Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe als ersten Punkt der heutigen Sitzung auf:
Dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1972
— Drucksachen 7/10, 7/11 —
Antrag des Haushaltsausschusses — Drucksache 7/32
Berichterstatter: Abgeordneter Leicht
Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Althammer. Die Fraktion der CDU/CSU hat für ihn eine Redezeit von 45 Minuten beantragt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich werde gleichzeitig die beiden Entschließungsanträge der Fraktion der CDU/CSU in meiner Rede zur dritten Lesung begründen.
Zu den Besonderheiten des Jahres 1972 gehört auch die Tatsache, daß der Bundeshaushalt 1972 in erster Lesung, in den Haushaltsausschußberatungen, in zweiter und in dritter Lesung in insgesamt vier Stunden verabschiedet wird. Damit hat das Parlament wohl zum Ausdruck gebracht, daß eine Sachberatung nicht mehr möglich war, daß es eine Farce gewesen wäre, nach dem Ablauf des Haushaltsjahres nachträglich noch in Sachberatungen einzutreten.
Wir sollten aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, aus diesem Vorgang eine Lehre für die Zukunft ziehen. Wir sollten alle gemeinsam in diesem Hohen Hause darauf drängen, daß künftig das Grundgesetz beachtet wird
und die Bundeshaushalte so rechtzeitig eingebracht werden, daß das Vorherigkeitsprinzip zur Geltung kommt, daß insbesondere auch der § 30 der neuen Bundeshaushaltsordnung aus dem Jahre 1969 zur Geltung kommen kann, der lautet:
Der Entwurf des Haushaltsgesetzes ist mit dem Entwurf des Haushaltsplans vor Beginn des Haushaltsjahres dem Bundesrat zuzuleiten und beim Bundestag einzubringen, in der Regel spätestens in der ersten Sitzungswoche des Bundestages nach dem 1. September.
Wir müssen leider heute schon feststellen, daß dies für das Haushaltsjahr 1973 wiederum nicht der Fall sein wird. Dieses Hohe Haus sollte aber darauf hinwirken, daß ab dem Jahr 1974 diese Dinge beachtet werden, und vielleicht wäre es überlegenswert, für die Jahre, in denen Bundestagswahlen stattfinden, einen Doppelhaushalt zu beschließen, um aus diesen Schwierigkeiten endlich herauszukommen.
Es ist auch beanstandet worden, daß ein zweites Verfassungsprinzip nicht beachtet worden ist, nämlich das der Vollständigkeit eines Bundeshaushalts.
Auf Antrag der CDU/CSU im Haushaltsausschuß konnte wenigstens eine grobe Aktualisierung durchgeführt werden, indem Steuermehreinnahmen von 900 Millionen DM eingesetzt wurden, die Schuldenaufnahme gleichzeitig um diesen Betrag gesenkt wurde, die bisherigen über- und außerplanmäßigen Ausgaben von 665 Millionen DM ebenfalls eingesetzt und durch eine sogenannte globale Minderausgabe abgeglichen wurden, d. h., ins Praktische übersetzt, im Haushalt selbst eingespart werden müssen.
Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Rüge muß bestehenbleiben, daß es die Bundesregierung nicht für notwendig erachtet hat, vor der zweiten Beratung eine Aktualisierung insgesamt vorzunehmen.
Das wäre möglich gewesen, denn auch in anderen Fällen hat die Bundesregierung jeweils eine Vorlage an den Haushaltsausschuß gemacht, in der die neuesten Zahlen enthalten waren.
Was aber unsere besondere Aufmerksamkeit erwecken muß, ist die Tatsache, daß ohne verabschiedeten Haushalt die Ausgaben im Jahre 1972 nach
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Dr. Althammer
Angaben der Regierung um 10,5 °,'o, nach Rechnung des Bundesrates und des Sachverständigengutachtens um 11 % gestiegen sind. Dabei ist das nicht einbezogen, was an Ausgabesteigerungen noch im sogenannten Schattenhaushalt enthalten ist.
— Ich bringe jetzt diesen Ausdruck noch einmal, meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD, weil Sie auch dazu einen Entschließungsantrag unserer Fraktion finden, den ich gleichzeitig mitbegründe. Der Umdruck 7/35 enthält eine genaue Aufgliederung dessen, was wir unter „Schattenhaushalt" verstehen. Ich muß leider die Ehre von mir weisen, daß die Opposition diesen Begriff erfunden hätte. Der Begriff „Schattenhaushalt" stammt nämlich aus dem Bundesfinanzministerium. Allerdings war dabei — das muß ich hinzufügen — das inbegriffen, was an übertragbaren Haushaltsresten vorhergeschoben und was an sogenannten Verpflichtungsermächtigungen ebenfalls noch konjunkturwirksam wird. Auch das sind zwei sehr wesentliche Punkte.
Nachdem die Kollegen von der SPD in ihren bisherigen Einlassungen angekündigt haben, daß sie bereit sind, über all diese Probleme einer besseren Einordnung in den Haushalt mit uns zu reden, wird es wohl möglich sein, unseren Entschließungsantrag an den Haushaltsausschuß zu überweisen und dort eine sachgerechte Beratung durchzuführen.
Sie finden in diesem Antrag noch zwei Anmerkungen, eine zur Bundesbahn und eine zur Beseitigung der globalen Minderausgaben. Auch diese Probleme müssen im Haushaltsausschuß behandelt werden.
Sehr wesentlich ist die Frage, wie es zu einer Steigerung von 11 % kommen konnte, nachdem die Bundesregierung das ganze Jahr über verpflichtet war, mit dem sogenannten Nothaushaltsrecht zu regieren. Der Herr Bundesfinanzminister wird uns hoffentlich noch heute diese Frage beantworten.
Ich möchte Ihnen hier die entscheidenden Punkte dieser Ermächtigung nach dem Grundgesetz vortragen. Nach Art. 111 Abs. 1 des Grundgesetzes sind — wenn kein verabschiedeter Haushalt vorliegt — nur in drei Fällen Ausgaben möglich:
a) um gesetzlich bestehende Einrichtungen zu erhalten und gesetzlich beschlossene Maßnahmen durchzuführen,
b) um die rechtlich begründeten Verpflichtungen des Bundes zu erfüllen,
c) um Bauten, Beschaffungen und sonstige Leistungen fortzusetzen oder Beihilfen für diese Zwecke weiter zu gewähren, sofern durch den Haushaltsplan eines Vorjahres bereits Beträge bewilligt worden sind.
Die zweite Bestimmung enthält der Art. 112 des Grundgesetzes. Dort heißt es:
Überplanmäßige und außerplanmäßige Ausgaben bedürfen der Zustimmung des Bundesministers der Finanzen. Sie darf nur im Falle eines unvorhergesehenen und unabweisbaren Bedürfnisses erteilt werden ...
Dabei ist jeweils der Haushalt des Jahres 1971 als Rahmen zugrunde zu legen.
Schon dem Bundesrat ist dieser Punkt aufgefallen. Er hat dazu einen Entschließungsantrag gefaßt, in dem es heißt:
Dem Bundesrechnungshof wird die Prüfung obliegen, ob die Bundesregierung bei ihrer Haushaltsführung diese Vorschriften der Verfassung eingehalten hat.
Nach dem normalen Geschäftsgang wird sich der Bundesrechnungshof damit in etwa drei Jahren beschäftigen. Das ist der Grund, warum unsere Fraktion einen weiteren Entschließungsantrag vorgelegt hat, in dem wir fordern, daß die Frage, ob diese engen verfassungsrechtlichen Grenzen des Nothaushaltsrechts im Jahre 1972 eingehalten worden sind, so schnell wie möglich im Parlament geprüft wird. Es ist das Interesse eines jeden Abgeordneten dieses Hohen Hauses, seine Kontrollaufgabe gegenüber Regierung und Exekutive wahrzunehmen und für eine Nachprüfung zu sorgen.
Nachdem Herr Staatssekretär Hermsdorf im Haushaltsausschuß schon erklärt hat, daß die Regierung bereit sei, diese Möglichkeit zu schaffen, nehme ich an, daß auch dieser Entschließungsantrag vom gesamten Parlament angenommen werden wird.
Ich komme nun zum zentralen Punkt meiner Ausführungen, nämlich zu der Frage, inwiefern der Haushalt 1972 in seinem Vollzug konjunkturgerecht gewesen ist. Man ist bisher mit einer schnellen Bemerkung darüber hinweggegangen und hat gesagt, eine Ausgabensteigerung von 11 % sei wohl konjunkturneutral. Ich meine, diese Frage müßte auch mit Hinblick auf die künftige Entwicklung etwas genauer untersucht werden.
Lassen Sie mich dazu eine grundsätzliche Bemerkung machen, nachdem der Herr Bundeskanzler und der Bundesfinanzminister zu den Fragen der Stabilität einige sehr eigenartige Bemerkungen gemacht haben. Das Problem der trabenden Inflation, das Problem der fortlaufenden Preissteigerungen und das Problem der weiter wachsenden Geldentwertung kann nicht mit dem Hinweis auf das Wahlergebnis 1972 vom Tisch gewischt werden.
Diese Fragen werden sowohl die Regierung wie das Parlament und jeden einzelnen in unserem Volk in den nächsten Monaten und Jahren noch sehr intensiv beschäftigen.
Regierung und Koalitionsparteien werden sich auch nicht mit dem Hinweis auf andere, sei es im Inland oder sei es im Ausland, aus der Verantwortung wegschleichen können. Es wird auch nicht möglich sein, Herr Bundesfinanzminister, diese Sache mit falschen Alternativen zu umkleiden, etwa mit der Alternative, daß 5 °/o Preissteigerungen noch besser wären als 5 °/o Arbeitslosigkeit.
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Dr. Althammer
Das Sachverständigengutachten der fünf Weisen zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, das von der Bundesregierung dem Wähler wohlweislich nicht vor der Wahl zur Kenntnis gebracht wurde, sagt dazu etwas sehr Konkretes und sehr Genaues aus. Ich will nur einen kurzen Absatz zitieren, nämlich die Textziffer 345. Dort heißt es wörtlich:
— Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Regierungsbank, ich spreche vom Sachverständigengutachten und bringe Ihnen ein Zitat. — Das Sachverständigengutachten sagt:
Nichts ist überzeugend an der Vorstellung, man müßte etwa 1 vH mehr Geldwertstabilität für 1 vH mehr Arbeitslosigkeit eintauschen.
Das sagen die Sachverständigen.
Was der Herr Bundeskanzler und seine Minister bisher zu diesen Problemen der Stabilitätspolitik gesagt haben, läßt befürchten, daß sich leider die unheilvolle Entwicklung der letzten drei Jahre in der nächsten Zeit verstärkt fortsetzen wird. Wir werden aber von der Opposition her die Regierung aus dieser Debatte nicht entlassen.
Es wäre sehr lohnend, wenn sich die Regierungsmitglieder und die Abgeordneten wenigstens die wichtigen Teile des Sachverständigengutachtens, insbesondere das vierte Kapitel mit der Überschrift „Widerstand gegen die Inflation" und dessen dritten Abschnitt mit der Überschrift „Die Inflationsgewöhnung bannen", zur Pflichtlektüre für die Weihnachtspause machten.
Die Sachverständigen sprechen davon, daß über der Zukunft die Vorbelastung mit einem bedrückenden Fehlschlag des Jahres 1972 liegt. Das Sachverständigengutachten warnt davor, daß der Geldwert durch Wertsicherungsklauseln, durch Flucht in die Sachwerte, die noch — so wörtlich im Gutachten — als ungebrochene Sparneigung deklariert werden, endgültig zerstört wird.
Ich darf Ihnen eine zentrale Passage des Sachverständigengutachtens schon heute vortragen, obwohl die grundsätzliche Debatte erst im nächsten Jahr stattfinden wird. Das Sachverständigengutachten sagt unter den Ziffern 343 bis 345:
Unmerklich zunächst, doch im Laufe der Zeit immer mehr und schon heute spürbar, verdirbt die Inflation das Urteil der Menschen über wirtschaftliche Zusammenhänge. Es gibt wirtschaftliche Erscheinungen, die zu beklagen sind und die sich in der ökonomischen Analyse teilweise, wenn auch nicht vollständig, als Folgen der Inflation erweisen, die vom Bürger jedoch einem Versagen der marktwirtschaftlichen Ordnung zugerechnet werden und die ihn daher veranlassen, nach einer Einschränkung dieser Ordnung zu verlangen. Stopp der Mieten, Stopp
der Bodenpreise, Kontrolle der Preise bei den Großen, dies sind populäre Parolen. Hier liegen Gefahren für die marktwirtschaftliche Ordnung; denn dirigistische Entscheidungen könnten an die Stelle des Marktprozesses treten, obwohl der Markt und die hier sich bildenden Preise nach wie vor die beste Form sind, knappe Güter und Ressourcen zuzuteilen — oder wo er doch die beste Form wieder sein könnte, wenn nicht länger eine inflationäre Entwicklung Nachfrage und Angebot verzerrte.
In jedem Fall besteht kein Anlaß mehr, leicht zu nehmen, was mit dem Geldwert geschieht. Bis in die jüngste Zeit ist von vielen der Sprachgebrauch für falsch gehalten worden, der einen dauernden jährlichen Anstieg des Preisniveaus von 3 vH bis 4 vH schon als Inflation kennzeichnete. Hinter solchem Widerwillen verbirgt sich leicht die Abneigung, der Gefahr einer Beschleunigung der Geldentwertung schon frühzeitig zu begegnen, nämlich dann, wenn die Opfer, die dies bei anderen Zielen der Wirtschaftspolitik verlangt, noch klein sind. Auch die Tatsache, daß selbst gegenwärtig, bei einer auf über 6 vH gestiegenen Teuerungsrate, noch ein Anstieg der Realeinkommen zu verzeichnen ist, gibt schwerlich einen Grund zur Beruhigung. Wie schnell man von den Trendraten der 50er und 60er Jahre zu einer Teuerung kommen kann, die noch vor zehn Jahren als absolut unerträglich gegolten hat, zeigt mehr noch als die deutsche Entwicklung das Beispiel Großbritannien, wo 1971 eine Geldentwertung von rund 9 vH eintrat und für 1972 eine Rate von 6 vH bis 7 vH schon als „Stabiliserung" zu gelten hat.
Entgegentzutreten ist nicht nur der lähmenden Einstellung, daß eine schleichende Geldentwertung als unvermeidliche Nebenfolge vieler wirtschaftlicher Vorzüge der hochentwickelten Industriegesellschaft hingenommen werden müsse, wie ein Schicksal gleichsam, beklagenswert zwar, doch unaufhaltsam, sondern auch dem Wunschdenken, daß man aus dem inflatorischen Zug aussteigen könne, ohne irgendeinen Preis für die Unterlassungssünden der Vergangenheit zu zahlen.
Die Inflation ist, wie andere soziale Erscheinungen auch, letztlich ein Ergebnis der Ordnung, die wir uns geben, und der Art, wie wir diese Ordnung handhaben. Zwei Jahrzehnte Nachkriegszeit haben gezeigt,
— so sagen die Sachverständigen —
daß sich geringe Geldentwertung mit raschem wirtschaftlichem Wachstum, Vollbeschäftigung und hohem Anstieg der Masseneinkommen verbinden läßt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Fiskalpolitik der öffentlichen Hand, ihre Einnahmen- und Ausgabenpolitik bei Bund, Ländern und
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Dr. Althammer
Gemeinden, haben eine zentrale Bedeutung bei all diesen Fragen der Konjunkturpolitik. Sie sind ein wesentliches Steuerungsmittel dieser Konjunkturpolitik. Der Bundesregierung stehen zur Handhabung dieser Steuerung eine Fülle von Instrumenten zur Verfügung. Ich verweise nur auf das Stabilitätsgesetz, auf den Finanzplanungsrat, auf den Konjunkturrat und die Konzertierte Aktion. Wenn geltend gemacht wird, daß diese Steuerungsmittel nicht ausreichen, dann erwarten wir von der Regierung, daß sie uns so schnell wie möglich Gesetzesvorschläge macht, damit dieses Instrumentarium vervollkommnet werden kann.
Es ist aber von entscheidender Bedeutung, daß die Regierung in ihrer Verantwortung für die Konjunkturpolitik in sich glaubwürdig bleibt. Der Herr Bundeskanzler hat in seiner ersten kurzen Erklärung einen Maßhalteappell an die Tarifpartner gerichtet. Der Herr Bundesfinanzminister hat nach Pressemitteilungen die Drohung hinterhergeschickt, daß man eventuell einen 10%igen Konjunkturzuschlag einführen müsse, wenn diesem Maßhalteappell von den Tarifpartnern nicht genügt werde. Solche Erklärungen brechen natürlich in sich zusammen, wenn die Regierung selbst bei ihren öffentlichen Ausgaben diesen Maßstab nicht einhält.
Auch hier lassen die Aussagen des Sachverständigengutachtens nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig. In Ziffer 265 sagen die Sachverständigen:
Seit 1969, als die Haushalte insgesamt zum letzten Mal kontraktiv waren, hat der Staat das Expansionstempo von Jahr zu Jahr erhöht. Hatte er damit zunächst zum Andauern der Hochkonjunktur und zur Verzögerung des Abschwungs beigetragen, so wirkten die kräftigen Impulse des Haushalts 1971 darauf hin, daß der Abschwung dann nur kurz und mild verlief. Zugleich minderte das für den Staat aber auch den konjunkturpolitischen Anlaß für einen stark expansiven Haushalt im Jahre 1972. Daß dieser noch expansiver als in den Vorjahren ausfiel, hat nicht nur den neuen Aufschwung mitbestimmt, sondern auch einem Nachlassen des Preisauftriebs entgegengewirkt.
Wir haben gesehen, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß das bloße Fahren eines Nothaushalts offenbar keine konjunkturpolitische Dämpfung bringen kann. Um so größere Bedeutung hat deshalb die konjunkturpolitische Aussage des kommenden Haushalts 1973 und der mittelfristigen Finanzplanung bis 1976. Dabei ist es ein sehr großes Handicap, daß wir bei diesem Haushalt 1973 und bei der mittelfristigen Finanzplanung wiederum mit einer sehr erheblichen zeitlichen Verzögerung zu rechnen haben. Es zeigt sich jetzt, daß die Beschlußfassung der Bundesregierung über den Bundeshaushalt 1973 und die mittelfristige Finanzplanung am 6. September 1972 eben doch nur eine Beruhigungspille für die Wähler war. Denn wenn es zuträfe, was Helmut Schmidt in seiner Pressekonferenz am 7. September 1972 erklärt hat — ich zitiere —: „Der Haushalt 1973 ist in allen wesentlichen Punkten gestern von der Bundesregierung durch Beschluß festgelegt worden", dann hätten Regierung und Koalition diesen Haushalt 1973 jetzt einbringen können.
Wir sehen aber inzwischen, daß nun Schritt um Schritt dieser nächste Akt einer staatlichen Stabilitätspolitik hinausgezögert wird. Herbert Wehner hat noch am 7. Dezember im Westdeutschen Rundfunk erklärt, „daß wir im Februar uns verpflichtet fühlen, den Haushalt 1973 einzubringen". Der Bundeskanzler hat bei seiner kurzen Erklärung dann sehr viel vorsichtiger formuliert, indem er sagte, das Kabinett werde sich wahrscheinlich noch im Februar mit dem Haushalt beschäftigen. Auf gut deutsch heißt das, daß sich dieses Parlament frühestens im März oder April mit dem Haushalt 1973 und der mittelfristigen Finanzplanung beschäftigen kann. Wenn man sieht, welche zentrale Bedeutung diesem Haushalt in der Stabilisierungspolitik zukommen soll, wenn man davon ausgeht, daß z. B. das Sachverständigengutachten die Auffassung vertritt, daß gegenüber den jetzt bekannten Pauschalzahlen bei Bund, Ländern und Gemeinden noch rund 8,5 Milliarden DM abgestrichen werden sollen, damit dieser Haushalt wenigstens konjunkturneutral, aber dann noch gar nicht dämpfend sein soll, dann wird bereits deutlich, welche große und schwere Aufgabe hier auf uns zukommt.
Der Sachverständigenrat hat ja auch bereits gewisse Alternativen entwickelt, wie ein solches Ziel auf der Einnahmen- und der Ausgabenseite des Haushalts erreicht werden kann. Wir werden mit großem Interesse beobachten, inwieweit diese Regierung mit ihren Ankündigungen einer Stabilitätspolitik hier in konkreten Punkten Ernst machen will.
Diese Bundesregierung hat von ihrer fast personengleichen Vorgängerin sicherlich ein sehr schweres Erbe übernommen. Um so nötiger wäre es gewesen, daß sie wenigstens in der Frage der Personen des neuen Kabinetts und der Arbeitsteilung eine zukunftsweisende, positive Entscheidung getroffen hätte. Aber was wir und die ganze deutsche Öffentlichkeit mit uns bei dieser Regierungsbildung erlebt haben, war rundum ein Trauerspiel.
Nicht einmal die bewährten „Hofsänger" dieser Regierung konnten sich irgendeine positive Äußerung zu dieser Regierungsbildung abzwingen.
— Mit dem Haushalt dieses Jahres und des kommenden Jahres hängt das insofern zusammen, sehr verehrter Herr Kollege Gallus, als sich hier in der ersten Stunde eine Führungsschwäche des Bundeskanzlers gezeigt hat, die uns für die Zukunft Schlimmes befürchten läßt.
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Dr. Althammer
Wir erinnern uns noch daran, wie man im Jahre 1969 die Einsparung von Ministerien als große Leistung gefeiert hat. Man hat damals gesagt, der Effekt sei nicht nur, daß die Minister mit ihren Gehältern eingespart würden, sondern der eigentliche Effekt liege darin, daß damit die gesamten Ministerien aufgelöst würden und eine Vielzahl von Personen freigestellt werden könne. Ich meine, die Herren, die das damals so lauthals verkündet haben, müssen sich heute die Konsequenzen, die sich aus der Erweiterung des Kabinetts ergeben, ebenfalls anrechnen lassen.
Wir sehen insbesondere die sehr unklare Verteilung der Aufgaben, die bei dem wilden Gezerre um Zuständigkeiten in den einzelnen Ministerien herausgekommen ist. Wo und wie sollen z. B. die Aufgaben des Umweltschutzes in der Zukunft im Kabinett gelöst werden? Sie müssen fast alle Ministerien durchgehen, weil Sie fast überall irgendwelche Zuständigkeiten finden. So, meine sehr verehrten Damen und Herren, kann man eine so wichtige Zukunftsaufgabe doch nicht angehen.
Nehmen Sie ein anderes Beispiel: Wie steht es eigentlich mit dem Schwerpunkt Wissenschaftsförderung? Wir haben gesehen, daß ein organisches Ministerium nur deshalb zerrissen wurde, weil man irgendein Personalproblem zu lösen hatte. Auch das muß schwerstwiegende Auswirkungen auf die Aufgaben haben, die künftig zu bewältigen sind.
Für das der FDP zugeteilte Bundeswirtschaftsministerium müßte man eigentlich einen neuen Namen finden. Ich würde vorschlagen, in Zukunft von einem Bundesministerium für Konjunkturpsychologie zu sprechen.
Die Gipfelleistung bei der Kabinettsbildung war die Einführung von zwei Sonderministern. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie sollten einmal nachlesen, was Erich 011enhauer im Jahre 1953 zu dem Problem der Sonderminister gesagt hat. Ich möchte aus der Vielzahl der negativen Äußerungen zu diesem ganzen Vorgang nur einen Satz aus der „Frankfurter Allgemeinen" vom 13. Dezember zitieren. Dort heißt es:
Es ist bei weitem nicht der größte Nachteil der Berufung von Sonderministern, daß sie ein Ministergehalt bekommen und nichts tun. Viel schlimmer wird es, wenn sie etwas tun ...
Trotz dieses denkbar schlechten Auftakts der neuen Regierung hat die Opposition ihren Teil dazu beigetragen, daß die Bücher über den Bundeshaushalt 1972 und seine leidvolle Geschichte geschlossen werden können. Wir von der Opposition werden unsere Kontrollfunktion auch in bezug auf den Haushalt 1973 und die mittelfristige Finanzplanung wahrnehmen. Wir werden unser kritisches Wächteramt nicht nur bei der Einbringung des Haushalts dokumentieren. Wir werden dafür sorgen, daß die Geldwertstabilität und die Bekämpfung der Inflation weiter im Mittelpunkt des Interesses dieses Hohen Hauses stehen. Dafür werden wir sorgen nicht nur aus Sorge um unser Land, sondern auch aus Sorge um jeden einzelnen in unserem Volk.
Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Abgeordnete Haehser. Für ihn sind 40 Minuten Redezeit angemeldet.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und meine Herren! Es wird davon ausgegangen werden können, daß ich meine Redezeit nicht ganz ausschöpfen muß, denn ein Teil der angemeldeten Redezeit war natürlich zur Entgegnung auf die Bemerkungen des Kollegen Dr. Althammer vorgesehen. Aber da der Kollege Dr. Althammer in vielfacher Weise nicht über den Haushalt, sondern über die Debatte über die Regierungserklärung gesprochen hat und diese Debatte erst im Frühjahr erfolgt,
kann ich es mir ersparen, heute zu diesen Dingen Stellung zu nehmen.
Meine Damen und meine Herren, um so mehr will ich mich mit dem Problem befassen, das heute hier eine Rolle spielt. Dies ist nun einmal der Bundeshaushalt 1972. Am Ende eines sehr langwierigen Prozesses um diesen Bundeshaushalt möchte ich Betrachtungen anstellen über die Situation, wie sie bei Beginn der Beratungen über den Haushalt 1972 gegeben war.
Was eignet sich besser zur Eröffnung einer Rede als ein Zitat? Hier habe ich ein Zitat des Kollegen Strauß, der schon nach Bayern abgemustert zu haben scheint, ein Zitat, das Herr Strauß in seiner Rede zum Haushaltsplan 1972 verwandt hat, die er am 20. Oktober 1971 gehalten hat. Dieses Zitat lautet:
In einer Erklärung, die der Herr Bundeskanzler jüngst abgegeben hat, heißt es auf alle Warnungen vor einer Rezession: Bei mir gibt es keine Rezession. Das ist doch ein ganzer Friedhof voll Leichensteinen falscher Prognosen, auf denen Sie und Ihre Mitarbeiter sitzen.
Herr Kollege Strauß hat in der gleichen Rede am 20. Oktober 1971 gesagt:
Wie steht es mit der Wirtschaft? Sind Unsicherheit und Unruhe hier nur eine böse Propagandaerfindung der CDU/CSU?
Ich kann nur sagen, meine Damen und Herren, Unruhe und Unsicherheit in der Wirtschaft, rhetorisch dargelegt vom Kollegen Strauß im Oktober vorigen Jahres, waren in der Tat Propagandaerfindungen der CDU/CSU.
— Wenn Sie das bestreiten, wie ich Ihrem Zwischenruf entnehme, wenn es also keine Propagandaerfin-
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Haehser
aungen waren, dann war es eine beachtenswerte Leistung der Bundesregierung und der Koalitionsparteien, die heraufbeschworenen Gefahren von unserer Wirtschaft fernzuhalten.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Breidbach?
Herr Kollege Haehser, wollen Sie mit diesen Ausführungen etwa behaupten, daß es im Herbst 1971 nicht mehr als 200 000 Kurzarbeiter gegeben hat, daß die Bilanzen der Unternehmen, vor allem der großen Unternehmen der Schlüsselindustrie, aus dem Jahre 1971, die Ihnen ja zwischenzeitlich bekannt sein dürften, im Hinblick auf die Ertragslage unter Umständen nicht der Wahrheit entsprochen haben?
Ich befürchte, Sie verwechseln die Ausgangslage für die Haushaltsberatungen 1972 mit der von Ihnen durch die gewollte Rezession geschaffene Lage des Jahres, das zur Regierungsumbildung geführt hat.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. von Bismarck?
Darf ich Sie fragen, ob Sie den Sachverständigenbericht gelesen haben und ob Ihnen entgangen ist, daß alles, was Herr Strauß angekündigt hat, Wort für Wort im Sachverständigenbericht steht?
Ich habe hier nur festzuhalten, daß alles das, was der Kollege Strauß hier prophezeit hat und was ja auch quer durch Ihre ganze Wahlpropaganda gegangen ist, nicht eingetreten ist, und zwar erfreulicherweise nicht eingetreten ist.
Was haben Sie denn damals alles angedroht? Wirtschaftsrückgang, Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit haben Sie angedroht. Sie hatten die Bundestagswahlen für dieses Jahr programmiert und haben eine Kampagne der Angst erzeugt,
Angst um den Arbeitsplatz, Angst um Ersparnisse, Angst vor Maßnahmen der Regierung und der Koalition.
Damit der Kollege Barzel nicht zu kurz kommt, will ich nicht nur den bayerischen Parteivorsitzenden, sondern auch ihn zitieren. Denn der Kollege Barzel hat am 20. Oktober gesagt:
Wir können Ihnen nicht folgen, — zum Bundeskanzler —wenn Sie ein, wie wir fürchten, zu schönes Bild der wirtschaftlichen und auch der soziale Lage in der Bundesrepublik Deutschland malen.
. . . Aber der Bundeskanzler hätte hier doch ein Wort zu denen finden müssen, die nun an ihrem Arbeitsplatz bedroht sind . . .
Das war die Ausgangslage für die Haushaltsberatung 1972.
— Herr Kollege Barzel, ich entnehme Ihrem Zwischenruf, daß ich Sie noch einmal zitieren soll.
Ich habe auch noch etwas parat. Der Kollege Barzel hat nämlich bei einer Rede, die er vor der Jahrestagung der Hauptgemeinschaft des deutschen Einzelhandels gehalten hat,
— wenn man viele Reden hält, dann liefert man viele Zitate; das ist doch ganz logisch —
gesagt:
Mit den jüngsten Ankündigungen von Betriebsschließungen, Kurzarbeit und Entlassungen sowie mit der sich abzeichnenden Auftragsflaute ist die Gefahr für die Vollbeschäftigung der deutschen Wirtschaft unübersehbar geworden.
Das alles paßt in einen Rahmen der Panikmache, der für den Ablauf des Jahres 1972 dann ja sehr schön ausgefüllt worden ist.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Althammer?
Herr Kollege Althammer, bitte.
Herr Kollege Haehser, was glauben Sie, welchen Eindruck Ihre jetzt gemachten Ausführungen z. B. auf die Arbeiter in meiner Heimatstadt Augsburg machen, wo bei der MAN jetzt 2000 entlassen werden sollen und bei der zweiten großen Industriefirma Kurzarbeit eingeführt werden muß?
Ja, Herr Kollege Dr. Althammer Ihre Schwarzmalerei hat auf die Arbeiter keinen Eindruck gemacht, wie das Wahlergebnis vom 19. November zu unserer großen Freude eindeutig beweist.
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Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Jenninger?
Dann aber bitte die letzte Zwischenfrage. Lieber Herr von Bismarck, ich werde nur noch die vom Kollegen Jenninger beantworten.
Herr Kollege Haehser können Sie mir die Frage beantworten, wenn diese konjunkturelle Situation im Herbst 1971 nur von der Opposition herbeigeredet worden ist, warum dann die Bundesregierung damals einen Konjunkturhaushalt eingebracht hat?
Nun, Sie wissen ja, daß der Konjunkturhaushalt nicht vollzogen worden ist.
Aber, Herr Kollege Dr. Jenninger, wenn Sie also doch zugeben, daß alles das, was prophezeit worden ist, nicht eingetreten ist, dann habe ich Ihnen doch vorhin die Alternative geboten: mit mir ein Lob der Bundesregierung und der Koalition auszusprechen, all die von Ihnen heraufbeschworenen Gefahren abgewendet zu haben. Seien Sie doch bereit, dieses Lob zu spenden!
Meine Damen und meine Herren, gab der vorgelegte Bundeshaushalt 1972 irgendwelche Veranlassung, die düsteren Prophezeiungen zu unterstreichen? Ich sage nein. Der Entwurf war ein optimistischer Entwurf mit vernünftig begrenzten Steigerungsraten, und er fußte auf der Annahme einer langsam wachsenden Wirtschaftstätigkeit. All dem trug der Entwurf mit einem Volumen von 106,6 Milliarden DM Rechnung. Nun muß gesagt werden, daß der Haushaltsentwurf im Laufe der Beratungen vom Haushaltsausschuß nach oben verändert worden ist.
Wir haben die Ergänzungszuweisungen an finanzschwache Länder wie Bayern, das Saarland, Rheinland-Pfalz, Niedersachsen und Schleswig-Holstein in Höhe von 550 Millionen DM hineingenommen.
Wir haben die Veranschlagung der neuen Drei-Pfennig-Mittel — Zuschlag zur Mineralölsteuer — für Verkehrsinvestitionen in den Gemeinden in Höhe von 830 Millionen DM hineingenommen. Auch haben wir den höheren Anteil der Bundesländer an der Mehrwertsteuer zu berücksichtigen gehabt, was zu einem Milliardeneinnahmeverlust des Bundes geführt hat. Zusammen mit weiteren Ausgabesteigerungen und Einnahmeverminderungen hat, wie ich schon angedeutet habe, der Haushaltsplan 1972 Veränderungen durchgemacht, die dazu geführt haben, daß das Volumen von 106,6 auf 109,3 Milliarden DM ausgedehnt worden ist.
Diese Veränderungen aber, meine Damen und meine Herren, also die Ausweitung des Volumens, sind nicht gegen die Opposition, sondern mit ihrer Zustimmung vorgenommen worden. Insofern ist jede Kritik, die sich etwa in die Richtung bewe-
gen würde, daß der Haushaltsplan einen zu großen Umfang angenommen hätte, bereits in ihrem Ausgangspunkt falsch.
Zu den drei Hauptpunkten für die Veränderung des Haushaltsplans 1972 möchte ich noch einige Bemerkungen machen.
Daß die Ergänzungszuweisungen für die finanzschwachen Länder gewünscht und akzeptiert worden sind, dafür hat wohl die Mehrheit dieses Hauses Verständnis. Wenn ich an den Kollegen Leicht und an mich selber denke, die wir aus Rheinland-Pfalz kommen, oder an den Kollegen Althammer aus Bayern oder an den früheren Kollegen Stoltenberg aus Schleswig-Holstein oder wenn ich den Kollegen Kulawig sehe — um einmal ein Land zu nennen, in dem die Sozialdemokraten einen großen Wahlerfolg errungen haben —, dann sehe ich, daß wir ganz allgemein Verfechter der Ergänzungszuweisungen im Bundestag haben. Das war also sicher eine vernünftige Ausweitung.
Ebenso vernünftig war es, so meine ich, daß wir aus dem Leertitel, mit dem die Drei-Pfennig-Mittel — Zuschlag zur Mineralölsteuer — hätten abgewikkelt werden sollen, einen Haushaltsansatz gemacht haben. Ich selber habe als Berichterstatter für den Verkehrshaushalt die Streichung des Leertitels und die Herbeiführung eines Haushaltsansatzes gefordert, und wir haben uns darauf geeinigt. Das mag Ihnen, meine Damen und meine Herren — insbesondere Herrn Kollegen Althammer —, ein Hinweis darauf sein, wie wir das Problem der sogenannten Schattenhaushalte im nächsten und vielleicht auch im übernächsten Jahr unter Umständen angehen wollen. Aber ich sage noch einmal, dann muß man dieses Problem einvernehmlich zwischen allen Fraktionen dieses Hauses angehen wollen.
Wenn ich noch einen weiteren Punkt nenne, der in diesem Zusammenhang erwähnenswert ist, dann möchte ich die Tatsache nicht unberücksichtigt lassen, daß die Erhöhung der Mineralölsteuer um 3 Pf zugunsten der Verkehrsinvestitionen für die Gemeinden von der Regierung und der Regierungskoalition getragen worden ist. Wir haben die Verantwortung für diese Steuererhöhung und für die sich daraus ergebende Benzinpreiserhöhung übernommen. Wir haben das getan, weil wir der Meinung gewesen sind, daß die Verkehrsinvestitionen in den Gemeinden eine stärkere Hilfe des Bundes nötig hätten. Wir haben mit dieser unserer Annahme ganz gewiß recht.
Bezüglich des höheren Anteils der Länder an der Mehrwertsteuer darf ich daran erinnern, daß der Bundesrat empfohlen hatte, die dem Bund durch die Erhöhung des Anteils der Länder an der Mehrwertsteuer entstehenden Einnahmeverluste durch eine Heraufsetzung der Nettokreditaufnahme von 4,7 auf 7,3 Milliarden DM auszugleichen. Auch das Lamentieren über die ursprünglich beabsichtigte Höhe der Nettokreditaufnahmen ist also ungerechtfertigt, sie war vom Bundesrat so empfohlen worden.
Die Koalitionsparteien SPD und FDP haben die Beschlüsse, wie ich sie aufgezeichnet habe, loyal
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Haehser
mitgetragen. Sie haben aber im Bundestag am
26. April 1972 einen Entschließungsantrag auf Umdruck 272 eingebracht. In diesem Entschließungsantrag war seitens der SPD und der FDP von der
Bundesregierung klar gefordert worden, die Nettokreditaufnahme auf 6 Milliarden DM zu reduzieren.
Diese Aufforderung an die Bundesregierung war
ein Stück Aktualisierung nach neuerem Erkenntnisstand.
Nun wissen war alle, meine Damen und meine Herren, wie es mit dem Haushalt 1972 weiterging. Den Entschließungsantrag mit der Aufforderung, die Nettokreditaufnahme herabzusetzen, haben wir noch beschließen können, aber kurz danach entstand die Situation, die man die Patt-Situation genannt hat. Obwohl ich dem Ratschlag des Kollegen Kirst gern folgen will, hier keine Vergangenheitsbewältigung zu vollziehen, darf ich dennoch daran erinnern, daß die Patt-Situation nicht die Schuld der Regierung gewesen ist, auch nicht der Regierungskoalition als Schuld angelastet werden kann, sondern allenfalls ein paar Herren, die damals ein bißchen viel Aufsehen in der deutschen Presse erzeugt haben und die ich deswegen heute nicht abermals nennen will. Diese damalige Situation führte zur Rücküberweisung des Etats an den Haushaltsausschuß.
Und nun darf ich daran erinnern, was der Haushaltsausschuß nach der Sommerpause beschlossen hat. Ich nenne nur ein paar Punkte, die meines Erachtens erwähnenswert sind:
1. Eine neue Ausgabenkürzung in Höhe von 1,3 Milliarden DM.
2. Eine Berücksichtigung von 1 Milliarde DM eingetretener Mehrausgaben.
3. Die Veranschlagung von 2,1 Milliarden DM.
4. Die weitere Reduzierung der Nettokreditaufnahme auf 5 Milliarden DM.
Dem von mir vorhin zitierten Entschließungsantrag der Koalitionsparteien ist also auch mit der weiteren Reduzierung der Nettokreditaufnahme Rechnung getragen worden.
Wenn Sie das so mitnehmen wollen, wie ich es sage, meine Damen und meine Herren, war das die zweite Aktualisierung des Haushaltsplanentwurfs 1972. Der jetzt mögliche Schlußstrich unter diese Aktualisierung ist vorgestern vom Haushaltsausschuß gezogen worden. Beispielsweise entsprechend dem Punkt 3 der 15 Punkte der Bundesregierung vom
27. Oktober 1972, Steuermehreinnahmen zur Senkung der Nettokreditaufnahme zu verwenden, hat der Haushaltsausschuß vorgestern beschlossen, die Nettokreditaufnahme abermals zu senken, und zwar auf jetzt 4,035 Milliarden DM.
— Ach, das ist doch wieder ein Schlagwort, Herr Kollege Althammer. Sie sind doch Fachmann, Sie dürfen doch nicht mit Schlagworten operieren.
Meine Damen und meine Herren, aus der ursprünglich beabsichtigten Nettokreditaufnahme von 7,3 Milliarden DM ist nun eine solche in Höhe von 4,035 Milliarden DM geworden. Das Haushaltsvolumen ist herabgesetzt worden. Alles, was ich in diesen letzten Sätzen gesagt habe, widerlegt ganz eindeutig Ihr Märchen vom angeblichen Finanzchaos in der Bundesrepublik Deutschland.
Wir haben es vielmehr mit einer soliden Haushaltsführung und einer Steigerungsrate zu tun, die allem Anschein nach unter 11 % bleiben wird.
Lassen Sie mich folgendes hinzufügen. Die Regierung hat bisher zwar ohne verabschiedeten Haushalt regieren müssen, aber sie hat sich mit ihren Ausgaben in den Grenzen gehalten, die der eigene Haushaltsentwurf und die mehrfache Aktualisierung durch den Haushaltsausschuß gezogen haben. Wir stellen das ausdrücklich fest. Wir fügen aber dieser ausdrücklichen Feststellung hinzu, daß wir das auch nicht anders erwartet haben; denn eine demokratische Regierung nützt die momentane Handlungsunfähigkeit des Parlaments nicht aus, sondern hilft auf der Suche nach Auswegen.
Dieser Ausweg waren die Neuwahlen. Hier sei ausdrücklich vermerkt, daß ohne die Entschlüsse des Bundeskanzlers, die im Einvernehmen mit den Koalitionsparteien getroffen worden sind, Neuwahlen so nicht möglich gewesen wären. Deswegen haben wir es, weil zwischen der bisherigen Beratung des Haushaltsplans und der jetzigen dritten Beratung Neuwahlen liegen, zwar mit einem alten Haushalt zu tun. Die bisherigen Abgeordneten kennen ihn, aber die neuen Abgeordneten können dem Ratschlag folgen, den ich nachher geben werde, nämlich diesem Haushalt zuzustimmen, denn er kann sich sehen lassen. Wir haben es mit beträchtlichen Verbesserungen der Bundeshilfen für Verkehrsinvestitionen der Gemeinden zu tun, wie ich es vorhin dargelegt habe. Wir haben es in diesem Haushalt mit beträchtlichen Verbesserungen zugunsten unserer Bundesländer zu tun.
— Aber es ist alles schön in dem Haushalt niedergeschrieben, den Sie nachher ablehnen wollen.
Wir haben es mit bedeutenden Verbesserungen der Leistungen für die innere Sicherheit in unserer Republik zu tun. Verbunden damit haben wir es mit einem guten Ausbau des Bundeskriminalamtes zu tun. Des weiteren haben wir es mit dem endgültigen Anpacken des Problems des Umweltschutzes zu tun.
Das alles ist in diesem Haushaltsplan 1972 enthalten. Es sind auch 21,6 Milliarden DM an Leistungen für den Bereich Arbeit und Sozialordnung enthalten. Enthalten sind auch 14,75 Milliarden DM für den Bereich der Verkehrsinvestitionen und viele Milliarden DM für Jugend und Gesundheit, Bildung und Ausbildung, Wohnungsbau und Verteidigung.
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Haehser
Die Aufzählung dieser Leistungen aus dem Bundeshaushalt 1972 — Leistungen für den Bürger — gibt zugleich einen Hinweis darauf, daß man den Haushalt nicht beliebig kürzen kann — das ist ein Hinweis für kommende Jahre —, weil eine beliebige oder gar übertriebene Kürzung des Bundeshaushalts zu einem Leistungsdefizit gegenüber unseren Mitbürgern führen könnte.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Bundesetat 1972 hat ganz gewiß einen ungewöhnlichen Weg hinter sich, aber er ist keine Leiche, Herr Dr. Jenninger, wie Sie das gestern sagten. Es ist mir da übrigens zum erstenmal aufgefallen, daß Sie grob formulierten, und deswegen ist mir auch zum erstenmal in Erinnerung gekommen, daß Sie früher ein enger Mitarbeiter Ihres Kollegen Strauß gewesen sind.
Aber mein Rat an Sie: Überlassen Sie die groben Töne ihm, und nehmen Sie sich vielleicht ein Beispiel an mir; das stünde Ihnen nämlich besser zu Gesicht.
— Ach, was sind das für schöne Zwischenrufe! Es ist schade, daß ich sie nicht alle hören kann; ich würde zu gern darauf eingehen.
Meine Damen und meine Herren, ich wiederhole es: Der Bundeshaushalt ist keine Leiche,
sondern er spiegelt in den Millionen und Abermillionen, Milliarde für Milliarde die Leistung für unsere Mitbürger wider, und diese Leistung können wir uns nicht vermiesen lassen. Wir sollten uns auch nicht die Arbeit des Haushaltsausschusses vermiesen lassen. In den bisherigen Beratungen — einschließlich der vorgestrigen — sind — unter Ihrer Leitung übrigens, Herr Kollege Leicht — Beschlüsse zustande gekommen, die wir doch nicht — einschließlich der Beschlüsse von vorgestern — leichtfertig als unbedeutend abtun wollen.
Herr Kollege Barzel hat gesagt, er habe sich mit der Rolle der Opposition abgefunden. Nun gut, der Vorsprung von 46 Mandanten für die Koalitionsparteien ist vielleicht auch für ihn etwas zu groß, als daß man ihn verändern könnte. Aber sich mit der Oppositionsrolle abzufinden darf doch nicht dazu führen, daß man nun in Opposition zu sich selbst gerät. Bekennen Sie sich doch zu den Beschlüssen des Haushaltsausschusses!
Wenn Sie hier per Zwischenruf die Frage aufwerfen, auf Grund welcher Initiative diese Beschlüsse zustande gekommen seien, dann muß ich als letztes Stück in meiner Beweiskette hinzufügen, daß wir von der Entschließung der Koalitionsparteien vom April 1972 bis zu unseren Anträgen bei der Rücküberweisung an den Haushaltsausschuß und unserer Arbeit dort bis vorgestern unsere Linie verfolgt haben, die Kreditaufnahme zu verringern und dafür die Steuermehreinnahmen zu verwenden. Hier geht es also gar nicht darum, daß man fragt, wessen Initiative das war, sondern hier geht es darum, auch im Interesse des Ansehens des Ausschusses festzuhalten: Das haben wir vorgestern gemeinsam so gewollt und gemeinsam so beschlossen.
Der Haushalt 1972, meine Damen und meine Herren, spiegelt schließlich auch die Gesetzgebungsarbeit von sechs vorangegangenen Legislaturperioden wider. Mit der Zustimmung zum Haushalt 1972 auch zu dieser späten Zeit im Jahre 1972 verbindet die sozialdemokratische Bundestagsfrakti on auch die Würdigung der Gesetzgebungsarbeit der letzten sechs Legislaturperioden.
Nun, ich richte einen Appell an die Opposition. Ich spreche ihn aus, wenngleich ich mir fast sicher bin, daß er nichts nützt.
Aber ich bin sicher, mit Ihrer stillschweigenden Zustimmung sagen zu dürfen:
Sie werden sich nachher nicht wegen seines Inhalts gegen den Bundeshaushalt 1972 wenden, sondern weil Sie der Meinung sind, es gehöre zur Rolle der Opposition, nein zu sagen.
Sie haben sich darin bisher geübt; Sie scheinen das weiterhin vorzuhaben. Sie haben von vorangegangenen Oppositionen wenig gelernt, meine Damen und meine Herren.
Lassen Sie mich zum Schluß sagen: Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion sagt ja zum Inhalt und auch zum wechselvollen Schicksal dieses Bundeshaushalts 1972; denn das Auf und Nieder dieses Haushalts führte schließlich zu den von uns gewünschten Neuwahlen des Deutschen Bundestages, führte zu klaren Mehrheiten und führte zu klaren Möglichkeiten für das neue Jahr 1973, für das ich Ihnen übrigens, einmal ganz unabhängig von verschiedenen politischen Standpunkten, namens der größten Fraktion dieses Bundestages alles Gute wünsche.
Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Abgeordnete Kirst. Für ihn ist eine Redezeit von 40 Minuten beantragt worden.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich gehe davon aus, daß ich meine Redezeit ebenso wie Kollege Haehser nicht auszuschöpfen brauche. Ich habe bei der Bemessung der Redezeit an die in der vergangenen Legislaturperiode gesammelten Erfahrungen angeknüpft, in der allein der Kollege Strauß immer Stoff für eine Erwiderung von einer Viertelstunde bis 20 Minuten
Kirst
geboten hat. Das war heute nicht der Fall. Ich glaube, ich werde auf die Ausführungen des Kollegen Althammer nur in einer Beziehung unmittelbar einzugehen haben.
Der wesentliche Unterschied der Fassung des Haushalts, die wir heute in dritter Lesung beschließen werden, zu der Fassung, die der Haushaltsausschuß nach Abschluß der „normalen" Beratungen, wenn ich einmal so sagen darf, im April dem Plenum des Bundestages vorgelegt hatte, besteht in der Tat darin, daß die Nettokreditaufnahme damals 7,3 Milliarden DM betragen sollte, während wir heute nach dem letzten Stand, nach den letzten Beschlüssen des Haushaltsausschusses bei 4,035 Milliarden DM angelangt sind. Dies scheint mir nicht nur das wesentlichste Element der Veränderung in den letzten acht Monaten, sondern in mehrerer Hinsicht einer näheren Betrachtung wert zu sein.
Diese rückläufige Entwicklung der vorgesehenen Nettokreditaufnahme führt natürlich das von der Opposition und anderen kultivierte Gerede von Finanzkrise und Finanzchaos ganz augenfällig ad absurdum. Das sollten wir zunächst einmal feststellen. Die Opposition hat sich hier mit ihrem aufgeregten Gehabe blamiert, und wir sind in der Gelassenheit, mit der wir die Dinge von Anfang an gesehen haben, bestätigt worden. Ich habe immer gesagt: Wir sollten uns gerade im Bereich der Finanzpolitik weniger ins Spekulieren verlieren als über feststehende Tatsachen, über abgeschlossene Prozesse sprechen. Insofern können wir in der Tat feststellen: Mit dem Haushalt 1972, den wir heute beschließen, beschließen wir seit dem Regierungswechsel 1969 — ich will gar nicht sagen, daß das früher anders gewesen sein muß — den dritten soliden Haushalt. Wir haben drei Jahre solider Finanzpolitik hinter uns, ob das denen, die das Gegenteil behaupten, paßt oder nicht. Hier zählen Tatsachen. Gerede zählt nicht, mag es hier und draußen noch so hektisch vorgebracht werden.
Zum zweiten, meine Damen und Herren, möchte auch ich noch einmal darauf hinweisen, daß die Nettokreditaufnahme von 4 Milliarden DM, die wir jetzt haben, in der Tat um 3 Milliarden DM höher ist als im Jahre 1971. Dabei muß man aber sehen, daß wir im Jahre 1972 rund 3 Milliarden DM mehr für die Länder ausgeben, nämlich durch die Erhöhung ihres Anteils an der Mehrwertsteuer sowie durch die schon zitierten Ergänzungszuweisungen, demgegenüber aber nur etwa i Milliarde DM mehr aus den bekannten Verbrauchsteuererhöhungen in die Kasse bekommen werden, die ja mit den „Wohltaten" für die Länder ursächlich verknüpft waren. Die Opposition hat auch das seinerzeit nicht eingesehen und die Erhöhung der Verbrauchsteuern abgelehnt.
Aber uns Freien Demokraten erscheint es besonders wichtig, aus dem Vollzug des Haushalts 1972 mit dem sich ständig verbessernden Status und der nach dem Höhepunkt im April ständig zurückgehenden Nettokreditaufnahme eine Schlußfolgerung für die Zukunft zu ziehen, nämlich die, daß diese Erfahrung des Jahres 1972, die insofern keine einmalige und keine absolut neue ist, natürlich in der Frage etwa möglicher Einnahmeverbesserungen für das Jahr 1973 und folgende zur äußersten Zurückhaltung veranlaßt. Das möchten wir hier gern ausdrücklich auch als Lehre aus dieser Entwicklung feststellen. Die vorsichtige Betrachtung der FDP scheint sich hier doch zu bestätigen und, wie ich hoffe, auch durchzusetzen.
Andererseits möchte ich sehr deutlich sagen, daß vom finanzpolitischen Status des Bundes aus gesehen natürlich durchaus mehr als 4 Milliarden DM, ja daß selbst die 7,3 Milliarden DM aus der Ausschußfassung vom April vertretbar gewesen wären. Die Diskussion über die Aufnahme von Krediten durch die öffentliche Hand ist etwas merkwürdig. Sie wird manchmal so geführt, als gäbe es hinsichtlich der moralischen Qualität des Staates verschiedene Arten von Nachfragern auf dem Kapitalmarkt. Aber wir dürfen doch wohl feststellen, daß sich der Staat als Nachfrager am Kapitalmarkt in keiner anderen, keiner besseren und keiner schlechteren Position und Funktion befindet als die nachfragende Wirtschaft. Auch das muß man doch einmal sehr deutlich feststellen, und unabhängig davon, daß man mit dem Vollzug des Haushalts 1972, so wie er sich zeigt, zufrieden sein kann, ist der im Lande immer wieder anzutreffenden Verketzerung der Kreditaufnahme durch die öffentliche Hand entgegenzutreten. Denn - um es einmal so zu formulieren — es gibt keine doppelte kreditpolitische Moral. Der Kreditnehmer Staat ist dort, wie gesagt, in der gleichen Lage wie jeder andere Kreditnehmer. Die Kreditfinanzierung für Investitionszwecke kann nicht für die Wirtschaft gut und für den Staat schlecht sein; sie ist für beide das gleiche. Natürlich geht es schon gar nicht an, in Sonntagsreden zu erklären: Nicht mehr oder möglichst weniger Steuern für den Staat, nicht mehr oder möglichst weniger Kredite für den Staat, aber für alle möglichst mehr Leistungen vom Staat!
Trotz der erfreulichen Reduzierung des Kreditvolumens sollten wir im Konfliktfall angesichts der Alternative Finanzierung durch mehr Kredite oder Finanzierung durch mehr Steuern unsere gesellschaftspolitische Präferenz zum Ausdruck bringen. Denn Steuern sind für den Bürger endgültig weg, während gezeichnete Anleihen direkt oder indirekt der Vermögensbildung des einzelnen dienen, der dieses Geld für staatliche Investitionen zur Verfügung stellt. Die Grenze liegt, wie gesagt, immer in der Ergiebigkeit am Kapitalmarkt, und jene etwas mittelalterliche Vorstellung, daß vielleicht der Staat sein Geld, mit dem er Kredite finanziere, selbst drucke, müßte in unserem aufgeklärten Zeitalter doch endlich einmal abzubauen sein.
Natürlich ist eine solche verstärkte Kreditfinanzierung nicht in alle Ewigkeit, nicht unbegrenzt möglich. Aber wenn man sich vorstellt, daß die Alternative vielleicht wäre, ein bestimmtes Maß von Investitionen statt bei unveränderten Einnahmen in einem Zeitraum von zwanzig Jahren durch höhere Einnahmen, wie wir meinen, durch höhere Kredite in zwölf Jahren durchzuführen — nur um einmal Zahlen als Beispiel zu nennen —, dann zeigt das,
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Kirst
wohin diese Überlegung führt und daß das nicht ins Unendliche fortgesetzt werden kann.
Neben dieser Betrachtung zur Veränderung des Kreditvolumens möchte ich nun wie meine beiden Vorredner einige Bemerkungen zur konjunkturpolitischen Auswirkung des Haushalts machen. Der Kollege Althammer hat — das wird das einzige Mal sein, daß ich ihn zitiere — die Ziffer 343 des Sachverständigengutachtens — so war es wohl — zitiert. Wir wissen ja alle, daß wir das Sachverständigengutachten im Zusammenhang mit der Vorlage des Jahreswirtschaftsberichts noch ausführlich diskutieren werden, wie das immer gewesen ist. Aber Sie haben die Ziffer 343 als einen besonderen Dollpunkt in der Argumentation der Sachverständigen empfunden und, wie Sie meinen, auch als eine Bestätigung Ihrer Propaganda. Nur, Herr Kollege Althammer, so ist es ja nicht. Die Sachverständigen haben die Dinge vielleicht sehr nüchtern, wissenschaftlich gesehen, aber sie haben vielleicht nicht die nötige Ahnung von dem, was im politischen Raum vor sieht geht. Wir denken ja nicht daran, Herr Kollege Althammer, dem marktwirtschaftlichen System — und darum geht es in dem Zitat - die Schuld an der von uns allen gemeinsam beklagten Preisentwicklung zuzumessen. Wir denken nicht daran, daraus das abzuleiten, was da gesagt wird. Sie aber machen ja etwas ganz anderes. Sie machen — und das muß ich Ihnen seit drei Jahren sagen — etwas viel Gefährlicheres, indem Sie die Regierung für Dinge verantwortlich machen, die sie nur ganz begrenzt zu vertreten hat. Weil in unserem Wirtschaftssystem die entscheidenden Daten der wirtschaftlichen Entwicklung nicht von der Regierung gesetzt werden, verleugnen Sie eben ständig das angeblich von anderen bedrohte marktwirtschaftliche System und machen es insofern unglaubwürdig. Sie rufen doch dauernd indirekt oder sehr direkt nach dem Staat, indem Sie der Regierung Entwicklungen anlasten, die ihr eben nicht anzulasten sind. Vielleicht überlegen Sie sich einmal, ob Sie hier in der Argumentation nicht doch auf dem falschen Wege sind und genau das bewirken, was Sie vermeiden wollen, wenn Ihre Berufung auf die Ziffer 343 ernst gemeint ist.
Die konjunkturpolitische Auswirkung des Haushalts war ja das ständige Thema, und nach dem, was wir heute gehört haben, ist zu befürchten, daß dieser Stil ohne viel Nutzen für alle Seiten fortgesetzt wird. Ich möchte dazu ganz einfach und lapidar sagen: ich bestreite ganz einfach, daß die Haushaltspolitik der sozialliberalen Regierung inflationär gewirkt hat. Das ist einfach nicht wahr.
Sowie ich das speziell schon bei der Kreditnachfrage dargelegt habe, möchte ich das hier auch noch einmal generell sagen. Es gibt keine Nachfragen unterschiedlicher moralischer oder wie immer bezeichneter Qualität. Nachfrage ist Nachfrage, ob sie nun vom Staat oder vom einzelnen oder von der Wirtschaft ausgeübt wird. Das muß doch einmal sehr deutlich gesagt werden. Soweit eben Staatsausgaben nicht in dem Maße inflationär finanziert werden — das tun wir ja nicht, weil wir das wissen —, wie uns das immer suggeriert wird, wie das früher einmal war, als der Staat sich das Geld selbst druckte — das System haben wir ja Gott sei Dank nicht mehr —, ist es völlig gleichgültig für die Geldwertentwicklung, wer als Nachfrager auftritt. Mark ist Mark für die Entwicklung der Preise, ob der Staat oder der Privatmann sie ausgibt; und darauf kommt es in diesem Zusammenhang ja an.
— Natürlich, Herr Althammer. Aber begreifen Sie doch endlich einmal, daß es eben nicht darauf ankommt, wer etwas ausgibt, sondern darauf, wieviel insgesamt ausgegeben wird. Hier liegt der Hebel nicht in der Haushaltspolitik — ich hätte das später noch gesagt , sondern in dem Bereich, für den wir gar nicht zuständig sind — das ist Sache der Bundesbank —, nämlich im Bereich der Regulierung der Geldmenge. Das ist doch das Entscheidende.
Wenn man die Rolle der Haushalte überhaupt dabei einmal berücksichtigt, wird doch die Argumentation unglaubwürdig, jedenfalls dann, wenn man sich bemüht, sie parteipolitisch zu führen, wie das die CDU/CSU tut, und dann, wenn man weiß, daß von dem gesamten Volumen aller öffentlichen Haushalte nur gut 40 % auf den Bund entfallen; die übrigen knapp 60 % entfallen auf die Länder und auf die Gemeinden. Wir wissen doch alle, daß die Länder und Gemeinden zu einem nicht unerheblichen Teil von CDU oder CSU regiert werden. Mit parteipolitischen Argumenten kann man die Auseinandersetzung hier also nicht führen.
Wenn der Bundesrat, dem wir für sein Entgegenkommen in der Fristenfrage im übrigen dankbar sind, in seiner Stellungnahme zum Haushalt in Ziffer 4 das Steigen der Ausgaben kritisiert und sagt, dies sei nicht konjunkturgerecht, so kann ich nur sagen: Das ist wirklich eine Situation, im Hinblick auf die man das Sprichwort von demjenigen, der im Glashaus sitzt und nicht mit Steinehen werfen sollte, hätte erfinden müssen, wenn es es noch nicht gegeben hätte. Es ist eine typische Glashaus-Situation, aus der dieser unberechtigte Vorwurf des Bundesrates gegen das Steigen des Bundeshaushalts erhoben wird. Meine Damen und Herren, Herr Althammer, ich bin mir dabei dessen bewußt, daß ich zu manchen Prämissen der Darstellung des Sachverständigenrates, soweit sie die Fiskalpolitik angehen, im Gegensatz stehe. Aber ich glaube, wir sind als Parlament souverän genug, nicht alles, was uns vorgelegt wird, als gegeben hinzunehmen. Das, was die Sachverständigen sagen, muß diskutierfähig sein und darf von uns nicht nur nach Bedarf nachgeplappert oder nachgebetet werden.
Zunächst einmal ist folgendes zu sagen — ich habe darauf schon am Freitag hingewiesen —: Die Schelte der Sachverständigen — das schließt an das an, was ich eben sagte — gilt allen öffentlichen Haushalten; sie gilt insoweit dem Bund noch am allerwenigsten. Vereinfacht dargestellt — man muß
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sich einmal in die Denk- und Berechnungsweise des Sachverständigenrates hineinzuversetzen bemühen —, gehen die Sachverständigen eben von dem Denkansatz aus, daß jede Kreditfinanzierung öffentlicher Haushalte prozyklisch, konjunkturstärkend, preissteigernd wirke. Hier liege der entscheidende Unterschied in der Betrachtung. Ich verweise auf das, was ich zur Kreditfinanzierung gesagt habe.
Schließlich bieten die Sachverständigen auch überhaupt keine Alternative. Sie treffen einfach Feststellungen, aber Alternativen bieten sie nicht. Wäre — wir wollen das jetzt einmal von der anderen Seite aus betrachten und uns in die Vorstellungen der Sachverständigen hineinversetzen — von den öffentlichen Haushalten kein Kredit aufgenommen worden, so wäre das Angebot am Kapitalmarkt — davon gehe ich aus trotzdem dasselbe gewesen. Dann hätten nur andere diese Kredite aufgenommen und ihre Nachfrage ausgeübt. Insofern halte ich den Vorwurf, der in diesen Berechnungen steckt, auch nicht für ganz logisch.
Ich wiederhole das, was ich gesagt habe: Es gibt keine Nachfrage — sei es auf dem Gütermarkt, sei es auf dem Arbeitsmarkt, sei es auf dem Kapitalmarkt — unterschiedlicher moralischer oder konjunkturpolitischer Qualität, je nachdem, wer die Nachfrage ausübt. Denn entscheidend ist nicht, wer das Geld ausgibt, sondern welche Geldmenge in einer Volkswirtschaft insgesamt zur Verfügung steht; die Geldpolitik also ist das Entscheidende.
Aber man muß die Dinge auch einmal in Zahlen sehen. Die Sachverständigen gehen davon aus, daß die öffentlichen Haushalte im Jahre 1972 um 13 Milliarden DM zu hoch gewesen seien. Wenn ich das einmal auf den Bundesanteil umrechne, dann sind das rund 5,5 Milliarden DM. Nun frage ich mich, wo wir das hätten weniger ausgeben können und sollen.
Um Haushaltspolitik machen zu können, meine Damen und Herren, muß man eben nicht nur ein Meister in Globalberechnungen sein, sondern auch etwas vom Detail der Haushalte verstehen.
Dazu nur noch wenige Worte. Wir haben 27 Einzelpläne. Die meisten von ihnen haben noch nicht einmal ein Gesamtvolumen von 5,5 Milliarden DM. Das ist die Zahl, die ich soeben nannte. Sie sind schon deshalb — das werden Sie mir zugeben — gar nicht dazu geeignet, hier durchgreifend etwas zu bewirken; dann müßte man nämlich mehrere von ihnen völlig ausradieren. Unter den 27 Einzelplänen gibt es nur vier, die — jeder für sich genommen — mehr als 5,5 Milliarden DM umfassen. Diese vier zusammengenommen umfassen aber wiederum 63 % des gesamten Haushaltsvolumens, nämlich 70 Milliarden DM. Die Schwerpunkte, die auch Kollege Haehser schon genannt hat, sind der Haushalt Arbeit und Sozialordnung, in dem alles gesetzlich gebunden ist, der Verkehrshaushalt, in dem entweder durch den Anteil der Mineralölsteuer oder zwangsläufig — insbesondere durch die Zuwendung an die Bundesbahn — Bindungen bestehen, der Einzelplan 14, der größte, an dem wir nichts
ändern können und nichts ändern wollen, und der Einzelplan 60. Ich kann nur allen, die es angeht sagen: Kürzungsvorschläge von Format und mit Substanz werden dankbar angenommen. Ich bitte das nicht falsch zu verstehen, meine Damen und Herren. Es sollte nicht als eine Resignation gegenüber immer größerem Staatsbedarf verstanden werden. Sicherlich ist diese Skepsis berechtigt. Aber auch hier doch noch einmal ein sehr deutliches Wort: Es genügt nicht, sich jeden Sonntag an die Klagemauer zu stellen und über den wachsenden Staatsbedarf zu reden, wenn man dann montags selbst als Lobbyist im Dienst dafür sorgt, daß er dort, wo man selbst Interesse hat, steigt.
Denn, meine Damen und Herren, wer ist denn dieser Staat?! Das ist ja kein Abstraktum, kein Moloch, Leviathan oder etwas dergleichen, sondern die Gesamtheit von uns allen, der Bürger, die wir hier vertreten. Dieser so viel zitierte wachsende Staatsbedarf ist nicht mehr und nicht weniger als der Reflex der Bedürfnisse dieser Bürger — an den Staat herangetragen —, wobei ich gern die Unterscheidung mache, daß es wirkliche und suggerierte Bedürfnisse gibt. Wenn wir sparen wollen, sollten wir, glaube ich, bei den suggerierten Bedürfnissen anfangen.
Lassen Sie mich als letztes, meine Damen und Herren, noch ein paar Bemerkungen zum Haushaltsvollzug des Jahres 1972 machen. Daß wir hier als 7. Deutscher Bundestag eine an sich dem 6. Deutschen Bundestag gestellte Aufgabe zu lösen haben, resultiert daraus, daß wir zwar ein Budgetrecht des Parlaments, aber keine Budgetpflicht haben; und das ist ja auch nicht vorstellbar. Kein Abgeordneter kann — Gott sei Dank! — zu irgend etwas gezwungen werden, was er nicht will. Das ist die, wenn ich von den politischen Zusammenhängen, auf die auch ich meinerseits — nachdem der Kollege Althammer dankenswerterweise auf Vergangenheitsbewältigung verzichtet hat nicht eingehen will, einmal absehen darf, ganz einfache Erklärung für diese Situation. Aber es steht immerhin fest: nach der Ablehnung des Kanzleretats im April, die die Weichenstellung bedeutete, haben Koalition und Regierung unter Abwägung aller Umstände — da sind ja gewisse Dinge, die sich aus dem Kalender ergeben, einmalige Ereignisse, die in diesem Jahr in der Bundesrepublik besonders erfreulich waren, zu berücksichtigen gewesen — den frühest-möglichen Zeitpunkt für eine neue Mehrheit und damit auch für eine Mehrheit bei der Verabschiedung dieses Haushalts festgesetzt.
Dankenswerterweise haben ja die Väter des Grundgesetzes in den schon vielfach zitierten Artikeln die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß trotzdem der Betrieb — wenn ich es einmal so formulieren darf — weitergegangen ist, und zwar, wie wir überzeugt sind, nach Gesetz und Verfassung.
Die politische Entscheidung über den Haushalt 1972 — darüber kann es keinen Zweifel geben — ist mit am 19. November 1972 gefallen. Wenn
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Kirst
ich dieses Datum nenne, möchte ich abschließend diese Haushaltsberatung doch zum Anlaß nehmen, den Wunsch zum Ausdruck zu bringen, daß wir nach der großen Konfrontation und Polarisierung in den letzten drei Jahren — sie waren im wesentlichen wohl darin begründet, daß Sie den Regierungswechsel damals als einen „Betriebsunfall" betrachtet haben, wozu wohl jetzt nicht mehr die geringste Veranlassung besteht — die sachlichen Gegensätze in diesem Hause hart, aber mit mehr Ruhe und Sachlichkeit austragen. Wenn ich es etwas bildhaft sagen darf: Wir sollten uns für die nächsten vier Jahre vornehmen, mit dem Florett zu fechten und Degen und Säbel in der Rüstkammer zu lassen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit ihrer Zustimmung zum Haushalt 1972 bekundet die FDP-Fraktion des 7. Deutschen Bundestages ihr Vertrauen und ihre Unterstützung für die vom Wähler am 19. November 1972 so überzeugend bestätigte Regierung Brandt/Scheel, die Regierung der sozialliberalen Koalition.
Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen, Herr Schmidt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung möchte zunächst ihre Dankbarkeit gegenüber allen Seiten zum Ausdruck bringen, die es
) durch Verzicht auf die Einhaltung von Fristen und auf die Einhaltung sonstiger Formalien ermöglicht haben, daß dieses Haushaltsgesetz noch vor Ende des Jahres verabschiedet werden und in Kraft treten kann. Ich möchte in diesen Dank ausdrücklich den Bundesrat einbeziehen - ich bitte, daß das den Herren berichtet wird —, der es seinerseits schon am 1. Dezember und dadurch, daß er heute nachmittag den zweiten Durchgang vornimmt, ermöglicht hat, daß dieses Gesetz vor Ablauf des Jahres in Kraft tritt.
Ich habe mich hier nicht deshalb zu Wort gemeldet, um irgend jemanden noch zu einer „zweiten Runde" zu reizen. Ich werde mich auf einige wenige Klarstellungen beschränken, zu denen sich die Bundesregierung durch diese Debatte allerdings veranlaßt sieht. Es handelt sich — mit einer einzigen Ausnahme — um rechtliche Punkte.
Ich möchte gegenüber der Argumentation des Kollegen Althammer daran erinnern, daß schon im August dieses Jahres der Präsident des Rechnungshofes — sicherlich nicht für seine Person, sondern nach Beratung in seiner Institution — darauf hingewiesen hat, daß sich aus dem Art. 110 des Grundgesetzes die Verpflichtung des Bundestages herleitet, durch einen Haushaltsgesetzbeschluß die verfassungsmäßig und gesetzlich vorgeschriebenen Ausgaben zu ermöglichen, und daß umgekehrt, soweit das Parlament dieser Verfassungspflicht nicht nachkommt — nicht nachkommen kann oder nicht nachkommen will —, Art. 111 der Bundesregierung die
Verpflichtung auferlegt, diesen fehlenden Beschluß
des Parlaments durch eigenes Handeln zu ersetzen.
— Wenn darüber kein Streit ist, dann wäre es gut, wenn wir nun endlich auch die Auseinandersetzung darüber, daß es vorwerfbar schlimm sei, daß dieser Haushaltsgesetzentwurf erst jetzt zur dritten Lesung kommt, nicht mehr als Streit ansehen würden. Denn sicherlich kann man ohne viel Mühe rekonstruieren, wie es dazu kam, daß das Parlament seiner Verfassungspflicht nicht nachgekommen ist.
Der nächste Punkt ist kein Rechtspunkt. Herr Althammer, Sie haben gesagt, die Bundesregierung habe das Gutachten des Sachverständigenrates den Wählerinnen und Wählern nicht rechtzeitig zur Kenntnis gebracht; so habe ich mir Ihre Worte mitgeschrieben. Darin liegt die Unterstellung eines gesetzwidrigen Verhaltens der Bundesregierung. Wir weisen diese Unterstellung zurück. Herr Kollege Althammer, ich füge hinzu, daß die Bundesregierung, der damalige Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen eingeschlossen, selbst nach dem Wahltage nicht gewußt hat, zu welchem Ergebnis die Sachverständigen wohl kommen würden, geschweige denn das Gutachten besessen hätte. Es ist ja erst eine Reihe von Tagen danach abgeschlossen worden.
Im übrigen darf ich hier als Fußnote die Empfehlung anfügen, alle Teile dieses Gutachtens zu lesen. Es führt zu nichts Gutem, wenn man gegenseitig nur diejenigen Zitate heraussucht und vorliest, die einem in den Kram zu passen scheinen. Es ist vielleicht für die Öffentlichkeit von einem gewissen Interesse, wenn ich daran erinnere, daß die in diesen Tagen in der öffentlichen Diskussion befindliche Frage, ob vielleicht der Verlauf der Konjunktur und der Verlauf der Preiskurven im weiteren Laufe des Jahres 1973 dazu zwingen könnten, einen Konjunkturzuschlag nach dem Stabilitätsgesetz zu erheben, durch das Sachverständigengutachten in die Diskussion eingeführt worden ist, das uns ja mit ausführlicher Begründung empfiehlt, nicht erst später, sondern jetzt gleich einen 10%igen Zuschlag zu erheben. Dies hält die Bundesregierung nicht für geboten, jedenfalls nicht im jetzigen Zeitpunkt. Es mag sein, daß man die Frage später wieder aufnehmen muß. Das hätte ich gerne hinzugefügt, nachdem Sie über dieses Gutachten gesprochen haben.
Im übrigen will ich auf die konjunkturpolitischen und wirtschaftspolitischen Bemerkungen meinerseits nicht zurückkommen. Denn wir werden im Laufe der nächsten Monate mindestens drei Gelegenheiten haben, darüber zu reden, einmal an Hand der Regierungserklärung, die der Bundeskanzler am 18. Januar abgeben wird, dann an Hand des Jahreswirtschaftsberichts und dann erneut an Hand des Haushaltsgesetzentwurfs 1973.
Hier ist der Vorwurf erhoben worden, daß der gegenwärtige Haushalt 1972 gegen die Verfassung verstoße, weil er nicht ausreichend an die tatsächliche Entwicklung der letzten Wochen und Monate angepaßt worden sei. Darauf ist schon geantwortet worden. Ich will diese Antwort nicht vertiefen. Ich
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Bundesminister Schmidt
halte dieses Argument rechtlich für verfehlt, insbesondere angesichts der Tatsache, daß, so wie die Umstände sich nun einmal entwickelt haben, gerade dieses Haushaltsgesetz 1972, wenn und soweit überhaupt aus dem Grundgesetz ein Aktualitätsgebot hergeleitet werden kann, jedenfalls ein höheres Maß an Aktualität besitzt als irgendein anderes Haushaltsgesetz der letzten zehn Jahre.
Das ist kein Verdienst von irgend jemandem. Das hat sich so ergeben. Nur, gerade gegenüber diesem Haushaltsgesetz 1972 mit mangelnder Aktualität zu argumentieren, ist tatsächlich verfehlt und rechtlich abwegig.
— Nein, ich sage doch, daß es niemandes Verdienst ist. Ich möchte jeden Haushalt gern früher verabschieden; dann kann er aber auch nicht die Aktualität haben, Herr Lenz, die dieses Haushaltsgesetz 1972 besitzt. Infolgedessen ist gegenüber diesem Haushaltsgesetz dies Argument des Vorwurfs mangelnder Aktualität wenig überzeugend. Ich versuche, niemanden zu reizen und mich ganz sachlich auszudrücken. Ich könnte mich auch anders ausdrücken.
Dann ist beanstandet worden, daß die globalen Minderausgaben zwar für die einzelnen Einzelpläne eingesetzt, aber dort nicht auf 6500 Titel im einzelnen aufgeschlüsselt seien. Ich kann mir nicht recht denken, daß dies im Ernst eine rechtliche Beanstandung sein soll. Denn die Ausbringung von globalen Minderausgaben, früher nicht in bezug auf Einzelpläne, sondern in bezug auf den Gesamthaushalt, ist vielfach geübte Staatspraxis der letzten 20 Jahre, ist nie rechtlich beanstandet worden, ist auch nicht rechtlich zu beanstanden. Das wird wohl auch diesmal nicht im Ernst behauptet werden.
Dann ist wiederum von den „Schattenhaushalten" die Rede gewesen. Man konnte den Eindruck haben, als ob auch mit diesem in der Gesetzessprache nicht vorhandenen Begriff, den die Opposition geprägt hat und mit Fleiß benutzt, ein rechtlicher Vorwurf verbunden sei. Auch hier möchte ich darauf hinweisen, daß es die seit Jahrzehnten feststehende Staatspraxis ist, z. B. den Bundesstraßenbau über die Öffa zu finanzieren und z. B. die Bundesbahnfinanzierung so zu behandeln, wie sie de facto behandelt wird; seit sechs Jahren feststehende Staatspraxis in bezug auf die Rentenversicherung — —
— Über die Größenordnung könnte man reden. Dann müßte ich aber bitten, die grundgesetzliche Argumentation beiseite zu lassen, Herr Kollege. Das ist dann etwas ganz anderes. — Sie machen sich jene Argumentation nicht zu eigen; dann bin ich einverstanden.
Aber wenn wir über Größenordnungen reden — ich sehe, daß der Oppositionsführer wieder da ist, dann will ich mir wenigstens eine Frage erlauben, auf die eine Antwort nicht unbedingt heute gegeben werden muß. Ich habe im Fernsehen vor ein paar Wochen einmal zugehört, wie der Oppositionsführer von der Größenordnung von 13 Milliarden DM sprach. Ich habe das heute bei Herrn Althammer nicht wieder gehört. Es sind auch einmal 40 Milliarden DM genannt worden. Im Brief von Herrn Leicht sind es jetzt 5½ Milliarden DM. Also, über die Größenordnung kann man trefflich streiten, Herr Kollege Jenninger. Weiter sage ich nichts dazu, weil ich ja niemand herausfordern will.
Dann möchte ich eine Bemerkung zu dem einen der beiden Entschließungsanträge machen dürfen. Ich rede von dem Entschließungsantrag der CDU/ CSU-Fraktion Drucksache 7/34. Auch hier sind rechtliche Argumentationen impliziert. Ich möchte dazu feststellen, daß der Bundesrechnungshof nach Art. 114 die verfassungsmäßige Pflicht hat, die Haushaltsrechnung hinsichtlich der Wirtschaftlichkeit und der Ordnungsmäßigkeit der Wirtschaftsführung zu prüfen, und daß dazu selbstverständlich auch die Einhaltung der Rechtsvorschriften des Art. 111 und des Art. 112 im Rahmen der vorläufigen Haushaltsführung gehört. Die Bundesregierung hat ihrerseits keinen Anlaß, dieser Prüfung vorzugreifen. Davon ist auch der Bundesrat ausgegangen, als er in seiner Stellungnahme zum Haushaltsgesetzentwurf 1972 ausdrücklich darauf hinwies, daß dem Bundesrechnungshof diese Prüfung auch in bezug auf Art. 111 und Art. 112 obliege.
Unabhängig davon legt die Bundesregierung Wert auf die Feststellung, daß sich die Bundesregierung in ihrer Ausgabenwirtschaft im Jahr 1972 streng an diese Rechtsvorschriften gehalten hat,
— streng an diese Vorschriften gehalten hat! Es gibt, soweit ich sehen kann — und ich habe sorgfältig hingeschaut; denn ich war ein neuer Mann in diesem Metier, voller Besorgnisse, daß ich das Gebiet nicht würde übersehen können —, keinen Anhaltspunkt, Herr Kollege van Delden, für Rechtsverstöße.
Im übrigen aber, Herr Kollege Althammer, sagt die Bundesregierung schon jetzt ausdrücklich zu, was Sie in Ihrem Antrag erstreben, nämlich baldmöglichst dem Haushaltsausschuß einen Bericht zu den Punkten vorzulegen, die Sie in Ihrer Entschließung ansprechen.
Letzte Bemerkung: Der Umstand, daß dieses Gesetz relativ spät im Jahr verabschiedet wird, daß es eine so große Nähe zu den tatsächlichen Zahlen des Vollzuges hat, ermöglicht eben gleichzeitig auch zwei oder drei bilanzartig bewertende Bemerkungen über dieses Haushaltsjahr. Diese Bilanz sieht weit besser aus, als das von manchen Seiten etwa vor 12 Monaten oder noch vor 12 Wochen prophezeit worden ist.
Deutscher Bundestag -- 7. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Dezember 1972 95
Bundesminister Schmidt
Es ist nämlich erstens trotz erheblicher Schwierigkeiten gelungen, die Haushaltspolitik des Bundes fortlaufend der konjunkturpolitischen Notwendigkeit anzupassen. Zweitens ist es gelungen, die Finanzierung der Ausgaben des Bundes auf einer soliden Grundlage zu ermöglichen, einschließlich der Tatsache, daß sich die Neuverschuldung in ganz engen, zu Beginn des Jahres noch von niemandem für möglich gehaltenen Grenzen vollzogen hat. Drittens ist die finanzielle Lage der Länder und Gemeinden heute wesentlich besser, als noch vor etwa einem halben Jahr die öffentliche Diskussion und viele in diesem Saal angenommen haben. Ich will hier keine Zahlen nennen, um die Debatte nicht zu verlängern, sondern es dabei bewenden lassen.
Sosehr eine kritische Analyse des Konjunkturverlaufs oder des Haushaltsvollzugs im Jahre 1972 interessant sein mag, so hat es das Haus nach meiner Meinung doch nötig, sich im kommenden Jahr auf die Probleme des Jahres 1973 sowohl der öffentlichen Finanzwirtschaft im allgemeinen als auch der Haushaltspolitik des Bundes im besonderen als auch dieser beiden Bereiche auf dem Hintergrund der allgemeinen konjunkturellen Entwicklung zu konzentrieren. Dazu werden die Regierungserklärung, der Jahreswirtschaftsbericht und auch der Haushaltsgesetzentwurf 1973 ausreichend Gelegenheit bieten.
Ich möchte zum Schluß all denen danken, die daran beteiligt waren, daß dieser Haushalt 1972 heute in dritter Lesung verabschiedet werden kann, und schließe in diesen Dank ausdrücklich alle diejenigen ein, die außerhalb des Parlaments an der sachlichen und der technischen Vorbereitung mitgewirkt haben.
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende der Aussprache zur dritten Lesung.
Herr Abgeordneter Dr. Althammer, Sie wollen noch etwas zu den Anträgen sagen. Das kann jetzt geschehen. Bitte schön, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nachdem der Herr Minister soeben die Erklärung abgegeben hat, daß die Bundesregierung bereit ist, so schnell wie möglich in die Nachprüfung der Haushaltsführung des Jahres 1972 einzutreten, ist die CDU/CSU-Fraktion damit einverstanden, daß beide Anträge an den Ausschuß überwiesen werden.
Ich möchte noch hinzufügen, daß die anderen Rechtsfragen, die der Herr Minister bezüglich der Einhaltung der Grundgesetzbestimmungen angeschnitten hat, in diesem Zusammenhang sicherlich in einer ruhigen Form noch sehr ausführlich und klar besprochen werden müssen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Wir kommen zur Abstimmung über den Haushaltsgesetzentwurf 1972 in drifter Beratung in der
Form, wie er gestern in zweiter Beratung beschlossen worden ist. - Ich darf diejenigen, die zustimmen, bitten, sich zu erheben. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? Das Haushaltsgesetz 1972 ist in dritter Beratung gegen die Stimmen der Fraktion der CDU, CSU angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die beiden Ihnen vorliegenden Anträge Drucksachen 7/34 und 7/35. Es ist vorgeschlagen worden, beide Anträge dem Haushaltsausschuß zur Beratung zu überweisen. — Das Wort wird dazu weiter nicht gewünscht.
Können wir über beide Anträge zusammen abstimmen? — Keine Bedenken. Wer dafür stimmt, daß die beiden Anträge Drucksachen 7/34 und 7/35 dem Haushaltsausschuß überwiesen werden, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. - Enthaltungen? — Einstimmig so beschlossen.
Ich rufe den nächsten Punkt der Tagesordnung auf:
Dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD, FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften der gesetzlichen Rentenversicherungen
— Drucksache 7/3 —Ich eröffne die vorgesehene allgemeine Aussprache. — Das Wort hat der Abgeordnete Glombig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die flexible Altersgrenze, deren ursprüngliche Konzeption durch den vorliegenden Gesetzentwurf wiederhergestellt werden soll, hat bereits eine wechselvolle Geschichte. Ich erinnere das Hohe Haus noch einmal an die Stationen dieses politischen Ringens in der vergangenen Legislaturperiode:
Noch vor drei Jahren hatte die CDU/CSU zum Kampf gegen die flexible Altersgrenze gerüstet. In ihrem sozialpolitischen Schwerpunktprogramm für die 6. Legislaturperiode lehnte sie diese für die älteren Arbeitnehmer wichtige soziale Reform kategorisch ab.
Noch vor eineinhalb Jahren hat Herr Dr. Barzel die Pläne der sozialliberalen Koalition, die flexible Altersgrenze einzuführen, als leichtfertig genährte Hoffnungen und Erwartungen, die einer Nachprüfung nicht standhalten, politisch verunglimpft.
Danach aber begann die CDU/CSU einzuschwenken, wollte jedoch die Arbeitnehmer bei Inanspruchnahme der flexiblen Altersgrenze mit Rentenkürzungen bestrafen. Das hatte der sozialpolitische Sprecher der CDU/CSU, Herr Dr. Götz, der sich gestern sogar als Anwalt der Rentenzuschläge hervortat, allen Ernstes gefordert. Damit wollte die CDU/CSU die flexible Altersgrenze im Grunde genommen ad absurdum führen.
Noch drei Monate vor Verabschiedung der zweiten Rentenreform weigerte sich die CDU/CSU, einen festen Zeitpunkt für die Einführung der flexiblen
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Glombig
Altersgrenze festzulegen. Damit wollte sie sich zwar aus wahltaktischen Gründen zur flexiblen Altersgrenze bekennen, aber in Wirklichkeit diese wichtige Reform auf den Sankt-Nimmerleins-Tag vertagen.
Erst im letzten Augenblick hat die CDU/CSU ihren politischen Widerstand, d. h. ihren politischen Kampf gegen die flexible Altersgrenze aufgegeben. Sie hat jedoch, als sich in der zweiten Lesung eine Zufallsmehrheit für sie ergab, Regelungen durchgesetzt, die den ursprünglichen Sinn der von der Bundesregierung beabsichtigten Einführung der flexiblen Altersgrenze völlig auf den Kopf stellen. Darauf habe ich bereits in der zweiten Lesung des Rentenreformgesetzes am 20. September dieses Jahres an dieser Stelle mit allem Nachdruck hingewiesen.
Obwohl die sozialliberale Koalition in der zweiten Lesung des Rentenreformgesetzes den Vorschlag der Opposition zur flexiblen Altersgrenze einmütig abgelehnt und diese Ablehnung auch eindeutig begründet hat, hat sie dennoch in der Schlußabstimmung dem Rentenreformwerk insgesamt ihre Zustimmung gegeben; denn die Tatsache, daß die CDU/CSU die sinnvolle und ausgewogene Konzeption der sozialliberalen Koalition für eine flexible Altersgrenze durch fragwürdige Detailregelungen verwässert hatte, änderte nichts an dem großen Reformwerk der sozialliberalen Koalition, d. h. nichts an der Initiative der sozialliberalen Koalition.
Wir haben jedoch bei jeder Gelegenheit, vor
1 allem während des Wahlkampfes, keine Unklarheit darüber gelassen, daß wir die von der CDU/CSU verschuldete unsinnige Regelung nach den Vorstellungen des ursprünglichen Regierungsentwurfs wieder korrigieren würden. Das soll nunmehr mit diesem Gesetzentwurf geschehen.
Nach der Konzeption der sozialliberalen Koalition sollte den Menschen, die erschöpft am Ende ihres Arbeitslebens stehen, die Möglichkeit gegeben werden, zwei bzw. als Schwerbeschädigter drei Jahre früher als nach bisherigem Recht aus dem Erwerbsprozeß auszuscheiden. Jeder, der das Schicksal des älteren Arbeitnehmers aus der betrieblichen Praxis kennt und weiß, was vielen von ihnen tagtäglich an menschlichen Erniedrigungen und körperlichen Strapazen zugemutet wird, der kann ermessen, welch einen großen sozialen Fortschritt die Möglichkeit des vorzeitigen Ausscheidens aus dem vollen Erwerbsleben bedeutet. Durch die CDU/CSU ist dieser humanitäre Sinn der flexiblen Altersgrenze jedoch geradezu in sein Gegenteil verkehrt worden. Dadurch, daß neben dem vorgezogenen Altersruhegeld voller Arbeitsverdienst mit zusätzlicher Einsparung von 9 °/o Beitrag zur Rentenversicherung bezogen werden kann, werden die älteren Arbeitnehmer mit unwiderstehlichen wirtschaftlichen Anreizen geradezu herausgefordert, ohne Rücksicht auf ihren Gesundheitszustand weiterzuarbeiten. Damit wird die Idee, die Altersgrenze frei zu wählen, faktisch zu einem Zwang zur Weiterarbeit pervertiert.
Mithin ist die Behauptung der CDU/CSU, daß der volle Verdienst neben der Rente erst die Idee der flexiblen Altersgrenze verwirklicht, völlig absurd. Das Gegenteil ist richtig. Die von der CDU/CSU angestrebte Regelung hat mit der flexiblen Altersgrenze überhaupt nichts zu tun; sie ersetzt lediglich die bisherige starre Altersgrenze durch eine andere.
Die CDU/CSU hat mit dieser Regelung den älteren Arbeitnehmern in Wirklichkeit eine fragwürdige „Wohltat" erwiesen. Eine solche Regelung ist um so fragwürdiger, als alle einsichtigen Menschen ursprünglich davon ausgegangen waren, daß die flexible Altersgrenze nur denen zugute kommen soll, die wirklich die Absicht haben, vorzeitig aus dem vollen Erwerbsleben auszuscheiden. Diese fragwürdige „Wohltat" eines Doppeleinkommens am Ende des Arbeitslebens müssen alle anderen Arbeitnehmer mit ihren hohen Beiträgen bezahlen, d. h. es wird vor allem den jüngeren Arbeitnehmern, die in der Regel eine Familie zu versorgen und deshalb wirtschaftliche Probleme haben, zugemutet, eine sozialpolitisch völlig unsinnige Vergünstigung ihrer älteren Kollegen mitzufinanzieren. Damit wird Unzufriedenheit und Unruhe in die Betriebe getragen und der Generationenkonflikt verschärft. Diese Gefährdung der Solidarität der Arbeitnehmer gilt es mit diesem Gesetzentwurf zu verhindern.
Als besonders gravierend kommt hinzu, daß wegen des großen finanziellen Anreizes die Inanspruchnahme des vorgezogenen Altersruhegeldes wesentlich höher sein muß, als von der Opposition behauptet wird. Daran kann es überhaupt gar keinen Zweifel geben. Durch die zu erwartende außergewöhnlich hohe Quote der Inanspruchnahme des vorgezogenen Altersruhegeldes wäre das finanzielle Gleichgewicht der Rentenversicherung auf das empfindlichste gestört. Die finanzielle Solidität der Rentenversicherung ist jedoch im Interesse der Arbeitnehmer und der Rentner unbedingt notwendig; denn sie hätten die Zeche einer finanziell unsoliden politischen Entscheidung letztlich zu bezahlen: die Arbeitnehmer durch noch höhere Beiträge und die Rentner durch Rentenkürzungen.
Beides mußte — ich möchte bei dieser Gelegenheit daran erinnern der Bundestag bereits einmal beschließen, und zwar als Folge einer von der CDU/ CSU verschuldeten Finanzkrise der Rentenversicherung, die erst durch die erfolgreiche Wirtschafts- und Sozialpolitik der sozialliberalen Koalition überwunden werden konnte. Eine solche Krise der Rentenversicherung darf sich nicht wiederholen.
Um die gesundheitspolitischen, die sozialpolitischen, aber auch die finanzpolitischen Gefahren abzuwenden, die von der CDU/CSU mit einer Zufallsmehrheit von einer Stimme heraufbeschworen wurden, hat die sozialliberale Koalition den vorliegenden Gesetzentwurf eingebracht.
Dieser Gesetzentwurf stellt sicher, daß die flexible Altersgrenze wieder zu dem wird, was sie nach dem ursprünglichen Willen der Koalition sein sollte, nämlich die Wahlfreiheit zwischen Rente und Weiterarbeit.
Dieser Gesetzentwurf stellt ferner sicher, daß durch eine großzügige Nebenverdienstmöglichkeit der Übergang vom vollen Erwerbsleben zum Ruhe-
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Glombig
stand nicht abrupt erfolgen muß, sondern flexibel sein kann. Das bedeutet im Jahre 1973 eine Nebenverdienstmöglichkeit von 690 DM monatlich.
Dieser Gesetzentwurf stellt weiter sicher, daß die flexible Altersgrenze, weil sie nunmehr wieder den Grundsätzen der sozialen Gerechtigkeit entspricht, von der Solidarität aller Arbeitnehmer getragen wird.
Dieser Gesetzentwurf stellt schließlich sicher, meine Damen und Herren, daß die flexible Altersgrenze ohne Beitragserhöhungen und ohne Rentenverkürzung finanziert werden kann.
Mit der Verabschiedung des vorliegenden Gesetzentwurfes findet der politische Kampf der sozialliberalen Koalition um die Verwirklichung der flexiblen Altersgrenze einen vorläufigen Abschluß.
Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Müller .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe die Ehre, für die Fraktion der CDU/CSU zur dritten Lesung dieses Anderungsgesetzes folgende Erklärung abzugeben.
Der Deutsche Bundestag hat im 21. September das Gesetz über die Weiterführung der Rentenreform verabschiedet, nachdem vorher, in der zweiten Lesung des damaligen Gesetzentwurfes, in namentlichen Abstimmungen die Vorstellungen der Opposition die Mehrheit des Hauses gefunden hatten. In der Schlußabstimmung haben auch die Regierungsparteien SPD und FDP in namentlicher Abstimmung dem Gesetz in der Form zugestimmt, wie es am Tage zuvor formuliert worden war.
Was wir heute bei der Verabschiedung dieses Anderungsgesetzes erleben, ist ein einmaliger Vorgang der dem Gesetzgeber nicht zur Ehre gereicht
und der geeignet ist, dem Ansehen des Parlaments zu schaden.
In der ersten Arbeitssitzung dieses neugewählten Bundestages ändern die Regierungsparteien ein Gesetz, das sie, obwohl es die Handschrift der Opposition trug, zu einem Hauptschlager des Bundestagswahlkampfes gemacht haben.
Was wir hier erleben, ist eine Demontage beschlossener sozialer Leistungen;
es ist eine Maßnahme, die in ihrer Auswirkung unsozial, falsch und bürokratisch ist, eine Maßnahme, die, wie es einer meiner Kollegen gestern formulierte, weder sozial noch liberal, sondern einfach sozialistischer ist.
Es ist meine Aufgabe, die Gründe für die Ablehnung dieses Entwurfs durch die Fraktion der CDU/ CSU hier noch einmal zusammenzufassen und deutlich zu machen.
Erstens. Die Regierungskoalition behauptet, die im Rentenreformgesetz gefundene Lösung der flexiblen Altersgrenze werfe erhebliche soziale sowie gesundheits- und finanzpolitische Bedenken auf. Das ist offensichtlich auch der Grund für das Durchpeitschen dieses Gesetzes ohne eine erneute Beratung in einem Fachausschuß des Bundestages, wie es das normale Verfahren gewesen wäre.
Ich habe schon dargestellt — und ich wiederhole es —: Die SPD-FDP-Koalition hat dem Gesetz am 21. September in namentlicher Abstimmung zugestimmt.
Die Regierungsparteien müssen sich die .Frage oder den Vorwurf gefallen lassen, einzig aus wahltaktischen Überlegungen einem nach ihrer Meinung falschen Gesetz zugestimmt zu haben.
Wenn das Gesetz so erhebliche Bedenken aufwarf und trotzdem jeder einzelne Abgeordnete der Koalition mit seinem Namen die Zustimmung zum Gesetz dokumentierte, dann war entweder die damalige Abstimmung nicht von der notwendigen Verantwortung getragen, oder aber die heutige ist es nicht.
Seit dem Zeitpunkt der Verabschiedung konnten keine neuen Erfahrungen gewonnen werden, die zu einer Veränderung des Gesetzes führen müßten oder könnten, denn dieser Teil des Gesetzes tritt erst am 1. Januar in Kraft.
Zweitens. Die Regierungskoalition beseitigt die Möglichkeit der unbeschränkten Weiterarbeit bei gleichzeitigem Bezug von Rente, und sie behauptet, mit der beschlossenen Regelung würde der Solidarausgleich in der Rentenversicherung überspannt, und Unzufriedenheit über das Doppeleinkommen der älteren Arbeitnehmer wäre die Folge.
Richtig ist: Solidarität ist und bleibt die Grundlage der Sozialversicherung. Dazu gehört zweifellos die Solidarität der Generationen. Aber, meine Damen und Herren, dazu gehört auch die Solidarität innerhalb der Generationen.
Die von der Regierungskoalition gewollte Regelung, nach der ein Viertel der Beitragsbemessungsgrenze hinzuverdient werden kann, ist rein theoretischer Natur. Wir wissen nicht erst seit heute, daß Teilzeitarbeitsplätze für Männer kaum vorhanden sind. Auch wir wollten keinen Anreiz zur Weiterarbeit. Die SPD geht aber unter Assistenz der FDP den bürokratischen Weg des Beschäftigungsverbots. Sie nimmt daher im konkreten Wissen, daß Teilzeitarbeitsplätze nicht vorhanden sind, denjenigen älteren Arbeitnehmern, die in ihrem Arbeitsleben nicht
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Müller
so viel verdient haben, daß sie etwas auf die hohe Kante legen konnten, die Möglichkeit zur Weiterarbeit, auch wenn sie geistig und körperlich dazu noch in der Lage sind.
Ich habe schon am 20. September hier aufgeführt, daß das abrupte Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis, wie die Koalition es anstrebt, zu schweren gesundheitlichen Schäden führen kann. Das wissen alle diejenigen, die sich mit den Problemen des alternden Menschen beschäftigt haben. Die Probleme des alten Menschen in unserer Gesellschaft sind nicht nur materieller Natur. Dazu gehört auch das Vermitteln des Gefühls, nicht zum alten Eisen geworfen zu werden.
Das von der Regierungskoalition angestrebte teilweise Beschäftigungsverbot ist nach Auskunft der Rentenversicherungsträger nicht kontrollierbar, wenn man nicht harte Polizeimethoden einführen will. Aus diesen Gründen wird ersichtlich, daß das von uns am 21. September verabschiedete Gesetz die liberalere und humanere Lösung bringt.
Drittens. Die Regierungskoalition beschließt heute, daß Zuschläge für Weiterarbeit unter Verzicht auf die Rente nicht mit 63 Jahren, wie beschlossen, sondern erst mit 65 Jahren gewährt werden. Wo da die Logik bleibt, ist uns völlig unerfindlich.
Aber zurück zur Solidarität innerhalb der Sozialversicherung, innerhalb der Generationen. Das, was die Regierungskoalition hier durchsetzen will, ist in höchstem Maße unsozial.
Dieser Vorschlag bedeutet: Diejenigen Arbeitnehmer, deren Rentenhöhe, die sie mit dem 63. Lebensjahr erreichen, so gering ist, daß sie weiterarbeiten müssen, finanzieren mit ihren Beiträgen die Frührente der Arbeitnehmer, die auf Grund einer ausreichenden Rentenhöhe die Rente mit 63 Jahren beantragen können.
Die Sozialpolitiker haben sich mit Recht gegen versicherungsmathematische Abschläge bei vorzeitigem Rentenbezug gewehrt. Aber versicherungsmathematische Zuschläge für diejenigen, die nach dem 63. Lebensjahr, obwohl sie rentenberechtigt wären, weiterarbeiten, sind ein Gebot sozialer Gerechtigkeit, ein notwendiger sozialer Ausgleich. Die Verweigerung dieses Ausgleichs ist unsozial und sie ist unsolidarisch.
Viertens. Die Regierungskoalition behauptet, die beschlossene Regelung für die flexible Altersgrenze führe zu einem hohen Grad der Inanspruchnahme und stelle die Stabilität der Rentenfinanzen in Frage. Die Geschichte der Schätzung der langfristigen Finanzentwicklung der Rentenversicherung in den letzten anderthalb Jahren liest sich fast wie ein Kriminalroman.
Die von uns vorgelegten Schätzungen bezeichneten Sprecher der Regierungskoalition als Milliardenrausch, während man sich auf der Regierungsseite je nach den politischen Absichtserklärungen in Etappen an unsere korrekten Schätzungen heranarbeitete, um sie dann in den Schlußberatungen wiederum auf Grund politischer Absichtserklärungen erheblich zu übertreffen. Schon in den Ausschußberatungen schätzte die Regierung die Kosten unseres Programms bewußt hoch, bewußt zu hoch ein, um der Öffentlichkeit das Bild einer unsoliden Finanzplanung der Opposition vorzugaukeln. Trotz dieser angeblichen Instabilität der Rentenfinanzen bei der von uns vorgeschlagenen Lösung stimmten Sie — das muß hier noch einmal in aller Deutlichkeit gesagt werden — in der Schlußabstimmung dem Gesetz in namentlicher Abstimmung zu.
Der Kollege Schmidt warf gestern in ,der ersten Lesung des Gesetzentwurfs der Opposition mangelnden Sachverstand vor. Das ist sicher eine Frage des Stils. Aber das nur am Rande. Wenn bei der SPD/FDP in einer reichlich großzügigen Selbsteinschätzung dieser Sachverstand vorhanden sein sollte,
müssen Sie sich wiederum den Vorwurf gefallen lassen, trotz dieses Sachverstandes einer Regelung zugestimmt zu haben, von der Sie überzeugt waren, daß sie die Stabilität der Rentenfinanzen in Frage stellte.
Weder die Regierungsparteien noch die Opposition können heute mit absoluter Sicherheit sagen, wie hoch der Grad der Inanspruchnahme ist. Alle Anzeichen und der Vergleich mit anderen Ländern lassen den Schluß zu, daß viel weniger Versicherte davon Gebrauch machen werden, als ursprünglich angenommen. Der wahre Grund ist doch wohl ein anderer, wie aus den Worten des Kollegen Schmidt hervorging: Sie wollen die Inanspruchnahme der flexiblen Altersgrenze bewußt drosseln; Sie wollen andere Maßnahmen auf dem Rücken der älteren Arbeitnehmer austragen.
Wir bleiben bei unserer Auffassung, die Eingang in das Gesetz gefunden hatte, weil sie liberaler, praktikabler, menschenwürdiger und insgesamt sozialer ist. Dieser Gesetzentwurf wird von uns abge- lehnt, weil er unsozial, falsch und bürokratisch ist.
Wir wollen im Rahmen der humanen Leistungsgesellschaft, daß der ältere Mensch weitgehend selbst bestimmt, wie er seinen Lebensabend ausfüllen will, weil wir davon überzeugt sind: eine Gesellschaft, die den Menschen gängelt, die ihm nicht die Entscheidungsfreiheit in weistestem Maße läßt, ist eine inhumane Gesellschaft.
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Müller
Aus diesen Gründen lehnt die Fraktion der CDU/CSU den vorgelegten Gesetzentwurf in Form, Inhalt, Zeitpunkt und Verfahren ab.
Das Wort hat der Abgeordnete Geldner.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Aus Anlaß der Verabschiedung des Vierten Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes darf ich im Namen der Freien Demokraten eine Erklärung abgeben.
Lassen Sie mich aber eingangs noch ein Wort zu der Erklärung des Kollegen Müller sagen. Herr Kollege Müller, zu Ihren Äußerungen muß ich sagen: reiner und klarer konnten Sie Ihre Vorstellungen hier nicht darlegen. Sie haben von Polizeimaßnahmen bei der Kontrolle gesprochen. Sie wissen doch ganz genau, Herr Kollege Müller, daß z. B. bei dem Altersruhegeld der Frauen im Alter von 60 Jahren derartige Dinge weiß Gott nicht notwendig sind, sondern daß sich das von selbst regelt.
Meine Damen und Herren, die flexible Altersgrenze ist und bleibt ein Kernstück der Rentenreform. Das gesundheitspolitische Ziel eines schrittweisen und vorzeitigen Übergangs aus dem vollen Erwerbsleben in den Ruhestand würde jedoch verfehlt werden, wenn wir die Beschlüsse vom 20. September 1972 nicht änderten. Ein Beschluß, der mit knappster Mehrheit gegen die FDP und SPD gefallen ist, muß hier revidiert werden. Wir tragen die Verantwortung für rund 10 Millionen Rentner genauso wie für rund 23 Millionen Beitragszahler. Ohne die Beitragserhöhung von 17 auf 18 °/o wäre diese Rentenreform gar nicht möglich gewesen. Damit wird auch deutlich, daß den Rentnern nichts vorenthalten wird, sondern daß für zusätzliche Leistungsverbesserungen der arbeitenden Generation absolut und prozentual steigende Beiträge zugemutet werden. Bei diesen wachsenden Belastungen muß jedoch eine Gewähr dafür geboten sein, daß die soziale Zielsetzung der Reform erreicht wird und die finanzielle Solidität der Rentenversicherung langfristig gewahrt bleibt. Hier setzen die Zweifel an der von der CDU/CSU mit ihrer Zweitagesmehrheit beschlossenen Lösung ein.
Wir Freien Demokraten haben das Thema flexible Altersgrenze bereits 1968 angesprochen. Ich erinnere Sie an die Drucksache V/3259. Herr Katzer hat damals stellvertretend für die damalige Regierung die grundsätzliche Vereinbarkeit unseres Rentensystems mit einer elastischen Altersgrenze bejaht. Die Möglichkeit der Einführung wurde jedoch mit dem Hinweis auf einen ganzen Katalog von Schwierigkeiten — insbesondere auch wegen der finanziellen Auswirkungen — für die damalige Wahlperiode generell verneint. Diese ablehnende Haltung wurde von seiten der CDU/CSU in ihren
Leitsätzen zur Sozialpolitik noch einmal mit folgenden Worten bekräftigt:
Einer Herabsetzung der Altersgrenze wie auch einer variablen Altersgrenze nach unten kann nicht nähergetreten werden.
Das war die politische Ausgangslage 1969 vor der Wahl.
Die Bundesregierung hat nach Bildung der sozialliberalen Koalition mit allem Bedacht in der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 festgestellt:
Die Bundesregierung wird im Laufe der Legislaturperiode den schrittweisen Abbau der festen Altersgrenze prüfen und sich bemühen, sie durch ein Gesetz über die flexible Altersgrenze zu ersetzen.
Damit wurde zweierlei ausgesagt: erstens daß es sich nicht um eine generelle Herabsetzung der Altersgrenze handelt und zweitens daß die Flexibilität stufenweise ausgebaut werden soll.
Ohne die nun anstehende Änderung wären beide Ziele gefährdet. Die Altersgrenze hat in erster Linie eine Einkommensersatzfunktion für die Lebensphase, in der nicht mehr gearbeitet wird oder nicht mehr gearbeitet werden kann. Der CDU/CSU-Beschluß würde bei gleicher oder vergleichbarer Arbeit nicht nur ein Doppeleinkommen aus Arbeit und Rente bewirken, sondern zusätzlich noch mehr als einen Monatslohn jährlich, weil der Beitragsanteil von monatlich 9 °/o zur Rentenversicherung mit Rentenbeginn entfällt. Soziale Spannungen am Arbeitsplatz wären die unausbleiblichen Folge, weil hier eine einseitige Bevorzugung in einem Umfang auch gegenüber den Gleichaltrigen geschaffen würde, die in dieser Form nicht mehr zu rechtfertigen wäre.
Die flexible Altersgrenze soll nach ihrer gesundheitspolitischen Zielsetzung in erster Linie denjenigen helfen, für die eine volle Beschäftigung eine übermäßige Belastung bedeutet, ohne daß jedoch die entsprechende Voraussetzung für eine Erwerbsoder Berufsunfähigkeitsrente vorhanden ist. Unter diesem Gesichtspunkt ist nach unserer Auffassung, wenn eine Versicherungszeit von 35 Jahren nachgewiesen werden kann, bei einer Nebentätigkeit der vorzeitige Rentenbezug gegenüber der Versichertengemeinschaft insgesamt zu rechtfertigen.
Von diesem gesundheitlichen Gesichtspunkt sind wir bei der Entwicklung der flexiblen Altersgrenze für das Reformprogramm ausgegangen. Es gibt keine neuen Aspekte — weder sozialpolitische noch gesundheitspolitische noch finanzielle —, die ein Ab- gehen von unserem Programm notwendig erscheinen lassen. Die Änderung der CDU/CSU-Entscheidung vom 20. September 1972 dient dieser Zielsetzung. Deshalb werden wir Freien Demokraten dem Vierten Rentenversicherungs-Änderungsgesetz zustimmen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnet Urbaniak.
100 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Dezember 1972
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem Ihnen vorliegenden Entschließungsantrag ersuchen wir die Bundesregierung, alle geeigneten Schritte zu unternehmen, um die Renten nach Mindesteinkommen durch die Rentenversicherungsträger so schnell wie möglich zur Auszahlung zu bringen.
Sicherlich wird mit Inkrafttreten des Rentenreformgesetzes zusätzliche Verwaltungsarbeit bei den Versicherungsträgern zu leisten sein. Die manuelle Bearbeitung der Rentenakten, die vielen Daten, die zur Berechnung dieser Rentenart nötig sind, bringen diese zusätzliche Arbeit mit sich.
Die bestehenden Verwaltungsschwierigkeiten werden dabei nicht verkannt. Sie müssen aber durch geeignete Maßnahmen der Versicherungsträger überwunden werden, wenn der Sinn dieser Entschließung erreicht werden soll.
Die Bundesregierung wird den Rentenversicherungsträgern auf Grund ihrer Erkenntnisse und umfassenden Erfahrungen geeignete Maßnahmen empfehlen. Wir können sicherlich davon ausgehen, daß die Versicherungsträger, was diese Rentenart angeht, die Verwaltungssituation überwunden haben, in der sie sich zum Zeitpunkt der öffentlichen Anhörung zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Rentenreformgesetz befanden. An dieser Stelle hätten Sie Ihren Zwischenruf machen können, Kollege Härzschel. So war der Tatbestand seinerzeit.
In dem Entschließungsantrag fordern wir die Bundesregierung auf, bis zum 31. Dezember 1973 dem Plenum zu berichten, wann die Berechnung der Renten nach Mindesteinkommen voraussichtlich abgeschlossen werden kann. Ich hoffe, daß angesichts der umfassenden Verwaltungsmaterie alle Rentenversicherungsträger all ihren Sachverstand sowie ihre technischen und personellen Möglichkeiten einsetzen werden. Schließlich kommt es dem Parlament darauf an, daß den anspruchsberechtigten Rentnerinnen und Rentnern die Rente nach Mindesteinkommen so schnell wie möglich ausgezahlt wird.
Geben Sie dem Entschließungsantrag Ihre Zustimmung, damit die Bundesregierung unverzüglich geeignete Maßnahmen ergreifen kann. Diese Zielsetzung schließt eine Überweisung an den Ausschuß aus.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Müller .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir stimmen dem vorgelegten Entschließungsantrag zu. Er beinhaltet im wesentlichen das, was von uns bereits im vergangenen Bundestag vorgelegt wurde, aber durch die Auflösung des Bundestages im Ausschuß nicht mehr beraten werden konnte.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch eines sagen. Diese Regelung der Renten nach Mindesteinkommen ist die Regelung, wie sie die Fraktion der
CDU/CSU wollte. Wir haben Informationen von den Landesversicherungsanstalten, daß die Berechnung dieser Renten nicht etwa erst in fünf Jahren abgeschlossen sein wird, wie das im Wahlkampf in unverantwortlicher Weise gesagt worden ist.
Wir wissen, daß es Landesversicherungsanstalten gibt, die ihre Untersuchungen bereits im April, Mai des kommenden Jahres abgeschlossen haben. Das möchten wir von dieser Stelle aus all den Kleinstrentnern sagen, die auf Grund unseres Kleinstrentenantrages eine wesentliche Verbesserung ihrer Mindestrente erhalten.
Meine Damen und Herren, wird des weiteren das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Schlußabstimmung über den von den Fraktionen der SPD, FDP eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften der gesetzlichen Rentenversicherungen. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen will, den bitte ich, sich zu erheben. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Mit den Stimmen der Regierungsparteien gegen die der Opposition angenommen.
Ich komme zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und FDP auf Drucksache 7/33. Dieser ist bereits begründet und diskutiert. Des weiteren wird das Wort nicht gewünscht. Wer dem Entschließungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. Ich bitte um die Gegenprobe. — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Der Entschließungsantrag ist einstimmig angenommen.
Ich komme nunmehr zum letzten Punkt der Tagesordnung, und zwar zur
Fragestunde
— Drucksachen 7/12 —
Wir setzen die Beantwortung der Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung fort.
Ich rufe die Frage 38 des Abgeordneten Dr. Wittmann auf:
Welche Stellen sind für die Buchbeschaffungen für Truppenbüchereien verantwortlich, und nach welchen Gesichtspunkten werden Empfehlungen für die Anschaffung von bestimmten Büchern gegeben?
Ich erteile das Wort dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Berkhan.
Herr Kollege Dr. Wittmann, für die Einrichtung und Verwaltung von Truppenbüchereien sind die Kommandeure verantwortlich. Sie entscheiden abschließend über die Auswahl der Bücher. Unbeschadet der Verantwortlichkeit der Kommandeure hat sich das Bundesministerium der Verteidigung in besonders gelagerten Fällen vorbehalten, die Anschaffung einzelner Buchtitel zu empfehlen oder auszuschließen.
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Parl. Staatssekretär Berkhan
Ich nehme an, Herr Kollege Dr. Wittmann, daß der Hintergrund Ihrer Frage die vom Bundesministerium der Verteidigung herausgegebene „Empfehlungsliste für Buchanschaffungen der Truppenbüchereien" ist. Hierzu darf ich Ihnen folgendes mitteilen. Die Titelauswahl in der Buchempfehlungsliste erfolgte durch den Redaktionsausschuß der staatlichen Büchereistellen in der Bundesrepublik Deutschland. Die Zusammenstellung entspricht den quantitativen Anforderungen, die nach der Truppenbüchereirichtlinie an die Zustammenstellung einer Truppenbücherei gestellt werden. Die Buchempfehlungsliste ist kein Instrument zur inhaltlichen Gestaltung der Truppenbüchereien und hat auch keinen Befehls- oder Zwangscharakter, sondern dient ausschließlich als Hilfsmittel und Wegweiser für die Kommandeure durch das für Laien verwirrende Buchangebot von 30 000 bis 40 000 Titeln, die gegenwärtig jährlich neu erscheinen.
In keinem Fall wird die ausschließliche Verantwortung der Kommandeure für die inhaltliche Zusammensetzung der Truppenbüchereien berührt. Hierauf ist im Vorwort zur Empfehlungsliste zusätzlich hingewiesen worden, um den Empfehlungscharakter noch einmal zu betonen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Wittmann.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht der Meinung, daß eine solche vom Bundesverteidigungsministerium an die Kommandeure herausgegebene Empfehlungsliste dort nicht doch als so etwas wie eine Richtlinie, an die man sich zu halten hat, aufgefaßt wird?
Herr Kollege, Sie fragen mich nach meiner eigenen Meinung, und ich bin versucht, sie hier wirklich zu äußern. Wir sind dabei, durch immer neue Maßnahmen den Kommandeuren klarzumachen, wo es sich um Befehle und Weisungen, wo es sich um Richtlinien handelt, die genau enzuhalten sind, und wo es sich um Empfehlungen handelt. Ihre Frage hilft mir, auf diesem Weg den Kommandeuren — wenn ich hier so pauschale Urteile abgebe, sind sie sicher falsch; einige Kommandeure haben das bisher recht gut gehandhabt, andere werden durch diese Fragestunde auf den Weg gebracht zu begreifen, daß es sich ausschließlich um Empfehlungen handelt — diesen Unterschied klarzumachen. Aber 30 000 bis 40 000 Buchtitel kann ein Laie von sich aus unmöglich überblicken.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Wittmann.
Herr Staatssekretär, würden Sie es für richtig halten, daß in der Empfehlungsliste mehr als bisher doch eine etwas breitere Auswahl der Buchtitel auch hinsichtlich Autoren geboten wird, die nicht unbedingt auf der Seite dieser Regierungskoalition stehen, und auch eine breitere Auswahl in der Richtung, daß die
Buchtitel nicht nur — wenn ich es so ausdrücken darf — systemkritischen Inhalt haben?
Herr Kollege, diese Frage kann ich eigentlich nicht ganz verstehen. Der Katalog der beteiligten staatlichen Büchereistellen reicht von Schleswig-Holstein über Rheinland-Pfalz bis — —. Ich muß jetzt sehr vorsichtig sein, damit ich nicht etwas sage, was nicht ganz stimmt; ich kann im Augenblick nicht feststellen, ob Bayern dabei ist. Ich bin aber gern bereit, das nachher mit Ihnen gemeinsam zu prüfen. Sie werden doch nicht unterstellen wollen, daß die staatlichen Büchereistellen von Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein ausschließlich Bücher auswählen, die der im Amt befindlichen Bundesregierung gegenüber eine freundliche Gesinnung zeigen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, erlauben Sie mir bitte in diesem Zusammenhang auch die Frage der Zeitungen und Zeitschriften bei der Bundeswehr anzusprechen. Ich habe eine Reihe von Truppenbesuchen gemacht und dabei immer wieder festgestellt, — —
Ich bitte, eine Frage zu stellen.
Ich bin dabei. — Würden Sie mir bitte erlauben, die Frage zu stellen, warum bei der Truppe von den vielen seriösen und unabhängigen Tageszeitungen, die es in der Bundesrepublik gibt, als Regelzeitung immer nur die mit der blauen Überschrift vorhanden ist und kaum von der Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, das einmal rotieren zu lassen, d. h. ein halbes Jahr einmal diese seriöse und unabhängige Tageszeitung zu nehmen und ein anderes Mal eine andere. Ich würde das im Interesse einer objektiven Unterrichtung für erforderlich halten. Können Sie mir darauf eine Antwort geben?
Ich habe nicht darüber zu bestimmen, ob ich diese Frage zulasse oder nicht.
Herr Staatssekretär, Sie können darauf verweisen, daß diese Zusatzfrage nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der ursprünglichen Frage steht und als selbständige Frage eingebracht werden sollte, damit Sie darauf vorbereitet sind.
Ich will die Frage dennoch beantworten. Herr Kollege, das gilt für die Büchereien ebenso wie für die Zeitungen. Wir möchten den Einfluß der Kommandeure und der mitberatenden Soldaten nicht so weit einschränken, daß wir von oben vorschreiben, welche Bücher und Zeitungen zu kaufen sind. Alle Einheiten, die Zeitungen
102 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Dezember 1972
Parl. Staatssekretär Berkhan
und Bücher einkaufen, werden sich in der Regel — das steht so in den Vorschriften — des Rates der Soldaten bedienen. Es sind Listen auszulegen, in denen die Wünsche der Soldaten niederzuschreiben sind. Ich gehe davon aus, daß die Kommandeure an den Wünschen der Soldaten nicht völlig vorbeigehen. Sollte es Ihnen in dem einen oder anderen Fall begegnet sein, daß man über die Wünsche der Soldaten einfach hinweggegangen ist, so lassen Sie mich das bitte wissen. Ich würde dann mit dem Kommandeur über diese Frage ein freundliches Gespräch führen, Herr Schlaga.
Keine Zusatzfrage. Ich komme zu der Frage 39 des Herrn Abgeordneten Würtz:
Welche niedersächsischen Oberkreisdirektoren haben für ihren Landkreis nach der Sturmkatastrophe vorn 13. November 1972 den Katastrophenfall erklärt und um die Hilfe der Bundeswehr ge-
. beten?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär!
Herr Präsident, ich wäre dankbar, wenn ich die Fragen 39 und 40 im Zusammenhang beantworten dürfte.
Der Fragesteller ist einverstanden. Ich rufe also noch die Frage 40 des Herrn Abgeordneten Würtz auf:
Liegt dem Verteidigungsministerium inzwischen die Einwilligung des Bundesministers für Wirtschaft und Finanzen vor, auf die Erhebung der Kosten für den Einsatz der Bundeswehr im Rahmen der Katastrophenhilfe anläßlich der Sturmkatastrophe zu verzichten?
Bitte sehr!
Herr Kollege Würtz, zur unmittelbaren Behebung der Schäden, die durch die Sturmkatastrophe am 13. November 1972 verursacht worden sind, waren allein im Lande Niedersachsen mehr als 2000 Soldaten an rund 25 verschiedenen Orten eingesetzt. Die Frage, ob in allen diesen Fällen der Katastrophenfall erklärt wurde, könnte nur durch Rückfragen beim Lande Niedersachsen festgestellt werden.
Ich darf Ihnen von hier aus jedoch versichern, daß die Bundeswehr überall dort geholfen hat, wo es notwendig war.
Zu Ihrer zweiten Frage, Herr Kollege Würtz, darf ich Ihnen mitteilen, daß dem Bundesministerium der Verteidigung inzwischen die Einwilligung des Bundesministeriums der Finanzen vorliegt, auf die Erhebung der Kosten zu verzichten.
Keine Zusatzfrage. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes. Zuerst die Frage 62 des Abgeordneten Dr. Klepsch:
Ich frage die Bundesregierung, ob Aussagen der Wochenzeitschrift „Stern" vom 3. Dezember 1972 zutreffen, daß der Bundeskanzler über einen Vorschlag seiner Berater zu entscheiden hat, die im Deutschen Industrie- und Handelstag zusammengeschlossenen Industrie- und Handelskammern wegen ihres Verhaltens im Wahlkampf 1972 „zu disziplinieren" und das Gesetz über die Industrie- und Handelskammern zu ändern?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär Ravens, ich darf bitten.
Herr Kollege Dr. Klepsch, die in Ihrer Frage genannten Behauptungen treffen nicht zu.
Eine Zusatzfrage, bitte sehr!
Herr Staatssekretär, sind Sie der Auffassung, daß die Zeitschrift „Stern" hier nur ihrem subjektiven Empfinden Ausdruck verliehen hat?
Über das Empfinden der Zeitschrift „Stern" steht mir leider kein Urteil zu.
Die Fragen 63 und 64 des Abgeordneten Orgaß werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt. Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Ich rufe die Frage 65 des Abgeordneten Vogel auf:
Sind der Bundesregierung Anzeichen dafür bekannt, daß Behauptungen zutreffen, die griechische Regierung baue in der Bundesrepublik Deutschland ein Spitzelnetz aus, für das sie bereits 1971 80 Millionen DM aufgewendet habe?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär Moersch!
Herr Abgeordneter, es ist bekannt, daß die griechische Regierung außer ihren diplomatischen und konsularischen Vertretungen in der Bundesrepublik 14 Arbeitskommissionen des griechischen Arbeitsministeriums unterhält und rund 400 griechische Lehrer entsandt hat. Sie dienen der Betreuung der fast 270 000 griechischen Arbeiter in der Bundesrepublik Deutschland.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, darf ich fragen, ob Sie der Auffassung sind, daß das eine Beantwortung der von mir gestellten Frage ist?
Herr Abgeordneter, sonst hätte ich sie nicht so beantwortet.
Eine zweite Zusatzfrage? — Keine Zusatzfrage.
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Dezember 1972 103
Vizepräsident Dr. Jaeger
Ich rufe die Frage 66 des Abgeordneten Vogel auf:
Teilt die Bundesregierung die kürzlich in unserem Lande geäußerten Besorgnisse, daß „ein neuer Versuch der griechischen Militärregierung zur Einschüchterung und Unterdrückung griechischer Demokraten in der Bundesrepublik Deutschland zu erwarten" sei?
Der Bundesregierung, Herr Abgeordneter, liegen keine Erkenntnisse darüber vor, daß die griechische Regierung Initiativen der genannten Art gegen offen auftretende Oppositionsgruppen im Bundesgebiet plant.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind bei dieser Beurteilung auch die neuerlichen Nachrichten über angeblichen Druck auf griechische Gastarbeiter bei der Wahl des Troisdorfer Gastarbeiterparlaments berücksichtigt worden, oder führen diese zu einem anderen Ergebnis?
Das ist berücksichtigt, Herr Abgeordneter, wie ich überhaupt sagen muß, daß genau unterschieden werden muß zwischen Empfindungen, die da und dort ausgedrückt werden, und beweisbaren Erkenntnissen, die vorliegen.
Eine zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, teilen Sie angesichts des Inhalts Ihrer Antwort meine Auffassung, daß die öffentlichen Erklärungen, auf die sich meine Frage bezog, kaum geeignet sind, dem im Interesse der griechischen Staatsbürger in unserem Lande liegenden besonnenen Verhältnis zu Griechenland zu dienen?
Herr Abgeordneter, wir müssen deutlich unterscheiden zwischen den verschiedenen Aufgaben — die in unserer Verfassung klar abgegrenzt sind — wir müssen unterscheiden zwischen offiziellen Stellungnahmen und Meinungsäußerungen in der Öffentlichkeit, die jedem Staatsbürger in diesem Lande, übrigens auch ausländischen Staatsbürgern, zustehen, auch soweit es sich um Meinungsäußerungen in Form von Auseinandersetzungen etwa über die Wahl eines solchen Ausländerparlaments handelt, wie es in Troisdorf war, und Fragen, die etwa eine Rechtsverletzung betreffen. In dem Augenblick, wo Rechtsverletzungen vorliegen, die deutsche Gesetze betreffen, sind unsere Behörden selbstverständlich gehalten, einzugreifen. Die Zuständigkeit dafür liegt zunächst einmal bei den Landesbehörden. Aber zwischen dem, was man sozusagen als politische Einflußnahme subjektiv wertet, und der objektiven Verletzung von Gesetzen ist ein Unterschied zu machen. Zwischen Äußerungen der Bundesregierung und Äußerungen einzelner Personen und Pressekommentaren ist ebenfalls ein Unterschied zu machen. Ich glaube nicht, daß irgendeine Regierung das Recht hätte oder die Aufgabe haben könnte, die öffentliche Meinung sozusagen unter Zensur zu stellen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich rufe die Frage 68 des Abgeordneten Dr. Hupka auf:
Wie erklärt sich die Bundesregierung, daß 1972 im Vergleich zu 1971 die Zahl der Aussiedler jenseits von Oder und Görlitzer Neiße nicht nur rückläufig, sondern nahezu halbiert worden ist, waren es in den Monaten Januar bis November 1971 23 684 Aussiedler, so sind es in den Monaten Januar bis November 1972 nur noch 12 100 Aussiedler gewesen?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär!
Herr Abgeordneter, im Jahre 1972 ist die Zahl der Umsiedler aus Polen im Vergleich zum Jahre 1971 in der Tat um etwa die Hälfte zurückgegangen. Für den Monat Dezember dieses Jahres liegen selbstverständlich noch keine Zahlen vor. Der Rückgang der Zahl der Umsiedler beruht nach Auffassung der Bundesregierung darauf, daß die administrativen Erschwernisse für die Erteilung der Ausreisegenehmigung, die seit Herbst 1971 zu beobachten sind, noch nicht beseitigt wurden. Von diesen Erschwernissen sind die Woiwodschaften Kattowitz, Oppeln und Allenstein betroffen. In den übrigen Woiwodschaften läuft das Verfahren normal. In den drei genannten Woiwodschaften lebt jedoch die überwiegende Zahl der Umsiedlungsbewerber.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Hupka.
Sieht die Bundesregierung aber irgendeine Möglichkeit, daß die Zahl von etwa 25 000 Aussiedlern, die im Jahre 1971 registriert werden konnte, vielleicht wieder erreicht wird?
Herr Abgeordneter, wir haben uns ja keine bestimmten Zahlen vorgenommen. Aber aus meiner Antwort ging hervor, daß wir hier Erschwerungen zu beobachten haben, die von unserer Seite sicherlich nicht begrüßt werden, sondern — ich habe es ja gesagt — die wir bedauern. Wir haben selbstverständlich jetzt gerade nach Aufnahme der diplomatischen Beziehungen die Möglichkeit — die wir nutzen —, in direktem Gespräch mit der polnischen Seite diese Fragen zu erörtern und zu klären.
Eine zweite Zusatzfrage.
Erklärt sich die rückläufige Zahl auch dadurch, daß die Aussiedlung, wenn überhaupt, nur im Zuge der Familienzusammenführung möglich ist und kaum Deutsche mit unbestreitbar deutscher Volkszugehörigkeit ausgesiedelt werden?
104 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Dezember 1972
Herr Abgeordneter, das im einzelnen darzulegen wäre einer längeren Erörterung wert, die wir gern in geeigneten Gremien vornehmen können. Die eigentlichen Ursachen in diesen drei Woiwodschaften habe ich gerade hier genannt.
Eine Zusatzfrage, Abgeordneter Dr. Czaja.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht der Auffassung, daß die Rückschritte in diesem humanitären Bereich nicht als Fortschritte in der Normalisierung der Beziehungen zu bezeichnen sind?
Herr Abgeordneter, Bewertungen sind eine Frage des Ausgangsmaßstabs. Ich habe gesagt, daß diese Zahlen, die hier genannt worden sind, nicht unseren Erwartungen entsprechen. Aber daß es im Vergleich zu dem, was vorher war, besser ist, ist unbestreitbar; denn es war immerhin noch mehr als die doppelte Anzahl des Jahres 1970.
Dann komme ich zur Frage 69 des Abgeordneten Dr. Hupka.
Was gedenkt die Bundesregierung angesichts der Tatsache zu tun, die in einem Brief vom 20. November 1972 aus Oberschlesien diesen Niederschlag gefunden hat: „Bei uns besteht weiterhin keine Möglichkeit, einen neuen Antrag zu stellen, weil die Anträge immer noch vom Paßbüro nicht abgenommen werden!"?
Die Bundesregierung, die den Rückgang der Umsiedlung bedauert, hat dieses schwierige Problem unter anderem mit dem polnischen Außenminister Olszowski während seines Besuches in Bonn am 13. und 14. September 1972 erörtert. Minister Olszowski hat zugesagt, die Umsiedlungsaktion werde fortgesetzt und beschleunigt. Die Bundesregierung vertraut darauf, daß Polen die Zusage einhält. Sie beabsichtigt im übrigen, den gesamten Komplex in weiteren Regierungsgesprächen — das habe ich eben schon angedeutet — mit Polen zu behandeln. Wir werden diese Gespräche abwarten müssen, bevor ich Sie näher unterrichten kann.
Eine Zusatzfrage, Abgeordneter Dr. Hupka.
Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um zu verwirklichen, was Herr Bundesaußenminister Scheel im Auswärtigen Ausschuß einmal gesagt hat: daß ab sofort gegenüber den Aussiedlungswilligen keine Schikanen mehr angewandt werden?
Herr Abgeordneter, das habe ich, glaube ich, gerade beantwortet, nämlich: in
weiteren Gesprächen mit der polnischen Seite diese Frage in unserem Sinne zu lösen.
Noch eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Hupka.
Habe ich Sie richtig verstanden, Herr Staatssekretär, daß jetzt nicht mehr ausschließlich von Rotkreuzgesellschaft zu Rotkreuzgesellschaft verhandelt werden wird, sondern daß sich jetzt mehr die Bundesregierung einschalten wird, um selber die Gespräche zu führen?
Sie haben mich richtig verstanden, Herr Abgeordneter.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Czaja.
Herr Staatssekretär, können Sie hier oder im Auswärtigen Ausschuß sagen, welche Folgerungen die Bundesregierung aus der sehr schlimmen Situation in der Aussiedlerfrage angesichts der grundgesetzlich fundierten Schutzpflicht der Bundesrepublik Deutschland für deutsche Staatsangehörige, die auch durch Verträge nicht aufgehoben werden kann, zu ziehen gedenkt?
Herr Abgeordneter, ich nehme an, daß die Diskontinuität der Legislaturperioden mich nicht daran hindert, darauf zu verweisen, daß diese Frage sowohl in diesem Hause als auch im Ausschuß ausführlich dargestellt worden ist, daß es über das Wesen der Wahrnehmung dieser Pflicht eben objektiv unterschiedliche Auffassungen zwischen uns und der polnischen Seite gibt.
Keine Zusatzfrage mehr. — Ich danke Ihnen.
Herr Präsident, ich muß ausdrücklich hinzufügen, damit kein Mißverständnis entsteht, daß die Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland nicht im mindesten irgendwelche Pflichten vernachlässigt hat, gerade in diesem Bereich, die ihr durch das Grundgesetz auferlegt worden sind, daß aber hier nicht allein die Frage der rechtlichen Bewertung eine Rolle spielt, sondern auch die der politischen Möglichkeiten. Und, Herr Abgeordneter, diese Bundesregierung hat an politischen Möglichkeiten vieles eröffnet, was sicherlich manchem Kritiker gar nicht angenehm gewesen ist.
Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär, und komme zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr.
Deutscher Bundestag — 7. Wallperiode — 6, Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Dezember 1972 105
Vizepräsident Dr. Jaeger
Die Fragen 41 und 42 des Abgeordneten Dr. Schmitt-Vockenhausen werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 43 des Abgeordneten Schulte auf:
Würde die Bundesregierung einem eventuellen Antrag eines Bundeslandes, landschaftsbezogene Kraftfahrzeugkennzeichen einzuführen, stattgeben?
Zur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staatssekretär Haar.
Herr Abgeordneter, gegenwärtig beruht das System, die Kraftfahrzeugkennzeichen prinzipiell aus dem Namen der Kreisstadt abzuleiten, auf der Zustimmung der Länder. Änderungen bedürften der Zustimmung des Bundesrats, weil die Kennzeichen in Anlage 1 der Straßenverkehrs-Zulassungs-
Ordnung festgelegt sind.
Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß wegen der besseren Merkfähigkeit die Unterscheidungsbuchstaben des Kraftfahrzeugkennzeichens aus dem Namen der Kreisstadt abgeleitet werden sollten. Dies hat vor allem auch den Vorteil, daß im Falle der Zusammenlegung von Kreisen meist eines der vorhandenen Unterscheidungszeichen beibehalten werden kann und kein neues Kraftfahrzeugkennzeichen eingeführt werden muß, hinter dem sich dann oft noch eine nicht allgemein bekannte Landschaftsbezeichnung verbergen dürfte.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Schulte .
Herr Staatssekretär, was bewegt die Bundesregierung, in ihrer Antwort andere Maßstäbe anzulegen als z. B. in Schleswig-Holstein?
Es gab zwei Ausnahmefälle, und zwar in Husum und im Bereich Eutin. Dabei sind die Landesregierungen — das ist in vollem Einvernehmen mit den Landesregierungen erfolgt — darauf hingewiesen worden, daß es sich hier um Ausnahmefälle mit besonders begründeten Überlegungen handelt.
Zu einer zweiten Zusatzfrage Herr Abgeordneter Schulte .
Ist die Bundesregierung bereit, ihre Meinung in den Fällen zu ändern, wo die Länder selber den Kreisen landschaftsbezogene Namen gegeben haben?
Wenn sich gleichgeartete Fälle wie in den beiden von Ihnen genannten Fällen ergeben sollten, sind wir selbstverständlich bereit, darüber zu sprechen.
Herr Abgeordneter, zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wäre es sinnvoll, in einem neugebildeten Landkreis drei Kennzeichen nebeneinander zu verwenden, was ja notwendig wäre, wenn die zwei seitherigen beibehalten würden und ein neues, landschaftsbezogenes eingeführt würde?
Wir sind gern bereit, solche Anregungen zu prüfen, Herr Kollege.
Keine Zusatzfrage mehr.
Die Frage 44 des Abgeordneten Stücklen wird schriftlich beantwortet, da der Fragesteller nicht im Saal ist. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 45 des Abgeordneten Dr. Jahn auf:
Welche Vereinbarungen sind zwischen der Bundesregierung und dein Land Niedersachsen getroffen worden, um die Elektrifizierung der Bundesbahnstrecken von Lehrte über Braunschweig nach Helmstedt zu realisieren?
Herr Staatssekretär, bitte!
Herr Kollege, auf Ihre Frage zunächst die Feststellung: Bisher sind noch keine Vereinbarungen getroffen worden. Die Finanzierungsverhandlungen zwischen der Deutschen Bundesbahn und dem Land Niedersachsen über die Elektrifizierung der Strecke Lehrte-Braunschweig-Helmstedt sind jedoch im Herbst dieses Jahres in ein entscheidendes Stadium getreten. Nach Mitteilung der Deutschen Bundesbahn ist ein baldiger Abschluß wahrscheinlich. Nach erfolgter Einigung kann mit der Umstellung der Strecke auf elektrischen Betrieb begonnen werden.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dr. Jahn .
Herr Staatssekretär, wann rechnen Sie mit dem Beginn, wenn die Verhandlungen so günstig abgeschlossen werden, wie Sie eben gesagt haben? In Niedersachsen wird gesagt, daß 1974 mit dem Bau begonnen werden könnte.
Nach den mir vorliegenden Unterlagen kann ich im Augenblick eine verbindliche Zusage bezüglich des Termins für den Beginn der Arbeiten nicht -machen, weil er von den Vereinbarungen zwischen dem Vorstand der Deutschen Bundesbahn und dem Land abhängig ist.
Keine Zusatzfrage.
Die Fragen 46 und 47 des Abgeordneten Dr. Althammer sowie die Fragen 48 und 49 des Abgeord-
106 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Dezember 1972
Vizepräsident Dr. Jaeger
neten Leicht werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 50 des Abgeordneten Seefeld auf:
Wann ist mit der Verabschiedung der Ausbildungsordnung für Berufskraftfahrer endlich zu rechnen?
Herr Staatssekretär, bitte!
Herr Kollege, die Berufskraftfahrer-
Ausbildungsordnung wird voraussichtlich in der ersten Hälfte des Jahres 1973 erlassen werden. Die federführenden Ressorts waren bestrebt, die genannte Verordnung bereits Anfang November 1972 zu verabschieden. Leider war es aber nicht mehr möglich, in Kürze alle Fragen zu klären, die mit dem Erlaß der Berufskraftfahrer-Ausbildungsordnung in Zusammenhang stehen. Hierzu gehören Fragen über die Anwendung der Verordnung im öffentlichen Dienst, über die dort zu erwartenden finanziellen Auswirkungen und etwaige haushaltsmäßige Konsequenzen. Der Bundesminister für Verkehr wird sich zusammen mit dem Bundesminister für Wirtschaft bemühen, diese Fragen beschleunigt zu lösen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Seefeld.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß auf zahlreiche Fragen, die zu diesem Thema hier gestellt worden sind, mehrere Ihrer Kollegen, Parlamentarische Staatssekretäre, bisher geantwortet und dabei jeweils so wie Sie heute gesagt haben, man wolle baldmöglichst oder beschleunigt diese Ausbildungsordnung vorlegen? Verstehen Sie deshalb bitte, daß ich Sie besonders fragen möchte, ob Sie noch etwas konkreter werden könnten, als Sie es eben waren.
Herr Kollege, ich denke, der Hinweis im ersten Teil meiner Antwort, daß die Berufskraftfahrer-Ausbildungsordnung voraussichtlich in der ersten Hälfte des Jahres 1973 erlassen wird, zeigt, daß wir zu einem Abschluß der Gesamtbemühungen kommen.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Seefeld.
Herr Staatssekretär, durch das stärkere Anwachsen des internationalen grenzüberschreitenden Verkehrs hat die Ausbildung der Berufskraftfahrer nicht nur eine nationale Bedeutung, und darum frage ich Sie: in welcher Weise sind denn die deutschen Vorarbeiten, die bisher geleistet worden sind, mit unseren EWG-Partnern abgestimmt, und werden unsere Ausarbeitungen harmonisierungskonform sein?
Herr Abgeordneter, die Kommission der EG hat Richtlinien über die Mindestausbildung im Kraftfahrerberuf erarbeitet. Nach Erlaß der Berufskraftfahrer-Ausbildungsordnung und durchzu-
führender Modellversuche wird die Bundesregierung die Bemühungen um eine Harmonisierung in diesem Bereich vorantreiben. Wir danken auch Ihnen, daß Sie sich darum sehr wesentlich bemühen.
Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär, und komme zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen, zuerst zur Frage 52 des Abgeordneten Schröder :
Wie bewertet die Bundesregierung Verpflichtungserklärungen von DDR-Bürgern bei Westkontakten sowie die damit verbundene Fragebogenaktion, und sieht sie diese Aktion in Übereinstimmung mit Geist und Buchstaben der Ergänzungen zum Grundvertrag?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär Herold, bitte sehr!
Ich darf die Frage wie folgt beantworten:
Der Bundesregierung ist durch Zuschriften und verläßliche Hinweise bekanntgeworden, daß auf bestimmte Kreise der Bevölkerung der DDR eingewirkt wird, entweder keine Besuche aus dem Bundesgebiet zu empfangen oder nicht selber in das Bundesgebiet zu reisen, obwohl es sich dabei auch um Personen im Rentenalter handelt oder die Voraussetzungen der Anordnung der DDR vom 17. Oktober 1972 hinsichtlich der Reisen in dringenden Familienangelegenheiten erfüllt wären. Ferner gingen unterschiedliche Angaben darüber ein, daß solche DDR-Bewohner zu direkten oder indirekten Verpflichtungen veranlaßt werden, vor allem von Besuchsreisen und Einladungen abzusehen.
Der Bundesregierung ist auf Grund der Feststellungen der zuständigen Behörden allerdings auch bekannt, daß trotz der geschilderten Schwierigkeiten allein im Monat November 1972 mehrere tausend DDR-Bewohner in dringenden Familienangelegenheiten ihre Angehörigen im Bundesgebiet besuchen konnten.
Die Bundesregierung nimmt die eingangs erwähnten Schwierigkeiten sehr ernst. Die verbindlich zugesagten Reiseerleichterungen dürfen nicht durch interne Maßnahmen der DDR ausgehöhlt werden. Für eine abschließende Bewertung dieser Vorgänge ist die seit dem Inkrafttreten des Verkehrsvertrages verflossene Zeit noch zu kurz, zumal auch Anfangsschwierigkeiten bei örtlichen DDR-Behörden nicht auszuschließen sind.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, welche konkreten Argumente hat die Bundesregierung in ihren Gesprächen mit der DDR-Regierung in dieser Frage vorgebracht, um auf eine Einschränkung oder Beseitigung dieser Verpflichtungserklärung zu drängen?
Herr Kollege Schröder, vielleicht kann ich Ihre Frage 53 gleich mit
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Dezember 1972 107
Parl. Staatssekretär Herold
beantworten, wenn Sie damit einverstanden sind. Ich würde das sonst vorwegnehmen.
Dann darf ich zu meiner ersten Frage noch eine Zusatzfrage stellen. Sie sprachen davon, daß dennoch mehrere tausend DDR-Bürger die Ausreisegenehmigung in die Bundesrepublik bekommen hätten. Darf ich fragen, ob unter diesen mehreren tausend auch aus dem unter die Verpflichtungserklärung fallenden Personenkreis Angehörige gewesen sind.
Es ist für uns sehr schwierig, das im einzelnen zu überprüfen. Wir haben im Augenblick nur die Gesamtzahl. Ich habe ja auch hier ganz klar erklärt, daß uns diese Informationen zugegangen sind, daß wir sie als zuverlässig betrachten und daß wir alles tun werden, um diese Dinge in der Zukunft abzustellen.
Zu einer Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kunz.
Herr Staatssekretär, sind Sie in der Tat der Auffassung, daß es sich lediglich um örtlich bedingte Schwierigkeiten handelt, handelt es sich nicht vielmehr um zentral gesteuerte Reisebehinderungen?
Ich würde beides nicht ausschließen. In dem Gespräch zwischen dem Kollegen Bahr und Herrn Kohl am 12. Dezember wurde auch über die Frage der Reiseerleichterungen gesprochen. Staatssekretär Bahr legte die Besorgnis der Bundesregierung dar; Staatssekretär Kohl nannte daraufhin, wie der Öffentlichkeit ja bereits bekanntgemacht wurde, folgende Ziffern, die in ihrer Tendenz durch eigene Erhebungen der Bundesregierung bestätigt werden.
In der Zeit vom 1. Januar bis zum 30. November 1972 sind 6 224 000 Einwohner der Bundesrepublik und Westberlins in die DDR gereist. Im Vorjahr lag die entsprechende Zahl für zwölf Monate nur knapp über 3 Millionen.
Die Ziffer für 1972 wird noch erheblich steigen. Allein in den Tagen vom 1. bis 5. Dezember sind 278 000 Genehmigungen zur Einreise in die DDR ausgestellt worden.
Seit dem Inkrafttreten des Verkehrsvertrages, d. h. in der Zeit vom 17. Oktober bis zum 7. Dezember, sind in dringenden F amiiienangelegeheiten 15 000 Bewohner der DDR in die Bundesrepublik und nach Berlin eingereist.
Insgesamt sind in der Zeit vom 1. Januar bis zum 30. November 1972 1 392 000 Bewohner der DDR in die Bundesrepublik und nach Berlin eingereist.
Zu den Beschränkungen, denen bestimmte Gruppen von Personen in der DDR unterworfen sind, stellte Staatssekretär Kohl fest, daß es sich dabei um Maßnahmen im Rahmen des sogenannten Staatsschutzes handle, wie sie auch in anderen Staaten so üblich seien.
Der Briefverkehr zwischen Privatpersonen ist keinen Beschränkungen unterworfen.
Wie Ihnen bekannt ist, hat Herr Staatssekretär Kohl ja die Versicherung in der Öffentlichkeit abgegeben, daß die DDR bereit ist, den Vertrag nach Geist und Buchstaben einzuhalten.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Schröder .
Schröder (CDU, CSU) : Herr Staatssekretär, da Sie in Ihrer Antwort eben davon sprachen, Herr Staatssekretär Bahr habe die Besorgnis der Bundesregierung zum Ausdruck gebracht, darf ich Sie fragen, ob Herr Staatssekretär Bahr auf die Beseitigung oder aber zumindest auf eine wesentliche Einschränkung des Personenkreises, der von diesen Verpflichtungsermächtigungen betroffen ist, gedrängt hat.
Herr Kollege Schröder, es ist selbstverständlich, daß diese Bundesregierung darauf drängt, daß es in einem Höchstmaß zu menschlichen Erleichterungen und zu Gesprächen und Begegnungen kommt. Dies streben wir an; deswegen. ist dieser Vertrag ja geschlossen worden.
Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Schröder .
Wird sich die Bundesregierung auch nach Ratifizierung des Grundvertrages weiterhin bemühen, diese Verpflichtungsermächtigungen zu beseitigen?
Wir werden alles versuchen, um die Möglichkeiten auszuschöpfen, die dieser Vertrag uns bietet. Wir werden die DDR an die Zusagen erinnern, die sich aus diesem Vertrag ergeben.
Herr Kollege Schröder, ich möchte nur noch auf folgendes aufmerksam machen. Gegen eine gesunde Skepsis von seiten eines jeden Kollegen ist nichts einzuwenden; diese ist auch bei uns vorhanden. Ich erinnere aber nur an die Diskussion um das Transitabkommen. Heute spricht kein Mensch mehr davon, es hat sich wirklich hervorragend eingespielt. Ich erinnere mich auch an die Diskussionen in den Ausschüssen um das Verplombungsgesetz. Wir haben uns große Sorgen darum gemacht, ob es möglich ist, daß die Fahrzeughalter umrüsten, ob die finanziellen Mittel dafür aufgebracht werden können. Bis zum heutigen Tag aber haben wir ganze zwei Anträge auf Zuschüsse für die Umrüstung erhalten.
108 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Dezember 1972
P
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Lassen Sie uns doch etwas Zeit, lassen Sie uns Erfahrungen sammeln. Wir sind nicht bereit, diese Erschwernisse hinzunehmen. Das kann ich hier ganz offen erklären.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Sieglerschmidt.
Herr Staatssekretär, würden Sie mit mir in der Meinung übereinstimmen, daß man diese Maßnahmen, über die hier verständlicherweise Besorgnisse geäußert worden sind, doch als eine Reaktion auf die durch die Ostpolitik der Bundesregierung, durch das Berlin-Abkommen, durch den Verkehrsvertrag, herbeigeführten vermehrten Kontakte anzusehen hat und daß man das, wenn man hier solche Besorgnisse äußert, nicht vergessen sollte?
Ich möchte dem zustimmen und möchte nur noch ergänzend sagen: Vielleicht sind einige Behörden drüben auch überfordert, weil sie mit Begegnungen in diesem Ausmaß, in dieser Zahl nicht gerechnet haben.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kunz .
Herr Staatssekretär, ist Ihnen aus der Geschichte der Diplomatie ein Fall bekannt, in dem ein Vertrag, der noch nicht in Kraft getreten ist, bereits nahezu völlig unterlaufen wurde?
Ich würde von „unterlaufen" überhaupt nicht sprechen, sondern würde umgekehrt argumentieren: Es ist ja üblicherweise so, daß man einen Vertrag in Kraft treten und dann erst die entsprechenden Maßnahmen anlaufen läßt. Hier sind wir schon einige Male in umgekehrter Richtung verfahren.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Gruhl? — Bitte!
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung irgendwelche Möglichkeiten, die Fälle zu registrieren oder wenigstens teilweise statistisch zu erfassen, in denen selbst bei lebensgefährlichen Erkrankungen eine Einreisegenehmigung nicht gewährt worden ist?
Wir erfahren selbstverständlich von vielen Einzelfällen. Ich habe heute den Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen einen Brief in die Fächer legen lassen, damit man uns von diesen Dingen unterrichtet, damit wir das entsprechende Material sammeln und zusammenstellen, um bei nächster Gelegenheit bei den Gesprächen
diese Dinge mit konkreten Beispielen wieder auf den Verhandlungstisch zu legen.
Keine Zusatzfragen mehr.
Die Fragen 54, 55, 56 und 57 der Frau Abgeordneten Berger und des Herrn Abgeordneten Reddemann sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Wird die Bundesregierung auch weiterhin die erforderlichen Mittel bereitstellen, damit Besuchern aus der DDR ein Begrüßungsgeld gezahlt werden kann?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär!
Herr Präsident! Ich darf die Frage wie folgt beantworten: Seit Beginn des Besuchsreiseverkehrs im November 1964 zahlt die Bundesregierung jedem Besucher aus der DDR auf Antrag ein sogenanntes Begrüßungsgeld in Höhe von 30 DM. Die Länder stocken diesen Betrag um 20 DM auf 50 DM auf, und die Gemeinden gewähren aus ihren Etats weitere Hilfen. Diese Maßnahme soll den Besuchern helfen, notwendige Ausgaben zu bestreiten und kleine Gegenstände des täglichen Bedarfs zu kaufen. Die Besucher, die im Rentenalter stehen, dürfen nur einmal jährlich 10 DM — neuerdings 15 DM — als sogenanntes Zehrgeld aus der DDR mitnehmen.
Die Bundesregierung wird auch im neuen Haushaltsplan entsprechende Mittel vorschlagen, um diese Hilfe weiter zu gewähren.
Die im Verkehrsvertrag vereinbarten Reiseerleichterungen haben bisher keinen Einfluß auf die Gewährung der Bargeldhilfe des Bundes gehabt. Mein Haus hat die Länder schon zweimal gebeten, auch in Zukunft nach den Richtlinien, die gemeinsam erarbeitet worden sind, zu verfahren.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kunz.
Herr Staatssekretär, darf ich Ihre Formulierung, entsprechende Mittel würden zur Verfügung gestellt, so verstehen, daß die Mittel zumindest in der gleichen Höhe wie bisher zur Verfügung gestellt werden?
Herr Kollege Kunz, das kann ich hier nicht sagen. Wir werden uns vorn Bund her bemühen. Sie wissen aber, was sich in den Ländern abspielt, auch bei Ihnen zu Hause.
— Entschuldigung, das habe ich im letzten Jahr
schon mit den Kollegen aus München und aus
Rheinland-Pfalz erlebt. Berlin ist da kein Modellfall.
Ich würde also sagen, wir bemühen uns darum, und wenn die Kollegen des Hauses uns dabei tatkräftig unterstützen, wird es vielleicht gar keine Schwierigkeiten geben.
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Dezember 1972 109
Parl. Staatssekretär Herold
Man muß andererseits aber auch wissen, was auf uns zukommen kann, wenn diese Erleichterungen noch mehr in Anspruch genommen werden; ich denke an das mehrmalige Kommen usw. Man muß sehen, daß das finanziell, wie man so schön sagt, ganz ordentliche Brocken werden können. Auch das muß man wissen, wenn man dann über den Haushalt spricht.
Keine Zusatzfragen mehr? — Dann danke ich Ihnen, Herr Staatssekretär. Meine Damen und Herren, die Fragestunde ist beendet. Bevor wir in die Ferien gehen, die die ersten seit dem anstrengenden Wahlkampf sind, darf ich Ihnen ein gesegnetes Weihnachtsfest, ein glückliches neues Jahr und Tage wirklicher seelischer und körperlicher Erholung wünschen.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf den 18. Januar 1973, 10 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.