noch in einem ganz anderen Licht. Ich glaube, daß es für die Zukunft unserer Gesamtwirtschaft von erheblicher Bedeutung ist, in welchem Umfang und auf welche Weise ein stetiges Bauvolumen des Wohnungsbaus gesichert werden kann.Ein Zweites. Die Bundesregierung spricht in ihrer Antwort auf die Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion zwar von einer gewissen Bedarfssättigung auf dem Wohnungsmarkt; sie weiß aber ebenso wie
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Schmölealle Fachkreise, daß in der Bundesrepublik Deutschland heute rund 5 Millionen Wohnungen nicht mehr modernen und sozial gerechten Anforderungen entsprechen. Es ist wohl die Feststellung erlaubt, daß die Lebensqualität für den Menschen ganz wesentlich von seiner Wohnumwelt abhängt.Der Feststellung eines solchen Bedarfs an Wohnungen steht ganz sicherlich nicht die Tatsache der Wohnungshalde, wie groß sie auch immer sein mag, gegenüber. Sie macht nur eins deutlich: daß neue Wohnungen oftmals nur noch zu einem Preis zu kaufen oder zu mieten sind, die für einen großen Teil unserer Bevölkerung unerschwinglich sind, auch wenn sie mit öffentlichen Mitteln gefördert wurden.Nun wird jeder, meine Damen und Herren, der über Möglichkeiten des zukünftigen Wohnungsbaus nachdenkt, erkennen, daß es kein Problem auf diesem Gebiet zu lösen gibt, wenn nicht die Bereitschaft und die Fähigkeit breiter Teile der Bevölkerungsschichten gestärkt wird, sich an den dazu notwendigen Investitionen zu beteiligen. Kein Neubau, keine Sanierungsmaßnahme und auch kein Modernisierungsvorhaben sind ohne Eigeninitiative, ohne Bereitstellung von Eigenkapital wirklich möglich. Zukunftsorientierte und daher tatsächlich sinnvolle Wohnungsbaupolitik muß an die erste Stelle der Überlegung stellen, wie die Bereitschaft zur privaten Beteiligung an Wohnungsbauinvestitionen geweckt und gefördert werden kann. Wohnungsbaupolitik, die sich sozial verpflichtet weiß, wird dem ein gleichrangiges Ziel hinzufügen: Eigenbeteiligung muß auch für den sozial Schwachen möglich sein, da Wohnungseigentum nicht einigen, sondern allen Schichten unseres Volkes zugänglich sein soll.
Die Frage ist nun, was notwendig ist, um diese private Beteiligung, diese Anreize möglich und interessant zu machen. Mein Kollege Jahn hat in einer früheren Debatte hier einmal die Formel geprägt: Nicht jedem eine Wohnung, sondern jedem seine Wohnung. Ich glaube, meine sehr verehrten Damen und Herren, auch wenn das manchmal etwas belächelt wurde, daß hinter dieser Formel die Möglichkheit der Weckung des echten Interesses, der echten Eigeninitiative allein nur zu finden ist. Denn alle Überlegungen, die diesen Gesichtspunkt außer acht lassen, laborieren meines Erachtens an den Notwendigkeiten vorbei. Sie werden nur ständig höhere öffentliche Zuschüsse bewirken. Die Probleme werden keine befriedigende Lösung erfahren, sondern sich zusehends verschlimmern.Deshalb müssen wir darüber nachdenken, ob die Vielzahl der Förderungs- und Zuschußmaßnahmen den Überlegungen gerecht werden kann, wie private Initiative und private Mittel für den Wohnungsbau mobilisiert werden können. Ich möchte hier vorausschicken, daß es mir, wenn ich jetzt einige Beispiele dafür nenne, nicht darum geht, zusätzliche öffentliche Mittel zu fordern; denn wir wissen alle, daß der Staat keine Kuh ist, die im Himmel gefüttert und auf Erden gemolken werden kann. Aber wenn wir über neue Verteilungen sprechen,muß es möglich sein, auch einmal völlig unkonventionelle Gedanken zu dieser Frage zu äußern.
Ich glaube beispielsweise, daß jede Mark, die wir den Bausparern zur Verfügung stellen, 2 DM an öffentlichen Subventionen überflüssig machen könnte. Im nächsten Jahr werden die ersten Mittel aus dem 624-DM-Gesetz frei. Es gibt jetzt 18 Millionen Sparer in diesem Bereich. Es wäre zu überlegen, ob nicht, wenn sich die Leute bereit fänden, den in Frage kommenden Betrag zum Bau oder Erwerb eines Eigenheimes oder einer Eigentumswohnung, zur Modernisierung oder Sanierung zur Verfügung zu stellen, für einen weiteren Zeitraum die gleichen Mittel, gleiche Prämien und Steuervergünstigungen, zur Verfügung gestellt werden könnten und mit dieser subventionierten Summe schließlich eine Beteiligung am Bau oder Erwerb eines solchen Objektes möglich wäre.Ich gerate jetzt ungemein unter Zeitdruck. Ich kann das nicht mehr entsprechend ausführlich vortragen. Ich bitte um Entschuldigung. Ich darf das demnächst in der Debatte weiter fortführen.
Wir fahren in der Debatte fort. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Orgaß.
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Daß die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion zur Wohnungsbaupolitik uns und die ganze Fachwelt zutiefst enttäuscht hat, steht wohl außerhalb jeder Frage. Sie offenbart eine völlige Konzeptlosigkeit auf dem Sektor der Wohnungsbaupolitik und des Mietpreisrechts. Die Antworten oder, besser gesagt, die Ausflüchte lassen auch kaum Hoffnung, daß wir in Zukunft ein umfassendes Konzept von dieser Regierung erwarten können. Herr Minister Ravens, die Rede, die Sie heute zu diesem Thema hier in diesem Hause im besten Reformdeutsch gehalten haben, läßt uns ebenfalls nicht mehr hoffen.Die Ursachen liegen in der unverantwortlichen Inflationspolitik dieser Regierung in den vergangenen Jahren,
die bewirkte, daß die Bundesbank eine Hochzins-politik betreiben mußte, und die auf keinem anderen Sektor der Wirtschaft so nachhaltige und so unsoziale Folgewirkungen hatte wie in der Wohnungsbaupolitik. Vor allem der kleine Mann ist elementar betroffen, und zwar Monat für Monat durch seine Mietzahlung. Es wird deshalb noch lange an diese Regierung denken müssen, auch wenn sie längst nicht mehr im Amt ist. Das, verehrte gnädige Frau Meermann, gilt selbstverständlich auch für die kleine Frau.Rekordleistungen wurden bewirkt, aber vor allem in bezug auf die Kostenexplosion. Im sozialen Woh-
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11958 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Orgaßnungsbau muß die öffentliche Hand immer mehr Geld für die einzelne Wohnung aufwenden, um diese wenigstens zunächst durch die Förderung bis an die 5-DM-Grenze pro Quadratmeter herabzudrücken. Aber durch den zeitlich gestaffelten Zuschuß der öffentlichen Mittel ist die Inflationsentwicklung bei vielen Wohnungen vorprogrammiert. Nach einem neu erstellten Gutachten der GEWOS ergibt sich, daß die Gesamtherstellungskosten einer durchschnittlichen 80 qm großen Wohnung von 1970 bis 1974 von rund 75 000 DM auf rund 120 000 DM, also um über 50 %, gestiegen sind. Dadurch wurde der so zu finanzierende Kapitalbedarf für eine Durchschnittswohnung um mindestens 50 % angehoben.Dadurch entstand aber zusätzlich eine noch höhere Belastung infolge der erhöhten Kapitalmarktzinsen, die sich im Ergebnis auf die Steigerung der Vollkostenmiete noch stärker auswirkte als die Steigerung der Baukosten selbst.Die von der Bundesbank betriebene Politik der steigenden Zinsen, die im Jahre 1973 über 11 % erreichten — gegenüber 7 % im Jahre 1968 —, bedeutete für den sozialen Wohnungsbau eine um ebenfalls über 50 % höhere Belastung. Denn eine einprozentige Zinssteigerung entspricht einer Mietpreissteigerung um etwa 1 DM pro qm und Monat. Eine Wirkung in der gleichen Höhe ergibt sich bei einer Baupreissteigerung um etwa 7 bis 10 %.Zu den Baupreissteigerungen und den Zinskosten kommt als dritter verteuernder Faktor seit Mitte der 60er Jahre eine Verschiebung in der Finanzierungsstruktur des öffentlich geförderten Wohnungsbaus hinzu. Es war der öffentlichen Hand nicht mehr möglich, die verstärkten Anforderungen, die sich aus der Zinserhöhung und der Baukostensteigerung ergaben, über zusätzliche, wesentlich höhere Kapitalsubventionen aufzufangen. Dadurch vergrößerte sich zwangsläufig der Anteil der Fremdfinanzierung durch Kapitalmarktmittel, die wiederum teurer wurden. Der Anteil der Mittel des Kapitalmarkts an den Gesamtherstellungskosten des sozialen Wohnungsbaus betrug 1972 bereits etwa 60 % mit weiter steigender Tendenz. Bei den steigenden Zinssätzen ergibt sich daraus eine Kapitalkostenbelastung, die immer höhere Subventionen erfordert, um tragbare Soziallasten der Nutzer im sozialen Wohnungsbau sicherzustellen.Schon jetzt sind die neuerbauten Sozialwohnungen zu einem gut Teil teurer als andere, wenig zuvor erbaute freifinanzierte Wohnungen. Schon jetzt können trotz Wohngeldzuschusses viele Berechtigte die neuen Sozialwohnungen nicht mehr bezahlen und laufen älteren und damit preisgünstigeren Wohnungen vergeblich nach.Das Ergebnis: Wir haben einen total verzerrten Markt, dessen Mieten den Wohnwert in keiner Weise widerspiegeln. Das ist die Folge von zweieinhalb Jahrzehnten unterschiedlicher Wohnungsgesetzgebung, unerschiedlicher Wohnungsbaufinanzierung und der während des Zeitpunkts der Finanzierung gerade jeweils herrschenden Kapitalmarktsituation.Wir müssen hierbei erkennen, daß es nicht nur das Problem der Gerechtigkeit zwischen Vermieter und Mieter gibt, sondern vor allem auch das Problem der Gerechtigkeit zwischen Mieter und Mieter. Probleme der Fehlbelegung, einmal durch die Einkommensentwicklung und zum anderen durch die Unterbelegung entstanden, wie auch das Bemühen um preisgünstige Versorgung älterer Mitbürger in Altenwohnheimen müssen in diesem Zusammenhang mit gesehen werden; ich kann es hier nur als Stichwort andeuten.Ich selbst habe bereits zu Beginn des Jahres 1967 den damaligen Wohnungsbauminister Lauritz Lauritzen aufgefordert, der Fehlbelegung und der Wohnwertverzerrung entgegenzuwirken. Aber das ist leider nicht geschehen. Dadurch wird die Verzerrung im Grunde genommen fortgeschrieben und künftig verstärkt. Wenn wir nicht sehr bald zu einer anderen Konzeption kommen, die den Wohnwert mehr als bisher berücksichtigt, ist abzusehen, daß in naher Zukunft der soziale Wohnungsbau zum Erliegen kommt, weil dann die Wohnungsbaumittel der öffentlichen Hand für immer höhere Wohngeldzahlungen verbraucht werden müssen.Auf das Drängen der CDU ist in der Vergangenheit wenigstens erreicht worden, daß bei den älteren Sozialwohnungen die Zinssätze angehoben wurden und diese besonders preisgünstigen Wohnungen vorrangig einkommensschwachen Familien zugute kommen. Wir haben auch — wie es scheint, in noch unzulänglicher Weise — eine gewisse Möglichkeit des Ausgleichs durch die sogenannte Unternehmensmiete bewirkt. Aber das alles langt nicht, wenn wir die Probleme in Zukunft in den Griff bekommen wollen. Deswegen fordern wir die Bundesregierung auf, nun endlich ein Konzept vorzulegen, um der Wohnwertverzerrung nachhaltig zu begegnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Niegel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Von den rund 22,5 Millionen Wohnungen sind 9,1 Millionen Altbauwohnungen, 5,9 Millionen öffentlich geförderte Wohnungen des sozialen Wohnungsbaus und 7,5 Millionen Wohnungen des steuerlich begünstigten freien Wohnungsbaus. Diese Zahlen sagen mehr, als das Verhältnis zueinander aussagt. Denn die 7,5 Millionen Wohnungen des steuerlich begünstigten und freien, gleichzeitig privaten Wohnungsbaus, der den öffentlich geförderten sozialen Wohnungsbau um 1,6 Millionen Wohnungen übersteigt, haben die Versorgung der Bevölkerung mit Wohnraum nach dem Kriege möglich gemacht. Das heißt also, die Privatinitiative war maßgebend, und jetzt wurde mit einer Mietgesetzgebung diese private Initiative zurückgedrängt. Denn die Rentabilität von Privatinvestitionen im Bereich des privaten Wohnungsbaus ist durch investitionshemmende Gesetzes- und Verwaltungsvorschriften in Frage gestellt worden. Ich spreche hier bewußt das Wohnraumkündigungsschutzgesetz und die für die
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Niegel9,1 Millionen Altbauwohnungen derzeit geltenden Modernisierungsrichtlinien mit Modernisierungszonen an.Für den Mietwohnungsbau gilt, daß keine ausreichende Rentabilität gegeben wurde und der Wohnraum unkündbar geworden ist. Die Bundesregierung macht es sich deshalb in Beantwortung der Frage 22 zu leicht, wenn sie davon spricht, daß Verbesserungen gegenüber dem vorhergehenden nur zwei Jahre geltenden, befristeten Wohnraumkündigungsschutzgesetz gemacht wurden. Das sind Halbwahrheiten und nichts weiter als ein Ablenkungsmanöver. Der Staat kann nämlich die Lücke nicht schließen, die dadurch entsteht, daß sich der Bürger als Kapitalanleger vom Wohnungsmarkt zwangsläufig zurückzieht. Die Leidtragenden einer solchen Entwicklung werden vor allem die Mieter sein, denen man angeblich helfen wollte. Der beste Mieterschutz ist nämlich ein großes Angebot von Wohnungen der verschiedensten Eigentümer. Eine befriedigende Ordnung des Wohnungswesens — das darf ich hier nochmals feststellen — wird nur erreicht werden können, wenn die Grundsätze der sozialen Marktwirtschaft auch in diesem Bereich gelten.Auch das Zweite Wohnraumkündigungsschutzgesetz ist mit hinderlich für den Abbau der Wohnungshalden.
Manch einer würde seine Wohnungen zwischenvermieten, wenn er nicht Angst haben müßte, daß er die Mieter nicht mehr aus der Wohnung herausbekommt, wenn er sie verkaufen will. Auch würde mancher mit einem billigeren Mietpreis einsteigen, wenn er ihn später, wenn sich die marktwirtschaftliche Situation verbessert hat, wieder anheben könnte.Das gleiche gilt — das möchte ich hier herausstellen — für die Modernisierung und Instandsetzung im Althausbestand. Durch Bürokratisierung und unnötige Komplizierung des Verfahrens sind private Investoren abgeschreckt worden, statt daß man den Modernisierungswillen fördert. Zu kritisieren ist vor allem die Begrenzung der Bewilligung von Förderungsmitteln auf sogenannte Modernisierungszonen, die zu enge Begrenzung des Förderungsgegenstandes, die überflüssige Belegungsbindung und die letztlich schädliche Degressivität der Aufwandssubventionen. Modernisierungszonen — das darf ich nachdrücklich feststellen — benachteiligen auch und besonders den ländlichen Raum.
Meine Damen und Herren, die Frage ist: Wie können wir privates Kapital für den Wohnungsbau nutzbar machen? Ich habe deswegen eingangs festgestellt, daß gesetzliche und Verwaltungsvorschriften die privaten Investitionen hemmen. Sie dürfen sie nicht hemmen! Wir müssen versuchen, in Zukunft privates Kapital für den Wohnungsbau nutzbar zu machen. Die Zielsetzung muß sein, daß einerseits der Wohnungsbau, die Instandhaltung und Modernisierung des Althausbestandes sowie die Sanierung, verbunden mit Eigentumsbildung und Eigentumserhaltung, vorankommen und andererseits das Baugewerbe, das die Schlüsselfunktion der Binnenvolkswirtschaft hat, wieder eine Art Mindestbeschäftigung erhält. Es geht hier um die Erhaltung der Substanz eines großen Teils unserer Volkswirtschaft, nicht um Baulöwen, unsolide Unternehmer, sondern um zahlreiche Handwerksbetriebe, Bauindustriefirmen, Ausbauzulieferer bis zur Möbel-, Polstermöbel- und Gardinenwirtschaft mit ihren qualifizierten Fachleuten.Ich glaube, daß wir bei der Modernisierung des Althausbestandes eine Konjunkturreserve von etwa 80 bis 100 Milliarden DM zur Verfügung haben, die es gerade jetzt zu mobilisieren gilt.Wir haben von 1949 bis 1961 ein Instrument gehabt, das ich nochmals herausgreifen möchte, nämlich den seinerzeitigen § 7 c des Einkommensteuergesetzes. Wir sollten den Mut haben, das ruhig wieder aufzugreifen. Ich schlage deshalb einen neuen § 7 c — ins Unreine gesprochen: einen neuen § 7 x — für den Wohnungsbau, für die Althausmodernisierung und -sanierung mit dem Schwerpunkt Eigentumsbildung vor. Damit könnte privates Geld von denen, die Gewinne erzielen und sparen können, steuerfrei in den Wohnungsbau fließen. Es ist besser, solche Gelder binnenvolkswirtschaftlich dem Wohnungsbau bzw. der Althausmodernisierung und damit zur Sicherung der Bauwirtschaft zufließen zu lassen, als daß solche Gelder in fragwürdige Abschreibungsgesellschaften des In- oder Auslands fließen. Ein solcher § 7 x führte dazu, daß dauerhaft und schnell eine Maßnahme ergriffen wird, die sozial ebenso von Bedeutung ist, wie sie wirtschaftlich und yolkswirtschaftlich vernünftig ist. Aus fiskalischer Sicht wäre dies eine wesentlich kostengünstigere Förderung des Wohnungsbaus als die Zinssubventionierung. Außerdem könnten dadurch dem Wohnungsmarkt mehr Kapitalien zugeführt werden. Darüber hinaus würden solche Gelder nur einen Bruchteil der Kosten ausmachen, die der Bund über den Bundeshaushalt im Wege der Finanzierung der Arbeitslosenunterstützung durch die Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit und für sonstige Kuriositäten zu tragen hat.Ich darf hier auch die Rücklagenbildung beim Althausbesitz ansprechen. Wegen der Bedeutung der Althausmodernisierung sollten wir es uns überlegen, eine steuerfreie Rücklagenbildung beim Althausbesitz einzuführen. Das gab es von 1954 bis 1957. Es ist heute wegen der Modernisierungsaufgaben dringender denn je, daß man die Mieten von zwei, drei oder vier Jahren zu einem Drittel bis zur Hälfte als Reparatur- und Modernisierungsbeträge steuerfrei zurücklegen kann. Auf die sinnvolle Höhe könnte man in den Einzelberatungen zu sprechen kommen. Eine solche Regelung würde auf jeden Fall die Eigenkapitalbildung beim Althausbesitz einigermaßen sicherstellen.Meine Damen und Herren, ich darf abschließend folgendes sagen. Der Privatmann wird nur dann wieder in größerem Umfang in den Wohnungsbau investieren, wenn wieder Vertrauen in die wirtschaftliche Entwicklung eingekehrt ist und investitionshemmende Gesetze und Verwaltungsvorschriften abgebaut werden. Dieser Zustand ist eben eine Klima-
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11960 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Niegelfrage, und dies haben Bundeskanzler, Wirtschaftsminister, Finanzminister und auch die Bundesbank zu verantworten. Der Wohnungsbauminister ist — das kann ich hier sagen — betriebsblind geworden. Er sollte in eine „neue Heimat", in ein Hochhaus ziehen zur Erweiterung seines Horizonts.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Nordlohne.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf für die Unionsfraktionen nur einige wenige Sätze zum Bereich des Wohngeldwesens sagen. Die Antwort, welche die Bundesregierung der Opposition auf die Große Anfrage bezüglich der Wohngeldsituation erteilte, ist völlig unbefriedigend. Der Deutsche Bundestag hat in seiner Sitzung am 8. November 1973 die von uns angesprochene Entschließung einstimmig gefaßt. Bis heute ist die Bundesregierung dem Auftrag dieses Hauses nicht nachgekommen, eine Gesetzesvorlage einzubringen. Hat sich der Wohnungsbauminister gegenüber dem Finanzminister hinsichtlich der Antwort, die hier zur Diskussion steht, nicht durchsetzen können? Sollte es speziell bei dieser Frage und der dazu gegebenen Antwort zwischen dem Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau einerseits und dem Bundesministerium der Finanzen andererseits zu unterschiedlichen Auffassungen wegen der damit verbundenen finanziellen Fragen gekommen sein, dann muß sich die Bundesregierung die Frage gefallen lassen, ob sie überhaupt eine klare Konzeption dafür hat, was sie in Zukunft auf dem Gebiet des Wohngeldwesens zu tun gedenkt, wie sie die notwendige Verbesserung einer Verzahnung zwischen Wohngeld und Wohnungsbauförderung herbeiführen will und wie sie mit dem finanziellen Problem fertig werden will.Trifft es zu, daß beim Bund bisher noch nicht einmal die notwendigen Haushaltsmittel für das geltende Wohngeldgesetz voll abgedeckt sind? Was wird aus der Finanzplanung der Jahre 1976 bis 1978 speziell im Bereich Wohngeldwesen, wenn der dafür vorgesehene jährliche Rahmen von 730 Millionen DM allein für den Bund im Jahre 1975 bereits eine Aufstockung von insgesamt 110 Millionen DM erfordert? Die Folge ist doch, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß auch für die Zeit von 1976 bis 1978 schon nach geltendem Recht Aufstockungen unumgänglich sein werden. Welche Entwicklung in den finanziellen Belastungen für den Bund und für die Länder kommt im Bereich des Wohngeldwesens dadurch auf uns zu, daß die bei den seit 1970 finanzierten Sozialwohnungen wegfallenden Aufwendungsbeihilfen Mietsprünge verursachen, die in Kürze zu einem völlig untragbaren Mietenniveau führen, wobei die Mietsteigerungen durch Wohngeld bezuschußt werden müssen? Dies klang heute wiederholt in den Debattenbeiträgen an. Trifft es zu, daß das Bundesministerium der Finanzen die Auffassung vertritt, daß der Hinweis des Bundesministeriums für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau auf besonders starke Mietsteigerungen bei den Sozialmieten noch keine Verbesserung des Wohngeldes rechtfertigt?Meine sehr verehrten Damen und Herren, dies alles sind Fragen, die wir seitens der Bundesregierung gern beantwortet haben möchten, da sie im Zusammenhang mit den von uns in der Großen Anfrage gestellten Fragen 15 und 16 zu sehen sind.Bundeskanzler Helmut Schmidt hat in seiner Regierungserklärung vom 17. Mai 1974 zwei Sätze zum Bereich des Wohngeldwesens gesagt. Mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten darf ich diese beiden Sätze zitieren:Heute wird dreimal so viel Wohngeld gezahlt wie 1969. Fast anderthalb Millionen Haushalte erhalten heute Wohngeld.So dürftig, wie diese Aussage in Form der Nennung von zwei Zahlen zum Wohngeldwesen ist, sind auch seit 1971 die Wohngeldverbesserungen geblieben. Am 1. Januar 1974 ist zwar das Dritte Gesetz zur Änderung des Zweiten Wohngeldgesetzes in Kraft getreten. Durch dieses Gesetz wurden jedoch nur die größten Härtefälle beseitigt, die nach dem Mietenbericht 1972 und dem vierten Wohngeldbericht bis Ende 1973 entstanden waren und die zu beseitigen eine ganz klare Verpflichtung nach dem Gesetz selbst war.Die Bundesregierung hat in den vergangenen Wochen immer wieder darauf hingewiesen, daß die Zahl der Wohngeldempfänger bis Ende 1974 auf 1,57 Millionen angewachsen ist. Die Steigerung des Jahres 1974 beträgt damit rund 250 000 Empfänger. Mit Sicherheit trifft zu, daß die durch die allgemeine Konjunkturverschlechterung bedingte Einkommensverminderung in weiten Kreisen der Bevölkerung die Hauptursache für die verstärkten Antragstellungen ist.Die Bundesregierung selbst erklärt, daß rund 70 % aller Wohngeldempfänger Rentner und Pensionäre sind. Die Kollegin Meermann war freundlicherweise bereit, vorhin auch auf diesen besonderen Aspekt hinzuweisen. Trotzdem ist davon auszugehen, daß dies 10 % der Gesamtzahl der Rentner in unserem Lande ausmacht, und daraus ergibt sich, daß eben ein großer Teil dieses Personenkreises in unserem Lande, verglichen mit anderen Bevölkerungsgruppen, erheblich unter dem vertretbaren Existenzminimum lebt. Viele Rentner, die Wohngeldempfänger sind — und dies weist eindeutig auch der letzte Wohngeldbericht aus —, erhalten gleichzeitig Sozialhilfe. Ich stimme Ihnen also darin zu, daß wir dort eine Verbesserung herbeiführen müssen.An zweiter Stelle stehen mit 12,3 % die Arbeiter. Es wäre für uns alle hier interessant zu wissen, wie viele Arbeitslose und Kurzarbeiter sich im Jahre 1974 unter den neuen Antragstellern befinden. Nach einer Pressemeldung vom Dienstag hat z. B. die Salzgitter-Wohnungs-AG, eine bundeseigene Wohnungsgesellschaft, für zahlreiche Altbauwohnungen in Salzgitter eine Mietanhebung von
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Nordlohnedurchschnittlich 30 % verfügt, und dies weitgehend für die dortigen Arbeitslosen, die in diesen Wohnungen leben. Also steht auch dieses Problem für uns gemeinsam auf der Tagesordnung.Meine sehr verehrten Damen und Herren, infolge der geringen Zeit nur wenige Sätze zu dem Problem der Mietsteigerungen, da dieses Problem entscheidend für das Wohngeldwesen ist. Nach Darstellung des Deutschen Mieterbundes im August 1974 sind die Mieten im sozialen Wohnungsbau von Juni 1973 bis Juni 1974, also innerhalb eines Jahres, um 50 % stärker angestiegen als die Mieten des freifinanzierten Wohnungsbaus. Dies liegt weitgehend daran, daß die Sozialmieten die vorprogrammierten Mietsteigerungen und damit die Inflation enthalten. Durch den stufenweisen Abbau der öffentlichen Förderung sind die Sozialmieten, die sich insbesondere aus den Jahren nach 1970 — dies ist doch deutlich festzustellen — ergeben, praktisch dynamisiert.Es gibt Prognosen, wonach Mitte der achtziger Jahre die Sozialmieten bei 13 bis 15 DM/qm liegen werden. Lassen Sie mich dafür nur ein Beispiel nennen. Nach einer Mitteilung der Neuen Heimat von Mai 1974 betrug die Sozialmiete bei verschiedenen Wohnungsobjekten in der Stadt Wolfsburg zum Zeitpunkt des Bezuges im Jahre 1973 4,77 DM je Quadratmeter Wohnfläche. Nach wiederholtem Wegfall der Aufwendungsdarlehen und der Grundsteuervergünstigung, der jetzt bereits absehbar ist, wird sich diese Ursprungsmiete im Jahre 1987, also in gut zwölf Jahren, auf 10,63 DM je Quadratmeter Wohnfläche belaufen. Damit ist eine Steigerung um 126 % zu verzeichnen. Mit Sozialmieten, so meine ich, hat dies überhaupt nichts mehr zu tun. Eine solche Förderung ist staatliche Spekulation mit der Inflation. Sie ist in höchstem Grade unsolide und stabilitätswidrig.In der Stadt Dortmund, aber auch in anderen Bereichen des Ruhrgebiets, gibt es ganze Objektgruppen, in denen die Sozialmiete heute schon bei 6 bis 7 DM liegt und sich damit teilweise über der Miete freifinanzierter Wohnungen befindet. Es gibt also bereits das Kuriosum — darauf wies mein Kollege Orgaß hin —, daß die Sozialmieten zum Teil schon über den freifinanzierten Mieten liegen. Das Wohngeldgesetz deckt jedoch nur Mieten von maximal 4,40 DM/qm ab. Von einem sozialen Wohnungsbau kann also auch hier nicht mehr die Rede sein.Lassen Sie mich ein Wort zu den Ursachen sagen. Für diese Entwicklung liegen die Ursachen zunächst in den durch die Inflationspolitik der Bundesregierung bedingten erheblichen Baukosten- und Personalkostensteigerungen. Eine Maurerstunde — das habe ich mir heute noch einmal sehr klar bestätigen lassen — kostete 1969, als die SPD/FDP-Bundesregierung die Regierungsverantwortung in diesem Lande übernahm, noch 9,50 DM. Heute, nur sechs Jahre später, kostet diese Maurerstunde bereits 22 DM.Die Frage, ob künftig an die Stelle einer objektbezogenen Förderung die individuelle Förderung treten kann, wird zunehmend diskutiert. Auch daswar heute Gegenstand der Beratung hier in diesem Hohen Hause. Eine überwiegende Finanzierung des öffentlich geförderten Wohnungsbaus durch das Wohngeld ist meines Erachtens nicht möglich. Es trifft sicherlich zu, daß sich im sozialen Wohnungsbau die Kombination von vernünftiger und angemessener Objektförderung und Wohngeldförderung bewähren würde. Ich meine ferner, daß die Finanzierungsmodalitäten überdacht werden müssen. Aus der unmittelbaren Förderung der Wohnung und aus der Wohngeldbezuschussung muß eine für den einzelnen tragbare Miete entstehen. Hier sind wir mit Ihnen, Herr Minister, völlig einig — um auch dies einmal sehr deutlich zum Ausdruck zu bringen.Ich möchte abschließend sagen, daß die Bundestagsfraktion der CDU/CSU in Ziffer 8 des Ihnen vorliegenden Entschließungsantrags die Beauftragung der Bundesregierung durch den Deutschen Bundestag beantragt, in Ausführung der Entschließung des Bundestages vom 7. November 1973 unverzüglich einen Gesetzentwurf zur Novellierung des Zweiten Wohngeldgesetzes vorzulegen. Eine Wohngeldnovellierung ist angesichts der in der Zeit vom 1. Januar 1973 bis heute eingetretenen Mieten- und Lastenerhöhung bereits überfällig. Darüber sind wir uns mit Sicherheit einig, verehrte Frau Kollegin Meermann.Wir sind bereit, nach Abschluß der Beratungen der Ministerkonferenzen und nach Vorlage des Wohngeld- und Mietenberichts der Bundesregierung konstruktiv mitzuarbeiten an der Fortentwicklung des von der CDU/CSU — das muß ich hier doch einmal sehr deutlich sagen angesichts der Pressemeldungen in bezug auf das zehnjährige Bestehen des Wohngeldgesetzes am 1. April dieses Jahres — unter Paul Lücke im Jahre 1965 konzipierten und durchgesetzten Wohngeldgesetzes.
Wir fahren in der Debatte fort. Das Wort hat der Abgeordnete Conradi.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für den Wohnungsbau gilt, was auch für die Zahl und Länge der Beiträge der Opposition zu ihrer Großen Anfrage gilt: daß Quantität Qualität sicher nicht ersetzen kann.
Ich will hier zum Schluß einen strittigen Punkt noch einmal aufgreifen, nämlich das sehr eigenartige Verständnis von Marktwirtschaft,
das aus Ihren Worten hier sichtbar geworden ist. Draußen im Land laufen Sie herum und sagen, die SPD gefährde die Marktwirtschaft. Herr Filbinger geht sogar so weit, diese in den Rang eines Verfassungsinstituts zu heben. Hier aber machen Sie heute
Conradi
nun Vorschläge, zu denen ich in Abwandlung eines Zitats nur sagen kann: Ihr seid mir schöne Marktwirtschaftler!
Es ist ja wohl klar, daß die Marktwirtschaft im Bereich des Wohnungsbaus allein die Produktion und Verteilung nicht vernünftig regelt. Das wissen wir seit Friedrich Engels. Es gilt auch heute noch, daß im Wohnungsbau die Schwächeren diskriminiert werden. Es gibt hier wohl auch keinen Streit darüber, daß der Staat da einzugreifen und den Markt zu korrigieren hat, mit sozialem Wohnungsbau, mit Wohngeld, mit Eigentumsförderungsmaßnahmen. Es ist im Prinzip auch nicht strittig, daß wir zukünftig, nachdem die große Wohnungsnot vorbei ist, weniger, aber gezielter fördern müssen.
Was strittig ist, ist der Bereich, in dem nach unserer, der Sozialdemokraten, Auffassung der Markt die Produktion und Verteilung vernünftiger regelt als die Verwaltung, also etwa im Bereich der Eigentumswohnung, wo es eben nicht notwendig ist, von Staatsseite zu subventionieren, weil in diesem Bereich gebaut und gekauft wird, weil man dort den staatlichen Eingriff nicht braucht.
Nun kommen Sie und sagen: Auf diesem Sektor stehen Wohnungen leer; dort gehen Firmen pleite. Sie dienen uns an — ich zitiere —, die „leerstehenden Wohnungen in großem Umfang in Sozialwohnungen umzuwandeln", weil „die Funktionsfähigkeit der Wohnungswirtschaft und der Kreditwirtschaft durch die leerstehenden Wohnungen nachhaltig geschädigt wird". Sie haben doch den Boom tatkräftig mit angeheizt! Sie haben doch in diesem Land die Inflationshysterie geschürt! Wer Ihnen 1969 bis 1972 zugehört hat, mußte doch sein Geld so schnell wie möglich in einem Grundstück und einem Neubau anlegen, damit er vor der Inflation geschützt war. Jetzt hat diese Bundesregierung die Preisentwicklung endlich in den Griff bekommen; wir stehen besser da als alle europäischen Länder. Das war zweifellos ein schmerzhafter Prozeß. Jetzt kommen Sie und wollen das, was qualitativ und quantitativ nach Preis und Standort am Markt vorbei gebaut worden ist, aus Steuergeldern subventionieren.
Das ist Ihre Vorstellung von Marktwirtschaft: Solange der Markt gut geht, solange die Nachfrage das Angebot übersteigt, solange also leicht und gut Geld verdient wird, ist Marktwirtschaft in Ordnung. Wenn sich dann aber einmal einige verspekuliert haben,
wenn es mit dem schnellen Geld nicht mehr so läuft, soll der Staat eingreifen.
Den sozialen Charakter dessen, was Sie unter sozialer Marktwirtschaft verstehen, hat der Kollege Schwedler hier vorher schon herausgestellt. Wir wollen das doch noch einmal in Erinnerung rufen. In den 60er Jahren hatten wir einen Nachfrageüberhang von 3 %. In Wirklichkeit war es aber viel mehr; Herr Lücke hat damals sehr unsauber gerechnet. Als die Nachfrage das Angebot um 3 % überstieg, waren Sie für soziale Marktwirtschaft und haben die Mietpreisbindung aufgehoben. Jetzt
haben wir einen Angebotsüberhang von sage und schreibe 1 % — von 22,5 Millionen Wohnungen stehen 200 000 leer —, und nun soll auf einmal der Staat eingreifen. So haben wir soziale Marktwirtschaft jedenfalls nicht verstanden. Jetzt könnte der Kunde doch die Konditionen bestimmen, jetzt könnte man als Mieter einmal König sein. Jetzt kommen Sie aber und sagen: Der Staat soll eingreifen. Marktwirtschaft müßte doch heißen, daß die Preise jetzt heruntergehen. Da könnte doch eine Reihe von Baulöwen und von Banken, die in den letzten Jahren sehr gut verdient haben, aus dem Polster etwas nachlassen.
Herr
Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Jahn?
Gerne.
Herr Kollege Conradi, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß eine eventuelle öffentliche Förderung mit dem Ziel des Haldenabbaus weder den Bauherren noch den Kreditgebern, sondern allein unserer sozial schwachen Bevölkerung zugute kommen soll?
Davon kann gar keine Rede sein, denn Sie wollen in „weitem Umfang" mit öffentlichen Mitteln Wohnungen fördern, die zur Zeit weder vermietbar noch verkaufbar sind, d. h. Sie wollen das Unternehmerrisiko ausschalten. Der entscheidende Punkt ist doch, daß damit kein neuer Arbeitsplatz geschaffen wird. Es ist doch ein Gerücht, daß der Wohnungsbau stagniert, solange die Wohnungen auf der Halde leerstehen. Wenn wir das tun, was Sie uns andienen, nämlich die Halde zu sozialisieren, wird doch der Wohnungsbau in der Richtung ermutigt, daß wir dann, wenn etwas nicht absetzbar ist, beim nächstenmal wieder das Risiko übernehmen. Dies haben wir nicht vor.
Wir haben nicht vor, aus staatlichen Mitteln zu bezahlen, was am Markt vorbei gebaut wird.
Lassen Sie mich zum Schluß ein Wort zu Ihrer Vorstellung von sozialer Marktwirtschaft sagen. Manchmal habe ich den Eindruck, Sie sagen Marktwirtschaft und meinen Kattun. Ich habe in politischen Diskussionen oft die Schwierigkeit gehabt, zu erklären, was staatsmonopolistischer Kapitalismus, was Stamokap ist. Ihre Große Anfrage, Ihre Vorschläge bezüglich der Halde machen mir das in Zukunft leicht. Da kann ich zeigen, was damit gemeint ist, nämlich: der Staat als Agentur der Wirtschaft,
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Conradisozusagen um das zu finanzieren, was der Markt nicht mehr absetzen kann.
Wir werden diese Art von Stamokap-Politik nicht mitmachen. Wir werden da, wo es notwendig ist, lenkend eingreifen.
Wenn ich einiges hier richtig verstanden habe, dann wollen Sie, was staatliche Lenkung betrifft,
was die staatlichen Eingriffe und Orientierungsdaten betrifft, sich an unserer Diskussion über den Orientierungsrahmen beteiligen. Nur müßten Sie das ernsthaft tun. Wenn Sie nämlich wirklich der Bauwirtschaft langfristig sagen wollen, da und da etwa geht es hin, das sind die Orientierungsdaten, wenn Sie das beeinflussen wollen, können wir darüber diskutieren. Bloß dürfen Sie dann nicht draußen herumlaufen und sagen, Sie seien für Marktwirtschaft, und verteufeln uns, die wir uns überlegen, wie das langfristig weiter gehen soll.Wir werden aber — und das will ich hier ganz eindeutig sagen — überall dort, wo der Markt und der Wettbewerb die Produktion und Verteilung von Gütern besser regelt als Verwaltung, Markt und Wettbewerb stärken. Da werden wir Ihren Vorstellungen, die eigentlich nicht marktwirtschaftlich sind, bestimmt nicht folgen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Jahn.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nachdem Herr Conradi hier noch einige Dinge in die Debatte gebracht hat, sehe ich mich doch veranlaßt, hierzu noch Stellung zu nehmen.
— Ich hatte vor, zurückzuziehen, Herr Conradi, nehmen Sie mir das bitte ab.Zunächst möchten wir noch einmal feststellen: Es darf in diesem Hause keinen Streit geben, daß eine Gesamtkonzeption auf den Tisch muß. Diese hat der Bundesbauminister bereits im Mai 1974 veranlaßt, als er den Ländern einen Entwurf zur Beratung schickte.
Es hat dann ein halbes Jahr gedauert, bis der federführende Bundesbauminister die Länder an einen Tisch brachte. Das Beratungsergebnis vom 28. November 1974 erschöpfte sich darin, daß eine Arbeitsgruppe eingesetzt wurde, die die Aufgabe hatte, alle strittigen Fragen zu behandeln. Es fehlt also aus unserer Sicht an einer Zielstrebigkeit, heute für diese Debatte eine umfangreiche schriftliche Stellungnahme zu der Gesamtkonzeption auf den Tisch zu legen. Wir wären dankbar, Herr Minister, wenn wir sie zumindest in der Ausschußsitzung schriftlich vorliegen hätten, damit wir miteinander diskutieren können, damit wir wissen, was Sie letztlich wollen.Ein zweiter Punkt ist heute angesprochen worden, das Problem der Wohnungshalde. Das ist sicherlich ein Problem, Herr Conradi, das wir nicht ohne weiteres vom Tisch fegen können. Erster Gesichtspunkt — und da sollten Sie zustimmen — ist der, daß wir eine Anlayse brauchen, wodurch dieses Haldenproblem überhaupt entstanden ist.
Dies kostet kein Geld. Dieses kostet im Grunde nur sachdienliche Gedanken. Wir wären dankbar gewesen, wenn die Bundesregierung hierzu etwas mehr gesagt hätte.Die zweite Problematik ist die Lösung des Problems der Halde. Da werfen Sie uns vor, wir seien nicht marktwirtschaftskonform, wir würden immer die soziale Marktwirtschaft für uns pachten, und heute würden wir Forderungen stellen, die mit der sozialen Marktwirtschaft nicht vereinbar sind.
Herr Conradi, ich darf Ihnen antworten: Erstens mal lassen wir uns in dem Verständnis von sozialer Marktwirtschaft von Ihnen nicht übertreffen.
Denn Sie wissen ja genau, aus welcher Ecke die soziale Marktwirtschaft kommt, wessen Verdienst es war, daß wir sie haben, und wodurch der Wiederaufbau in unserem Lande überhaupt erst möglich war.
Der zweite Gesichtspunkt, Herr Conradi, ist doch der, daß, wenn wir jetzt neue Wohnungen fördern, diese Wohnungen in ein Konkurrenzverhältnis zu den leerstehenden kommen mit der Konsequenz einer Verschlechterung der privaten Wohnungsbauinitiative. Weil Sie diese Dinge angesprochen haben, möchte ich namens der Fraktion einige Gedanken vortragen:Erstens. Es ist nicht Aufgabe der staatlichen Wohnungsbaupolitik, Fehlinvestitionen zu honorieren. Hier stimmen wir mit Ihnen überein. Bauen Sie sich bitte diesen Popanz nicht auf, wie es der Bundesbauminister heute abend hier schon versucht hat.
Eine Förderung des Absatzes darf deshalb nur aufder Nachfrageseite ansetzen, d. h. nur den abnahme-
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Dr. Jahn
bereiten Käufern oder Mietern darf eine Förderung gewährt werden.
Nicht anders hat das mein Kollege Dr. Schneider hier vorgetragen. Herr Minister, es ist ein Gebot intellektueller Redlichkeit, dies nicht in das Gegenteil umzudrehen.Zweitens. Soweit haushaltspolitisch möglich, darf der Erwerb leerstehender Wohnung zur Eigennutzung nur mit solchen Hilfen gefördert werden, die auf subjektive Merkmale des Erwerbers — Familiengröße, Leistungsfähigkeit z. B. — ausgerichtet sind.
Drittens. Den Bauträgern und Kreditgebern darf keine Subvention gewährt werden, denn es ist nicht Aufgabe der öffentlichen Wohnbauförderung,
den kreditgebenden Banken das Investitionsrisiko durch Übernahme von Zinsen und Tilgungen nicht konsolidierter Kredite abzunehmen. Ich sage das ganz bewußt, damit Sie sich hier nicht immer wieder diesen Popanz aufbauen, wie das heute zweimal geschehen ist.
Viertens. Wir treten letztlich auch dafür ein, daß wir mit den Ländern Verhandlungen darüber führen, ob geeignete leerstehende Wohnungen durch nachträgliche Förderung in Sozialwohnungen umgewandelt werden können.
Dies ist ein Anliegen, über das wir im Ausschuß gemeinsam beraten sollten.
— Ich weiß gar nicht, warum Sie sich sperren. Das ist doch unser gemeinsames Ziel, insbesondere, Herr Kollege Wehner, den sozial Schwachen zu helfen, und dies können Sie nicht für sich alleine pachten.
— Ja, Herr Kollege Wehner, das ist die Situation. Sie hören es nicht gerne, Sie bestreiten es, aber ich muß es Ihnen doch ins Stammbuch schreiben.Meine Damen und Herren, neben dieser Frage und diesen Punkten gilt es, allgemeine politische Zielvorstellungen zu entwickeln, und die sollten dahin gehen, daß wir nach wie vor mit Vorrang das, was der Bürger will, nämlich Eigenheime und eigengenutzte Eigentumswohnungen, fördern und deshalb im Interesse der breiten Streuung privaten Eigentums auch Anreize für große Baugesellschaften geben, sofern das freiwillig gewollt ist, Mietwohnungen in echte Eigentumswohnungen umzuwandeln. Hier unterscheiden wir uns prinzipiell. Sie wollen die Sicherheit des Wohnens und Nutzungsrechte verleihen, wir sind im Grunde für den Slogan, der hier heute schon einmal genannt worden ist: Nicht jedem eine, sondern jedem seine Wohnung.Meine Damen und Herren, ich darf zum Schluß kommen. Die Regierung und auch Sie, Herr Kollege Wurbs, haben sich hier heute abend bedankt, daß wir, die Opposition, der Regierung Gelegenheit zur Stellungnahme geben. Meine Damen und Herren, hier drängt sich die Frage auf: Wird die Bundesregierung nur auf Antrag tätig? Ist es nicht auch Pflicht der Regierung, von sich aus rechtzeitig die eigenen Gedanken auf den Tisch zu legen und sich nicht erst durch die Opposition zwingen zu lassen?
Herr Minister, wir bitten Sie, endlich ein Signal zu setzen. Das Signal steht zur Zeit auf Rot;
Ihre Wohnungsbaupolitik tritt auf der Stelle. Setzen Sie dieses Signal auf Grün, sagen Sie, was machbar ist, fügen Sie aber hinzu, was nicht machbar ist. An unserer konstruktiven Mitarbeit wird es nicht fehlen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Sick.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Sie werden es schon uns überlassen müssen, meine Damen und Herren, für wie wichtig wir diese Sache halten und was wir dazu meinen sagen zu müssen.
Im übrigen, Herr Minister Ravens, wenn ich die Presse richtig verstanden habe, haben Sie gesagt, Sie hätten den Sturzflug der Bauwirtschaft aufgefangen. Das mag in Ihrem Verständnis so sein, aber ich meine — ich will jetzt hier keine schlafenden Hunde wecken —, wenn ich hier Herrn Dr. Ehrenberg sehe, so werden wir den mit ins Geschäft ziehen können.Herr Conradi, Sie meinten, hier einen Mangel an Qualität ausgleichen und sich deshalb hierherstellen zu müssen. Das ist Ihnen sehr schlecht gelungen; denn, wie der Kollege Jahn schon sagte, was die Marktwirtschaft betrifft, so haben w i r sie erfunden, und Sie haben sich sehr schwer getan, die Lektionen zu lernen, die dazugehören.
— Sie, Herr Kollege Ehrenberg, werden nächstes Jahr das Vergnügen haben, dem Wohnungsbauminister, Ihrem Kollegen Ravens, zu helfen, bei einem total desolaten Kapitalmarkt, bei 30 Milliarden DM Staatsschulden dafür zu sorgen, daß Sie einmal Ihre Schulden bezahlen können, daß zweitens die Pferde noch saufen, d. h. daß Sie Geld für Investitionen finden, ohne die Zinsen hochzuschrauben, und daß wir dann nach Möglichkeit noch ein bißchen Geld am Kapitalmarkt für Leute finden, die es frei mit eigenem Risiko einsetzen und zur Finanzierung verwenden wollen. Sehen Sie, da kommt es auf die Marktwirtschaft an, die die Gewähr gibt, daß diese
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Sickfreie Betätigung möglich ist. Daran mangelt es heute.Herr Minister Ravens, Sie sind aber auch noch Raumordnungsminister. Alle diese Dinge haben mehrere Bezüge. Wenn wir sie nicht als Ganzes betrachten, dann gibt es z. B. die passive Sanierung irgendwelcher Räume, die in das Konzept wieder nicht hineinpaßt.
Es würde zu weit führen, darauf im einzelnen einzugehen. Aber wir müssen das im Zusammenhang sehen. Deshalb stellen wir unsere Forderung nach einer Gesamtkonzeption an Sie. Wir wissen, daß die Mittel begrenzt sind. Herr Kollege Mick hat Sie in Anerkenntnis der realen Möglichkeiten aufgefordert, zu sagen, was machbar ist. Wir sind bereit, das zu akzeptieren und dann dort mitzuhelfen.Aber es ist doch nichts erkennbar. Sie sprachen von „Sturzflug". Wie war das denn bisher? Die Maschine der Bundesregierung befindet sich im Blindflug und weiß nicht, wohin. Sie haben die Maschine aus dem Sturzflug auf einen Acker abgefangen. Meine Damen und Herren, bei dieser desolaten Wirtschafts- und Finanzpolitik war das natürlich keine Landebahn. Da konnten Sie also nur eine Bruchlandung machen, so, wie es Ihnen dann auch geschehen ist.Herr Minister und Herr Schwedler, Sie waren es, glaube ich, die ganz richtig gesagt haben, daß wir von überzogenen Erwartungen herunterkommen müssen. Diese überzogenen Erwartungen gab es doch nicht bei uns. Diese überzogenen Erwartungen haben Sie doch gehegt.Kommen Sie doch auf den berühmten Teppich zurück, von dem wir reden. Dann können Sie mit unserer Hilfe rechnen. Wir sind gerne bereit, die Dinge in Ordnung zu bringen, aber eben auf dem Boden der Marktwirtschaft, d. h. frei, so weit wie möglich— wobei wir Notwendigkeiten einsehen —, aber nicht durch Institutionalisierung, Kollektivierung und ein bißchen Sozialisierung.
— Herr Kollege Ehrenberg, dann wären wir bei einem Zustand, den wir nicht wollen.Aber lassen Sie uns dies gemeinsam anpacken. Dann wollen wir dabei helfen. Wenn das das Ergebnis sein sollte, dann treffen wir uns an irgendeinem Tage bei Philippi mit der begründeten Erwartung, daß es besser geworden ist, wieder.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Debatte.
Wir haben noch die Überweisung des Entschließungsantrags auf Drucksache 7/3631 vorzunehmen. Es ist beantragt, diesen Entschließungsantrag an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau — federführend — und an den Ausschuß für Wirtschaft und den Finanzausschuß — mitberatend — zu überweisen. Wer diesem Vorschlag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Es ist so beschlossen.
Ich rufe nunmehr Punkt 12 der Tagesordnung auf:
Zweite Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes
— Drucksache 7/2467 —
a) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 7/3309 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. von Bülow
b) Bericht und Antrag des Finanzausschusses
— Drucksache 7/3308 —
Berichterstatter: Abgeordneter Halfmeier
Wünscht der Herr Berichterstatter das Wort? — Der Berichterstatter wünscht nicht das Wort. Dann eröffne ich die Aussprache.
Das Wort hat der Abgeordnete Becker.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach dieser langen Wohnungsbaudebatte, bei der sich alle Beteiligten für die soziale Marktwirtschaft eingesetzt haben, kommen wir nun zu einem anderen Thema, nämlich zu der Mehrwertsteuerentlastung der Tageszeitungen. Wie Sie aus dem Bericht von Herrn Halfmeier ersehen, handelt es sich hier um eine Frage, bei der zwischen den einzelnen Fraktionen außerordentliche Kontroversen bestehen.Obwohl die wirtschaftliche Situation der Tageszeitungen in unserem Land von Monat zu Monat schlechter wird, hatte es die Koalition für richtig gehalten, den Antrag der Opposition, den vorliegenden Gesetzentwurf noch im April zu behandeln, abzulehnen. Das war offensichtlich ein wahltaktisches Manöver. Wir sprechen erst heute, nach der Wahl, über diese Frage, weil wohl die Koalition den Eindruck hatte, daß diese Frage in der Öffentlichkeit zu einer negativen Reaktion führen müßte.Inzwischen hat sich herausgestellt, daß die wirtschaftliche Lage der Tageszeitungen tatsächlich alarmierend geworden ist. In einer von der Bundesregierung angeforderten betriebswirtschaftlichen Untersuchung des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger, welche seit dem März des Jahres vorliegt, wird darauf klar und eindeutig hingewiesen. Herr Klaus Detlef Funke, Mitglied der Medienkommission der SPD, hat es für nötig gehalten, die Daten dieser Untersuchung als veraltet und die Erhebungsmethode als irreführend zu bezeichnen. Dabei ist Herrn Funke entgangen, daß die betreffende Treuhandgesellschaft von der Bundesregie-
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Dr. Becker
rung ausgesucht worden war und daß die Bundesregierung einen Teil dieses Gutachtens auch noch finanziert hat.Es wäre interessant, von einem Vertreter der Bundesregierung zu hören, ob auch die Bundesregierung diesem Gutachten mißtraut. Ich möchte das aber nicht annehmen, weil es einen außerordentlich guten fachlichen Eindruck macht.Nach dieser Untersuchung arbeiteten im dritten Quartal 1974 von 163 Abonnementstageszeitungen 87 mit Verlust. Die Existenz vieler kleiner und mittlerer Tageszeitungen ist dadurch bedroht. Es drängt sich die Frage auf, ob wir von der für die Demokratie so wichtigen Vielfalt der Presse Abschied nehmen müssen, wenn nicht bald einschneidende Maßnahmen ergriffen werden.Trotz Preiserhöhungen der Zeitungen konnten die erhöhten Kosten des Papiers, welches in eineinhalb Jahren um 100 % teurer wurde, die permanent steigenden Lohn- und Postkosten nicht aufgefangen werden. Außerdem ging die Zahl der Anzeigen rapide zurück. Es ist besonders zu beachten, daß die Personalanzeigen bei dem größten Teil der Zeitungen, besonders bei den Regionalzeitungen, im Vorjahr um 50 % zurückgegangen sind und in den ersten vier Monaten dieses Jahres um weitere 40 %.Nach der Auskunft von Fachleuten im Verlagswesen sind steigende Stellenanzeigen immer ein Indiz für einen kommenden Aufschwung der Wirtschaft. Die zurückgehenden Zahlen von Stellenanzeigen in den letzten Monaten sind ein weiteres Zeichen dafür, daß sich der von den Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung vorausgesagte Aufschwung in naher Zukunft noch nicht abzeichnet.
Bekanntlich war die Koalition bestrebt, die Bevölkerung über die tatsächliche Wirtschaftslage Ende April dadurch zu täuschen, daß sie die wichtigsten Daten, wie etwa die Erhöhung der Arbeitslosigkeit in Nordrhein-Westfalen und die Erhöhung der Kurzarbeiterzahlen in der Bundesrepublik, verheimlichte, Wir haben ja heute in der Fragestunde darüber gesprochen. Der erstaunte Wähler erfuhr dann erst am 5. Mai 1975, nachdem er seine Stimme schon abgegeben hatte, daß diese Daten für die Bundesrepublik ungünstiger geworden sind.Übrigens sind durch die krisenhafte Lage die Zweitzeitungen in den Städten besonders gefährdet. Ich weiß nicht, ob allgemein bekannt ist, daß Großstädte wie Augsburg, Kiel, Koblenz, Mainz nur noch eine einzige Tageszeitung haben, was für unsere demokratische Entwicklung außerordentlich bedauerlich ist.Die bisherige Haltung — ich betone: die bisherige Haltung — der Regierung zu diesen Fragen vermittelt den Eindruck, als ob sie nicht das nötige Interesse an einer Vielfalt von Zeitungen hätte.
Im Gegensatz dazu haben die SPD- und FDP-Fraktionen im Landtag Nordrhein-Westfalen ihre Regierung ersucht, zur Erhaltung der Vielfalt des Pressewesens den Vorschlag einer Mehrwertsteuererleichterung wie in den anderen Ländern der Europäischen Gemeinschaft gegenüber dem Bund weiter zu verfolgen. In diesem Zusammenhang empfehle ich die Lektüre der ausführlichen Reden der Minister Weyer und Riemer im Landtag von Nordrhein-Westfalen. Hier haben die Landtagsfraktionen die Bundestagsfraktionen also gebeten, diese Steuersenkung herbeizuführen. Aber offensichtlich besteht nicht der richtige Kontakt zwischen den Genossen in Düsseldorf und den Genossen in Bonn.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Halfmeier?
Bitte schön, Herr Halfmeier!
Herr Kollege Dr. Becker, können Sie mir bestätigen, daß außer den Ländern Baden-Württemberg und Saarland alle CDU/CSU-regierten Länder im Finanzausschuß des Bundesrates mit den Stimmen der Finanzminister diesen Gesetzentwurf abgelehnt haben,
daß sich aber dieser Sachverstand zu Hause bei den eigenen Landesregierungen nicht durchsetzen konnte, so daß man also schließen muß, daß bei diesem Gesetzentwurf der Sachverstand auf der Strecke geblieben ist?
Herr Halfmeier, es kommt ja schließlich und endlich nicht auf das Votum der Finanzminister an, sondern auf das politische Votum der Kabinette, und die Kabinette haben politisch votiert, auch das Kabinett Nordrhein-Westfalen, und sie haben diese wichtige politische Frage entschieden und sind hier über das Votum der Finanzminister hinausgegangen. Das passiert in diesem Hause auch schon einmal.
Die Umsatzsteuerbefreiung der Tageszeitungen würde im übrigen nicht, wie von der Koalition behauptet wird, nach dem Gießkannenprinzip vor sich gehen, sondern würde denjenigen Verlagen helfen, die nur geringe Gewinne ausweisen, und vor allem denen, die keine Gewinne ausweisen. Bei Zeitungen, die noch gute Rendite haben, erhöht die Ersparnis an Mehrwertsteuer den Gewinn, so daß von diesen Beträgen dann entsprechend Ertragsteuern — bei den Großbetrieben bis zu 70 % — gezahlt werden. Bei Verlagen, die sich nicht rentieren, wird aber diese Senkung von 5,5 % Umsatzsteuer voll und ganz durchschlagen.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975 11967
Dr. Becker
Bei der Behandlung im Finanzausschuß des Deutschen Bundestages wurde darauf hingewiesen, daß eine Steuerbefreiung unter Beibehaltung des Vorsteuerabzugs in Widerspruch zu den EG-Vorschriften über die Harmonisierung der Umsatzsteuer stehen würde. Wir haben trotzdem, meine Damen und Herren, die Nullstufe vorgeschlagen, weil eine große Zahl von EG-Ländern diese Nullstufe für Zeitungen eingeführt hat. Das gilt für Belgien, Großbritannien, Frankreich, Italien und die Niederlande.Nachdem nun neue Fakten vorliegen, hoffen wir, daß sich die Koalitionsfraktionen trotz der bisher vorgetragenen Bedenken dazu entschließen können, einer Reduzierung des Steuersatzes zugunsten der Tageszeitungen zuzustimmen. Sie würden damit der Meinungsvielfalt im Pressesektor und damit der freien Information unserer Bürger einen guten Dienst leisten.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Halfmeier?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte schön, Herr Halfmeier!
Herr Kollege Dr. Becker, ist Ihnen bekannt, daß die zweite Umsatzsteuerrichtlinie der EG es ausdrücklich untersagt, einen solchen Steuersatz von 0 % oder ähnlich neu einzuführen, daß das also zwingendes EG-Recht ist, während das, was die anderen Länder haben, schon vorher bestand, so daß es nicht gegen das EG-Recht verstößt, wohingegen wir gegen EG-Recht verstoßen würden, wenn wir dies jetzt neu einführten?
Bitte Halfmeier, wir sind der Auffassung, daß wir diesen Nullsatz einführen können, weil unsere wesentlichen Konkurrenzländer, auch die Konkurrenzländer in der Tageszeitung, diesen Nullsatz haben. Aber ich komme jetzt noch im letzten Teil meiner Rede auf einen — ich möchte sagen — Vermittlungsvorschlag.
— Wir sind der Auffassung, daß wir diesen Nullsatz einführen können, weil die anderen wichtigen Länder, wie ich eben sagte, ihn auch haben.
Zuni Schluß lassen Sie mich noch eine Bemerkung machen: Sollte die Mehrheit des Hohen Hauses dem Votum der Mehrheit des Finanzausschusses folgen und die volle Befreiung der Zeitungsvertriebserlöse von der Umsatzsteuer ablehnen, so erkläre ich hiermit, daß wir bereit wären, die neuesten Vorschläge des Bundes Deutscher Zeitungsverleger, die eine Reduzierung des Steuersatzes auf 1,5 % vorsehen, zu prüfen. Damit würde die EG-Frage, die wir eben diskutiert haben, hinfällig werden. Wir nehmen an, daß die Koalitionsfraktionen oder auch die Bundesregierung in der nachfolgenden Diskussion auch hierzu Stellung nehmen werden.
Das Wort hat der Herr Staatssekretär Baum.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung, Herr Kollege Becker, stimmt mit der Opposition darin überein, daß die im Vergleich zum Ausland bei uns noch erfreulich breite Meinungsvielfalt in der deutschen Presse erhalten bleiben muß. Aber ebenso wie die Mehrheit des Finanzausschusses ist die Bundesregierung der Meinung, daß die Umsatzsteuerbefreiung unter Beibehaltung des Vorsteuerabzugs keinen geeigneten Weg darstellt, um den wirtschaftlichen Schwierigkeiten einzelner Presseunternehmen zu begegnen.
Das jetzt vorliegende Ergebnis der Erhebung des Bundesverbandes der Deutschen Zeitungsverleger zeigt, daß die Lage am Zeitungsmarkt sehr unterschiedlich ist. Unabhängig von allen EG-rechtlichen Bedenken, auf die der Herr Kollege Halfmeier soeben schon hingewiesen hat, und unabhängig von allen steuersystematischen Bedenken ist die Bundesregierung durch diese Erhebung in ihrer Meinung eindeutig bestätigt worden, daß das von der Opposition befürwortete Gießkannenprinzip kein geeignetes Mittel ist, der Zeitungspresse zu helfen. Die Bundesregierung befürchtet außerdem, daß durch die Mehrwertsteuerbefreiung die Pressekonzentration verstärkt wird, weil umsatzstarke Unternehmen begünstigt werden würden. Zu diesem Punkt werden sicher noch im einzelnen Ausführungen von den Kollegen gemacht werden.Es besteht Übereinstimmung bei allen Parteien dieses Hauses in dem Ziel, eine freie Presse zu er- halten. Unterschiedliche Auffassungen bestehen bei Koalition und Opposition, was Methode und Wirksamkeit der vorgeschlagenen Hilfsmaßnahmen anbelangt. Doch es scheint mir wichtig zu sein, wenigstens den Grundkonsens festzuhalten.Worum geht es? Wir haben jetzt ein klareres Bild über die Situation als noch in den letzten Mediendebatten. Nach einigen Schwierigkeiten und Verzögerungen, die die Bundesregierung nicht zu vertreten hat, liegen jetzt die Ergebnisse der Erhebung des BDZV, die die ersten drei Quartale 1974 im Vergleich zu 1973 erfassen, vor. Sie hat einen Repräsentationsgrad von 70 % in den oberen Auflagenklassen. Auch der Prüfungsbericht der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft liegt nun auf dem Tisch. Die Bundesregierung geht im übrigen davon aus, daß der Verlegerverband diese Erhebung fortschreibt und die gewonnenen Ergebnisse zur Verfügung stellt. Darüber hinaus gibt es ergänzende Unterlagen und wirtschaftliche Daten aus dem In- und Ausland. Eine sorgfältige Analyse dieser Materialien, die leider alle noch nicht eine regelmäßige Pressestatistik hinsichtlich Vollständigkeit und klarer Abgrenzung der
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11968 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Parl. Staatssekretär BaumTatbestände ersetzen können, ergeben folgendes Bild.Zunächst ist allgemein festzustellen, daß die ohnehin vorhandenen strukturbedingten Schwächen des Pressemarktes durch die gegenwärtige konjunkturelle Situation verschärft worden sind. Wie stark die wirtschaftliche Situation der einzelnen Zeitungen vom Gesamtdurchschnitt abweichen kann, ergibt sich bereits aus dem Vergleich der gruppendurchschnittlichen Ergebnisse in den einzelnen Auflagengrößenklassen für die Gewinnbetriebe einerseits und für die Verlustbetriebe andererseits. Sie schwanken z. B. im dritten Quartal 1974 von 3,58 DM Gewinn bis zu 2,50 DM Verlust je Monatsstück.Im einzelnen ist ferner festzustellen, daß die statistischen Werte der Abonnements-Tageszeitungen von Gruppe zu Gruppe und offensichtlich auch innerhalb einzelner Gruppen von Tageszeitung zu Tageszeitung der Höhe nach außerordentlich unterschiedlich sind, so daß es keine Zeitungsgruppe gibt, der ausschließlich oder schwerpunktmäßig durch ein auf sie zugeschnittenes Sonderprogramm geholfen werden könnte oder müßte. Zwar heben sich die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Zeitungen in Zweitanbieterposition von der Lage der übrigen Zeitungen ab; jedoch rechtfertigt dies im Hinblick auf eine nahezu ebenso schwierige wirtschaftliche Situation einiger anderer Zeitungsgruppen, wie z. B. der mit dem Merkmal „Erscheinungsort Großstadt", kein ausschließliches Sonderprogramm für Zweitzeitungen.Einzelne Zeitungsgruppen weichen erheblich nach oben und unten vom Gesamtdurchschnitt ab. Die durchschnittliche Umsatzrendite der einzelnen Zeitungsgruppen, d. h. das Verhältnis Umsatz zu Gewinn oder Verlust, variierte 1973 von plus 18,1% bis minus 2,5 %, 1974 von plus 12,5 % bis minus 7,1%. Es gibt also keine Zeitungsgruppe und Auflagengrößenklasse, die n u r Verluste aufweist. Manche Verleger haben offensichtlich durch Selbsthilfe, Rationalisierungs- und Sparmaßnahmen wirtschaftliche Schwierigkeiten besser gemeistert als andere.Ebenso gibt es sicher auch unternehmerische Fehldispositionen. Durch das Zusammentreffen konjunktureller und struktureller Faktoren sind jedoch offenbar eine Reihe von Presseunternehmen ohne eigenes Verschulden in eine schwierige Lage geraten. Als Folge dieser besonders schwierigen Situation auf dem Pressemarkt ist eine Verschärfung des Wettbewerbs zu befürchten. Wie schon aus dem am 15. Mai 1974 dem Hause vorgelegten ersten Medienbericht hervorgeht, dauert der seit Jahren anhaltende Konzentrationsprozeß fort.Mit Besorgnis beobachtet die Bundesregierung sehr genau auch den anhaltenden Verdrängungswettbewerb, der schon zum Verschwinden einiger selbständiger Zeitungen geführt hat. Ich nenne hier nur den neuralgischen Punkt Ruhrgebiet. Hier liegt auch eine besonders wichtige Aufgabe des Verbandes der Zeitungsverleger selbst.Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann die Vielfaltgarantie des Art. 5 unseres Grundgesetzes eine Pflicht des Staates auslösen, Gefahren von Meinungsmonopolen durch aktives Handeln abzuwehren. Die Bundesregierung bejaht die wirtschaftliche Unabhängigkeit der privatwirtschaftlich organisierten Presse. Sie geht davon aus, daß Art. 5 unseres Grundgesetzes dem Staat auch besondere Veranlassung gibt, sich mit der wirtschaftlichen Situation der Presse zu befassen, wenn deren Existenz ernsthaft gefährdet ist. Das eherne Gesetz der Marktwirtschaft, daß am Ende nur die wirtschaftlich Stärksten am Markt bleiben, kann hier nicht gelten.
Auf der anderen Seite, meine Damen und Herren, dürfen marktwirtschaftliche Grundsätze — sie werden ja von den Verlegern selbst immer wieder mit Recht betont — nicht außer acht gelassen werden. Schon deshalb und auch aus verfassungsrechtlichen Gründen stellt eine auf Dauer staatlich subventionierte Presse keine Lösung des Problems dar.Pressehilfe erfordert ein tatkräftiges und zugleich pragmatisch-behutsames Konzept, das von der Presse selbst mitgetragen wird. Dem Staat — das betone ich, weil einzelne Sprecher der Opposition immer etwas anderes unterstellt haben -
dürfen aus der Tatsache wirtschaftlicher Hilfsmaßnahmen für die Presse — Herr Kollege Klein — keine direkten oder auch nur indirekten Möglichkeiten der Beeinflussung einzelner Zeitungen erwachsen. Dies wäre mit Geist und Buchstaben unserer Verfassung nicht vereinbar, und in dieser Richtung hat sich niemals jemand aus unseren Fraktionen oder aus der Regierung geäußert.Bei ihrer Überlegung für eine wirksame Pressehilfe im Jahre 1975 ist die Bundesregierung schließlich von der Tatsache ausgegangen, daß das Jahr 1973 wirtschaftlich ein ganz besonders gutes Jahr für die deutsche Presse gewesen ist und es grundsätzlich jedem Wirtschaftszweig zumutbar ist, nach guten Jahren auch Durststrecken zu überwinden.Dennoch ist die deutsche Tagespresse, meine Damen und Herren, wie schon dargelegt, in einer besonderen Situation. Die Bundesregierung sieht sich daher veranlaßt, folgendes Programmkonzept für wirtschaftliche Hilfen für Tageszeitungen vorzulegen.
Das Konzept besteht aus einem Sofortprogramm und einem Dauerprogramm. Das Sofortprogramm schließt an die Entscheidung des Bundeskabinetts vom April 1974 an und umfaßt folgende Punkte:Erstens. Die Erweiterung des ERP-Programms. Das ERP-Programm ist erweitert worden. Jetzt können auch Presseverlage, deren tägliche Verkaufsauflage die Grenze von 160 000 übersteigt, gefördert werden. Die Bundesregierung entspricht hiermit Wünschen der Presse. Der Mittelstandscharakter des Programms bleibt gewahrt.Zweitens. Die Pressehilfen im Rahmen des Mittelstandsprogramms der Kreditanstalt für Wiederauf-
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Parl. Staatssekretär Baumbau werden ausgebaut. Insgesamt sind im Rahmen dieser Sofortmaßnahmen 100 Millionen DM bereitgestellt. Der Katalog der Verwendungszwecke für zinsgünstige Kredite wird gezielt entsprechend den konkreten Bedürfnissen der Presse erweitert. Hierbei handelt es sich insbesondere um Kredite für bestimmte Anlaufkosten, für Innovations- und Rationalisierungsmaßnahmen, etwa für neue Formen einer Vertriebskooperation.Drittens. Wir prüfen, wie die Aufnahme betriebswirtschaftlich notwendiger Kredite durch Zinszuschüsse im Rahmen der KW-Programme erleichtert werden kann. Dadurch würde zweierlei erreicht: einmal die Ausstattung mit dringend benötigter Liquidität; zum anderen würden die niedrigen Zinssätze zu der dringend notwendigen Kostenentlastung beitragen.Viertens. Die Bundesregierung prüft, wie die Möglichkeiten zur Übernahme von Bürgschaften für Kredite an Presseunternehmen erweitert und im Hinblick auf die speziellen Gegebenheiten im Bereich der Presse verbessert werden können. Hierbei erwartet die Bundesregierung — ebenso wie bei den Zinsverbilligungen — von den Bundesländern, daß sie die in ihrem Förderungsprogramm gegebenen Möglichkeiten ebenfalls voll zugunsten der Presse ausschöpfen und auf diese Weise zu einer wirksamen Unterstützung beitragen.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Sofort. — Diese Erwartung ist um so mehr berechtigt, als verschiedene Länder bereits Grundsatzbeschlüsse in dieser Richtung gefaßt haben. — Herr Kollege!
Herr Staatssekretär, Sie sprechen von den Ländern. Finden Sie nicht, daß Ihre Vorschläge angesichts des Vorschlages des Bundesrates, den wir vertreten haben und der vom Mai 1974 stammt, sehr spät kommen?
Herr Kollege, ich lehne ja Ihren Vorschlag ab. Es war Voraussetzung für unseren Vorschlag, daß wir zunächst gründlich prüfen, wie die Situation ist. Dazu haben wir eine Erhebung abgewartet, die von den Zeitschriftenverlegern vorgenommen worden ist. Wir haben sie ausgewertet und haben jetzt ein klares Bild. Dieses Bild ergibt eben gerade nicht, daß Ihr Vorschlag gerechtfertigt ist.
Denn wir können mit Ihrem Vorschlag nicht differenzieren.
— Das ist in der Tat eine richtige Bemerkung, auch wenn man sich sonst die Besetzung ansieht.
Fünftens. Die Bundesregierung hat die Vorbereitung eines Gesetzes eingeleitet, durch das Presseunternehmen in das Investitionszulagengesetz sektoral einbezogen werden. Unternehmen, deren Investitionskraft geschwächt ist, sollen dadurch finanziell unterstützt und zur Fortführung ihrer verlegerischen Aufgabe ermutigt werden. Über mehrere Jahre sollen danach solche Unternehmen für förderungsberechtigte Investitionen steuerfreie Zulagen von 7,5 % der Investitionskosten erhalten können, allerdings muß eine sogenannte Prosperitätsklausel eingebaut werden.Die Bundesregierung, meine Damen und Herren, versteht dieses Sofortprogramm als Übergangsmaßnahme. Kernstück ihres Programmkonzepts ist die Errichtung einer Pressestiftung in einem sogenannten Dauerprogramm oder — noch besser und deutlicher gesagt, und damit treffen sich unsere Worte, Herr Kollege Becker — eine Stiftung zur Erhaltung von Meinungsvielfalt. Es soll eine rechtsfähige Stiftung des öffentlichen Rechts errichtet werden, und zwar durch Bundesgesetz. Zweck der Stiftung soll es sein, die Voraussetzungen zur Erhaltung der Meinungsvielfalt im Bereich der Tageszeitungen zu verbessern. Die Stiftung soll mit einem Vermögen ausgestattet werden, das sich u. a. aus folgenden Bestandteilen zusammensetzt:
erstens aus Mitteln aus dem Bundeshaushalt; zweitens aus Zuwendungen der Zeitungsverleger; drittes aus weiteren Zuwendungen aus anderen Quellen.Die Bundesregierung versteht die Pressestiftung als Hilfe zur Selbsthilfe. Dies ist nach ihrer Meinung die in jeder Hinsicht verfassungskonforme Lösung. Über die Höhe des vom Bund aufzubringenden Teiles des Stiftungsvermögens wird die Bundesregierung nach Verhandlungen mit den Zeitungsverlegern endgültig entscheiden. Sie geht davon aus, daß sich die Zeitungsverleger in angemessener Weise beteiligen. Die Stiftung ist also ein Angebot an die betroffene Wirtschaft, also hier an die Zeitungsverleger.Die Bundesregierung greift mit diesem Vorschlag Anregungen und Forderungen sowohl des Bundesverbandes der Deutschen Zeitungsverleger als auch des Deutschen Journalistenverbandes auf. Allerdings gehen die Forderungen im einzelnen in eine andere Richtung, wie hier schon vom Kollegen Bekker angedeutet wurde. Die Bundesregierung wird die Verbände der Verleger und der Journalisten in Kürze zur Erörterung eines vorbereiteten Gesetzentwurfs einladen.
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11970 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Parl. Staatssekretär BaumDie Bundesregierung wendet sich auch an die Bundesländer mit der Aufforderung, eine Beteiligung an der Stiftung zu prüfen. Einzelne Bundesländer haben ja gerade in letzter Zeit ein starkes Interesse an der wirtschaftlichen Situation der Tagespresse gezeigt und dazu Vorschläge gemacht.Nach Auffassung der Bundesregierung, meine Damen und Herren, soll die Stiftung von der Presse weitgehend selbst verwaltet werden. Es muß - ich wiederhole das noch einmal — jeder Eindruck vermieden werden, daß der Staat auf die Vergabe der Mittel Einfluß nimmt. Die Vergabekriterien sollten präzise im Gesetz festgelegt werden. Ziel der Stiftung soll es sein, unter besonders günstigen Bedingungen Zuschüsse, Darlehen und andere Hilfen zu gewähren. Antragsberechtigt sollen Unternehmen sein, die Tageszeitungen herausgeben, unter der Voraussetzung, daß die Tageszeitung einen bestimmten Verlust aufweist. Verschuldungsgrad und Ertragslage des Unternehmens müssen berücksichtigt werden. Die Erfahrungen, die mit der bestehenden Selbsthilfeeinrichtung Wirtschaftliche Genossenschaft der Presse gewonnen wurden, können in die Stiftung eingebracht werden.Die Pressestiftung sollte dazu beitragen, auf Dauer strukturelle Schwierigkeiten auf dem Pressemarkt zu beseitigen oder doch zu vermindern. Dazu gehört auch die noch zu prüfende Mitwirkung der Stiftung bei der Schaffung eines bundesweiten kooperativen Vertriebsverbunds auf dem Wege über regionale Vertriebsnetze. Diese würden in vielen Fällen erst den Bezug von Presseerzeugnissen ermöglichen und so Wettbewerb und Vielfalt erhalten und schaffen.Hier wäre auch zu prüfen, meine Damen und Herren, ob sich ein Verbund mit dem Postzeitungsdienst herstellen läßt. Das wäre jedenfalls wünschenswert. Auch dazu wird die Bundesregierung allen Beteiligten in Kürze einen Vorschlag unterbreiten. Die Verleger sind jedenfalls aufgerufen, neue Formen und Modelle einer Vertriebskooperation zu erproben, um auf diese Weise zu einer Senkung der hohen Betriebskosten zu gelangen.Das Konzept einer „Stiftung Meinungsvielfalt" vermeidet den in einer Mehrwertsteuerlösung liegenden undifferenzierten Gießkanneneffekt. Die Maßnahmen der Stiftung sind sowohl kurzfristig wirksam als auch geeignet, strukturstützend zu wirken. Eine dirigistische Einflußnahme auf die Presse ist ganz und gar ausgeschlossen.Die Bundesregierung wird die angekündigten Sofortmaßnahmen schnellstens in die Wege leiten. Soweit sie der Zustimmung der gesetzgebenden Körperschaften bedürfen, werden die Entwürfe noch vor der Sommerpause vorliegen.Ich komme zum Schluß. Diese sozialliberale Bundesregierung verfolgt das Konzept einer positiven Medienpolitik. Damit ist eine Politik gemeint, deren Ziel es ist, Freiheit und Unabhängigkeit der Presse vor allen nur denkbaren Angriffen und Beeinträchtigungen zu schützen. Die Gefährdung ist heute anderer Art als in den Zeiten, da der Staat die Freiheit der Presse bedroht hat. Heute geht es erstens umdie Sicherung von Meinungsvielfalt insbesondere im lokalen Bereich, zweitens um die notwendige Unabhängigkeit der in den Medien Tätigen, drittens nicht zuletzt um die wirtschaftliche Unabhängigkeit der privatrechtlich organisierten Presse. In diesem Bemühen werden sich diese Bundesregierung und diese Koalition von niemandem übertreffen lassen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Engholm.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich kurz fassen, da eine lange Rede weder Ihnen noch mir Vergnügen bereitete. Es ist bereits gesagt worden, daß es ganz nett gewesen wäre, den Bundesrat heute abend vertreten zu sehen. Ich meine, die leeren Bänke, die es einem unmöglich machen, den Herren die Reverenz zu erweisen, machen deutlich, mit welchem Ernst von dieser Seite der Antrag betrieben wird.
Herr Kollege Dr. Becker hat einleitend auf einige Äußerungen von Herrn Funke hingewiesen. Ich muß zu Ihrem Schrecken nun noch sagen: Herr Funke ist auch noch ein Jungsozialist, was Sie vermutlich nicht gewußt haben.
Es wäre ganz gut, wenn Sie nachlesen würden, was Herr Funke an dieser oder jener Stelle gesagt hat; es zeugt von etwas profunderer Sachkenntnis, als sie manchmal auf Ihrer Seite gehandelt wird.Herr Funke hat die Richtigkeit der Prognosen bezweifelt, die der Bundesverband der Zeitungsverleger im letzten Frühjahr für die Entwicklung des ganzen Jahres vorgelegt hat. Seine neueren Zahlen zeigen, daß in der Tat die Prognosen völlig an der Entwicklung vorbeigegangen sind.Zum zweiten hat Herr Funke darauf hingewiesen, daß die Repräsentativität der Zahlen und Daten, die jetzt der Bundesregierung vorgelegt worden sind, durchaus in Frage gestellt werden kann, weil einige der Auflagenklassen von der Besetzung her nicht ausreichend ausgestattet sind.Zum dritten hat er nur darauf hingewiesen, daß es Organe wie etwa das „Handelsblatt" oder den Herrn Hutsatz gibt, der in einem neueren Betriebsvergleich darauf aufmerksam gemacht hat, daß die jetzige Entwicklung der Zeitungserlöse günstiger ist als im dritten Quartal 1974. Das geht aus dieser Umfrage hervor. Dieses nur vorweg.Meine Damen und Herren, die Sozialdemokraten begrüßen im Grundsatz die Vorschläge, welche die Bundesregierung gemacht hat. Wir glauben nämlich, daß die Erweiterung des ERP-Kreditrahmens, daß die Fortführung und die Erweiterung des KW-Programms, daß eine Investitionszulagenregelung und auch der Vorschlag der Errichtung einer Pressestiftung drei wesentliche Bedingungen erfüllen, die wir einer vernünftigen Pressehilfe zugrunde legen.
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EngholmDie Bedingungen sind: Erstens. Durch diese Maßnahmen wird eine starke Eigeninitiative der Presse gefördert, weil die Maßnahmen absolut — darauf hat Herr Baum zu Recht hingewiesen — staatsfern sind, d. h. rein ökonomisch motivierte Hilfen zur Selbsthilfe sind, keine publizistischen Eingriffe, keine publizistischen Manipulationen.Zweitens halten wir diese Lösungen für richtig, weil sie der Presse ein hohes Maß an Selbstverantwortung übertragen und ihren Organen auch einen großen Spielraum geben, um endlich einmal untereinander solidarisches und hilfreiches Verhalten zu lernen und zu exerzieren.Zum dritten glauben wir, daß die Maßnahmen, die hier vorgeschlagen worden sind, ordnungspolitisch in sich stimmig sind und von keiner Seite angegriffen werden können. Das müßten besonders Sie, die Sie immer vorgeben, die Marktwirtschaft allein in Ihrem Schoße zu bergen, anerkennen.Auf der anderen Seite müssen wir den Vorschlag des Bundesrates, der sich wesentlich mit den Vorstellungen der Union deckt, ablehnen, und zwar ebenfalls aus vier Gründen. Wir meinen, daß dieser Vorschlag der Mehrwertsteuerlösung starken ordnungspolitischen Bedenken begegnen muß, da er ganz sicher die Kostenorientiertheit der unternehmerischen Entscheidung im Verlagsbereich partiell aufhebt. Wir glauben, daß die Mehrwertsteuerlösung durch die Einführung eines neuen Steuersatzes eine Systemkomplizierung im Steuerbereich darstellt. Wir glauben darüber hinaus, daß eine solche Mehrwertsteuerreduzierung die Begehrlichkeit einer ganzen Reihe anderer Wirtschaftsbereiche wecken würde, und Sie werden sicher sein, daß wir diese nicht befriedigen können.
Schließlich glauben wir, daß die Tatsache, daß es sich hier um ein pures Gießkannenprinzip handelt, nach dem Arme und Reiche, Kleine und Große, Zeitungen mit Alleinstellung, solche mit Erststellung, solche mit Mehrstellung ausnahmslos und gleich mit der staatlichen Subventionsgießkanne behandelt werden, zur Ablehnung führen muß, da wir das Prinzip, es auf Strukturverbesserungen anzulegen, befürworten. Dies sind die Gründe, aus denen wir den Vorschlag des Bundesrates ablehnen müssen.Ich bin gewiß, daß die CDU/CSU an den von Herrn Baum vorgetragenen Lösungsmöglichkeiten wiederum Kritik üben wird. Diese Kritik ist für uns nicht neu. Nur, wenn man fragt, was die Unionsparteien an konstruktiven Vorschlägen in den letzten Mediendebatten diesem Hause vorgelegt haben, muß ich ganz ehrlich sagen, daß das meiste, was aus dieser Ecke gekommen ist, für mich immer so etwas wie eine kleine Medienpolitik für Verlegerohren gewesen ist. Da war für mich zuviel an Ergebenheitsofferte drin, zuviel an Liebedienerei; da war für mich im Grunde viel zuwenig der Mut zum Unbequemen, der Mut zum Zupacken bei den wirklich diffizilen Problemen, die sich in dieser Landschaft zeigen. Insofern werden wir, glaube ich, mit Ihrer Kritik fertig werden.Wir stimmen dem Vorschlag der Regierung zu und werden uns gemeinsam mit dem Koalitionspartner darum bemühen, daß die Maßnahmen zügig in die Praxis umgesetzt werden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Hirsch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer zu dieser späten Stunde zu einer langen Rede ausholen wollte, würde sich mit Recht
: Unbeliebt machen!)
— nicht nur unbeliebt machen, sondern sich auch den Ärger dieses Hauses zuziehen.
Ich kann dem Kollegen Engholm in einem Punkt nicht zustimmen, wenn er nämlich aus den kurzfristigen Schwankungen der Ergebnisse der Zeitungen Konsequenzen herleiten will, die sich auf die Konzentrationsentwicklung überhaupt beziehen. Denn Tatsache ist, daß sich die Konzentrationsentwicklung ja in erschreckendem Maße auch in Zeiten wirtschaftlicher Hochkonjunktur fortgesetzt hat. Die Zahlen liegen uns seit langem vor: 1954 hatten wir 225 Vollredaktionen; heute sind es nur noch 121. 1954 gab es in rund 15 % aller Kreise nur eine Zeitung; heute nähern wir uns mit über 40 % bereits einer sehr hohen Marke, indem nämlich über 30 % der Bevölkerung in Gebieten mit einem Zeitungsmonopol wohnen.
Das Bundesverfassungsgericht hat die Meinungsvielfalt und die Informationsfreiheit als eine der wichtigsten Voraussetzungen der freiheitlichen Demokratie bezeichnet und darauf hingewiesen, daß sich eine Pflicht des Staates denken lasse, Gefahren abzuwehren, die einem freien Pressewesen aus der Bildung von Meinungsmonopolen erwachsen könnten. Es hat also die Möglichkeit einer aktiven Handlungspflicht des Staates angedeutet.
Daraus folgt nach unserer Meinung, daß der Staat handeln muß, wenn durch das Ausmaß der Pressekonzentration die Informations- und Meinungsvielfalt gefährdet ist. — Herr Kollege, um auf Ihren Zwischenruf einzugehen: Die aktive Handlungspflicht des Staates bedeutet doch nicht, daß er blindlings irgendwelche Maßnahmen treffen muß, sondern zu der Handlungspflicht des Staates gehört auch, daß er sich über den Sachverhalt im einzelnen informiert. Sie aber haben durch die Ablehnung des Pressestatistikgesetzes auch das noch verhindern wollen, so daß wir gezwungen waren, uns auf den Weg der Schätzungen und der freiwilligen Erhebungen zu begeben.Die Hilfeleistung für die politische Tagespresse ist eben nicht Hilfeleistung für Verleger oder für Journalisten. Beide sind treuhänderisch Träger
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1 1972 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Dr. Hirschdes Grundrechts der Pressefreiheit, treuhänderisch für die Bürger dieses Staates. Das heißt, daß Unterstützung von in Not geratenen Presseverlagen nicht etwa ein Geschenk oder ein Luxus ist, den man auch lassen könnte, sondern diese Unterstützung ist ein finanzieller Beitrag einer freien Gesellschaft zur Erhaltung ihrer eigenen demokratischen und freien Struktur.Pressehilfe ja, nur wie? Der Erlaß der Mehrwertsteuer scheint auf den ersten Blick, aber eben nur auf den ersten Blick, eine wirksame Maßnahme zu sein. Das erkennt man deutlich, wenn man der Tatsache Rechnung trägt, daß auch in den Ländern, die bei Vertriebserlösen die Mehrwertsteuer auf Null gestellt haben, die Konzentrationsentwicklung gleichwohl in verstärktem Maße fortgeschritten ist. Wenn man sich die Zahlen ansieht, ist klar, warum das so ist. Denn bei Auflagen in der Größenklasse von z. B. 25 000 bis 125 000 Exemplaren haben die Zeitungen, die eine Monopolstellung haben, im Jahre 1974 einen Gewinn von 1,28 DM pro Monatsstück gemacht. Die Erstzeitungen derselben Auflagengröße hatten dagegen nur 0,59 DM, also etwa die Hälfte der Gewinne der Monopolzeitungen. Und die Zweitzeitungen gleicher Größenordnung haben einen Verlust von 0,98 DM pro Monatsstück gemacht. Wenn nun alle diese unterschiedlichen Zeitungstypen die gleiche Steuervergünstigung erhalten, dann ist klar, daß diejenigen, die ohnehin die höchsten Stückerlöse haben, auch den größten Vorteil aus dieser Subvention erlangen würden.
— Ich komme noch auf das Steuerargument. — Damit würden Sie in Wirklichkeit die Konzentrationsbewegung fördern, die Sie zu bekämpfen vorgeben.Nun kommen Sie auf den Vorschlag des BDZV, daß die gewinnbringenden Verlage die nach Steuern verbleibenden Mehrbeträge in eine Art Solidaritätsfonds einbringen. Das ist ein diskussionswerter Vorschlag. Nur meine ich, daß es sich ein Gesetzgeber nicht erlauben kann, seine Entscheidungen mehr oder minder auf eine bloße Absichtserklärung eines Verbandes, die nicht verbindlich ist, abzustellen.
Ich habe nicht nur von dieser Stelle immer wieder darauf hingewiesen, daß der BDZV doch einmal unterschriftsreife Vorschläge vorlegen möge, aus denen man erkennen kann, daß er bereit ist, diesen seinen Vorschlag trotz der bestehenden Interessengegensätze zu verwirklichen. Das Echo war null. Das ist für mich ein Zeichen dafür, daß man auf diesem Wege offenbar nicht vorgehen kann.Die zeitweilige Konjunkturschwäche der Wirtschaft hat die ohnehin bestehenden strukturellen Schwierigkeiten im Wirtschaftsbereich der Presse zugespitzt und deutlicher hervortreten lassen. Darum ist es konsequent, das bereits am 30. April 1974 beschlossene erste Sofortprogramm entsprechend den neuen Erkenntnissen auszubauen und zu erweitern, wie der Parlamentarische Staatssekretär das vorgeschlagen hat.Noch mehr Bedeutung scheint mir allerdings nun das angekündigte Dauerprogramm zu haben, dessen wesentlicher Punkt die Ankündigung eines Gesetzes über eine Pressestiftung ist. Der wesentliche Punkt ist also, eine Einrichtung zu schaffen, die eine Hilfe zur Selbsthilfe der Zeitungen sein kann. Das schiene im Grundsatz ein Schritt in der richtigen Richtung zu sein. Ich sage das aber im Konjunktiv, und zwar deswegen, weil wir heute einen fertigen Gesetzentwurf über eine Pressestiftung eben nicht vorliegen haben, auch nicht die Angabe eines genauen Termins, wann mit der Vorlage dieses Gesetzentwurfes definitiv zu rechnen ist. Hier muß ich nun an die Bundesregierung, aber auch selbstkritisch an dieses Haus die Frage stellen, ob wir damit dem Anspruch, der sich als aktive Handlungspflicht darstellt, tatsächlich voll gerecht werden. Ich hätte — dies sage ich für mich — gern gewußt, welche Summe die Bundesregierung dem Fonds der Pressestiftung für die Anlaufzeit zur Verfügung stellen will.
Ich möchte wissen, mit welcher Intensität dem Entstehen von weiteren Lokal- und Regionalmonopolen entgegengewirkt werden soll.
Ich bin der Überzeugung, daß örtliche Pressemonopole eine Verkürzung der Informationsmöglichkeit für den Leser darstellen, und zwar entgegen der Annahme von Frau Professor Noelle-Neumann, die weitgehend auf methodische und empirische Kritik gestoßen ist. Kühne hat ausgeführt — ich zitiere —:Wenn die Zeitungen in einer lokalen Monopolsituation ihren Lokalteil um etwa 22 % einschränken, in ihren Kommentaren seltener Kritik klar aussprechen und vor allem die Kritisierten kaum beim Namen nennen, so kann man begründet formulieren, daß lokale Monopolzeitungen ihre publizistischen Aufgaben bemerkenswert schlechter erfüllen als Wettbewerbszeitungen.Wir meinen, daß Buchstabe und Geist unserer Verfassung uns zu raschem Handeln zwingen. Wir erwarten die rasche Vorlage eines Gesetzentwurfes über die Pressestiftung.
Wenn die Bundesregierung der Auffassung ist, daß ein Initiativantrag aus der Mitte des Hauses hilfreich wäre, so möge sie das sagen.Die Zeitungsverleger sind aufzufordern, den Innenminister auch weiterhin mit allen nötigen Zahlen und Daten zu versehen, damit die aktuelle Fortschreibung und Fortentwicklung einer wirksamen Wirtschaftshilfe für Zeitungen möglich ist. Die Zahlen, die sich auf das dritte Quartal 1974 beziehen, reichen für lange Zeit ja wohl nicht aus.Wichtig scheint mir aber eines zu sein, nämlich daß die Auseinandersetzungen über die Natur der zu ermöglichenden Abhilfemaßnahmen nicht unter einer zunehmenden Politisierung leiden, die es nicht leichtmachen würde, eine rationelle Erforschung
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975 11973
Dr. Hirschvon Lösungen durchzuführen, die die Rettung einer vielstimmigen Presse unter Vermeidung der Gefahr der Manipulierung ermöglichen. Dieser Gefahr sollten wir gemeinsam begegnen.
Uns treibt gemeinsam die Sorge, daß es in der medienpolitischen Debatte nicht nur um die Presse, sondern eigentlich um eine gemeinsame Grundlage unserer Gesellschaft geht. Das darf nicht Grund zum Streit sein, sondern sollte Grund zur Zusammenarbeit sein.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Klein.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir bitte zwei Vorbemerkungen.Erstens. Es ist hier moniert worden, daß die Vertreter des Bundesrates nicht anwesend sind. Ohne den anwesenden Damen und Herren Parlamentarischen Staatssekretären zu nahe treten zu wollen, möchte ich doch feststellen, daß auch kein Mitglied der Bundesregierung im Hause ist.
Sie möchten sicherlich nicht, daß ich daraus Rückschlüsse auf die Bedeutung ziehe, die die Bundesregierung der Pressefreiheit in diesem Lande beimißt.
Eine zweite Vorbemerkung möchte ich an die Adresse des Kollegen Hirsch richten. Sie, Herr Kollege Hirsch, übernehmen demnächst andere Aufgaben. Ich sage bewußt nicht „wichtigere Aufgaben"; denn dies würde sicherlich der Bedeutung dieses Hauses nicht gerecht. Ich weiß nicht, ob Sie in Ihrer derzeitigen Funktion heute zum letztenmal hier das Wort ergriffen haben; wahrscheinlich werden wir jedenfalls das letzte Mal hier in dieser Ihrer Funktion unsere Klingen kreuzen bzw. gekreuzt haben. Das gibt mir Veranlassung, Herr Kollege Hirsch, Ihnen für Ihre künftige Tätigkeit im Interesse des Landes sowohl als auch in Ihrem persönlichen Interesse viel Erfolg und alles Gute zu wünschen.
Was die Sache angeht, bedaure ich, daß die Äußerungen der Bundesregierung und der Koalition erkennen lassen, daß Sie dem Vorschlag des Bundesrates nicht zu folgen gewillt sind. Auch das, was der Herr Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium des Innern hier heute vorgetragen hat, ist in gewisser Weise ein Zeugnis für die Unentschlossenheit, die jedenfalls bisher die Bundesregierung bei der Frage an den Tag gelegt hat, was in unserer Angelegenheit zu tun ist. Herr Kollege Becker hat bereits auf die vielfältigen Widersprüche in Äußerungen von Koalitionsseite hingewiesen. Ich will das nur noch durch ein weiteres Beispiel anreichern, das mir besonders aussagekräftig zu sein scheint. Besonders interessant scheint mir, was der HerrBundeskanzler bei zwei verschiedenen Gelegenheiten Ende April zu unserem Problemkreis gesagt hat.In einem Glückwunschtelegramm zum 25jährigen Bestehen des Deutschen Journalistenverbandes äußerte sich der Herr Bundeskanzler dahin, die Bundesregierung werde sich auch künftig für die journalistische Freiheit einsetzen und sich bemühen, geeignete Maßnahmen zur Überwindung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Presse in die Wege zu leiten.
Wenige Tage früher, am 23. April, lauteten die Äußerungen des Herrn Bundeskanzlers freilich ein wenig anders. Da sagte er — soll er gesagt haben —
vor einer Versammlung des Hauses Dumont-Schauberg, Zeitungen seien Unternehmen wie andere auch, sie müßten in der Lage sein, ihre Kosten über Erlöse hereinzuholen. Das Geld des Steuerzahlers dürfe nicht dazu verwendet werden, Zeitungen am Leben zu erhalten, die sich nicht selbst verkaufen könnten.
Das, Herr Kollege Baum, ist wohl das eherne Gesetz der Marktwirtschaft, das Sie in diesem Fall nicht gelten lassen wollen.Dann meinte Herr Schmidt, er habe Vorbehalte gegen gezielte Hilfen. Hier komme, meinte er, die Frage der Qualität der jeweiligen Zeitungen ins Spiel, und da beginne mit Vorbehalten die Gefahr der Einflußnahme. Hier sagen Sie, Herr Kollege Baum — und das freut mich natürlich zu hören —, daß alle Beeinflussungsmöglichkeiten ausgeschaltet werden müssen. Ich kann nur hoffen, daß dies bei den Vorhaben, die Sie uns unterbreitet haben, dann auch gelingen wird.Ganz nebenbei bemerkt: es wird für Sie nicht uninteressant sein, zu hören, daß sich der Herr Bundeskanzler in eben dieser Versammlung auch für die Aufrechterhaltung des Tendenzschutzes ausgesprochen hat. Ich werde gespannt darauf warten, inwieweit er sich mit dieser seiner Auffassung in seiner eigenen Partei wird durchsetzen können.Was die wirtschaftliche Lage der Zeitungen angeht, so stimmen wir in der Beurteilung des Ernstes dieser Situation überein. Ich finde es, um das Mindeste zu sagen, unseriös, wenn jetzt von seiten der SPD den Verlegern vorgeworfen wird — ich zitiere ein weiteres Mal Herrn Funke —, diese Daten seien von der Erhebungsmethode wie von der Beteiligung der Verlage her gesehen irreführend. Die Erhebungsmethode und der Zeitraum, auf die sich die Erhebung erstreckt, waren Gegenstand einer Verabredung zwischen den Verlegern und dem von der Bundesregierung eingesetzten Staatssekretärausschuß, und das Ergebnis ist, auch wenn sich nicht alle Verlage beteiligt haben, durchaus repräsentativ.Ich kann mich des Eindrucks nicht ganz erwehren, daß die Verleger mit diesem ganzen ungemein aufwendigen Unterfangen hingehalten und beschäftigt werden sollten, während die Bundesregierung ihre
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11974 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Dr. Klein
ganze Energie zunächst einmal darauf verwendete, ein Alibi nach dem anderen zu suchen, um nur ja nichts Wirksames tun zu müssen. Zunächst tat man nichts, weil diese Daten nicht vorlagen. Bis zum heutigen Tage werden die Verleger mit Vorwürfen überhäuft, weil sie die ihnen aufgebürdete Sisyphusarbeit nicht ganz innerhalb der gesetzten Frist zu bewältigen vermochten.
Schon bevor die Daten überhaupt vorlagen, wurde ein Streit vom Zaun gebrochen über die Erhebungsmethode, die einfache oder die sogenannte gewichtete Methode, obgleich man auch darüber vorher mit der Bundesregierung Einvernehmen erzielt hatte. Danach suchte und fand man offenbar noch weitere Mängel, um nun wie der Herr Bundeskanzler, um ihn ein weiteres Mal zu zitieren, schlankweg zu erklären, es gebe lange nicht so viele Zeitungen, denen es schlecht gehe, wie glauben gemacht werden solle. Nur, meine Damen und Herren, insgesamt gibt es eben überhaupt nicht mehr sehr viele Zeitungen, so daß es allmählich auf jede einzelne ankommt. Ich erinnere nur daran, daß von neuen Kooperationen im Ruhrgebiet bereits wieder gemunkelt wird, Kooperationen, die erfahrungsgemäß vielfach Fusionen vorbereiten.Die Einwände, die hier gegen den Gesetzentwurf des Bundesrates vorgetragen worden sind — es sind ja die altbekannten Einwände —, haben mich auch heute nicht überzeugt. Was unter Hinweis auf das Recht der Europäischen Gemeinschaften gesagt worden ist, wird so vielfach behauptet, ist aber in der Rechtswissenschaft durchaus umstritten. Es werden auch abweichende Meinungen vertreten.Zur Frage des Gießkannenprinzips: Ich habe schon früher darauf aufmerksam gemacht, daß von einer solchen Gießkannenwirkung hier gar keine Rede sein kann, mithin auch nicht von einer Verstärkung der Konzentrationsbewegung. Herr Kollege Becker hat das eben noch einmal dargetan. Ich will es nicht wiederholen. Nur das eine möchte ich noch einmal sagen: Wo noch in der Gewinnzone operierende Verlage vom Wegfall der Mehrwertsteuer profitieren würden, hatten sie sich verpflichtet, die entsprechenden Beträge in einen Solidaritätsfonds einzuzahlen. Überdies hatte der Bundesverband der deutschen Zeitungsverleger unterdessen einen sehr detaillierten, bis in die Einzelheiten durchgerechneten Plan vorgelegt, sogar auf der Grundlage einer bloßen Ermäßigung, also nicht eines gänzlichen Wegfalls der Mehrwertsteuer für die Vertriebserlöse. Dieser Vorschlag hätte meines Erachtens durchaus einen gangbaren Mittelweg gewiesen.Herr Kollege Engholm, wenn Sie hier von Liebedienerei gegenüber den Verlegern sprechen, so kann ich dazu nur sagen, daß dies natürlich in Ihre Argumentationsschablonen hineinpaßt, aber natürlich nichtsdestoweniger falsch ist. Uns geht es um Maßnahmen für die Zeitungen, und wir denken dabei keineswegs nur an die Verleger, sondern mindestens ebensosehr an alle anderen, die in den Zeitungen beschäftigt und tätig sind.
Wenn Sie uns hier der Liebedienerei gegenüber Verlegern beschuldigen, dann gilt dieser Vorwurf auch gegenüber den Fraktionen der SPD und der FDP im alten nordrhein-westfälischen Landtag.Nun gestatten Sie mir einige Worte zu den Vorschlägen, die Herr Kollege Baum heute hier unterbreitet hat. Sie sprachen von einem Programmkonzept. Das ist eine relativ vorsichtige Formulierung, Herr Kollege Baum. Herr Kollege Baum, ich hoffe — wie mein Vorredner —, daß wir in der Tat noch vor der Sommerpause Ergebnisse zu sehen bekommen. Ich betrachte dies allerdings mit einiger Skepsis.Aber lassen Sie mich vielleicht doch auf ein rechtliches Bedenken hinweisen! Sie fassen Subventionen in der einen oder anderen Form ins Auge. Es ist Ihnen sicherlich bekannt, daß wir drei Urteile von Berliner Verwaltungsgerichten aus jüngster Zeit haben, die hier deutlich zur Vorsicht mahnen.Das Oberverwaltungsgericht Berlin hat am 25. April in einem Urteil Zweifel geäußert, ob Unterstützungsmaßnahmen des Staates für Presseorgane überhaupt mit Art. 5 des Grundgesetzes vereinbar seien, und gesagt, daß Gesetze, die solche Unterstützungsmaßnahmen vorsehen, hinsichtlich des Tatbestandes genau so umrissen sein müssen, daß der Verwaltung kein Ermessensspielraum bleibt. Das sind weitgehende Anforderungen. Obgleich ich zugebe, daß man diesen Urteilen auch mit einiger Kritik begegnen kann, sind sie doch eine Mahnung zur Vorsicht.Die beiden ersten der von Ihnen vorgeschlagenen Maßnahmen bringen im Grunde nichts wesentlich Neues. Die Verbesserung des ERP-Kredit-Programms, die auch wir in unserem Antrag gefordert haben, ist natürlich zu begrüßen. Aber ob es eine sehr wirksame Hilfe für die Zeitungen sein wird, ist angesichts der Tatsache zu bezweifeln, daß die schon jetzt zur Verfügung stehenden Mittel nicht in vollem Umfang in Anspruch genommen werden.Die Konditionen der Kredite der Kreditanstalt für Wiederaufbau sind so, daß skeptisch abzuwarten bleibt, in welchem Umfang sie von der Presse in Anspruch genommen werden können. Dessen scheint sich auch die Bundesregierung bewußt zu sein, da sie sonst wohl kaum die Möglichkeit von Zinszuschüssen in ihr Konzept aufgenommen hätte. Hier stellt sich dann allerdings, ebenso wie bei den Bürgschaften, ganz nachdrücklich die Frage nach den Vergaberichtlinien, die nach dieser Rechtsprechung nicht nur Richtlinien sein dürfen, sondern die in Gesetzesform gegossene Richtlinien sein müssen, die der Verwaltung keinen Ermessensspielraum lassen dürfen.Das gilt auch für die geplante Einbeziehung der Presse in das Investitionszulagengesetz, deren Vorbereitung, wie Sie, Herr Baum, hier ganz vorsichtig gesagt haben, von der Bundesregierung eingeleitet worden ist. Auch hier müssen — folgt man dem Oberverwaltungsgericht in Berlin — die gesetzlichen Tatbestände so formuliert werden, daß für eine politische Beeinflussung der Presse kein Raum bleibt. Eine bloße sektorale Einbeziehung der Presse in das
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sonst unveränderte Gesetz würde dafür nicht genügen.Aber alle diese Maßnahmen leiden für meine Begriffe an einer Schwäche: Daß die Presse in erster Linie überhaupt einer Investitionshilfe bedarf, wage ich zu bezweifeln.
Die notleidenden Verlage klagen doch weniger über Investitionsunfähigkeit als über Kostendruck und Ertragsschwäche. Das Problem ist vielfach nicht die Finanzierung von Investitionen, sondern die Auslastung vorhandener Kapazitäten. Es ist Ihnen vielleicht bekannt, daß die Gewerkschaften die derzeitige Situation im Bereich der Presse nicht zuletzt damit begründen, daß dort Überkapazitäten geschaffen worden sind. Angesichts schrumpfender Anzeigenerlöse könnte eine Investitionsförderung sogar zu einer Fehlsteuerung führen.Der Vorschlag des Bundesrates, den wir uns zu eigen gemacht haben, hat den Vorteil, daß er den Kostendruck mildert, die Ertragslage bessert und es dem einzelnen Verlag überläßt, wie er seine etwaigen Erträge sinnvoll einsetzt. Er vermeidet eben jede staatliche Korrektur der Leserentscheidung, einen Fehler, in den jede gezielte Einzelförderung zwangsläufig verfallen muß. Das gilt auch für Ihren Gedanken einer Stiftung, dem ich im übrigen hier keineswegs eine glatte Absage erteilen will; denn bei der Durchführung dieses Gedankens wird es ausschließlich auf die Ausgestaltung im einzelnen ankommen. Wenn es dabei gelingt, jeglichen staatlichen Einfluß auszuschalten, ist das eine Idee, über die man sicherlich diskutieren kann, die zwar einen eben schon angesprochenen Mangel aufweist, der aber letztlich möglicherweise nicht entscheidend ins Gewicht fällt.Wenn Sie mir noch zwei, natürlich ganz vorläufige, kritische Anmerkungen gestatten:
Dieser Fonds soll auch von Verlegerseite her gespeist werden. Ich frage mich nun allerdings, wo diese Verlegerbeiträge herkommen sollen. Hier würde die Mehrwertsteuerlösung, insbesondere die vom Bundesverband der Zeitungsverleger vorgeschlagene Lösung, das Problem ohne alle Schwierigkeiten lösen.
So könnte man den Verdacht haben, daß die Bundesregierung spekuliert: Die Verleger werden selbst nichts geben; dann sind wir aus dem Schneider. Ich unterstelle Ihnen das nicht, aber man könnte auf den Gedanken kommen.Dann haben Sie gesagt, diese Stiftung solle Mittel nur an solche Verlage vergeben, die sich bereits in den roten Zahlen befinden. Ich frage mich — aber auch das nur als eine vorläufige Anregung —, ob es dann nicht schon zu spät ist.Lassen Sie mich zum Schluß kommen. Sie haben ein Programmkonzept vorgetragen. Ein Programm ist etwas Zukünftiges, und selbst von diesem Zukünftigen besteht erst ein Konzept. Wir werden mitI skeptischer Hoffnung abwarten, was dabei herauskommt. Ich schätze vor allen Dingen die Schwierigkeiten nicht gering, auf die die Verwirklichung solcher Pläne in den Reihen der SPD stoßen könnte;
denn die Stimmung, die dort gegenüber der Presse herrscht, ist ja nicht eben dazu angetan, solche Überlegungen zu fördern.Die Äußerungen Herrn Steffens über die schleswig-holsteinische „schweinemäßige" Landespresse sind uns ja durchaus lebhaft im Gedächtnis. Und Herr Steffen ist natürlich nicht nur Autor von „Das da", sondern Herr Steffen ist auch Landesvorsitzender der SPD und Mitglied des Bundesvorstandes der SPD. Angesichts dessen ist es nicht mehr als ein Zeichen von Verlegenheit
— ich weiß, Herr Wehner, jetzt wird es für Sie unangenehm
— das haben andere heute vor mir auch schon getan, Herr Kollege Wehner; ich bin aber trotzdem gleich am Ende —, wenn daraufhin Herr Matthiesen in dem Versuch, die Persönlichkeit von Herrn Steffen zu spalten, erklärt, diese Äußerungen habe er nicht als SPD-Landesvorsitzender gemacht.
— Ich zitiere derzeit, Herr Kollege Wehner, nur Herrn Steffen und Herrn Matthiesen. Daß Sie deren Äußerungen als Quatsch bezeichnen, nehme ich zustimmend zur Kenntnis.
— Da ich gerade den Namen meines Kollegen Windelen höre, gestatten Sie mir als letztes noch folgende Bemerkung.
— Jawohl, die allerletzte. — Wir haben ja inzwischen aus Saarbrücker Richtung gehört, daß dort von Ihrer Seite der Saarländische Rundfunk als Schwarzfunk bezeichnet worden ist.
Das ganz gewiß nicht von Herrn Windelen,
sondern vom stellvertretenden Vorsitzenden der Jungsozialisten im Saarland.
Ich finde es bezeichnend für unsere Lage,
daß ein Aufschrei der Empörung durch unser Landgeht, wenn ein Christdemokrat es wagt, einen Rundfunksender so zu kritisieren, daß es aber keinerlei
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11976 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
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Aufregung verursacht, wenn ein Sozialdemokrat dasselbe tut.
Meine Damen und Herren, wir harren gespannt des Programmkonzepts der Bundesregierung.
Das Wort hat der Abgeordnete Lutz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin von meinen Kollegen heftig bedroht worden, als ich hierher ging, und habe ihnen versichert, nur die Hälfte der Zeit meines Vorredners zu sprechen.
Das ist nämlich noch lange genug, wenn man es genau nimmt.
Ihre letzten Beiträge waren „so sehr treffend". Ich finde, daß die linke Seite dieses Hauses zu beglückwünschen ist, weil sie immer noch in der Lage ist, eine Löwenthal-Sendung in Anstand zu ertragen. Die rechte Seite dagegen scheint mir doch in einem bedenklichen Umfange zur Intoleranz zu neigen und fast das Sandmännchen schon als linke Entgleisung zu begreifen.
Sie haben, meine Damen und Herren, gerade gehört, daß man eine ganz schwierige und, wie ich meine, auch sehr unpassende Situation hier kaschieren wollte. Bei der Debatte über den Bundesratsantrag ist das zuständige Ministerium ausreichend und sachkundig repräsentiert. Der Bundesrat, der es für notwendig gehalten hatte, diesen Antrag in die Debatte einzuführen, zeigt dem Haus seine Form des Respekts.
Ich kann mir vorstellen, meine Damen und Herren, daß die Herren von der Länderkammer, wenn sie derlei Entwicklungen vorantreiben wollen, vielleicht künftig etwas präsenter sind und den Dialog mit uns suchen. Ich würde das zumindest wünschen.
Wir suchen den Dialog, denn wir haben mit großer Gelassenheit all dem zugehört, was wir da von Ihrer Seite zu hören bekommen haben.Ihr Konzept der unterschiedslosen Befreiung von der Mehrwertsteuer haben Sie ja selbst mehrmals fast schon zu entschuldigen versucht.
- - Und oh, Herr Becker, Ihnen höre ich immer zu!
Das ist ja meine Pflicht als Parlamentarier.Ich muß Ihnen sagen: Ihrem Konzept der Mehrwertsteuerbefreiung werden wir nicht zustimmen. Sie selber wissen, daß es ein Gießkannenprinzip ist; es hilft dieser Presse nicht weiter. Wenn Sie unterschiedslos die gutgehende und durchaus noch in der Gewinnzone angesiedelte Monopolzeitung und die hart um ihre Existenz ringende Zweitzeitung gleichermaßen steuerlich beglücken wollen, dann verschärfen Sie die Konzentrationstendenzen im deutschen Blätterwald, und Sie leisten Sterbehilfe für jene gefährdeten Zeitungen, denen Sie angeblich helfen wollten.
— Herr Dr. Becker, da ich mit der großen Gelassenheit, die mir mein Fraktionsvorsitzender anempfiehlt, Ihnen zuhörte, möchte ich jetzt um Ihr Schweigen bitten. Ich möchte nämlich die Geduld der Kolleginnen und Kollegen nicht überstrapazieren.Ich versage mir deshalb, noch einmal aufzuzählen, wie mühsam es war, verläßliche Daten über die Situation der bundesdeutschen Tageszeitungen zu erlangen. Sie alle haben das miterlebt; das Gerangel zwischen dem Innenminister und dem BDZV entbehrte nicht der heiteren Facetten. Allerdings: was lange währt, wird auch mal gut, möchte man sagen. Die Situationsbeschreibung der deutschen Presse liegt vor, die Krankengeschichte ist aufgezeichnet, die Therapie kann beginnen. Es betrübt eigentlich, daß Sie in Kenntnis der höchst differenzierten Vorgänge auf dem Zeitungsmarkt immer noch an Ihrem Konzept festhalten, beim Auftreten einiger Fälle von Kreislaufschwäche der gesamten Bevölkerung den übermäßigen Genuß von Bohnenkaffee zu empfehlen.
Es ist zuzugeben, daß gezielte Hilfen für notleidende Tageszeitungen einen Wust von Problemen aufwerfen. Natürlich darf der Staat nicht zwischen dem „braven Patienten" und dem „renitenten Patienten" unterscheiden. Ja, er muß mögliche Streuverluste bei seinem Hilfsprogramm in Kauf nehmen, um auch nur den bösen Schein zu vermeiden, hier wolle man sich eine gefügige und regierungskonforme Presse herbeisubventionieren. Ich finde, das Konzept der Regierung ist in sich schlüssig, wenn auch, was ich zugebe, in einigen Bereichen noch unscharf. Wir werden uns um mehr Schärfe und Klarheit in diesem Konzept bemühen müssen.Die angebotenen Hilfen können kurzfristig Presseunternehmungen in den Stand versetzen, mit den gegenwärtigen Schwierigkeiten fertig zu werden. Das ist drin. Nicht nur die Investitionen werden diesen Unternehmen erleichtert; sie erhalten auch die
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975 11977
LutzMöglichkeit, sich Betriebsmittel zu tragbaren Bedingungen zu verschaffen, und, was noch viel wichtiger ist, sie geraten in keiner Phase in Gefahr, für die geleistete Hilfe irgendwann einmal einen Wechsel präsentiert zu bekommen. Die Regierung könnte, selbst wenn sie dies wollte, keinen Wohlverhaltensrabatt geltend machen.
Wichtiger aber scheint mir die Idee, mit einem längerfristigen Konzept der Hilfe zur Selbsthilfe den Pluralismus im deutschen Blätterwald zu stärken. Die in Aussicht genommene Stiftung verdient nicht hämische Mäkelei, meine Damen und Herren von der Opposition. Sie werden im Gegenteil mit uns gemeinsam aufgefordert sein, Konstruktion und Inhalt dieser Stiftung auszuformen. Der Bund erlegt sich in weiser Selbstbeschränkung die Pflicht auf, Ermunterungen zu geben und solide finanzielle Basen zu bieten, auf denen die Presse selbst weiterbauen kann.Niemand wird vom Staat erwarten dürfen, daß er dem Zeitungssterben wehrt, wenn die Betroffenen selbst ihren Exitus betriebswirtschaftlich bereits einkalkuliert haben sollten. Wir sind davon überzeugt, daß das Angebot des Staates von den Verlegern als Stimulans zur kooperativen Selbsthilfe begriffen wird.
— Ja, wir glauben sogar noch an die Vernunft von Verlegern, Herr Franke. Wir sind davon überzeugt, daß das Bonner Signal den Weg zu einer über den Tag hinausreichenden Lösung ebnet.
— Ich hatte gesagt, daß ich nur die Hälfte der Zeit des Vorredners sprechen würde.
Wir sind davon überzeugt, daß die Pressevielfalt in der Marktwirtschaft bei voller Aufrechterhaltung des publizistischen Wettbewerbs nach dem Konzept dieser Regierung erhalten werden kann.Sie werden mir hoffentlich nachsehen, daß ich als Journalist, dessen Arbeitsverhältnis zur Zeit ruht, ein paar fast persönliche Anmerkungen machen möchte. Wir alle haben miterlebt, wie die Generation der Lizenzträger in enger Gemeinsamkeit mit den Redakteuren vor Ort nach 1945 das Abenteuer Demokratie in der Bundesrepublik funktionstüchtig machte. Wir alle haben miterlebt, wie nach Wegfall der Lizenzierung der bundesdeutsche Pressewald noch vielfaltiger, noch anregender, noch lebhafter wurde. Wir alle haben miterlebt, wie den Tageszeitungen im Fernsehen und in farbigen Bilderblättern mächtige Konkurrenten erwachsen sind. Wir haben gesehen, mit welcher Kreativität sich die Presse der neuen Konkurrenz stellte. Wir haben sinnvolle und wir haben bedenkliche Konzentrationstendenzen registrieren dürfen, und wir alle wissen auch, daß derVerzicht auf den Kommunikationsfaktor Tageszeitung eine ernste Bedrohung der Demokratie bedeuten würde. Die Gründergeneration der Nachkriegspresse hat die Zeitungen nie nur als bedrucktes Verkaufsvehikel für Werbung empfunden. Sie hat die öffentliche Aufgabe und Verantwortung der Presse deutlich gesehen. Mitunter verliert sich das; mitunter überwuchern merkantile oder messianische Interessen die Pflicht zur umfassenden, korrekten und zum kritischen Mitvollzug des Geschehens anregenden Berichterstattung.Alles in allem gesehen aber läßt sich sagen, daß die Qualität des Mediums Tageszeitung in der Bundesrepublik einen beispiellos hohen Standard erreicht hat und nach wie vor behauptet. Ich möchte hoffen, daß mit den in Aussicht genommenen Hilfen des Staates der Standard nicht nur gehalten, sondern weiter verbessert werden kann.
Wortmeldungen liegen nicht mehr vor.
Wir kommen damit zur Abstimmung. Ich rufe zur Abstimmung in der zweiten Beratung die §§ 1 bis 4 sowie Einleitung und Überschrift auf. Der Finanzausschuß hat beantragt, den Gesetzentwurf abzulehnen. Wir stimmen trotzdem in der positiven Form ab; das heißt, wer diesen Bestimmungen des Gesetzentwurfs seine Zustimmung geben will, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das zweite war die Mehrheit; abgelehnt. Damit entfällt die dritte Beratung.
Ich rufe nunmehr Punkt 14 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, CDU/CSU, FDP eingebrachten Enwurfs eines Siebenten Gesetzes zur Änderung des Häftlingshilfegesetzes
— Drucksache 7/3554 —Das Wort zur Begründung wird nicht gewünscht. Wir kommen zur Aussprache. — Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. von Fircks.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Präsidentin, ich darf bitten, im Protokoll den „Dr." streichen zu lassen; denn er ist nicht zutreffend.
— Ja, Herr Dr. Wehner, dann darf ich Ihnen im Protokoll vielleicht den Doktor verleihen; denn Ihnen sieht man einen bestimmten Doktor sehr genau an.Meine Damen und Herren, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll eine Änderung in der Organisation der Stiftung für ehemalige politische Häftlinge nachvollzogen werden, wie sie sich in gleicher Weise im Rahmen der Häftlingsstiftung bereits bewährt hat. Der Vorstand der Stiftung soll sich künftig nicht mehr kraft Gesetzes aus Vorstandsmitgliedern der Lastenausgleichsbank zusammensetzen,Freiherr von Firckssondern vom Stiftungsrat der Heimkehrerstiftung gewählt werden. Das ist eine Lösung, die auch vom bisherigen Vorstand selber aus verwaltungsökonomischen Gründen angestrebt worden ist.Mit dieser Regelung wird im Zusammenhang mit der bereits am 1. Januar 1975 vollzogenen Herauslösung und Verselbständigung der Geschäftsstelle der Häftlingsstiftung aus dem Verwaltungsapparat der Lastenausgleichsbank nicht zuletzt aus verwaltungsökonomischen Gründen eine erhebliche Verminderung der Verwaltungskosten in einer Größenordnung von zirka 100 000 DM jährlich angestrebt, so daß im laufenden Rechnungsjahr 10 % und in den folgenden Rechnungsjahren jeweils 20 % mehr Mittel zur Verfügung stehen, um Leistungen an ehemalige politische Häftlinge zu erbringen.Die Einmütigkeit, mit der diese Änderung von allen Fraktionen des Hohen Hauses vorgeschlagen wird, macht zugleich das ehrliche Bemühen aller im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien deutlich, im Rahmen der 1969 errichteten Häftlingsstiftung eine gesicherte Grundlage für die Fortsetzung einer wirksamen und gezielten Hilfe zur existentiellen Eingliederung derjenigen politischen Häftlinge — deren Strom leider nicht abreißt — zu schaffen, die durch die Folgen der Haft in ihrer wirtschaftlichen Lage besonders beeinträchtigt sind.Andererseits aber, meine Damen und Herren, wirft die Notwendigkeit der Beratung zum Häftlingshilfegesetz zu diesem Zeitpunkt, bei dem es letztlich um die Verbesserung der Hilfsmaßnahmen zugunsten der Opfer politischer Terrorjustiz geht, in besonders bedrückender Weise ein Schlaglicht auf jene Realität, daß einem Teil unseres Volkes, und zwar nicht nur in der Beschränkung auf die heutige sogenannte „DDR", auch 30 Jahre nach Kriegsende durch das politische System der östlichen „Befreierstaaten" — wenn ich das in Anführungsstrichen sagen darf — noch immer das grundlegende Menschenrecht der Freizügigkeit und das Selbstbestimmungsrecht vorenthalten wird.Neben einer nicht einmal im einzelnen zu benennenden Zahl von Deutschen in den politischen Haftanstalten Ostpreußens, Oberschlesiens und außerhalb der Reichsgrenzen des Jahres 1937 befinden sich allein rund 5 000 politische Häftlinge in den Haftanstalten, Haftuntersuchungsanstalten und sogenannten Arbeitslagern der Machthaber in Mitteldeutschland.
Von ihnen wurden rund 4 000 Häftlinge im Zusammenhang mit sogenannter versuchter Republikflucht und eine in die Tausend gehende Zahl von Landsleuten wegen sogenannter staatsfeindlicher Hetze, Staatsverleumdung und anderer staatsgefährdender Delikte, wie sie dort genannt werden, inhaftiert. 5 000 überwiegend junge Menschen im Alter von bis zu 30 Jahren,
die den Versuch unternommen haben, aus dem Gefängnis ihres Staates in den Westen zu flüchten, weilihre Hoffnungen auf tiefgreifende Besserung der Zustände enttäuscht wurden, füllen heute die politischen Haftanstalten jenseits der Elbe. Wir wissen, daß der Staatssicherheitsdienst neue Methoden im Kampf gegen die „Feinde des Sozialismus", wie es heißt, entwickelt und sein Kontrollsystem in skrupelloser Weise ausbaut.An der Zonengrenze wird weiter gemordet, an der Berliner Sektorengrenze werden bei Unglücksfällen Rettungsaktionen der Westberliner Polizei durch die NVA-Grenztruppen brutal unterdrückt. Wo kann die Unmenschlichkeit eines Systems noch sichtbarer in Erscheinung treten als in diesen Realitäten! Muß sich nicht die durch Entlassung von 6 000 politischen Häftlingen vor aller Welt demonstrierte sogenannte Geste der Menschlichkeit jedermann als nackte politische Lüge offenbaren angesichts der Tatsache, daß sich gleichzeitig die Zahl der politischen Häftlinge in den politischen Gefängnissen nicht vermindert hat, sondern sogar ansteigt, und jede Forderung nach einem Verzicht Ost-Berlins auf die Durchsetzung seines staatlichen Strafanspruchs gegenüber politisch Andersdenkenden als unzulässige Einmischung in innere Angelegenheiten zurückgewiesen wird?Die Menschen sowohl im freien Teil Deutschlands als auch die drüben fordern von uns, daß die, die im freien Teil hier leben und politische Verantwortung tragen, alle Möglichkeiten nutzen, die sich aus der Charta der Vereinten Nationen und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ergeben, um Ost-Berlin zu veranlassen, die fortdauernde Verletzung der Menschenrechte, zu deren Achtung man sich durch den Grundvertrag und durch den Beitritt zu den Vereinten Nationen verpflichtet hat, zu beenden und in ihrem Machtbereich das Recht auf Freizügigkeit der Menschen, der Meinungen und Informationen und das Selbstbestimmungsrecht für alle Deutschen zu verwirklichen.
— Ich weiß, welches Lied Sie mehr gesungen haben, Herr Wehner. Vielleicht stimmen Sie das einmal hier an.
Die CDU/CSU appelliert daher an die Bundesregierung, auch bei Gelegenheit der ersten Beratung dieses Gesetzentwurfes erneut die menschenrechtswidrigen Praktiken der SED, vor allem ihre Maßnahmen zur Verhinderung der Freizügigkeit in ganz Deutschland, vor aller Welt zu verurteilen und mit Mut und Beharrlichkeit die notwendigen Schritte zu tun, um zur Entspannung und Verbesserung der Situation der Menschen in unserem geteilten Land zu kommen. Bis dahin müssen wir alles tun, um das Schicksal derer zu verbessern, die als Leidtragende dieser politischen Zustände im anderen Teil Deutschlands bei uns sind oder zu uns kommen. Dazu gehört auch die bestmögliche materielle und organisatorische Ausstattung der Häftlingsstiftung. Wir begrüßen es, daß unsere Initiative zu diesem interfraktionellen Antrag auf fruchtbaren Boden ge-
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Freiherr von FircksI fallen ist, und stimmen dem Überweisungsvorschlag des Ältestenrates zu.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hofmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will bewußt darauf verzichten, auf das einzugehen, was Herr von Fircks hier wie üblich mit betont hat. Es wird auch hier wieder bewußt der Zusammenhang von Ursache und Folge übersehen, um das eigene Gestern in Vergessenheit bringen zu können.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe im Namen der Fraktion der SPD wie im Namen der Fraktion der FDP zu dieser Änderung folgende Erklärung abzugeben.
— Meine Damen und Herren, wenn Sie aus diesem Gestern mehr Beispiele haben wollen, dann können Sie sie von mir bekommen, in jeder Weise.
Ich würde Ihnen nicht raten, diesen Punkt erneut aufzugreifen; denn Sie wissen nur zu genau, daß es nicht die herrlichste Geschichte ist, die hier in Vergessenheit gebracht werden soll.
Meine Damen und Herren, die Stiftung für ehemalige politische Häftlinge wurde 1969 dankenswerterweise geschaffen. Das Stammvermögen der Stiftung betrug 10 Millionen DM. Neben den jährlichen Erträgnissen können aus dem Stammvermögen der Stiftung für das Jahr 1970 500 000 DM, für die Jahre 1971 und 1972 je eine Million DM, für die Jahre 1973 bis 1985 je 500 000 DM und für die Jahre 1986 bis 1989 je 250 000 DM Verwendung finden.
Zur Zeit hat die Stiftung noch ein Vermögen von rund 6 Millionen DM. Die Zahl der eingegangenen Anträge beträgt insgesamt 2804. Davon wurden 978 Anträge abgelehnt.
Die Überprüfung, Bearbeitung und Verwaltung dieser Anträge brachte Kosten mit sich, die vermindert werden sollen. Zu diesem Zweck hat der Stiftungsrat beschlossen, eine eigene Geschäftsstelle der Stiftung zu errichten, die ihre Arbeit bereits zu Beginn dieses Jahres aufgenommen hat. Dieser Beschluß erfordert die Änderung des § 21, nach dem der Stiftungsvorstand der Vorstand der Lastenausgleichsbank ist. Nach Trennung dieser Personalunion wird künftig der Stiftungsvorstand, der auf die Dauer von zwei Jahren gewählt werden soll, die Geschäfte führen und die Siftung gerichtlich und außergerichtlich vertreten.
Ich bitte Sie im Namen der Koalitionsfraktionen um Überweisung an den Innenausschuß.
Das Wort wird nicht mehr begehrt. Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung an den Innenausschuß. Wer dem zustimmt, gebe bitte das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Es ist so beschlossen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt zur Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes über die Erhöhung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern
— Drucksache 7/3611 -
Üherweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Innenausschuß
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Wird seitens der Regierung das Wort zur Begründung begehrt? — Das ist nicht der Fall. Wird das Wort zur Beratung gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung an den Innenausschuß — federführend — und an den Haushaltsausschuß — mitberatend und gemäß § 96 der Geschäftsordnung. — Wer dieser Überweisung zuzustimmen wünscht, gebe bitte das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Es ist so beschlossen.
Ich rufe nun Punkt 15 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/ CSU
betr. Einsetzung eines Sonderausschusses zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit
— Drucksache 7/3507 —
Zur Begründung hat Herr Abgeordneter Dr. Klein das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem Antrag, einen Sonderausschuß zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit einzusetzen, unternimmt unsere Fraktion nun zum drittenmal innerhalb dieses Jahres den Versuch, die Regierung und die Parlamentsmehrheit dazu zu bringen, Schluß zu machen mit der bloßen Gesundbeterei und gegen die beängstigende Jugendarbeitslosigkeit endlich einmal etwas Konkretes zu unternehmen.Fast ein halbes Jahr liegt die Zahl der arbeitslosen jungen Menschen unter 20 Jahren schon über 100 000.
Man kann doch hier einmal die Frage stellen: Wer hätte eigentlich zu Zeiten von CDU-geführten Bundesregierungen je geglaubt, daß Jugendarbeitslosigkeit in unserem Lande noch einmal ein Massenproblem werden würde?
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11980 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975
Dr. Klein
Die Koalition hat doch 1972 gerade der Jugend große und größte Versprechungen gemacht und auf diese Weise sehr viele Jungwählerstimmen eingeheimst. Daraus resultiert meiner Auffassung nach ein besonders hohes Maß an Verantwortung für die jungen Menschen gerade bei dieser Koalition. Dennoch hat diese Koalition durch Verharmlosung, Hilflosigkeit und Untätigkeit insbesondere die jugendlichen Arbeitnehmer im Stich gelassen.Die Regierung verweist wider besseres Wissen immer wieder auf ihren Entwurf für ein neues Berufsbildungsgesetz. Nun, abgesehen davon, daß dieser Gesetzentwurf ganz minderwertig ist, wie Sie ja selber wissen,
kann er vor 1977 gerade in dem hierfür wichtigen Finanzierungsteil nicht wirksam werden.
Wir dürfen aber die arbeitslosen Jugendlichen der Jahre 1975 und 1976 nicht vergessen. Und für die haben Sie kein Konzept. Darum hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, um dieses dringliche, aktuelle Problem möglichst zu lösen, schon im Januar ein Dringlichkeitsprogramm vorgelegt.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte!
Im Zusammenhang mit Ihrer Bemerkung, es gebe kein Konzept: Ist Ihnen bekannt, daß Ihre Kollegen im Wirtschaftsausschuß in aller Offenheit, frank und frei und in schöner Übereinstimmung mit den Koalitionsfraktionen dargelegt haben, daß es nach ihrer Auffassung kein Konzept gegen Jugendarbeitslosigkeit im besonderen, sondern allenfalls Maßnahmen zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit insgesamt gibt?
Herr Reuschenbach, ich bin zwar nicht Mitglied des Wirtschaftsausschusses, mir ist aber die Debatte des Wirtschaftsausschusses sehr wohl bekannt. In dieser Debatte haben meine Kollegen darauf hingewiesen, daß dieses Problem natürlich im Zusammenhang mit der gesamtkonjunkturellen Fragestellung zu sehen ist. Es ist aber auch auf die enge Verzahnung mit bildungspolitischen Problemen hingewiesen worden, und es ist darauf hingewiesen worden, daß es, eben weil dieses Problem sehr komplex ist und von verschiedenen Seiten angepackt werden muß, notwendig ist, hierfür etwas Besonderes zu tun. Im institutionellen Bereich legen wir deshalb hier den Vorschlag vor, einen Sonderausschuß zu installieren, und im sachlichen Bereich haben wir eben dieses Dringlichkeitsprogramm vorgelegt, zu dem Sie ja leider keine Alternative vorgelegt haben.
Diese Regierung steht ohne Alternative zu unserem Dringlichkeitsprogramm da!
Gleichwohl behauptete ja nun interessanterweise Ihr Kollege Porzner — vielleicht haben Sie das auch zur Kenntnis genommen, Herr Kollege Reuschenbach — noch am 17. April in diesem Hause über unser Dringlichkeitsprogramm wörtlich: „Das meiste von dem wird schon gemacht." Aber das entspricht doch nicht den Tatsachen! Die Kernpunkte dieses Programms sind von Ihnen eben nicht aufgegriffen worden. Da ist erstens eine Prämie von bis zu 4 000 DM für neue qualifizierte Ausbildungsplätze.
Dieses Geld, meine Damen und Herren, soll den Unternehmen zur Verfügung gestellt werden, die hohe Kosten für die Ausbildung Jugendlicher haben. Sie wissen sehr genau, daß die Ausbildung im Normalfall sehr viel Geld kostet, und deswegen haben Sie sich doch innerhalb der Koalition monatelang herumgeplagt, um ein Finanzierungsmodell auf die Beine zu stellen. Nur, ein entscheidender Unterschied besteht zwischen unserem Finanzierungsmodell und dem Modell, das die Koalition für den Sankt-Nimmerleins-Tag im Berufsbildungsgesetz festschreiben will: Wir schlagen vor, in diesem Jahr zusätzliche Lehrstellen zu fördern. Hier kann nichts mehr manipuliert werden. Was zusätzlich ist, bemißt sich an dem, was im vorigen Jahr, was 1974 an Lehrstellen zur Verfügung gestellt worden ist. Wenn Sie dann 1975 zusätzliche Ausbildungsplätze fördern, hat ein Unternehmer überhaupt keinen Spielraum mehr für Manipulationen. Aber wenn das, was Sie im Berufsbildungsgesetz — vor dem uns Gott bewahren möge bzw. vor dem uns möglicherweise doch noch Ihre Vernunft bewahren möge,
obwohl ich da nur wenig Chancen sehe —, wollen, in Kraft tritt, werden Sie schon 1975 eine Reihe von Unternehmen haben, die überlegen: Moment mal, senken wir in diesem Jahr erst einmal weiter die Lehrlingsquote, dann kommen wir 1977/78 in den Genuß der Prämie. Das ist doch nichts anderes als ein Verlockungsinstrument, die Lehrlingsplätze zunächst einmal an Zahl zu verringern, um anschließend Prämien abzukassieren. Dies ist doch Ihr gefährlicher Vorschlag, und der wird möglicherweise schon 1975 entsprechend negative Konsequenzen haben.
— Wissen Sie, mit Ihrer Polemik gegen bestimmte gesellschaftliche Gruppen schaffen Sie das Problem nicht vom Hals. Das ist doch Ihre Art, Politik zu machen: die Verteufelung, bestimmte Gruppen in Ecken zu stellen, wie es Ihnen beliebt,
und anschließend diejenigen, die die Ärmsten derArmen sind, junge Menschen von 15, 16 Jahren, inihrer Not da zu lassen, ohne eine echte Lösung vor-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 170. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1975 11981
Dr. Klein
schlagen zu können. Deswegen ärgert Sie auch unser Dringlichkeitsprogramm so sehr. Sie sagen: das wird schon gemacht. — Die entscheidenden Dinge werden nicht gemacht.Um dieser Untätigkeit und Wurstelei in Ihren Reihen ein Ende zu setzen, fordert die CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Einsetzung eines Sonderausschusses zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit. In einem Sonderausschuß könnten endlich die notwendige Koordination und Systematik erfolgen, die für die Lösung dieses Problems unbedingt erforderlich sind. Die bisherige Zersplitterung der Zuständigkeiten auf mehrere Ressorts und auf mehrere Ausschüsse bewirkt — das wissen wir doch alle — eine gewisse Schwerfälligkeit. Ein Sonderausschuß ist erheblich besser in der Lage, ein so dringendes und brennendes Problem konzentriert und auch zügig zu lösen. Unser Dringlichkeitsprogramm ist eine gute konzeptionelle Grundlage zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit. Und ein Sonderausschuß wäre ein adäquates parlamentarisches Beratungsgremium.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Sund.
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Was sollen eigentlich Debatten und Diskussionen für einen Sinn haben, wenn man die Ergebnisse überhaupt nicht zur Kenntnis nimmt? Was hier in der Sache zu sagen ist, kann man im Protokoll der Sitzung des Deutschen Bundestages vom 17. April 1975 nachlesen.
Kollege Porzner hat für die Sozialdemokraten gesagt, was zu sagen war.
Das Thema Jugendarbeitslosigkeit ist zu wichtig, um es mit einem Vorschlag wie dem vorliegenden und mit überflüssiger und unglaubwürdiger Polemik auf zuschminken.
Wer die Beratungen im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und in den mitberatenden Ausschüssen verfolgt hat, der weiß, daß ein Sonderausschuß die Probleme nicht einfacher macht und ihrer Lösung eher hinderlich als förderlich wäre.
Wir trauen uns zu, im federführenden Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung das Problem gründlich und auch angemessen zu behandeln.
Die hier vorgetragenen Vorstellungen zeigen, daß Sachkunde nicht der Anlaß für die Forderung nach einem Sonderausschuß war. Sie machen es geradezu zur Pflicht, den Antrag der CDU abzulehnen.
Das Wort wird nicht mehr gewünscht.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der CDU/CSU. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. —
Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das zweite war die Mehrheit; der Antrag ist abgelehnt.
Ich rufe nunmehr Punkt 16 der Tagesordnung auf:
Beratung des Berichts und des Antrags des Finanzausschusses zu dem Bericht der Bundesregierung betr. Durchgangsverkehr zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West)
hier: Verplombung von Leerfahrzeugen — Drucksachen 7/3230, 7/3538 — Berichterstatter: Abgeordneter Röhlig
Wird das Wort dazu gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag, den Bericht zur Kenntnis zu nehmen. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Es ist so beschlossen.
Wir sind damit am Ende der für heute vorgesehenen Tagesordnung.
Ich berufe das Haus auf morgen, Freitag, den 16. Mai, um 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.