Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, es liegt eine interfraktionelle Vereinbarung vor, den Rest der Tagesordnung wie folgt zu erledigen: erstens die Abstimmung zu Punkt 13 b, also zur Kohlenzollverordnung, zweitens Punkt 14 der Tagesordnung — SaintLouis — drittens Punkt 10 — Fremdenlegion —, viertens Punkt 15 — Große Anfrage betreffend AVAVG —, fünftens Punkt 16 der Tagesordnung — Erste Verordnung zur Änderung des Deutschen Zolltarifs — und als letztes Punkt 17 — Dritte Verordnung zur Änderung des Deutschen Zolltarifs —. Ist das Haus damit einverstanden? — Dann kann so verfahren werden.
Wir fahren also fort bei Punkt 13 b:
Beratung des Schriftlichen Berichts des Außenhandelsausschusses über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf einer Vierten Verordnung zur Änderung des Deutschen Zolltarifs 1959 (Kohlenzoll) (Drucksachen 813, zu 813, 826 [neu] ).
Es ist noch abzustimmen über den Antrag des Ausschusses im Mündlichen Bericht Drucksache 826 .
Zur Geschäftsordnung der Abgeordnete Dr. Mommer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bitte zu berücksichtigen, daß zu Punkt 13 a noch ein Antrag der SPD-Fraktion auf Umdruck 200 eingegangen ist. Es ist Einvernehmen zwischen den Fraktionen darüber erzielt worden, daß dieser Antrag ohne Begründung und Aussprache an den Wirtschaftsausschuß überwiesen werden soll. Ich bitte das Haus um diese Übersung.
— An dieselben Ausschüsse wie der Antrag — Umdruck 199 — der anderen Fraktionen zu diesem Tagesordnungspunkt.
Meine Damen und Herren, an sich wäre ein Antrag nach § 107 der Geschäftsordnung jetzt nicht mehr zulässig. Nachdem aber interfraktionell Einverständnis besteht, stelle ich eine Abweichung gemäß § 127 der Geschäftsordnung fest. Der Antrag der SPD-Fraktion Umdruck 200 wird an die gleichen Ausschüsse überwiesen, an die der Antrag der Fraktionen der CDU/ CSU und DP — Umdruck 199 — gestern überwiesen worden ist.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung zu Punkt 13 b. Wer dem Antrag des Ausschusses im Bericht Drucksache 826 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. Enthaltungen? Das erste war die Mehrheit; der Antrag ist angenommen.
Wir kommen zu Punkt 14 der Tagesordnung:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 31. März 1958 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik über das deutsch-französische Forschungsinstitut Saint-Louis ;
Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Verteidigung (Drucksache 707).
Berichterstatter ist Herr Abgeordneter Dr. Kliesing. Wünscht der Berichterstatter noch das Wort? — Ich danke dem Abgeordneten Dr. Kliesing für den von ihm erstatteten Schriftlichen Bericht.
Ich rufe in zweiter Beratung § 1 auf und erteile das Wort dem Abgeordneten Metzger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es handelt sich um das Abkommen, das zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik über das deutsch-französische Forschungsinstitut Saint-Louis geschlossen worden ist. Diesem Abkommen stimmen wir zu durch Annahme des vorliegenden Gesetzentwurfs.§ 1 des Abkommens sieht vor, daß ein Institut für Forschung sowie für wissenschaftliche Untersuchungen und grundlegende Vorentwicklungen auf dem Gebiet des Waffenwesens betrieben werden soll. Es ist zu prüfen, ob diese Bestimmung die Möglichkeit gibt, gewisse Gefahren, die die SPD-Fraktion sieht, auszuschalten.Der Harr Berichterstatter sagt in seinem Bericht, es könne nicht die Rede davon sein, daß dieses In-
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Metzgerstitut sich mit kernphysikalischen Problemen befasse. Das ist für den Augenblick nicht einmal die entscheidende Frage. Es ist von der SPD-Fraktion auch nicht behauptet worden, daß im diese Gefahr besteht. Aber es ist sehr wohl möglich, es ist sogar wahrscheinlich, daß das ballistische und aerodynamische Verhalten von Flugkörpern geprüft wird, die mit atomaren Sprengköpfen versehen sind.Es ist von dem Herrn Berichterstatter auch gesagt worden, daß zwar im § 1 des Abkommens von dem Gebiet des Waffenwesens die Rede sei, daß die Arbeiten des Instituts sich aber nicht auf alle Bereiche des Waffenwesens erstreckten, sondern daß „nach den Gegebenheiten" nur auf dem ballistisch aerodynamischen Sektor gearbeitet werde. Juristisch kann kein Zweifel darüber bestehen, daß nach dem Wortlaut des Abkommens unbeschränkt auf dem gesamten Gebiet des Waffenwesens gearbeitet werden kann. Wenn gesagt wird, daß die Gegebenheiten im Augenblick nur die Arbeit auf einem bestimmten Teilgebiet ermöglichten, so muß dem entgegengehalten werden, daß sich die Gegebenheiten ändern können und daß juristisch ohne Zweifel auch auf anderen Gebieten Arbeiten möglich sind. Die Gefahr also, daß im Augenblick atomare Forschung betrieben wird und daß sie in Zukunft bei Änderung der Gegebenheiten erheblich erweitert wird, ist durchaus vorhanden.Wenn jetzt die Regierung erklärt, es bestehe nicht die Absicht, atomare Untersuchungen vorzunehmen, so muß man die Frage stellen: Warum hat man dann in diesem Abkommen schlechthin von dem Bereich des Waffenwesens ohne irgendeine Einschränkung gesprochen? Wenn man das, was wir zu beanstanden haben, nicht will und nicht wollte, hätte man mit einem kleinen Nebensatz die von uns geltend gemachten Bedenken, die ja auf der Hand liegen, ausschalten können. Das hat man nicht getan. Die Gefahr, daß dieses Institut für atomare Versuche benutzt wird und diese dann der atomaren Bewaffnung dienstbar gemacht werden, ist also keineswegs ausgeschaltet; sie ist sogar sehr akut. Die sozialdemokratische Fraktion sieht sich deshalb nicht in der Lage, dem Gesetz, mit dessen Annahme wir dieses Abkommen billigen sollen, zuzustimmen.Ich darf bei dieser Gelegenheit auf eine Besonderheit hinweisen. Die Regierung hat selber in ihrer Begründung zum Ausdruck gebracht, daß ursprünglich beabsichtigt gewesen sei, dieses Abkommen als ein Regierungsabkommen abzuschließen, d. h. das Parlament überhaupt nicht einzuschalten. Daß wir gehört werden, haben wir nur der Tatsache zu verdanken, daß nach französischem Recht, wenn man den Zweck dieses Abkommens erreichen will, das Parlament zustimmen muß. Diesem Umstand verdanken wir es, daß auch wir zustimmen dürfen. Das ist eine immerhin recht charakteristische Sachlage, und all das ist keineswegs geeignet, das Mißtrauen zu zerstreuen, das wir gegenüber diesem Abkommen haben.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Kliesing.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Metger, Sie befinden sich in einem gewissen Irrtum, wenn Sie die Auffassung vertreten, wir verdanken die Ratifizierungsbedürftigkeit dieses Gesetzes lediglich der Tatsache, daß die französische Verfassung eine solche Teilnahme des Parlaments am Ratifizierungsverfahren erforderlich mache. Nach der neuen französischen Verfassung ist es genau umgekehrt. Nach meinen Informationen hat die Französische Republik inzwischen den Vertrag ratifiziert, und zwar gemäß französischem Verfassungsrecht auf dem Verordnungswege.Nun aber zu den von ihnen angeschnittenen Fragen. Auch die Fraktion der CDU/CSU hat sich mit den in diesem Abkommen aufgeworfenen Fragen eingehend beschäftigt. Wir sind allerdings der Auffassung, daß Ballistik und Kernphysik zwei grundverschiedene Dinge sind und deshalb von vornherein nicht zu vermuten ist, daß in einem ballistischen Institut kernphysikalische Arbeiten vorgenommen werden. Selbst wenn man das Institut eines Tages umstellen wollte, so würde das eine derartige Umgestaltung auf personellem und materiellem Gebiet und einen derart hohen Finanzaufwand bedingen, daß man es ohne haushaltsmäßige Folgerungen nicht bewerkstelligen könnte. Das Kontrollrecht des Parlaments ist also in allen Fällen gewahrt.Auch das Argument, man könne mit Hilfe aerodynamischer Forschungen Flugkörper konstruieren, die geeignet seien, atomare Sprengkörper zu transportieren, ist nicht durchschlagend. Herr Kollege Metzger, wenn Sie den Grundsatz vertreten — es ist natürlich Ihr gutes Recht, ihn zu vertreten —, keinerlei Forschungsarbeiten zu unterstützen, die dem eventuellen Transport von atomaren Sprengkörpern dienen könnten, dann müssen Sie konsequenterweise ersten den gesamten deutschen Flugzeugbau ablehnen — denn mit Flugzeugen können Sie bekanntlich auch atomare Sprengsätze befördern — und zweitens darüber hinaus auf militärischem Gebiet auch jegliche artilleristische Forschungsarbeit, ja, sogar die Konstruktionsarbeiten für schwerere Infanteriewaffen heutzutage ausschließen.Ich würde es aber auch für falsch halten, wenn wir Deutschen von vornherein darauf verzichteten, in der Raketenforschung tätig zu werden; denn, in die Zukunft gesehen, hat die Raketenforschung keineswegs nur eine militärische, sondern auch eine zivile Bedeutung. Aus wissenschaftlichen, verkehrstechnischen und wirtschaftlichen Gründen wäre es also nicht zu vertreten, sich auf diesem Gebiet von vornherein einer völligen Enthaltsamkeit zu befleißigen.Wir sind der Auffasung, daß die von der Opposition vorgebrachten Bedenken in keiner Weise stichhaltig sind. Auf der anderen Seite begrüßen wir das Abkommen als eine Möglichkeit deutsch-französischer Zusammenarbeit. Wir sind deshalb bereit, dem Gesetzentwurf zuzustimmen.
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Wird noch das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Wir kommen zur Abstimmung über Artikel 1. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Das erste ist die Mehrheit; angenommen.
Ich rufe auf Artikel 2, — 3, — Einleitung und Überschrift. — Das Wort wird nicht gewünscht. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Das erste ist die Mehrheit; angenommen.
Ich komme zur dritten Beratung und eröffne die allgemeine Aussprache. Wird das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Ich schließe die allgemeine Aussprache.
Ich komme zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Bei wenigen Enthaltungen gegen die Stimmen der sozialdemokratischen Fraktion angenommen.
Ich rufe Punkt 10 der gemeinsamen Tagesordnung auf:
Beratung des Mündlichen Berichts des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten über den Antrag der Fraktion der SPD betr. Junge Deutsche in der Fremdenlegion (Drucksachen 288, 641).
Das Wort als Berichterstatter hat Herr Abgeordneter Dr. Birrenbach.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antrag der SPD betreffend Junge Deutsche in der Fremdenlegion — Drucksache 288 — war in der 28. Sitzung des Bundestages vom 8. Mai 1958 auf Vorschlag des Ältestenrats unter Verzicht auf Begründung und Aussprache an den Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten verwiesen worden. Der Auswärtige Ausschuß hat in der Sitzung vom 6. November vergangenen Jahres den Antrag behandelt und dem Plenum dieses Hauses einstimmig zur Annahme empfohlen, vergleiche Drucksache 641.Der Antrag lautet wie folgt:Die Bundesregierung wird ersucht,eine vertragliche Regelung mit der Französischen Republik zu treffen, daß deutsche Staatsangehörige, die noch nicht durch Vollendung des 21. Lebensjahres die Volljährigkeit erreicht haben, nicht gegen den Willen der Erziehungsberechtigten bei der Fremdenlegion festgehalten werden dürfen.Zur Begründung des Antrags möchte ich als Berichterstatter des Ausschusses folgendes ausführen.Zunächst gestatten Sie mir zur Einleitung einige Bemerkungen. Das Problem der Fremdenlegion ist nicht neuesten Datums. Es beschäftigt die Nachbarländer Frankreichs schon seit Jahrzehnten, wenn nicht seit mehr als einem Jahrhundert. Der Eintritt von nichtfranzösischen Staatsangehörigen in die Fremdenlegion berührt keineswegs das deutschfranzösische Verhältnis ausschließlich — trotz einiger statistischer Feststellungen, die ich in einem späteren Zusammenhang treffen werde und treffen muß. Frankreich hat, soweit wir wissen, in dieser Frage nicht zwischen den Ländern diskriminiert, deren Angehörige in mehr oder minder großer Zahl den Eintritt in die Fremdenlegion gesucht und gefunden haben.Da die Lösung der Frage, die der Ihnen vorliegende Antrag erstrebt, präjudizieller Natur auch für andere Nationen sein wird oder kann, ist bei seiner Erörterung besonderer Bedacht am Platze.Das Problem der Fremdenlegion präsentiert sich heute nicht mehr in seiner ursprünglichen Größenordnung. Die Entwicklung der europäischen Bewegung der 50er Jahre hat schon zu Teillösungen geführt, die jedoch logischerweise nur Vorstufen der Endlösung sein können und, wie wir meinen, auch werden. Seitdem Frankreich und die Bundesrepublik sich im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft nach Liquidierung der unglückseligen Konflikte der Vergangenheit zu einem freundschaftlichen Verhältnis zusammengefunden haben, sind Anwerbungen für die Fremdenlegion, die im Widerspruch zum deutschen Strafrecht — § 109 h des Strafgesetzbuches — stehen, nicht mehr vorgekommen; jedenfalls liegt keinerlei Nachweis für derartige Zuwiderhandlungen vor.Auch das Problem der Minderjährigen stellt sich heute nur noch in einer beschränkteren Form als in der Vergangenheit, und zwar insofern, als nach der heutigen Verwaltungspraxis die französischen Militärbehörden Legionäre, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, auf Ansuchen aus der Fremdenlegion entlassen. Ob aus dieser Praxis allgemein der Schluß gezogen werden kann, daß grundsätzlich Jugendliche nichtfranzösischer Staatsangehörigkeit, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, aus der Fremdenlegion entlassen werden, ist nicht mit absoluter Eindeutigkeit feststellbar. Immerhin ist die Annahme berechtigt, daß sich die französische Verwaltungspraxis tendenziell nach dieser Richtung hin orientiert.Die konkrete Frage, die uns hier beschäftigt, stellt also im wesentlichen ein Relikt einer in Wirklichkeit politisch wie historisch überwundenen Vergangenheit dar, die möglicherweise schon eine endgültige Liquidierung gefunden hätte, wenn nicht die Kämpfe in Algier die Entwicklung, so wie wir sie wünschen, verzögert hätten. Wenn dieses Hohe Haus sich heute mit dem Antrag der SPD befaßt, so kann man — wie der Berichterstatter selbst — vielleicht einwenden, daß mit Blick auf Frankreich ein günstigerer Zeitpunkt für die definitive Lösung dieses Problems hätte gefunden werden können als der jetzige. Ich denke dabei unter anderem an die besondere Problematik von Algier und andererseits an die Tatsache, daß jene bereits erwähnten Kämpfe in Algier noch nicht beendet sind.Zwei Gesichtspunkte sind es, die den Auswärtigen Ausschuß davon abgehalten haben, in dieser Frage weiter zuzuwarten, und zwar erstens die
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Dr. Birrenbachmenschliche Sorge um die jungen minderjährigen Mitglieder deutscher Staatsangehörigkeit in der Fremdenlegion und zweitens die Tatsache, daß diese Sorge um so akuter ist, als die Fremdenlegion in einer militärischen Operation in nahezu dauerndem Fronteinsatz steht, einer Operation, deren Ende alle Freunde Frankreichs erhoffen, ohne daß man jedoch heute schon in der Lage wäre, ein kurzfristiges Ende erwarten zu dürfen. — Soviel zur Einleitung.Die Fremdenlegion, geschaffen für den militärischen Einsatz Frankreichs außerhalb des Mutterlandes — gegründet zu Beginn der Restauration oder vielleicht besser unter der Juli-Monarchie — gilt in Frankreich als eine Organisation autonomen Charakters. Sie steht zwar innerhalb der militärischen Ordnung, ist jedoch in mancherlei Hinsicht als Organisation sui generis anzusprechen und folgt zumindest in Kriegszeiten weitgehend eigenen Gesetzen. Immerhin gelten die Fremdenlegionäre nach den französischen Militärgesetzen als französische Soldaten. Die Fremdenlegion selber beruht in Frankreich auf Gesetzen und Ordonnanzen, die bis zum Jahre 1831 zurückgehen, wobei die jeweiligen Regime Frankreichs den Status der Fremdenlegion den Bedürfnissen ihrer Zeit angepaßt haben.Über die Größe der Truppe können keine exakten Angaben gemacht werden. Offizielle Statistiken sind nicht bekannt; die uns zur Verfügung stehenden Berechnungen beruhen auf Vermutungen. Ich glaube, daß es insbesondere im jetzigen Augenblick vielleicht nicht opportun wäre, die weit auseinanderklaffenden Schätzziffern vorzutragen. Wichtig für die Beurteilung der Bedeutung des Antrages dürfte aber die Größe des deutschen Kontingents sein; über dieses liegen aber ebensowenig verläßliche Schätzungen vor. Immerhin dürfte die Annahme berechtigt sein, daß zur Zeit etwa 15 000 deutsche Staatsangehörige in der Fremdenlegion Dienst tun.
Die Ziffer kann größer, aber wohl kaum kleiner sein.Ich darf dabei nicht verfehlen zu bemerken, daß das deutsche Kontingent der absoluten Zahl nach das größte ist.
Es hat aber den Anschein, als wäre das Schweizer Kontingent in der Relation zur Bevölkerungszahl — übrigens von altersher — das bedeutendste ausländische Kontingent der Legion.Nach den Feststellungen und Erfahrungen der letzten fünf Jahre darf angenommen werden, daß ein erheblicher Teil der deutschen Legionäre —wahrscheinlich etwa die Hälfte — nach den deutschen Gesetzen minderjährig ist, d. h. das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Die oberste Grenze bei Eintritt in die Fremdenlegion liegt nach den Ermittlungen etwa bei 30 Jahren.Über die berufliche Herkunft fehlen genaue Angaben. Nach den Feststellungen der Grenz- und Paßkontrollstellen, der Polizeibehörden und Wohlfahrtsorganisationen dürften etwa je 30 % auf Industrie und Handwerk, 20 % auf ungelernte Arbeiter, 8 % auf Lehrlinge und der Rest in kleinen Prozentsätzen auf die übrigen Berufe entfallen.Was nun die landsmannschaftliche Zusammensetzung anlangt, so kann man sagen, daß sich die deutschen Legionäre aus allen Gegenden Deutschlands — der Bundesrepublik und der SBZ — rekrutieren, wobei in einzelnen Zeitabschnitten ein größerer Anteil von Flüchtlingen aus der sowjetisch besetzten Zone den Eintritt in die Fremdenlegion sucht, ohne daß jedoch im Gesamtdurchschnitt über einen längeren Zeitraum der den Angehörigen aus der SBZ landsmannschaftlich entsprechende Prozentsatz überschritten würde. Es handelt sich dann in der Regel um nicht registrierte Flüchtlinge, die in der Bundesrepublik keinen festen Fuß gefaßt haben. Soweit nur Ausweise der SBZ vorliegen, werden die Flüchtlinge an den Paßkontrollstellen abgewiesen.Nach Schätzung der zuständigen öffentlichen und privaten Stellen dürfte das bedeutendste Motiv für den Eintritt in die Fremdenlegion — das ist eine Frage, die uns in einem späteren Zeitpunkt noch beschäftigen wird — eine schwer definierbare Abenteurersucht sein. An zweiter Stelle sind Familienstreitigkeiten als Motiv zu nennen. Man kann sagen, daß diese Fälle etwa 20 % ausmachen.Man könnte noch fragen, wie stark der Anteil derjenigen ist, die unter einer Strafdrohung stehen und aus Angst vor Strafe in die Fremdenlegion gehen. Der Prozentsatz ist — über Jahre gesehen — relativ klein, kleiner, als man gemeinhin erwartet. Man kann mit etwa 3 % rechnen.So viel zur sachlichen Seite des Problems! Ich komme nun zur Rechtslage. Grundsätzlich ist völkerrechtlich anerkannt, daß jeder Staat souverän die Bedingungen für den Eintritt in seine Streitkräfte festsetzt. Das gilt ebenso für das Recht zur Anwerbung fremder Staatsangehöriger für die eigenen Streitkräfte. Jedenfalls ist dieses Recht bisher keiner Nation grundsätzlich bestritten worden, allerdings mit der Einschränkung, die der § 23 der Haager Landkriegsordnung vorsieht.Das Institut der Fremdenlegion gehört dem öffentlichen, und zwar dem französischen öffentlichen Recht an. Im Falle, daß ein Volljähriger seinen Eintritt in die Fremdenlegion vollzieht, ist eine rechtliche Handhabe nach geltendem Recht in Frankreich nicht gegeben. Die politische Frage der Opportunität einer dementsprechenden ausschließlichen Berücksichtigung des Ordre Public muß vielleicht unter anderen Gesichtspunkten gesehen werden. Das entscheidende Problem ergibt sich vielmehr in dem Falle, daß ein Minderjähriger in die Fremdenlegion eintritt. Es ist umstritten, ob der Eintritt in die Fremdenlegion auf Grund eines öffentlich-rechtlichen Vertrages oder eines einseitigen Verwaltungsaktes oder, wie es in der deutschen Rechtstheorie heißt, eines Verwaltungsaktes auf Unterwerfung erfolgt. Es fragt sich also, ob ein vollgültiger öffentlich-rechtlicher Vertrag oder ein vollgültiger acte administratif im Sinne des französischen Rechts zustande kommt, wenn ein MinderjährigerDr. Birrenbachin die Fremdenlegion eintritt. Nach französischem ebenso wie nach deutschem Recht, und zwar nach französischem Recht gemäß Art. 388 in Verbindung mit Art. 488 des Code civil, wird die Volljährigkeit erst mit der Vollendung des 21. Lebensjahres erreicht. Dieses Prinzip gilt auch für das öffentliche und nicht nur für das zivile Recht. Bis zu diesem Zeitpunkt, also bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres, steht auch nach französischem Recht der Minderjährige unter elterlicher Gewalt.Er bedürfte also ebenso wie im deutschen auch nach französischem Recht der Genehmigung des gesetzlichen Vertreters, wenn nicht eine Militärverordnung vom 29. Juli 1949, die auf eine Ordonnanz des Jahres 1831 zurückgeht, bestimmte, daß für den Eintritt in die Fremdenlegion die volle Geschäftsfähigkeit des Legionsbewerbers bereits mit Vollendung des 18. Lebensjahres als gegeben angesehen wird. Die Rechtsgültigkeit dieser Verordnung, vergleiche insbesondere § 3 Art. 3 des Code civil, wo das Kollisionsprinzip verankert ist, ist Gegenstand einer Klage vor dem französischen Verfassungsgericht, dem Conseil d'Etat, gewesen. Die Entscheidung ist vor wenigen Monaten gefallen, und zwar hat der Conseil d'Etat die Klage aus formellen Gründen abgewiesen, so daß es zur Entscheidung über die incidenter gestellte Frage nach der Rechtsgültigkeit dieser Verordnung nicht gekommen ist.Bisher handelte es sich um Legionäre, die das 18., aber noch nicht das 21. Lebensjahr vollendet haben. Aber selbst nach französischem Recht ist streitig, ob ein Minderjähriger vor Vollendung des 18. Lebensjahres in die Fremdenlegion eintreten kann. Hier liegt das Problem bei § 6 der Ordonnanz vom 10. März 1831. Die französische Verwaltungspraxis hat, wie betont, in der Vergangenheit auf Ansuchen der deutschen Stellen Mitglieder der Fremdenlegion, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten, aus der Legion entlassen.Zusammenfassend ist also zu sagen, daß selbst nach französischem Recht die Rechtsgültigkeit der Einstellung von ausländischen Minderjährigen in die Fremdenlegion, sei es vor dem 18. Lebensjahr —selbst mit Zustimmung des gesetzlichen Vertreters —, sei es nach Vollendung des 18. Lebensjahres ohne Zustimmung des gesetzlichen Vertreters, zweifelhaft ist.In Deutschland wird das Problem des Eintritts in die Fremdenlegion zunächst aus dem Gesichtspunkt der Minderjährigkeit akut. Dieses Problem habe ich bereits im Zusammenhang mit den einschlägigen französischen Bestimmungen behandelt. Eine spezielle Verbotsnorm mit Strafcharakter, wie sie die Schweiz kennt, existiert nicht. Vielmehr wird lediglich die Werbung für ausländische Wehrdienste nach § 109 h des Strafgesetzbuches unter Strafe gestellt. Sie wird mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft, wobei der Versuch als solcher strafbar ist.Eine sehr bedeutsame Bestimmung ist in diesem Zusammenhang § 8 des Wehrpflichtgesetzes. Danach dürfen sich Wehrpflichtige nur mit Zustimmung des Bundesministers für Verteidigung oder der von ihm beauftragten Stellen zum Eintritt in fremde Streitkräfte verpflichten. Diese Bestimmung stellt eine Norm des öffentlichen Rechts dar, die, wenn sie von ausländischen Staaten de jure anerkannt würde, den Eintritt in solche Streitkräfte unmöglich machen würde. Ich habe jedoch bereits darauf hingewiesen, daß alle Nationen den Eintritt in ihre Streitkräfte souverän ordnen.Fernerhin wird das Problem des Eintritts in fremde Streitkräfte im Paßgesetz vom 4. März 1952 abgehandelt, wonach gemäß § 7 Ziffer 1 e der Paß zu versagen ist, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, daß der Paßbewerber in fremde Heeresdienste eintreten will. Nach § 8 des gleichen Gesetzes kann der Paß dem Inhaber entzogen werden, wenn Tatsachen bekannt werden, die gemäß § 7 des Gesetzes die Versagung der Ausstellung des Paßes rechtfertigen würden. Die Bestimmung des § 7 ist in der Vergangenheit auch dann zur Anwendung gekommen, wenn der betreffende Legionär vor Inkrafttreten des Wehrgesetzes bereits Mitglied der Legion war. Zweck dieser Praxis war der, nach keiner Richtung hin auch nur implicite die französische Praxis zu akzeptieren. Es werden lediglich in besonderen Härtefällen Ausnahmen zugelassen. Da im Verhältnis der Bundesrepublik zu Frankreich heute kein Paßzwang mehr besteht, kann jeder Jugendliche mit einem Personalausweis über die Grenze gehen. Es sind jedoch Vorkehrungen getroffen worden, daß an den Grenzübergangsstellen seitens der Paßkontrollbehörden Jugendliche, bei denen der Verdacht auftaucht, daß sie in die Fremdenlegion eintreten wollen, abgewiesen werden. Die Zahl der auf diese Weise vom Eintritt in die Fremdenlegion abgehaltenen jungen Menschen ist verhältnismäßig erheblich.Auf Grund der Sach- und Rechtslage, wie ich sie Ihnen dargestellt habe, hat der Ausschuß Überlegungen angestellt, in welcher Richtung das Gegenstand des Antrages der SPD, Drucksache 288, bildende Problem der minderjährigen deutschen Staatsangehörigen in der Fremdenlegion einer befriedigen Lösung zugeführt werden könnte. Der Ausschuß ist zu der Auffassung gekommen, daß die auf dem Gebiet der nationalen Gesetzgebung getroffenen Vorkehrungen — ich zitiere noch einmal das Verbot der Werbung, das Verbot des Eintritts in fremde Heeresdienste und Paßversagung im gleichen Falle — einen Eintritt Deutscher in die Fremdenlegion nicht ausreichend zu verhindern vermögen. Eine Verschärfung dieser Maßnahmen oder sogar die Einführung spezieller Strafbestimmungen, wie sie die Schweiz kennt, werden nach Auffassung des Auswärtigen Ausschusses ebenfalls im wesentlichen resultatlos bleiben. Entscheidend für diese Erkenntnis war für den Ausschuß die Tatsache, daß Motive im wesentlichen emotionalen Charakters dem Eintritt in die Fremdenlegion zugrunde liegen. Da auch im allgemeinen im Strafrecht das Ausmaß der Abschreckung zweifelhaft ist, hat der Ausschuß von der Empfehlung einer Verschärfung oder Änderung der bestehenden Vorschriften Abstand genommen. Die einzige Lösungsmöglichkeit sieht der Ausschuß in dem Abschluß einer Regelung dieses Problems mit Frankreich. Ich glaube, auf Grund der Erörterungen des Ausschusses den Willen der Antrag-
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Dr. Birrenbachsteller dahin auslegen zu dürfen, daß die Erzielung eines Übereinkommens mit der französischen Regierung und nicht notwendigerweise die eines formellen Staatsvertrages gewünscht war und daß unter „festgehalten werden" auch „aufgenommen werden" verstanden werden soll.Der Auswärtige Ausschuß bittet die Bundesregierung, in einem nahen ihr geeignet erscheinenden Zeitpunkt an die französische Regierung heranzutreten und dieser eine Regelung des Problems der Minderjährigen, wie sie im Rahmen des Antrages der SPD formuliert ist, sobald dies die Umstände gestatten, nahezulegen. Der Ausschuß bittet die Bundesregierung, die französische Regierung darauf aufmerksam zu machen, daß diese Bitte im Geiste der Freundschaft ausgesprochen wird und der Ausschuß sich bei der an sich sehr vorsichtigen Beurteilung dieses delikaten Problems nur von den Gesichtspunkten der Menschlichkeit hat leiten lassen. Es ist die Sorge um das Wohl der jugendlichen Menschen, die ohne die Zustimmung ihres gesetzlichen Vertreters ein Engagement eingegangen sind, dessen Konsequenzen ihnen gerade auf Grund ihrer Jugendlichkeit nicht bekannt waren und vielleicht auch nicht bekannt sein konnten.In diesem Sinne und aus diesem Geiste heraus bitte ich das Hohe Haus, entsprechend dem Antrag des Ausschusses, Drucksache 641, dem Antrag der SPD, Drucksache 288, die Zustimmung geben zu wollen.
1 Vizepräsident Dr. Jaeger: Ich danke dem Herrn Berichterstatter. Wird das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall.Wir kommen zur Abstimmung. Wer dem Antrag des Ausschusses, wie er soeben vorgetragen wurde, zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Einstimmig angenommen!Ich rufe auf Punkt 15 der Tagesordnung:Große Anfrage der Fraktion der SPDbetr. Änderung von Vorschriften des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung .Das Wort zur Begründung der Großen Anfrage hat der Abgeordnete Odenthal.
Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Mit der Drucksache 709 legt Ihnen die Fraktion der SPD eine Große Anfrage betreffend die Änderung von Vorschriften des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung vor. Dieses Gesetz haben wir vor mehr als zwei Jahren nach langer, gründlicher Arbeit im Ausschuß für Arbeit verabschiedet. Wir haben dem Gesetz damals trotz erheblicher Bedenken zugestimmt. Diese Bedenken hatten wir, weil einige unserer Anträge, denen wir eine gewisse Bedeutung beimaßen, von der Mehrheit des Hauses abgelehnt wurden. Schon damals aber haben wirkeinen Zweifel darüber gelassen, daß wir diese unsere Anträge erneut stellen würden, wenn die Entwicklung und die Erfahrungen mit der Handhabung des Gesetzes die Richtigkeit unserer Auffassungen bestätigen würden und wenn sich ergäbe, daß die Bestimmungen des Gesetzes einer Überprüfung und einer Änderung bedürften.Dieser Zeitpunkt scheint uns jetzt gekommen zu sein. Gewiß, die Zahl der Arbeitslosen ist gesunken. In der Arbeitslosenversicherung überwiegt die Zahl der kurzfristig Arbeitslosen. Das war früher einmal anders. Vor Jahren überwog die Zahl der Empfänger von Arbeitslosenhilfe. Heute ist das Verhältnis umgekehrt: es steht 75 zu 25 zugunsten der Arbeitslosenversicherung. Wir geben diesen Erfolg zu und sind froh darüber, daß die Entwicklung zu diesem Stand geführt hat. Auf der anderen Seite aber nehmen die Feierschichten und die Kurzarbeit einen immer größeren Umfang an. Das gibt uns Anlaß zu Sorgen.Auch die Zahl der Empfänger der Arbeitslosenhilfe ist beachtlich zurückgegangen. Aber die Not der verbliebenen Arbeitslosenhilfeempfänger ist geblieben, und daran haben wir zu denken. Wer jahrelang arbeitslos ist, der fragt nicht nach der Erhöhung der Zahl der Beschäftigten, sondern der sieht sein eigenes schweres Schicksal. Ich denke hier besonders an die noch relativ hohe Zahl der älteren Angestellten und Arbeiter, die keine Arbeit finden. Ihr Kreis ist fast identisch mit dem Kreis der Empfänger von Arbeitslosenhilfe. Sie sind arbeitsfähig, sie sind arbeitswillig, und dennoch haben sie in bestimmten Gebieten der Bundesrepublik weder Arbeit für sich noch Lehrstellen für ihre Kinder gefunden. Sicher, auch ihre Zahl ist gesunken. Aber derjenige, der zu diesem Kreis gehört, merkt nichts von der wirtschaftlichen Belebung in unserem Wirtschaftswunderland, sondern spürt am eigenen Leibe, in der eigenen Familie, daß er trotz dieser wirtschaftlichen Belebung und trotz der guten Entwicklung des gesamten Arbeitsmarktes weiterhin auf sich gestellt ist, daß er arbeitslos und arm geblieben ist.Unsere Aufgabe besteht darin, allen Arbeitsfähigen Arbeit und Brot zu verschaffen. Hier liegt die Verantwortung bei der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung. In manchen wirtschaftspolitischen Debatten haben unsere Freunde Wege zur Verbesserung der Wirtschaftsstruktur gewiesen. Die Bundesregierung hat die Pflicht, durch besondere Anstrengungen auf dem Gebiete der Sozialpolitik die Arbeitsfähigkeit der Arbeitslosen und die Gesundheit ihrer Familien zu erhalten.Die Arbeitsverwaltung ist nicht in erster Linie dazu da, Unterstützungen zu zahlen, sondern sie hat hauptsächlich dafür zu sorgen, daß Arbeit vermittelt wird, daß Arbeitsuchende Beschäftigung finden. Solange das nicht möglich ist, muß sie in der Lage sein, für ausreichende Unterstützung zu sorgen. Eine Abschiebung von arbeitsfähigen Arbeitslosen an die Fürsorgeverbände ist kein geeigneter Weg. Sie belastet die Gemeinden in einem unerträglichen Ausmaß.
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OdenthalHinzu kommt ein weiteres. Es ist selbstverständlich, daß die Vermittlung des Arbeitsamts sich vor allem um die Menschen kümmert, die ihrer Betreuung unmittelbar unterstehen, daß sie also die Arbeitslosen, die die Versicherung und die Arbeitslosenhilfe belasten, zuerst in Arbeit zu bringen versucht. ,Darunter leiden die anderen, die auch arbeitsfähig sind, aber von den Wohlfahrtsverbänden und den Gemeinden unterstützt werden. Sie stehen hintendran. Das führt zu einer Belastung der Gemeinden und zur Nichtberücksichtigung dieser Arbeitsuchenden, die arbeitsfähig sind. Das sind einige Mängel in der Gesetzgebung und der Handhabung des Gesetzes, die uns zu dieser Großen Anfrage veranlassen.Ich will nun zu einigen Punkten, die wir aus vie- len anderen herausgezogen haben, eine kurze konkrete Begründung geben.Zur Frage 1. Die Empfänger der Arbeitslosenhilfe sind durchweg langfristig Arbeitslose, die nach Ablauf der Bezugsdauer aus der Arbeitslosenversicherung ausgesteuert wurden. Sie bekommen als Arbeitslosenhilfe eine Unterstützung, die im Durchschnitt 20 % unter den Tabellensätzen der Arbeitslosenversicherung liegt. So beträgt z. B. die Bemessungsgrundlage eines Arbeitslosen in der Arbeitslosenversicherung wöchentlich 80 DM. Das entspricht praktisch 80 % des Bruttoarbeitslohns, also etwa dem Nettoeinkommen. Dieser sogenannte Hauptbetrag wird der Berechnung des Arbeitslosengeldes zugrunde gelegt. Der Arbeitslose erhält bei einem Hauptbetrag von 80 DM in der Woche in der Arbeitslosenversicherung 36,30 DM in der Woche. In der Arbeitslosenhilfe, die ja auch lohnbezogen ist, bekommt der gleiche Mann, der schon jahrelang arbeitslos ist, nicht 36,30 DM, sondern nur noch 29,40 DM. Aber auch das stimmt in den wenigsten Fällen. Auf diesen Betrag von 29,40 DM werden nämlich — unter Beachtung einer gewissen Freibetragsgrenze — Einkommen aus Gelegenheitsarbeit und Einkommen der unterhaltspflichtigen Angehörigen angerechnet, und so liegt der durchschnittliche Unterstützungsbetrag in der Regel bei 25 DM in der Woche. Meine Damen und Herren. will jemand behaupten, daß der Arbeitslose bei einer durchschnittlichen Wochenunterstützung von 25 DM seinen Unterhalt bestreiten und vor allen Dingen seine Arbeitskraft, seine Vermittlungsfähigkeit erhalten kann? Ich glaube, diese Behauptung wäre vermessen. Es wird auch niemand in diesem Hause sein, der etwas Derartiges behaupten will.Der Arbeitslosenhilfeempfänger muß in vielen Fällen den bitteren Weg zum Wohlfahrtsamt gehen, um dort zusätzlich zu der Arbeitslosenhilfe aus der Fürsorgeunterstüzung das zu erhalten, was er braucht, um wenigstens an den Richtsatz der Fürsorgeunterstützung heranzukommen. Das ist wirklich eine schlechte Sache. Ich frage Sie, meine Damen und Herren, ist es unbescheiden, wenn wir die Bundesregierung bitten, die Unterstützungssätze in der Tabelle der Arbeitslosenhilfe wenigstens an die Sätze der Arbeitslosenversicherung anzugleichen? Oder ist die Bundesregierung bereit das wäre ein weiterer Weg , die Bemessungsgrundlage der lohnbezogenen Arbeitslosenhilfe dem heute geltenden oder vergleichbaren Lohn anzupassen? Oder ist sie bereit, beides zu tun? Das wäre uns das liebste, und das würde den Verhältnissen gerecht. Denn die Arbeitslosenhilfeempfänger sind jahrelang arbeitslos, und der heute geltende Lohn steht in gar keinem Verhältnis zu dem Lohn, von dem die Unterstützung ausgeht, die vor Jahren festgesetzt wurde.Unter Frage 2 fragen wir die Bundesregierung, ob sie bereit ist, die Rente aus der Unfallversicherung hinsichtlich der Anrechnungsfreiheit bei Festsetzung der Arbeitslosenhilfe genauso wie die Grundrente der Beschädigten nach § 31 des Kriegsopferversorgungsgesetzes zu behandeln. Darf ich etwas freimütig sagen: nicht die Ursache, sondern der Grad der Beschädigung sollte bewertet werden. Die Kriegsbeschädigten haben, das wissen wir alle, ein besonders schweres Schicksal; ein besseres Kriegsopferversorgungsgesetz — das ist schon gesagt worden — muß hier baldigst Änderung und Besserung schaffen. Aber den Unfallgeschädigten trifft doch fast ein ähnliches Schicksal. Ob er seine Gesundheit im Betrieb oder auf dem Schlachtfeld eingebüßt hat, sollte insofern gleich gewertet werden, als man in der Frage der Anrechnungsbeihilfe Unfallrentner und Kriegsopfer gleichsetzen sollte. Es ist uns in dieser Frage ohne Bedeutung, ob der Mann seinen Arm auf dem Schlachtfeld oder in der Transmission eines Betriebes verloren hat. Er ist beschädigt und geschädigt und sollte nach gleichen Grundsätzen, nach dem Grad der Beschädigung und nicht nach dem Grund der Beschädigung, behandelt werden.Zu Frage 3! In der Berechnung des Kurzarbeitergeldes werden Familienzulagen nur für die Ehefrau und zwei Kinder gewährt, für das dritte, vierte und weitere Kinder erhält der Kurzarbeiter keine Familienzulage. Ich hätte die Bitte an den Herrn Bundesarbeitsminister Blank, sich den Rat der Herrn Familienministers einzuholen, ob es eine gesunde Familienpolitik ist, den Kurzarbeiter sozial so absteigen zu lassen, daß er während der Zeit der Kurzarbeit wesentlich schlechter gestellt wird als alle übrigen Arbeitnehmer und Arbeitslosen. Denn der Arbeitnehmer erhält zu seinem Lohn das Kindergeld für das dritte, vierte und die weiteren Kinder. Es gibt kein Argument gegen die Forderung, es dem Kurzarbeiter zu gewähren. Aber auch der Arbeitslose erhält zur Arbeitslosenunterstützung, zum Arbeitlosengeld das Kindergeld für das dritte und die weiteren Kinder. Warum versagt man dem Kurzarbeiter das, was allen Arbeitnehmern gewährt wird?In diesem Zusammenhang darf ich auf § 124 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung verweisen. Er bestimmt, daß sich bei unmittelbarem Anschluß an Kurzarbeit die bare Leistung der Krankenversicherung nach dem Grundlohn richtet, der vor Beginn der Kurzarbeit bestand. Die Betonung liegt auf dem Wort „unmittelbar". Ganz einverstanden, wenn der Mann im unmittelbaren Anschluß an Kurzarbeit krank wird; dann wird der volle Lohn gewertet, und das ist gut und richtig. Wenn der Mann aber das Pech hat, nach 10, 18 oder 25 Tagen nach Be-Odenthalendigung der Kurzarbeit krank zu werden, wird der Kurzarbeiterlohn, der sehr gering ist, in die Bewertungsgrundlage des Krankengeldes einbezogen, und dann kommen Krankengelder von 40 oder 50 Pf am Tag heraus. Das hat der Gesetzgeber wirklich nicht gewollt. Ich vermute, daß hier durch Handhabung der Gerichtsbarkeit Dinge entstanden sind, die nachher auf die Verwaltung zurückgewirkt haben. Ich bin überzeugt, daß die Bundesregierung zu einer Änderung dieser Bestimmung ja sagen wird.Zur Frage 4. Wir sagen ja zu der Bestimmung, daß Zeiten, in denen der Arbeitslose Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe erhalten hat, keine Anwartschaft zur Arbeitslosenversicherung begründen. Aber wir sind der Meinung, daß Zeiten der Lohnausfallvergütung, also Zeiten der Stillegung oder allgemein der Kurzarbeit, wohl angerechnet werden müssen, denn der Kurzarbeiter hat ja seinen Arbeitsplatz nicht verlassen. Er arbeitet in diesen bekannten Doppelwochen immer noch einige Tage. Er hat seinen Arbeitsvertrag nicht gelöst, und wenn er, vertreten durch den Betriebsrat und auch durch den Arbeitgeber, die Kurzarbeiterunterstützung verlangt, gibt er damit zu erkennen, daß er seinen Arbeitsplatz behalten will. Er hätte ja die Möglichkeit, den Arbeitgeber zu wechseln. Man könnte ihn durch eine derartige Bestimmung, wie sie heute besteht, anreizen, seinen Arbeitsplatz aufzugeben und arbeitslos zu werden. Alle diese Vorzüge nimmt der Kurzarbeiter nicht in Anspruch, sondern er bescheidet sich mit der Kurzarbeiterunterstützung. Wenn man die Dinge so betrachtet, muß man sagen, daß die Zeiten, in denen nur Tage in einer Woche oder in einer Doppelwoche ausfallen, nicht so gerechnet werden sollten, daß sie die Anwartschaft unterbrechen oder ganz auflösen. Deshalb sollten die Zeiten der Kurzarbeit in die Anwartschaftsfristen einbezogen werden, damit nicht später bei Eintritt der Arbeitslosigkeit, die Gesamtanwartschaft um diese Zeiten und die Bezugsdauer gekürzt werden.Zu Frage 5. Die Rentenneuordnung kennt die Alters-, Erwerbsunfähigkeits- und die Berufsunfähigkeitsrente. Nach § 57 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung sind die Bezieher aller dieser drei Gruppen versicherungsfrei. Die Beratung des Rentengesetzes erfolgte damals gleichzeitig mit der Beratung des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung. Dabei ist wahrscheinlich der Fehler unterlaufen, daß man die Parallelität der Bestimmungen nicht gewahrt hat. Sonst hätte die Ausklammerung der Berufsunfähigkeitsrentner aus der Arbeitslosenversicherung nicht geschehen können. Wir sind mit dem Gesetzgeber einig, daß der Bezieher von Altersrenten und von Erwerbsunfähigkeitsrenten kein Recht auf Arbeitslosengeld hat und nicht versicherungspflichtig sein darf. Die Bezieher von Alters- und Erwerbsunfähigkeitsrenten müssen einfach aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden und deshalb eine ausreichende Versorgung haben. Das trifft aber nicht für die Bezieher von Berufsunfähigkeitsrenten zu. Diese werden manchmal in ihrem erlernten oder ausgeübten Beruf in sehr jungen Jahren berufsunfähig, sind aber in der Regel in vielen anderen Berufen durchaus arbeitsfähig. Gewiß, es gibt die Aufstockung bis zu 55 %, aber mit dieser Rente liegen sie weit unter dem, was zu einer ausreichenden Versorgung erforderlich ist. Vielleicht brauchen wir die volle Versorgung auch nicht, weil sich im Einzelfall ergibt, daß diese Berufsunfähigen in anderen Berufen arbeitsfähig sind, zum Teil vollverdienen können, zum Teil sich mit minderem Verdienst begnügen müssen. Wenn aber die Berufsunfähigkeitsrentner den Nachweis erbringen, daß sie über den Grad der geringfügigen und unständigen Beschäftigung hinaus gearbeitet haben, voll beschäftigt sind oder waren, dann kann man ihnen die Versicherungspflicht auflasten und ihnen den Schutz gegen Arbeitslosigkeit in der Arbeitslosenversicherung nicht versagen.Zur Frage 6. Nach § 65 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung ist die Beschäftigung bei Abkömmlingen, Stief- und Pflegekindern oder deren Ehegatten, bei Eltern, Voreltern, Schwieger-, Stief- und Pflegeeltern versicherungsfrei. Das ist ein weitgehender Katalog, ich möchte fast sagen: bei allen übrigen Deutschen. Wir haben schon damals bei der Beratung der Novelle gesagt, daß diese Dinge durch die Zeit und durch die Entwicklung in den letzten 50 Jahren weitaus überholt sind. Leider ohne Erfolg haben wir gefordert, daß die Bestimmung gestrichen wird. Sie verträgt sich nicht mit der Gegenwart. In aller Regel erleben wir heute, daß im Handel, Handwerk und Gewerbe und zum Teil sogar in der Landwirtschaft die Beschäftigung von Angehörigen im ordentlichen Arbeitsvertrag, ob schriftlich oder mündlich vereinbart, ausgeübt wird. Solche Angehörigen sollten krankenversicherungspflichtig, rentenversicherungspflichtig und auch arbeitslosenversicherungspflichtig sein.Ein Vergleich bietet sich an aus der Heimarbeit. Die Heimarbeiter haben wir nach und nach aus den differenzierenden Wirkungen von Arbeitsrecht und Sozialrecht in die Sozialversicherung und auch in die Arbeitslosenversicherung hineingenommen. Hier kommen wir zu ähnlichen Ergebnissen. Es mag sein, daß irgendwo in Pyritz an der Knatter oder irgendwo in Hintertupfingen noch ein solches Verhältnis besteht, daß der Vater seinen Sohn oder Pflegesohn oder der Sohn seinen Pflegevater gegen Kost und Wohnung und ein Sonntagstaschengeld beschäftigt. Ich bin der Meinung, wenn es so ist, bestätigt diese Ausnahme durchaus die Regel; denn die Regel ist anders. Wenn aber solche Zustände Einzelzustände sind, wird es höchste Zeit, damit aufzuräumen; denn es gibt durchaus noch eine Verantwortung in der Sorgepflicht für den „Beschäftiger" — wenn man das Wort mal nennen darf; es wird viel darum gerungen —, der seinen Verwandten beschäftigt. Und wenn der Mann arbeitslos oder krank wird, obliegt dem Beschäftiger die Verpflichtung, für ihn zu sorgen. Viele dieser Leute sind nicht in der Lage, ihre Angehörigen nachher voll zu unterhalten.Wir glauben fordern zu müssen, daß hier die Wirkung und die Entwicklung für die fortschreitende Gesetzgebung bestimmend sein müssen, daßDeutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Freitag, . den 30. Januar 1959 3269Odenthaldie Gesetzgebung dieser Entwicklung Rechnung tragen muß. Man kann auch den Einwand erheben: es bestehen Scheinarbeitsverhältnisse, und es kann Mißbrauch vorkommen. Aber, meine Damen und Herren, können wir denn verhindern, daß gegen ein Gesetz verstoßen wird? Wenn man ein Gesetz auf möglichen Mißbrauch abstellen will, können wir die Gesetzgebung einstellen. Die Arbeitsämter haben es durchaus in der Hand, diese Fälle zu überprüfen.Zur Frage 7. Im § 84 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung steht die Bestimmung, daß Arbeitslose, die an einem Arbeitskampf unmittelbar beteiligt sind, Unterstützung durch Arbeitslosengeld und durch Arbeitslosenhilfe nicht erhalten dürfen. Wir sind der Meinung, das ist gut so, weil das Arbeitsamt neutral sein muß.In diesem Gesetz steht aber weiter: Wenn jemand an einem Arbeitskampf nur mittelbar beteiligt, also an dem Ergebnis dieses Arbeitskampfes gar nicht interessiert ist und zwangsläufig arbeitslos wird, weil der Vorlieferbetrieb, der im Arbeitskampf steht, den Betrieb, in dem der Betreffende beschäftigt wird, nicht mehr beliefert, dann liegt eine Verbindung zwischen dem mittelbar beteiligten und dem Betrieb, der unmittelbar beteiligt ist, vor. Wir sind schon damals der Meinung gewesen, daß diese Bestimmung fallen sollte. Das Gesetz sah 1927 und sieht in seiner neuen Fassung vor — gegen unseren Widerspruch —, daß die Härte geprüft werden müsse. Ob eine Härte vorliegt, soll der Ausschuß des Landesarbeitsamts entscheiden. Das ist keine gute Sache. Denn der Arbeitnehmer, der etwa in Augsburg arbeitslos wird, weil das Vorlieferwerk, z. B. Thyssenhütte oder eine in Dortmund, keinen Walzstahl liefert, ist an dem Arbeitskampf im Ruhrgebiet gar nicht interessiert oder beteiligt. Er wird vielmehr arbeitslos, weil sein Werk kein Material mehr erhält. Darum bedarf es der Härteprüfung nicht.Diesem Umstand hat das Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation Nr. 102 vom 28. Juni 1952 Rechnung getragen. Es bestimmt zunächst in Art. 16, daß Leistungen im Falle der Arbeitslosigkeit gewährt werden müssen. Das gleiche Abkommen bestimmt in Art. 69, daß Leistungen im Falle eines Arbeitskampfes für die unmittelbar Beteiligten — d. h. für die unmittelbar am Streik Beteiligten — ruhen können. Hier wird also eindeutig gesagt, daß den an einem Arbeitskampf unmittelbar Beteiligten weder Arbeitslosengeld noch Arbeitslosenhilfe gewährt werden soll. Diese Auffassung ist von uns immer vertreten worden. Aus dem Übereinkommen geht jedoch folgerichtig hervor, daß mittelbar Beteiligte durch diese Bestimmungen nicht berührt werden. Sie haben mithin Anspruch auf Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitslosenhilfe. Es bedarf also keiner Prüfung, ob eine Härte vorliegt, und das muß klargestellt werden.Die in dem genannten internationalen Übereinkommen enthaltenen Mindestnormen werden am 21. Februar dieses Jahres bei uns geltendes Recht. Es ist im Bundesgesetzblatt Teil II 1957, S. 1321, veröffentlicht. Es ist nach der Ratifikation durch den Bundestag vom Internationalen Arbeitsamt am 21. Februar 1958 registriert worden und wird nach Ablauf der Hinterlegungsfrist am 21. Februar 1959 für die Bundesrepublik zwingendes Recht. Damit werden die Absätze 3 und 4 des § 84 AVAVG gegenstandslos. Es wäre gut, wenn der Bundesarbeitsminister erklärte, daß er in dieser Rechtsauffassung mit uns übereinstimmt. Wir sollten hier nicht hinter andere Länder zurückgehen, die diese Bestimmung nicht nur ratifiziert, sondern durchgeführt haben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sind Sie bereit, Herr Bundesminister, dem Haus bis zum Sommeranfang eine Vorlage zu machen, die sich mit diesen Punkten — wie Sie auch dazu Stellung nehmen mögen — befaßt? Wir haben jedenfalls den Wunsch, daß man sich nach den Erfahrungen der letzten Jahre eingehender mit diesen Dingen befaßt.
Wir haben diese Anfrage in aller Sachlichkeit gestellt und auch in der Form sachlich begründet. Ich habe die herzliche Bitte an den Herrn Bundesarbeitsminister, daß er in Form und Inhalt unsere Anfrage genauso sachlich beantwortet.
Das Wort zur Beantwortung der Großen Anfrage hat der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung hat durch die Novelle vom 23. 12. 1956 eine fast völlige Neugestaltung erfahren. Die neue Fassung ist am 1. 4. 1957 in Kraft getreten. Die Novelle ist in 46 Sitzungen des Ausschusses für Arbeit beraten worden. Einige Fragen der Großen Anfrage betreffen Probleme, über die nach ausgiebiger Beratung im Ausschuß für Arbeit bei der Beschlußfassung über das Gesetz vom Deutschen Bundestag bereits entschieden worden ist. Die Bundesregierung kann in diesen Fällen dem Bundestag keine Änderung der vor verhältnismäßig kurzer Zeit beschlossenen Bestimmungen vorschlagen, soweit die ihnen zugrunde liegenden Sachverhalte unverändert sind.Im einzelnen nimmt die Bundesregierung wie folgt Stellung:Zu Ziffer 1. Die Angleichung der Unterstützungssätze in der Arbeitslosenhilfe an die Sätze der Arbeitslosenversicherung ist vom Ausschuß für Arbeit des Bundestages bereits eingehend bei der Beratung der kleinen Novelle zum AVAVG vom 16. 4. 1956 geprüft und aus grundsätzlichen Erwägungen verneint worden. Anläßlich der Beratung der Großen Novelle, in die das Gesetz vom
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Bundesarbeitsminister Blank16. 4. 1956 eingearbeitet wurde, ist ein nochmaliger auf eine solche Angleichung gerichteter Antrag der Fraktion der SPD Gegenstand der Beratung im Plenum des Bundestages in der Sitzung vom 15. 11. 1956 gewesen und wiederum abgelehnt worden. Der Grund für diese Ablehnung liegt in erster Linie darin, daß das aus Beiträgen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber finanzierte Arbeitslosengeld als Versicherungsleistung prinzipiell höher sein muß als die Leistungen der Arbeitslosenhilfe, die als Existenzsicherung im Falle der Bedürftigkeit aus allgemeinen Steuermitteln gewährt werden. Die Bundesregierung sieht bei unveränderter Sachlage keine Veranlassung, eine von der Auffassung des Bundestages abweichende Regelung vorzuschlagen.Die Leistungen der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitslosenhilfe werden auf der Grundlage des zuletzt gezahlten Entgeltes bemessen. Sie entsprechen daher bei Beginn des Leistungsfalles dem Lohnniveau. Sie folgen jedoch während der weiteren Dauer der Arbeitslosigkeit nicht mehr den Veränderungen des Lohngefüges. Dies kann sich für langfristig arbeitslose Empfänger von Unterstützung aus der Arbeitslosenhilfe nachteilig auswirken. Die Bundesregierung beabsichtigt daher, dem Bundestag einen Gesetzentwurf vorzulegen, der, wie es bereits in den Jahren 1951, 1953 und 1956 geschehen ist, die Bemessungsgrundlage für die Unterstützung langfristig Arbeitsloser an das seither gestiegene Lohnniveau anpaßt.Zu Ziffer 2. Die Frage, ob Renten der gesetzlichen Unfallversicherung in der Arbeitslosenhilfe bis zu einer bestimmten Höhe unberücksichtigt bleiben können, ist vom Bundestag wiederholt behandelt und jedesmal verneint worden.Das Gesetz über die Anrechnung von Renten in der Arbeitslosenfürsorge vom 18. 7. 1953 hatte von der Anrechnung auf die Unterstützung nur die Grundrente der Beschädigten nach § 31 des Bundesversorgungsgesetzes und — bis zur Höhe eines der Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz entsprechenden Betrages — die Renten ausgenommen, die den Opfern nationalsozialistischer Verfolgung wegen einer durch die Verfolgung erlittenen Gesundheitsschädigung gewährt werden. In beiden Fällen handelt es sich um öffentlich-rechtliche Versorgungsansprüche gegen die Allgemeinheit für im Dienste der Allgemeinheit erlittene Schäden bzw. für erlittenes Unrecht mit den Folgen einer Gesundheitsschädigung.Bereits bei der Beratung dieses Gesetzes ist die Frage der Nichtanrechnung eines der Grundrente nach dem BVG entsprechenden Teiles der Verletztenrente aus der Unfallversicherung erörtert worden. Die Einbeziehung der Unfallrente in die Bestimmungen über die Nichtanrechnung unterblieb mit Rücksicht auf den völlig anders gearteten Charakter dieser Rente. Eine Sonderbehandlung der Verletztenrenten aus der Unfallversicherung wäre aber auch gegenüber den Renten der gesetzlichen Rentenversicherung nicht gerechtfertigt.Durch Erlaß der beiden Novellen zum AVAVG vom 16. 4. 1956 und vom 23. 12. 1956 hat der Bundestag nach eingehender Beratung die mit dem Gesetz über die Anrechnung von Renten vom 18. 7. 1953 seinerzeit getroffenen Regelungen in allen wesentlichen Punkten bestätigt. Der Bundestag hat also hinsichtlich der Berücksichtigung der Renten aus der Unfallversicherung bei der Bedürftigkeitsprüfung keine Ausnahme zugelassen. Er hat damit bestimmt, daß die Leistungen der Arbeitslosenhilfe gegenüber den Renten der Unfallversicherung ebenso wie gegenüber allen anderen Renten der Sozialversicherung subsidiären Charakter haben.Zu Ziffer 3. Seit dem Inkrafttreten der Großen Novelle zum AVAVG sind die Lohnsteuergruppen geändert worden. Die damit verbundenen Auswirkungen auf das Kurzarbeitergeld erfordern eine Anpassung des AVAVG an diese neuen Tatbestände. Die Bundesregierung beabsichtigt, mit dieser Anpassung einige Änderungsvorschläge zur Beseitigung gewisser Unebenheiten beim Kurzarbeitergeld zu verbinden.Für die Berechnung und Höhe des Krankengeldes können die Krankenkassen Satzungsbestimmungen erlassen. Um dem Anliegen der Anfrage zu entsprechen, könnten die Krankenkassen schon jetzt in ihren Satzungen vorsehen, daß das Krankengeld nach dem Grundlohn berechnet wird, der vor Beginn der Kurzarbeit maßgebend war. Anläßlich der Reform der Krankenversicherung werden jedoch auch im Entwurf der Bundesregierung gesetzliche Regelungen vorgesehen werden, die Benachteiligungen bei der Bemessung des Krankengeldes im Anschluß an Kurzarbeit ausschließen sollen.Zu Ziffer 4. Die Anfrage bemängelt anscheinend, daß nach § 87 Absatz 4 AVAVG Beschäftigungszeiten, in denen Kurzarbeitergeld bezogen wird, nicht zur Begründung eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld über eine Dauer von 13 Wochen hinaus dienen können. Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß man eine Regelung nicht als „Mißstand" bezeichnen kann, die es verwehrt, Zeiten, in denen Leistungen aus den Mitteln der Arbeitslosenversicherung in der Form des Kurzarbeitergeldes bezogen worden sind, den Beschäftigungszeiten, in denen solche Leistungen nicht in Anspruch genommen worden sind, für den Erwerb von Leistungsansprüchen im vollen Umfange gleichzustellen. Sie wird jedoch prüfen, ob und in welchem Umfang eine Berücksichtigung von Zeiten des Bezugs geringen Kurzarbeitergeldes für die Erweiterung des Anspruchs über 13 Wochen hinaus vertretbar erscheint und der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung trotz der defizitären Entwicklung ihres Haushalts zugemutet werden kann.Zu Ziffer 5. Die Frage, ob die Beschäftigung von Arbeitnehmern, denen eine Rente wegen Berufsunfähigkeit zuerkannt ist, der Pflicht zur Arbeitslosenversicherung unterliegen oder versicherungsfrei sein soll, ist bei der Lesung der Großen Novelle zum AVAVG im Ausschuß für Arbeit eingehend beraten worden. Der Ausschuß hat sich für die Versicherungsfreiheit ausgesprochen. Die Anträge anläßlich der zweiten und dritten Lesung des Gesetzentwurfs im Plenum am 14./15. 11. 1956, die Versicherungsfreiheit auf Arbeitnehmer zu beschrän-
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Bundesarbeitsminister Blankken, die das 65. Lebensjahr vollendet haben, wurden abgelehnt. Die Frage ist auch im Vermittlungsausschuß behandelt und dabei im Sinne der jetzigen Regelung entschieden worden. Die Bundesregierung sieht daher keine Veranlassung, eine Änderung des geltenden Rechtes vorzuschlagen.Zu Ziffer 6. Auch die Frage der Versicherungsfreiheit von Beschäftigungen bei nahen Angehörigen ist im Ausschuß für Arbeit eingehend beraten worden und im Plenum des Bundestages in der zweiten und dritten Lesung am 14./15. 11. 1956 Gegenstand von Anträgen gewesen. Der Ausschuß für Arbeit und das Plenum des Bundestages haben sich für die Versicherungsfreiheit ausgesprochen.Anläßlich der Fragestunde in der Sitzung des Bundestages am 7. Mai 1958 wurde hierzu bereits Stellung genommen. Beschäftigungen bei nahen Verwandten sollten nach Auffassung der Bundesregierung aus den bekannten Gründen grundsätzlich nicht in die Versicherungspflicht einbezogen werden.Die Bundesregierung ist jedoch bereit, zu prüfen, ob und wie eine Möglichkeit geschaffen werden kann, in Härtefällen zu helfen.Zu Ziffer 7. Die Gewährung von Arbeitslosengeld im ursächlichen Zusammenhang mit Arbeitskämpfen ist kein Problem der „Anerkennung der Arbeitslosigkeit". Ob Arbeitslosigkeit gegeben ist, ist auch in den Fällen des Arbeitskampfes nach den allgemeinen Vorschriften zu beurteilen. Die Bundesregierung glaubt, die Frage dahin verstehen zu dürfen, daß Arbeitslosengeld auch denjenigen Personen zustehen soll, deren Arbeitslosigkeit zwar durch einen Arbeitskampf verursacht ist, die jedoch an diesem Arbeitskampf nicht beteiligt sind.Bei der Beratung des § 84 AVAVG wurde sowohl im Ausschuß für Arbeit als auch im Plenum des Bundestages in der Sitzung vom 14. November 1956 entschieden, daß die Gewährung von Arbeitslosengeld in solchen Fällen zur Wahrung des Grundsatzes der unbedingten Neutralität der Arbeitsverwaltung nur ausnahmweise und nur dann zulässig ist, wenn die Versagung des Arbeitslosengeldes eine unbillige Härte bedeuten würde. Die Bundesregierung hält an ihrer grundsätzlichen Auffassung fest und sieht nach dem eindeutig bekundeten Willen des Bundestages keine Veranlassung, eine Änderung der Vorschriften vorzuschlagen.Die gelegentlich vertretene Auffassung, § 84 AVAVG stehe in Widerspruch zu Artikel 69 Buchstabe i des Übereinkommens Nr. 102 der Internationalen Arbeitskonferenz, das von der Bundesrepublik ratifiziert worden ist, ist unzutreffend. Der § 84 wurde im Ausschuß für Arbeit unter dem Gesichtspunkt der Vereinbarkeit mit dem Übereinkommen beraten und in eine Fassung gebracht, die die Ratifizierung des Übereinkommens gestattet. Bundesregierung, Bundesrat und Bundestag haben bei Einbringung des Ratifikationsgesetzes zum Übereinkommen Nr. 102 bzw. durch seine Verabschiedung festgestellt, daß der § 84 AVAVG in Übereinstimmung mit dem Übereinkommen Nr. 102 steht.Mein sehr verehrter Herr Vorredner, der die Große Anfrage der SPD-Fraktion begründet hat, hat an mich zugleich die Frage gerichtet, wann mit dem Einbringen einer solchen Vorlage zu rechnen sei. Es widerstrebt mir, in solchen Fällen genaue Termine anzugeben, weil das im einzelnen sehr schwer ist. Ich möchte aber der anfragenden Fraktion und dem ganzen Hohen Hause versichern, daß ich mich bemühen werde, soweit — ich habe in meiner Antwort schon darauf hingewiesen — ein Bedürfnis zu Änderungen vorliegt, so bald wie möglich eine Vorlage den gesetzgebenden Körperschaften zuzuleiten.
Das Haus hat die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage gehört. Ich frage, ob eine Aussprache gewünscht wird.
Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Scheppmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu der Großen Anfrage der SPD-Fraktion, die soeben von der Bundesregierung durch den Herrn Bundesminister für Arbeit beantwortet wurde, möchte ich namens der CDU/CSU-Fraktion folgendes ausführen.Zu Ziffer 1 der Großen Anfrage! Das Problem, um das es hier geht, wurde schon vor zwei Jahren bei der Beratung der großen Novelle behandelt. Unsere Auffassung ist folgende. Bis zu einem Einheitslohn von 49,99 DM wöchentlich entspricht die Unterstützung aus der Arbeitslosenhilfe bereits jetzt dem Arbeitslosengeld. Diese Übereinstimmung ist unvermeidlich; denn eine niedrigere Leistung könnte nicht mehr als wirksame Hilfe angesehen werden. Die von der SPD angestrebte Anhebung der anderen Unterstützungssätze auf das Niveau der Arbeitslosenversicherung würde das System der Arbeitslosenversicherung in Frage stellen, weil bei gleich hohen Leistungen dem Grundsatz, Leistungen je nach den Beiträgen zu gewähren, der Boden entzogen würde. Die Statuierung einer Beitragspflicht würde ihre innere Berechtigung verlieren.Die Forderung ist aber auch sachlich nicht gerechtfertigt. Der Hauptbetrag des Arbeitslosengeldes ist in keinem Falle geringer als 55 v. H. des Nettoentgelts, der Hauptbetrag der Unterstützung aus der Arbeitslosenhilfe in keinem Falle geringer als 45 v. H. Der Unterschied zwischen beiden Leistungen beträgt im Durchschnitt etwa 10 v. H., liegt also bereits an der äußersten Grenze des Vertretbaren.Bedenklich ist diese Forderung insbesondere auch deshalb, weil Arbeitslosenhilfe im Gegensatz zur Arbeitslosenversicherung keine Begrenzung der Anspruchsdauer kennt, so daß insoweit bei der Arbeitslosenhilfe die Regelung günstiger ist, obwohl sie aus Steuermitteln gezahlt wird. Arbeitslosenversicherung und Arbeitslosenhilfe würden sich nur noch dadurch unterscheiden, daß bei derScheppmanneinen Bedürftigkeit Voraussetzung ist. Der Unterschied ist von geringer praktischer Bedeutung, weil eine Verringerung der Unterstützung infolge der Bedürftigkeitsprüfung nur in etwa 15 bis 20 v. H. aller Fälle eintritt.Die von der SPD angestrebte Regelung würde für je 100 000 Hauptbetragsempfänger in der Arbeitslosenhilfe Mehrkosten in Höhe von etwa 25 Millionen DM jährlich verursachen. Da für das Rechnungsjahr 1959 mit einem Jahresdurchschnitt von 155 000 Hauptbetragsempfängern gerechnet wird, würden für dieses Rechnungsjahr Mehrkosten in Höhe von etwa 39 Millionen DM entstehen.Es wäre jedoch zu vertreten, in Anlehnung an entsprechende gesetzliche Maßnahmen in den Jahren 1951, 1953 und 1956 die Unterstützung langfristig Arbeitsloser dem veränderten Lohnniveau anzupassen. Eine solche Maßnahme wäre auch deswegen gerechtfertigt, weil zahlreiche langfristig Arbeitslose ihre Unterstützung noch nach einem Lohn erhalten, der den heutigen Verhältnissen nicht mehr entspricht. Die Mehrkosten einer solchen Regelung würden schätzungsweise etwa 3 bis 3,6 Millionen DM jährlich betragen, so daß ihr eigentlich keine besonderen Hindernisse entgegenstünden.In Ziffer 2 der Großen Anfrage wird die Anrechnungsfreiheit für Renten der gesetzlichen Unfallversicherung bei der Festsetzung der Arbeitslosenhilfe gefordert, Damit wird also die Nichtberücksichtigung von Unfallrenten jeder Art bei der Bedürftigkeitsprüfung in der Arbeitslosenhilfe verlangt.Jetzt liegen die Dinge so: Hinterbliebenenrenten der gesetzlichen Unfallversicherung müssen bei der Bedürftigkeitsprüfung in der Arbeitslosenhilfe schon deswegen berücksichtigt werden, weil sie lediglich für den Unterhalt bestimmt sind. Aus dem gleichen Grunde werden u. a. auch die Hinterbliebenenbezüge der Kriegsopferversorgung und nach dem Entschädigungsrecht berücksichtigt.Bei den Verletztenrenten aus der Unfallversicherung ist bereits früher die Frage aufgeworfen worden, ob der Teil der Verletztenrente, der in seiner Höhe der Grundrente nach dem BVG entspricht, bei der Bedürftigkeitsprüfung in der Arbeitslosenhilfe unberücksichtigt bleiben kann. Diese Frage ist aber u. a. wegen des unterschiedlichen Charakters der Renten verneint worden. Die Grundrente nach dem BVG gilt einen öffentlich-rechtlichen Entschädigungsanspruch gegenüber der Allgemeinheit ab. Entsprechendes kann für die Rente gelten, die den Opfern des nationalsozialistischen Regimes gewährt wird. Unfallrenten entschädigen dagegen die Einbuße an Erwerbsfähigkeit durch einen Arbeitsunfall. Würde man die Unfallrente bei der Bedürftigkeitsprüfung in der Arbeitslosenhilfe teilweise nicht berücksichtigen, so würde eine entsprechende Regelung auch für die Renten der gesetzlichen Rentenversicherung unvermeidlich.Ferner ist zu berücksichtigen, daß es sich bei der Kriegsopferversorgung und der Unfallversicherung um ganz unterschiedliche Leistungssysteme handelt. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit, nach der sich die Höhe der Rente richtet, wird in der Kriegsopferversorgung nach der Art und Schwere des Körperschadens ermittelt ohne Rücksicht auf das vorher erzielte Einkommen und ohne Rücksicht darauf, ob und in welcher Höhe eine Einbuße an Einkommen im Einzelfall tatsächlich entsteht. Entschädigt wird somit die Verletzung der körperlichen Integrität. In der Unfallversicherung dagegen wird bei der Feststellung der Minderung der Erwerbsfähigkeit der individuelle Schaden berücksichtigt. Die Unfallversicherung stellt also ausschließlich auf die durch den Unfall im Einzelfalle entstandene Minderung der Erwerbsfähigkeit ab und gewährt eine Entschädigung nach Maßgabe des im Jahre vor dem Arbeitsunfall erzielten Erwerbseinkommens. Die Unfallversicherung gewährt somit Schadensersatz vorwiegend für entgangenen Lohn. Gegenüber solchen Leistungen müssen die Leistungen der Arbeitslosenhilfe, die ebenfalls dem teilweisen Ersatz des Lohnausfalles dienen, subsidiären Charakter haben. Andernfalls würde eine Doppelversorgung eintreten, die durch die Novelle zum AVAVG vom 23. Dezember 1956 grundsätzlich vermieden werden sollte.Es sollte daher nach allem daran festgehalten werden, daß die Arbeitslosenhilfe gegenüber den Leistungen der Unfallversicherung die subsidiäre Leistung ist.Der betroffene Personenkreis ist zwar klein. Es ist nicht einwandfrei festgestellt, wieviel es im Augenblick sind. Nach der letzten Erhebung, die allerdings schon Jahre zurückliegt, bezogen etwa 1,6 v. H. der Empfänger von Unterstützung aus der Arbeitslosenfürsorge eine Unfallverletztenrente. Hier sollte man nicht eine Änderung eintreten lassen, sondern die geltenden gesetzlichen Bestimmungen bestehen lassen.Zu der Ziffer 3 der Großen Anfrage — Beseitigung der Mängel in der Berechnung und Bemessung des Kurzarbeitergeldes und des Krankengeldes im Anschluß an Kurzarbeit — möchte ich folgendes sagen:Nach den Vorschriften, die vor dem 1. April 1957 galten, war für die Bemessung der Kurzarbeiterunterstützung der Differenzbetrag zwischen dem Kurzlohn und 5/6 des Vollohnes maßgebend. Nach diesem Betrag erhielt der Kurzarbeiter die Unterstützung, die sich aus der Tabelle für die Gewährung von Arbeitslosenunterstützung ergab. Dieses Verfahren hatte wegen der Degression der AluTabelle zur Folge, daß bei geringer Arbeitszeitverkürzung eine relativ niedrige Unterstützung zu gewähren war. Es kam dabei sogar zu dem sinnwidrigen Ergebnis, daß das Netto-Einkommen eines Kurzarbeiters, dessen Arbeitszeit unter 4/6 der Vollarbeitszeit lag, höher war als das Netto-Einkommen eines Arbeiters, der keine Kurzarbeiterunterstützung erhalten konnte, weil seine Arbeitszeit noch 5/6 der Vollarbeitszeit betrug.Ein weiterer Mangel des früheren Rechts bestand darin, daß der Familienzuschlag' ohne Rücksicht auf den Umfang des Arbeitsausfalls in jedem Falle in
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Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Freitag, den 30. Januar 1959 3273
ScheppmannHöhe des bei der Vollarbeitslosigkeit bestehenden Anspruchs gewährt wurde.Die Große Novelle zum AVAVG, die mit der Anhebung des Arbeitslosengeldes grundsätzlich auch eine Anhebung des Kurzarbeitergeldes brachte, beseitigte diese Mängel. Das Kurzarbeitergeld steigt jetzt mit sinkendem Kurzlohn gleichmäßig an. Das Netto-Einkommen des Kurzarbeiters steht nunmehr im richtigen Verhältnis zu Kurzarbeit und Lohnausfall.In der Praxis, so möchte ich sagen, hat sich allerdings der Umstand, daß der Familienstand des Kurzarbeiters nur nach seiner Lohnsteuergruppe berücksichtigt wird, nachteilig ausgewirkt, soweit nach den Vorschriften über das Arbeitslosengeld Anspruch auf Gewährung des Hauptbetrages mit drei Zuschlägen beistehen würde. Insoweit, glauben wir, sind Minderungen des Kurzarbeitergeldes eingetreten, die durchaus beseitigt werden sollten.Ebenso haben sich gewisse Unzuträglichkeiten aus den Kurzarbeiter-Tabellen ergeben infolge der Einteilung der Voll- und Kurzlöhne in Lohngruppen. Dieser Aufbau der Tabellen, der aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung an sich erwünscht ist, hat zur Folge, daß innerhalb der einzelnen Gruppen annähernd gleiche Tatbestände unterschiedlich bewertet werden. Auch insoweit sollten Korrekturen des geltenden Rechts erwogen werden.Die Neueinteilung der Lohnsteuergruppen, die auch auf das Kurzarbeitergeld Auswirkungen hat, erfordert ohnehin eine Anpassung.I Hier sollen nun Änderungen durchgeführt werden; wenigstens ist das unsere Meinung. In welcher Weise die Änderungen erfolgen können, steht allerdings noch nicht endgültig fest. Das zuständige Ministerium sollte Überlegungen anstellen, in welcher Weise diese Änderungen nun herbeigeführt werden sollen; entsprechende Vorschläge sollten in dem neuen Entwurf eingearbeitet werden.Der Antrag unter Ziffer 3 der Großen Anfrage ist nicht ganz klar formuliert. Wahrscheinlich wird es als untragbar empfunden, daß nach dem geltenden Recht der auch nur kurzfristige Bezug von Lohnausfallvergütung dazu führen kann, daß eine Anwartschaft auf längeren Unterstützungsbezug hinfällig wird. Wie Sie wissen, beträgt die Unterstützungsdauer 13 bis 52 Wochen. 52 Wochen werden erreicht bei einer ununterbrochenen Beschäftigung von drei Jahren. Der Bezug von Lohnausfallvergütung führt zu einer Unterbrechung, also gegebenenfalls zu einer Reduzierung der Unterstützungsdauer in einem nicht vertretbaren Umfang. Es wäre zu überlegen, ob man in das Gesetz, das nun eingebracht werden soll, eine Bestimmung einbauen sollte, die vorsieht, daß die Anwartschaftszeiten nur durch langfristigen Bezug von Kurzarbeitergeld unterbrochen werden.Tatsächlich kommen in der Praxis Fälle vor, in denen sich die jetzige Regelung nicht besonders gut auswirkt. Ein Arbeitnehmer, der jahrelang voll beschäftigt und versicherungs- und beitragspflichtig gewesen ist, dann zwei Wochen Kurzarbeitergeld bezieht und sich anschließend arbeitslos meldet, hat nur einen Anspruch auf Unterstützung fürdie Dauer von 26 Wochen, weil die ganze Beschäftigungszeit vor dem Bezuge von Kurzarbeitergeld liegt und daher — § 87 Abs. 2 Satz 2 des AVAVG — einen Anspruch auf Unterstützung über 26 Wochen hinaus nicht begründen kann. Wäre dieser Arbeitnehmer — um bei dem Beispiel zu bleiben — nicht mit verminderter Arbeitszeit noch 14 Tage weiterbeschäftigt, sondern entlassen worden, so hätte er einen Anspruch auf Unterstützung für die Dauer von 52 Wochen gehabt.Ich glaube, diese Angelegenheit muß einer Prüfung unterzogen werden. Wir schließen uns hier der Bitte an, daß das Bundesministerium für Arbeit einen entsprechenden Vorschlag in den neuen Gesetzentwurf einarbeitet.Zu Ziffer 5 der Großen Anfrage — Gewährung des Arbeitslosenversicherungsschutzes an Bezieher von Berufsunfähigkeitsrenten, die eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung ausüben — möchte ich folgendes sagen. Vor dem Inkrafttreten der großen Novelle zum AVAVG war die Versicherungs- und Beitragspflicht beschäftigter Rentner uneinheitlich geregelt. Zur Erfüllung der Anwartschaftszeit in der Arbeitslosenversicherung konnte die von einem Rentner ausgeübte Beschäftigung nur in den Ländern Bayern und Rheinland-Pfalz dienen. In allen übrigen Ländern begründete die Beschäftigung eines Rentners keinen Anspruch auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung.Bei der Neuordnung des Rechts der Arbeitslosenversicherung durch die große Novelle zum AVAVG, die am 1. April 1957 in Kraft getreten ist, wurde grundsätzlich davon ausgegangen, daß in eine Zwangsversicherung gegen Arbeitslosigkeit nur solche Arbeitnehmer einbezogen werden dürfen, die auf dem freien Arbeitsmarkt bei gegebener Möglichkeit in der Regel in vollem Umfang Verwendung finden können. Dagegen sollten Personen versicherungsfrei bleiben, die nur noch unter besonderen Umständen oder in einem für ihre Existenz nicht ausschlaggebenden Umfang als Arbeitnehmer tätig werden, deren Verwendbarkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt also wesentlich eingeschränkt ist. Außerdem erschien eine doppelte Sicherung des Lebensunterhalts durch Gewährung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit aus der Sozialversicherung und Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung innerhalb eines Gesamtsystems der sozialen Sicherung unzweckmäßig. Es sind hier Überlegungen angestellt worden, in welchen Fällen man das tun sollte.Ich darf auch darauf hinweisen, daß bei der Neuordnung der Rentenversicherung seinerzeit eine besondere Regelung eingebaut wurde, wonach die Berufsunfähigkeitsrenten neu eingeführt wurden, die in der JV und in der AV nicht bestanden, sondern nur im knappschaftlichen Bereich. Die Berufsunfähigkeitsrenten wurden mit einem bestimmten Steigerungsbetrag eingeführt, und zwar mit der Maßgabe, daß bei Weiterbeschäftigung und gleichzeitigem Bezug der Berufsunfähigkeitsrente diese Tätigkeit kein Grund für eine Rentenentziehung ist. Da auch bei der Vermittlung von Personen, die
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Scheppmannberufsunfähig sind und eine solche Rente beziehen, Schwierigkeiten entstehen, sind wir der Meinung, daß die Versicherungsfreiheit für die Tätigkeit der Empfänger von Berufsunfähigkeitsrenten bestehenbleiben sollte.Zur Ziffer 6 wird mein Fraktionskollege Herr Dr. Dittrich einiges ausführen. Ich kann mir daher ersparen, zu diesem Punkt etwas Besonderes zu sagen.
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und denen es schwerer fällt, ihren besonders sozialen Verpflichtungen nachzukommen als den Großbetrieben. Das möchte ich mit aller Vorsicht zum Ausdruck bringen.In der Fragestunde vom 7. Mai 1958 habe ich mir gestattet, das Problem der Arbeitslosenversicherungspflicht der nahen Verwandten anzusprechen. Ich habe damals vom Bundesarbeitsministerium eine Auskunft erhalten, die mich nicht in allen Teilen befriedigte. Wir müssen uns über eines klar sein: die Interventionen und Petitionen, die sowohl im Petitionsausschuß als auch an jeden einzelnen von uns aus den Kreisen der kleinen Handwerksmeister, die in ihrem Betrieb mehrere Söhne beschäftigen, herankommen, nehmen kein Ende. Ich möchte dieses ernste Problem in aller Kürze behandeln.Ich habe vor einiger Zeit den Brief eines kleinen Maurermeisters bekommen, der vier Söhne und einen Schwiegersohn beschäftigt, von denen vier verheiratet sind. Auf Grund unserer Novelle aus dem Jahre 1957 unterliegen sie nicht mehr der Arbeitslosenversicherungspflicht, und dieser kleine Maurermeister muß im Winter in den Monaten der Arbeitsruhe nicht nur seine eigene Familie, sondern auch die Familien seiner Sahne und seines Schwiegersohns mit unterhalten. Das bedeutet eine Härte, die wir beseitigen sollten.Bei Punkt 6 der Großen Anfrage dürfen wir nicht vergessen, daß diese Härten in der Hauptsache im Bauhandwerk und im Baunebengewerbe auftreten und daß die Vertretung des Handwerks eine Hereinnahme aller nahen Verwandten in die Arbeitslosenversicherungspflicht ablehnt. Es bleibt deshalb zu überprüfen — und deshalb habe ich mich zum Wort gemeldet —, ob wir nicht für die kleinen Handwerker und Gewerbetreibenden, die in Familienbetrieben mit Söhnen und Töchtern arbeiten, irgendeine Verbesserung schaffen können, die solche Härtefälle vermeidet. Ich denke besonders an die Kreise, in denen die Arbeitslosigkeit besonders hoch ist. In den Arbeitsamtsbezirken Passau, Deggendorf und Cham z. B. gibt es eine Unzahl derartiger Notfälle. Die Familienbetriebe, in denen Söhne und Töchter beschäftigt sind, erhalten dort im Winter nicht ihr Arbeitslosengeld, und über den Weg der Arbeitslosenhilfe kann nicht immer geholfen werden. Ich bitte Sie deshalb, Herr Bundesarbeitsminister, einmal in Ihrem Hause Erwägungen darüber anzustellen, wie den kleinen Familienbetrieben in dieser Hinsicht geholfen werden kann.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Atzenroth.
Meine Damen und Herren! Wir Freien Demokraten sind der Meinung, daß eine Änderung des vor wenigen Jahren beschlossenen Gesetzes über die Arbeitslosenvermittlung und Arbeitslosenversicherung nicht notwendig ist. Aus diesem Grunde lehnen wir die in der Großen Anfrage erhobenen Forderungen ab. Wir sind mit dem Herrn Minister auch der Meinung, daß Probleme, die vor ganz kurzer Zeit durch Mehrheitsentscheidung des Bundestages gelöst worden sind, nicht jetzt schon wieder aufgerollt werden sollten. Eine zwingende Notwendigkeit dazu sehen wir nicht.
Aber aus der Antwort des Herrn Ministers haben wir gehört, daß er die Absicht hat, noch in diesem Jahr einen Gesetzentwurf zur Änderung des AVAVG vorzulegen. Das gibt uns natürlich Veranlassung, unsere Wünsche zu einem solchen Gesetz, das demnächst kommen wird, schon frühzeitig anzumelden. Herr Minister, über die Absichten, die Sie haben, haben Sie nur ganz kurze Andeutungen gemacht. Sie betreffen zunächst insbesondere eine etwaige Neuregelung der Arbeitslosenhilfe. Sie haben angedeutet, daß Sie eine gewisse Dynamik — nehmen Sie das Wort nicht gleich in seiner vollen Bedeutung — einführen wollen. Im Gegensatz zu unserem sonstigen Kampf gegen die Dynamik in der Sozialversicherung sind wir mit Ihnen der Meinung, daß eine gewisse Anpassung bei sehr lange andauernder Arbeitslosigkeit notwendig ist. Wir werden abwarten müssen, wie die Anpassung, die von Ihnen dann vorgeschlagen wird, aussieht, und davon unsere Zustimmung abhängig machen.
Unser Grundanliegen bei einer Novelle zu diesem Gesetz wird immer wieder sein, den Gedanken der Versicherung in den Vordergrund zu stellen. Die Anträge der Sozialdemokraten haben die Absicht, diesen Gedanken in vielen Fällen zu verwässern und den Versorgungsgedanken in den Vordergrund zu stellen. Das Gegenteil davon ist unsere Absicht.
Wenn wir den Versicherungsgedanken stärker durchsetzen wollen, ergeben sich eine Reihe von Problemen, z. B. das Problem, inwieweit man diejenigen, die von dem Versicherungsfall überhaupt nicht betroffen werden können, nicht aus der Versicherung herausnehmen muß. Menschen, denen niemals das Schicksal der Arbeitslosigkeit drohen kann, sollten auch nicht gezwungen werden, in die Versicherungsgemeinschaft einzutreten. Das ist ein Gesichtspunkt, den wir herausstellen wollen.
Einen zweiten Mangel in der bisherigen Regelung des Gesetzes sehen wir darin, daß auf der anderen Seite eine gewisse Gruppe von Wirtschaftszweigen in überaus starkem Maße die Hauptnutznießer der Versicherung sind. Selbstverständlich kann man nicht eine Versicherung danach ausrichten, daß man im vorhinein rechnet: Wieviel Möglichkeiten der Inanspruchnahme habe ich? Aber wenn bei einer Gruppe vorauszusehen ist, daß sie immer wieder in die Winterarbeitslosigkeit gerät, dann muß das bei der Bemessung auf der Aufbringungsseite berücksichtigt werden. Das halten wir bei der vorzulegenden Novelle zum AVAVG für ein dringendes Erfordernis.
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Dr. Atzenroth
Auf Veranlassung meiner Fraktion habe ich schon jetzt einen Wunsch vorzubringen, der dahin geht: Flüchtlinge aus der Sowjetzone, die in das Bundesgebiet übersiedeln, werden bei der Gewährung von Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe so behandelt, als hätten sie ihre letzte Tätigkeit im Bundesgebiet ausgeübt. Das führt zu folgenden unbilligen Ergebnissen. Personen, die durch Unterstützung des SED-Regimes im Staatsapparat, in der Volkspolizei oder in volkseigenen Betrieben bevorzugte Stellungen erhalten hatten, erhalten ihr Arbeitslosengeld unter Berücksichtigung des letzten Einkommens, während diejenigen, die wegen ihrer ablehnenden Haltung in ihrem beruflichen Fortkommen gehemmt waren und deshalb weniger verdienten, auch entsprechend weniger Arbeitslosengeld bekommen. Selbständige, die aus der Sowjetzone kommen, sind noch schlechter gestellt. Wir wollten Ihre Aufmerksamkeit schon jetzt darauf richten, damit Sie vielleicht eine Behebung dieses Mißstandes in Ihrer Vorlage vorsehen.
Wir behalten uns darüber hinaus vor — wir haben von Ihrer Absicht, ein solches Gesetz vorzulegen, erst heute erfahren —, noch weitere Wünsche frühzeitig, eventuell schriftlich vorzutragen.
Das Wort hat der Abgeordnete Folger.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine sehr geehrten Herren! Auf dem vor wenigen Minuten verteilten Antrag Umdruck 201 der SPD-Fraktion ist ein bedauerlicher Schreibfehler unterlaufen. Es heißt dort: „Die Bundesregierung wolle beschließen: Die Bundesregierung wird ersucht". Ich möchte Sie bitten, davon Kenntnis zu nehmen, daß die SPD-Fraktion nicht die Absicht hat, die Rechte des Bundestages auf die Bundesregierung zu übertragen. Es muß natürlich heißen: „Der Bundestag wolle beschließen ...".Man kann sich das Elend schwer vorstellen, wenn man selbst nicht davon betroffen ist. Ich möchte Sie inständig bitten, von dieser Regel heute eine Ausnahme zu machen und sich das Elend der Außenseiter des leider sehr ungleichmäßigen Wirtschaftswunders bei allen Ihren Überlegungen und Entscheidungen recht deutlich vorzustellen.Der Herr Abgeordnete Dr. Dittrich hat vorhin davon gesprochen, daß Sie bei aller sozialen Einsicht immer daran denken werden: Wie ist das mit dem Bundeshaushalt und mit dem Haushalt der Arbeitgeber zu vereinbaren?
Der Herr Abgeordnete Dr. Dittrich hat nur einen Haushalt vergessen, nämlich den Haushalt der existenzbedrohten, langfristig Arbeitslosen.
Wir müssen auch an deren Haushalt denken; das sind wir diesem Hohen Hause schuldig.Der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hat unter anderem zum Punkt 1 eine Regierungsvorlage in Aussicht gestellt, so daß wir ein paar Pfeile, die wir noch im Köcher hätten, vorläufig zurückhalten können. Wir werden darauf warten, was uns vorgelegt wird. Ich bitte nur, Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Sie daran erinnern zu dürfen, daß der Preisindex für die Lebenshaltungskosten der unteren Verbrauchergruppe seit der Verabschiedung der letzten Novelle zum AVAVG am stärksten gestiegen ist, stärker als der für die mittlere und gehobene Verbrauchergruppe, nämlich um 7 Punkte oder 6 %. Zusammen mit den leider am Horizont stehenden Preiserhöhungen für Milch, Fleisch, Strom und Gas, die wahrscheinlich nicht verhindert werden können, wird die Erhöhung der Lebenshaltungskosten für die untere Verbrauchergruppe in den nächsten Monaten noch ein paar Prozent mehr ausmachen. Es ist also höchste Eile geboten. Für die Leute, die aus der Arbeitslosenhilfe monatlich Durchschnittsbeträge von 150,— DM empfangen, ist eine Erhöhung der Lebenshaltungskosten um 9, 12 oder 15 DM existenzbedrohend, während sie für den Teil der Bevölkerung, der ein gutes Arbeitseinkommen hat, nicht so empfindlich ist.Ich möchte dann noch ein paar Worte zu Punkt 2 sagen, nachdem der Herr Minister in diesem Punkt uns kein Zugeständnis zu machen bereit ist. Die Unfallrenten sind ein Ausgleich für die Mehraufwendungen und insbesondere für das infolge eines Unfalls entgangene Arbeitsentgelt. Da die der Aufstockung des verminderten Entgelts dienenden Leistungen bei der Bemessung der Arbeitslosenhilfe nicht berücksichtigt werden, sollte nach unserem Dafürhalten auch bei der Bedürftigkeitsprüfung von einer Berücksichtigung Abstand genommen werden. Der Herr Kollege Odenthal hat bereits einen Weg angedeutet, wie man es machen könnte.Wenn Sie schon unüberwindliche Hemmungen haben, die völlige Anrechnungsfreiheit zu beschließen, sollten Sie wenigstens eine gestaffelte Anrechnungsfreiheit je nach dem Grad der Erwerbsbehinderung in Parallele zum Bundesversorgungsgesetz schaffen. Es ist kein Grund ersichtlich, warum man die Empfänger einer Unfallrente auf Grund eines Arbeitsunfalls in der Methode anders behandeln sollte als die Empfänger von Leistungen aus dem Bundesversorgungsgesetz.Ich darf noch eine Bemerkung zu Punkt 5 machen, damit ich nicht später noch einmal das Wort ergreifen muß. Die Arbeitslosenversicherungspflicht der arbeitenden Rentner ist seinerzeit unter anderem mit dem Hinweis auf die bevorstehende Rentenreform abgelehnt worden. Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Sie haben eingangs Ihrer Ausführungen erklärt, daß eine Änderung des Gesetzes dort nicht notwendig sei, wo sich die Verhältnisse seitdem nicht geändert hätten. Ich glaube Ihre Zustimmung zu finden, wenn ich behaupte, daß sich die Rentenreform nicht für alle Bezieher so vorteilhaft ausgewirkt hat, daß sie nicht noch hilfsbedürftig sind. Es gibt noch eine ganze Menge Rentner, die Beträge beziehen, die weit unter dem Existenzminimum liegen, und die deshalb gezwun-
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Folgergen sind, soweit sie dazu in der Lage sind und soweit sie Arbeit finden, noch einem Erwerb nachzugehen.Es wäre nicht mehr als recht und billig, aus dieser Erkenntnis auch die Konsequenzen zu ziehen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Rudoll.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Gern habe ich davon Kenntnis genommen, daß der Herr Bundesarbeitsminister zu Punkt 3 der Großen Anfrage der SPD eine Anpassung an die neue Steuergesetzgebung vorzunehmen verspricht. Ich muß aber, um Ihnen die Bedeutung der Mängel sowohl bei der Kurzarbeiterunterstützung als auch bei der Berechnung des Krankengelds nach Kurzarbeit darzulegen, einiges dazu sagen. Bei der Verabschiedung der Novelle hatten wir selbstverständlich noch keine Erfahrungen, wie sich die Tabelle über die Kurzarbeiterunterstützung auswirken würde. Inzwischen haben wir einige Erfahrungen sammeln können.
Ich darf feststellen, daß die in der Tabelle festgelegten Sätze sich gegen die Familie ausgewirkt haben. Die Kurzarbeiterunterstützungs-Tabelle ist auf die Steuergruppen I, II und III abgestellt. Bei der Steuergruppe I handelt es sich um Ledige, bei der Steuergruppe II um Verheiratete ohne Kinder, bei der Steuergruppe III um Verheiratete mit mehreren Kindern. Die Sätze in der Tabelle aber sind bei der Steuergruppe III auf Verheiratete mit zwei Kindern abgestellt. Das heißt, daß für Arbeitnehmer, die mehr als zwei Kinder haben, keine entsprechende Erhöhung der Kurzarbeiterunterstützung eintritt.
Weiter ist dazu zu sagen, daß zum Teil die Kurzarbeiterunterstützung samt noch erarbeitetem Lohn niedriger als das Arbeitslosengeld ist. Das ist dadurch zu erklären, daß bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes zu dem Hauptbetrag Familienzuschläge in Höhe von 6 DM pro Woche für die Familienmitglieder gezahlt werden. Hier liegt eben die Schwierigkeit. Ich hoffe, daß das bei der Anpassung an die neuen Steuergruppen berücksichtigt wird.
Ein weiterer Mangel besteht bei der Berechnung des Krankengeldes für solche Arbeitnehmer, die nicht unmittelbar im Anschluß an den Bezug von Kurzarbeiterunterstützung arbeitsunfähig krank werden. Das AVAVG bietet zwar bei der Berechnungsgrundlage für die erwerbsunfähig Kranken eine Deckung für die, die unmittelbar, d. h. etwa am Tage nach der Beendigung der Kurzarbeit, erwerbsunfähig krank werden. Die Bemessung erfolgt in diesem Fall nach dem Grundlohn, den der Arbeitnehmer vor Eintritt der Kurzarbeit erhalten hat. Dagegen ist nichts einzuwenden.
Das Petitum meiner Fraktion besteht in folgendem. Ich gebe dazu ein Beispiel: Ein Arbeitnehmer war bis zum 21. Juli Kurzarbeiter. Der 22. war ein Sonntag, und am 23. beginnt die Vollarbeit in dem Betrieb wieder. Der Betreffende wird nun am
25. Juli krank, ist also nicht unmittelbar im Anschluß an die Kurzarbeit krank geworden, sondern hat zwei Tage gearbeitet. In diesem Falle wird bei der Berechnung des Krankengeldes der Lohn für die zwei Tage zugrunde gelegt. Wir meinen, daß hier ungeheure Härtefälle entstehen. Die Praxis hat erwiesen, daß Abhilfe geschaffen werden müßte.
Ich will die Zeit nicht dadurch in Anspruch nehmen, daß ich Ihnen weitere Beispiele bringe. Ich glaube, sie sind auch dem Herrn Bundesarbeitsminister bekannt. Auch diese Benachteiligung wirkt sich natürlich für die Familien mit mehreren Kindern ganz besonders aus. Mein Wunsch ist nur, daß hier recht bald Abhilfe geschaffen wird, und ich bitte das Hohe Haus, das Verlangen unserer Anfrage zu unterstützen.
Das Wort hat der Abgeordnete Ludwig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der Frage 6, die den § 65 betrifft und zu der ich einiges sagen möchte, ist die Lage nach den Erklärungen des Herrn Ministers nicht ganz hoffnungslos. Auch Herr Kollege Dr. Dittrich hat bereits erklärt, daß er diese Erklärung begrüßt und bereit ist, in dieser Richtung mitzuarbeiten. Es handelt sich nicht nur um das Baugewerbe, sondern auch im Handwerk, in der Heimarbeit, in der Schmuck-, Schuh- und Textilindustrie, also in Industriezweigen mit zahlreichen Kleinbetrieben, haben wir solche Fälle; es sind also in der Hauptsache kleine Leute. Man kann jedoch nicht sagen, daß eine Massenerscheinung vorliege. Bedauerlich wäre es, wenn man die Sache vom Standpunkt des Beitrages aus sähe. Viel wichtiger ist, daß es sich um regelrechte Arbeitsverträge handelt. Diese Arbeitsverträge sind die Regel.
Ich weiß natürlich, daß immer wieder auf den möglichen Mißbrauch hingewiesen wird. Beim Baugewerbe kann schon dadurch abgeholfen werden, daß beschleunigt die Wünsche verwirklicht werden, die kürzlich bei der großen Debatte über die Winterarbeit für das Baugewerbe vorgetragen wurden und deren Berechtigung anerkannt wurde. Die Bundesregierung hat den Auftrag, entsprechende Vorschläge zu unterbreiten.
Man sollte allgemein einsehen, wie unwürdig der Zustand ist — ob es sich nun um Eltern bei den Kindern oder Kinder bei den Eltern handelt, ob es Ledige oder Verheiratete sind —, daß die Betreffenden von der Unterstützung durch die Familie abhängig sein sollen. Schließlich ist es in allen Fällen dem Arbeitsamt möglich, die Leute so rasch wie möglich zu vermitteln; ein Mißbrauch kann dann nicht entstehen. Es ist dann durchaus zu kontrollieren —gleichgültig, ob wir jetzt das Baugewerbe oder die Schmuckindustrie nehmen, wo durch Agenten oder Unternehmer Aufträge erteilt `werden —, ob die Arbeitslosmeldung gerechtfertigt ist. Das läßt sich an Hand der zugeteilten Arbeitsmenge prüfen. Meiner Ansicht nach genügen heute romantische Hinweise auf die Familiensolidarität nicht mehr. Das
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Ludwig
mag sehr gut gemeint sein, aber es steht in völligem Widerspruch zu den wirklichen Verhältnissen.
Ich hoffe also, daß nicht nur eine Prüfung erfolgt, wie Härtefälle beseitigt werden können, sondern daß ganz allgemein für diese Kreise die Versicherungspflicht eingeführt wird.
Das Wort hat der Abgeordnete Behrendt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei der Beantwortung zu Punkt 7 unserer Großen Anfrage ist von der einzuhaltenden Neutralität der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung die Rede gewesen. Ich will nur ganz kurz zur Frage der Neutralität einiges sagen.Bisher wurde gesagt, die Bundesanstalt würde die Neutralität aufgeben, wenn sie von vornherein Arbeitslosengeld an die mittelbar durch einen Streik Betroffenen zahlte. Die Neutralitätsverletzung wird darin gesehen, daß durch solche Zahlungen die unmittelbar Betroffenen — sprich: die Streikenden — indirekt unterstützt würden. Haben Sie auch einmal genau überlegt, ob bei dem heute geltenden Recht eine echte Neutralität der Arbeitsverwaltung gegeben ist? Nach § 84 Abs. 3 AVAVG kann zur Vermeidung unbilliger Härten Arbeitslosengeld gezahlt werden.Wenn also im Falle eines Streikes die mittelbar Betroffenen kein Arbeitslosengeld erhielten, ist dann die Bundesanstalt wirklich noch neutral? Ich meine, wenn sie nicht zahlte, verließe sie den Boden der Neutralität und würde parteiisch. Durch die Nichtgewährung des Arbeitslosengeldes an die mittelbar Betroffenen werden diese vom Gesetz geradezu verleitet — jedenfalls können sie dazu verleitet werden —, die in einem Arbeitskampf Stehenden zu ihrem Nachteil zu beeinflussen. Daß der Entscheid dahin geht, Arbeitslosengeld nicht zu gewähren, ist sehr leicht möglich.Sie werden das sofort einsehen, wenn Sie sich einmal die Richtlinien über die Gewährung von Arbeitslosengeld nach § 84 Abs. 4 AVAVG durchlesen. Diese aus dem Jahre 1928 stammenden Richtlinien hätten sowieso, wie das auch der Kollege Scheppmann schon gesagt hat, bei der Verabschiedung des AVAVG neu gefaßt werden müssen. Sie werden mir sicherlich zugeben, daß sich in den vergangenen 30 Jahren wesentliche Veränderungen auf diesem Gebiet ergeben haben. In dem Abschnitt I. dieser Richtlinien werden unter fünf Ziffern die Fälle aufgeführt, in welchen Arbeitslosengeld gezahlt werden darf. Ich will das nicht einzeln vorlesen, sondern nur darauf hinweisen, daß in den Erläuterungen zu den Richtlinien, die ebenfalls im Jahre 1928 herausgekommen sind, festgestellt wird, das Gesetz wolle bewußt bei den durch mittelbare Arbeitslosigkeit Betroffenen nicht jede Härte mildern. Und von diesen Richtlinien darf nicht abgewichen werden! Die Ermessensfreiheit des Verwaltungsausschusses beim Landesarbeitsamt ist daher erheblich eingeschränkt, wenn er feststellen soll, obeine unbillige Härte für die mittelbar Betroffenen vorliegt. Wir Sozialdemokraten halten das nicht für tragbar und meinen, daß schon aus diesen Gründen die Absätze 3 und 4 des § 84 fortfallen sollten.Meine Damen und Herren, ich komme zu einer erheblich anderen Beurteilung der Rechtslage, als sie von dem Herrn Minister und auch von dem verehrten Kollegen Scheppmann vorgetragen wurde. Ich will zwei Begründungen dafür geben, daß die Auslegung der Bundesregierung nicht haltbar ist. Ich weise zunächst darauf hin, daß nach Art. 19 des Ubereinkommens Nr. 102 jedes Mitglied den geschützten Personen Leistungen bei Arbeitslosigkeit zu gewähren hat. Ich betone: zu gewähren h a t. Mit Genehmigung des Herrn Präsidenten darf ich den Art. 19 des Übereinkommens Nr. 102 vorlesen:Jedes Mitglied, für das dieser Teil des Übereinkommens gilt, hat den geschützten Personen Leistungen bei Arbeitslosigkeit nach den Bestimmungen der folgenden Artikel dieses Teils zu gewährleisten.In Teil XIII der Gemeinsamen Bestimmungen, und zwar in Art. 69 Abs. i, des Übereinkommens Nr. 102 ist festgelegt, wann ausnahmsweise kein Arbeitslosengeld gezahlt zu werden braucht. Ich darf auch den Art. 69 Abs. i kurz vorlesen. Es heißt da: Eine Leistung im Falle der Arbeitslosigkeit, d. h. die Zahlung des Arbeitslosengeldes, kann ruhen, „wenn der Verlust der Beschäftigung die unmittelbare Folge einer auf eine Arbeitsstreitigkeit zurückzuführenden Arbeitseinstellung war oder die betreffende Person ihre Beschäftigung freiwillig ohne ausreichende Gründe aufgegeben hat". Der letzte Halbsatz interessiert hier nicht, sondern hier ist nur von Interesse, daß sogar die unmittelbar davon Betroffenen Arbeitslosengeld erhalten können. Das „können" ist bei uns ausgestanden; darüber brauchen wir nicht mehr zu reden.Ich komme nun zu der Schlußfolgerung: Die Kann-Vorschrift des § 84 Abs. 3 AVAVG steht im Widerspruch zu den Art. 19 und 69 des internationalen Übereinkommens Nr. 102. Nach dem Übereinkommen 102 hat der Arbeitslose einen Anspruch auf Leistungen. Der in dem Schriftlichen Bericht Drucksache 2714 und vor allem in dem Gesetzentwurf Drucksache 3318 und auch in der Bundestagssitzung vom 24. November 1955 in der zweiten Wahlperiode unternommene Versuch —das wurde hier von dem Herrn Bundesminister angeführt —, die Fassung des § 84 Abs. 3 und 4 im Einklang mit Art. 19 und 69 dieses Übereinkommens Nr. 102 zu sehen, wird sowohl durch den Text des Übereinkommens Nr. 102 als auch durch den des AVAVG widerlegt. Die Kann-Vorschrift des § 84 Abs. 3 des AVAVG, Herr Minister, ist keine Erfüllung der Muß-Vorschrift des Art. 19 des Übereinkommens 102.Das Übereinkommen Nr. 102 ist, wie bereits gesagt worden ist, am 1. Februar 1958 beim Internationalen Arbeitsamt hinterlegt worden und wird geltendes Recht am 21. Februar 1959. Ein mittelbar Betroffener kann auf Grund des Übereinkom-
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Behrendtmens Nr. 102 nach dem 21. Februar 1959 einen Rechtsanspruch auf Zahlung von Arbeitslosengeld geltend machen. Die Absätze 3 und 4 des § 84 des AVAVG sind daher nicht nur rechtsverwirrend, sondern stehen in eklatantem Widerspruch zu dem von der Bundesrepublik ratifizierten Übereinkommen 102, das jetzt in Kraft tritt.Die zweite Begründung für die Notwendigkeit, diesen Widerspruch auszuräumen, liegt in der Verpflichtung, die die Bundesrepublik — und selbstverständlich auch jedes andere Mitglied der Internationalen Arbeitsorganisation — als Mitglied der Internationalen Arbeitsorganisation zu erfüllen hat. Nach der Verfassung des Internationalen Arbeitsamts — Art. 19 Ziffer 5 d — haben die Mitglieder, wenn den zuständigen Stellen, also hier dem Bundestag, ein Übereinkommen vorgelegt und ratifiziert worden sind, die erforderlichen Maßnahmen zur Durchführung der Bestimmungen dieses Übereinkommens zu treffen. Die Vertragstreue erfordert, daß die Bundesrepublik, nachdem sie ratifiziert hat, durch Gesetz die Übereinstimmung des § 84 AVAVG mit dem Übereinkommen Nr. 102 herstellt. Geschähe das nicht, so machte sich die Bundesrepublik, meine ich, eines Bruchs des Völkerrechts schuldig. Ein solcher Völkerrechtsbruch ist sicherlich von niemandem beabsichtigt. Internationale Übereinkommen sind geltendes Recht; das wird von niemandem bestritten. Wir kennen das schon vom EWG-Vertrag her, an den die Bundesregierung auch gebunden ist. Im übrigen darf ich darauf hinweisen, daß nach Art. 25 des Grundgesetzes das Völkerrecht Bestandteil des Bundesrechts ist. Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts gehen den innerstaatlichen Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebiets.Wir ersuchen daher die Bundesregierung, die innerstaatlichen Gesetze, in diesem Fall den § 84 AVAVG, mit dem von uns ratifizierten Übereinkommen Nr. 102 in Übereinstimmung zu bringen.Zu unserer Großen Anfrage haben wir den Antrag Umdruck 201 eingebracht. Wir bitten das Hohe Haus, ihn an den Ausschuß für Arbeit zu überweisen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Odenthal.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf unsere eingehend — wenn auch kurz, aber präzis — begründete Große Anfrage haben wir, von Ausnahmen abgesehen, ferngelesene und ferngeschriebene Vorlesungen gehört, in denen nichts enthalten war, was an echten Argumenten gegen unsere Überzeugung spräche. Ich glaube, in der Sache selbst ist nach den Ausführungen des Herrn Ministers Blank das letzte Wort noch nicht gesprochen. Darum glaube ich, daß ich nach all dem, was gesagt worden ist, nichts hinzuzufügen habe und daß unsere Begründung ausreichend war.
Ich schließe mich dem Vorschlage meines Kollegen Behrendt an und bitte Sie, der Überweisung des Antrages Umdruck 201 an den Ausschuß für Arbeit zuzustimmen.
Keine weiteren Wortmeldungen. Ich schließe die Aussprache. Wir stimmen ab über den Antrag der Fraktion der SPD Umdruck 201. Natürlich muß es heißen: „Der Bundestag wolle beschließen:...". Beantragt ist die Überweisung an den Ausschuß für Arbeit. Das Haus ist damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich rufe auf Punkt 16 der Tagesordnung:
Beratung des Schriftlichen Berichts des Außenhandelsausschusses über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf einer Ersten Verordung zur Änderung des Deutschen Zolltarifs 1959 (Malzzoll) (Drucksachen 819, 832).
Ich frage den Herrn Berichterstatter, ob er das Wort wünscht. — Der Herr Berichterstatter ist nicht anwesend. Ich eröffne die Aussprache. Wird das Wort gewünscht? — Das Wort wird nicht gewünscht. Wer dem Antrag des Ausschusses auf Drucksache 832 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! Enthaltungen? — Der Antrag ist angenommen.
Punkt 17 der Tagesordnung:
Beratung des Schriftlichen Berichts des Außenhandelsausschusses über den von der Bundesregierung eingebrachten EntEntwurf einer Dritten Verordnung zur Änderung des Deutschen Zolltarifs 1959 (Waren der Listen A 1 und A 2 des Anhangs IV zum Euratom-Vertrag usw.) (Drucksachen 822, 833).
Ich frage den Herrn Berichterstatter, ob er das Wort wünscht. — Der Herr Berichterstatter verzichtet. Ich eröffne die Aussprache. — Das Wort wird nicht gewünscht. Ich schließe die Aussprache. Wer dem Antrag des Ausschusses auf Drucksache 833 zustimmen will, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Angenommen.
Damit, meine Damen und Herren, sind wir am Ende der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages ein auf Mittwoch, den 18. Februar, 15 Uhr.
Die Sitzung ist geschlossen.