Gesamtes Protokol
Ich grüße Sie recht herzlich, liebe Kolleginnen undKollegen hier im Parlament und auf der Regierungsbank.Herzlich willkommen an diesem sonnigen, schönen,strahlenden Tag! Die Sitzung ist eröffnet.Wir fangen mit dem Tagesordnungspunkt 1 an:Befragung der BundesregierungDie Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabi-nettssitzung mitgeteilt: Evaluierungsbericht 2016 zumRegierungsprogramm „Digitale Verwaltung 2020“.Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Berichtgebe ich Bundesminister Dr. Thomas de Maizière. – HerrMinister, Sie haben das Wort.Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-nern:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Inder Tat hat das Kabinett heute den von Ihnen zitiertenBericht beraten. Ich habe ihn vorgelegt. Wir geben damitBericht über das, was in diesem Feld in dieser Legislatur-periode geschehen ist. Da ist einiges erreicht und einigesnoch zu tun.Wir haben etwa die Absenkung Hunderter Formvor-gaben beschlossen. Wenn in einem Gesetz zum Beispielsteht, jemand müsse handschriftlich unterschreiben, dannkönnte dies künftig durch die Anwendung digitaler Re-geln ersetzt werden. So kann heute etwa die Zulassungzur Handwerksmeisterprüfung elektronisch beantragtwerden; um nur ein Beispiel zu nennen. Bundesbehör-den sind aufgefordert, die elektronische Akte bis 2020einzuführen. Mit dem E-Rechnungs-Gesetz, das im Aprilverkündet wurde, können ab November 2018 Unterneh-men ihre Rechnungen an Bundesbehörden elektronischstellen. Alle am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Ver-fassungsorgane haben die Arbeit an einem durchgehenddigitalisierten Gesetzgebungsprozess aufgenommen.Ein sehr wichtiger Punkt – da kann ich mich bei denHaushältern des Deutschen Bundestages bedanken – wardie sogenannte IT-Konsolidierung. Wir haben Hundertevon verschiedenen Rechenzentren, die parallel als In-sellösungen aufgebaut sind. Das führen wir jetzt zusam-men, und wir sparen damit auch viel Geld. Wir werdenauch weniger verwundbar. Wir haben das ITZ, das Re-chenzentrum des Bundes mit Hauptsitz in Bonn, gegrün-det. Das ist ein IT-Großprojekt, das uns sehr bindet undauf Dauer nötig ist.Wir haben die Netze des Bundes, also die Hardwarein-frastruktur, neu konfiguriert. Der Digitalfunk ist gut aus-gerollt. Wir haben mit dem BKA-Gesetz in der letztenWoche mit Zustimmung auch des Bundesrates das großeProjekt „Polizei 2020“ – dadurch soll der rechtliche Rah-men für eine grundlegende Modernisierung und Verbin-dung der polizeilichen IT-Systeme bei Bund und Länderngeschaffen werden – in einer nie dagewesenen Weise aufdie Schiene gesetzt.Das größte IT-Projekt war das Datenaustauschverbes-serungsgesetz. Der von der Flüchtlingskrise ausgehendeDruck wurde genutzt, um die Form der Registrierung,die vielseitige Verwendbarkeit und Möglichkeiten desZugriffs auf Registrierungen durch die unterschiedlichenBehörden in Bund, Ländern und Kommunen zu verbes-sern.Noch verbesserungsfähig ist das Verhalten der Verwal-tungen gegenüber dem Bürger und des Bürgers gegen-über der Verwaltung. Da gibt es sehr viele gute Lösungenin Kommunen und Ländern. Das sind aber überwiegendInsellösungen – das ist so im Föderalismus –, und daswollen wir überwinden. Der zentrale Baustein dafür istdie Änderung des Grundgesetzes und das entsprechendeBegleitgesetz, das in dem Paket Bund-Länder-Finanz-ausgleich hoffentlich in der nächsten Sitzungswocheverabschiedet wird. Dort wollen wir einen gemeinsamenPortalverbund beschließen, der die Bürgerinnen und Bür-ger in den Stand setzt, über einen Zugang – durch eineTür, wenn man so will – so gut wie alle Dienstleistungen,die die Verwaltungen von Bund, Ländern und Kommu-nen anbieten, digital zu erledigen. Sie können dann sozu-sagen mit einem Schlüssel in jede Verwaltung; ob das inBerlin, in Kiel, in Schleswig-Holstein, in Baden-Würt-temberg, in Sachsen oder in Nordrhein-Westfalen ist, istgleichgültig.
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Auch das ist ein kompliziertes IT-Projekt mit derVerbindung von Schnittstellen. Es wird dann die großeAufgabe sein, das in der nächsten Legislaturperiode zuverwirklichen, wenn wir in dieser Legislaturperiode nochdie gesetzlichen Voraussetzungen dafür schaffen.
Vielen Dank, Herr Minister de Maizière. – Es gibt bis-
her zwei Fragesteller, und ich gebe als Erstem Dr. Tim
Ostermann das Wort.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Minister,
Sie haben den gemeinsamen Portalverbund von Bund,
Ländern und Kommunen angesprochen, der das Ziel
hat, dass möglichst viele Verwaltungsdienstleistungen
auf allen Ebenen digital angeboten werden können. Nun
soll das Bundesportal im Jahr 2017 online gestellt und
schrittweise erweitert werden. Können Sie uns nähere
Angaben zu dem Zeitplan machen?
Herr Minister, bitte.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
nern:
Zunächst einmal brauchen wir die gesetzliche Grund-
lage. Das heißt, wir ändern dazu das Grundgesetz und
beschließen dann das einfache Gesetz in dem großen Ge-
setzespaket, das hoffentlich in der nächsten Sitzungswo-
che verabschiedet wird.
In diesem Onlinezugangsgesetz werden die koor-
dinierenden Aufgaben dem IT-Planungsrat zugewie-
sen. Der IT-Planungsrat ist ein gemeinsames Gremium
der entsprechenden Fachleute vom Bund und von allen
Ländern. Dort wird dann der Zeitplan beschlossen. Ich
halte es für ehrgeizig, dass wir das 2017 hinbekommen.
Manchmal verzögern sich solche IT-Projekte, insbeson-
dere wenn sich 16 Bundesländer und der Bund auf eine
gemeinsame Konfiguration einigen müssen; das ist dann
so. Ich denke aber, wir bekommen das hin.
Die entscheidende Aufgabe wird dann sein, festzule-
gen: Für welche Dienstleistung nutzen wir das als Erstes,
sodass es für die Bürger den größten Effekt hat? Ist es
die Kfz-Ummeldung – das könnte ein solcher Vorschlag
sein –, sodass man, wenn man von Kiel nach Stuttgart
umzieht, das Kfz elektronisch ummelden kann, oder ist
es etwas anderes? Nähere Angaben dazu kann ich im
Moment noch nicht machen.
Vielen Dank. – Jetzt gehe ich auf die andere Seite:
Dr. Petra Sitte, bitte.
Mich interessiert das ganze Projekt E-Akte, insbe-
sondere vor dem Hintergrund, dass es dabei auch um die
Klärung behördenspezifischer Anforderungen und darü-
ber hinaus um den Aufbau eines Basisdienstes geht. Ich
frage nach dem aktuellen Stand dieses Projekts. Wird der
Zeitplan, der einmal vorgesehen war, eingehalten?
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
nern:
Alle Ressorts arbeiten daran, Frau Abgeordnete. Die
Vorarbeiten dazu sind abgeschlossen. Das wird nicht nur
die Ministerien betreffen, sondern auch alle nachgeord-
neten Bereiche. Ich weiß aus dem mir nachgeordneten
Bereich, dass einige sehr intensiv daran arbeiten, man-
che die Arbeit ein bisschen scheuen. Das Ziel ist, das bis
2020 abgeschlossen zu haben.
Vielen Dank. – Dann Marian Wendt, bitte.
Vielen Dank, Herr Minister; auch vielen Dank für die
gute Erfolgsbilanz in diesem Bereich. Es gibt allerdings
noch einiges zu tun; das haben Sie auch nicht bestritten.
Es gab in dieser Legislaturperiode ein Normen-
screening, bei dem geprüft wurde, bei welchen Vor-
schriften durch Digitalisierung insbesondere das Schrift-
formerfordernis oder die Notwendigkeit persönlichen
Erscheinens ersetzt werden können. Ist es geplant, das
auch künftig weiterzutreiben, gegebenenfalls die Vor-
schriften, die in Gesetzen neu beschlossen werden, da-
raufhin zu prüfen, ob persönliches Erscheinen oder die
Schriftform wirklich nötig sind?
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
nern:
Herr Abgeordneter, dieses Gesetzesvorhaben war au-
ßerordentlich arbeitsintensiv. Alle Mitarbeiter mussten
sozusagen in der gesamten Rechtsdichte des deutschen
Rechts danach suchen: Wo gibt es Formvorschriften?
Sind die entbehrlich? – Da war es so, wie es oft ist: Die
politischen Führungen haben gesagt: Na klar, das kann
alles weg. Wir leben heute in einem anderen Zeitalter. –
Konkret wurde auf Arbeitsebene und anderswo gesagt:
Ja, da habt ihr recht, aber diese Vorschrift muss leider so
bleiben.
Wenn ich das so sagen darf: Insbesondere wenn an die
tatsächliche Unterschrift auch Geschäftsmodelle ge-
knüpft sind, dann sind die Besitzstände besonders groß,
sodass es bei diesem Schriftformerfordernis bleibt. Im
Ergebnis ist es gelungen, 20 bis 25 Prozent der Schrift-
formerfordernisse mit diesem Gesetz zu beseitigen. Das
ist gut, aber nicht gut genug. Deswegen, finde ich, muss
in der nächsten Legislaturperiode ein neuer Anlauf unter-
nommen werden, um mindestens noch einmal die gleiche
Anzahl von Schriftformerfordernissen wegzubekommen.
Aber es ist ein zäher Kampf mit den aktuellen Besitz-
ständen.
Vielen Dank. – Nächste Fragestellerin: Petra Pau fürdie Linke.Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
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Herzlichen Dank, Herr Minister. – Sie haben eben
schon gesagt, dass es ein ehrgeiziges Projekt ist. Nun
wollen wir es nicht nur weiter eng begleiten, sondern
auch zu einem entsprechenden Erfolg bringen. Deswe-
gen interessiert mich Ihre Planung zum weiteren Be-
richtswesen für das Regierungsprogramm, auch vor
dem Hintergrund, dass es seit 2015 keine halbjährlichen
Statusberichte mehr gibt. Können Sie uns sagen, wie es
aus Ihrer Sicht in Zukunft sinnvoll gestaltet werden soll?
Dann können wir dies anders begleiten.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
nern:
Frau Abgeordnete Pau, wir werden sehr eng begleitet.
Ehrlich gesagt, haben wir darum gebeten, vom Haus-
haltsausschuss bei dem Projekt IT-Konsolidierung be-
gleitet zu werden, weil die Ressorts in den nachgeordne-
ten Bereichen ihre Bereiche behalten wollen. Hier ist der
Druck mit Berichtspflichten hinsichtlich der Fortschritte,
Meilensteine usw. sehr hilfreich.
Im Übrigen finde ich halbjährliche Berichte zu viel.
Das muss in der neuen Legislaturperiode entschieden
werden; denn man muss auch an der Sache arbeiten und
nicht nur Berichte schreiben. Deswegen sollten wir in
der neuen Legislaturperiode mit dem Parlament darüber
reden, ob vielleicht ein jährlicher Bericht oder ein Be-
richt alle zwei Jahre nicht richtiger ist. Wenn man sich
dagegen auf bestimmte Bereiche, die einem besonders
wichtig sind – etwa Portalverbund oder die IT-Konsoli-
dierung –, konzentriert, dann bin ich gerne bereit – eher
in den Ausschüssen als im Plenum –, die Berichte in kür-
zeren Abständen zu geben, dann aber so effektiv, dass sie
aussagefähig sind. Aber es darf nicht so sein, dass wir
vor lauter Berichteschreiben nicht mehr zum Arbeiten
kommen.
Danke schön. – Saskia Esken, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Minister, ich
habe zwei Fragen im Zusammenhang mit Daten rund um
das Programm „Digitale Verwaltung 2020“. Zum einen
möchte ich gerne wissen, welche Bedeutung Sie dem
Thema und unserem Vorhaben eines Open-Data-Gesetzes
und der Open-Data-Gesetze der Länder im Zusammen-
hang mit übergreifenden digitalen Verwaltungsverfahren
beimessen. In der Bund-Länder-Finanzvereinbarung war
die Rede von einer Verabredung für Open-Data-Gesetze
auf Bundes- und Länderebene.
Die andere Frage bezieht sich auf die Datenhoheit bei
übergreifenden Verfahren. Wer hat bei Fachverfahren die
Hoheit über die Daten?
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
nern:
Zunächst zum Open-Data-Gesetz. Wenn Sie in dieser
Woche das sogenannte E-Government-Gesetz beschlie-
ßen und der Bundesrat dem nicht widerspricht – es ist,
glaube ich, nicht zustimmungspflichtig –, dann haben wir
die gesetzliche Grundlage für Open Data. Noch einmal
für alle: Open Data heißt, dass die vom Steuerzahler be-
zahlten, durch die Verwaltung erstellten Daten der Öf-
fentlichkeit zur Verfügung gestellt werden, sodass sie von
der Öffentlichkeit genutzt werden können. Das ist anders
als beim Informationsfreiheitsgesetz, bei dem es um eine
einzelne Information geht. Es geht also um Massenda-
ten, aus denen Projekte entwickelt werden können: für
Verkehrslenkung, für Gesundheitsprojekte. Das ist neu.
Auch hier mussten die Verwaltungen zum Jagen getragen
werden. Das macht natürlich Arbeit. Man muss die Da-
ten auch so aufbereiten, dass sie für alle Beteiligten nutz-
bar sind. Das geht natürlich nur mit den Daten, die der
Bund zur Verfügung hat. Das muss parallel geschehen
mit den Daten, die die Länder zur Verfügung haben, etwa
die Geodaten. Bei den Geoinformationsdiensten – Lan-
desvermessungsämter, Bundesamt für Kartographie und
Geodäsie – gibt es immer Debatten darüber, wer die Ho-
heit über die Daten hat. Am besten macht man das koor-
diniert. Das muss im IT-Planungsrat besprochen werden.
Vielen Dank. – Nächste Fragestellerin: Britta
Haßelmann für Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Vielen Dank auch,
Herr Minister, für Ihre Einführung. Wenn wir über den
ganzen Bereich der digitalen Verwaltung sprechen, kön-
nen wir das Thema Cybersicherheit und Cyberangriffe
nicht ausblenden, gerade angesichts der Entwicklungen
und der Ereignisse in den letzten Tagen und auch der
umfangreichen Berichterstattung zum letzten großen Cy-
berangriff. Wir im Deutschen Bundestag waren ja auch
schon Opfer von Cyberangriffen. Meine Frage an Sie:
Glauben Sie, dass Sie mit der bestehenden Struktur, die
wir im Moment haben, wirklich ausreichend darauf vor-
bereitet sind, öffentliche Verwaltung, öffentliche Einrich-
tungen, öffentliche Dienstleister wie Krankenhäuser und
andere zu schützen, oder muss da nicht eine ganz andere
Reaktion auch unsererseits erfolgen, was das Bundesamt
für Sicherheit in der Informationstechnik und andere Fra-
gen angeht?
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
nern:
Frau Präsidentin, das ist jetzt schon eine Frage, die
über das heutige Thema der Befragung hinausgeht. Ich
will sie aber gerne unter dem Chapeau beantworten. Es
war zwar heute nicht Gegenstand der Berichterstattung,
aber ich würde dazu gerne etwas sagen. Wenn Sie mir
eine halbe Minute mehr geben, Frau Präsidentin.
Mache ich.Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-nern:Frau Haßelmann, es war natürlich ein schwerwiegen-der Angriff – keine Frage. Deutschland ist dabei – Sie
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haben es gelesen – mit einem blauen Auge davongekom-men. Deutschland gehört nicht zu den hauptsächlich be-troffenen Ländern; wir stehen in der Liste der am meistenbetroffenen Länder auf Platz 13. Das BSI hat schon imFrühjahr, nach Bekanntwerden der Lücke, davor gewarntund gezeigt, wie man diese Lücke schließt. Vielleicht istauch deswegen die Betroffenheit in Deutschland gerin-ger. Das ist gut. Relativ gesehen, stehen wir im internati-onalen Vergleich gut da. In Russland ist das Innenminis-terium angegriffen worden, in China 20 000 Tankstellen,in den USA FedEx, in Taiwan gab es einen großen An-griff, in Großbritannien einen Angriff auf 60 Kliniken,in Spanien gab es große Angriffe. Da erscheint mancheKritik an dem, was in Deutschland ist, unangemessen.Aber es stellt uns nicht zufrieden; denn ich rechne mitweiteren Angriffen. Wir haben nun mit dem IT-Sicher-heitsgesetz als erstes Land in Europa einen ersten gro-ßen Schritt gemacht. Wir haben die NIS-Richtlinie undihre Umsetzung auf den Weg gebracht. Wir haben dasBSI gestärkt. Wir haben die erste sogenannte BSI-Kri-tisverordnung erlassen. Darin definieren wir Bereicheder kritischen Infrastruktur, für die es Sicherheitsaufla-gen und Meldepflichten gibt. Wir sind kurz vor der Ver-abschiedung der zweiten Kritisverordnung, mit der wirdann auch die kritischen Infrastrukturen etwa im Ver-kehrsbereich festlegen. Da geht es zum Beispiel um dieFrage: Sollen alle Flughäfen zur kritischen Infrastrukturgehören oder nur große, und welche sind die großen? Ichhoffe, dass wir darüber im Kabinett in kürzester Zeit Ei-nigkeit erzielen. – Das ist der gute Teil der Geschichte.Der schwierige Teil ist: Wir können uns nur um die kri-tische Infrastruktur kümmern. Wir können uns jetzt nichtum jedes Kreiskrankenhaus kümmern. Ich sage das des-wegen, weil ein Kreiskrankenhaus in Nordrhein-Westfa-len Opfer von Angriffen war. Das müssen die Verbände,die Organisationen, die Krankenhausgesellschaft, dasGesundheitswesen selber machen. Wir kümmern unsum die kritische Infrastruktur, mit strammen Auflagen,die, rechtlich gesehen, Eingriffe in den eingerichtetenund ausgeübten Gewerbebetrieb bedeuten. Wir müssenda Beratung anbieten und auch sonst viel machen. ImRahmen der Umsetzung der NIS-Richtlinie schaffen wirauch so eine Art Cyberfeuerwehr: Man schickt Mitarbei-ter des BSI in solche betroffenen Bereiche, um das Pro-blem zu lösen.Worüber wir in der nächsten Legislaturperiode redenmüssen – das ist vermutlich auch Teil Ihrer Frage –: Wieist da eigentlich die Zuständigkeitsverteilung im föde-ralen Staat? Denn natürlich ist allgemeine Gefahrenab-wehr Ländersache, aber ich kann mir nicht vorstellen,dass 16 Bundesländer die gleichen Kapazitäten aufbau-en. Deswegen muss in der nächsten Legislaturperiode inRuhe über diese Frage gesprochen werden.
Vielen Dank, Herr Minister. – Ich glaube, Sie waren
einverstanden, dass wir jetzt ein bisschen flexibler mit
der Zeit umgehen, weil diese Frage und die Antwort da-
rauf alle berührt.
Herr Minister, wir gehen jetzt zurück zum Thema der
heutigen Kabinettssitzung. Dazu habe ich jetzt noch vier
Fragestellerinnen. Dann folgen möglicherweise neue
Themenbereiche. Die nächste Fragestellerin ist Petra
Sitte.
Ich möchte schon an dieser Frage dranbleiben. Sie ha-ben selber gesagt, dass es aktuell dezentrale Strukturengibt, und zwar aufgrund der Tatsache, dass wir ein föde-rales System haben. Aber in der digitalen Verwaltung istnatürlich eine Menge Daten unterwegs, die konkret per-sonenbezogen sind, die geschützt werden müssen. Sichdarüber im Klaren zu sein, dass jetzt irgendjemand ir-gendwo etwas machen muss und dass die Verantwortungebenso auf dezentraler Ebene liegt, enthebt uns nicht derVerantwortung. Nicht allein deshalb versuchen Sie, übereine Grundgesetzänderung bestimmte Befugnisse aufBundesebene zu ziehen. Wäre es angesichts der jüngstenAngriffe nicht notwendig, mehr zu tun, also einen Schrittweiter zu gehen und mehr Ressourcen zur Verfügung zustellen – von mir aus kann auch eine Taskforce gebildetwerden –, damit wir nicht warten müssen, bis die Bedin-gungen auf der letzten Ebene der Kreisverwaltung erfülltwerden?Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-nern:Ich will zunächst trennen zwischen den Themen „Zu-gang“ und „leichtere Möglichkeit für Bürger, digital Ver-waltungsgeschäfte zu erledigen“. Das haben wir, glaubeich, jetzt abgearbeitet. Dabei spielt das Thema „Sicher-heit“ eine große Rolle; darauf zielen Sie, glaube ich, ab.Ich erinnere an die Diskussion über das Thema IT-Si-cherheitsgesetz, die nicht ganz neu war. Damals habendie Betroffenen gesagt: Was bildet der Staat sich eigent-lich ein, uns vorzuschreiben, wie wir IT-Struktur zu be-treiben haben? Das kann man uns doch gefälligst selbstüberlassen. – Aber wir haben gesagt: Nein, wenn ihr einekritische Infrastruktur betreibt, deren Funktionieren fürunser Gemeinwesen nötig ist, dann ist es nicht zu vielverlangt, wenn wir von euch entsprechende IT-Sicher-heitsvorkehrungen fordern, gegebenenfalls verbundenmit Meldepflichten, um weitere Gefahren abzuwenden.Es ist uns in dieser Legislaturperiode gelungen, eine ent-sprechende Regelung auf den Weg zu bringen. Das istein großer Erfolg. Es ist das erste Gesetz dieser Art. Eskommen viele Kollegen zu uns und fragen: Wie habt ihrdas eigentlich gemacht?Wir sind noch weit davon entfernt, eine Schutzpflichtgegenüber anderen einzuführen. Ich will das an einemBeispiel deutlich machen. Wir haben lange darüber dis-kutiert, ob es im Auto eine Gurtpflicht geben sollte. Esgab große Widerstände. Die Vorstellung, dass wir jedemPkw-Fahrer vorschreiben, einen Sicherheitsgurt anzule-gen, stieß auf große Ablehnung. Es wurde argumentiert:Man bricht sich die Schulter, man kommt nicht aus demAuto, wenn das Auto brennt usw. Wir haben schließlichgesagt: Ein Sicherheitsgurt muss sein. – Wir haben auchgesagt: Ein Helm beim Motorradfahren muss sein. –Beim Fahrradfahren und beim Skifahren haben wir ge-Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
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sagt: Das verpflichtende Tragen eines Helmes muss nichtsein, trotzdem nutzen ihn viele.Also: Eine politische Mehrheit, um für jedes mittel-ständische Unternehmen und für jede Einzelperson Vor-schriften zu erstellen und zu sagen: „Das müsst ihr straf-bewehrt und sanktionsbewehrt einführen, sonst dürft ihrnicht am Internet teilnehmen“, sehe ich, ehrlich gesagt,noch nicht.
Vielen Dank. – Matthias Schmidt ist der nächste Fra-
gesteller.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Vielen Dank, Herr
Minister. Sie haben in Ihrem einleitenden Vortrag über
das Datenaustauschverbesserungsgesetz berichtet. Kön-
nen Sie uns sagen, ob die Ausstattung mit Hard- und
Software auf allen Ebenen inzwischen abgeschlossen ist?
Meine zweite Frage lautet: Wie ist der Stand bei der Re-
gistrierung der Flüchtlinge?
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
nern:
Die Hardwareausstattung auf Bundesebene ist ausge-
rollt. Wir haben den Ländern die sogenannten PIK-Gerä-
te, auf die Sie anspielen, zur Verfügung gestellt, und zwar
über unseren Bedarf hinaus. Die Länder haben gesagt:
Wir nehmen sie gerne und verteilen sie.
Wo wir immer noch einen Mangel haben, ist bei der
Ausstattung mancher Ausländerbehörden mit Fingerab-
druckgeräten. Das sind die Geräte, die jede Meldebehör-
de hat, wenn man einen Personalausweis beantragt. Das
liegt, ehrlich gesagt, überhaupt nicht in unserer Zustän-
digkeit und auch nicht in unserer Verantwortung, sondern
die Verantwortung liegt hier bei den Ländern. Dennoch
haben wir in der letzten Runde der MPK gesagt, dass wir
bereit sind, finanziell noch einmal zu helfen, obwohl der
Betrag weit unter 10 Millionen Euro liegt.
Wo wir noch keine entsprechende Ausstattung haben,
ist bei den Sozialbehörden. Aber das wäre wichtig, um
Sozialbetrug bekämpfen zu können. Wir arbeiten, wie
Sie wissen, mit dem BMAS an einem Gesetzesvorhaben,
dass die Sozialbehörden ermächtigt werden, entspre-
chende Abfragen zu machen und Fingerabdrücke zu neh-
men. Man muss über die Ausstattung der Sozialbehörden
reden, aber dass der Bund dafür in Verantwortung ge-
nommen wird, dass sich eine Ausländerbehörde in einem
Landkreis ein Gerät kauft, das nicht sehr teuer ist, das ist
irgendwie schon etwas Besonderes.
In Ihrer zweiten Frage ging es um den Stand der Re-
gistrierung. Die Registrierung ist abgeschlossen. Es gibt
ein gewisses Problem bei unbegleiteten minderjährigen
Flüchtlingen, weil ein nicht unerheblicher Teil der un-
begleiteten minderjährigen Flüchtlinge gar keinen Asyl-
antrag stellt, sondern sie sind einfach da. Sie besuchen
zum Teil auch Schulen. Aber Jugendämter und Betreuer
halten es für richtig, keinen Asylantrag zu stellen. Das
ist meines Erachtens falsch. Deswegen ist im Gesetz zur
besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, das morgen
hier verabschiedet wird, vorgesehen, dass die Jugendäm-
ter bei entsprechender Kenntnis gehalten sind, einen
Asylantrag für die Jugendlichen zu stellen.
Also, im Bereich unbegleiteter Jugendlicher, die sich
nicht melden, mag es noch Registrierungsprobleme ge-
ben; aber man kann niemanden registrieren, der nicht er-
scheint. Ansonsten ist die Registrierung der Asylbewer-
ber abgeschlossen.
Vielen Dank. – Konstantin von Notz ist der nächste
Fragesteller.
Frau Präsidentin, ich habe eine Frage zu WannaCry.
Soll ich die zurückstellen, oder darf ich sie stellen, Herr
Minister?
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
nern:
Von mir aus gerne. Sie müssen die Präsidentin fragen.
Die ist tolerant. Das weiß ich aus Erfahrung.
Es geht hier eh drunter und drüber.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
nern:
Dass es hier drunter und drüber geht, weise ich mit
Abscheu und Empörung zurück, Frau Präsidentin.
Herr Minister, bei diesem sehr ernstzunehmenden Cy-
berangriff mit WannaCry wurde eine Sicherheitslücke
ausgenutzt, die offensichtlich lange Zeit quasi im Besitz
der NSA gewesen ist. Können Sie ausschließen, dass
auch deutsche Sicherheitsbehörden vor der Veröffentli-
chung, also vor diesem Leak, im Besitz dieser Sicher-
heitslücke waren? Und was sagt es über die Sicherheits-
strategie der Bundesregierung aus, wenn auch deutsche
Sicherheitsbehörden Lücken ankaufen, nicht etwa um sie
zu schließen, sondern um sie für häufig legitim anmuten-
de Interessen offenzuhalten, auch wenn das in der Kon-
sequenz brutal ist?
Herr Minister.Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
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Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-nern:Die starke Ausbreitung von WannaCry ist nicht alleinauf das Zurückhalten von Sicherheitslücken – wie etwabei der NSA – zurückzuführen. Die hier konkret ausge-nutzte Schwachstelle wurde von Microsoft bereits Mit-te März, also einen Monat vor der Veröffentlichung desNSA-Leaks, durch einen Patch für aktuelle Betriebssys-teme geschlossen. Wichtig ist, dass nach dem Bekannt-werden von Schwachstellen die Hersteller ihren Nutzernzeitnah notwendige Sicherheitspatches bereitstellen. Dasgilt gerade für die Betreiber kritischer Infrastrukturen.Das BSI hat entsprechende Hinweise gegeben.Die Bundesregierung – das ist ja der Kern Ihrer Fra-ge – steht weiterhin zu den 1999 beschlossenen Kryp-toeckwerten. Das heißt: keine Schwächung von Ver-schlüsselungen durch den Einbau von Hintertüren. Wirsprechen uns gegen den Einbau von Hintertüren – „Back-doors“ heißen sie im Englischen – aus.Eine Sicherheitslücke ist etwas anderes als eine solcheHintertür. Bei Sicherheitslücken ist eine mögliche Nut-zung durch die Sicherheitsbehörden sorgfältig zu prüfen.Dabei sind mögliche IT-Sicherheitsrisiken zu bewertenund kritische Lücken an die Hersteller zu melden.
Vielen Dank. – Ich lasse noch zwei Fragen zu diesem
Themenbereich zu – sonst kommen wir wirklich nicht
durch –, und zwar von Frau Esken und von Kollegin Pau.
Ich möchte am Rande bemerken, dass die Kranken-
häuser durchaus zur kritischen Infrastruktur gehören und
deshalb auch unsererseits und nicht nur seitens der Kran-
kenhäuser selbst die Verantwortung besteht, sich in be-
sonderem Maße um die IT-Sicherheit zu kümmern.
Herr Minister, ich würde Ihnen aber gerne noch ein-
mal Gelegenheit geben, meine Frage zur Datenhoheit im
Portalverbund zu beantworten; denn die Zeit reichte lei-
der nicht, um die Frage zu beantworten.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
nern:
Da haben Sie recht. Dann will ich zu den Kranken-
häusern aber auch etwas sagen: Bei den Ressortverhand-
lungen im Vorfeld der BSI-Kritisverordnung – also vor
dem Angriff – haben die Vertreter des entsprechenden
Ressorts immer gesagt: Ein Kreiskrankenhaus gehört
doch nicht zur kritischen Infrastruktur, eine Universitäts-
klinik oder eine Zentrale für Blutkonserven vielleicht,
aber ein Kreiskrankenhaus nicht. – Als BMI wollten
wir den Kreis der kritischen Infrastrukturen tendenziell
durchaus weit fassen. Die Betroffenen wollten ihn mög-
lichst eng halten, weil die Zuordnung zur kritischen In-
frastruktur mit Kosten und Meldepflichten verbunden ist.
Vielleicht wird darüber nach diesem Angriff noch einmal
nachgedacht. Auf jeden Fall gehört nicht jedes Kreis-
krankenhaus mit Blick auf die Gesundheitsversorgung in
Deutschland zur kritischen Infrastruktur. Man muss eine
Abgrenzung vornehmen.
Ich komme zu Ihrer zweiten Frage. Die Hoheit über
die Daten wird, wie ich meine Länderkollegen ken-
ne, natürlich bei dem jeweils Zuständigen bleiben. Das
wird im IT-Planungsrat zu beraten sein. Der Clou dieses
Portalverbunds besteht darin, dass wir dem Bürger die
Möglichkeit geben, durch dieses eine Portal faktisch ge-
nauso in die Kreisverwaltung X zu kommen wie in die
Verwaltung des Landes Y, ohne dass der Bürger merkt,
dass dahinter komplizierte Schnittstellen und Rechtsfra-
gen liegen. Ich glaube, wenn wir die Hoheitsfrage über
die Daten stellen würden, wäre es sehr schwierig, diesen
Portalverbund durchzusetzen.
Vielen Dank. – Jetzt Petra Pau.
Wir springen ein bisschen hin und her. Ich möchte zu-rück zu der Frage der Kollegin Sitte, in der es um dieAbsicherung ging. Mir geht es in diesem Fall um Fol-gendes: Wenn Sie jetzt diese unterschiedlichen Lösungenimplementieren, ganz egal, ob wir mit dem Ummeldendes Fahrzeuges beginnen oder womit auch immer, inwie-weit wird das durch eine Absicherung und entsprechendeZertifizierung durch das BSI begleitet? Wir sind hier tat-sächlich in einem Wettlauf mit Personen, die von anderenInteressen geleitet sind. Es geht darum, sowohl die Infra-struktur als auch die dort behandelten und vorhandenensensiblen Daten zu schützen.Wenn ich das gleich noch anschließen darf: Michwürde auch interessieren – das können wir vielleicht ananderer Stelle noch einmal besprechen –, wie wir dieUmsetzung dieses ambitionierten Programms öffentlichbegleiten, damit der Bürger, der diese Möglichkeiten nut-zen soll und kann, sich dazu auch in die Lage versetztfühlt.Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-nern:Frau Abgeordnete Pau, Sie fragen mich hier sozusa-gen nach der Umsetzung eines Gesetzes, das es noch garnicht gibt.
– Klar. – Ich will es einmal so sagen: Es gibt im Inter-net einen Zielkonflikt zwischen Bequemlichkeit undSicherheit. Ich habe das oft an einem Beispiel deutlichgemacht: Den Indianer finden alle cool. Er ist beweglich,aber ungeschützt. Der Ritter ist geschützt, aber unbe-weglich. – Viele glauben, sie könnten im Internet Ritterund Indianer gleichzeitig sein. Das funktioniert nicht.Das heißt, natürlich muss, zum Beispiel bei einem sol-chen Portalverbund, eine sichere Identifizierung des Bür-gers stattfinden. Da wird die PIN nicht ausreichen. Dabrauchen wir einen zweiten Schlüssel. Wir empfehlen,dafür den elektronischen Personalausweis zu nutzen. Ermuss dafür handhabbarer sein als jetzt; das ist ein an-deres Vorhaben, an dem wir noch arbeiten. Über eineNFC-Schnittstelle wäre dann die Identifikation mit demHandy möglich. Dahinter muss es entsprechende Sicher-
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heitsvorkehrungen geben. Wir sind gut beraten, das BSIda zu beteiligen.Das Zweite ist die Öffentlichkeitsarbeit. Diese mussman, denke ich, mit Anwendungen machen. Wir habenmit dem elektronischen Personalausweis ein gutes Pro-dukt und wenig Anwendungen. Wenn man diesen an-preist und sagt, man könne ganz viel damit machen, esaber wenige Anwendungen gibt, dann sind die Menschenenttäuscht. Daher würde ich empfehlen, dass wir bezüg-lich des Portalverbunds eine große Öffentlichkeitskampa-gne machen. Im Rahmen dieser Kampagne könnten wirden Bürgern die ersten für sie signifikanten, erkennbarenund nutzbaren Anwendungen vorstellen. Dann könntenwir sagen: Mit diesem Portal kann man jetzt diese undjene Anwendung nutzen. – Das ist besser, als abstrakt zusagen: Jetzt habt ihr einen Portalverbund.
Vielen Dank, Herr Minister. – Dann kommen wir jetzt
zum zweiten Teil der Befragung der Bundesregierung.
Ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: Gibt
es Fragen zu anderen Themen der heutigen Kabinetts-
sitzung? Wenn dem nicht so ist – ich sehe das –, dann
kommen wir zum dritten Teil – hier haben sich bereits
Fragesteller gemeldet –, und zwar zu Fragen an die Bun-
desregierung zu sonstigen Themen. Da hatten sich Frau
Hänsel und Herr Beck gemeldet. – Frau Hänsel, bitte.
Danke schön. – Herr Minister, wir haben ja den skan-
dalösen Zustand, dass Bundestagsabgeordnete nicht ih-
ren Auftrag wahrnehmen können, die Parlamentsarmee
zu kontrollieren und sich Mandate anzuschauen. Die tür-
kische Regierung verweigert Abgeordneten den Besuch
von Bundeswehrsoldaten in Incirlik. Was wurde im Ka-
binett dazu besprochen? Wird dieser wirklich unhaltba-
re Zustand, dass die Kontrolle durch das Parlament hier
nicht wahrgenommen werden kann, sofort aufgelöst und
nicht etwa erst dann, wenn eine alternative Luftwaffen-
basis gefunden ist?
Herr de Maizière, bitte.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
nern:
Frau Abgeordnete, im Kabinett haben wir heute nicht
darüber gesprochen. Aber natürlich gibt es darüber Ge-
spräche in der Bundesregierung. Für weitere Details steht
der Parlamentarische Staatssekretär Brauksiepe gleich
zur Verfügung. Ich kann Ihnen aber sagen, dass erstens
nach alternativen Standorten nicht erst seit gestern oder
vorgestern gesucht wird und dass zweitens natürlich auch
die Gespräche mit der türkischen Regierung fortgesetzt
werden, um diesen, wie Sie sagen, unhaltbaren Zustand
zu beenden. Dazu wird auch der NATO-Gipfel in kürzes-
ter Zeit Gelegenheit bieten.
Vielen Dank. – Dann kommt der Kollege Beck.
Vielen Dank. – Herr Minister, ich beziehe mich auf
einen Vorgang, der sowohl in der deutschen als auch in
der israelischen Presse aktuell stark diskutiert wird. Nach
Presseinformationen der Washington Post hat der ame-
rikanische Präsident an den russischen Außenminister
Lawrow höchst geheim gehaltene Daten weitergegeben,
unter anderem eine IS-Quelle preisgegeben. Das war
eine Information, die er von einem befreundeten Ge-
heimdienst bekommen hat. Ich möchte wissen: Was hat
die Bundesregierung im Kabinett oder auch auf Ressort-
ebene, im Sicherheitsrat darüber diskutiert, wie wir vor
diesem Hintergrund damit umgehen in der Zusammenar-
beit mit den amerikanischen Geheimdiensten bezüglich
Datenweitergabe, wenn wir nicht sicher sein können,
dass das an alle möglichen Seiten weitergegeben wird,
von denen wir es nicht beabsichtigen oder wünschen?
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
nern:
Herr Abgeordneter Beck, zunächst möchte ich Ihnen
sagen, dass wir das aus der Presse und aus Twitter ver-
folgt haben. Das ist ja vielleicht noch kein abschließen-
des Lagebild.
Zweitens hatten wir oft das Problem in Deutschland,
dass wir Informationen von befreundeten Nachrichten-
diensten bekommen haben, die – aus welchen Gründen
auch immer – aus der Exekutive oder Legislative durch-
gestochen worden sind. Also, wir sind mitnichten dieje-
nigen, die mit dem Finger auf andere zeigen können. Ich
habe die Exekutive einbezogen, damit dort kein falscher
Zungenschlag hineinkommt. Deswegen meine ich, dass
alle gut beraten sind, insbesondere sicherheitsrelevante
Informationen von befreundeten Nachrichtendiensten,
die entweder die Quelle gefährden oder deren Bekannt-
gabe sicherheitsnotwendige Maßnahmen verhindert, ge-
heim zu halten. Das gilt für alle Beteiligten – in den USA
und in Deutschland.
Vielen Dank. – Jetzt kommt der Kollege von Notz.
Herr Minister, wir kommen gerade aus der Innenaus-schusssitzung, bei der Franco A. Gegenstand der Diskus-sionen war. Ich darf zur Einleitung meiner Frage meinUnverständnis zum Ausdruck bringen, wie wenige In-formationen wir im Innenausschuss bekommen habenangesichts der Tatsache, dass es sich um einen Einzel-kämpfer bei der Bundeswehr handelt, der mit konspirativagierenden Kollegen mehrere Tausend Schuss Munitionhatte und offensichtlich den Bundespräsidenten umbrin-gen wollte. Ich frage mich, was eigentlich noch passierenmuss, damit die Leute bei der Aufklärung in die Gängekommen. Deswegen frage ich Sie: Kann man bis zumheutigen Zeitpunkt ausschließen, dass es ein konspira-tives Zusammenwirken zwischen dem BAMF-Befra-Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
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ger R., wenn ich es richtig im Kopf habe, und Franco A.gab? Und wie ist das eigentlich im Hinblick auf weitereUmstände, die bis heute völlig im Unklaren sind? Waswusste das BfV über Franco A.? Wie war der Stand? Istman tatsächlich erst durch die Anfragen österreichischerSicherheitsbehörden auf diesen unfassbaren Fall gekom-men?Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-nern:Zur ersten Frage möchte ich Ihnen sagen, dass es nachden mir vorliegenden Informationen – ich war natürlichnicht im Innenausschuss – Hinweise auf ein kollusivesZusammenwirken dieses Herrn mit den Mitarbeitern imBAMF, die ja, wie Sie wissen, zum Teil auch von derBundeswehr waren, bisher nicht gibt. Die Ermittlungendes BKA sind natürlich nicht abgeschlossen. Über Vor-gänge, wann das BfV zu welchen Dingen befasst war, istnicht in öffentlicher Sitzung Bericht zu erstatten, sondernim Parlamentarischen Kontrollgremium. Im Übrigen binich zuversichtlich, dass das BKA, das ja die Ermittlungenführt, versucht, dieses bis zum innersten Kern aufzuklä-ren.
Vielen Dank, Herr Minister. – Volker Beck und Renate
Künast.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich komme der Bitte
des Kabinettsreferats des Auswärtigen Amts nach, eine
Frage zu stellen.
– Auf Briefe antwortet man nicht; da bekommt man die
Antwort, man möge die Frage dem Frageverkehr ord-
nungsgemäß zuführen. – Welche zivilgesellschaftlichen
Organisationen wurden bei offiziellen Besuchen von
Bundesministern oder der Bundeskanzlerin bei Besuchen
in Israel und in besetzten Gebieten jeweils wie oft getrof-
fen? Bitte insgesamt entweder nach Ministerbesuchen
oder/und nach Organisationen mit Häufigkeit für die Jah-
re 2014, 2015, 2016 und 2017 aufschlüsseln.
Ich hätte ein gewisses Verständnis, wenn Sie die Auf-
schlüsselung nicht unmittelbar und spontan aus dem Är-
mel schütteln könnten, würde mich dann aber über eine
schriftliche, umfassende und wahrheitsgemäße Beant-
wortung noch in dieser Woche freuen.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
nern:
Frau Präsidentin, wie gehen wir geschäftsordnungs-
mäßig damit um? Die Bundesregierung soll ja nur eine
Minute antworten. Darf ich das an Frau Böhmer weiter-
geben?
Ich wollte gerade schon sagen: Wir hatten schon ein-
mal einen Konflikt mit der Redezeit; ich erinnere mich
daran. Sie haben für die Antwort eine Minute. Aber viel-
leicht können Sie einen Verfahrensvorschlag machen,
wie die Frage beantwortet werden kann.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
nern:
Darf ich Frau Staatsministerin Böhmer das überlas-
sen?
Sie dürfen, ja. – Bitte machen Sie einen Verfahrens-
vorschlag zur Beantwortung dieser Frage.
D
Ganz herzlichen Dank. – Ich will etwas zum Verfah-
ren sagen. Aber zuerst, lieber Herr Beck, danke ich Ihnen
für das Verständnis gegenüber den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern des Auswärtigen Amts. Ich darf Ihnen zu-
sichern, dass die Frage schriftlich und möglichst zügig
beantwortet wird.
Ich bitte um Verständnis, dass sie innerhalb der Bundes-
regierung abgestimmt werden muss und dies eine gewis-
se Zeit braucht. Aber wir werden alles daransetzen, dass
Sie bald eine Antwort haben.
Vielen Dank, Frau Böhmer. – Es haben sich noch Frau
Künast und Frau Haßelmann gemeldet. Danach würde
ich die Befragung der Bundesregierung gerne beenden,
weil es noch ein paar andere Fragen gibt.
Herr Minister, ich habe noch eine Frage zum FallFranco A., der mittlerweile vielleicht auch ein Fall Bun-deswehr ist. Ich möchte gerne von Ihnen wissen, wiedie Bundesregierung eigentlich sicherstellen will, dasssowohl der Deutsche Bundestag und seine Gremien alsauch die Staatsanwaltschaften umfassend informiert wer-den.Ich will Ihnen den Kontext dieser Frage erklären. Manhört in diesen Zusammenhängen ja immer wieder, dassDisziplinarvorgesetzte nicht „in completto“ die Unter-lagen und damit den ganzen Vorgang an die Staatsan-waltschaften abgeben, sondern nach eigenem Ermessenoffensichtlich Dinge zurückhalten. Ich möchte von Ihnenwissen: Wie stellen Sie sicher, dass es im Fall Franco A.nicht so sein wird und dass bei der Bundeswehr in Zu-kunft grundsätzlich etwas gilt, was meines ErachtensVoraussetzung für das Vertrauen der Bürgerinnen undBürger ist – das gilt gerade hier; immerhin sollte derBundespräsident umgebracht werden –, dass nämlichtatsächlich immer die ordentliche Strafgerichtsbarkeiteingeschaltet wird.Dr. Konstantin von Notz
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Ich füge einen kurzen Gedanken hinzu. Ich finde es un-säglich, dass über einen solchen Vorgang auch der Deut-sche Bundestag nicht umfassend informiert wird. Heutehat der Rechtsausschuss auf Antrag des AbgeordnetenLuczak mehrheitlich beschlossen, sich nicht mit diesemThema zu befassen, weil man erst einmal abwarten wol-le. Man wollte also keine Debatte über die Wehrdiszi-plinarordnung, das Thema Strafrecht und strafrechtlicheErmittlungen führen. Ich würde gerne Ihre Vorstellungenzu beiden Teilen hören.
Vielen Dank. – Auch Herr de Maizière hat jetzt eine
Minute länger Zeit.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
nern:
Vielleicht brauche ich sie gar nicht. – Frau Abgeordne-
te Künast, ich kann Ihnen bei der Aufsetzung bestimmter
Tagesordnungspunkte in Ihrem Ausschuss nicht helfen.
Das kann die Bundesregierung nicht entscheiden; das
muss der Ausschuss entscheiden.
Im Übrigen war die Verteidigungsministerin heute
wieder im Verteidigungsausschuss. Ich bin ganz sicher,
dass die Verteidigungsministerin und das Ministerium al-
les in ihrer Macht Stehende tun, um alle Fragen von Ab-
geordneten, die aus Rechtsgründen zu beantworten sind,
ordnungsgemäß zu beantworten. Manche Dinge sind al-
lerdings von anderen Gremien zu bearbeiten – das gilt
zum Beispiel dann, wenn es um den MAD geht – oder
unterliegen anderen Rechtsvorschriften, wie es etwa bei
Ermittlungs- und Disziplinarverfahren der Fall ist.
Vielen Dank. – Frau Haßelmann.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Minister, ich
finde, die Frage: „Befasst sich ein Rechtsausschuss mit
diesem Thema oder nicht?“ zeigt, dass die Koalitions-
fraktionen die Kontrolle über die Bundesregierung an
dieser Stelle völlig aus der Hand gegeben haben. Wie
man zum jetzigen Zeitpunkt sagen kann: „Damit brau-
chen wir uns nicht zu befassen; es besteht kein Bera-
tungsbedarf“, ist mir vollkommen unerklärlich.
Jetzt zu meiner Frage. Ich habe der Presse entnom-
men, dass sich das Bundesverteidigungsministerium im
Zusammenhang mit der Aufarbeitung des Falls Franco A.
jetzt doch mit dem Thema „Umbenennung von Kaser-
nen“ beschäftigen will. Dieses Thema haben wir in der
letzten Legislaturperiode mehrfach angestoßen, ebenso
wie das Thema „Wehrmachtsdevotionalien in Kasernen“.
Wie erklären Sie sich eigentlich, dass dieses Thema so
lange herumlag? Sie als CDU/CSU stellen ja seit zwölf
Jahren den Verteidigungsminister. Ist Ihnen jetzt erst auf-
gefallen, dass wir hier eine Problematik haben, die zu
bearbeiten ist?
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
nern:
Frau Präsidentin, ich muss wieder fragen, ob diese
Frage der Parlamentarische Staatssekretär Brauksiepe
beantworten kann.
– Ja, in der Tat, und wir haben etliche Kasernen umbe-
nannt und einiges auf den Weg gebracht, damit es zu Um-
benennungen kommt.
Allerdings geschah das immer im Einvernehmen mit der
Kommune, Frau Abgeordnete Haßelmann. Es ist zwar
nicht von Verfassungs wegen
zwingend, aber doch der Staatspraxis entsprechend, dass
die Benennung von Kasernen im engsten Einvernehmen
mit den Kommunen zustande kommt, und Sie würden
sich wundern, wie manche Kommunen an dem Namen
ihrer Kaserne hängen.
Herr Brauksiepe, wenn Sie mögen, können Sie kurz
auf die Frage eingehen.
D
Ja.
Ich glaube, das macht Sinn.
D
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Kollegin, da eseine entsprechende Frage für die Fragestunde gegebenhat, kann ich Ihnen ressortabgestimmt und in Ergänzungzu dem, was der Bundesminister des Innern ausgeführthat, noch Folgendes dazu vortragen:Bei Kasernenbenennungen folgt die Bundeswehr dembewährten Grundsatz, Namensgebungen in einem Mei-nungsbildungsprozess bei den betroffenen Bundeswehr-angehörigen „von unten“ zu initiieren. Dies entsprichtden Grundsätzen der Inneren Führung und dem Leitbilddes mündigen Staatsbürgers in Uniform.Im Zuge der gegenwärtigen Diskussion zum Traditi-onsverständnis der Bundeswehr wurde entschieden, die-sen Prozess dort erneut anzustoßen, wo Kasernen nachPersonen oder anderweitig benannt sind, die nicht imEinklang mit dem heutigen Traditionsverständnis stehenRenate Künast
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könnten. Ziel ist es dabei, zu prüfen, ob die Benennun-gen der Kasernen sinnstiftend im Sinne des Traditions-verständnisses der Bundeswehr sind oder ob eine Um-benennung von Kasernen zu erfolgen hat. Es gilt daher,bei den Bundeswehrangehörigen einen offenen Mei-nungsbildungsprozess anzustoßen und gemeinsam mitden Vertretern der Kommunen in einen entsprechendenDialog zu treten. Der Prozess soll noch im laufenden Jahrabgeschlossen werden.
Vielen Dank, Kollege Brauksiepe. – Der letzte Frage-
steller ist Kollege Mutlu.
Frau Präsidentin, vielen Dank. – Ich habe eine Frage
zu dem neuen Fall einer verhafteten deutschen Journa-
listin in der Türkei. Neben Deniz Yücel sitzt seit Anfang
Mai Mesale Tolu, gebürtige Ulmerin, in der Türkei im
Gefängnis. Sie ist Journalistin und hat ausschließlich
die deutsche Staatsbürgerschaft. Insofern greift auch das
Völkerrecht.
Ich frage Sie: Was will die Bundesregierung jenseits
von Presseverlautbarungen und Bekundungen, dass sie
irritiert und verärgert ist, konkret tun, um die deutsche
Staatsbürgerin, die deutsche Journalistin, aus dem Ge-
fängnis zu bekommen?
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
nern:
Herr Abgeordneter Mutlu, natürlich bestehen wir auf
vollen konsularischen Zugang, und die Gespräche laufen.
Vielen herzlichen Dank, Herr Minister. – Damit been-
de ich jetzt die Befragung der Bundesregierung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
Drucksachen 18/12321, 18/12352
Die Parlamentarischen Geschäftsführer und Ge-
schäftsführerinnen haben sich darauf verständigt, dass die
später folgende Aktuelle Stunde pünktlich um 14.30 Uhr
aufgerufen werden soll. Das heißt, die heutige Fragestun-
de wird verkürzt. Fragen, die heute nicht live beantwortet
werden können, werden schriftlich beantwortet.
Zu Beginn der Fragestunde rufe ich gemäß Num-
mer 10 Absatz 2 der Richtlinien für die Fragestunde die
dringliche Frage 1 des Abgeordneten Andrej Hunko auf
Drucksache 18/12352 auf:
Inwiefern wird die Bundesregierung unverzüglich, als
Konsequenz aus der aus ihrer Sicht „absolut inakzeptablen“
Nichtgenehmigung des „absolut notwendigen“ Besuches
durch die türkische Regierung, den Abzug der Bundeswehr
aus Incirlik einleiten, für den bereits im letzten Jahr alternative
Standorte gesucht wurden, und welche Auswirkungen hat dies
auf die Millioneninvestitionen, die die Bundesregierung zum
Zur Beantwortung dieser Frage aus dem Ge-
schäftsbereich des Ministeriums der Verteidigung ist
Dr. Brauksiepe anwesend.
D
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege, ich
antworte Ihnen wie folgt: Das Bundesministerium der
Verteidigung wird die im Dezember 2016 im Rahmen
einer Ersterkundung gewonnenen Erkenntnisse bezüg-
lich möglicher alternativer Standorte konkretisieren und
die aktuelle Verfügbarkeit prüfen. Ein entsprechendes
Erkundungsteam verlegt dazu aktuell nach Jordanien.
Bislang wurden keine Investitionen am Standort Incirlik
getätigt, die über Maßnahmen zur Instandhaltung der ge-
nutzten Infrastruktur hinausgehen.
Vielen Dank. – Jetzt hat sich der Kollege Gehrcke ge-
meldet.
D
Gibt es nicht erst Nachfragen des Fragestellers?
Ja, ja. Es ist gut, dass Herr Brauksiepe immer darauf
achtet, dass ich keinen Fehler mache. Vielen herzlichen
Dank.
D
Sehr gern, Frau Präsidentin.
Ich weiß, das tun Sie gerne. – Herr Hunko, bitte.
Vielen Dank. – Es geht um die skandalöse Verweige-rung des Besuchsrechts des Parlamentes am Standort inIncirlik. Wir hören dazu von der Bundesregierung durch-aus starke Worte. Sigmar Gabriel spricht von „Erpres-sung“, die Bundeskanzlerin etwa sagt, das sei „inakzep-tabel“. – Das ist natürlich völlig richtig.Aber wir haben gerade erfahren, dass das Thema auchnach diesem neuen Vorfall, dass also der Verteidigungs-ausschuss nicht nach Incirlik fahren durfte, im Kabinettnicht behandelt wurde. Man findet zwar starke Worte fürdie deutsche Öffentlichkeit, hält aber offensichtlich amMandat für Incirlik fest. Nachdem wir jetzt nicht mehrvon einer Parlamentsarmee reden können, weil es keinBesuchsrecht gibt, noch einmal die Frage: Gibt es Ab-zugsüberlegungen, ganz konkret und ganz unverzüglich?Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepehttp://www.tagesschau.de/incirlik-besuchsverbot-103.htmlhttp://www.tagesschau.de/incirlik-besuchsverbot-103.htmlhttp://www.tagesschau.de/ausland/bundeswehr-tuerkei-111.html
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Herr Brauksiepe, bitte.
D
Herr Kollege, was das Thema der Kabinettsbefassung
angeht, wissen Sie, dass das entsprechende Bundestags-
mandat durch einen Antrag der Bundesregierung, der im
Kabinett beschlossen worden ist, zustande kam.
Ich kann ansonsten nur die Ausführungen wieder-
holen, die ich schon gemacht habe. Es hat schon im
letzten Jahr Erkundungen gegeben. Diese werden jetzt
konkretisiert. Gerade heute hat sich ein entsprechendes
Erkundungsteam auf den Weg nach Jordanien gemacht,
um genau das zu konkretisieren, was wir bisher an Er-
kenntnissen gewonnen haben. Darüber hinaus bedarf es
natürlich, wenn es zu einer Verlegung käme, einer ent-
sprechenden politischen Entscheidung. Die entsprechen-
den Erkundungen werden aber durchgeführt.
Herr Hunko, zweite Frage oder Rückfrage?
Ich kann mich, Herr Kollege, des Eindrucks nicht er-
wehren, dass hier auf Zeit gespielt wird. Dieser Zustand
besteht schon seit einem Dreivierteljahr und hat sich jetzt
noch einmal zugespitzt. Jetzt sagen Sie: Es wird ein Er-
kundungsteam nach Jordanien geschickt. Wir sagen: Es
ist unter diesen Bedingungen unmöglich, das Mandat
aufrechtzuerhalten.
Daran möchte ich eine Frage anschließen. Es handelt
sich nicht nur um Incirlik. Es gibt auch Bundeswehrsol-
daten in Konya, wo die AWACS stationiert sind; in In-
cirlik sind Tornados stationiert. Sollen auch die AWACS
nach Jordanien verlegt werden? Wir reden ja nicht nur
über den einen Standort, der nicht mehr der parlamen-
tarischen Kontrolle unterliegt, sondern über sämtliche
Standorte in der Türkei.
Herr Brauksiepe.
D
Herr Kollege Hunko, ich will zunächst einmal sagen:
Selbstverständlich ist und bleibt die Bundeswehr eine
Parlamentsarmee. Deswegen gibt es die von Ihnen selbst
zitierten Äußerungen der Bundesregierung. Das Stich-
wort „Parlamentsarmee“ bezieht sich selbstverständlich
auf alle Soldatinnen und Soldaten und auf sämtliche
mandatierten Einsätze innerhalb der Türkei und auch auf
Einsätze in anderen Gebieten, für die wir mit unseren
Soldatinnen und Soldaten mandatiert sind.
Danke schön. – Nächster Fragesteller: Wolfgang
Gehrcke.
Danke sehr, Frau Präsidentin. – Parlamentsarmee be-
deutet, dass das Parlament Soldatinnen und Soldaten ent-
senden kann, was es leider fast immer tut, aber nach § 8
des Parlamentsbeteiligungsgesetzes auch zurückholen
kann. Wenn im Bundestag eine Initiative von mindestens
zwei Fraktionen gestartet würde, die deutschen Soldaten
aus Incirlik sofort zurückzuholen: Wäre die Bundesre-
gierung bereit, dies öffentlich zu unterstützen, oder wäre
dies nicht der Fall?
D
Herr Kollege Gehrcke, die Bundesregierung hält in
Übereinstimmung mit der großen Mehrheit des Deut-
schen Bundestages den Kampf gegen den Terror des
sogenannten „Islamischen Staates“ für sinnvoll und not-
wendig und findet es richtig, dass sich die Bundeswehr
an diesem Kampf beteiligt.
Dafür sind unsere Soldatinnen und Soldaten mandatiert.
Wenn es andere Mehrheitsverhältnisse gäbe, würden
die natürlich auch zur Geltung kommen. Aber diese Fra-
ge stellt sich für die Bundesregierung nicht. Wir haben
ein Mandat. Das hat der Deutsche Bundestag mit gro-
ßer Mehrheit beschlossen. Dieses Mandat halten wir für
sinnvoll.
Vielen Dank. – Jetzt folgt die Kollegin Hänsel.
Danke schön. – Herr Staatssekretär, ich habe noch
eine Nachfrage. Es ist geplant, die Infrastruktur in Incir-
lik auszubauen. Sie haben eben gesagt, es seien da noch
keine Gelder geflossen. Stimmt das? Wie viel genau ist
bisher für den Ausbau in Incirlik geflossen? Wie viel ist
geplant? Und werden Sie es stornieren, oder läuft es jetzt
mit den Haushaltsplanungen einfach so weiter, dass das
Geld zur Verfügung steht und weiterhin Incirlik mit ein-
geplant wird?
Herr Brauksiepe.
D
Frau Kollegin, ich wiederhole meine Äußerung, dasskeine Investitionen getätigt worden sind, die über Maß-nahmen zur Instandhaltung der genutzten Infrastrukturhinausgehen. Das ist nichts, was ich als einen Ausbaubezeichnen würde.Es gibt kein Infrastrukturprotokoll. Es hat in der TatPlanungen gegeben, was den Ausbau der Infrastrukturangeht. Die bedürften aber natürlich der Zustimmung dertürkischen Seite. Dazu müsste ein Infrastrukturprotokoll
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unterzeichnet werden. Dies ist von türkischer Seite bis-her nicht erfolgt.
Es gibt Behelfslösungen im Bereich der Infrastruktur, diezurzeit dazu beitragen, dass wir mit der Situation, die wirdort haben, leben können, was die Bedingungen für unse-ren Einsatz angeht, wie es überhaupt so ist, dass aus mi-litärischer Sicht der Standort Incirlik vorzugswürdig ist.
Danke schön. – Dann Kollege Jürgen Trittin, bitte.
Frau Präsidentin! Herr Kollege Brauksiepe, ich stelle
zunächst einmal fest, dass Sie den Bundestag unvollstän-
diger unterrichten als die Presse. Ich habe heute Morgen
schon in einem öffentlich-rechtlichen Radiosender ge-
hört, dass auf das erste Vorauskommando nach Jordanien
ein zweites folgen wird, das von der Oberkommandie-
renden, Frau von der Leyen, angeführt wird. Das hätten
Sie bei dieser Gelegenheit hier auch erwähnen können.
Die Frage, die ich aber eigentlich habe, ist: Sind die-
se Vorauskommandos überhaupt nötig? Wäre es vor
dem Hintergrund der fehlenden verfassungsrechtlichen
Grundlagen für diesen Einsatz, der eben nicht in einem
System kollektiver Sicherheit stattfindet, was Voraus-
setzung nach dem Bundesverfassungsgericht ist, nicht
klüger, die Soldatinnen und Soldaten dort einfach abzu-
ziehen, statt sich nach Alternativstandorten umzusehen?
Herr Brauksiepe, bitte.
D
Herr Kollege Trittin, die Bundesregierung ist der
Auffassung, dass dieser Einsatz nicht nur politisch sinn-
voll und notwendig ist, sondern selbstverständlich auch
verfassungskonform ist. Das haben wir auch in anderen
Zusammenhängen, nämlich bei der Begründung des
Mandats wie auch bei der jeweiligen Verlängerung, hin-
länglich diskutiert. Dazu kann man selbstverständlich
verschiedene Auffassungen haben. Wer über die Verfas-
sungsgemäßheit eines Einsatzes, eines Gesetzes oder Be-
schlusses in unserem Rechtsstaat zu entscheiden hat, ist
bekannt. Es gibt keine Entscheidungen von zuständiger
Stelle, die die Verfassungskonformität des Einsatzes in-
frage stellen.
Ich habe darüber hinaus im Übrigen niemanden von
der Presse über irgendetwas in diesem Zusammenhang
informiert. Und erlauben Sie mir den Hinweis: Die Frau
Bundesministerin der Verteidigung ist kein Vorauskom-
mando,
sondern sie wird in den nächsten Tagen planmäßig einen
Besuch in Jordanien durchführen, meines Wissens auch
nicht ihren ersten. Sie ist nicht als Vorauskommando dort.
Vielen Dank. – Dann hat sich noch Katja Keul gemel-
det.
Der Kollege Trittin hat ja gerade noch einmal in Erin-
nerung gerufen, dass wir diesem Mandat aufgrund seiner
Verfassungswidrigkeit ohnehin nicht zugestimmt haben.
Inzwischen gibt es aber auch Veränderungen – unter an-
derem die Eskalation in den Beziehungen zur Türkei –,
sodass ich Sie an der Stelle fragen möchte, ob die Bun-
desregierung das Mandat als solches vor dem Hinter-
grund der Entwicklungen nicht auch sicherheitspolitisch
anders bewertet. Wir haben ja sowohl Probleme mit dem
Bündnispartner Türkei, müssen aber auch feststellen,
dass der Bündnispartner USA offensichtlich seine Richt-
linien geändert hat. Außerdem sind inzwischen seit März
wöchentlich ungefähr 30 tote Zivilisten durch unser eige-
nes Bündnis zu beklagen. Kommt also die Bundesregie-
rung selbst vor diesem Hintergrund nicht auch zu einer
Neubewertung dieses Einsatzes?
D
Frau Kollegin, Sie haben zu diesem Sachverhalt jaschon in vielerlei Zusammenhängen Fragen gestellt, dieich Ihnen auch beantwortet habe. Ich sage an dieser Stel-le noch einmal: Es gehört leider offenkundig zur Stra-tegie des sogenannten „Islamischen Staates“, Zivilistenin die Auseinandersetzung hineinzuziehen und auch zi-vile Opfer in Kauf zu nehmen. Die Koalition, die dortim Rahmen der Operation Inherent Resolve tätig ist, tutalles ihr Mögliche, um zivile Opfer zu vermeiden.Erlauben Sie mir darüber hinaus – ich selbst bin jaauch Abgeordneter und glaube, die Zuständigkeiten vonAbgeordneten einigermaßen zu kennen –, anzumerken,dass ich es doch sehr kühn finde, dass Sie meinen, hieren passant die Verfassungswidrigkeit eines solchen Ein-satzes feststellen zu können. Ich bin froh, dass wir einBundesverfassungsgericht haben, das sich zuständig-keitshalber mit Fragen der Verfassungswidrigkeit oderVerfassungsmäßigkeit von Beschlüssen des DeutschenBundestages beschäftigt.
– Sie haben hier keine Rechtsauffassung geäußert, son-dern Sie haben so getan, als sei das, was Sie hier gesagthaben, eine Tatsache.
Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
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(D)
– Sie können im Protokoll nachlesen, was Sie gesagt ha-ben.
Vielen Dank. – Jetzt hat noch Hubertus Zdebel das
Wort.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär Brauksiepe, ich
habe eine Nachfrage, weil mir das bei Ihren Ausführun-
gen noch nicht ganz klar geworden ist. Beziehen sich
denn jetzt die Verlegungspläne außer auf Incirlik, wo ja
die Tornados stationiert sind, auch auf Konya, wo die
AWACS-Flugzeuge stationiert sind? Vielleicht könnten
Sie dazu noch einige Ausführungen machen.
Herr Brauksiepe, bitte.
D
Nach dem, was mir bekannt ist, ging es sowohl bei der
schon vor Monaten durchgeführten Ersterkundung als
auch bei der jetzigen Konkretisierung der gewonnenen
Erkenntnisse darum, mögliche Alternativen zum Stand-
ort Incirlik zu erkunden. In diesem Zusammenhang hatte
ich schon gesagt – das wiederhole ich gerne noch ein-
mal –, dass aus militärischer Sicht Incirlik ein sinnvoller
Standort ist. Gleichwohl geht es bei den Erkundungen
um Alternativen zum Standort Incirlik. Andere Fragen
stellen sich für die Bundesregierung in diesem Zusam-
menhang jetzt nicht.
Es geht ja nun darum, dass der Verteidigungsausschuss
einen Besuch in Incirlik geplant hat. Es hatten auch schon
andere – ich könnte ein paar Geschichten darüber erzäh-
len – in der Vergangenheit Besuche in Incirlik geplant,
die nicht stattgefunden haben. Aber selbstverständlich
wiederhole ich auch gerne, dass wir unabhängig von In-
cirlik erwarten, dass Parlamentarier Bundeswehrsoldaten
an jedem Standort, an dem sie mandatierterweise im Ein-
satz sind, besuchen können.
Vielen Dank. – Nachdem die dringliche Frage beant-
wortet worden ist, rufe ich jetzt die Fragen auf Drucksa-
che 18/12321 in der üblichen Reihenfolge auf.
Ich möchte noch Folgendes sagen: Um 14.30 Uhr
wird die Fragestunde beendet. Dann fangen wir nämlich
mit der Aktuellen Stunde an.
Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reak-
torsicherheit. Ich begrüße Florian Pronold, der die Fra-
gen beantworten wird.
Ich rufe Frage 1 des Abgeordneten Hubertus Zdebel
auf:
Wie bewertet die Bundesregierung den Umstand, dass ein
für die Steuerung der BGE mbH zuständiger Abteilungsleiter
in der Zentralabteilung des Bundesministeriums für Umwelt,
Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (www.
bmub.bund.de/fileadmin/Daten_BMU/Organigramme/orga-
nigramm_bf.pdf) gleichzeitig Geschäftsführer der als Betrei-
noch für das BMUB Mitglied im Kuratorium der Stiftung
„Fonds zur Finanzierung der kerntechnischen Entsorgung“
absichtigt die Bundesregierung, diese Verbindung zu beenden?
Fl
Die Frage bezieht sich auf eine mögliche Interessen-
kollision des Leiters der Zentralabteilung unseres Minis-
teriums, der zugleich für die Steuerung der Bundesge-
sellschaft für Endlagerung zuständig und im Kuratorium
der Stiftung „Fonds zur Finanzierung der kerntechni-
schen Entsorgung“ ist.
Die Steuerung der BGE mbH erfolgt innerhalb des
Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit nicht allein durch die Zentralabteilung,
sondern in Zusammenarbeit mit der fachlich zuständigen
Abteilung für Reaktorsicherheit.
Der Aufbau der BGE mbH erfordert eine sehr intensi-
ve und enge Zusammenarbeit zwischen dem Bundesum-
weltministerium als beteiligungsführendes Ressort und
der BGE-Geschäftsführung. Die in der Fragestellung
angesprochene personelle Verzahnung ist insoweit un-
ter Effizienz- und Wirtschaftlichkeitsaspekten besonders
förderlich und sinnvoll. Es handelt sich um einen außer-
ordentlich komplexen und umfangreichen Umstrukturie-
rungsprozess, der erfordert, dass die beteiligten Akteure
besonders eng kooperieren, um Effizienz, Wirtschaftlich-
keit und Sozialverträglichkeit der Maßnahmen sicherzu-
stellen.
Die Stiftung „Fonds zur Finanzierung der kerntechni-
schen Entsorgung“ hat die alleinige Aufgabe, die von den
KKW-Betreibern einzubringenden Geldbeträge sicher
und gewinnbringend anzulegen. Aus dieser Zielsetzung
ergibt sich, dass eine Interessenvermischung im vor-
liegenden Fall nicht vorhanden sein kann, da ein Sach-
oder Interessenzusammenhang mit den Aufgaben eines
BGE-Geschäftsführers nicht ersichtlich ist.
Maßgebliche Kriterien für die Bestellung der Kurato-
riumsmitglieder sind Sachkunde und Berufserfahrung in
den Bereichen Finanzen und Wirtschaftlichkeitskontrol-
le. Vor diesem Hintergrund besteht in der Aufbauphase
der BGE mbH keine Veranlassung, eine Beendigung der
gewählten Konstellation in Betracht zu ziehen.
Vielen Dank, Florian Pronold. – Herr Zdebel, bitte.Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepehttp://www.bmub.bund.de/fileadmin/Daten_BMU/Organigramme/organigramm_bf.pdfhttp://www.bmub.bund.de/fileadmin/Daten_BMU/Organigramme/organigramm_bf.pdfhttp://www.bmub.bund.de/fileadmin/Daten_BMU/Organigramme/organigramm_bf.pdfhttps://www.bge.de/de/bge/geschaeftsfuehrung/https://www.bge.de/de/bge/geschaeftsfuehrung/http://www.politik-kommunikation.de/personalwechsel/heinen-esser-seeba-und-lennartz-sind-geschaeftsfuehrer-der-bge-687641419http://www.politik-kommunikation.de/personalwechsel/heinen-esser-seeba-und-lennartz-sind-geschaeftsfuehrer-der-bge-687641419http://www.politik-kommunikation.de/personalwechsel/heinen-esser-seeba-und-lennartz-sind-geschaeftsfuehrer-der-bge-687641419http://www.energate-messenger.de/news/173416/kuratorium-des-fonds-zur-atomaren-entsorgung-stehthttp://www.energate-messenger.de/news/173416/kuratorium-des-fonds-zur-atomaren-entsorgung-steht
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Danke, Frau Präsidentin. – Herr Staatssekretär
Pronold, zuerst einmal herzlichen Dank für Ihre Ausfüh-
rungen. Diese sind jedoch für mich nicht nachvollzieh-
bar. Wenn man sich alles vor Augen führt, dann stellt man
fest, dass es einer Aufteilung in unterschiedliche Institu-
tionen, was die Atommüllendlagerung angeht, gar nicht
bedurft hätte. Es kann doch nicht sein, dass jemand, der
in der Zentralabteilung des BMUB tätig ist, gleichzeitig
Geschäftsführer der BGE ist und damit quasi sich selber
Aufträge erteilt bzw. sich selber kontrolliert. Die Frage
betreffend das Kuratorium lasse ich ausdrücklich außen
vor, weil diese nicht so relevant ist. Aber bei dem erstge-
nannten Sachverhalt gibt es meines Erachtens zumindest
die Möglichkeit von Interessenverquickungen.
Von daher noch einmal meine Frage an Sie: Wann
wollen Sie diese Doppelfunktion bzw. – genau genom-
men – Dreifachfunktion endgültig beenden? Ich könnte
noch verstehen, dass das für die Anfangsphase nötig ge-
wesen wäre. Aber nach einer bestimmten Frist, zumin-
dest nach einem halben Jahr, stellt sich der Sachverhalt
doch ganz anders dar, und das wirft Fragen auf.
Herr Pronold.
Fl
Ich will das gerne noch einmal präzisieren. Die ent-
scheidende Frage lautet: Ist eine solche Doppelfunktion,
wie sie unzweifelhaft besteht, notwendig, oder hat sie
rechtlich problematische Interessenkollisionen zur Fol-
ge? Generell kann man das nicht beantworten. Vielmehr
muss immer der Einzelfall beurteilt werden.
Die Doppelfunktion hier dient ja dem notwendigen
Wissenstransfer in der Aufbauphase von Behörden und
der Unternehmensstrukturierung und kann sehr nützlich
sein. So war zum Beispiel von August 2016 bis April 2017
im Endlagerbereich der Präsident des Bundesamtes für
kerntechnische Entsorgungssicherheit gleichzeitig Leiter
des Bundesamtes für Strahlenschutz. Hier gab es also
auch für eine gewisse Zeit eine Doppelfunktion in einem
Umstrukturierungsprozess – und zwar unter Aufsicht des
Ministeriums –, um das Ganze zügig und effizient zu re-
geln. Ebenfalls eine Doppelfunktion hat der langjährige
Geschäftsführer der Asse-GmbH in der Gründungs- und
Aufbauphase inne, der nun gleichzeitig Geschäftsführer
der bereits angesprochenen BGE mbH ist. Sie haben si-
cherlich bemerkt, dass ich hierbei das Wort „Aufbaupha-
se“ betont habe. Wenn die Zusammenführung der ver-
schiedenen Institutionen, die momentan noch aufgeteilt
sind, in einer Gesellschaft abgeschlossen ist, stellt sich
selbstverständlich die Frage nach solchen Doppelfunkti-
onen neu und wird auch neu bewertet werden.
Danke schön. – Herr Zdebel.
Danke schön, Frau Präsidentin. – Das macht mir es
auf jeden Fall klarer, wie das tendenziell laufen soll. Die
Betonung liegt dann in der Tat darauf, diese Doppel-
funktion zu beenden. Ansonsten würde sich vor diesem
Hintergrund auch noch einmal die Frage stellen, wie Sie
eigentlich Vertrauen in den neuen Endlagersuchprozess
aufbauen wollen. Sie wissen ja, dass da sehr viel Vertrau-
en in den vergangenen Jahrzehnten verloren gegangen
ist – ich nenne insbesondere das Stichwort „Gorleben“ –,
und Sie können sich sicherlich vorstellen, dass, wenn sol-
che Doppel- und Dreifachfunktionen bekannt werden, es
gerade in der Öffentlichkeit viele Fragen aufwirft.
Deswegen sehr konkret: In welcher zeitlichen Schie-
ne halten Sie es denn für möglich, diese Doppelfunktion
bzw. – sagen wir es besser so – die personellen Unschär-
fen an dieser Stelle zu beenden?
Herr Pronold.
Fl
Gemäß dem Atomgesetz und der bereits umgesetzten
Beschlüsse der Endlagerkommission ist die Verschmel-
zung der BGE mbH mit den beiden anderen im Endlager-
bereich bestehenden Unternehmen vorgesehen, nämlich
der DBE mbH und der Asse-GmbH. Die Unternehmens-
fusion wird bis spätestens zum 31. Dezember dieses Jah-
res erfolgen. Damit sind dann die wesentlichen Struk-
turveränderungen im Endlagerbereich abgeschlossen.
Der Zeitpunkt dieser Verschmelzung wird, wie ich Ihnen
vorher schon gesagt habe, auch zum Anlass genommen,
die gegenwärtig aus guten Gründen bestehenden Doppel-
funktionen zu überprüfen.
Vielen Dank, Herr Pronold. – Als Fragestellerin habe
ich Sylvia Kotting-Uhl.
Die Fraktion Die Linke hat ja die Empfehlungen derEndlagerkommission, in denen auch diese neue Behör-denstruktur enthalten war, abgelehnt – anders als wirGrüne. Wir waren aktiv daran beteiligt, gerade auch beider Neuordnung der Behördenstruktur dafür zu wer-ben, dass die neu zu gründende BGE unter dem Dachdes Bundesumweltministeriums bleibt und nicht, wasein Ansinnen von Teilen der Kommission war, unter dasDach des Bundeswirtschaftsministeriums kommt. Wirhaben nämlich gesagt: Im Bundesumweltministerium istKompetenz, Know-how und langjährige Erfahrung mitdieser Thematik vorhanden, und da muss die Zuständig-keit auch bleiben. Aber der Forderung, dem Trennungs-grundsatz stärker zu folgen – es wurde ja immer als Ge-genargument angeführt, dass es eine klarere Trennunggebe, wenn die BGE in das Wirtschaftsministerium ein-gegliedert würde –, geben Sie jetzt Aufwind, wenn Sie
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solch ein Konstrukt wie das, das Sie jetzt mit dieser Per-sonalie haben, über Gebühr strapazieren.Sie haben jetzt einige Male gesagt, dass, wenn dieAufbauphase beendet sei, dies überprüft werde. Das halteich, gelinde gesagt, als öffentliche Botschaft für zu we-nig; das gilt natürlich erst recht für das tatsächliche Tun.Ich finde, Sie sollten nicht sagen, dass überprüft werde,weil die Überprüfung nicht zu dem Ergebnis kommendarf, dass man das so belässt, wenn die Endlagersuchebeginnt; denn dann bekommen wir in der Tat Schwierig-keiten und gefährden sowohl das Vertrauen, das HubertusZdebel angesprochen hat, als auch die Einhaltung desTrennungsgrundsatzes.Deshalb frage ich Sie, ob nicht auch Sie persönlichsich dafür einsetzen wollen, dass es nicht bei einer Über-prüfung bleibt, sondern dass ganz klar schon jetzt dasZiel vorgegeben wird, diese Doppelfunktion zu beenden.Es sollten wie auch im Fall des früheren Geschäftsfüh-rers der Asse-GmbH, der ja nicht mehr Geschäftsführerder Asse-GmbH ist, weil diese in die BGE übergegan-gen ist, die anderen Geschäftsführer keine Tätigkeiten imweiteren Bereich des Bundesumweltministeriums oderbei nachgeordneten Behörden ausüben.
Herr Pronold, bitte.
Fl
Ich habe bei der Frage von Herrn Zdebel auch durch
Verweise auf Beispiele in anderen Fällen deutlich ge-
macht, dass das nach einer Zusammenführungspha-
se überprüft wird. Die Überprüfung führt im Regelfall
dazu – so ist auch mein Verständnis –, dass es zur Been-
digung solcher Doppelfunktionen kommt.
Wir alle sind schon sehr lange dabei und wissen, dass
man mit hundertprozentiger Sicherheit nie etwas sagen
kann. Aber es ist mit sehr großer Sicherheit auch unser
Bestreben als BMUB, das Vertrauen, das sehr schwer in
diesem Bereich insgesamt zu erringen und zu erhalten ist,
durch nichts zu gefährden.
Vielen Dank.
Wir kommen zur Frage 2 der Kollegin Sylvia Kotting-
Uhl:
Wird sich die Bundesregierung und insbesondere Bundes-
kanzlerin Dr. Angela Merkel gegenüber dem neuen franzö-
sischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron kurzfristig für
eine möglichst schnelle Abschaltung der grenznahen franzö-
sischen Atomkraftwerke Cattenom und Fessenheim einsetzen?
Herr Pronold, bitte.
Fl
Die Bundesregierung steht mit der französischen Re-
gierung zur gesamten Bandbreite grenzüberschreitender
Fragen in regelmäßigem Austausch. Die Bundesregie-
rung wird sich weiterhin in geeigneter Art und Weise für
eine möglichst zeitnahe Stilllegung des Atomkraftwerks
Fessenheim einsetzen, wie sie der bisherige französische
Staatspräsident Hollande angekündigt hatte.
Selbstverständlich bezieht sich das auch auf Ihre Fra-
ge bezüglich Cattenom. Sie wissen, wie schwierig die-
se Fragen in den internationalen Beziehungen sind. Von
französischer Seite hat es bisher allerdings noch keine
Äußerungen dazu gegeben, ob es zu einer vorzeitigen
Stilllegung von Cattenom kommen könnte.
Frau Kotting-Uhl.
Danke schön für die Antwort. – Es gibt bei Cattenom
immerhin fast gleichlautende Defizite. Aber das ist nicht
die Basis für meine Nachfrage. Sie bezieht sich vielmehr
darauf, dass ich ausdrücklich gefragt hatte, ob sich auch
die Bundeskanzlerin einsetzen wird.
Den ersten Teil Ihrer Antwort habe ich schon einmal
als Antwort bekommen: sehr weit in allen Fragen usw.,
grenzüberschreitende Gefahren von Atomkraftwerken.
Das ist nicht meine Frage. Meine Frage habe ich vor dem
Hintergrund der Tatsache gestellt, dass sich die Bun-
deskanzlerin im Jahr 2014 bei einer Klausur des rhein-
land-pfälzischen Landesverbandes der CDU dahin ge-
hend geäußert hat, dass sie sich persönlich – damals noch
mit Hollande – dafür einsetzen wird, dass – in diesem
Fall Cattenom – vom Netz genommen wird.
Ich muss sagen, ich finde es schon, gelinde gesagt, re-
spektlos, dass bei einer CDU-Klausurtagung etwas ver-
kündet werden kann, was via Pressemitteilung auch in
der Öffentlichkeit landet, während ich als Vertreterin des
Parlamentes und meiner Fraktion hier immer kurzgehal-
ten werde und keine Auskunft darüber bekomme, was die
Kanzlerin denn nun eigentlich zu tun gedenkt. Deswegen
frage ich Sie noch einmal explizit – ich habe nicht allge-
mein nach der Bundesregierung gefragt; dass die Bun-
desumweltministerin sich dafür einsetzt, weiß ich –: Was
wird die Bundeskanzlerin tun?
Herr Pronold, bitte.
Fl
Wenn ich das richtig sehe, war diese Frage bereitsGegenstand der Beantwortung durch meine Kollegin am28. April und auch später im Mai. Es geht also um dieFrage, was hier von vertraulichen Gesprächen kommuni-ziert werden kann. Ich kann Ihnen keine andere Antwortzu dem, was die Bundeskanzlerin besprochen hat odernicht, geben, als meine Kollegin sie beim letzten Mal ge-geben hat.Sylvia Kotting-Uhl
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Vielen Dank, Herr Pronold. – Rückfrage? Bitte eine
Minute.
Ja, Frau Präsidentin, eine zweite Nachfrage. – Trotz-
dem erlaube ich mir noch einmal die Bemerkung: Es ist
eine Respektlosigkeit dem Parlament gegenüber, einen
fraglichen Punkt öffentlich anzugehen und dem Parla-
ment die Antwort zu verweigern.
Jetzt möchte ich gerne zum Hochwasserschutz von
Fessenheim und zum Nichtwissen, diesmal des Bun-
desumweltministeriums, nachfragen. Es ist ja so, dass
die internationalen Standards, auch von WENRA zum
Beispiel, besagen: Ein Atomkraftwerk muss einem soge-
nannten 10 000-jährigen Hochwasser standhalten. Fes-
senheim ist nur gegen ein 1 000-jähriges Hochwasser
plus einem Zuschlag in Höhe von 15 Prozent ausgelegt.
Ich frage Sie jetzt – in der schriftlichen Kleinen An-
frage haben Sie mir geantwortet: „keine Ahnung“ –, wie
Fessenheim in diesem Punkt genau ausgelegt ist? Wissen
Sie, was dieser Zuschlag in Höhe von 15 Prozent genau
bedeutet? Wenn es eine andere Aussage als „Es hält dem
10 000-jährigen Hochwasser stand“ ist, ist anzunehmen,
dass es die Standards nicht ganz erreicht. Wissen Sie da
denn Genaueres? Sie müssten doch über so eine elemen-
tare Sicherheitsfrage bei diesem Reaktor direkt an unse-
rer Grenze Bescheid wissen.
Herr Pronold, bitte.
Fl
Ich kann Ihnen diese Frage so explizit jetzt nicht
beantworten. Ich würde Sie darum bitten, dass ich das
schriftlich nachreichen kann. Wir haben das ja auch öfter
im Ausschuss bei sehr intensiven Beratungen. Sie wis-
sen, dass wir von der gemeinsamen Kommission, die es
dazu gibt, ständig Informationen bekommen und dass wir
auch über alle sicherheitsrelevanten Aspekte direkt infor-
miert werden. Jüngst hat auch die Bundesumweltministe-
rin gemeinsam mit ihrem Kollegen aus Luxemburg noch
einmal an die französische Regierung die Frage gestellt,
wie weit der Prozess bezogen auf die Überprüfung nach
den Post-Fukushima-Stresstests fortgeschritten ist. Auch
bei diesem Punkt ist es wichtig, dass wir schnell die rich-
tigen Informationen erhalten. Ich glaube aber, das betrifft
Cattenom und nicht Fessenheim.
Ich würde Sie bitten, zu akzeptieren, dass ich, um Ih-
nen eine wirklich präzise und qualifizierte Aussage zu
liefern, die Antwort schriftlich nachreiche.
Vielen Dank, Herr Pronold, auch für die Zusage, das
schriftlich nachzureichen. – Dann gebe ich das Wort
Corinna Rüffer für eine weitere Zusatzfrage.
Herzlichen Dank, dass auch ich die Gelegenheit habe,
dazu eine Frage zu stellen. – Ich komme aus einer Ge-
gend, die wenige Kilometer vom Atomkraftwerk Cat-
tenom entfernt liegt. Das heißt, wenn es da zum GAU
kommen würde, dann wären wir erster Hand betroffen.
Das macht den Menschen Angst. Wir hatten gerade in
den letzten Monaten einen Störfall nach dem anderen zu
verzeichnen. Wir haben als Fraktion eine Anfrage zum
Thema „Sicherheitsstand Cattenom“ gestellt. Wir haben
von Ihnen die Antwort bekommen, dass das Atomkraft-
werk zum Beispiel gegen Flugzeugabstürze nicht ausrei-
chend gesichert ist. Nun lesen wir heute in der Stuttgarter
Zeitung, dass die Bundesumweltministerin Emmanuel
Macron auffordert, das Atomkraftwerk Fessenheim zu
schließen. Gleiches müsste ja für Cattenom gelten. Ist
damit zu rechnen, dass die Bundesregierung in Richtung
Schließung von Cattenom genauso aktiv wird, und wenn
nein, wo liegt der Unterschied? Warum fordern Sie das
eine und unterlassen das andere?
Herr Pronold.
Fl
Wir führen diese Debatte sehr oft. Sie wissen, dass wir
uns in der Frage der Sicherheitseinschätzung allein auf
die jeweils zuständige Behörde des Landes stützen müs-
sen und dass wir in die entsprechenden Gremien vielfäl-
tige bilaterale Kontakte haben.
Wir sehen bei der neuen französischen Regierung,
soweit es uns bekannt ist, in diesem Bereich keine we-
sentliche Änderung gegenüber der bisherigen Linie der
französischen Politik. Es besteht die Absicht, Fessen-
heim schneller stillzulegen – mit all den Schwierigkei-
ten, die sich vor Ort übrigens noch auftun; der Ausstieg
dürfte länger dauern als angekündigt. Bei Cattenom be-
steht diese nicht. Wir haben aufgrund der Meldungen aus
den Gremien, die ständig über Sicherheitsfragen beraten,
keinen Anlass, anzunehmen, dort von einer großen Si-
cherheitsgefahr auszugehen.
Position der Bundesregierung ist allerdings, nicht
nur in Deutschland, sondern möglichst in Europa und
weltweit so schnell wie möglich den Atomausstieg zu
vollziehen, weil die Atomkraft eine nicht beherrschbare
Technologie ist. In diesem Sinne wird die Bundesum-
weltministerin weiterhin gegenüber Frankreich agieren.
Vielen Dank, Herr Pronold. – Dann kommen wir zurFrage 3 – Kollegin Sylvia Kotting-Uhl hat sie gestellt –:Wird sich die Bundesregierung mit Verweis auf Artikel 3Absatz 7 der Espoo-Konvention und die UVP-Richtlinie
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um eine Beteiligung bei den grenzüberschrei-
tenden Umweltverträglichkeitsprüfungen bezüglich der Lauf-zeitverlängerungen für die ukrainischen Atomkraftwerke
Südukraine und Saporischschja bemühen, und wel-
che Kenntnisse hat die Bundesregierung über den derzeitigenStand bei der nachzuholenden Umweltverträglichkeitsprüfungbeim AKW-Neubauprojekt Hinkley Point C?Herr Pronold, bitte.Fl
Bundesumweltministerin Dr. Hendricks hat den ukra-
inischen Minister bereits 2015 sowohl für das Projekt
am Standort Riwne als auch für andere geplante Projekte
zur Verlängerung der Laufzeit ukrainischer AKWs aus
Gründen der Umweltvorsorge, gegebenenfalls auch auf
freiwilliger Basis, um die Durchführung von grenzüber-
schreitenden Umweltverträglichkeitsprüfungen gebeten.
In seiner Antwort verwies der ukrainische Umweltminis-
ter auf den Einzelfallcharakter der Entscheidung zu den
Reaktoren Riwne 1 und Riwne 2 und lehnte eine allge-
meine Anwendbarkeit der Espoo-Konvention bei Lauf-
zeitverlängerungen ab.
Über die Laufzeitverlängerung der AKW Südukraine,
Chmelnyzkyj Saporischschja ist ein Prüfungsverfahren
vor dem Implementation Committee der Espoo-Konven-
tion anhängig. Die Bundesregierung wird mit Blick auf
den bereits erfolgten Schriftwechsel das Ergebnis des
Committee abwarten und sodann über das weitere Vor-
gehen entscheiden.
Zum Stand betreffend Hinkley Point C: Entsprechend
der Empfehlung des Espoo Implementation Committee
hat das Vereinigte Königreich allen Staaten, so auch der
deutschen Espoo-Kontaktstelle, die Frage gestellt, ob
zum jetzigen Zeitpunkt eine Notifizierung für das ge-
plante neue AKW Hinkley Point C angesichts des Ver-
fahrensstandes noch für sinnvoll gehalten wird.
Unter Berücksichtigung auch der eingegangenen
positiven Rückmeldungen aus einigen Bundesländern,
welche die für die Durchführung des grenzüberschrei-
tenden UVP-Verfahrens zuständigen Behörden sind, hat
das Bundesumweltministerium der zuständigen Behörde
des Vereinigten Königreichs geantwortet, dass Deutsch-
land eine Notifizierung zum jetzigen Verfahrensstand für
sinnvoll hält. Die zuständige Behörde aus Großbritan-
nien führt derzeit mit den Staaten, die bejahend auf das
Schreiben geantwortet haben, Treffen durch. Das Treffen
mit Deutschland zu dieser Frage hat in der vergangenen
Woche stattgefunden. Nach Abschluss aller Treffen, also
auch der mit anderen Ländern, wird die zuständige bri-
tische Behörde einen Vorschlag zum weiteren Vorgehen
unterbreiten, mit dem wir uns dann auseinandersetzen
können.
Frau Kotting-Uhl.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. Bei beiden Frage-
teilen freut mich die Antwort. Ich will gern ein Lob für
diese Aktivitäten aussprechen.
Sie wissen vielleicht, dass die Espoo-Konvention auf-
grund meiner Beschwerde entschieden hat, dass Groß-
britannien eine grenzüberschreitende Umweltverträg-
lichkeitsprüfung nachzuholen hat. Die macht allerdings
nur dann Sinn, wenn die Arbeiten unterbrochen werden.
Das empfiehlt die Espoo-Konvention. Wissen Sie da-
rüber Bescheid, ob diese Arbeiten bei Hinkley Point C
unterbrochen worden sind oder ob geplant ist, sie zu un-
terbrechen?
Herr Pronold.
Fl
Zu diesem Punkt kann ich Ihnen aktuell keine Aus-
kunft geben; mir liegen dazu keine Informationen vor.
Aber ich gehe davon aus, dass diese Frage behandelt
wird, wenn die Gespräche mit den anderen Ländern ab-
geschlossen sind und sich die zuständige britische Be-
hörde entsprechend äußert; dann wird das sicher noch
einmal aufgegriffen.
Ich biete Ihnen aber auch zu diesem Punkt an, dass
ich dem noch einmal konkret nachgehe und Ihnen das
schriftlich nachreiche.
Vielen Dank. – Frau Kotting-Uhl.
Weil die Umweltverträglichkeitsprüfung wirklich kei-
nen Sinn mehr macht – das ist ja das Ziel von Großbritan-
nien –, wenn die Bauarbeiten weitergehen, ist meine Bit-
te an Sie, dass die Bundesregierung sich dafür einsetzt,
die Bauarbeiten zu stoppen.
Danke schön.
Vielen Dank.Die Fragen 4 und 5 der Abgeordneten Christian Kühnund Katrin Kunert werden schriftlich beantwortet.Dann kommen wir jetzt zur Frage 6 der KolleginDr. Julia Verlinden – das ist die letzte Frage, die ich auf-rufen werde –:Wie ist nach Kenntnis der Bundesregierung die Klimabi-lanz des in Deutschland geförderten Erdgases im Vergleich zudem in den Niederlanden, Norwegen und Russland geförder-ten Erdgas, und welche Maßnahmen ergreift die Bundesregie-rung, um die Treibhausgasemissionen zu verringern, vor demHintergrund, dass eine Studie der DBI Gas- und Umwelttech-nik GmbH bei dem in Deutschland produzierten Erdgas deut-lich höhere Emissionen feststellt als bei dem in Norwegen und
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Kollege Pronold gibt die Antwort.Fl
Es tut mir leid.
Was tut Ihnen leid?
Fl
Bei mir war die Information angekommen, dass die
Fragen 4, 5 und 6 schriftlich beantwortet werden.
Die Fragestellerin ist leibhaftig da; also wird die Frage
nicht schriftlich beantwortet.
Fl
Das ist in Ordnung. Ich wollte das nur vorwegschi-
cken und würde die Frage deshalb noch einmal vorlesen.
Sie brauchen die Frage einfach nur zu beantworten.
Fl
Gut.
Der Bundesregierung liegen Informationen über die
durch die deutsche Erdgasförderung verursachten Treib-
hausgasemissionen vor. Im Rahmen der internationalen
Berichterstattungspflichten werden diese sowohl an die
Einrichtungen der UN-Klimarahmenkonvention als auch
an die entsprechenden europäischen Gremien berichtet.
Deutschland hat im Jahr 2014 rund 9,1 Milliarden Ku-
bikmeter Erdgas gefördert. Dies waren rund 9 Prozent
des inländischen Bedarfs. Die mit dieser Förderung und
dem Erdgastransport verursachten Methanemissionen
betrugen 194 Kilotonnen. Dies entspricht einer Äquiva-
lentemission von etwa 4,8 Millionen Tonnen CO2 bzw.
etwas mehr als 0,5 Prozent der gesamten Treibhausgas-
emissionen in Deutschland. Bei der Verwertung von Erd-
gas treten im Grunde keine Methanemissionen auf, da
die Verwertung fast ausschließlich über Verbrennungs-
prozesse erfolgt. Der im Methan enthaltene Kohlenstoff
wird nach nahezu vollständiger Verbrennung als Kohlen-
dioxid freigesetzt.
Über die mit dem Erdgasimport verbundenen Emissi-
onen in den jeweiligen Erzeugerländern können detail-
lierte Angaben nicht gemacht werden, da deren Monito-
ring in die Verantwortung der Erzeugerländer fällt bzw.
erforderliche technologische, prozessbezogene und qua-
litative Grundlageninformationen der Bundesregierung
im Einzelnen nicht bekannt sind. Die Bundesregierung
macht sich Angaben aus Studien Dritter grundsätzlich
nicht zu eigen.
Festzuhalten ist, dass die Emissionen bei der Erdgas-
förderung abhängig von der unmittelbaren Förderquelle
bzw. deren Eigenschaften, der Fördertechnik und der
Transportlänge sind. Bezüglich der Erdgasförderung und
der Erdgasnutzung geht die Bundesregierung aber auf
Basis einer ganzen Reihe von Studien davon aus, dass
die Klimabilanz von Erdgas auch unter Berücksichtigung
von Förderung und Transport um etwa 50 bis 60 Prozent
besser ausfällt als diejenige von Braunkohle – abhängig
natürlich von Alter und Wirkungsgrad der jeweiligen An-
lagen.
Eine Rückfrage. Bitte, Frau Dr. Verlinden.
Herr Pronold, Sie haben gesagt, Sie machen sich die
Studien nicht zu eigen. Ich habe Ihnen den Link zur Stu-
die mitgeschickt. Was mich sehr verwirrt hat: Diese Stu-
die besagt, dass in den Niederlanden durch den Prozess
der Erdgasförderung nur ungefähr die Hälfte an CO2 frei-
gesetzt wird. Beim Methan ist es auch nur ungefähr die
Hälfte. Ich frage mich, ob es Ihnen nicht zu denken gibt,
dass die Erdgasfördertechniken, die Erdgasfördermetho-
den in Deutschland – die Korrektheit dieser Studie vor-
ausgesetzt – eine viel größere Klimaschädlichkeit haben
als die Erdgasfördermethoden in den Niederlanden.
Wenn Sie sagen, Sie nehmen auf diese Studie nicht
Bezug, dann stellt sich zumindest die Frage: Wäre es an-
gesichts dieser Zahlen nicht ein Anliegen der Bundesre-
gierung, herauszufinden, ob diese Zahlen stimmen, und
wenn sie tatsächlich richtig sind, etwas dagegen zu un-
ternehmen, indem man durch den Einsatz von besseren
Techniken die Treibhausgasemissionen im Förderpro-
zess – nicht bei der Verbrennung hinterher – auf ein nied-
rigeres Niveau absenkt?
Herr Pronold.
Fl
Aus der Erfahrung mit vielen Studien, die es gibt,kann ich sagen, dass sie schwer vergleichbar sind, wennsie nicht nach denselben Grundsätzen durchgeführt wur-den. Deswegen ist die Bundesregierung auch vorsichtig,sich Studien oder die Erkenntnisse Dritter zu eigen zumachen, was ich vorhin ausgeführt habe.Sollte es signifikante Hinweise darauf geben, dass esunterschiedlich hohe klimarelevante Emissionen auf-grund unterschiedlicher Förderprozesse gibt, dann istes selbstverständlich für uns ein Thema und wir werdendem auch nachgehen, weil es den Klimaschutz betrifft.Vizepräsidentin Claudia Rothhttps://www.zukunft-erdgas.info/fileadmin/public/PDF/Politischer_Rahmen/dbi-bericht-kritische-ueberpruefung-treibhausgasvorkette-erdgas.pdfhttps://www.zukunft-erdgas.info/fileadmin/public/PDF/Politischer_Rahmen/dbi-bericht-kritische-ueberpruefung-treibhausgasvorkette-erdgas.pdf
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Ich nehme Ihre Frage zum Anlass, eine vertiefte Prüfungin unserem Hause zu veranlassen.
Vielen herzlichen Dank, Florian Pronold. Ich glaube,
damit sind Sie auch einverstanden, Frau Kollegin.
Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen, für die
sehr lebendige Fragestunde und Befragung der Bundes-
regierung. Ich bedanke mich auch bei Ihnen, den ande-
ren Vertretern der Bundesregierung, obwohl Sie nicht
leibhaftig antworten konnten. Das können Sie jetzt aber
in schriftlicher Form tun. Alle Fragen, die heute nicht
aufgerufen werden konnten, werden nämlich schriftlich
beantwortet.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Aufklärung möglicher rechtsextremer Struk-
turen in der Bundeswehr
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, Platz zu neh-
men.
Ich eröffne die Aussprache und rufe die erste Rednerin
auf. Das ist Christine Buchholz für die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Lin-ke hat diese Aktuelle Stunde beantragt, um ein Zeichenzu setzen, ein Zeichen gegen Rechtsradikalismus undrechten Terror.
Der Anlass ist dramatisch. Zwei Bundeswehrsoldatenund ein Student aus Hessen wurden festgenommen. Ge-gen sie wird wegen der Planung einer schweren staats-gefährdenden Straftat ermittelt. Mindestens vier weitereSoldaten sind ins Visier der Behörden geraten.Hier die Fakten: Der Offizier Franco A. hat vor Jah-ren eine Abschlussarbeit im Geiste der Nazirassenideo-logie vorgelegt. Wissentlich konnte er dann Karriere beider Bundeswehr machen. Offenbar plante er mit seinenKomplizen einen Anschlag, führte eine Todesliste undschaffte tausend Schuss Munition aus Bundeswehrbe-ständen beiseite. Man fand bei ihm später eine Anlei-tung zum Bombenbau. Franco A. ließ sich als syrischerKriegsflüchtling registrieren, um das Attentat hinterherFlüchtlingen in die Schuhe zu schieben. Meine Damenund Herren, das ist unfassbar.
Wir müssen ganz klar sagen: Wir haben es mit nichtsanderem als der Bildung einer rechtsterroristischen Zel-le zu tun. Deshalb geht es heute auch darum, Solidaritätmit allen zu üben, die von Rassismus und rechtem Terrorbedroht sind.
Der Fall Franco A. offenbart darüber hinaus ein To-talversagen der Bundeswehr und des MAD im Umgangmit der gewaltbereiten Rechten. Die Gesinnung vonFranco A. und seinem Komplizen Maximilian T. warin der Bundeswehr bekannt. Manche Vorgesetzte habenweggeschaut, einige die rechten Umtriebe offenbar sogargedeckt. Das ist kein Einzelfall. Das belegen Zuschriftenvon Soldaten, die uns mitteilen, dass Vorgesetzte gernüber „Dinge“ hinwegsähen, um keine Entscheidungentreffen zu müssen, die sie unbeliebt machen.Ich sage hier: Ja, ein relevanter Teil der Bundeswehrhat ein Problem mit der extremen Rechten, und die poli-tische Führung – Ministerin von der Leyen wie auch ihreVorgänger – hat dieses Problem jahrelang und systema-tisch kleingeredet.
Noch im März 2015 sagte Frau von der Leyen, dieBundeswehr habe kein – ich zitiere – „überproportiona-les Extremismus-Problem“,
und das nach den Erfahrungen mit dem Nationalsozia-listischen Untergrund, NSU: Ein Drittel der mutmaßli-chen NSU-Unterstützer waren Bundeswehrangehörige.Und der Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsaus-schusses von 2013 attestierte der Bundeswehr einen –ich zitiere – „extrem problematischen Umgang … mitrechtsextre men Aktivitäten“. Frau von der Leyen, offen-bar haben Sie die Ergebnisse des NSU-Untersuchungs-ausschusses nicht ernst genommen.Auch die SPD, die sich in letzter Zeit sehr gern undoft von der Ministerin absetzt, sollte sich nicht allzu sehraufplustern.
Denn auch ihr ehemaliger Verteidigungsminister Struckwar nicht viel besser: Struck hatte 2003 persönlich eineumfassende Untersuchung von rechtsextremem Gedan-kengut in der Bundeswehr blockiert – das nur zur Erinne-rung. Dazu passt auch, dass sich Rudolf Scharping, eben-falls ein ehemaliger SPD-Verteidigungsminister, derzeitmehr über das Abhängen eines Helmut-Schmidt-Bildesmit Wehrmachtsuniform als über die rechten Umtriebe inder Bundeswehr aufregt.
Ministerin von der Leyen will nun den Eindruck erwe-cken, es würde endlich aufgeräumt. Und ja, es ist über-fällig, dass Kasernen nicht mehr nach Wehrmachtsoffi-zieren benannt werden. Da muss zügig und entschiedengehandelt werden und das, was angekündigt wurde, um-gesetzt werden.
Was wir brauchen, ist ein klarer Bruch mit der Wehr-machtstradition. Ich sage: Wehrmachtsgegenstände und-symbole dürfen keinen Platz in irgendwelchen Stubenoder irgendwelchen Köpfen haben.
Parl. Staatssekretär Florian Pronold
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Wem haben wir eigentlich zu verdanken, dass die mut-maßliche Terrorgruppe aufgeflogen ist? War es der Mi-litärische Abschirmdienst, der MAD? Nein, es war eineReinigungskraft, die die Waffe von Franco A. am Flug-hafen in Wien fand. Es ist doch absurd, dass nun Politi-ker der Großen Koalition die personelle Aufstockung desMAD fordern. Schließlich hat der MAD Maximilian T.,einen der mutmaßlichen Terroristen, bereits 2015 überMonate durchleuchtet, um ihn dann für unbedenklichzu erklären. Das Problem ist nicht die Ausstattung desMAD, sondern seine Orientierung.
Er ist augenscheinlich auf dem rechten Auge blind. DerMAD ist Teil des Problems und nicht Teil der Lösung.
Eines möchte ich betonen: Es gibt viele Soldatinnenund Soldaten, denen der Rassismus und auch die rechtenUmtriebe in der Bundeswehr stinken. Aber rassistischeStimmungen in der Bundeswehr lassen sich nicht zurück-drängen, wenn gleichzeitig Innenminister de Maizièreeine Leitkulturdebatte entfacht und damit gezielt rechteStimmung befeuert.
Wir brauchen ein gesellschaftliches Klima, in dem eineantirassistische und antifaschistische Gesinnung gezeigtwerden kann.Vielen Dank, meine Damen und Herren.
Vielen Dank, Christine Buchholz. – Nächste Redne-rin: für die Bundesregierung Ministerin Dr. Ursula vonder Leyen.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin derVerteidigung:Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Die Soldatinnen und Soldaten der Bun-deswehr nehmen freiwillig eine große Verantwortungund viele Pflichten auf sich. Sie schwören in ihrem Eid,„das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tap-fer zu verteidigen“. Extremisten dagegen, insbesondereRechtsextremisten, treten Recht und Freiheit mit Füßen;sie sind ihre ärgsten Feinde. Deshalb haben Rechtsextre-misten in der Bundeswehr nichts verloren.
Deswegen hat uns auch der Fall des Soldaten A. und desSoldaten T. so alarmiert. Der Generalbundesanwalt er-mittelt gegen sie und ihr Umfeld. Die Bundeswehr unter-stützt die Ermittlungen in jeder Hinsicht.Tausende von Soldatinnen und Soldaten machen tag-täglich einen hervorragenden Dienst. Mir ist wichtig,dies auch in dieser Debatte am Anfang zu sagen. Aberwir müssen auch aufpassen, dass nicht im Umkehr-schluss selbstkritische Fragen vermieden werden, nachdem Motto: Pauschalverdacht gegen die Truppe geht garnicht – dem stimme ich zu –; das sind alles Einzelfälle,wir können weitermachen wie bisher. – Das wäre grund-falsch.Eben weil uns der gute Ruf der Truppe am Herzenliegt, müssen wir hart aufklären und konsequent dortnachsteuern, wo strukturelle Probleme zutage treten. Eswar ein klares Versäumnis, dass 2013 der MAD im FallA. nicht unterrichtet wurde. Seine Masterarbeit ist vollerrechtsextremer Überzeugungen. Ein solcher Mann hat inder Bundeswehr nichts verloren, meine Damen und Her-ren.
Der geltende Traditionserlass formuliert es eindeutig –ich zitiere –: „Ein Unrechtsregime, wie das Dritte Reich,kann Tradition nicht begründen.“ Ein Aufenthaltsraumwie in Illkirch oder Donaueschingen, neu eingerichtetund monothematisch ausgeschmückt mit Devotionaliender Wehrmacht, hat in der Bundeswehr nichts verloren.
Die Begehung aller Räumlichkeiten zeigt aber auch, dassdas eher die Ausnahme ist. Häufig ist Gedankenlosigkeitim Spiel oder pure Unwissenheit.Das Foto von Helmut Schmidt als Offizier der Wehr-macht an der Bundeswehruniversität in Hamburg hing al-lein und unkommentiert, als sei das der prägende HelmutSchmidt. Es gibt Fotos von Helmut Schmidt in Uniform,aber in Bundeswehruniform als Reserveoffizier, Fotosvon ihm als Innensenator, als Verteidigungsminister, alsBundeskanzler. In diesen Ämtern hat er Großes geleistet.Hier war er für die Bundesrepublik und ebenfalls für dieBundeswehr prägend. Das macht ihn zu einer Persön-lichkeit, die für die Bundeswehr sinnstiftend und traditi-onsgebend ist. Deswegen haben wir die Bundeswehruniauch nach ihm benannt. Das ist der Grund.
Das gilt auch für die vielen herausragenden Persön-lichkeiten der Frühphase der Bundeswehr, deren Biogra-fien auch den Dienst vor 1945 umfassen: die GeneraleHeusinger, de Maizière oder Baudissin oder mein Vor-gänger Kai-Uwe von Hassel.Meine Damen und Herren, wo Unklarheiten undUnsicherheiten im Traditionsverständnis und in derTraditionspflege herrschen, müssen wir Klarheit undHandlungssicherheit schaffen. Deshalb werden wir denTraditionserlass von 1982 überprüfen, und zwar in einembreiten, inklusiven Prozess. Und die Tatsache, wie weitdas Pendel jetzt in der Diskussion von einer Seite auf dieandere Seite schwingt, zeigt, dass diese Debatte notwen-dig ist.Christine Buchholz
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Wir wollen unsere eigene Bundeswehrgeschichte inden Mittelpunkt unseres Traditionsverständnisses stel-len. Wir blicken zurück auf eine 60-jährige erfolgreicheGeschichte, auf die wir stolz sein können: die Geschichteeiner Armee der Demokratie, der internationalen Integra-tion, die Geschichte der Armee der Einheit, einer Parla-mentsarmee im Einsatz für den Frieden in der Welt. Wirkönnen aus dieser Geschichte so viel schöpfen, so viel istvorbildgebend. Darauf sollten wir uns besinnen.
Es gibt viele Angehörige in der Bundeswehr in diesen60 Jahren, die für unsere jungen Soldatinnen und Solda-ten heute Vorbilder, ja auch Helden sein können.Meine Damen und Herren, wir sind ein Land, das im-mer gut daran getan hat, sich daran zu erinnern, woherwir gekommen sind, auch daran, was wir in fast 70 Jah-ren Bundesrepublik und über 60 Jahren Bundeswehr er-reicht haben. Es ist unsere tagtägliche Aufgabe, dass wiruns immer aufs Neue klar abgrenzen von Extremisten mitihrer Ideologie des Hasses und der Diskriminierung. Dasgilt für die Gesellschaft genauso wie für die Bundeswehr.Die Diskussionen mögen manchmal schmerzhaft sein,aber sie sind notwendig. Genau deswegen sind wir näm-lich eine wehrhafte Demokratie.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Ministerin von der Leyen. – Nächs-
ter Redner: Dr. Anton Hofreiter für Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Wir sind nur knapp einer großen Tragödieentgangen. Eher durch Zufall wurden die Umtriebe derGruppe von Franco A. aufgedeckt und so ein potenziel-ler, schwerer Anschlag verhindert.Die Zunahme rechtsextremer und rechtsterroristi-scher Aktivitäten muss uns alle beunruhigen. Hier ist inDeutschland etwas ins Rutschen geraten. RechtsextremeGesinnungen und Tendenzen sind in Deutschland beilei-be keine Seltenheit. Das ist 72 Jahre nach Ende der Nazi-herrschaft beschämend.
Mit der Aufdeckung der Planungen von Franco A. istdie Bundeswehr in den Fokus gerückt. Lassen Sie michklarstellen: Die allermeisten Soldatinnen und Soldatenleisten einen großartigen Dienst für unser Land. Sie ver-dienen es nicht, unter Pauschalverdacht gestellt zu wer-den;
aber die Probleme als Einzelfälle zu bagatellisieren, istunverantwortlich.Verdeutlichen wir uns zuerst die Dimension dessen,worüber wir hier reden: Franco A. und seine Kumpa-nen – das sind inzwischen mehr als gedacht – waren nichtirgendwelche Soldaten, die abends Wehrmachtsliederschmetterten oder Wehrmachtsandenken sammelten. Dasalleine ist schon schlimm genug und leider gar nicht soselten in deutschen Bundeswehrkasernen, wie sich heutenoch einmal zeigte. Nein, Franco A. und seine Kompli-zen planten mutmaßlich schwere Gewalttaten gegen Po-litiker und andere Personen des öffentlichen Lebens. Sielegten Todeslisten an, sie beschafften sich Anleitungenzum Bombenbau, und sie horteten Unmengen an geklau-ter Munition aus Bundeswehrbeständen.Es ist schleierhaft, warum die Pläne und das Doppelle-ben von Franco A. so lange unentdeckt blieben. Eindeu-tigen Hinweisen auf die Gesinnung des Oberleutnantswurde nicht nachgegangen. Es schauten zu viele im ent-scheidenden Moment bewusst oder unbewusst weg. Dassdies so lange unentdeckt blieb, ist ein Skandal, und dafürtragen Sie, Frau von der Leyen, die Verantwortung. Siesind seit fast vier Jahren Ministerin und damit verant-wortlich.
Diese Verantwortung können Sie nicht von sich weisen,indem Sie am Ende die Verantwortung in Richtung Trup-pe schieben. Sie sind de facto die Oberkommandierendedieser Truppe. Deshalb sage ich: Übernehmen Sie dieVerantwortung, die Sie als Ministerin zu tragen haben.
Machen wir uns zweitens klar: Dass es in den Sicher-heitsbehörden Probleme im Umgang mit Rechtsextre-mismus gibt, ist nun wahrlich keine Neuigkeit. Wir ha-ben es beim Bundesamt für Verfassungsschutz gesehenund bei Teilen der Polizei; man denke an die Vorfälle inSachsen im letzten Jahr. Deshalb ist es unverständlich,dass die Ministerin diese Probleme so lange ignoriert hat.Der Wehrbeauftragte hat immer wieder darauf hingewie-sen. Schauen Sie in all die Anfragen, die von der Oppo-sition gestellt wurden. So kann ich nur zu dem Schlusskommen: Frau von der Leyen, offenbar haben Sie überJahre weggeschaut, und darunter leiden jetzt auch dievielen anständigen Soldatinnen und Soldaten in der Bun-deswehr.Sie sagen jetzt zwar selbst, Sie hätten es verpasst,früher gegenzusteuern; aber Sie können nicht wirk-lich erklären, warum Sie in den letzten vier Jahren der-art wenig bis nichts gemacht haben, warum Sie in denletzten Jahren, in denen in Deutschland die Zahl rechterGewalttaten insgesamt gestiegen ist und viele Expertenvor neuem Rechtsterrorismus warnten, nicht gehandeltBundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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haben. Ihr Nichtstun war fahrlässig, und Sie können nurdem Himmel dafür danken, dass das keine schlimmerenKonsequenzen hatte.
Frau von der Leyen, Sie ergreifen erst jetzt, nach star-kem öffentlichen Druck, Maßnahmen, um diesen Miss-ständen entgegenzuwirken. Das ist sehr spät und vor al-lem eines: Das ist beschämend.
Eines muss man auch sagen: Wenig hilfreich ist aktu-ell, dass nun auch die CSU nostalgisches Wehrmachts-gedenken verharmlost und ein problematisches Traditi-onsverständnis fördert. Es muss für alle Soldatinnen undSoldaten in der Bundeswehr deutlich sein, dass in unse-rer Armee ein klares Bekenntnis zur freiheitlichen unddemokratischen Grundordnung gelebt wird.Aber das soll nicht ablenken vom Hauptproblem: Frauvon der Leyen und die Bundesregierung haben den in-neren Zustand der Truppe zu lange sträflich vernachläs-sigt. Seit zwölf Jahren trägt die Union die Verantwortungfür die Bundeswehr. Sie präsentiert sich heute in einemschwierigen Zustand. Ihre Bilanz, Frau von der Leyen, isteine Bilanz des Scheiterns. Sie und Ihre Partei stellen einSicherheitsrisiko dar.Vielen Dank.
Vielen Dank, Anton Hofreiter. – Der nächste Redner:
Rainer Arnold für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Indiesem Haus wurden schon viele Debatten über rechtesDenken bei den Streitkräften geführt. Das Argument, dieBundeswehr sei ein Spiegel der Gesellschaft, war schonimmer falsch. Denn an die Streitkräfte, die unsere Frei-heit mit Waffen verteidigen sollen, müssen wir einen be-sonders strengen Maßstab anlegen.Ich bin sehr froh, Frau Ministerin, dass in den letz-ten Tagen klar wurde: Ihre düstere Androhung, es würdenoch vieles ans Licht kommen, war massiv überzogen.
Damit mich niemand falsch versteht: Jedes einzelne üb-riggebliebene Symbol der Wehrmacht ist eines zu vielund muss entfernt werden, möglichst aber im Diskurs undnach dem Prinzip der Inneren Führung. Man sollte mitden Soldaten über das entsprechende Foto von HelmutSchmidt und über seine Rede sprechen, die er hier vorder Tür zu den Streitkräften gehalten hat. Dann könnenSoldaten etwas lernen. Sie sollten selbst entscheiden, obsie das Bild abnehmen oder historisch durch ein gutesZitat einordnen. So ginge Innere Führung.Der zweite Bereich betrifft extremes rechtsradikalesDenken. Es gab in den letzten Jahren einen Umgang, derzum Teil gut war, wo die Rechtsberater richtig reagierthaben. Es gab aber auch einen Umgang, der wirklichvöllig falsch war. Dafür trägt natürlich die Ministerin dieVerantwortung. Es ist doch ganz eindeutig: Wir braucheneine klare Botschaft, dass rechtsextremes Denken, rassis-tisches Denken in der Bundeswehr keinen Platz haben.Es reicht nicht, dies mit einer Geldstrafe oder einer Er-mahnung zu belegen; denn eine Geldstrafe bewirkt nicht,dass inakzeptables Denken aus den Köpfen verschwin-det.
Der dritte Bereich betrifft schwere Straftaten. Darüberreden wir im Augenblick besonders. Es ist nun wirklichganz offensichtlich, dass hier verschiedene Leute versagthaben. Auch der Militärische Abschirmdienst hat seineAufgaben nicht erledigt.Nun reden Sie, Frau Ministerin, immer davon, dassSie Verantwortung tragen. Einmal ganz unabhängig vonder Frage, wie oft ein Minister sagen kann, dass er diepolitische Verantwortung trägt, muss ich Ihnen sagen:Sie tragen auch eine persönliche Verantwortung. Ihr Kol-lege im Kabinett, Herr Minister de Maizière, trägt eben-falls persönliche Verantwortung. Wenn ein Innenministernur zuschaut und auf eine große Zahl von Flüchtlingennicht vorbereitet ist, trägt er die Verantwortung dafür,dass Einzelne bei der Prüfung durchrutschen und dassetwas Dramatisches passiert, nämlich dass ein deutscherSoldat, ein schwerer Straftäter, als Syrer anerkannt wird.
Wenn ein Innenminister es nicht schafft, rechtzeitig ent-sprechende IT einrichten zu lassen, dann trägt er die Ver-antwortung.
Frau Ministerin, Sie haben auch eine persönliche Ver-antwortung. Sie entdecken jetzt nach dreieinhalb Jahrendas Thema Innere Führung.
Sie haben dreieinhalb Jahre die guten Fähigkeiten unddie Expertise, die die Bundeswehr hat, ignoriert. DasZentrum für Innere Führung, der Beirat für Fragen derInneren Führung und das Sozialwissenschaftliche Insti-tut – sie könnten sozusagen in die Bundeswehr hineinhö-ren – wurden von Ihnen schlichtweg ignoriert und miss-achtet. Deshalb ist das Agieren jetzt nicht glaubwürdig.Das Problem ist im Augenblick dramatisch. Frau Mi-nisterin, Sie haben durch Ihre falschen Äußerungen ex-Dr. Anton Hofreiter
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trem viel Vertrauen zerstört. Inzwischen ist es noch vielschlimmer: Sie sind verantwortlich für eine Kultur desMisstrauens, die es inzwischen in den Streitkräften gibt.
Sie ist deshalb entstanden – das zieht sich von oben nachunten durch die gesamte Bundeswehr –, weil Sie prüfenlassen, ob Generäle ihr Handy abgeben, weil Stuben voneinfachen Soldaten durchwühlt werden, ohne dass sieselbst dabei sind. Gute Innere Führung geht anders. GuteInnere Führung beginnt an der Spitze.
Es ist nicht anständig, dass eine Ministerin einen füh-renden Soldaten über die Presse informieren lässt, dass erfreigesetzt wird. Ich hätte erwartet, dass eine Ministerinselbst anruft und mit ihm redet – das gehört sich so –und nicht Journalisten informiert, von denen er es dannerfährt.Hier komme ich zu einem strukturellen Problem, FrauMinisterin, über das Sie noch nie geredet haben. Sie ha-ben einen Pressesprecher und Berater, auf den Sie hö-ren. Er hat das Drehbuch für Sie in den letzten Wochengeschrieben. Ich habe ein Interview von ihm gelesen,in dem er deutlich sagt: Schlechte Nachrichten sind garnicht so schlimm; Hauptsache, man ist präsent. Auch fürdie Nachwuchswerbung ist es gut, wenn man immer inder Tagesschau erwähnt wird. – Dann kommt aber dasZweite. Er sagte: Große Probleme sind gut, weil Politikdann nach außen zeigen kann, dass sie große Problemelöst.Frau Ministerin, Sie haben in den letzten Wochen imUmgang mit allen Problemen – von unanständigen Vor-gehensweisen in Pfullendorf bis zu rechtsradikalen Vor-gängen – Maß und Mitte verloren. Deshalb, Frau Minis-terin, sind Sie kein Vorbild für Soldaten, von denen wirnach dem Prinzip der Inneren Führung Differenzierung,vorsichtiges Agieren, eben Maß und Mitte erwarten.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Rainer Arnold. – Nächster Redner für
die CDU/CSU-Fraktion ist Henning Otte.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe schoneinige Reden vom Kollegen Arnold gehört, aber dass duso wenig Applaus aus den eigenen Reihen bekommst, istfür mich neu.
Wir behandeln heute in der Aktuellen Stunde das The-ma „Aufklärung möglicher rechtsextremer Strukturen inder Bundeswehr“, beantragt von der Fraktion Die Linke.Es geht offensichtlich nicht um den Sachverhalt, es gehtnicht um die Aufklärung, sondern hier will eine extre-me Partei die Bundeswehr in Misskredit bringen, indemsie sagt: Die Bundeswehr ist rechtsradikal. – Das ist eindurchsichtiges Manöver.
Dabei koppeln Sie mit der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen. Das wurde mir eben bei der Rede von HerrnHofreiter noch mal deutlich. In der Regierungsbefragungzuvor hat Frau Künast gesagt: Es ist wohl nicht der FallFranco A., es ist ein Fall der Bundeswehr. – Das ist einPauschalverdacht gegen die Bundeswehr, und dagegenstellen wir uns, meine Damen und Herren.
Sie schließen hier eine Lücke von links nach rechts undin der Mitte die SPD. Das ist wohl die Panik nach derNRW-Wahl.
Ich habe die Sendung Anne Will am Sonntagabendgesehen. Dort hat die Familienministerin Frau Schwesigdie Sozialpolitik gegen die Sicherheitspolitik ausgespieltund die Bundeswehrausgaben gegen notwendige Ausga-ben für Baumaßnahmen in Schulen und Kindergärten,für die übrigens die Kommunen und Länder zuständigsind, aufgerechnet.
Es ist mittlerweile so, dass Kinder von Soldaten in denSchulen Gewissensbisse haben, wenn das Toilettenpapierund das Handtuchpapier ausgehen. Das lassen wir nichtzu.
Wir sagen: Die Bundeswehr ist ein Garant für die Sicher-heit.
Hören Sie sich das neue Interview Ihres Spitzenkandi-daten Schulz an, der jetzt auf Kosten der Bundeswehr po-litische Landgewinne machen will. Das ist ein unzulässi-ges Vorgehen. Wir, die Union, sind die Partei der innerenSicherheit, der äußeren Sicherheit und übrigens der sozi-alen Sicherheit. Wir wollen nicht, dass Hofreiter Vertei-digungsminister ist. Wir wollen nicht, dass WagenknechtInnenministerin, Schulz schon gar nicht Kanzler ist. Un-sere Kanzlerin heißt Angela Merkel, unser Innenministerheißt Thomas de Maizière, unsere Verteidigungsministe-Rainer Arnold
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rin heißt Ursula von der Leyen, und das ist gut für unserLand.
Frau von der Leyen hat die Trendwende in Material,in Personal und auch in finanziellen Mitteln umgesetzt.Die Bundeswehr ist ein Garant für unsere Sicherheit, festauf dem Boden der Demokratie. Wenn es eine Reihe vonEinzelfällen gibt, die es aufzuklären gilt,
dann ist es die Verteidigungsministerin, die sich an dieSpitze gesetzt hat. Ich hätte Ihren politischen Klamaukmal hören wollen, wenn sie nicht gehandelt hätte, wennsie es nicht aufgedeckt hätte. Es sind Straftäter, und dieverzerren nicht das gute Bild der Bundeswehr im Allge-meinen.
Es ist richtig, dass zum 1. Juli eine Sicherheitsüber-prüfung von allen, die zur Bundeswehr wollen, durchge-führt wird. Jedes Jahr kommen 30 000 neue Bürgerinnenund Bürger in die Bundeswehr. Sie müssen sich auf denNebenmann, auf die Nebenfrau verlassen können, undsie müssen vor allem eines haben: eine feste Grundlage.Deswegen ist es gut, dass der Traditionserlass überarbei-tet wird.Nach der deutschen Einheit haben wir mittlerweilemilitärische Einsätze im Ausland zur Krisenprävention,zur Kriseneindämmung – immer im vernetzten Ansatz,so wie es damals Herr Dr. Jung eingeführt hat. Damitwollen wir deutlich machen: Die Bundeswehr hat eineeigene Tradition. Sie hat einen eigenen Stolz. Sie hatErfahrungen – angefangen bei der Krisenhilfe und derFluthilfe bis zu Gefechten, zum Beispiel am Karfreitagvor sieben Jahren.
Das ist auch Kameradschaft. Das ist auch Pflichtbewusst-sein. Das ist auch Stolz. Das ist auch heldenhaftes, gutesmilitärisches Handeln.Und dass die Ministerin sagt: „Das stellen wir in denMittelpunkt der Geschäftsgrundlage für die Soldatinnenund Soldaten“, halte ich für richtig. Ich persönlich binbeeindruckt von den Leistungen unserer Soldatinnen undSoldaten und kann zusichern: Die Union steht mit derVerteidigungsministerin fest an der Seite unserer Solda-tinnen und Soldaten.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Henning Otte. – Nächste Rednerin: Ulla
Jelpke für die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wennman die SPD heute hier hört, dann kommt man fast inVersuchung, die Verteidigungsministerin zu verteidi-gen –
bei so vielem rechten Schrott, den Sie hier von sich gege-ben haben, Herr Arnold.Herr Otte, nachdem ich Sie hier gehört habe, muss ichsagen: Das war voll am Thema vorbei. Es geht hier über-haupt nicht darum, die Bundeswehr allgemein zu ver-unglimpfen, sondern es geht um eine Aufarbeitung, dieleider auch bei Ihrer Verteidigungsministerin nur an derOberfläche stattfindet. Es reicht nicht aus, die Symboleder Wehrmacht aus den Kasernen zu holen, sondern auchdie Geisteshaltung in der Bundeswehr muss verändertwerden.
Bei Franco A. geht es um einen einzigen Fall, der sehrschlimm ist, aber nicht einmal nach § 129a des Strafge-setzbuches verfolgt wird, obwohl wir es hier mit einerTerrorzelle innerhalb der Bundeswehr zu tun haben.
Ich bin mir sicher: Wenn es hier um einen Migranten ge-gangen wäre – um Amri oder andere –, dann hätten Sieschon längst danach geschrien. Hier wird also mit un-terschiedlichen Maßstäben an die Sache herangegangen.
Herr Arnold, ich will Ihnen gerne noch drei Beispieleaus unserer Kleinen Anfrage nennen:Ein freiwillig Wehrdienstleistender steckt ein Haken-kreuz an die Kapuze seiner Feldjacke.
Die Folge ist ein strenger Verweis – mehr nicht.Ein anderer Soldat streckt beim Verlassen der Kasernedie Hand zum Hitlergruß aus dem Wagen und grüßt denPosten, der dort steht, mit „Heil Hitler“.Ein weiterer Soldat outet sich gegenüber dem Finanz-amt als sogenannter Reichsbürger. Das Verteidigungs-ministerium wird informiert. Was passiert? Außer einemVerweis nichts.Henning Otte
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Meine Damen und Herren, solche Rechtsextremisten,Hitler-Verehrer und Reichsbürger haben in der Bundes-wehr nichts zu suchen. Sie müssen dort entfernt werden.
Der Umgang mit solchen Fällen, nämlich einfach wegzu-gucken, ist ein Teil des Problems.Ich will Sie noch einmal daran erinnern: Diese Sol-daten werden an Waffen ausgebildet. Diese Rechtsex-tremisten und Reichsbürger, von denen man weiß, dasssie eine Waffenaffinität haben – aus diesen Reihen wurdesogar schon auf Leute geschossen –, verbleiben weiter inder Bundeswehr. Das geht gar nicht.
Vor wenigen Tagen habe ich eine sehr interessanteAntwort auf meine Kleine Anfrage zur Lent-Kaserne inRotenburg bekommen. Es geht darum, dass diese Kaser-ne immer noch nach einem Wehrmachtspiloten benanntist, der 1944 ein fanatischer Endsieghetzer war. Es wirddort in der Bevölkerung darüber diskutiert.Ich habe das Verteidigungsministerium gefragt – ichzitiere das einmal wortwörtlich –:Welche Gründe sprechen aus Sicht der Bundes-regierung im Allgemeinen dafür, Kasernen nach
Ich frage Sie ernsthaft, Frau Ministerin: Wie bitte? Siehaben hier heute viele richtige Sachen gesagt, aber Siehaben die Meinungsbildung über die Benennung von Ka-sernen mit Wehrmachtsnamen noch nicht abgeschlossen?Sie haben keine Meinung dazu?Genau das zeigt die falsche Geisteshaltung von obenher. Hier müssen Sie politische Verantwortung überneh-men.
Sie sagen, die Soldaten sollen entscheiden, von untensoll entschieden werden. Wissen Sie, wie die Soldatenentschieden haben? Natürlich haben sie sich wieder fürden Namen entschieden. Das ist das Problem. Deswegenmüssen Sie und die Führung Ihres Ministeriums selberEntscheidungen treffen und dürfen nicht stattdessenScheindemokratie mit den Soldaten üben. Hier geht esum Inhalte.
Für alle, die es vielleicht vergessen haben, will ichnoch einmal ganz klar sagen: Die Wehrmacht war eineKriegsverbrecherorganisation.
Sie hat Hunderttausende, ja Millionen von Zivilisten er-mordet. Der Wehrmacht in irgendeiner Art und Weise zuhuldigen, auch in Form von Kasernennamen, damit mussendlich Schluss gemacht werden.
Meine Damen und Herren, zum Schluss noch eins.Wer in der Bundeswehr wirklich etwas verändern will,muss endlich eine andere Ausbildung, eine andere Schuledurchsetzen. Die Geisteshaltung muss verändert werden.Ich denke, auch die Stoßrichtung, dass die Bundeswehrimmer mehr als Kampfarmee im Ausland eingesetzt wirdund nicht mehr zur Landesverteidigung, wie es die Ver-fassung vorschreibt, beeinflusst die Geisteshaltung undbringt so manchen dazu, die Wehrmacht als Vorbild zusehen.
Daran müssen Sie arbeiten, sehr geehrte Frau Ministe-rin. Alle anderen Maßnahmen werden nur oberflächlichetwas ändern, aber insgesamt nicht viel bringen.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Fritz Felgentreu
für die SPD.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! KollegeOtte von der Union hat eben die Kompetenz der Unionfür Innen- und Verteidigungspolitik betont.
Damit muss man zum gegenwärtigen Zeitpunkt einbisschen vorsichtig sein, finde ich. Es sind immerhindiese beiden unionsgeführten Ministerien gewesen – seitzwölf Jahren unionsgeführt –, die ein pseudointellektuel-ler, rassistischer Mittzwanziger monate- und jahrelang ander Nase herumführen konnte.
Insofern Obacht mit dem, was man für sich selber alsKompetenz beansprucht!Aber eines gilt grundsätzlich – ich glaube, in demPunkt sind wir uns alle einig –: Für Rechtsextremismusim Denken, im Reden und im Handeln darf es in Ein-richtungen des Staates keine Toleranz und keinen Raumgeben.
Ulla Jelpke
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Für die Armee der freien Republik gilt das ganz beson-ders; denn jede Armee hat viel von dem zu bieten, wasRechtsextremisten gefällt: Uniform, Waffen, straffe Hie-rarchien, Befehl und Gehorsam. Deshalb erwartet dieSPD-Fraktion von der Bundeswehr auf allen Ebenen eineerhöhte Sensibilität für rechtsextreme Tendenzen und dieBereitschaft, ihnen entgegenzuwirken, vor allem durchdie Methoden der Inneren Führung.Was bedeutet das für den Fall Franco A.? Ziemlichwenig, Kolleginnen und Kollegen; denn Franco A. undseine Komplizen hatten mental die Grenze zum Terro-rismus überschritten. Sie bereiteten sich konspirativ aufeine Mordserie vor. Mit Innerer Führung ist solchen Leu-ten nicht beizukommen. Zugleich liegt auf der Hand:Man hätte ihnen viel früher das Handwerk legen müssen.Dass es dazu nicht kam, war vor allem ein Versagen derDienstaufsicht und der Meldekultur.Den entscheidenden Anlass hätte zwingend die vonFranco A. an der französischen Militärakademie Saint-Cyr im Dezember 2013 eingereichte Masterarbeit liefernmüssen. Schon am 8. Januar 2014 teilte der französischeKommandeur der Akademie offiziell mit, dass die Arbeitabgelehnt wird und dass sie nach französischen Maßstä-ben ein Grund für den sofortigen Abbruch des Studiumswäre.Meine Damen und Herren, das ist ein bemerkenswer-ter Vorgang. Franco A. war für sein Auslandsstudiumhandverlesen. So ein Soldat steht in den Augen seinerausländischen Vorgesetzten am Ende offiziell als voll-ständig ungeeignet für eine Offizierslaufbahn da; eineEinschätzung unseres engsten und wichtigsten Verbün-deten in Europa. Deswegen hätte meines Erachtens dasMinisterium schon damals zumindest informiert werdenmüssen.Die Bundeswehr hat schnell reagiert. Noch im Janu-ar wurde die Arbeit übersetzt. Am 18. Januar 2014 lagein Gutachten des militärgeschichtlichen Forschungs-zentrums vor. Ich zitiere aus dem Ergebnis: Der Text istkeine politikwissenschaftliche Abhandlung, sondern einAufruf, „einen politischen Wandel herbeizuführen, derdie gegebenen Verhältnisse an das vermeintliche Natur-gesetz rassischer Reinheit anpasst“.Meine Damen und Herren, dann erfolgte ein Total-zusammenbruch von Dienstaufsicht und Meldekultur.Die Untersuchung wurde am 27. Januar 2014 mit einerBelehrung, also mit einer einfachen erzieherischen Maß-nahme, abgeschlossen. Der damit betraute Rechtsberaterwollte dem intelligenten jungen Mann mit dem treuher-zigen Augenaufschlag nicht durch eine Disziplinarstrafeseine Karriere verbauen. Es gab keine Meldung an denMilitärischen Abschirmdienst. Franco A. durfte eineneue Masterarbeit schreiben und wurde im Juli 2015 Be-rufssoldat. Kein halbes Jahr später tauchte er als Flücht-ling David Benjamin in Offenbach auf.Der Bericht über das Versagen von Dienstaufsichtund Meldekultur lässt sich fortsetzen; darauf verzichteich aus Zeitgründen. Der bereits erwähnte Rechtsbera-ter jedenfalls ist dabei noch in diesem Frühjahr als eineSchlüsselfigur anzusehen. Aber schon die Vorgänge ausdem Januar 2014 hätten zwingend verhindern müssen,dass Franco A. Berufssoldat wird. Eine rechtzeitige Mel-dung an den MAD hätte ihn darüber hinaus wahrschein-lich als Extremisten enttarnt.Der entscheidende Punkt ist, dass hier grundlegendeElemente der militärischen Führung versagt haben. Dasist übrigens auch der einzige Zusammenhang des FallesFranco A. mit den Exzessen, die wir im letzten halbenJahr an zwei Standorten bei der militärischen Ausbildungzur Kenntnis genommen haben.Hier setzt auch meine Kritik ein. Frau Ministerin, fürdas Funktionieren der Dienstaufsicht und die Meldekul-tur in der Bundeswehr tragen Sie seit fast vier Jahren diepolitische Verantwortung. Statt sich dieser Verantwor-tung zu stellen, haben Sie Franco A. zum Ausgangspunktfür eine Debatte über die Traditionspflege in der Bundes-wehr gemacht. Das empfinde ich als unseriös und kon-traproduktiv.
Was die Bundeswehr jetzt vor allem braucht, ist eineStärkung von Dienstaufsicht, Meldekultur und InnererFührung. Dazu gehört, dass die Meldung von Missstän-den ganz grundsätzlich als positiver Beitrag zur Entwick-lung der Bundeswehr anerkannt wird. Soldatinnen undSoldaten, die damit vortreten, dürfen in der Truppe wederals Nestbeschmutzer wahrgenommen noch so behandeltwerden.Die Debatte über die Tradition in der Bundeswehr hatihre Berechtigung. Aber sie darf nicht dazu instrumenta-lisiert werden, von der Verantwortung für den Fall Fran-co A. und seine notwendigen Konsequenzen abzulenken.Danke schön.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Agnieszka Brugger fürBündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Lieber Herr Otte, das, was Siegerade gemacht haben, ist ganz schön billig und hat auchnichts mit dem zu tun, was die Kollegin Künast gesagthat. Ich kann Ihnen nur empfehlen, einmal aktuell mitden Soldatinnen und Soldaten zu sprechen und sie zufragen, von wem sie sich gerade unter Generalverdachtgestellt gefühlt haben. Dann werden Sie den Namen derVerteidigungsministerin hören.
Meine Damen und Herren, es gibt sehr viele Solda-tinnen und Soldaten, die ihren Dienst mit einer beein-druckenden Haltung, großem Verantwortungsgefühl unddem richtigen Verständnis von Kameradschaft tun, dieDr. Fritz Felgentreu
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Probleme lösen, Missstände melden und Verbesserungenanstoßen wollen. Es ist nicht Alltag; aber ich finde, vielzu oft erleben wir – und das bei einer Reihe von unter-schiedlichen Themen –, dass diese Soldatinnen und Sol-daten nicht gehört werden, an ihre Grenzen stoßen oderim schlimmsten Fall sogar benachteiligt werden, wäh-rend gerade diejenigen, die für diese Probleme verant-wortlich sind, diese vertuschen und ihre Macht über an-dere missbrauchen, leider viel zu oft unbehelligt bleibenund weiter Karriere machen können.Das ist für mich ein Kern der aktuellen Debatten derletzten Wochen und Monate um die Innere Führung. Dasdarf nicht sein, und das muss sich endlich ändern.
Der zweite Kern – denn in den Debatten geht in derAufgeregtheit einiges durcheinander – ist doch, dass überJahre hinweg eine gewaltbereite, hochgefährliche rechteGruppe in der Bundeswehr unbehelligt ihr Unwesen trei-ben und Anschläge gegen Aktivisten und Politikerinnenund Politiker planen konnte. Man mag sich gar nicht aus-malen, was ohne den Waffenfund in Wien alles an Ent-setzlichem hätte passieren können.Es gab eine Masterarbeit, die keinen Zweifel an derrassistischen, rechtsextremen und hasserfüllten Gesin-nung des Franco A. offenlässt. Es ist nichts passiert.Es gab den Diebstahl einer Riesenmenge an Munition.Es ist niemandem aufgefallen.Der dritte nun Festgenommene gerät sogar ins Visierdes Militärischen Abschirmdienstes. Er versucht, ande-re für Gewalttaten gegen Flüchtlinge anzuwerben, undeinmal mehr passiert nichts, und die Gefahr wird nichterkannt.Meine Damen und Herren, mit jeder Woche wird dieListe des Komplettversagens länger und länger.
Allein das sind drei Alarmzeichen, die ignoriert wordensind und bei denen nicht gehandelt wurde. Es sind dreiGelegenheiten, bei denen ungeheuerliche, ja unverzeihli-che Fehler begangen worden sind. Auch das darf nie, niewieder passieren.Frau Ministerin, im Ausschuss fragten wir Sie nachIhren eigenen Versäumnissen und Fehlern. Wir fragenSie, wann Sie sich in den über drei Jahren mit so wich-tigen Themen wie dem Rechtsextremismus und der In-neren Führung beschäftigt haben. Da kommt aber so gutwie nichts; da gibt es keine wirkliche Antwort.Sie können hier nicht einfach sagen: „Schuld sind im-mer die anderen“, und die Verantwortung weit von sichschieben; denn all diese Fehler fallen nun einmal in IhreAmtszeit. Die Frage, die sich hier aufdrängt, ist: Warumbraucht es erst die schrecklichen Enthüllungen um denFall Franco A., damit man genauer hinschaut?Es gab eine Reihe von Gelegenheiten, wo wir überdiese wichtigen Themen hätten diskutieren können undmüssen: der Bericht des Wehrbeauftragten, die Schluss-folgerungen des Untersuchungsausschusses zum NSU,die Debatten um die Führungskultur und die Defizite beiden internen Kontrollmechanismen, die ganzen Diskus-sionen um den und mit dem MAD und die Debatte umdie problematischen Kasernennamen. Es war ganz oftdie Opposition, die diese Fragen auf die Tagesordnunggesetzt hat. Und ich kann mich, liebe Kolleginnen undKollegen, durchaus daran erinnern, wer dann an der Stel-le im Ausschuss mit den Augen gerollt hat.
Frau Ministerin, auch Sie haben die Debatten nichternst genommen, und Sie haben ihnen keine Priorität ein-geräumt. Unsere Kritik bezieht sich aktuell im Großenund Ganzen doch nicht darauf, dass Sie jetzt im Rahmeneines Ankündigungsstakkatos viele längst überfälligeReformprozesse anstoßen. Im Gegenteil: Unsere Kritikbezieht sich darauf, dass Sie nicht handeln, wenn dieProbleme da sind, sondern dass Sie zu spät und immernur dann handeln, wenn ein Skandal die Schlagzeilen er-reicht.
Nach über drei Jahren als Ministerin – und damit auchals oberste Chefin – nimmt Ihnen doch einfach niemandmehr die Rolle der großen Reformerin und unabhängigenChefaufklärerin ab. Gerade deshalb hagelt es Kritik –nicht nur vonseiten der Opposition, sondern auch von derKoalition und aus der Bundeswehr heraus. Es hagelt auchdeswegen Kritik, weil viele wieder einmal den Eindruckhaben, dass für Sie die Profilierung und die Inszenierungim Vordergrund stehen. Ich kann dieses Gefühl – auchaufgrund der Erfahrungen der letzten Jahre – bestätigen.Man hatte immer wieder das Gefühl, dass das zynischeMotto im Raum steht: Bad News für die Bundeswehrsind Good News für die Ministerin.Die heftige Kritik hat auch etwas damit zu tun, dasswir alle nur allzu oft erlebt haben, dass Ihren großen An-kündigungen im Scheinwerferlicht ein paar Wochen spä-ter bei Tageslicht nicht mehr viel gefolgt ist.
– Ich bleibe dran. Auch Sie wissen genau, wer die Fragenstellt und guckt, was am Ende davon übrig bleibt. Daswar bisher nicht gerade die Union.
Frau Ministerin, Sie sind mit dem Anspruch angetre-ten, alles anders und besser zu machen als Ihre Vorgän-ger. Mit dieser ganzen Art erinnern Sie mich aber sehran einen Ihrer Vorgänger, nämlich an Karl-Theodor zuGuttenberg.
Frau Ministerin, ich kann Ihnen versprechen: Wirwerden Sie an Ihren Worten messen, wir werden dasüberprüfen. Entscheidend ist doch, dass wir am Ende desTages nicht nur markige Pressestatements, Mammutpro-zesse und dicke Berichte haben, sondern dass es echteVeränderungen gibt, die die Bundeswehr und die InnereFührung stärken.Agnieszka Brugger
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Es ist für alle Soldatinnen und Soldaten einfacher, frü-her hinzuschauen und wachsam zu sein, wenn auch alleVorgesetzten dies leben und tun. Das gilt zuallererst fürdie Ministerin, ihre oberste Chefin.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Mathias Höschel
für die CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
legen! Der Fall des verhafteten mutmaßlich rechtsradika-
len Bundeswehr-Oberleutnants Franco A. und des eben-
falls verhafteten Maximilian T. hat uns alle geschockt
und beschäftigt uns seit Wochen. Die Hintergründe und
die möglichen Weiterungen des Falls sind noch längst
nicht vollständig aufgeklärt. Eines aber – das hat die
Ministerin öffentlich und in den Sitzungen des Verteidi-
gungsausschusses in den vergangenen Wochen und auch
heute wieder deutlich angesprochen – ist klar: Es hat Ver-
säumnisse und Versagen einzelner Vorgesetzter gegeben.
Das muss aufgeklärt werden.
Die notwendigen Gegenmaßnahmen müssen umgehend
beschlossen und umgesetzt werden.
Die Debatte hier ist deshalb außerordentlich wichtig,
weil die Bundeswehr für uns so bedeutend ist. Sie be-
ginnt aber absurd zu werden, wenn Kollege Arnold es
bedauert, dass fortan das Foto unseres ehemaligen Bun-
deskanzlers Schmidt, der eine Wehrmachtsuniform trägt,
nicht mehr die Räume der Münchner Universität zieren
darf.
Die Ministerin hat auf dem Weg der Aufklärung un-
sere volle Unterstützung. Sie hat unmittelbar nach Be-
kanntwerden des Falls zügig und konsequent gehandelt.
Das war politisch vorbildlich. Deshalb ist nicht das Han-
deln von Ursula von der Leyen das Problem, sondern wir
haben ein anderes Problem: Wir haben es hier offenkun-
dig mit Kriminellen zu tun, die die Bundeswehr hinter-
listig getäuscht und für ihre Machenschaften instrumen-
talisiert haben. Sie haben sich den Zugang zu Waffen und
Ausbildung bei der Bundeswehr zunutze gemacht, um
staatsgefährdende Staatstaten zu planen.
Mit hoher krimineller Energie hat Franco A. nicht nur
das BAMF getäuscht, indem er sich eine neue Identität
beschafft hat, sondern auch seine Vorgesetzten und Ka-
meraden. Es ist gut, dass sein Tun rechtzeitig entdeckt
und dem ein Ende bereitet wurde. Ich möchte eines
festhalten: Jetzt der Bundeswehr rechte Tendenzen zu
unterstellen, ist völlig unangebracht. Wir haben volles
Vertrauen in unsere Soldatinnen und Soldaten, die ange-
sichts ihrer vielfältigen, schwierigen und teils gefährli-
chen Aufgaben im In- und Ausland unseren vollen Res-
pekt verdienen, genauso wie deren Familien.
Die aktuellen Zahlen des Militärischen Abschirm-
dienstes und diesen grundsätzlich in seiner Wirkung
infrage zu stellen, halte ich für völlig unangemessen.
Die aktuellen Zahlen belegen einen erkennbaren Rück-
gang rechtsradikaler Verdachtsfälle in der Bundeswehr.
In diesem Jahr sind es bisher 104 Fälle; 2015 waren es
265 Fälle. Tatsächlich hat sich der Verdacht nur in einem
Bruchteil der Fälle – ein geringer Prozentsatz von 1 bis
2 Prozent – bestätigt.
Dann generell der Truppe rechtsradikale Tendenzen zu
unterstellen, geht an der Sache vollkommen vorbei.
Dennoch – das ist wichtig –: Jeder Fall von politi-
schem Extremismus in der Bundeswehr, ob von rechts
oder von links – verbunden mit krimineller Energie –, ist
ein Fall zu viel. Jede Form von Extremismus muss mit
allen Mitteln bekämpft und verhindert werden. Bei einer
Freiwilligenarmee sind diesbezüglich große Sensibilität
und Wachsamkeit vonnöten. Die Bundesministerin hat
angekündigt, dass sie unter anderem die Wehrdisziplinar-
ordnung, den Traditionserlass, das gesamte Thema der
politischen Bildung und die Meldeketten bei der internen
Kommunikation auf den Prüfstand stellen wird und dass
dort, wo reformiert werden soll, auch reformiert wird.
Das Ganze soll in einem inklusiven und integrativen
Prozess der Kommunikation mit den Soldaten erfolgen.
Außerdem wird dafür gesorgt, dass der Bewerber für die
Bundeswehr vor der Einstellung noch effektiver als bis-
her überprüft wird.
Das sind die richtigen Antworten auf diesen besonders
eklatanten Fall, auf diesen Fall offenkundig politisch mo-
tivierter Kriminalität in unseren Streitkräften.
Ich bin davon überzeugt, dass die Ermittlungen der
Staatsanwaltschaft und die Maßnahmen des Verteidi-
gungsministeriums richtig sind, um diesen Fall aufzu-
klären und die angemessenen Konsequenzen daraus zu
ziehen.
Nächster Redner ist der Kollege Lars Klingbeil für dieSPD.
Agnieszka Brugger
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin, das ist keine ein-
fache Diskussion; das will ich gleich zu Beginn sagen.
Ich bin seit acht Jahren Mitglied des Verteidigungsaus-
schusses und bin der Meinung, dass gerade dieser Aus-
schuss von dem Bewusstsein einer gemeinsamen Verant-
wortung, die wir für die Bundeswehr haben, lebt. Aber
ich muss in den letzten Wochen feststellen, dass vieles
von dem, was ich als gemeinsames Fundament wahrge-
nommen habe, von anderen verlassen wurde. Deswegen
ist es richtig, dass wir heute hier eine kritische Debatte
führen.
Frau Ministerin, ich will das gleich zu Beginn sagen:
Das, was wir bisher im Fall Franco A. wissen, erschüttert
uns und macht uns fassungslos. Das muss in aller Kon-
sequenz aufgeklärt werden. Dafür haben Sie, dafür hat
das Ministerium – so hoffe ich – die volle Unterstützung
dieses Hauses.
Wenn wir über diesen Fall reden, müssen wir auch
darüber sprechen, wer Verantwortung trägt. Wir müssen
klären, wo Fehler passiert sind. Wenn – das will ich hier
deutlich sagen – ein blonder, deutscher Mann, der kein
Wort Arabisch spricht, in einer Behörde, für die Herr de
Maizière Verantwortung trägt, einen Schutzstatus als sy-
rischer Flüchtling bekommt, dann müssen wir feststellen,
dass in der Verantwortung von Herrn de Maizière etwas
falsch gelaufen ist. Das muss aufgeklärt werden.
Frau Ministerin, da in Ihrer Verantwortung mittlerweile
zwei Personen verhaftet wurden, die aktiv bei der Bun-
deswehr waren und bei denen es deutliche Hinweise
nicht nur auf rechtsextremes Denken, sondern auch auf
rechtsextremes Handeln gab – die Masterarbeit und die
Anwerbeversuche wurden bereits angesprochen –, und es
keine deutlichen Konsequenzen gegeben hat, muss ich
sagen, dass auch Sie, Frau Ministerin, Verantwortung für
das tragen, was dort passiert ist. Das muss klar angespro-
chen werden.
Wenn man Ihnen, Frau von der Leyen, zuhört, dann
bekommt man manchmal den Eindruck, Sie seien erst
seit zwei Wochen im Amt. Aber Sie tragen die Verant-
wortung für die Bundeswehr seit knapp vier Jahren, und
deswegen sind für die Aufklärung auch folgende Fragen
berechtigt: Was haben Sie eigentlich in diesen vier Jahren
getan, um die politische Bildung zu stärken? Was haben
Sie eigentlich getan, um die Innere Führung in der Bun-
deswehr zu stärken?
Ich will daran erinnern, dass wir Anfang des Jahres
sogar noch eine Diskussion über einen Maulkorberlass
aus dem Ministerium hatten, bei dem es darum ging, dass
Soldatinnen und Soldaten weniger mit Politikern, Jour-
nalisten und Wirtschaftsvertretern reden sollen. Das ist
das Gegenteil von Stärkung der Inneren Führung, und
auch das fällt in Ihre Verantwortung, Frau Ministerin.
Ich will auch sagen: Ihre Rede vorhin war gut. Da war
vieles dabei, dem ich zustimmen und zu dem ich sagen
kann: Da sagt die Ministerin richtige Dinge. – Aber die
Skepsis ist gewachsen. Wir erleben doch immer wieder,
dass gewisse Situationen eintreten und dann Reden und
Auftritte mit Pathos erfolgen; wir erleben Inszenierun-
gen, Ankündigungen und sehen große Überschriften.
Aber wenn man näher darauf schaut, dann sieht man,
dass in der Substanz wenig bleibt. Alles, was angestoßen
wird, wird auf die nächste Legislatur verschoben. Frau
Ministerin, das ist nicht die Politik, die ich mir für unsere
Bundeswehr wünsche.
Ich will Ihnen am Ende sagen: Ich bin Munsteraner.
Münster ist der größte Heeresstandort. Ich kenne dort
viele Soldatinnen und Soldaten, habe Freunde und Be-
kannte, die dort tagtäglich tadellos ihren Dienst in der
Truppe leisten. Das sind gute Demokraten, die sich da-
rum kümmern, dass das Gemeinwohl und das Zusam-
menleben zwischen Bundeswehr und Gesellschaft funk-
tionieren. Das sind Leute, denen wir den Rücken stärken
müssen, weil sie den richtigen Weg in dieser Bundeswehr
gehen. Diesen Leuten sind Sie, als Sie unter Druck gera-
ten sind, mit Ihrer Pauschalkritik, dass die Bundeswehr
ein Führungs- und Haltungsproblem habe, in den Rücken
gefallen. Bei diesen haben Sie Enttäuschung hervorgeru-
fen; da ist Vertrauen verloren gegangen. Frau Ministerin,
Sie hätten heute hier an diesem Pult die Chance gehabt,
sich bei all diesen Menschen zu entschuldigen. Das ha-
ben Sie nicht getan; das kritisiere ich hier zutiefst.
Frau Ministerin, wenn am Ende die Abgeordneten der
Linkspartei die Einzigen im Parlament sind, die ehrlich
für das applaudieren, was Sie tun, dann sollten Sie sich
fragen, was Sie falsch gemacht haben.
Vielen Dank fürs Zuhören.
Für die CDU/CSU spricht jetzt die Kollegin Gisela
Manderla.
Herr Präsident! Sehr verehrte Ministerin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Wenn man sich das Thema derheutigen Aktuellen Stunde anschaut und die zur Verfü-gung stehenden Zahlen und Daten zu diesem Bereichdanebenlegt, dann kann man sich eigentlich nur wun-dern. Die anberaumte Aktuelle Stunde trägt den Titel„Aufklärung möglicher rechtsextremer Strukturen in der
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Bundeswehr“. Schaut man aber in die entsprechendenDokumente, wie den Jahresbericht des Wehrbeauftragtenoder die Statistiken des Militärischen Abschirmdienstes,MAD, dann sieht man zunächst nur eins – das hat Kolle-ge Höschel schon gesagt –: seit Jahren rückläufige Ver-dachtsfälle und Eingaben,
eine schrumpfende Anzahl von Verdachtspersonen undeine verschwindend geringe Anzahl von sich bewahrhei-tenden Einzelfällen von Rechtsextremismus. Auch diejetzt aufgedeckten Fälle sind Einzelfälle.
– Ja, ich glaube; das stimmt. Aber nicht an das, woranSie glauben.
Nun fragt man sich aber zwangsläufig: Wie passt daszusammen? Hat unsere Bundeswehr wirklich ein struk-turelles Problem mit Rechtsextremismus? Oder ist dieMotivlage hinter der Beantragung der Aktuellen Stundedoch etwas anders, und der Titel – das haben die Vorre-den auch gezeigt – hätte besser lauten sollen: „Aufklä-rung der Hintergründe des Einzelfalls Franco A.“? Oderhat das Ganze vielleicht auch etwas mit Wahlkampf zutun?
Das hätte aus einer Vielzahl von Gründen deutlich mehrSinn gemacht; denn ein strukturelles Problem mit Rechts-extremismus in der Bundeswehr ist für mich nach allem,was wir heute wissen, beileibe nicht erkennbar.
Als Mitglied des Verteidigungsausschusses sprecheich oft mit unseren Soldaten und Soldatinnen, und ichbesuche regelmäßig Standorte wie meine Kollegen auch,und zwar im Inland und im Ausland. Aus diesen zahllo-sen Gesprächen und Besuchen kann ich nur eines ablei-ten: Die absolute Mehrheit der Bundeswehrangehörigenleistet einen tadellosen Dienst für unser Land,
sei es im Grundbetrieb in der Heimat oder in den Aus-landseinsätzen.
Daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. Das möchte ichhier noch einmal deutlich zum Ausdruck bringen. Den-noch müssen – auch hier besteht kein Zweifel – die Vor-gänge und Umstände rund um den Fall Franco A. lücken-los aufgeklärt werden. Es ist unstrittig, dass eine solcheMischung aus rechtsgerichteter Ideologie und kriminel-ler Energie frühzeitig hätte identifiziert werden müssen.Die Bundeswehr verfügt mit der Wehrdisziplinarord-nung und den übergeordneten Leitprinzipien der Inne-ren Führung bereits über ein umfangreiches und in vie-len Fällen bewährtes Instrumentarium für den Umgangmit Verdachtsfällen dieser Art. Aufgrund subjektiverFehleinschätzungen ist dieses Instrumentarium im Fall Franco A. aber nicht konsequent genug angewandt wor-den. Genau das muss kritisch aufgearbeitet werden.Unsere Bundesministerin Frau von der Leyen hat des-halb richtigerweise angeordnet, die rechtlichen und pro-zessualen Rahmenbedingungen für solche Fälle kritischzu überprüfen und zu überdenken sowie die Vorgängerund um den inhaftierten Soldaten schonungslos aufzu-klären. Dieser Ansatz ist richtig und verdient unsere volleUnterstützung.Der Versuch aber, aus diesem Fall ein generelles Ver-sagen im Umgang mit potenzieller Rechtsradikalität inder Bundeswehr abzuleiten, ist vollkommen absurd undentbehrt jeglicher Grundlage. Zudem, meine Damen undHerren, wirft er – das ist der entscheidende Punkt – einvöllig falsches Licht auf die zahllosen Soldatinnen undSoldaten, die sich tagtäglich ihrem Eid verpflichtet füh-len und ihren Dienst zur Gewährleistung der Sicherheitdieses Landes korrekt, gewissenhaft, mit hoher Motivati-on, Leistungsbereitschaft und in 60-jähriger stolzer Tra-dition absolvieren.Vor diesem Hintergrund sind die durchsichtigen Ver-suche, auf dem Rücken und zulasten unserer Soldatenund Soldatinnen Wahlkampfmanöver aufzuführen, bes-tenfalls als bedenklich einzustufen und mit uns als Uni-onsfraktion nicht zu machen, liebe Kollegen und Kolle-ginnen.
Ich stelle also fest: Die Bundeswehr steht fest auf demFundament unserer freiheitlich-demokratischen Grund-ordnung. Die überwältigende Mehrheit unserer Soldatin-nen und Soldaten leistet einen einwandfreien Dienst undgenießt unser volles Vertrauen.Bitte benutzen Sie das Wort „Amen“ nicht in diesemZusammenhang; dabei fühle ich mich als Katholikin dis-kriminiert.Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Kollege Florian Hahn für die
CDU/CSU.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mitdem Aufdecken des Falls von Franco A., der möglicher-weise eine Art rechtsextreme, vielleicht sogar rechtster-roristische Gruppierung aufbauen wollte, der mindestensGisela Manderla
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ein weiterer Angehöriger der Bundeswehr zuzurechnenist, wurde eine politische Dynamik ausgelöst – zu Recht;zu alarmierend ist dieser Sachverhalt.Ja, es sind Fehler gemacht worden. Aufgrund seinerMasterarbeit mit ihren offensichtlichen rechtsextremis-tischen Inhalten hätte Franco A. nie eine Chance habendürfen, dienstlich aufzusteigen und Karriere zu machen.Ich glaube, darin sind wir uns alle einig. Rechtsextremis-mus hat in der Bundeswehr nichts zu suchen!
Ja, das ist so.
Es ist deshalb wichtig und richtig, dass die Minis-terin von der Leyen diesem, wie auch anderen Fällen,konsequent nachgeht, sie aufklärt und Entscheidungentrifft. Gegebenenfalls sind die Instrumente der InnerenFührung entsprechend nachzuschärfen. Das wird sich beisachlicher Betrachtung der finalen Untersuchungsergeb-nisse zeigen.Ich möchte einmal wissen, wie hoch der Grad derEmpörung auch in diesem Hause gewesen wäre, wenndie Ministerin diese Schritte nicht gemacht hätte. Ihr des-wegen Show zu unterstellen, ist – das muss ich sagen –wirklich zynisch.
Diejenigen, die dies als Show bezeichnen, sind dieje-nigen, die selbst eine Show für sich aus diesem Themamachen wollen.
Die von den Linken beantragte Aktuelle Stunde ist al-lerdings eine Farce. Sie zielt eben nicht darauf ab, denvon mir eben beschriebenen Weg der Aufklärung, derBewertung und der möglichen Neujustierung konstruk-tiv zu begleiten, sondern darauf, die Gunst der Stunde zunutzen, um die von vielen von Ihnen ungeliebte und ab-gelehnte Organisation Bundeswehr mit ihren 250 000 zi-vilen und militärischen Angehörigen einmal mehr öf-fentlich in die Pfanne zu hauen. Sie wollen ein Zeichensetzen gegen die Bundeswehr. Das dürfen wir Ihnen sonicht durchgehen lassen.
Es geht der Linken eben nicht um Aufklärung, son-dern um den generellen Vorwurf, dass jede militärischeAusbildung eine rechtsextreme Ausprägung anzieht undfördert. Sie wollen die Bundeswehr als Hort des Rechts-extremismus darstellen. Das lassen wir Ihnen nichtdurchgehen. Die Bundeswehr ist seit über 60 Jahren derGarant für Freiheit, Sicherheit und Demokratie in unse-rem Land. Darauf sollten wir alle stolz sein.
Eins muss betont werden: Die Bundeswehr leistet her-vorragende Arbeit in einem Bereich, der kein Job wie je-der andere ist, der gefährlich ist, wie wir heute mit Blickauf den tragischen Unfall in Wildflecken einmal mehr er-leben müssen. In Somalia, in Mali und im Nordirak undin vielen anderen Regionen absolvieren unsere Solda-tinnen und Soldaten aktuell einen erstklassigen Einsatz.Sie lassen sich leiten von einer menschenrechtsbasiertenHaltung. Die Ausbildung und das Training basieren auchhier auf dem Leitgedanken der Inneren Führung. All dasführt natürlich auch dazu, dass die Bundeswehr inzwi-schen genau wegen dieser Einsätze in den Einsatzgebie-ten im Ausland einen entsprechenden Ruf genießt.Wir haben heute im Ausschuss über die aktuellenEreignisse intensiv diskutiert, und die Diskussion warleider in großen Teilen wie auch hier im Plenum bereitsvom bevorstehenden Wahlkampf geprägt.
Der Generalinspekteur hat dabei über die Ergebnisseder von ihm angeordneten Bestandsaufnahme von Aus-stellungsstücken, Symbolen und anderen Gegenständenmit unkommentiertem Bezug zur Wehrmacht berichtet.41 Fundstücke wurden danach gemeldet. Ich muss sagen:Das ist für mich nicht wirklich ein alarmierendes Ergeb-nis; vielmehr zeigt es, dass wir hier nicht wirklich eingroßflächiges Problem haben. Das ist doch einmal etwasPositives, was wir unterstreichen sollten.
Allerdings hat der Generalinspekteur von zwei Bei-spielen berichtet, bei denen in neu aufgestellten Batail-lonen bei der Einrichtung eines Aufenthaltsraumes – wirkennen den Fall – und bei der Gestaltung einer Gedenk-münze auf Wehrmachtssymbole zurückgegriffen wurde.Er hat dazu die richtige Frage gestellt mit Blick auf un-sere 60-jährige Erfolgsgeschichte der Bundeswehr: Wa-rum wird nicht stärker bei solchen Dingen auf dieselbeGeschichte, nämlich 60 Jahre Bundeswehr, zurückgegrif-fen? Diese Frage sollten wir uns auch stellen. Ich möchtedie These wagen, dass vielleicht gerade das über vieleJahre gepflegte freundliche Desinteresse an unserer Bun-deswehr in unserer Gesellschaft ein Auslöser für so etwasist. Mit dem Verbannen von Soldaten aus den Schulenund der Verhinderung von öffentlichen Gelöbnissen leis-tet beispielsweise linke Politik ihren Beitrag dazu genauwie mit dieser unnötigen Debatte.
Klar ist: 60 Jahre Bundeswehr bieten eine eigene Ge-schichte, auf die wir stolz sein können. Die Soldatinnenund Soldaten der Bundeswehr haben bewiesen, dass sieals „Staatsbürger in Uniform“ in weltweiten Einsätzen,aber auch bei Katastrophen oder bei der Flüchtlingshilfehervorragende Arbeit leisten. Diese positive Bilanz istauch die Bilanz einer guten Politik und einer guten Arbeitvon entsprechenden Ministern, die dies zu verantwortenhaben. Unsere Aufgabe ist es, genau das nach außen zutragen, um die ganz große Mehrheit unserer Soldatinnenund Soldaten vor einem falschen Eindruck zu schützen.Es ist aber umso wichtiger, mit den wenigen einzelnenFlorian Hahn
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schwarzen Schafen aufzuräumen und gegebenenfalls In-strumente der Inneren Führung im Miteinander nachzu-schärfen. Das ist unser politischer Auftrag.Vielen Dank.
Zum Abschluss dieser Aktuellen Stunde spricht der
Kollege Ingo Gädechens für die CDU/CSU.
Werter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Wenn man als letzter Redner einer Aktuellen Stun-de, die von den Linken beantragt wurde, reden darf, dannist schon linker Pulverdampf, dann ist oppositionell grü-ner Pulverdampf und dann ist sogar auch roter Pulver-dampf schon etwas verflogen,
sodass man vielleicht die Gemeinsamkeiten dieser De-batte herausarbeiten kann. Ich möchte diese Gemein-samkeiten dadurch unterstreichen, dass ich betone, dassRechtsextremismus, Extremismus ganz allgemein nichtin unserer Gesellschaft und schon gar nicht in unsererBundeswehr Raum und Platz finden dürfen.
Meine Damen und Herren, die Wehrmacht konnte nachdem Ende des dunkelsten Kapitels unserer Geschichteniemals identitätsstiftend für die Bundeswehr sein. DieBundeswehr hat aus eigener 60-jähriger Geschichte einegute Tradition und echte Vorbilder hervorgebracht undbraucht deshalb keine verherrlichten Relikte aus einerdunklen Zeit.Eine fortlaufende Überprüfung nicht nur des Traditi-onsbewusstseins, sondern auch der innerlichen Haltungder Truppe insgesamt ist dabei eine Grundvoraussetzungfür eine moderne Armee. Wie in vielen Bereichen sindauch hier eine große Sensibilität, aber auch Aufmerksam-keit gefordert.Wir hörten es: Der Fall Franco A. führte uns deutlichvor Augen, dass wir Missstände offen ansprechen unddiskutieren müssen. Ich bin sowohl der Ministerin alsauch dem Generalinspekteur dankbar, dass sie mit Ent-schlossenheit an die Aufgabe herangegangen sind, denVorfall Franco A. mit all seinen Verästelungen und denanderen Personen, die damit auch zu tun haben, vollum-fänglich aufzuklären.Die Vorgänge in Illkirch haben die Truppe verunsi-chert und – ich sage das mal – auch tief getroffen.
Für mich als Verteidigungspolitiker ist es wichtig, nichtnur hier im Plenum Rede und Antwort zu stehen, sondernauch mit den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehrvor Ort zu reden und ihnen gegenüber Solidarität zu be-kunden. Am Montag dieser Woche habe ich die Truppebei einer großen Übung „Red Griffin“ besucht, an der3 500 Soldatinnen und Soldaten verschiedener Nationenteilnehmen. Ich habe in die Gesichter der Kameradinnenund Kameraden geschaut und gesehen: Sie waren tiefgetroffen, und die Debatte um Rechtsextremismus hatsie schwer belastet. Sie belastet diese Soldatinnen undSoldaten deshalb schwer – das haben einige Rednerinnenund Redner dankenswerterweise auch erklärt –, weil dieweit überwiegende Mehrheit der Soldatinnen und Solda-ten mit rechtsextremen Tendenzen, mit rechtsextrememGedankengut rein gar nichts am Hut hat. Deshalb hat essie besonders getroffen.
Die Verfehlungen Einzelner schaden dem Ruf derBundeswehr insgesamt. Ich sage, anders als der Kolle-ge Arnold: Natürlich ist die Bundeswehr Spiegelbild derGesellschaft. Sie ist es. Nur: Sie ist es nicht nur, wenn dasSpiegelbild gut aussieht, sondern sie ist es leider auch inso schlechten Fällen, wie sie sich zurzeit gezeigt haben.Liebe Kolleginnen und Kollegen, in meiner weit über30-jährigen aktiven Dienstzeit als Berufssoldat in derBundeswehr – ich habe die Hälfte der 60-jährigen Ge-schichte der Bundeswehr aktiv mitbekommen – habe ichein Spiegelbild dieser Gesellschaft erlebt. Die Soldatenhaben sich als hilfsbereit, als pflichtbewusst und solida-risch gezeigt. Neben ihrem eigentlichen Dienst haben siesich auch pflichtbewusst gegenüber unserer Gesellschaftgezeigt. Im Ehrenamt, egal ob im Sportverein oder in derfreiwilligen Feuerwehr, haben Soldatinnen und Soldatendemokratisches Grundverständnis gezeigt, und dafür,denke ich mal, gebührt ihnen an dieser Stelle – nebendem, was im Moment auch in der Diskussion ist – höchs-te Anerkennung.
Werte Kolleginnen und Kollegen, wir müssen rausaus diesen negativen Schlagzeilen; denn eigentlich wol-len wir junge Menschen für unsere Bundeswehr begeis-tern, dafür, dass sie Dienst für ihr Land, Dienst für ihrVaterland leisten, dafür, dass sie für den Schutz unsereräußeren Sicherheit einstehen. Deshalb – das sage ichganz ehrlich – ist diese Diskussion, die wir uns alle nichtgewünscht haben, schädlich, und deshalb ist Aufklärungnötig. Diese Aufklärung wird betrieben. Frau Ministerinhat in ihrem offenen Brief am 1. Mai geschrieben:... die große Mehrheit der Bundeswehrangehöri-gen ... tut dies mit großem Verantwortungsgefühlfür die ihnen anvertrauten Menschen und vollerRespekt vor der freiheitlich demokratischen Grund-ordnung.Dem, denke ich, ist nichts hinzuzufügen; denn ich bindavon überzeugt, dass die Soldatinnen und Soldaten sohandeln.Herzlichen Dank.
Florian Hahn
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Mai 2017 23529
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Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Nicht beendet ist die Verbundenheit des Deutschen
Bundestages mit der Bundeswehr, unserer Parlamentsar-
mee. Deshalb begrüße ich auf der Besuchertribüne eine
Reihe von Angehörigen der Bundeswehr. Sie haben un-
sere Verbundenheit.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Beratung des Berichts des Petitionsausschusses
Bitten und Beschwerden an den Deutschen
Bundestag
Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des
Deutschen Bundestages im Jahr 2016
Drucksache 18/12000
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Widerspruch
sehe ich keinen. Dann ist das so beschlossen.
Deshalb eröffne ich die Aussprache und erteile zu Be-
ginn das Wort der Vorsitzenden des Petitionsausschusses,
der Kollegin Kersten Steinke. – Sie haben das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Seit Gründung der Bundesrepublik ist das Pe-titionsrecht im Grundgesetz verankert. Dieses Recht zunutzen, ist für viele Bürgerinnen und Bürger oftmals dieletzte Instanz. Dieses Recht bietet oft auch die einzigeMöglichkeit, eine Beschwerde prüfen zu lassen, eineRechtsauskunft zu erhalten und Probleme mit Verwal-tungsbehörden zu lösen. Außerdem können Bürgerinnenund Bürger mit Bitten zur Gesetzgebung am politischenLeben teilhaben und zur Gestaltung unserer Gesellschaftbeitragen. Die Initiative liegt aber immer bei den Bürge-rinnen und Bürgern. Deshalb muss das Recht, eine Bitteoder Beschwerde einzureichen, noch bekannter und nochtransparenter gemacht werden. Petitionen sind für unsAbgeordnete wie Ideenboxen; denn viele Petitionen zei-gen uns auf, was bei einem neuen Gesetz in der Praxisnicht funktioniert oder wo Einrichtungen und Verwaltun-gen des Bundes fehlerhaft arbeiten.Der Petitionsausschuss war im Jahr 2016 wieder An-laufpunkt für viele Bürgerinnen und Bürger. 11 236 Peti-tionen wurden neu eingereicht. Das sind weniger als inden Jahren zuvor. Die Ursachen dazu sind vielfältig. Ichdenke aber nicht, dass die Menschen zufriedener gewor-den sind. Um den Ursachen auf den Grund zu gehen undunsere Arbeits- und Herangehensweise auf den Prüfstandzu stellen, haben sich die Mitglieder des Petitionsaus-schusses dazu entschlossen, am 29. Mai eine öffentlicheAnhörung von Fachexperten durchzuführen. Ich lade Siehiermit alle herzlich dazu ein.
Hier ein paar Fakten zum Jahresüberblick. Ein Drittelder Eingaben ging auf elektronischem Weg ein. Auf derPetitionsplattform des Ausschusses im Internet meldetensich 175 000 neue Nutzerinnen und Nutzer an. Somit hatunsere Plattform mittlerweile über 2 Millionen regis-trierte Nutzerinnen und Nutzer. 633 Petitionen wurdenauf der Plattform veröffentlicht. Das sind 249 Petitionenmehr als im Vorjahr. Dazu gab es 20 000 Diskussionsbei-träge und 222 000 elektronische Mitzeichnungen. Wir se-hen also, der Petitionsausschuss hat in der Bevölkerungnach wie vor einen hohen Stellenwert. Aber es liegt anuns, dieses Vertrauen, das die Bevölkerung in uns hat,nicht zu enttäuschen und durch unsere tägliche Arbeitimmer wieder aufs Neue zu rechtfertigen.
Die öffentliche Beratung von Petitionen im Ausschussist eine Form, um über die Arbeit des Ausschusses öf-fentlich zu berichten, Entscheidungen nachvollziehbarzu machen und die Petentinnen und Petenten in die Ent-scheidungsfindung noch besser einzubeziehen. Deshalbempfehle ich dem neuen Ausschuss, sich von der starrenAnzahl von 50 000 Unterschriften in vier Wochen, diefür eine öffentliche Beratung laut Verfahrensrichtlinieerforderlich sind, zu lösen, um noch mehr öffentliche Be-ratungen durchführen zu können.
Hohe Zustimmung bei den Beschlüssen, meist ein-stimmige Beschlüsse unseres Ausschusses signalisie-ren der Bundesregierung, dass wir der Auffassung sind,zwingend Abhilfe zu schaffen, wo Gesetzesänderungennotwendig sind. Doch leider ist festzustellen, dass dieZahl der hohen Voten an die Bundesregierung in denletzten Jahren rapide abgenommen haben. Waren es zuBeginn der Wahlperiode im Jahr 2013 noch 50, so gabes im Jahr 2016 nur noch 21 Berücksichtigungs- und Er-wägungsbeschlüsse. Auch hier ermuntere ich den neuenAusschuss, mutiger und konsequenter zu sein. Denn un-ser Auftraggeber sind die Petentinnen und Petenten undnicht die Regierung.
Ein paar weitere Zahlen. Wie auch in den vergange-nen Jahren betrafen circa 20 Prozent aller Eingaben dasBundesministerium für Arbeit und Soziales. Hier betref-fen viele Angelegenheiten das tägliche Leben. So wurdenunter anderem die Hinzuverdienstgrenze für Arbeitslose,verschiedenste Rentenfragen, die Anerkennung von Be-rufskrankheiten oder die schwierige Situation von Men-schen mit Behinderung thematisiert.Auf dem zweiten Platz folgt das Bundesministeriumdes Innern mit 1 627 Eingaben. Schwerpunkte waren hierdas Kriegsgefangenen- und Heimkehrrecht, das Wahl-recht sowie das Melde- und Personenstandswesen. EinDrittel dieser Zuschriften gingen zum Aufenthalts- undAsylrecht ein. Auch wenn die Zahl der entsprechenden
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Petitionen gegenüber dem Vorjahr um circa 300 rückläu-fig war, so waren die Fälle doch nicht weniger tragisch.Doch aufgrund des deutschen Asylrechts sowie der Dub-lin-II- und der Dublin-III-Verordnung wurden die meis-ten Petitionen leider abgelehnt.Ich möchte jedoch von einem besonders ergreifen-den und positiven Fall berichten. Es ging um eine Blei-berechtsregelung für eine Jugendliche aus Somalia. ImAlter von 14 Jahren vor dem Terror geflohen, ihr Vaterermordet, die Überfahrt nach Italien als Zeugin mehre-rer Todesfälle an Bord nur knapp überlebt, wurde sie ineinem Flüchtlingscamp Opfer mehrerer sexueller Über-griffe und sollte schließlich zur Prostitution gezwungenwerden. Sie floh davor nach Deutschland. Hier erhieltsie erstmalig notwendige psychologische Unterstützung.Da sie jedoch in Italien bereits als Flüchtling anerkanntwar, lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlingeihren Asylantrag zunächst ab und forderte sie auf, nachItalien zurückzukehren. Dies hätte die bereits erzieltentherapeutischen Erfolge jedoch völlig zunichtegemacht.Auch eine Selbstmordgefährdung konnte hier nicht aus-geschlossen werden. Mitglieder des Petitionsausschussesführten deshalb ein Gespräch mit Vertretern des Bundes-ministeriums des Innern, mit dem Ergebnis, dass schließ-lich ein Weg gefunden wurde, der Petentin ein Bleibe-recht in Deutschland zu ermöglichen.Dieses Beispiel sollte Ansporn für uns sein, auch wei-terhin mit großem Engagement gemeinsam, über dieFraktionsgrenzen hinaus, konstruktiv zum Wohl der Pe-tentinnen und Petenten zusammenzuarbeiten.
Die vielen kleinen, persönlichen Anliegen aus dem täg-lichen Leben stehen zwar nicht so sehr im Fokus der Öf-fentlichkeit, bilden aber mit rund 75 Prozent der Einga-ben das Kerngeschäft der Ausschussarbeit.Im Rahmen der parlamentarischen Prüfung führtenAusschussmitglieder 21 Berichterstattergespräche durch,in denen im direkten Gespräch mit Vertreterinnen undVertretern der Ministerien versucht wurde, schwierigeEinzelfälle zu klären. Hierbei ging es beispielsweise umVisaangelegenheiten, das Aufenthaltsrecht, Behinderten-werkstätten oder die Vergütung medizinischer Leistun-gen. In einem Fall wurde zusätzlich auch Akteneinsichtgenommen. – Dies alles geschah unter Ausschluss derÖffentlichkeit. Anders ist es bei einem Ortstermin, der inder Öffentlichkeit stattfindet, wie zum Beispiel der Orts-termin in der Gemeinde Karlsburg in Vorpommern.Im Berichtsjahr führte der Ausschuss zwei öffentlicheSitzungen durch. Die Petentinnen und Petenten könnenhier ihr Anliegen dem Ausschuss und den Regierungs-vertretern persönlich vortragen. Eine Liveübertragung imParlamentsfernsehen und die Einstellung in die Media-thek des Bundestages stellen zudem mehr Öffentlichkeither.Folgende Themen wurden unter anderem öffentlichbehandelt: die Erhaltung des eigenständigen Berufsbil-des der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege im neuenPflegeberufsgesetz – mit über 160 000 Unterstützerinnenund Unterstützern –, die Sicherstellung der Versorgungaller therapieresistenten Menschen mit Epilepsien mitneuen Medikamenten, die Verhinderung der Umsetzungder Tabakrichtlinienverordnung, die Sicherung der freienWahl des Geburtsortes sowie die Neuordnung des Ver-gütungssystems in der Geburtshilfe. – Auch wenn diesePetitionen viele Tausend Unterschriften hatten, bleibt esdabei: Jede Petition wird ernst genommen und sorgfältiggeprüft, egal, ob sie von einer oder von vielen Personenunterschrieben wurde,
egal, ob sie von allgemeinem Interesse ist oder ein ganzpersönliches Anliegen betrifft, und egal, ob sie im In-ternet veröffentlicht wird oder nicht. Jede Petentin undjeder Petent bekommt im Unterschied zu privaten Petiti-onsplattformen eine Antwort und einen begründeten Be-schluss.
Auch wenn nicht jeder Petent ein positives Ergebnis er-warten kann, versucht der Ausschuss, dadurch zu helfen,dass er den Bürgerinnen und Bürgern die staatlichen Ent-scheidungen erläutert und sie nachvollziehbar macht. Al-lerdings sind unserer Arbeit auch Grenzen gesetzt; dennder Bundestag kann die Regierung zwar ersuchen, demAnliegen einer Petition zu entsprechen – zu einem Han-deln zwingen kann er sie leider nicht.Gerade, wenn es um die Modifizierung von Gesetzengeht, ist oft ein langer Atem nötig. Umso mehr freut michdie Mitteilung der Bundesregierung, dass einem Anlie-gen, zu dem der Ausschuss im Jahr 2014 ein hohes Vo-tum an die Bundesregierung gerichtet hatte, vollständigentsprochen wurde. Es handelt sich dabei um Kinder, dieein Elternteil verloren haben und als Halbwaisenrentneraus der Krankenversicherung des verbliebenen Eltern-teils ausgegliedert werden. Sie mussten von ihrer Renteselbst Beiträge an die Krankenkasse entrichten. Nebenihrem schweren Schicksal war dies für die Betroffeneneine zusätzliche finanzielle Belastung. Seit dem 1. Janu-ar 2017 ist gesetzlich geregelt, dass eine Versicherungs-pflicht für Waisenrentner mit Beitragsfreiheit bis zu denAltersgrenzen für die Familienversicherung besteht. Ichdenke, das ist ein Erfolg.
Diese guten Nachrichten sollten uns Mitglieder be-stärken, beharrlich und mit Nachdruck an der Lösung derProbleme der Petentinnen und Petenten zu arbeiten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die 18. Wahlperio-de geht zu Ende. Es sei mir deshalb auch ein persönli-ches Wort als Ausschussvorsitzende gestattet. Zum einenmöchte ich mich ganz herzlich bei allen Ausschussmit-gliedern, bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern desAusschussdienstes, den Mitarbeiterinnen und Mitarbei-Kersten Steinke
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tern der Fraktionen und der Abgeordneten für die sach-liche, konstruktive und gute Zusammenarbeit bedanken.
Zum anderen möchte ich der kommenden Koalition aufden Weg mitgeben, dass – ich zitiere aus dem Koalitions-vertrag – „lebendige Demokratie und Bürgerbeteiligung“auch mit Leben erfüllt werden müssen.Der Petitionsausschuss – so versichern alle Abgeord-neten unseres Ausschusses – sollte in einer Demokratieund in der Politik kein Nebenschauplatz sein. Ich denke,ein Mehr an Transparenz und Öffentlichkeit der eigenenArbeit und ein Mehr an Vertrauen gegenüber den Bürge-rinnen und Bürgern würden wohltuend für Abgeordneteund für die Petenten sein.Abschließend möchte ich alle Bürgerinnen und Bür-ger ermutigen: Nutzen Sie Ihr Petitionsrecht! Es ist IhrRecht! Lassen Sie sich dabei von George Orwell leiten,der sagte:Freiheit ist das Recht, anderen zu sagen, was sienicht hören wollen.Herzlichen Dank.
Als Nächster spricht der Kollege Udo Schiefner für
die SPD.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In meiner ers-ten Rede im Deutschen Bundestag 2014 durfte ich bereitszum Tätigkeitsbericht des Petitionsausschusses sprechen.Ich habe damals als neuer Abgeordneter gesagt: Es warmir ein Herzenswunsch, Mitglied in diesem Ausschusszu sein, und ich habe noch keine Minute bereut, diese Ar-beit aufgenommen zu haben. Ich möchte jetzt, drei Jahrespäter, aus voller Überzeugung wiederholen und bekräf-tigen, dass die Arbeit mir gezeigt hat: Der Petitionsaus-schuss bleibt für mich einer der wichtigsten Ausschüssedieses Parlaments, wenn er auch oftmals fern von Fern-sehkameras und Mikrofonen tagt.
Aber warum eigentlich? Was ist so besonders am Petiti-onsausschuss?Petitionen an den Deutschen Bundestag brauchenkeinen „Daumen hoch“ wie in sozialen Netzwerken, siemüssen nicht in kleinen Filterblasen an die Oberflächeblubbern. Echte Petitionen sind nicht von undurchschau-baren Algorithmen abhängig. Petitionen machen auchkeine Ochsentour durch Parteiinstanzen. Was macht Pe-titionen aus? Einfache Anliegen der Menschen kommendirekt im Parlament an, landen beim Petitionsausschussund schließlich auf unserem Schreibtisch.Wir nehmen jede Petition ernst. Petitionen sind nichtwirkungslos. Wir erfahren von Nebenwirkungen der Ge-setze, die wir verabschieden. Wir erfahren, wo die Um-setzungen politischer Entscheidungen nicht rundlaufen,wo nachgebessert werden muss. Dazu brauchen wir dieInformationen der Menschen. Sie sind der Gradmesserfür unser Tun.Die Masse der Petitionen ist sehr konkret und durchklare und gute Argumente unterlegt. Wenn ich Petitionenlese, denke ich mir oft: Genau auf den Punkt gebracht!Warum haben wir das nicht längst schon so geregelt oderso gesehen? Unsere Aufgabe ist es deshalb, die Hinweiseder Bürgerinnen und Bürger ernst zu nehmen, unvorein-genommen zu prüfen und aufzunehmen. Dabei solltenwir als Politiker unsere eigenen Scheren im Kopf weg-lassen. Anders als in den Fachausschüssen sollte sichmeiner Meinung nach unsere Arbeit nicht am klassischenRollenverständnis von Koalition und Opposition orien-tieren.
Unserer Aufgabe im Petitionsausschuss werden wir ge-recht, wenn wir jedes Mal ganz genau hinschauen undeinzig die Sorgen und Nöte der Petentinnen und Petentenin den Mittelpunkt stellen.Der Petitionsausschuss ist das zentrale Instrumentechter Bürgerbeteiligung auf Bundesebene. Unser Peti-tionsrecht ist erfolgreich, und das muss auch so bleiben.Die letzte große Reform des Petitionsrechts fand jedochvor zwölf Jahren unter SPD-Führung statt. Einigen hierim Haus fehlt meiner Meinung nach seitdem der Willeund der Mut, wieder große Reformen auf den Weg zubringen, um das Petitionsrecht zu modernisieren.
Sinkende Petitionszahlen werden in Gesprächen hier undda sogar als Ausdruck großer Bürgerzufriedenheit inter-pretiert. Ich finde, das ist ein Trugschluss, meine Damenund Herren. Im digitalen Zeitalter wollen die Bürge-rinnen und Bürger ihre Anliegen direkter und schnelleranbringen. Ich denke, wir dürfen dieses Feld nicht denKlickaktivisten überlassen. Sie schmücken sich zwar mitdem Label „Petitionen“, aber sie können nur erregen; et-was verändern können nur wir hier in diesem Parlament.
Das ist die Aufgabe, liebe Kolleginnen und Kollegen.Ich danke den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern desPetitionsreferates für ihre Arbeit und Ihnen hier im Saalfür Ihre Aufmerksamkeit.Herzlichen Dank.
Kersten Steinke
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Birgit Wöllert,
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
gen Abgeordnete! Liebe Gäste! Ich kann nahtlos an die
Ausführungen meines Kollegen anknüpfen, der hier sag-
te, einzig und allein die Sorgen und Nöte der Petentin-
nen und Petenten sollten im Mittelpunkt unserer Arbeit
stehen – unabhängig von der Fraktionszugehörigkeit. Ich
finde, da hat er völlig recht. Das sollten wir unterstrei-
chen. Deshalb habe ich mich entschieden, heute am Bei-
spiel einer Petition zu erläutern, dass das möglich ist, die
Regierung dem aber trotzdem nicht unbedingt folgt. Da-
mit komme ich auf das zurück, was unsere Vorsitzende
gesagt hat: Wir können die Regierung auffordern; ob sie
der Aufforderung folgt, bleibt aber dahingestellt. Viel-
leicht schaffen wir es heute, mit dem Ansprechen eines
solchen Themas, den notwendigen Druck aufzubauen.
Es geht mir um eine Gruppe von Menschen, die wirk-
lich große Sorgen und Nöte hat. Es geht um eine Petition
der Deutschen Hämophiliegesellschaft, die Menschen
vertritt, die die Bluterkrankheit haben. Sie wurden in den
70er- und 80er-Jahren mit Präparaten versorgt, die mit
Viren verseucht waren, und zwar mit HIV oder dem He-
patitis-C-Virus. In vielen Bereichen kannte man das noch
nicht; aber zumindest ab Anfang der 80er-Jahre war es
möglich, durch Verfahren diese Viren abzutöten. In ei-
nem Untersuchungsausschuss wurde geklärt, dass sich
hier nicht nur die Pharmaindustrie fahrlässig und körper-
schädigend verhalten hat, sondern auch die Politik hin-
sichtlich ihrer Aufsicht versagt hat. Genau darum geht es.
Für die Betroffenen, die mit dem HI-Virus infiziert wor-
den sind, wurde eine Lösung gefunden, indem man über
eine Stiftung Entschädigungen auf den Weg gebracht hat;
aber für die Gruppe der Menschen, die mit dem Hepati-
tis-C-Virus infiziert worden sind, gibt es bis heute keine
Lösung. Obwohl sie genauso betroffen waren und bis
heute sind, wird ihre Forderung nicht erfüllt.
Das haben wir über alle Fraktionen hinweg so gese-
hen. Deswegen haben wir gemeinsam eine Berichterstat-
tung formuliert. Ich möchte hier und heute noch einmal
an die Bundesregierung und insbesondere das Bundesge-
sundheitsministerium appellieren, der Aufforderung der
Kolleginnen und Kollegen des Petitionsausschusses zu
folgen und zeitnah – vielleicht, wenn der Gesetzentwurf
zur Fortführung der HIV-Stiftung im Gesundheitsaus-
schuss beraten wird – darüber nachzudenken, auch etwas
für die Betroffenen, die mit dem HC-Virus infiziert wur-
den, zu tun.
Ich denke, das wäre in dieser Legislatur noch ein Punkt,
der zeigt, dass sich Petitionen lohnen, der zeigt, dass es
sich lohnt, dranzubleiben, dass man in jede Fraktion ge-
hen kann und dass sich dann etwas bewegen kann.
Damit könnten wir unserer Demokratie vor den Wah-
len noch einen Schub geben. Wir könnten die Leute dann
auffordern: Bringt euch ein! Es lohnt sich.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Als Nächster spricht der Kollege Michael Vietz für die
CDU/CSU.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren!Jedermann hat das Recht, sich einzeln oder in Ge-meinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oderBeschwerden an die zuständigen Stellen und an dieVolksvertretung zu wenden.Artikel 17 des Grundgesetzes klingt so selbstverständ-lich, so banal. Das ist er aber nicht. In vielen Staaten exis-tiert kein solches Grundrecht, sich bei staatlichen StellenGehör verschaffen zu können, und es gibt auch keine inder Verfassung verankerte Pflicht des Parlaments, einenAusschuss zur Behandlung dieser Anliegen einzurichten.Das sollten wir uns immer vor Augen führen, wenn wireinmal im Jahr als Parlament auf die Arbeit unseres Peti-tionsausschusses blicken.Wir kümmern uns in erster Linie um die alltäglichenSorgen und Nöte, um die Anliegen und Anregungen derBürgerinnen und Bürger. Wir machen Politik im Kleinen,Politik für den Einzelnen. Auch wenn wir nicht die gro-ßen Gesetzentwürfe beraten, befassen wir uns doch ganzkonkret mit den Lebensumständen unserer Bevölkerung,mit ihrer Sicht auf die Dinge. Wie wir alle aus unserertäglichen Arbeit wissen, haben die Menschen in unseremLand tatsächlich keine Berührungsängste hinsichtlichihrer Abgeordneten oder Institutionen. Sie wenden sichausgiebig an ihre Wahlkreisvertreter, an die Ministeri-en oder an den Deutschen Bundestag. 11 236 Eingabenwurden allein im letzten Jahr an uns gerichtet – zum Teilvon Einzelpersonen, in vielen Fällen von mehreren un-terstützt, mal von wenigen Hundert, mal von Zigtausen-den. 12 317 Eingaben wurden 2016 durch den Ausschussabschließend behandelt, 743 davon in Einzelberatung desAusschusses.Zurzeit – das wurde schon gesagt – erleben wir einenleichten Rückgang der Zahl der Petitionen. Die einenschieben es auf vermeintliche Konkurrenzangebote imNetz, andere darauf, dass Petitionen zu wenig bekanntseien, obwohl Hunderttausende im Jahr eine solche un-terschreiben. Das mag alles zum Teil eine Ursache sein.Lieber Kollege Schiefner, auch wenn ich dir ungern wi-derspreche, muss ich sagen: Für mich besteht tatsäch-lich kein Zweifel daran, dass dies zu einem großen Teilschlichtweg daran liegt, dass die Menschen in unserem
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Land dank der guten Arbeit von uns allen, des DeutschenBundestages und der Bundesregierung, von Jahr zu Jahrzufriedener sind.
Vielleicht ist es ein Problem, dass wir mehr Wert auf Bit-ten und Beschwerden und weniger Wert auf Lob legen.Der Petitionsausschuss ist und bleibt der heiße Drahtzwischen Bürgern und Parlament. Hier wird jede Petiti-on sorgfältig geprüft, recherchiert und abgewogen. Ab-schließend wird dann demokratisch eine Entscheidunggefällt. Deshalb hat der Begriff „Petition“ auch solcheinen guten Ruf. Hier im Bundestag ist es gleich – auchdas haben wir schon gehört –, ob eine Petition von einemEinzelnen, von 10 000 oder von mehr Menschen einge-reicht wird. Wir befassen uns mit jeder, und wir prüfenjedes Anliegen.Der Petitionsausschuss ist auch ein gutes Beispiel da-für, wie man über Fraktionsgrenzen hinweg konstruktivim Sinne unserer Bevölkerung zusammenarbeitet, beiallen vorhandenen politischen Unterschieden, die auchwir nicht wegdiskutieren können. Ein herzliches Danke-schön daher an alle Kolleginnen und Kollegen für diesesgute Miteinander, das – gerade mittwochs in der Früh –nicht immer selbstverständlich ist.
Vielen Dank auch an unsere AusschussvorsitzendeKersten Steinke für ihre ruhige und sachliche Leitungder Sitzungen;
aber vor allem und im Besonderen einen herzlichen Dankan die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschuss-dienstes, die uns mit hoher Kompetenz zuarbeiten, miteiner Geduld, um die sie der sprichwörtliche Engel be-neiden kann.
Wir alle nehmen die Anliegen unserer Mitbürgerernst. Das gebietet der Respekt vor unserem Volk, unse-rem Souverän. Das ist das Fundament unserer freiheit-lich-demokratischen Grundordnung. Dieser gegenseitigeRespekt ist ein nicht zu unterschätzender Faktor für dieStabilität unseres Landes. Er erhält und mehrt die Ak-zeptanz der Politik in der Bevölkerung. Was es bedeu-tet und wohin es führt, wenn sich Menschen nicht ernstgenommen fühlen, erleben wir gerade bei einigen unse-rer Nachbarn: Populismus, Nationalismus und Chauvi-nismus sind auf dem Vormarsch. Die Identifikation derBevölkerung mit unserem Staatswesen, seine Akzeptanz,ist die wirksamste Waffe gegen diese Verirrungen. DerPetitionsausschuss ist hier ein wichtiger Baustein unsererfreiheitlichen Demokratie.Wenn Sie mich fragen, welche Petitionen mir aus denletzten Jahren in Erinnerung geblieben sind, dann kom-men schon einige zusammen. Aber nur zwei Beispiele.Das erste: die Sommerzeit, ein Dauerbrenner. VieleMenschen empfinden die Zeitumstellung als große Be-lastung, der kein bis bestenfalls ein sehr geringer Nutzengegenübersteht. Manche nervt es, manche haben damitechte gesundheitliche Probleme. Halbjährlich, pünktlichnach der jeweiligen Umstellung, erreichen den Bundes-tag daher zahlreiche Petitionen, die auf eine Abschaffungdrängen. Leider können wir hier nicht direkt einwirken.Die Kompetenz für die Zeit liegt in Europa, weswegenwir diese Petitionen zur Unterstützung entsprechenderInitiativen regelmäßig und einvernehmlich an unsereKollegen des Europäischen Parlaments weitergeben.Auch die eine oder andere Fraktion hat sich unter diesemEindruck des Themas angenommen, hat Position bezo-gen und die Regierung aufgefordert, auf Ebene der Euro-päischen Union Einfluss zu nehmen – Ziel: die geltendeZeitumstellung abzuschaffen. Hier diente der Petitions-ausschuss, wir alle, als steter Tropfen und als Inspiration.Daneben gibt es viele Petitionen, wo wir direkt ein-wirken konnten, beispielsweise beim Meister-BAföG. Ineiner Petition wurde die gesetzliche Anerkennung vonBerufspraktika als Lehrveranstaltungen im Sinne des –schwieriges Wort – Aufstiegsfortbildungsförderungsge-setzes gefordert. Damit wurde eine Lücke deutlich, diebestand, aber so nicht gewollt war. Am 26. Februar letz-ten Jahres wurde daher ein Kompromissvorschlag zurNovellierung des Meister-BAföG beschlossen. Seit dem1. August 2016 können nun die Auszubildenden an Fach-schulen in ganz Deutschland BAföG für die gesamte Zeitder Ausbildung beziehen. Praktische Hilfe, direkte Hilfedurch den Petitionsausschuss!
Hier zeigt sich: Durch unseren beharrlichen Einsatzkonnte eine Gesetzeslücke sinnvoll geschlossen werden.Das Meister-BAföG – ich erwähnte es – ist ein positivesBeispiel für die Arbeit des Petitionsausschusses. Wir be-treiben Finetuning.Im Ausschuss erfahren wir täglich die Sicht der Men-schen auf die Ergebnisse der großen Politik, ihre Erfah-rungen mit unseren Beschlüssen. Wir sind Resonanzbo-den und Reparaturbetrieb gleichermaßen. Wir erfahrenauch und gerade über unseren Wahlkreis hinaus, was dieMenschen in unserem Land bewegt, was sie berührt, be-lastet und umtreibt.Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, Petitionen sind Berufung, und dieser Berufungfolgen wir alle von Herzen – gestern, heute und morgen.Vielen Dank.
Die Kollegin Corinna Rüffer spricht jetzt für Bünd-nis 90/Die Grünen.
Michael Vietz
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Sehr richtig, Frau Stamm-Fibich. Sie haben gleichauch noch Grund dazu. – Sehr geehrter Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch Ihnen da oben:Herzlich willkommen! Es haben ja schon einige gesagt:Das ist der letzte Jahresbericht in dieser Legislaturperio-de, der hier debattiert wird. Einmal im Jahr steht der Peti-tionsausschuss im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Dasist eine Gelegenheit, Resümee zu ziehen, ein Stück weitzurückzublicken und zu schauen: Was ist in den letztenJahren passiert? Was haben wir gelernt? Und: Was soll-ten wir alle gemeinsam vielleicht dazulernen?Meine Vorredner und Vorrednerinnen haben schon ei-niges gesagt. Sie haben gelobt und viel Positives gesagt.Einem Lob möchte ich mich auf jeden Fall anschließen,nämlich dem Lob an den Ausschussdienst,
der wirklich unermüdlich Tausende von Akten mit Akri-bie behandelt. Davor muss man den Hut ziehen. Ich glau-be, man sollte allen Petentinnen und Petenten auch nocheinmal mit auf den Weg geben, dass die Abgeordnetennicht die Einzigen sind, die hier arbeiten, sondern auchdie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Großartiges ge-leistet haben.
Aber auch ganz viele von uns hier, von den Abgeord-neten, haben sich wirklich reingehängt. Eigenlob stinkt;deswegen greife ich einmal zwei Namen heraus, nämlichauf der einen Seite Frau Stamm-Fibich und auf der an-deren Seite Frau Weiss von der Union, die sich dadurchauszeichnen, dass sie Berichterstattergespräche bean-tragt, in diesen wirklich ganz klug nachgefragt und ganzvielen Leuten im Einzelfall geholfen haben.Ich glaube, es zeichnet den Petitionsausschuss aus,dass darin Leute sitzen, die ein Interesse daran haben,Menschen im Einzelfall zur Seite zu stehen und Lösun-gen zu finden, wenn Not da ist. Hinter vielen Petitionenstehen eine große Not und Existenzfragen. Wir versu-chen, uns dessen anzunehmen, und wir tun wirklich un-ser Bestes.
– Jetzt dürfen noch alle klatschen; denn nun folgt der an-dere Teil.Der Petitionsausschuss ist aber – das muss man durch-aus auch sagen – aus meiner Sicht noch immer viel zusehr ein Kummerkasten, und er wird auch so wahrge-nommen.
Jedes Jahr, wenn dieser Jahresbericht ansteht, rufenJournalisten an. Sie interessieren sich dann auch einmalfür den Petitionsausschuss und stellen immer nur ganzwenige Fragen, und zwar jedes Jahr die gleichen. Dazugehört die Frage: Sind Sie hier nicht eigentlich der Kum-merkasten? – Eine zweite Frage ist: Warum sind Sie ei-gentlich im Petitionsausschuss gelandet? Da will docheigentlich keiner rein.Ich kann für mich und alle meine Kollegen im Petiti-onsausschuss sagen, dass wir uns bewusst dafür entschie-den haben. Wir sind Leute, die Kärrnerarbeit machen,sich für Menschen interessieren und versuchen, wie ge-sagt, Lösungen für schwierige Lebenslagen zu finden.
Trotzdem muss man, glaube ich, auch einmal einbisschen selbstkritisch sein und die Frage stellen, ob wirnicht auch selber Ursache dafür sind, dass dieser Peti-tionsausschuss so etwas wie ein Schattendasein fristet,was die Aufmerksamkeit anbelangt. Das gilt auch für dieAufmerksamkeit hier im Parlament: Was wissen denndiejenigen, die nicht im Petitionsausschuss sind, über dieArbeit in unserem Ausschuss? Wann sind denn einmalPetitionen Gegenstand von Debatten hier im DeutschenBundestag? Welche Rolle spielen sie denn eigentlich?Herr Vietz, wir sagen dann: Wir wissen, wo den Leu-ten der Schuh drückt. – Aber ich will, dass alle Men-schen, die hier auf diesen blauen Sesseln sitzen, wissen,wo den Menschen der Schuh drückt, weil wir der Gesetz-geber sind, und wir sollten das wissen. Wir sind ja für dieMenschen da – und nicht umgekehrt.
Herr Schiefner, lieber Udo, jetzt spreche ich dich ein-mal an. Wir hatten gestern eine Pressekonferenz, und duhast dort etwas Gutes gesagt, nämlich dass du der Mei-nung bist, dass nicht nur der Koalitionsvertrag darüberentscheiden sollte, was wir tun und wie wir im Petiti-onsausschuss entscheiden. Ich frage dich: Warum tut ihrdas dann nicht? Warum entscheidet ihr so häufig nachLage des Koalitionsvertrages und nicht nach der Sacheund danach, was eigentlich geboten wäre? Ich weiß, wieweh euch, der Sozialdemokratie, das tut, aber ich finde,ihr könntet hier einfach auch einmal ein bisschen muti-ger sein und solltet euch der großen Union nicht ständigunterordnen. Wenn der Schulz im September noch eineChance haben soll, dann wäre das vielleicht einmal einAnfang.
Herr Baumann, Ihnen ist es immer ganz wichtig – ichnehme Ihnen das wirklich ab; Sie sind echt ein Aufrech-ter –, dass Sie den Petitionsausschuss verteidigen undgegenüber den privaten Plattformen positiv darstellen.Sie finden dabei immer eine Abgrenzung. Gestern habenSie gesagt: Die privaten Plattformen – Change.org, open-Petition usw. – sind eigentlich nur Mogelpackungen. Siegeben nur etwas vor, was sie nicht halten können.
https://www.change.org/
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Sie sagen auch immer: Wir sind das Original. Nur wirgeben die Garantie, dass tatsächlich an diesen Petitionengearbeitet wird und am Ende eine politische Entschei-dung steht.
Es wäre ja schön, wenn das so wäre und wenn diePetenten das wirklich auch so wahrnehmen würden. Ichwill jetzt einmal aus einer typischen Mail vorlesen, dieuns erreicht hat – es ist nur eine einzige Mail, aber sie istrepräsentativ für andere, die wir bekommen –: Es... ist sehr, sehr selten, dass eine Petition an denBundestag überhaupt das Quorum von 50.000 Un-terzeichnerInnen erreicht. ... Die Folge: Die Aus-schussmitglieder müssen sich mit BürgerInnennicht unterhalten. Und nun wird ausgerechnet einePetition geblockt– „nicht veröffentlicht“ ist gemeint –,die so vorbereitet war, dass sie gute Chancen hat-te, dieses Quorum zu knacken. Immerhin hatte eineähnliche Petition auf der Plattform Change.org– hören Sie einmal zu –über 126 000 UnterzeichnerInnen. Zufall, dass derBundestag die jetzt nicht online stellt? Oder Unwil-len, mit den Menschen da draußen in Kontakt zukommen?Wenn es das ist, was vom Petitionsausschuss bei denMenschen ankommt, dann haben wir ein Problem. Dannmüssen wir tatsächlich daran arbeiten, dass wir besserwerden, dass die Bürgerinnen und Bürger das Gefühl ge-winnen, dass wir Interesse an ihnen haben, dass wir Lustauf ihre Ideen haben und darauf, mit ihnen in Kontakt zutreten.
Ich möchte noch ein Beispiel nennen: die TTIP-Petiti-on. Dabei geht es darum, dass Deutschland das Freihan-delsabkommen zwischen den USA auf der einen Seiteund der Europäischen Union auf der anderen Seite ableh-nen soll. 68 000 Menschen haben dazu eine Petition un-terzeichnet. Es ist dann zu einer öffentlichen Ausschuss-sitzung gekommen. Wissen Sie noch, wann das war?Im Oktober 2014. Das ist schon eine Weile her, das warfaktisch am Anfang der Legislatur. Was ist seitdem pas-siert? Nichts! Wir haben über diese Petition noch nichtentschieden, sie liegt auf Halde. Nun kommt der Petentzu uns und fragt wieder und immer wieder: Was machtdenn der Petitionsausschuss mit unserer Petition? Warumhaben wir sie überhaupt eingereicht? – Dieser Umgangmit Petitionen schürt den Frust und stärkt nicht das Ver-trauen in dieses Parlament in Gänze.
Das müsste für uns eine Herausforderung sein. Wiralle wissen doch, dass in diesem Land ganz viel Verdrussherrscht. Herr Vietz, ich muss Ihnen sagen: 2015 gab es13 000 Petitionen. Das war so wenig wie seit 30 Jahrennicht mehr. 2016 wurden noch knapp 11 000 Petitioneneingereicht. Und das liegt nicht daran, dass die Menschenin diesem Land so froh und glücklich sind.
Vielmehr hat es auch damit zu tun – die Welt ist kom-pliziert –, dass die Menschen nicht mehr damit rechnen,dass sich dieses Parlament mit ihren Nöten ernsthaft be-schäftigt.
Das aber ist unsere Aufgabe, und das ist vor allen Dingendie Aufgabe des Petitionsausschusses.
Herr Baumann, in einem Punkt sind wir uns wiedereinig: Wir beide halten doch den Petitionsausschuss fürdie Perle der Demokratie. Ich sage: potenziell. Ich hal-te diesen Ausschuss wie alle, die hier geredet haben, fürungemein wichtig. Aber ich finde, wir dürfen ihn nichtverkümmern lassen.
Die letzte große Reform wurde vor zwölf Jahren durch-geführt; Udo Schiefner hat das schon gesagt. Es ist an derZeit, dass wir uns weiterentwickeln. Wir müssen gucken,wie wir das Herz dieses Parlamentes, den Petitionsaus-schuss, attraktiver machen.
Wir brauchen mehr Transparenz. Wir brauchen mehröffentliche Beratungen. Wir brauchen mehr Barrierefrei-heit. Das Petitionswesen in Deutschland ist männlich.Bestimmte Gruppen sind einfach unterrepräsentiert. Dasdarf nicht sein, weil die Gruppen, an die ich gerade den-ke, oft die größten Sorgen in diesem Land haben. Sie fin-den sich aber in den Akten, die wir jeden Tag behandeln,nicht wieder. Wenn wir gegen Verdruss vorgehen wollen,dann müssen wir uns weiterentwickeln.
Ich sage ganz deutlich: Diese Demokratie ist ange-griffen. Der Petitionsausschuss muss seinen Beitrag dazuleisten, dass sich das endlich wieder ändert.Vielen Dank.
Die Kollegin Martina Stamm-Fibich spricht alsNächste für die SPD.
Corinna Rüfferhttps://www.change.org/
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Zuschaue-
rinnen und Zuschauer auf den Tribünen! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Der Petitionsausschuss ist für mich
das politische Stimmungsbarometer und der Anwalt der
Bürgerinnen und Bürger. Das ist aber nicht alles.
Dazu eine Erfolgsgeschichte aus diesem Jahr, die die-
se einzigartige Möglichkeit der direkten politischen Teil-
habe auf Bundesebene deutlich macht. Es ist die beein-
druckende Geschichte einer Petition, die schließlich zur
Verabschiedung eines Gesetzes führte. Wohlgemerkt: Es
ist das einzige Gesetz dieser Legislatur im Gesundheits-
bereich, das nicht im Koalitionsvertrag vereinbart war.
Den Ausschlag gab eine Petition beim Deutschen
Bundestag zum Thema Inkontinenzversorgung. In dieser
Petition wurde auf massive Missstände in der Versorgung
mit aufsaugenden Hilfsmitteln hingewiesen. Ein Groß-
teil der Krankenkassen arbeitet bei der Versorgung mit
Inkontinenzprodukten inzwischen mit Pauschalen. Diese
Pauschalen reichen bei weitem nicht aus, um die Versi-
cherten mit vernünftigen Produkten zu versorgen. Pati-
entinnen und Patienten berichteten davon, dass sie nur
eine knapp bemessene Menge einfachster Produkte als
Sachleistung ihrer Krankenkasse angeboten bekommen
hätten, und die gewohnte Qualität und Menge sollten sie
künftig nur gegen eine private Zuzahlung erhalten kön-
nen. Wegen solcher inakzeptablen Verhältnisse haben wir
das Heil- und Hilfsmittelgesetz auf den Weg gebracht.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wol-
len ein solidarisches Gesundheitssystem. Gesundheit
darf nicht vom Einkommen abhängen. Alle Patientinnen
und Patienten müssen davon ausgehen können, dass sie
durch ihre Krankenkasse ordentlich versorgt werden.
Also erarbeiteten wir entsprechende Positionspapiere,
die das Gesundheitsministerium aufgriff. Der Petitions-
ausschuss beschloss dann einstimmig, die Petition an die
Bundesregierung bzw. das Gesundheitsministerium zur
Erwägung zu überweisen und sie dem Patientenbeauf-
tragten der Bundesregierung zuzuleiten.
Das Ministerium reagierte sehr schnell auf einen ent-
sprechenden Beschluss des Bundestages, und zwar mit
der Mitteilung, dass dazu ein Gesetzentwurf in Arbeit ist:
der Entwurf zum Heil- und Hilfsmittelgesetz. Das Gesetz
haben wir am 16. Februar 2017 beschlossen.
Ich finde, das ist eine Erfolgsgeschichte, die wir selten
erleben. Aber auch wenn wir da noch viel tun müssen:
Wir haben es sehr ernst genommen, und wir haben ge-
sehen, wo die Missstände liegen. Darauf, liebe Kollegin-
nen und Kollegen, bin ich stolz. Darauf weise ich auch in
jeder Rede hin, und Ihr Lob hat sehr gutgetan, Kollegin
Rüffer. Ich weiß, dass es schwierig ist, auf diesen Aus-
schuss hinzuweisen, aber ich tue es immer wieder, und
im Gesundheitsbereich können wir oft darauf verweisen,
dass wir aus dem Ausschuss heraus die Gesetzgebung ge-
ändert oder entsprechend veranlasst haben.
Wir haben mit diesem Gesetz Transparenz geschaffen.
Wir wollen zukünftig Klarheit darüber, was die Men-
schen zuzahlen müssen.
Diese Erfolgsgeschichte ist wahrlich nicht die einzi-
ge. Frau Steinke, Sie haben darauf hingewiesen. Wir sind
bei den Epilepsiemedikamenten und vor allem bei der
Verordnungs- und Erstattungsfähigkeit von Cannabis als
Medizin – das ist ein sehr wichtiges Thema – weiterge-
kommen. Da haben wir zusammen – das ist der Union
sicherlich nicht sehr leichtgefallen – den richtigen Weg
gefunden und das richtige Gesetz gemacht.
Diese Geschichten sind beispielhaft. Petitionen bieten
jedem Menschen unabhängig vom Alter oder der Staats-
angehörigkeit die Möglichkeit, sich mit seinem Anliegen
direkt an das Parlament zu wenden, und sie zeigen übri-
gens auch, dass es zu dem Petitionsverfahren beim Deut-
schen Bundestag weder eine ernstzunehmende noch eine
effektive Alternative gibt.
Für solche Erfolge gibt es jedoch eine wesentliche Be-
dingung: Wir müssen fraktionsübergreifend für alle Pe-
tentinnen und Petenten zusammenarbeiten. Koalitions-
verträge können dabei nicht der alleinige Maßstab sein.
Für die Zukunft wünsche ich mir deshalb, dass wir
noch stärker die jeweilige Sachfrage in den Mittelpunkt
unserer Arbeit stellen. Apropos Zukunft: Wir von der
SPD wollen, dass der Petitionsausschuss seine Funktion
als Anwalt aller Bürgerinnen und Bürger und als Instru-
ment der direktdemokratischen Teilhabe noch besser
erfüllen kann. Dazu müssen wir ebendiese Teilhabe er-
leichtern, die Handlungsmöglichkeiten des Petitionsaus-
schusses ausweiten und mehr Öffentlichkeit herstellen.
Ich finde, es ist an der Zeit, etwas Neues zu wagen und
das Petitionswesen weiter strukturell zu stärken.
Vielen Dank und auf weiterhin gute Zusammenarbeit.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Kassner für
die Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Bürgerinnen undBürger, die diese Debatte verfolgen! Verehrte Kollegin-nen und Kollegen! Der Petitionsausschuss ist der Aus-schuss des Deutschen Bundestages, der am dichtesten anden Sorgen und Problemen der Bürgerinnen und Bürgerdran ist. Umgekehrt ist er auch der Ausschuss, wo sichdie Bürgerinnen und Bürger am unkompliziertesten ein-bringen und die Thematik, die dort beraten wird, mitge-stalten können. Wir alle machen die Arbeit dort mit vielEngagement und versuchen, ihre Anliegen umzusetzenbzw. Lösungsvorschläge zu finden.Nun haben wir festgestellt, dass im Jahr 2016 wenigerPetitionen eingegangen sind als in den Jahren davor. Im
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Jahr 2005 gab es über 22 000 Sorgen und Probleme, diean uns herangetragen wurden. Woran lag das? Ich bin derMeinung, dass es nicht daran liegt, dass die Bürgerinnenund Bürger keine Probleme mehr haben. Nein, in über11 000 Petitionen gibt es viele Sorgen und Probleme, de-rer wir uns annehmen müssen.Ich denke aber, dass wir es in Bezug auf die Art undWeise, wie wir die Aufgaben erfüllen, in der Hand ha-ben, die Arbeit noch weiter zu qualifizieren und damitden Bürgerinnen und Bürgern auch Mut zu machen, dieHürden zu nehmen, sich an uns zu wenden.
Dazu will ich einmal drei Möglichkeiten exemplarischbenennen.Die erste Möglichkeit besteht darin, dass wir dieTransparenz unserer Arbeit erhöhen. Liebe Kollegin-nen und Kollegen, ich nehme an, dass alle Anwesendenwissen, dass wir jede Woche über die Petitionen hier imHohen Haus beraten. Da gibt es Drucksachen und Sam-mellisten, und über die stimmen wir dann ab. Was sichdahinter verbirgt, wird noch nicht einmal jedem Kolle-gen hier im Haus bewusst sein, geschweige denn denBürgerinnen und Bürgern, die uns vielleicht am Fern-seher bei der Arbeit zusehen. Deshalb frage ich: Warumsollten wir hier in diesem Hohen Haus nicht öfter ein-mal Petitionen exemplarisch diskutieren? Das haben wirin der vergangenen Legislaturperiode ein einziges Malgemacht. Erinnern Sie sich noch? Es ging um die Ab-schaffung der Sanktionen. 90 000 Menschen hatten diesePetition unterstützt. An der Sache haben wir leider nichtsändern können. – Also da sollten wir uns an die eigeneNase fassen und konsequenter werden.
Eine weitere Möglichkeit zur Verbesserung der Trans-parenz sehe ich darin, dass wir im Petitionsausschussöffentlich debattieren, also alle Ausschusssitzungen öf-fentlich machen. Nun fragt vielleicht jemand: Steht demnicht der Datenschutz entgegen? Vielleicht wird auch ge-sagt, es sei nicht lohnenswert, über jede Petition öffent-lich zu diskutieren. Alternativ gibt es die Möglichkeit,das Quorum deutlich zu senken. Nicht die Unterstützungdurch 50 000 Bürgerinnen und Bürger sollte dann diezwingende Hürde sein, sondern wir sollten die Zahl deut-lich verringern, damit mehr Petitionen öffentlich und fürdie Bürgerinnen und Bürger nachvollziehbar diskutiertwerden können.
Die zweite Möglichkeit, tatsächlich viel zu verändern,besteht in der Art der Erledigung der Petitionen. Wer ge-nau in den Bericht schaut, wird feststellen, dass nur etwasmehr als 6 Prozent der Petitionen so beschieden wurden,dass die Wünsche der Petenten bedacht wurden. Leiderwurden über 35 Prozent der Petitionen nicht im Sinne derPetenten beschieden. Das hat vielfältige Ursachen. Wasmir aber überhaupt nicht gefällt, ist, dass über 33 Prozentder Petitionen – also etwa jede dritte – dem Parlament garnicht vorgelegt werden. Sie werden, sobald sie eingegan-gen sind, mit einer Stellungnahme aus dem betroffenenMinisterium sozusagen zu den Akten gelegt. Mir ist derFall eines Handwerksmeisters bekannt, der dann einfachaufgegeben hat, obwohl er in seiner Situation sehr wohlHilfe und Unterstützung gebraucht hätte. Deswegen soll-ten wir uns auch dieser Petitionen unbedingt annehmen.Ich komme zur dritten Möglichkeit. Liebe Kollegin-nen und Kollegen, wir haben an vielen Stellen gemerkt,wie wichtig uns die Frage ist, ob wir uns wirklich zumAnwalt der Bürgerinnen und Bürger – und nicht zum An-walt der Ministerien oder der nachgeordneten Ämter –machen, vor die wir uns schützend stellen müssen. Wirsind für die Bürgerinnen und Bürger da, und das mussauch deutlich werden.
Wir haben am 29. Mai die Möglichkeit, mit einer ge-meinsamen Beratung neue Intentionen für unsere Arbeitzu setzen. Das sollten wir angehen; wir sollten das nut-zen. Ich freue mich auf die Debatte und möchte mich fürdie gute Zusammenarbeit bei allen bedanken, ganz be-sonders aber bei unserem Ausschusssekretariat.Vielen Dank.
Für die CDU/CSU spricht jetzt die Kollegin Iris Eberl.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegin-nen und Kollegen! Manche Tage sind besser, mancheschlechter. Mein Mittwoch in Berlin ist selten sehr gut;denn die Sitzung des Petitionsausschusses beginnt schonum 8 Uhr in der Früh.
Heute Morgen wäre ich fast zu spät gekommen. Mei-ne Zahnbürste hat noch Winterzeit. Web 4.0 hat sie nochnicht erreicht. Gegen meine händischen Bemühungen,sie auf Sommerzeit umzustellen, hat sie sich bisher er-folgreich zur Wehr gesetzt. Ich schließe mich damit nunendgültig der mehrheitlichen Meinung an. Mehr als70 Prozent der Bevölkerung wollen die Zeitumstellungabschaffen. Ein Viertel der Bevölkerung leidet geradedurch das Vordrehen der Uhren unter gesundheitlichenund psychischen Problemen. Allein in dieser Legislatur-periode erreichten uns 758 Petitionen zur Abschaffungder Zeitumstellung. Im März 2017 beschloss der Petiti-onsausschuss in mitberatender Funktion – Kollege Vietzhat dies schon erwähnt –, den Antrag auf Abschaffungder Zeitumstellung an die EU weiterzuleiten. Offen bleibtnun für mich die Frage, auf wessen Kosten man sich beider Abschaffung einigen wird, ob die Erwachsenen aufKerstin Kassner
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eine Stunde Zechen in lauen Sommerabenden verzichtenwerden und die letzte Stunde vielleicht im Dunkeln wei-ter feiern oder ob für die Kleinsten im Lande der Besuchvon Krippen, Kindergärten und Schulen im Winter quasimitten in der Nacht beginnt. Ich befürchte, dass es wiedereinmal zu einer Einigung auf Kosten der Schwächerenkommt.Da lobe ich mir doch die Umsicht unseres Verkehrs-ministers. Kinder unter acht Jahre müssen mit ihremFahrrad auf dem Gehweg fahren; das ist die Vorschrift.Ein Petent forderte, dass sie dort auch von ihren Elternper Fahrrad begleitet werden dürfen. Ansonsten könntendie Eltern ihrer Aufsichtspflicht nicht angemessen nach-kommen. Der Ausschuss bat das Verkehrsministeriumum Stellungnahme. Die Antwort lautete: Die Anregungdes Petenten wird bei der nächsten Änderung der Stra-ßenverkehrs-Ordnung sofort umgesetzt. – Seit Dezem-ber 2016 ist dem Anliegen des Petenten entsprochen. Soist Alexander Dobrindt, ein Mann mit einem Herz fürKinder.
Diese Petition ist ein wunderbares Beispiel dafür, wo-für das Petitionsrecht steht. Jedoch sind die Sorgen derPetenten selten so klar zu beschreiben, vor allem dannnicht, wenn sie das Sozialrecht und Einzelfälle betreffen.Gerade deshalb ist das Petitionsrecht als ein im Grund-gesetz verankertes Recht für jedermann so wichtig. DerPetitionsausschuss ist eben kein altmodischer Kummer-kasten. Jeder soll seinen Kummer bis auf die höchstenSpitzen des Elfenbeinturmes tragen können. Niemandinteressiert sich für die Sorgen eines Max Kummermann.Niemand würde seine Petition zeichnen. Der Petent MaxKummermann weiß, dass er mit seinem Anliegen aufdas Gehör des Petitionsausschusses angewiesen ist. Soliegt seine Petition fein säuberlich neben vielen anderen,zum Teil gewichtigeren – weil von Hunderten oder vonTausenden Zeichnern unterstützt – Petitionen und wirdvom Petitionsausschuss gewissenhaft behandelt, oft auchmit vielen Emotionen und immer mit dem Wunsch, zuhelfen. Ich danke meinen Kolleginnen und Kollegen so-wie vor allem den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern desAusschusses an dieser Stelle ausdrücklich.Das Petitionswesen des Bundestages war ursprüng-lich vielleicht nicht unbedingt als Instrument für Ver-bände und Organisationen gedacht; diesen stehen andereWege offen, um ihre Interessen durchzusetzen. Aber dereinzelne Bürger ist auf die Möglichkeit einer Petitionangewiesen. In den letzten Jahren tauchen immer mehrOnlineportale für Kampagnen auf, die auch Petitionennamentlich erwähnen. Für Nichtjuristen ist das verwir-rend. Diese alternativen Petitionsplattformen mögen Pe-tenten dazu verleiten, dort ihre Petitionen einzureichen,wie wir heute schon mehrfach gehört haben. Diese Pe-tenten halten ein solches Vorgehen vielleicht für effek-tiver, als sich mit ihrem Anliegen direkt an den Bundes-tag zu wenden. Kein Wunder – ich zitiere sinngemäß ausden betreffenden Internetseiten –: Wir wenden uns mitOnlineappellen direkt an die Verantwortlichen in Parla-menten, Regierungen und Konzernen etc. Wir schmiedenBündnisse, tragen unseren Protest auf die Straße etc., mitgroßen Demonstrationen etc. – Das klingt beeindruckendund demonstriert Macht. Aber Petitionen, die dort lan-den, erreichen den Bundestag nie. Sie versinken eher imNirgendwo des Internets, vor allem dann, wenn sie nichtzum Meinungsbild des Plattformbetreibers passen. Soverliert das Petitionsrecht seine ehrwürdige Rolle einesGrundrechts und wird von nicht greifbaren Scheinrech-ten ersetzt. Ich halte diese Entwicklung für sehr bedenk-lich.
Nun komme ich zu meinem letzten, ganz persönlichenPunkt. Lieber Herr Baumann, lieber Günter, als letzteRednerin der CDU/CSU-Fraktion will ich mein Wort andich richten. Du wirst als Vorsitzender unserer Arbeits-gruppe bald deinen Platz räumen. Fast 15 Jahre hast duunsere Arbeitsgruppe mit Kompetenz, Umsicht und Be-geisterung durch die unterschiedlichsten Höhen und Tie-fen unserer Ansichten geführt – humorvoll, geradlinig,streitlustig in der Sache und immer ausgleichend.Eine Petition will ich gerne ansprechen. Sie lag langevor meiner Zeit; vielleicht kann ich dir damit eine klei-ne Freude bereiten. Wie man mir erzählte, hast du un-erschrocken gegen eine einheitliche Farbgebung für alledeutschen Autos gekämpft.
Zitronengelb sollten sie werden, nach dem Willen desPetenten. Seine Begründung war: Mit einheitlich gelberFarbe würden Unfälle vermieden, das Landschaftsbildwürde verbessert, und vor allem würden Ost und Westbesser zusammenwachsen.
Ost und West sind bereits zusammengewachsen. Weretwas anderes behauptet, der lügt. Was die beiden anderenGründe betrifft: Das geht in Bayern derzeit gar nicht. DieLandschaft ist gelb; wohin man schaut: Löwenzähne undblühende Rapsfelder, gelb, gelb und noch einmal gelb.Das Landschaftsbild schreit geradezu nach einer anderenFarbe, was doch auch wieder für eine Vereinheitlichungder vielen und damit nicht aussagekräftigen Autofarbenspräche. Aber aus Sicherheitsgründen müsste es eben dieKomplementärfarbe von gelb sein: blau. Enzianblau odervielleicht himmelblau, nein, CSU-blau müsste es sein.CSU-blau sollten wir alle umlackieren, die roten und diegrünen Autos, lieber Günter. Ich hoffe, du kannst meinemVorschlag einiges abgewinnen. Leider können wir ihn imDetail mit mir am Pult nicht länger beraten; denn meineRedezeit ist jetzt zu Ende. Es wäre auch nutzlos; denn diePetition ist schon lange abgeschlossen.Lieber Günter, ich wünsche dir alles Gute in einemlangen und glücklichen Ruhestand. Herzlichen Dank füralles, für deinen Einsatz und ganz persönlich für deineGeduld mit mir als Newcomerin.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Iris Eberl
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Das Wort hat jetzt der Kollege Markus Paschke für
die SPD.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kein
anderes Gremium des Bundestages ist in der täglichen
Arbeit so nah an den Menschen dran wie der Petitions-
ausschuss. Wir merken sofort, was die Menschen be-
wegt und beschäftigt. Das ist etwas, was mir immer ganz
wichtig war und warum ich auch sehr gern in diesem
Ausschuss bin; das geht, glaube ich, vielen von uns so.
In den meisten Fällen stehen soziale Fragen oder Fragen
der Gerechtigkeit im Mittelpunkt. Das ist nicht immer
alles objektiv, sondern wird auch subjektiv betrachtet.
Nichtsdestoweniger haben die Petenten und Petentinnen
ein Recht, dass wir uns einigermaßen objektiv damit be-
schäftigen.
Der Petitionsausschuss ist nach meiner Ansicht ganz
wichtig für die Demokratie in Deutschland; denn er ist
ein Element direkter Bürgerbeteiligung, ein Element, das
leider viel zu oft übergangen und über das wenig berich-
tet wird. Wir sollten versuchen, dieses Element stärker
in die Öffentlichkeit zu bringen und darzustellen, dass es
Beteiligungsmöglichkeiten gibt.
Es wurde gerade gesagt, dass im vergangenen Jahr et-
was über 11 000 Petitionen eingereicht wurden, deutlich
weniger als in den Jahren davor. Nach meiner Auffassung
ist ein Grund dafür auch die zunehmende Anzahl diverser
privater Plattformen; ich habe nicht den Eindruck, dass
eine übermäßige Zufriedenheit mit unserer Arbeit der
Grund dafür ist, dass es weniger Petitionen gibt. Diese
privaten Petitionsplattformen stellen aus meiner Sicht
aber ein Problem dar. Sie erwecken nämlich häufig den
Eindruck, dass die Petitionen, die dort eingereicht oder
eingestellt werden, uns Politiker auch erreichen; das
tun sie aber nicht. Die Beteiligung samt Unterschrift,
die man dort leistet, verschwindet in den meisten Fällen
im Nirwana des Internets und landet nicht auf unseren
Schreibtischen. Ich befürchte, dass damit eine steigende
Unzufriedenheit der Menschen einhergeht; denn wenn
sich schon jemand beteiligt, dann möchte er auch in ir-
gendeiner Weise eine Rückmeldung bekommen und
nicht das Gefühl haben, dass sich nichts rührt. Das ist ein
Problem, dem wir uns stellen müssen.
Auf der anderen Seite stelle ich aber fest, dass viele
Menschen ein hohes Vertrauen in die Handlungsfähig-
keit des Petitionsausschusses haben. Für mich ist neben
meinen Bürgersprechstunden und den vielen anderen Ge-
sprächen mit den Bürgern im Wahlkreis die Petition ein
wichtiges Instrument, um auf Gesetzeslücken und Unge-
rechtigkeiten hinzuweisen.
Aus meinem Wahlkreis sind Petitionen gekommen,
die das ganze Spektrum des Lebens darstellen: von
Schwierigkeiten mit dem Telefonanschluss über Ärger
mit Behörden bis hin zu Visaproblemen ausländischer
Familienmitglieder. Wir konnten zahlreichen Petenten
helfen, nicht allen, aber doch ganz vielen.
Was mich besonders beeindruckt hat, war die Reakti-
on einer Petentin. Sie hat um Unterstützung bei der Be-
willigung einer Rehamaßnahme gebeten. Der Ausschuss
hat das Bundesversicherungsamt um aufsichtsrechtliche
Prüfung des Falls gebeten. Das Ergebnis war, dass die
Frau eine fünfwöchige medizinische Reha bewilligt be-
kommen hat. Diese Frau hat sich daraufhin beim Aus-
schuss bedankt und geschrieben: Dieses Mal habe ich
Hilfe gebraucht. Es ist schön, zu erleben, dass man diese
auch bekommt. – Das sind Situationen, in denen ich mir
sage: Es lohnt sich, zu arbeiten und Politik zu machen.
Es macht Spaß, wenn man den Menschen helfen kann.
Für die Zukunft wünsche ich mir einen selbstbe-
wussten Petitionsausschuss, einen Petitionsausschuss
mit weniger politischem Kalkül, der nicht nur – wie Sie
angesprochen haben, Kollegin Rüffer – von den Regie-
rungsparteien gestaltet wird, sondern auch von der Oppo-
sition; wenn man Opposition um der Opposition willen
macht, ist das nicht klug. Ich wünsche mir einen Aus-
schuss, der parteiübergreifend stark im Sinne der Bürger
zusammenarbeitet und sich keine Selbstbeschränkung
auferlegt. Der Mensch muss im Mittelpunkt stehen; das
muss unser Ziel sein.
Ich möchte mich zum Schluss – ich sehe, meine Rede-
zeit ist abgelaufen –
Herr Kollege Paschke, Sie sehen das zu Recht so.
– noch kurz bei den Mitarbeitern vom Ausschussdienst
bedanken, die wirklich ganz hervorragende Arbeit ma-
chen, und ebenso bei den Mitarbeitern der Abgeordneten,
die genauso stark eingebunden und beschäftigt sind.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Jetzt hat der Kollege Stefan Schwartze für die SPD
das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Sehr geehrte Petentinnen und Peten-ten! Eine ganz besondere Begrüßung auch an die Staats-sekretäre auf der Regierungsbank, mit denen wir sehr oftzusammensitzen und direkt an den Problemen arbeiten!Dafür meinen herzlichen Dank.Herausstellen möchte ich die Kollegin GabrieleLösekrug-Möller, die an vielen Stellen zu Gesprächen
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da war, die aber auch die Arbeit des Ausschusses ganzgenau kennt und sie jahrelang entscheidend geprägt hat.Die letzte große Reform des Petitionswesens vor zwölfJahren wurde angesprochen. Liebe Gabriele, du warsteine der treibenden Kräfte, die sie damals vorangebrachthaben. Dafür herzlichen Dank! Allzu lange wirst du danicht mehr sitzen. Du kandidierst leider nicht mehr. Wirwünschen dir an dieser Stelle aus dem Petitionsbereichnoch einmal alles Gute. Vielen Dank für deine Arbeit hierim Haus!
Dasselbe gilt für den Kollegen Günter Baumann. Wirhaben es eben schon gehört: 15 Jahre Mitarbeit im Peti-tionsausschuss.
– Länger? Entschuldigung, also sogar länger. Du bist anvielen Stellen ein Kämpfer und Streiter für die Anliegender Menschen. Wir haben uns in der Arbeit im Petitions-ausschuss zusammengerauft. Man merkt: Die Große Ko-alition stößt da manchmal an ihre Grenzen, was geht undwas nicht geht. Die eine oder andere Sache haben wir guthingekriegt. Bei der einen oder anderen Sache hätten wiruns sicherlich etwas anderes gewünscht, auch im gegen-seitigen Verhältnis. Aber das ist eben manchmal so. Per-sönlich wünsche ich dir alles Gute für die Zeit danach.Bleib gesund, und verfolg weiter, was wir hier so treiben.Es ist viel zum Petitionsrecht gesagt worden. Es ist ge-sagt worden, wo Petitionen helfen. Ich bin froh, dass wirin dieser Wahlperiode etwas machen, was wir noch niegemacht haben, nämlich eine Anhörung dazu, wie sichdieses Petitionsrecht weiterentwickeln muss. Da mussetwas passieren. An vielen Stellen ist es angestaubt. Wirmüssen bürgerfreundlicher und bürgernäher werden.
Was ich heute besonders betonen möchte, sind Ereig-nisse, die sich in unserer Arbeit widerspiegeln. Nach-dem im Jahr 2015 mehr als 1 Million Flüchtlinge nachDeutschland gekommen sind, ist es selbstverständlich,dass sich das auch in der Arbeit unseres Ausschusseswiderspiegelt. Während öffentliche Debatten darübergeführt wurden, wie Deutschland mit den Herausforde-rungen umgehen soll, und die Bundesregierung umfang-reiche Pakete zur Flüchtlings- und Asylpolitik beschlos-sen hat, erreichten auch Petitionen von Flüchtlingen denPetitionsausschuss des Bundestages.Das Petitionsrecht ist ein Grundrecht für alle Men-schen. Die Betroffenen bzw. die zahlreichen in der Flücht-lingshilfe Engagierten – den Betroffenen selbst fehlen oftdie Sprachkenntnisse – baten den Petitionsausschuss umHilfe. Sie baten um Hilfe bei der Zusammenführung ihrerFamilie oder um Hilfe, wenn es Fehler im Verfahren gab.Sie baten darum, in besonderen Fällen die Visaverfahrenzu beschleunigen. Sie baten darum, ihre Asylverfahrenin Deutschland durchführen zu dürfen, und sie baten da-rum, bleiben zu dürfen. Hinter jeder Petition verbarg sichein anderes menschliches Schicksal. Es gab vielfach sehrbegründete Anliegen. Über alle Fraktionsgrenzen hinwegkonnte auch oft geholfen werden. Aber all die Fälle zei-gen – damit meine ich auch die Arbeit der eigenen Re-gierung, damit meine ich auch unsere eigene Fraktion –,dass hier weiter Handlungsbedarf besteht. Wir habenHandlungsbedarf, wenn es um die Situation der Kinderund Jugendlichen geht. Wir haben Handlungsbedarf beider Familienzusammenführung. Hier müssen wir unse-re Regeln im Sinne von Humanität, von Menschlichkeit,reformieren.
Wir haben ganz dringenden Handlungsbedarf, und wasmeiner Meinung nach gar nicht geht, sind die Abschie-bungen nach Afghanistan.
Gerade als Mitglieder des Petitionsausschusses sind wirgefordert, hier Änderungen einzufordern.
Wir haben nur einmal im Jahr als Ausschuss die Mög-lichkeit, unsere Arbeit im Plenum des Deutschen Bun-destages vorzustellen und allen Beteiligten ringsum fürdie Petitionsarbeit zu danken. Heute möchte ich allenHelferinnen und Helfern, allen, die in der Flüchtlingsar-beit in ganz Deutschland engagiert sind, Danke sagen fürdas, was sie täglich leisten. Ich bin stolz darauf, dass wirin einzelnen Fällen weiterhelfen konnten.Mein Dank geht natürlich auch an meine Kolleginnenund Kollegen aus allen Fraktionen im Ausschuss. MeinDank geht an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter desAusschussdienstes für ihren guten Job. Große Unterstüt-zung haben wir durch die Mitarbeiterinnen und Mitar-beiter unserer Büros. „Jeder Abgeordnete ist nur so gutwie sein Team“, hat mein Freund Toni Schaaf hier malgesagt.
Den Dank an diese Büros möchte ich hier gern weiterge-ben. Mein Dank geht auch an die Ministerien für die guteZusammenarbeit in vielen Berichterstattergesprächen.
Ich sage auch Danke schön. – Zum Abschluss dieserAussprache hat Mister Petitionsausschuss, der KollegeGünter Baumann, für die CDU/CSU das Wort.
Stefan Schwartze
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Prä-sident! – Wir haben gerade zwei Präsidenten hier oben.Das ist selten. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu-nächst einen herzlichen Dank für die guten Wünscheauch für die Zeit danach, aber noch bin ich hier. Ein Hob-by habe ich schon für die Zeit danach: Ich werde Petiti-onen schreiben.
Ihr werdet euch umgucken, was ihr von mir alles so be-kommt. Dann werde ich genau beobachten, wer wie vo-tiert und wie lange das alles dauert. Also, ihr werdet michnicht so schnell vergessen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, das letz-te Jahr war ein erfolgreiches Jahr für den Petitionsaus-schuss. Die Bürgerinnen und Bürger haben Vertrauen inunsere Arbeit, Vertrauen in die Politiker im Petitionsaus-schuss. Welcher Politiker kann schon sagen: „Ich genießeVertrauen“? Wir haben es gehabt. Über 11 000 Leute sindmit ihren Problemen zu uns gekommen. Das ist schonetwas. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, damitaufzuhören, so vieles schlechtzureden, immer zu sagen:Wir wollen mehr. Wir wollen dieses. Wir wollen alles. –11 000 Leute kamen mit ihren Problemen zu uns. Das isteine große Anerkennung. Es sind täglich 44 Bürgeranlie-gen, die uns erreichen. Das ist ein gutes Zeichen. Dafürherzlichen Dank allen!Dass wir einen leichten Rückgang der Zahl der Petiti-onen haben, ist schon gesagt worden. Wir müssen dabeiaber verschiedene Dinge berücksichtigen.Wir haben bei den Petitionen jetzt wieder das Ni-veau wie vor 1990. Damals lagen die Zahlen generellzwischen 10 000 und 13 000 in Deutschland, in der al-ten Bundesrepublik. Wir hatten dann nach der Wende1990 einen erheblichen Anstieg. Das kann man durchdie deutsche Einheit erklären. Wir hatten viele Proble-me in Ostdeutschland, die im Einigungsvertrag nicht ge-regelt waren. Wir hatten Probleme bei den Renten, beider Treuhand; wir wissen das alle. Wir hatten also einenAnstieg. Im Spitzenjahr waren es 23 000 Petitionen. Daswar ein Niveau, das uns und den Ausschussdienst an dieKapazitätsgrenzen gebracht hat. Deswegen sehe ich esnicht negativ, dass wir seit 2010 einen leichten Rückganghaben, nämlich von 16 000 auf etwa 11 000. Wir sindvon der Anzahl der Petitionen her in diesem Jahr gesamt-deutsch – ich sage es mal so – wieder bei der Situationwie vor 1990 angekommen.Wir hatten in Deutschland in den letzten Jahren aberauch eine starke Zunahme der Zahl der Bürgerbeauftrag-ten und Ombudsmänner. Die haben eine hohe Sachkom-petenz, sind in einem ganz bestimmten Gebiet installiert,wo sie ihre Themen bearbeiten. Die Bürger vertrauenihnen und gehen dann eben zum Beauftragten der Ver-sicherung oder der Krankenkasse. Ich habe gesternversucht, ein bisschen zu recherchieren. Wir haben inDeutschland zurzeit etwa 70 Bürgerbeauftragte und Om-budsleute in verschiedenen Instanzen. Da die auch alleAktenstöße bekommen, ist es logisch, dass es woandersweniger wird.Zu privaten Plattformen ist schon einiges gesagt wor-den; ich will es nicht wiederholen. Ich bleibe dabei: Dassind Mogelpackungen, die den Bürgern etwas verspre-chen, was sie nicht halten können. Kollege Paschke, eineVerbindung zwischen privaten Plattformen und uns, etwadergestalt, dass die sammeln und wir bearbeiten, kann esgarantiert nicht geben. Die Leute sollen gleich zu unskommen, und dann machen wir das ordentlich.
Der Bürger hat das Recht und die Freiheit, zu ent-scheiden, wohin er geht. Wenn er zu privaten Plattfor-men will, dann macht er das. Wenn er zu uns kommenwill, kommt er zu uns. Wenn er zu einem Beauftragtenwill, dann macht er das. Wir müssen dafür arbeiten, dassunser System – mehrere haben es schon gesagt – ver-bessert wird. Wir müssen für unser System werben, esmehr in den Mittelpunkt stellen, es in der Öffentlichkeitbesser vermarkten. Wir müssen erreichen, dass wir mitpositiven Fällen mehr in die Presse kommen; ich weiß,wie schwer das ist. Wir müssen unsere Vorteile mehr dar-stellen. Dazu gehört auch ein benutzerfreundlicher Inter-netauftritt; unser Auftritt ist aus meiner Sicht nicht mehrzeitgemäß. Hier muss eine ganze Reihe passieren. UnserQualitätsmerkmal darf nicht die Anzahl der eingehendenPetitionen sein, sondern die der bearbeiteten Petitionen,wie schnell wir sind, wie erfolgreich wir sind. Wenn wirin den letzten Jahren im Schnitt 40 bis 45 Prozent posi-tiv beschieden haben, dann kann sich diese Zahl sehenlassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie mireinige persönliche Anmerkungen zu meiner Arbeit imPetitionsausschuss. Als ich 1998 in den Bundestag kam,wollte ich damals gerne in den Innenausschuss. Ich kom-me aus einer Grenzregion und wollte in den Innenaus-schuss. Sicherheit war mein Thema. Das habe ich auchgeschafft. Aber dann sagte man mir: Du musst auch inden Petitionsausschuss. – Ich habe damals nicht genaugewusst, was alles dazugehört. Erfahrene Kollegen ha-ben mich gewarnt und gesagt: Dort hast du einen riesi-gen Arbeitsaufwand. Dort gibt es komplexe Themen, indie du dich vertiefen musst, bis in die letzte Verästelungder Gesetzgebung in Deutschland. Wir empfehlen dir, esnicht zu machen. – Ich habe es trotzdem gemacht. Ichmusste es ja machen, weil ich einen anderen Ausschusshaben wollte.Nach 19 Jahren kann ich sagen: Ich habe es nicht be-reut. Ich möchte keines der 19 Jahre missen, in denenich Petitionen bearbeitet habe. Alle Themen waren span-nend, eine Themenvielfalt. Es hat immer wieder Spaßund Freude gemacht, sich um Probleme von Menschenzu kümmern, sich hineinzuversetzen und ihnen in irgend-einer Form helfen zu können.Ich habe in 19 Jahren immerhin drei Koalitionen er-lebt – ich war auch schon einmal in der Opposition; das
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wird man alles wissen –, ich habe vier Vorsitzende erlebtmit allen Vor- und Nachteilen
– ja, es ist halt so – und immerhin sieben Unterabtei-lungsleiter beim Ausschussdienst.
Dort hinten sitzt der siebte Unterabteilungsleiter, den ichaushalten muss.
Es ist schon eine ganz schöne Zeit, die man erlebt hat.Das Fazit für mich bleibt: Es waren gute, erfolgreicheJahre. Wie gesagt, wir haben viele Fälle parteiübergrei-fend mit den Kollegen klären können. Wenn man ehrlichzueinander ist und sagt: „Wir wollen es machen“, aus denund den Gründen, dann hat das auch immer funktioniert.Deswegen allen einen ganz herzlichen Dank. Ich möchtemich bei allen Mitgliedern des Petitionsausschusses fürdie Zusammenarbeit herzlich bedanken. Es war meistensangenehm, manchmal auch streithaft. Das ist gar keinProblem. Jeder hat immer versucht, im Interesse des Bür-gers etwas zu erreichen.Einen herzlichen Dank auch meinem Büro, meinenMitarbeiterinnen, die immer super zu mir standen. Ohneeine solche Truppe geht es gar nicht. Wenn man in einerWoche 25, 30 Petitionen auf dem Tisch hat, dann geht esgar nicht anders.Die Kunst war für mich immer, zu unterscheiden: Wasist ein echtes Bürgerproblem, wer braucht unsere Hilfe,und was kann man etwas schneller vom Tisch schieben?Das ist manchmal nicht ganz so einfach. Wir haben nichtnur Behördenversagen zu bearbeiten, sondern es ginguns auch um moralische Aspekte. Wir hatten eine Reihevon Petitionen, die wir, rein gesetzlich betrachtet, hättenablehnen müssen. Wir haben aber gesagt: Das geht nicht,wir müssen uns in die Lage hineinversetzen. Ich denkehier an die Frau, die in Afghanistan ihren Lebenspartnerverloren hat. Wir haben am Ende erreicht, dass die Finan-zen geklärt werden konnten.Ich erinnere mich gerne an riesengroße Petitionsfälle,die über Jahre dauerten. Hier denke ich an die 14. WP.Die Post wollte das Postleitzahlenbuch nicht mehr auf-legen und hat es nur auf Druck von uns wieder gemacht.Ich denke gerne zurück an einen Unternehmer in Chem-nitz, der nach fast 20 Jahren Entschädigung für seinenBetrieb bekommen hat, der ihm nicht wieder übertragenwurde. Ich denke an das Edertal-Museum in Hessen, wowir vor Ort waren. Ich denke an Prora, wo wir vor Orterreicht haben, dass das Museum heute noch besteht, daseigentlich schon plattgemacht war. Ich denke an Heim-kinder, Bombodrom und Antennengemeinschaften, diejetzt wieder Rückenwind vom Bundesrat bekommen.Das sind also Themen, bei denen wir nach zwölf Jahrenwieder Licht sehen. Das sind also angenehme Ereignisse.Zurzeit liegen noch drei große Themen vor uns. Dassind, Frau Wöllert: Wir wollen uns auf jeden Fall umdie HCV-Infizierten kümmern. Wir wollen uns in denSchiffsuntergang der „Beluga“ hineinvertiefen und nichteinfach hinnehmen, was passiert ist. Außerdem wollenwir bei den RFID-Chips gerne klären, dass jeder weiß,was er wirklich gekauft hat, ob er noch irgendeiner Kon-trolle unterliegt.Wichtig ist aber auch, liebe Kolleginnen und Kollegen:Wir müssen bei der Bearbeitung der Petitionen ehrlichsein. Bürgern etwas zu versprechen und sie lange hin-zuhalten, hilft überhaupt nicht. Wir müssen bei irgend-welchen Fällen auch einmal sagen: Das geht nicht mehr.Die Zeit ist vorbei. Wir müssen abschließen. – Deswe-gen: Ehrlichkeit ist ganz entscheidend. Ich denke an dieRentenfälle, die Sondersysteme der DDR. Sie nach § 109unserer Geschäftsordnung über zig Wahlperioden ewighinzuschieben, hat den Bürgern Hoffnung gemacht, diewir niemals erfüllen konnten. Ich glaube, das ist keineLösung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mehrere habenheute von Veränderungen und einer lebendigen Demo-kratie gesprochen: Wir müssten Reformen durchführen.Es wurden Reformen also angemahnt. Gestatten Sie mirnach der langen Zeit, die ich im Petitionsausschuss dabeibin, dass ich heute vier Vorschläge für Reformen unter-breite. Sie werden nicht bei allen Beifall hervorrufen –davon bin ich überzeugt –, aber ich bin der letzte Redner,und da kann keiner widersprechen.
Insofern mache ich das trotzdem ganz gerne.Ich beginne – erstens – mit Anhörungen zu Petitionen,für die in vier Wochen mindestens 50 000 Unterschrif-ten gesammelt wurden, in öffentlichen Sitzungen desPetitionsausschusses; manchmal haben wir sie auch beiweniger Unterschriften durchgeführt. Ich möchte heuteeinfach sagen: Das ist für mich eine Sache, die wir ein-stellen sollten. Der Petitionsausschuss sollte diese An-hörungen in der nächsten Wahlperiode überhaupt nichtmehr durchführen, weil sie zu einer Ungleichbehandlungder Bürger führen. Die Bürger haben mit ihren Petitio-nen nach dem Grundgesetz ein Recht, gleichbehandelt zuwerden. Mit welchem Recht verhandeln wir eine Petitionöffentlich, die durch eine vernetzte Gruppe 50 000 Un-terschriften erreicht hat,
während die Petition des Bürgers zu einem Rentenfall,die er alleine unterschrieben hat, im normalen Verfahrenbearbeitet wird?
Ich bin für eine Gleichbehandlung. Deswegen würde ichdem nächsten Petitionsausschuss vorschlagen, dies zubeenden.Günter Baumann
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Das zweite Thema. 15 Prozent unserer Kraft verwen-den wir – zumindest einige von uns – auf die Vielschrei-ber. Da geht es um Petitionen, die anonym, verworren,beleidigend, oft ohne jeden Inhalt sind. Trotzdem durch-laufen sie ein komplettes Bearbeitungsverfahren. Die da-rauf verwendete Kraft sollten wir anderweitig einsetzen.Ich würde dem nächsten Petitionsausschuss empfehlen,eine Definition zu erarbeiten, was eine Petition ist undwas nicht. Es gibt ja auch Eingaben, die sich einfachnur mit irgendwelchen Sachen beschäftigen. Artikel 17Grundgesetz sollte uneingeschränkt erhalten bleiben.Aber wenn jemand einfach einen Satz schreibt und ir-gendetwas von sich gibt, sollte man überlegen, ob daseine Petition ist.Der dritte Vorschlag ist: Wir sollten darüber nach-denken – das ist nicht mein Vorschlag; er stammt ausfrüheren Zeiten, von Siegfried Kauder –, ob der Petiti-onsausschuss einen Härtefallfonds erhält, damit der Pe-titionsausschuss in Fällen, in denen gesetzlich keine Hil-fe möglich ist, mit einem kleinen Betrag zum Ausdruckbringen kann: Wir helfen dir. – Mit einem solchen Fondskönnten wir – wie der Bundespräsident und manch ande-re Institution – Soforthilfe leisten und Geld bereitstellen,sodass die Betroffenen merken: Jawohl, hier reagiert je-mand und hilft mir.Ich möchte einen vierten Vorschlag machen, wennich das, Frau Präsidentin, von der Zeit her noch darf; ichbeeile mich jetzt auch. Wir haben bei der Analyse derBearbeitung von Petitionen in allen Ländern der Europä-ischen Union und auch in den deutschen Bundesländernfestgestellt: Es gibt verschiedene Systeme, und es gibtmeistens neben dem Petitionsausschuss einen unabhän-gigen Bürgerbeauftragten oder Ombudsmann. Man musssich damit beschäftigen, welche Aufgabe sie haben undwas sie im Vergleich zum Petitionsausschuss leisten.Man sollte nicht einfach sagen: Das brauchen wir nicht,wir sind ja auch da. – Ich habe mich umfangreich da-mit beschäftigt, habe mir die Arbeit in Rheinland-Pfalz,in Mecklenburg-Vorpommern, in Thüringen, in Schles-wig-Holstein und auch, seit kurzem, in Baden-Württem-berg angeschaut. Dort gibt es solche Bürgerbeauftragten,und ich sehe das absolut positiv. Die Anonymität desGremiums Petitionsausschuss wäre überwunden, wenneine bekannte Persönlichkeit als Bundesbürgerbeauftrag-ter eingesetzt würde. Wir hätten damit eine Unabhängig-keit von Wahlperioden, von Politik, von Fraktionen. Esist heute mehrfach angemahnt worden: Ihr müsst ja nachdem Koalitionsvertrag arbeiten. – Wir hätten eine neu-trale Person, die ständig da wäre und nicht an Wahlpe-rioden gebunden wäre. Ich sehe große Vorteile in einemNebeneinander mit dem Petitionsausschuss. In den Bun-desländern klappt das hervorragend. Ich würde dies alsHilfsorgan des Parlamentes verstehen, vergleichbar mitdem Wehrbeauftragten oder vielleicht dem Bundesrech-nungshof. Der Bürgerbeauftragte kann ein niederschwel-lig erreichbarer Ansprechpartner für Bürger sein, ein Mo-derator – wie auch immer –, als Ergänzung zu unsererArbeit. Ich denke, der nächste Bundestag sollte darübernachdenken, ob man dies neben dem Petitionsausschussinstalliert, ohne natürlich den Petitionsausschuss zu ent-machten.Ich stehe zu unserem Petitionswesen und habe in19 Jahren bei der Bearbeitung von Bürgeranliegen nurpositive Erfahrungen gemacht. Trotzdem müssen wirüber Veränderungen nachdenken – die Zeit ist so. Wirbrauchen angesichts des Entstehens privater Plattformenneue Ideen für unsere Arbeit, um mehr Bürgernähe zuerreichen. Nehmen Sie einfach die Ideen eines scheiden-den Abgeordneten, der 19 Jahre lang Petitionen bearbei-tet hat, als Denkanstöße für Ihre weitere Arbeit.Herzlichen Dank allen für die Zusammenarbeit! Ichwünsche allen, die wiedergewählt werden und hoffent-lich im Petitionsausschuss mitarbeiten werden, allesGute.Danke.
Lieber Herr Kollege Baumann, auch von dieser Stelleein ganz herzliches Dankeschön. Sie haben etwas über-zogen, aber ich denke, wenn sich jemand hier im Bun-destag 19 Jahre für die Menschen eingesetzt hat, danndarf man ihm auch zugestehen,
dass er an dieser Stelle noch die eine oder andere Anre-gung für das nächste Parlament hat.
Ihre Denkanstöße werden wir an die Kollegen weiter-geben, die in den Petitionsausschuss gehen werden. Andiejenigen gerichtet, die am Anfang denken: „Na ja, Pe-titionsausschuss, muss das sein?“, werde ich Sie gernezitieren: Sie haben diese 19 Jahre nie bereut. – Herzli-chen Dank.
Damit schließe ich die Aussprache.Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Fraktion DIE
LINKEEine erfolgreiche Integrationspolitik erfor-dert eine soziale Offensive für alleDrucksachen 18/9190, 18/12166Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Zunächst hat das WortDaniela Kolbe von der SPD-Fraktion.
Günter Baumann
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Rückblickend auf diese Legislatur stelle
ich fest: Wir können durchaus stolz sein auf das, was wir
im Bereich der Integrationspolitik in unserem Land ge-
schafft haben. Es unterscheidet meine Fraktion von der
antragstellenden Fraktion, dass wir stolz sind auf die
Leistung, so viele Menschen bei uns aufgenommen, will-
kommen geheißen und integriert zu haben. Ein bisschen
Stolz darf heute sein.
Heute ist der Internationale Tag gegen Homo-, Inter-
und Transphobie, der sogenannte IDAHIT. Ich bin stolz
darauf, dass wir in unserem Land Menschen Schutz ge-
ben, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung verfolgt
werden. Auf diesen Aspekt können wir gemeinsam stolz
sein.
Wir haben in dieser Legislaturperiode beim Thema
Integration sehr viel bewegt. Wir haben den Menschen
die Möglichkeit eröffnet, besser die deutsche Sprache
zu lernen. Wir haben die Zugänge in den Arbeitsmarkt
deutlich verbessert. Dazu haben wir massiv Ressourcen
mobilisieren müssen, aber wir haben es geschafft. Wir
haben damit den Kommunen ermöglicht, die Integration
vor Ort zu bewältigen.
Es ist also viel Licht, es gibt aber auch Schatten, das
ist nun einmal so. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen,
dass genau dafür steht und das mich wirklich sehr be-
wegt.
Wir haben hier im Deutschen Bundestag gemeinsam
das Integrationsgesetz beschlossen. Darin sind sehr vie-
le gute Regelungen zum Thema „Integration in Arbeit“,
aber auch zum Thema „Sprachkurse“ enthalten. Enthal-
ten ist aber auch die sogenannte Ausbildungsduldung
oder „3+2-Regel“, das heißt, dass jemand, der hier eine
Ausbildung beginnt, für die Zeit der Ausbildung bleiben
darf und danach noch zwei Jahre obendrauf. Wir alle ha-
ben hier gemeinsam bekundet, dass das unser Wille ist.
Wenn ich mir jetzt allerdings – da komme ich zum Schat-
ten – die Realität in manchen Bundesländern anschaue,
dann muss ich feststellen, dass der gemeinsame Wille
dieses Hauses dort in keiner Weise respektiert wird. Wir
erleben, dass junge Menschen aus der Ausbildung abge-
schoben werden und dass in vielen Fällen die Duldung
nicht erteilt wird, obwohl sie nach dem Gesetz und auch
nach den Urteilen von Verwaltungsgerichten hätte erteilt
werden müssen.
Im Gesetz ist der Halbsatz enthalten, dass keine Dul-
dung erteilt wird, wenn konkrete aufenthaltsbeendende
Maßnahmen bevorstehen. Wenn in Bayern beispielswei-
se darunter zählt, dass jemand nur zu einem Gespräch
eingeladen wird, in dessen Verlauf der Person gesagt
wird, dass sie sich ein Passersatzpapier organisieren soll,
dann fühle ich mich als Bundestagsabgeordnete – das
muss ich schon sagen – ziemlich doll veräppelt.
Lassen Sie uns gemeinsam in unseren jeweiligen Bun-
desländern noch einmal deutlich machen, dass es unser
Wille ist, dass derjenige, der sich anstrengt, dass derjeni-
ge, der eine Ausbildung beginnt, auch bleiben darf. Das
ist wichtig für die Betroffenen, aber es ist auch wichtig
für die Ausbildungsbetriebe, die ins Risiko gehen und
die im Moment massiv verunsichert sind. Das ist kein
Zustand. Wer Integration will, der sollte an dieser Stelle
dringend nachschärfen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Herzlichen Dank, Frau Kolbe. – Als nächste Rednerin
spricht Sevim Dağdelen von der Fraktion Die Linke.
Meine sehr verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolle-ginnen und Kollegen! Wir leben in einem Land, das so-zial gespalten ist. Das haben auch die Wahlergebnisse inNRW gezeigt. Die Bundesregierung kann ihren Armuts-und Reichtumsbericht gar nicht so schönfärben oder zu-rechtbiegen, dass die immer größer werdende Kluft zwi-schen Arm und Reich verdeckt würde. Die einen badenheutzutage im Schampus, wissen nicht, was sie mit derzehnten Yacht machen sollen,
während circa 40 Prozent der Bevölkerung heute weni-ger Kaufkraft besitzen als Ende der 90er-Jahre. Für dieseungleiche Entwicklung tragen Sie von Union und SPDgemeinsam Verantwortung.
Meine Damen und Herren, Sie werden nicht müde,der Öffentlichkeit Sand in die Augen zu streuen und Ihrimmer gleiches Mantra zu wiederholen: Für einen Min-destlohn von 12 Euro die Stunde sei kein Geld da, füreine Arbeitslosenversicherung, die den Namen verdient,sei kein Geld da, für eine Bekämpfung der Armut sei keinGeld da, für dringend notwendige Kitaplätze sei keinGeld da. Für tatsächlich wirksame soziale Integrations-maßnahmen fehlt auch das Geld. Aber Integration schafftman eben nicht durch irgendwelche Benimmregeln oderirgendwelche Sprechblasen wie die der BundeskanzlerinMerkel, die heute sagte: Für Integration müssen wir unsaufeinander einlassen. – Ich sage: Nein, Frau Merkel. FürIntegration muss man endlich etwas Geld in die Handnehmen und in den sozialen Frieden in diesem Land in-vestieren.
Sicher, wenn man – wie Union und SPD – keine Ver-mögensteuer für Reiche einführt und den Rüstungshaus-halt wie die Große Koalition in diesem Jahr um 8 Prozentauf 37 Milliarden Euro erhöht, dann fehlt selbstverständ-lich das Geld für die dringend notwendige soziale Offen-sive in diesem Land. Sagen Sie dann aber bitte nicht, es
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sei kein Geld da. Sagen Sie den Menschen endlich dieWahrheit. Sagen Sie ihnen, dass Union und SPD sozialeSicherheit für alle in Deutschland lebenden Menscheneben nicht wichtig genug ist, um sich mit den Reichenund Mächtigen in diesem Land anzulegen. Sagen Sie ih-nen, dass Sie nicht an das Geld der Geschwister Quandtund Klatten ranwollen, die allein vom AutokonzernBMW in diesem Jahr mehr als 1 Milliarde Euro Divi-dende als völlig leistungsloses Einkommen erhalten. Dassind 3 Millionen Euro pro Tag. Und da wollen Sie selbst-verständlich nicht ran, nicht einmal mit einer moderatenMillionärssteuer, wie wir Linke sie fordern.
Sagen Sie den Menschen, dass es Union und SPD ebenwichtiger ist, neue Panzerarmeen gen Osten zu schicken,als sich um einen Ausbau der Kitaplätze zu kümmern.
Es mangelt akut an 300 000 Kitaplätzen in Deutschland.Und was macht die Bundesregierung? Sie legt ein Pro-gramm für 100 000 Plätze bis 2021 auf. So kann mandas nicht machen. Wir brauchen das Geld für dringendnotwendige Kitaplätze.
Wir Linke jedenfalls wissen – das sagen wir auch –: Geldist genug da. Dazu müssen aber endlich auch die Vermö-genden in diesem Land einen entsprechenden, zumindestbescheidenen Anteil zum Allgemeinwohl leisten. Dazumuss dieser wahnwitzige Aufrüstungskurs gestoppt wer-den.
Wir wollen einen starken Sozialstaat. Wir wollen einesoziale Offensive in diesem Land. Wir brauchen Inves-titionen in die Infrastruktur, die in den letzten Jahrenkaputtgespart worden ist. Wir brauchen neue Kindergär-ten und mehr Plätze. Wir brauchen Schulen und Sozial-wohnungen. Wir brauchen einen Neustart im sozialenund gemeinnützigen Wohnungsbau. Konkret notwendigsind mindestens 250 000 neue Wohnungen jährlich stattder 25 000, wie von der Bundesregierung geplant. Stattdes Weiter-so der Bundesregierung setzen wir uns dafürein, durch eine soziale Offensive den sozialen Frieden inunserem Land wiederherzustellen, damit auch der Trendnach rechts gestoppt werden kann.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als Nächster spricht
Mark Helfrich für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!„Schulz-Zug im Heimatbahnhof steckengeblieben“ lau-tete eine Schlagzeile dieser Woche nach der NRW-Wahl.
Schaue ich mir den Kurs an, den Sie, Kolleginnen undKollegen von den Linken, mit dem vorliegenden Antragfahren, könnte die Schlagzeile lauten: „Es fährt ein Zugnach Nirgendwo“.
Ihr Antrag „Eine erfolgreiche Integrationspolitik er-fordert eine soziale Offensive für alle“ erweckt den Ein-druck, es herrsche große soziale Ungerechtigkeit in un-serem Land.
Wie weit man damit kommt, Kollege Birkwald, demWähler einzureden, es gehe in Deutschland nicht gerechtzu, haben die letzten drei Landtagswahlen eindrucksvollgezeigt.
Man wird vom Wähler abgestraft. Sie von der ach sosozialen Linken haben es in NRW, dem Bundesland mitdem größten Anteil an Empfängern staatlicher Grundsi-cherung, nicht in den Landtag geschafft. Damit ist klar,dass man weder mit dem Schlechtreden Deutschlandsnoch mit Linkspopulismus punkten kann.
Ich frage Sie allen Ernstes, werte Kolleginnen undKollegen der Linken: In welchem Land geht es denngerechter zu als in unserem? Deutschland ist ein funkti-onierender Rechtsstaat mit einem engmaschigen Sozial-system. Dem Land und den Menschen geht es so gut wielange nicht.
Lassen Sie mich dies am Beispiel des Arbeitsmarktesaufzeigen. Die deutsche Wirtschaft brummt. Wir habenein gesundes Wirtschaftswachstum von zuletzt 1,8 Pro-zent. Auf dem Arbeitsmarkt jagt ein Positivrekord dennächsten. 43,8 Millionen Menschen – so viele wie niezuvor – haben einen Job. Die Arbeitslosigkeit ist auf ei-nem Vierteljahrhunderttief. Besonders bemerkenswertist, dass die Jugendarbeitslosigkeit die niedrigste in Eu-ropa ist.
Gleichzeitig geht der Stellenaufbau weiter. Erstmalsin der Geschichte der Bundesrepublik waren mehr alsSevim Dağdelen
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31,7 Millionen Menschen sozialversicherungspflichtigbeschäftigt.Wir müssen uns aber auch ins Gedächtnis rufen, dasseine solche Arbeitsmarktlage keine Selbstverständlich-keit ist. Grundlage dafür ist und bleibt eine stabile Wirt-schaft, für die ein flexibler Arbeitsmarkt unabdingbar ist.Von ihm profitieren all jene, die ohne Instrumente wie dieZeitarbeit oder ohne die Möglichkeit, Arbeitsverträge zubefristen, weiterhin arbeitslos wären. Vor allem die Zeit-arbeit schafft zusätzliche Arbeitsplätze. Sie ist auch einesder wichtigsten Instrumente im Kampf gegen die Lang-zeitarbeitslosigkeit. Zwei Drittel der Zeitarbeiter warenzuvor ohne Beschäftigung.Das scheinen Sie vergessen zu haben.
Sonst würden Sie in Ihrem Antrag nicht erstens die Ein-schränkung von befristeten Arbeitsverträgen, zweitensdie Abschaffung der Leiharbeit und drittens die Einfüh-rung einer Sonderabgabe für Arbeitgeber in Höhe von0,5 Prozent der Lohnsumme fordern. Sie fordern zudemdie Abschaffung der Hartz-IV-Sanktionen.
Ich bin sehr froh, dass wir als Union dies verhindert ha-ben. Das Prinzip des Förderns und Forderns, auf demgute Arbeitsmarktpolitik beruht, ist richtig und wichtig.
Solidarität ist keine Einbahnstraße. Der Sozialstaatmuss verlangen können, dass jemand, der arbeiten kannund dem Arbeit angeboten wird, diese auch annimmt.Die Sanktionen sind ein wichtiger Mechanismus, wie esihn überall in unserer Gesellschaft gibt. Im Übrigen sindsie nach meinem Verständnis ein Zeichen von Fairness,Gerechtigkeit und Verantwortung, auch gegenüber denArbeitnehmern, die es durch ihre Arbeit überhaupt erstermöglichen, dass es diese Sozialleistungen gibt. EineAbschaffung bzw. Absenkung der Sanktionen wäre auchim Hinblick auf die vielen Flüchtlinge, die im Hartz-IV-System angekommen sind oder dort noch ankommenwerden, das falsche Signal.Hätte es dann noch sozusagen ein i-Tüpfelchen ge-braucht, dann wäre das Ihre Forderung, dass jeder, derhier in Deutschland ankommt, ab dem ersten Tag monat-lich 1 050 Euro bekommen soll. Das würde eine explo-sionsartige Zuwanderung in unsere sozialen Sicherungs-systeme bewirken
und, ich denke, mittelfristig auch den Kollaps unseresSozialstaates. Auf Ihre Finanzierungsvorschläge wäreich gespannt. Lassen Sie mich an dieser Stelle einfacheinmal raten: Mit einer weiteren Sonderabgabe würdenwir es bestimmt locker schaffen, das zu finanzieren.
Nein, lassen wir die Scherze. Ihre sozialverblendetenVorstellungen mögen in Ihrem Wahlprogramm auftau-chen. Mit der Realität in Deutschland haben sie nichts,aber auch gar nichts zu tun. Deshalb lehnen wir IhrenAntrag ab.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Helfrich. – Als nächsterRedner spricht Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit.Deutschland geht es sehr gut – ökonomisch. Der Arbeits-markt brummt. Die Ökonomie brummt. Das haben Sierichtigerweise gesagt. Auf der anderen Seite muss manaber feststellen, dass der Wohlstand und der Reichtumin Deutschland nicht bei allen ankommen. Der Armuts-und Reichtumsbericht der Bundesregierung zeigt dassehr deutlich. Die untersten 40 Prozent haben in denletzten 20 Jahren nicht dazugewonnen. Sie haben keinhöheres Einkommen. Die Einkommen der Reichsten, dieVermögen der Reichsten sind stark gestiegen. Im Durch-schnitt geht es besser, aber die Schere geht auseinander,die Armutsquoten steigen. Die Kinderarmut ist nach demArmuts- und Reichtumsbericht zum ersten Mal auf über20 Prozent angestiegen.
Mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland hat ein Ein-kommen unter der Armutsgrenze. Ein Fünftel der Kinderhängen wir also ab. Ähnliche Studien gibt es nicht nurzur finanziellen Dimension, sondern auch zu Bildungund anderen Bereichen. Damit verscherzen wir uns dieZukunft. Wir müssen vor allen Dingen in die Kinder in-vestieren und dafür sorgen, dass Kinderarmut in Deutsch-land verringert wird.
Mit Blick auf die Verteilungsfragen, die sich bei unsstellen, müssen wir dafür sorgen und können wir dafürsorgen, dass alle Menschen, die hier leben, selbstbe-stimmt an der Gesellschaft teilhaben, dass niemand aus-gegrenzt wird, damit wir eine bunte, vielfältige, selbstbe-stimmte Gesellschaft, eine inklusive Gesellschaft haben.Dafür müssen wir arbeiten.
Mark Helfrich
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„Inklusiv“ bedeutet: sowohl für die Menschen, die hierschon länger leben, als auch für die Neuen, die dazuge-kommen sind.Viele Probleme, die in dem Armuts- und Reichtums-bericht abzulesen sind, werden sich durch die Menschen,die zu uns kommen, leider kurzfristig verstärken. Wirwerden wahrscheinlich einen höheren Anteil im SGB IIhaben. Wir werden möglicherweise ein Steigen der Ar-mut haben. Mittel- bis langfristig ist die Zuwanderungeine Chance. Aber die Chance werden wir nur dann nut-zen können, wenn wir jetzt in die Menschen investieren,wenn wir von Anfang an für Integration und dafür sorgen,dass die Menschen an der Gesellschaft teilhaben können.
Dafür braucht es einen inklusiven Arbeitsmarkt füralle, damit alle Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Dafürbraucht es eine inklusive Bildung für alle Menschen mitSprachproblemen
oder mit anderen Problemen, damit alle in DeutschlandBildungserfolge haben. Und es braucht eine inklusivesoziale Sicherung, eine vernünftige Grundsicherung,die das Grundrecht auf Existenzsicherung gewährleistet.Die Gewährung eines menschenwürdigen Existenzmi-nimums ist ein Grundrecht. Das sage ich insbesonderenoch einmal in die Richtung der CDU/CSU-Fraktion.
Das muss gewährt werden, und zwar sanktionsfrei. Wirwollen die Sanktionen beim SGB II abschaffen und dassim Asylbewerberleistungsgesetz das Existenzminimumauch gewahrt wird. Der Anfang des Jahres von der Bun-desregierung vorgelegte Gesetzentwurf, gemäß dem dieLeistungen gekürzt werden sollen, ist unserer Meinungnach nicht der richtige Weg, sondern wir brauchen einegleiche Grundsicherung, sowohl für die Menschen, diehier schon leben, als auch für die Menschen, die dazu-kommen.
Darüber hinaus brauchen wir eine Alterssicherung füralle. Das Prinzip Bürgerversicherung muss für alle gel-ten.Wir brauchen eine vernünftige Gesundheitsversor-gung für alle, einen Zugang zu Gesundheitsleistungen fürdie Menschen, die hier schon leben, ohne eine Trennungin die Zwei-Klassen-Medizin, und eine vernünftige Ge-sundheitsversorgung für die geflüchteten Menschen, diehierherkommen.Der richtige Ansatz wäre, zu sagen: Inklusion, diealle umfasst, soziale Teilhabe für alle. Deswegen findenwir die Überschrift des Antrages sehr gut. Der Inhalt desAntrages ist jedoch teilweise ein buntes Sammelsurium.Die Rede war noch viel bunter. Da ist alles Möglichezusammengemengt worden. Das heißt, der Ansatz ist ei-gentlich richtig, das, was drinsteht, ist jedoch hochgradigproblematisch. Deswegen können wir dem Antrag nichtzustimmen. Wir werden uns enthalten. Aber wir müsseninsgesamt alle dafür sorgen, dass wir soziale Teilhabe füralle schaffen.Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner
spricht Josip Juratovic von der SPD-Fraktion zu uns.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Was kostet Integration? Was kostet es, Men-schen zu ermöglichen, bei uns anzukommen? 25 Mil-liarden Euro zusätzlich, 30 Milliarden, 50 Milliarden?Der Antrag der Linken suggeriert: Wenn man zusätzlich25 Milliarden Euro nach dem Gießkannenprinzip überdie Bundesrepublik ausschüttet, dann wird das schon.Ich fürchte aber, so einfach ist es nicht. Denn was be-deutet denn Integration? Integration bedeutet doch nichtsanderes als Teilhabe am gesellschaftlichen Leben: anSprache, Arbeit, Wohnen, Bildung und Kultur. Das istwesentlich nicht nur für Geflüchtete, sondern für alle, diein Deutschland leben: für Zuwanderer aller Art und na-türlich auch für die Einheimischen.
Deshalb muss es darum gehen, kostenfreie Bildungfür alle zu ermöglichen, wie es die SPD schon lange for-dert. Daneben muss es zum Beispiel eine Erleichterungbei der Anerkennung der Berufsabschlüsse, bezahlbarenWohnraum für jeden Geldbeutel und einen Arbeitsmarktgeben, der es jedem nach seinem Können ermöglicht,von seiner Hände Arbeit zu leben.All diesen Ansprüchen, die eine Gesellschaft erfüllenmuss, die sich sozial und fortschrittlich nennt, kommenwir bereits nach, und wir Sozialdemokraten würden ih-nen noch besser nachkommen, wenn wir die Mehrheithätten.
Was ich sagen will: Der Bund hat seine Hausaufgabenin puncto Ausgaben gemacht. Wir haben 2016/17 knapp30 Milliarden Euro für asylbedingte Kosten ausgegeben.Der größte Anteil davon ging mit über 16 MilliardenEuro übrigens an die Länder und Kommunen zur Entlas-tung bei den Flüchtlingskosten. Mit diesem Geld wurdenFlüchtlinge untergebracht, aber auch Lehrer und Erziehereingestellt. Wir haben die Gelder für den Wohnungsbauerhöht und das Personal in Behörden – nicht zuletzt demBAMF – aufgestockt.Es ist also keineswegs so, dass wir Kommunen undVerwaltung ausbluten lassen, wie es im Antrag der Lin-ken anklingt. Im Gegenteil: Die Bundesregierung kommtihrer Aufgabe in angemessener Weise nach.Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
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Natürlich geht es immer noch besser, aber nicht mitdem Geldverteilprinzip der Linken, die das Geld gernemit der Gießkanne verteilen wollen. Als Sozialdemokratsage ich: Wir müssen gute soziale Politik für alle ma-chen. Nur so erhalten wir einen gesellschaftlichen Kon-sens und ein gutes Miteinander in Vielfalt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das bringt mich zueinem anderen Punkt, der mir als Integrationsbeauftrag-tem außerordentlich wichtig ist: Wir können Milliardenausgeben und die schönsten Maßnahmenpakete schnü-ren, wir können uns hier über die Höhe der Summen unddie unterschiedlichsten Kostenpunkte streiten, all unsereAnstrengungen bleiben aber wirkungslos, wenn wir sienicht mit Leben erfüllen. Wir müssen das Ziel verinner-lichen, dass die Menschen an unserer Gesellschaft teil-haben können. Das funktioniert nur, wenn die richtigeHaltung und das passende gesellschaftliche Klima dafürvorhanden sind.
Lassen Sie uns den Geflüchteten zeigen, dass wir ihreNot verstehen und dass wir alles tun, damit sie sich sicherfühlen – sei es für eine Übergangszeit oder für ihr ganzesLeben und das ganze Leben ihrer Kinder. Diese Haltungwürde uns sehr viel Geld sparen.Dazu gehört auch, dass Sie von der CDU endlich ein-mal die ständigen Doppelpass-, Loyalitäts- und Leitkul-turdebatten einstellen.
Das macht jedes aufkeimende Vertrauen und Zusammen-gehörigkeitsgefühl mit einem Schlag zunichte.Lassen Sie uns solch ermüdende Diskussionen be-enden und solch gut gemeinte Anträge wie die der Lin-ken vergessen. Beides ist Wahlkampf und enttäuscht dieMenschen, die sich millionenfach für gelungene Integra-tion einsetzen und denen wir unseren Dank und Respektsowie unsere Anerkennung und Unterstützung statt leererVersprechungen schuldig sind.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Als letzte Rednerin in
dieser Debatte spricht Dr. Astrid Freudenstein von der
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es gibt kaum etwas, was so gut ist, dass man es nichtnoch besser machen könnte. Das gilt natürlich auch fürunseren Sozialstaat, den ich für einen der besten weltweithalte.
Ich glaube, dass unser Sozialstaat auch der Grund ist, wa-rum so viele Menschen aus aller Welt bei uns eine neueHeimat suchen.
Gleichzeitig heißt das natürlich nicht, dass wir unszurücklehnen dürfen. Wenn zum Beispiel mehr als eineMillion Menschen dauerhaft keine Arbeit finden, dannmüssen wir überlegen, wie wir auch diese Menschen ver-mitteln können. Wenn vor allem ältere Frauen ein hohesRisiko haben, in Altersarmut zu fallen, dann müssen wiruns überlegen, welche Lösungen genau für diesen Perso-nenkreis passen. Wenn vor allem Kinder aus armen El-ternhäusern ein hohes Risiko haben, zu armen Erwachse-nen zu werden, dann müssen wir dafür Lösungen finden.Es gibt kein System, das nicht im Einzelfall Unge-rechtigkeiten hervorbringt. Auch unser Sozialstaat ist einSystem. Es wird vielen, den allermeisten, gerecht. Aberes gibt immer – das ist eben systemimmanent – Einzelne,die sich in einem solchen System ungerecht behandeltfühlen, für die andere Lösungen tatsächlich besser wären.Eines aber wäre als Konsequenz aus diesen Selbstver-ständlichkeiten grundfalsch, nämlich das ganze System,den ganzen Sozialstaat infrage zu stellen. Das wird auchnicht dadurch richtiger, dass man dafür die Integration alsVorwand nimmt. Genau das aber tun Sie, liebe Kollegin-nen und Kollegen der Linksfraktion, mit Ihrem Antrag.Sie wollen einen Mindestlohn von 12 Euro die Stunde,das Ende von Hartz IV, eine Grundsicherung von mehrals 1 000 Euro, zugleich eine Rückkehr zur Rente mit65 Jahren, den vollen Zugang zu allen Sozialleistungenfür sämtliche Migranten vom ersten Tag an. Das wärendann nach Ihren Vorstellungen für jeden Asylbewerbermindestens 1 000 Euro im Monat. 100 Milliarden Eurosoll das Ganze jährlich mehr kosten. Zum Vergleich: Deraktuelle Sozialhaushalt beträgt 137 Milliarden Euro. Siewollen also mal eben 70 Prozent draufschlagen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Sozialstaatist ein überaus leistungsfähiges und robustes Gebilde.Aber wenn Sie mit Ihren Ideen durchkämen, dann wäreer innerhalb kürzester Zeit am Ende. Auch Neiddebat-ten, Frau Kollegin Dağdelen, helfen unserer Gesellschaftnicht weiter. Unser fein ausbalancierter Sozialstaat mussvor solchen Ideen geschützt werden. Ich weiß, dass Siedas nicht gerne hören. Aber ich will es Ihnen trotzdem inErinnerung rufen, liebe Linksfraktion. Wir stehen ebennicht kurz vor dem Kollaps, wie das hier suggeriert wird.Es geht uns nicht wie damals der DDR kurz vor ihremEnde.Die Arbeitslosigkeit in Deutschland ist historischniedrig. Die verfügbaren Einkommen waren nie so hoch.Josip Juratovic
Metadaten/Kopzeile:
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(C)
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Nie zuvor waren so viele Menschen sozialversicherungs-pflichtig beschäftigt.
Die allermeisten Menschen in unserem Land sind zu-frieden. Deswegen fallen sie auf Ihren Sozialpopulismusnicht herein. Die Wahlergebnisse der letzten Wochen ha-ben das eindrücklich belegt.
Ich sage es Ihnen noch einmal: Die Lage wird auchnicht immer schlechter. Im Jahr 2005, als Angela Merkeldas Kanzleramt von Gerhard Schröder übernommen hat,
hatten 64 Prozent der Erwerbstätigen Angst vor Arbeits-losigkeit. Heute sind es 25 Prozentpunkte weniger.
Ich darf Sie daran erinnern, dass wir innerhalb dieserzwölf Jahre Merkel von einer der größten Finanz- undWirtschaftskrisen der Welt erfasst wurden. Das war2009/2010; so lang ist das noch gar nicht her. Und wasist passiert? Kein Land der Erde kam aus der Krise so gutheraus wie unseres. Auch das ist ein Beispiel dafür, dassunser Sozialstaat in diesen Situationen greift.
Ich möchte Ihnen noch ein Beispiel nennen. Geradewährend der Flüchtlingskrise hat sich gezeigt, wie gutunser Sozialstaat funktioniert.
Wir können nämlich die Aufgaben schultern. Wir könnenSprachkurse finanzieren.
Wir können die Menschen anständig versorgen, ohne Ab-striche bei der sozialen Absicherung der Bundesbürgerzu machen.
Wir brauchen eben kein zusätzliches 25-Milliarden-Eu-ro-Paket, aus dem Sie das Geld wie mit einer Gießkanneüber das Land verteilen, um die Flüchtlingskrise in denGriff zu bekommen.
Wenn Sie noch mehr darüber wissen wollen,
wie gute Integration funktioniert, dann lade ich Sie nachBayern ein. Auch dort funktioniert nicht alles wunderbar.Aber ich nenne das Beispiel deswegen, weil auch Bayernfür die Integration Geld in die Hand nimmt, viel Geldsogar: 9 Milliarden Euro zusätzlich. Aber wir verteilendieses Geld nicht einfach an alle, sondern wir setzen eskonkret dort ein, wo man es für gute Integration braucht:für tausend zusätzliche Lehrerstellen, zusätzliche Poli-zistenstellen und eine hundertprozentige Übernahme derKosten der Kommunen für die Integration.
So funktioniert das, aber nicht so, wie Sie es in IhremAntrag fordern.Danke schön.
Vielen Dank, Frau Kollegin Freudenstein.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zudem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Eineerfolgreiche Integrationspolitik erfordert eine sozialeOffensive für alle“. Der Ausschuss empfiehlt in seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 18/12166, denAntrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/9190abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Gegenprobe! – Gibt es Enthaltungen? – Die Be-schlussempfehlung ist mit den Stimmen der SPD-Frakti-on und der CDU/CSU-Fraktion gegen die Stimmen derLinken und bei Enthaltung der Grünen angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:a) Beratung des Berichts des Ausschusses für Rechtund Verbraucherschutz gemäߧ 62 Absatz 2 der Geschäftsordnung– zu dem von den Abgeordneten Volker Beck
, Ulle Schauws, Katja Keul, weite-
ren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-wurf eines Gesetzes zur Abschaffung desEheverbots für gleichgeschlechtliche Paare– zu dem vom Bundesrat eingebrachten Ent-wurf eines Gesetzes zur Einführung desRechts auf Eheschließung für Personengleichen GeschlechtsDrucksachen 18/5098, 18/6665, 18/12227b) Beratung des Berichts des Ausschusses für Rechtund Verbraucherschutz gemäߧ 62 Absatz 2 der Geschäftsordnungzu dem von den Abgeordneten Diana Golze, Agnes Alpers, Nicole Gohlke, weiteren Abgeord-neten und der Fraktion DIE LINKE eingebrach-ten Entwurf eines Gesetzes zur Einführung desRechts auf Eheschließung für Personen glei-chen GeschlechtsDrucksachen 18/8, 18/12340Dr. Astrid Freudenstein
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Mai 201723550
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Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat KatrinGöring-Eckardt von der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Heute ist der 17. Mai. Das ist der Internationale Tag ge-gen Homo-, Trans- und Biphobie. Der Tag erinnert anDiskriminierung; er erinnert an Unterdrückung, an Be-strafung von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Iden-tität, Geschlechtsidentität oder sexuellen Orientierung.Auch heute, immer noch!Ich will Ihnen ein Beispiel geben: Während dieserWochen werden schwule Männer in Tschetschenienstaatlich verfolgt. Sie werden inhaftiert. Sie sitzen inLagern. Augenzeugen berichten von Folter, von Hunger,von Gewalt. Augenzeugen berichten von Toten. Augen-zeugen berichten von Ehrenmorden an schwulen Män-nern in Tschetschenien.Ich lese diese Nachrichten, ich bin erschüttert, ich binwütend, ich bin zornig; es brennt mir das Herz. Es ist dasJahr 2017, und das ist nur sechs Flugstunden entfernt.
Die Bundeskanzlerin hat Herrn Putin zur Achtung derMenschenrechte gemahnt. Der Außenminister hat einsofortiges Ende des brutalen Vorgehens gefordert. Nurwenige Tage später wurden erneut Aktivisten in Moskauverhaftet. Man hört nur noch wenig über die schreck-lichen Ereignisse, und meine Sorge ist, dass aus demSchweigen Unsichtbarkeit wird. Meine Sorge ist, dassvergessen wird.Deswegen ist dieser heutige Tag dafür da, klar zu sa-gen: Wir vergessen nicht. Wir schauen genau hin. Undwir sorgen dafür, dass diese Menschen Schutz bekom-men, übrigens auch den Schutz unseres Asylrechts, mei-ne Damen und Herren.
Angesichts dieses Tages und angesichts dieses Anlas-ses ist das, was wir heute zu besprechen haben, eigentlicheine Kleinigkeit. Oder sagen wir es so: Es sollte eigent-lich eine Kleinigkeit sein. Es ist vergleichsweise etwasEinfaches: Es geht nämlich nur um die Liebe. Es gehtum die Frage, ob zwei Menschen, die sich verlieben undheiraten wollen, das auch dürfen. Die einen dürfen; dieanderen dürfen nicht.
Jetzt ahne ich schon, dass wir zu hören bekommen,was dagegen spricht. Die einen werden sagen, man müs-se doch an die Kinder denken. Und ich sage: Jawohl, wirdenken an die Kinder. Wir denken an die Kinder in Re-genbogenfamilien, die die gleichen Rechte haben müssenwie alle anderen Kinder auch.
Und es wird heißen, die Öffnung der Ehe verstoßegegen das Grundgesetz. Dann lassen wir doch bitte dasVerfassungsgericht entscheiden. Auch dafür wäre heutehier eine Entscheidung notwendig.
Dann hören wir noch, dass die Dinge Zeit brauchen.Im Jahr 1992 haben 250 schwule und lesbische Paare dasAufgebot bestellt. Meine Güte, die könnten heute schonsilberne Hochzeit feiern, wenn Sie sich damals auf denWeg gemacht hätten.
Wir diskutieren also wieder einmal über die Öffnungder Ehe für gleichgeschlechtliche Paare. Drei Gesetzent-würfe liegen vor. Wir diskutieren, aber wir entscheidennicht. Wir entscheiden nicht, weil Sie es immer und im-mer wieder auf die lange Bank schieben, weil Sie es im-mer wieder im Ausschuss absetzen, heute zum 28. Mal.Das ist doch peinlich; das ist doch völlig unverständlich.
Und zum zehnten Mal haben Sie den Gesetzentwurf derLänderkammer abgelehnt, meine Damen und Herren.Das ist so etwas wie Vorsatz und Arbeitsverweigerung.
Deswegen sage ich Ihnen: Wir können nicht mehr ein-fach hinnehmen, dass Sie mit dieser Arbeitsverweige-rung weitermachen. Wir können nicht mehr hinnehmen,dass Sie ignorieren, was 83 Prozent der Menschen in die-sem Land wollen.
Sie können ja noch sagen: Die Opposition interessiertuns nicht. Es geht aber nicht, dass Sie immer weiter ver-schieben und vertagen, während auf der anderen SeiteHerr Maas heute ein Sharepic veröffentlicht und mitge-teilt hat, er würde keinen Koalitionsvertrag unterschrei-ben, der nicht die Ehe für alle vorsieht. Das hätte man2013 machen können.
Vizepräsidentin Michaela Noll
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Dann müsste man hier heute nicht nach dem Motto „Hal-tet den Dieb!“ verfahren.
Zum Schluss möchte ich Folgendes sagen: Vor kur-zem ist in Schleswig-Holstein ein Mann gewählt worden,der einen großen Wahlerfolg hatte. Er hat gesagt, er hätteso ein Bauchgefühl. Dieses Bauchgefühl habe ihm ge-sagt, die Öffnung der Ehe für alle müsse doch selbstver-ständlich sein. Dieser Mensch ist Herr Günther.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.
Er gehört der Union an, meine Damen und Herren.
Ich finde, Sie könnten einmal Ihr Bauchgefühl und das
Bauchgefühl von Herrn Günther miteinander in Einklang
bringen. Dann könnten wir diese Sache endlich abräu-
men, und die Menschen könnten das tun, was Konser-
vative doch so toll finden, nämlich heiraten. Es ist doch
die schönste Auszeichnung für die Institution Ehe, wenn
man Menschen, die das wollen, heiraten lässt. Tun Sie es
endlich! Springen Sie über Ihren Schatten, meine Damen
und Herren!
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als Nächster spricht
Dr. Heribert Hirte von der CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Vielen Dank für den Applaus! Lassen Sie mich zunächsteinmal klarstellen: Ich halte es für ausgesprochen wich-tig, an diesem 17. Mai der Homophobie entgegenzuwir-ken und um Verständnis für unterschiedliche sexuelleOrientierungen zu werben.
Allerdings – und da bin ich schon beim entscheidendenPunkt – sollte diese Diskussion nicht platt, sondern mitder notwendigen Differenzierung geführt werden.
In Bezug auf das Adoptionsrecht etwa ist es wichtig,zu betonen, dass es nicht um das Recht auf Adoption,sondern um das Recht der Adoption geht.
Dabei steht nicht das Recht der Eltern auf ein Kind, son-dern das Recht der Kinder auf fürsorgliche Erziehung imVordergrund.
Das wird nach dem geltenden Adoptionsrecht in der Tatnicht immer so gesehen, und deshalb bedarf es der Re-form – ganz unabhängig davon, ob durch Heterosexuelleoder Homosexuelle adoptiert wird.Schauen wir aber konkret auf die Frage der von Ihnengeforderten Ehe für alle. Wenn Sie hier den Eindruck er-wecken, liebe grüne Kollegen, meine Fraktion würde diegebotene Gleichstellung grundsätzlich ablehnen, so istdas schlicht falsch. Denn natürlich gibt es neben mir vie-le Kolleginnen und Kollegen, die eine Verbesserung deraktuellen gesetzlichen Lage für notwendig halten. UndSie wissen das auch.
Aber abgesehen davon, dass der Prozess, eine Mehrheitim ganzen Land hinter sich zu versammeln, Zeit braucht,gilt: Viele von uns verwahren sich gegen den Vorwurf,bei uns in Deutschland gäbe es in Bezug auf Homose-xualität – manche behaupten sogar: eine systematische –Diskriminierung. Liebe Frau Göring-Eckardt, Sie habenGott sei Dank keine Beispiele aus Deutschland, sondernaus dem Ausland gewählt, wo es in der Tat anders ist.Bei uns ist das Gegenteil wahr. Gerade Deutschland ist –nicht zuletzt wegen seiner historischen Erfahrungen – einStaat, in dem die Diskriminierung von Minderheiten zuRecht ein Tabubruch ist.
Gerade unser Vorgehen in der Flüchtlingskrise hat dasmit großer Deutlichkeit gezeigt.
Deshalb war es auch uns – und gerade mir persönlich –wichtig, die Rehabilitierung der nach § 175 Strafgesetz-buch Verurteilten voranzutreiben.
Hier sind wir, finde ich, auf einem guten Weg. Geradedieser Hinweis zeigt aber auch, wo das Problem bei IhrenAnträgen liegt; denn Fragen der sexuellen Orientierungsind von sensibler Natur. Sie verlangen hier durchaus –im Ansatz zu Recht – Gleichstellung. Aber Sie müssenverstehen, dass nicht jeder dies teilt und erst recht nichtdarüber öffentlich diskutieren will. Deshalb war es unswichtig – gerade den Lesben und Schwulen in der Uni-on, mit denen wir darüber in einem intensiven Austauschstehen –, die im Zusammenhang mit § 175 StGB stehen-den Themen zusammen mit vielen meiner Kollegen innichtöffentlichen Gesprächen anzugehen; denn nur sogewinnt man die Herzen und das Verständnis der Men-schen.
Katrin Göring-Eckardt
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Wenn Sie wie gestern E-Mails herumschicken, in denenbehauptet wird, dass alles andere als eine Eins-zu-eins-Umsetzung Ihrer Vorlagen ein Kasperletheater darstelle,gewinnen Sie die Mehrheit gerade nicht.
Nun ein paar Worte zur Sache. Sie weisen darauf hin,dass eine weiter gehende Gleichstellung verfassungs-rechtlich geboten sei. Leider ist aber auch nach der dazudurchgeführten Sachverständigenanhörung der verfas-sungsrechtliche Befund unklar, abgesehen davon, dasswir nicht wissen, wie das Bundesverfassungsgericht inZukunft entscheidet.
Wir hatten deshalb vorgeschlagen – darauf sind Sie nichteingegangen –, die notwendige Gleichstellung auf derEbene des Grundgesetzes vorzunehmen.
– Wir haben darüber gesprochen.
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Noch zehn Zeilen. Dann können Sie sich melden.
Das gilt in gleicher Weise für die von meinem – das
betone ich ganz bewusst – CSU-Kollegen ins Gespräch
gebrachte Möglichkeit, den Begriff des Verheiratetseins
neu zu definieren, sodass er einerseits die klassische Ehe
und andererseits die Partnerschaft umfasst. Damit sind
wir genau bei dem, was Sie, liebe Frau Göring-Eckardt,
gesagt haben. Liebe ist für beide gleich, und dann könn-
ten wir den Begriff des Verheiratetseins wunderbar defi-
nieren. Aber auch das stieß auf keine Sympathie.
Das alles zeigt: Wir sind an dem Thema dran. Aber wir
werden die Dinge auf eine Weise reformieren, sodass die
Mehrheit unseres Landes dahinterstehen kann.
Sie haben völlig recht: Wenn zwei Menschen füreinander
Verantwortung übernehmen, steht das – da verweise ich
gerne auf die gestrige Aussage von Daniel Günther – im
Einklang mit unserem christlichen Menschenbild.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Das Wort hat Kollege
Volker Beck von Bündnis 90/Die Grünen für eine Kurz-
intervention.
Eigentlich wollte ich eine Frage stellen. – Herr Hirte,
Sie haben gesagt, Sie seien dafür, das in der Verfassung
zu regeln. Bislang hat die Unionsfraktion – egal in wel-
cher Regierungskoalition sie sich befand – jedes Mal den
Antrag meiner Fraktion, Artikel 3 Absatz 3 des Grundge-
setzes endlich um das Kriterium der sexuellen Identität
zu erweitern, abgelehnt. Sie können hier nicht einfach
das glatte Gegenteil behaupten. Sie sind doch Leiter des
Stephanuskreises.
„Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist,
das ist vom Übel.“ Sie haben sich im letzten Jahr zusam-
men mit mir in Köln am CSD vor Zehntausenden Lesben
und Schwulen gestellt und sich für die Zusage feiern las-
sen, dass Sie hier im Bundestag für die Öffnung der Ehe
eintreten werden.
Nun kommen Ihnen auf einmal Bedenken, die Sie Ihren
Kölner Wählerinnen und Wählern nicht gesagt haben.
Das ist keine ehrliche und wahrhaftige Politik.
Es gibt verfassungsrechtlich keinen Grund, die Ehe
für gleichgeschlechtliche Paare nicht zu öffnen; das wis-
sen Sie auch. Sie haben sich in der Vergangenheit, wenn
es um die eingetragene Partnerschaft ging – angefangen
2001 mit den Klagen von Bayern, Sachsen und Thürin-
gen –, jeden einzelnen Schritt vom Bundesverfassungs-
gericht diktieren lassen. Sie dachten, das Gesetz sei ver-
fassungswidrig. Wir haben recht bekommen. Sie haben
gedacht, Ihre Diskriminierungspolitik sei verfassungs-
konform. Aber überall – beim Steuerrecht, beim Beam-
tenrecht und insbesondere bei der Beamtenversorgung –
haben Sie verloren. Verstecken Sie sich nicht hinter der
Verfassung, und geben Sie dem Plenum des Deutschen
Bundestages endlich das Recht, über die Gesetzentwürfe
von Bundesrat und Opposition abzustimmen.
Herr Kollege Dr. Hirte, wollen Sie darauf antwor-
ten? – Bitte schön.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Beck, IhrenVorschlag zu einer Verfassungsreform haben wir abge-lehnt, weil er uns nicht gefällt.
Wir haben eigene Vorschläge gemacht; darüber habenwir diskutiert. Aber diese Vorschläge lehnen Sie ab. Soviel zur Klarstellung.Dr. Heribert Hirte
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Ich habe in Köln gesagt, dass ich mich dafür einsetze,die Abstimmung zu öffnen. Aber das Erste, was Sie, we-nige Minuten nachdem wir die Bühne verlassen hatten,gemacht haben, war, mir über Twitter Terminangebotezu machen. – Genau das entspricht nicht dem, was ichgerade gesagt habe. Es handelt sich hier um ein sensiblesThema, über das zuerst einmal in kleinen Gesprächskrei-sen zu debattieren ist.
– Genau diese 81 Prozent sind, wie ich höre, dafür, abersie sind dagegen, von Ihnen in dieser Weise vorgeführt zuwerden. Das ist das Problem.
Als Nächster hat jetzt der Kollege Harald Petzold von
der Fraktion Die Linke das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! 16-mal haben wir jetzt das Thema „Öffnung der Ehe füralle“ allein in dieser Wahlperiode hier im Plenum dis-kutiert. Kein Thema – mit Ausnahme vielleicht der Aus-landseinsätze der Bundeswehr – hat hier öfter im Zen-trum unserer Diskussion gestanden als dieses.
Es ist der dritte Bericht der Vorsitzenden des Rechts-ausschusses, in dem sie zum dritten Mal den Fraktionender Großen Koalition ins Stammbuch schreiben muss,dass sie ihren verfassungsrechtlichen Auftrag, nämlichüberwiesene Gesetzentwürfe zu behandeln, nicht erfül-len.
Wir haben inzwischen die paradoxe Situation, dassder Bundestagspräsident – für die Besucherinnen undBesucher: der kommt aus der CDU/CSU-Fraktion – analle Fraktionsvorsitzenden geschrieben hat, dass er da-rum bittet – das möge man sich auf der Zunge zergehenlassen –, dass die Fraktionen dafür sorgen mögen, dassder Gesetzentwurf des Bundesrats in angemessener Frist,so wie es im Grundgesetz vorgesehen ist – sprich: nochin dieser Wahlperiode –, wenigstens behandelt wird.Schlimmer können Sie Ihren eigenen Präsidenten nichtvorführen, als ihn zu nötigen, so einen Brief zu schrei-ben, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion.
Das geht nicht, und das sollten wir heute endlich been-den.
Wir werden nachher eine Geschäftsordnungsdebat-te führen, in der sich die Kolleginnen und Kollegen derSPD-Fraktion dazu bekennen können, ob das Wirklich-keit wird, was der Kollege Kahrs versprochen hat, näm-lich dass sie dann, wenn die nächste Abstimmung zudiesem Thema hier im Plenum stattfindet und sich dieUnion immer noch nicht durchgerungen haben sollte,freiwillig mit abzustimmen, der Unionsfraktion eine Ab-stimmungsniederlage beibringen wollen.
Ich bin gespannt, wie die Kolleginnen und Kollegen vonder SPD-Fraktion hier abstimmen.
Ich sage Ihnen auch: Am letzten Sonntag war Land-tagswahl in Nordrhein-Westfalen. Es kann sein, dass Siesolche Ergebnisse kalt lassen. Es kann aber auch sein,dass Sie sich fragen, wie solche Ergebnisse zustandekommen. Ich kann Ihnen zumindest meine Wahrneh-mung mitteilen: indem Sie den Wählerinnen und Wäh-lern vor der Wahl versprechen, 100 Prozent Gleich-stellung gebe es nur mit Ihnen, aber nach der Wahl zudenjenigen gehören, die die hundertprozentigen Verhin-derer dieser Gleichstellung sind. Das lassen sich Wähle-rinnen und Wähler nicht gefallen, und dann gibt es solcheWahlergebnisse.
Der heutige Tag – die Kollegin Göring-Eckardt hat da-rauf hingewiesen – ist auch der Internationale Tag gegenHomo- und Transphobie. Ich möchte meine Rede nichtbeenden, ohne wenigstens auf diesen Anlass hingewie-sen zu haben.Der Kollege Hirte hat sich mit der liberalen Antidiskri-minierungspolitik der Bundesrepublik gebrüstet. Ich warin der vorigen Woche in Guatemala und habe mich dortmit Regierungsvertretern, mit Parlamentariern über dieFrage unterhalten, ob es dort einen Gesetzentwurf gebensoll, der schon das Sprechen über Homosexualität in derÖffentlichkeit unter Strafe stellen soll. Ich war peinlichberührt davon, dass diese Kolleginnen und Kollegen sichgenau auf die Verweigerungshaltung von Ihnen berufen,was die Frage der Öffnung der Ehe und der Gleichstel-lung und die Frage einer konsequenten Antidiskriminie-rungspolitik betrifft.
– In Guatemala. Die kennen Ihre Position ziemlich gut.
Dr. Heribert Hirte
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Mai 201723554
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Das ist etwas Schlimmes, wie ich finde, weil es deut-lich macht, dass wir mit diesem schlechten Beispielgenau denjenigen Vorschub leisten, die, wie in Tschet-schenien, so mit Homosexuellen umgehen, wie es dieKollegin Göring-Eckardt geschildert hat. Wir leisten de-nen Vorschub, die sich darauf berufen, dass es eben keineGleichstellung für alle in der Gesellschaft gibt. Ich werdemich damit nicht abfinden. Ich werde mich somit auchmit Lesben, Schwulen, Bi-, Trans- und Intersexuellenweltweit solidarisieren.Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner
spricht Dr. Karl-Heinz Brunner von der SPD-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnenund Kollegen! Eigentlich wollte ich meine Ausführungenmit der fast harmonischen Übereinstimmung beginnen,die die vier Diskutanten soeben vorm Brandenburger Toram Pariser Platz anlässlich des Tages gegen Homophobiegezeigt hatten; denn alle vier Diskutanten sind bzw. wa-ren der Auffassung, dass die Ehe für alle kommen muss:Für den einen ist es eine Frage der Zeit, und für den an-deren muss sie auf der Stelle kommen.Gestatten Sie mir aber, einen anderen Einstieg zuwählen, nämlich den, den der Kollege Hirte in trefflicherWeise quasi auf dem Tablett serviert hat. Lieber KollegeHirte, liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, wir ha-ben doch nächste oder übernächste Sitzungswoche eineVerfassungsänderung auf der Tagesordnung. Wir Sozial-demokraten sind bereit, die Ehe für alle in diese Verfas-sungsänderung im Omnibusverfahren mit aufzunehmen.
Wir sorgen für die Zweidrittelmehrheit in den Ländernund in diesem Haus, und Sie sorgen für die Zweidrittel-mehrheit bei Ihren Ländern und Ihrem Haus. Ein Wortdrauf, und wir gehen nach Hause und haben heute, am17. Mai, ein paar Minuten nach 17.50 Uhr ein vernünfti-ges Ergebnis.Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, die vier Jahre,die ich diesem Hohen Hause angehöre und in denen ichdie Debatte leider mitverfolgen und mittragen musste,führen mich zu der Erkenntnis, in die Einlösung diesesVersprechens, nämlich schnell eine Verfassungsänderungumzusetzen, wenig Vertrauen haben zu können. Ich habewenig Vertrauen, weil ich feststelle, dass seit Anbeginndieser Legislatur das, was wir vereinbart haben, näm-lich rechtliche Regelungen, die gleichgeschlechtlicheLebenspartner schlechterstellen, zu beseitigen, bis zumheutigen Zeitpunkt mit ganz wenigen Ausnahmen ver-schleppt, verzögert und verhindert wird.Ich sage ganz offen: Diskriminierung abzubauen, Le-benspartner gleich welchen Geschlechtes, die sich alsEhepartner lieben und als solche leben, in dieser Gesell-schaft zu achten, ist unsere dringende Pflicht, die wir lautGrundgesetz haben.
Es ist so einfach. Das kann jeder verstehen; dazu brauchtman keine höhere Bildung. Es geht ganz einfach darum,Ungleichheiten und Diskriminierungen zu beseitigen.Kollege Hirte, Sie haben gesagt, Sie finden keine Diskri-minierung in diesem Land. Nehmen Sie bloß den Schul-hof, wo es heißt: „Du schwule Sau!“, „Du Schwuchtel!“,und Ähnliches. Nehmen Sie den Versicherungsvertreter,der süßsäuerlich guckt, weil man ihm nicht die Eheur-kunde, sondern eine Lebenspartnerschaftsurkunde vorle-gen muss. Nehmen Sie den Vermieter, der die Wohnungnicht vermietet, weil er an ein schwules oder lesbischesPaar nicht vermieten will.
Doch Sie sagen, es gibt keine Diskriminierung in diesemLand. Wir leben, glaube ich, in unterschiedlichen Staa-ten, in unterschiedlichen Ländern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehr-ten Damen und Herren insbesondere aus der Union, ichhabe es akzeptiert, ich kann es akzeptieren, und ich habemehrfach wiederholt, dass ich eine Gewissensentschei-dung verstehen kann. Ich kann zwar nicht verstehen, wiejemand aus seinem Gewissen heraus Diskriminierungund Ungleichbehandlung für gut empfindet, aber ichkann eine Gewissensentscheidung in jeder Form akzep-tieren. Ich kann und will aber nicht akzeptieren, dass ausreinem Machtkalkül, aus reiner Machtgier, nur weil je-mand Bauchschmerzen hat, weil jemand glaubt, er müsseeine bestimmte Klientel bedienen, Menschen in unseremLand, die nichts anders wollen, als als Eheleute aner-kannt, respektiert und geschätzt zu werden, die nichtsanderes wollen, als ihre silberne Hochzeit zu feiern, beider der Bürgermeister kommt,
die goldene Hochzeit nach 50 Jahren oder die diamante-ne Hochzeit zu feiern, bei der dann der Landrat und dieAbgeordneten kommen,
ihr Recht in dieser Gesellschaft nicht gegeben wird. DieRealität sieht leider so aus: Die Ehe für alle wird seit Jah-ren blockiert, die Entscheidung verzögert.Was mich heute auf die Palme bringt – ich sage diesin den letzten Sekunden, die ich hier noch zur Verfügunghabe –, ist, dass wir Sozialdemokratinnen und Sozialde-mokraten seit Jahren versuchen, eine Lösung herbeizu-führen und die Kohlen aus dem Feuer zu holen, wennHarald Petzold
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Mai 2017 23555
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Sie die Anträge auf Vertagung stellen. Begründen Sie dieAnträge auf Vertagung, setzen Sie ein Konzept um, wieSie den Menschen verfassungsrechtlich Gerechtigkeitverschaffen wollen, dann sind wir dabei – aber nur dann,wenn Gerechtigkeit und die Ehe für alle in diesem LandeRealität werden.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner
spricht Alexander Hoffmann von der CDU/CSU-Frakti-
on.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kollegin-
nen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Kollege Brunner, ich will damit einleiten,
zu sagen, dass ich glaube, dass dieses Thema mehr Sach-
lichkeit verdient hat, als Sie gerade zu erkennen gegeben
haben.
Damit hier im Plenum überhaupt kein Missverständnis
aufkommt: Auch ich glaube, dass dieses Thema ganz am
Anfang meiner Rede die parteiübergreifende Feststel-
lung verdient hat, dass wahrscheinlich wir alle hier genau
dasselbe wollen:
100-prozentige Gleichstellung.
Wir unterscheiden uns im Weg dorthin. Sie sagen:
100-prozentige Gleichstellung erreichen wir nur dann,
wenn auch Lebenspartnerschaften als Ehe bezeichnet
werden.
Wir sagen: Wir begreifen die Gleichstellung als Prozess.
Wir kommen schrittweise zu Gesetzesänderungen – im-
mer da, wo Bedarf zu erkennen ist.
– Ich weiß nicht, warum Sie sich gerade über diese Posi-
tion so echauffieren. – Das ist zugegebenermaßen etwas
langwierig; aber bei der Gleichstellung von Mann und
Frau sind wir genauso vorgegangen.
Zu keinem Zeitpunkt wäre jemand von uns auf die Idee
gekommen, zu sagen: 100-prozentige Gleichstellung
erzielen wir nur, wenn wir eine neutrale Bezeichnung
verwenden, sodass man den Unterschied nicht mehr er-
kennt. – Damit hat man an keiner Stelle irgendeinen Wi-
derspruch ausgelöst.
Ganz ehrlich, Sie selbst haben mit uns doch 20 Jahre
lang eine Gleichstellungsdebatte geführt. Wenn ich den
Begriff der Gleichstellung im Duden nachschlage, dann
sehe ich, dass es nach dem, was dort steht, darum geht,
unterschiedliche Dinge gleich zu behandeln. Ich glaube,
dass es immer noch sachgerecht ist, unterschiedliche
Dinge unterschiedlich zu bezeichnen.
Ich will noch weiter gehen; ich rede ja nicht zum ers-
ten Mal zu diesem Thema. Von Ihnen hat mir noch nie-
mand ein Argument bringen können, warum es, nachdem
wir bei Mann und Frau Gleichstellung damals anders
herbeigeführt haben, heute nur so gehen sollte, wie Sie
es sagen, nämlich dass nur über die Bezeichnung „Ehe“
sich für Gleichstellung sorgen ließe.
Es wird da die These aufgestellt, dass nur mit der Um-
setzung der Ehe für alle jegliche Diskriminierung ausge-
schlossen werden kann.
Auch habe ich die letzten Male immer wieder heraus-
gearbeitet, dass sich diese These relativ schnell widerle-
gen lässt. Ich will Ihnen Beispiele dafür nennen; andere
Länder sind ja bereits genannt worden. Der Supreme
Court der USA hat 2015 den Weg für die Ehe für alle
freigemacht. Man sollte meinen, es bestehe dort 100-pro-
zentiger Diskriminierungsschutz. Ich sage Ihnen: Weit
gefehlt. – Mehr als die Hälfte aller Bundesstaaten in den
USA hat heute noch keinerlei Regelung zur Antidiskri-
minierung im Arbeitsleben.
Noch viel trauriger, liebe Kolleginnen und Kollegen,
ist der Eindruck, den man gewinnt, wenn man nach Me-
xiko schaut.
Herr Kollege Hoffmann, lassen Sie eine Zwischenfra-
ge der Kollegin Schauws zu?
Ja, aber selbstverständlich.Dr. Karl-Heinz Brunner
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Mai 201723556
(C)
(D)
Vielen Dank, Herr Kollege Hoffmann, dass Sie die
Frage zulassen. – Sie haben gerade davon gesprochen,
dass es in den USA nach wie vor Diskriminierung gibt,
dass es dort keine Gleichstellung gibt. Eben haben Sie
auch gesagt, dass die Ehe für alle für Sie nicht das einzig
wahre Gleichstellungsmerkmal sei, das man herbeifüh-
ren müsse, und dass es für Sie auch begründbar sei, wa-
rum es nicht notwendig sei, die Ehe für alle einzuführen.
Vielleicht können Sie mir folgenden Fall erklären: Wie
kann es sein, dass jemand, der in einer eingetragenen Le-
benspartnerschaft lebt und mit seinem Partner oder seiner
Partnerin zum Beispiel in die USA reisen will, um dort
zu arbeiten, dort nicht mit der Partnerin oder dem Part-
ner hingehen kann, weil die eingetragene Lebenspart-
nerschaft dort eben nicht in gleicher Weise wie die Ehe
anerkannt wird?
Das ist doch genau der Punkt. Wenn wir jetzt anfan-gen, unsere Rechtslage dahin gehend anzupassen, dass esfür unsere Staatsbürger keinerlei nachteilige Auswirkun-gen in anderen Ländern gibt,
dann werden wir am Ende – das sage ich Ihnen – unterdie Räder kommen.Ich kann sogar noch ein Stück weitergehen, FrauKollegin: Letztendlich ist es doch so, dass die USA ihreHausaufgaben in diesem Bereich machen müssen.
Man kann mit völkerrechtlichen Verträgen die nötigenVereinbarungen treffen; das wissen Sie auch.
Ich will Ihr Augenmerk doch noch einmal auf Mexikolenken, gerade weil das, was man dort wahrnimmt, sobeklemmend ist. In Mexiko gibt es die Ehe für alle seit2006, und die tragische Wahrheit ist, dass man dort imBereich Antidiskriminierung bis heute keinen Millimeterweitergekommen ist.
Neuere Umfragen weisen aus, dass nach wie vor 63 Pro-zent der Bevölkerung – und das ist tragisch – Homose-xualität ablehnen. Deswegen glaube ich, dass der Weg,den wir als Union gewählt haben – nämlich zu sagen: wirachten auf den Inhalt und nicht so sehr auf das Etikett –,am Schluss der richtige Weg ist.
Ich will an das anknüpfen, was der Kollege Hirte vor-hin schon ausgeführt hat. Wir hatten am 28. September2015 eine Anhörung, und ich will die rechtliche Lagenoch einmal ein bisschen beleuchten. In der Anhörunghabe ich die Frage gestellt, ob wir die Bezeichnung„Ehe“ brauchen, um jedwede Diskriminierung zu ver-meiden. Damals war die Antwort von Professor Ipsen:Nein. Auch er hält es nach wie vor möglich, dass wir miteinfachen gesetzlichen Regelungen Stück für Stück Dis-kriminierung vermeiden.
Wichtig ist mir, am Ende meiner Rede noch einmal zuskizzieren, was das Bundesverfassungsgericht dazu ge-sagt hat, weil immer wieder der Eindruck erweckt wird:Das Bundesverfassungsgericht fordert die Ehe für alle. –Vom Bundesverfassungsgericht stammt ziemlich sinnge-mäß der Satz, gesprochen am 7. Mai 2013: Die Ehe istdas Institut, das allein der Verbindung zwischen Mannund Frau vorbehalten ist. – Wenn man die Entscheidungliest, stellt man fest, dass das Bundesverfassungsgerichtsehr schön differenziert, und zwar, indem es feststellt,dass Lebenspartnerschaften sehr wohl Familien begrün-den können und insoweit dann auch von Artikel 6 Grund-gesetz geschützt sind, aber dass sie eben nicht unter denBegriff der Ehe fallen.
Die Ehe ist grundgesetzlich geschützt, und auch dafürgibt es einen Grund, nämlich den biologischen Unter-schied, dass aus einer Ehe grundsätzlich und rein poten-ziell Kinder hervorgehen können.Meine Damen, meine Herren, ich habe es das letzteMal schon gesagt: Ich habe meine Position. Ich habekeinen Abstimmungsbedarf. Ich habe meine Argumen-te. – Deswegen werden Sie sich damit auseinandersetzenmüssen.Ich will am Schluss schon noch einmal eine Lanze fürmeine Fraktion, die Union, brechen. Wir sind eine Volks-partei. Es gehört zum Charakter einer Volkspartei, dasssie eine ganz breit gefächerte repräsentative Vertretungder Bevölkerung ist. Es ist ganz natürlich, dass es Men-schen gibt, die die Ehe gern für alle öffnen würden, undandere, die, so wie ich, Gegenargumente haben und dasanders sehen. Aber ich will mir das nicht als Vorwurf ent-gegenhalten lassen.Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Hoffmann. – Als letzte
Rednerin dieser Debatte spricht Elfi Scho-Antwerpes
von der SPD-Fraktion.
Danke schön. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Es kann nicht jeder
das Glück haben, aus einer weltoffenen, toleranten Stadt
wie Köln zu kommen. Meine Damen und Herren von der
Union, wie hinterwäldlerisch sind Sie eigentlich mit Ih-
rer Einstellung?
– Herr Hirte, Sie hören jetzt auch zu!
Verlassen Sie Ihre gemütlichen Büros, gehen Sie zu den
Menschen hin, und hören Sie mal, was die Ihnen zu sa-
gen haben!
Wenn Sie das tun, dann werden Sie hören, dass es auch
bei uns Diskriminierung gibt.
Es ist ein Skandal, dass die gleichgeschlechtliche Ehe
in Deutschland bislang unmöglich ist. Es ist ein Skandal,
den Sie verursachen.
Sie müssen wissen: Homosexuell zu sein, ist keine
Krankheit, und es ist auch keine Sünde; es ist völlig nor-
mal.
– Hören Sie doch einfach mal zu! Warum echauffieren
Sie sich so? Das ist Ihre Diktion.
Es ist so normal, dass 83 Prozent unserer Bürger und
Bürgerinnen der gleichgeschlechtlichen Ehe, der Ehe für
alle, zustimmen würden. Das ist eine eindeutige Mehr-
heit. Die haben Sie nicht, liebe Union; denn Sie wollen
das nicht. Aber Sie sind nicht die Mehrheit.
Bislang dachte ich, das D in CDU steht für „demo-
kratisch“. Warum hören Sie nicht auf die Menschen, auf
die 83 Prozent? Das D in Ihrem Parteinamen scheint mir
eher für „Diskriminierung“ zu stehen.
Christliche Nächstenliebe treibt die CDU und die CSU
offenbar ebenso wenig an wie Artikel 3 des Grundgeset-
zes.
– Ich mache auch weiter so.
Lesen Sie doch mal den Artikel 3 des Grundgesetzes! Es
geht um die Würde des Menschen, um jeden Einzelnen.
Es ist eine Schande, dass Sie das hier seit Jahren verhin-
dern. Begegnen Sie Schwulen und Lesben endlich mit
dem Respekt und der Würde, die sie verdient haben!
Vielfalt ist nämlich Normalität.
– Ja, weil Sie dauernd schreien, muss ich lauter werden.
Wenn Sie still sind, kann ich flüstern.
Die Kreativität der CDU/CSU-Fraktion, warum man
Menschen in unserem Land in zwei Klassen einteilen
muss, ist grenzenlos. Sie blamieren uns alle und verball-
hornen das Hohe Haus, indem Sie seit 1998 zu dem The-
ma herumlamentieren. Eine Bundesrepublik, die Teile
ihrer eigenen Bevölkerung diskriminiert? Das darf nicht
wahr sein, und doch ist es so.
Wenn zwei Menschen füreinander einstehen, ist das
etwas Wunderbares. Sie stehen für den anderen ein, und
das Institut der Ehe schützt dieses Paar. Abseits von Ein-
stehens- und Wirtschaftsgemeinschaften sind es wert-
volle Dinge wie Liebe und Geborgenheit, die unsere
Gesellschaft zusammenhalten. In der Verantwortung, die
Ehepartner füreinander übernehmen, besteht kein Unter-
schied.
Es gibt nämlich keine Liebe zweiter Klasse.
Viele von Ihnen sind in der grauen Masse Ihres Frak-
tionsblocks einfach nur gefangen, –
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.
– statt mutig zu sagen: Wir wollen Gleichberechti-gung, egal ob Paul Paula oder Paul liebt. Ich fordere seitJahrzehnten die Ehe für alle. Ich fordere sie auch heutewieder. Die Mehrheit im Lande will es so.
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Frau Kollegin.
Ich bin am Ende,
hoffentlich auch mit der Forderung, die weiterhin beste-
hen bleibt.
Ich schließe die Aussprache.
Kurz zur Erinnerung: Die Mikrofone waren einge-
schaltet. Man konnte Sie sehr gut hören.
Wir kommen nun zu einem Geschäftsordnungsan-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Die Frakti-
on hat fristgerecht beantragt, sofort in die zweite Bera-
tung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 18/5098,
18/6665 und 18/8 einzutreten, hilfsweise, für den Fall,
dass dieser Geschäftsordnungsantrag nicht angenommen
wird, den Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz zu
verpflichten, dem Bundestag die Beschlussempfehlung
und Berichte zu den genannten Gesetzentwürfen bis spä-
testens zum 31. Mai 2017 vorzulegen.
Das Wort zur Geschäftsordnung hat zunächst die Kol-
legin Britta Haßelmann.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrte Da-men und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! HerrHoffmann, ganz kurz zu Ihnen: An Ihrer Stelle würde ichmir das Grundgesetz zu Gemüte führen und nicht denDuden;
denn dort finden Sie in Artikel 3 Ausführungen zurGleichheit vor dem Gesetz.
Außerdem habe ich jeden Respekt davor, dass Sie nochzehn Jahre in Ihrer Partei darüber diskutieren können,wie Ihre Einstellung dazu ist. Darum geht es hier heuteaber nicht.Meine Damen und Herren, es geht heute darum: Wirhaben diesen Antrag zur Geschäftsordnung gestellt,gleich in die weiteren Beratungen einzutreten, um alsParlament endlich darüber abstimmen zu können, ob wirfür die Ehe für alle sind oder nicht; denn dazu liegen heu-te drei Gesetzentwürfe vor. Durch Ihre Blockadehaltungentziehen Sie dem Parlament seit 2013 die Möglichkeit,darüber abzustimmen. Das halten wir für hochproblema-tisch.
Meine Damen und Herren, seit der Überweisung desGesetzentwurfes der Linken zur Gleichstellung in Formder Ehe für alle am 19. Dezember 2013 sind drei Jahrevergangen. Seit der Einbringung des Gesetzentwurfesvon Bündnis 90/Die Grünen am 18. Juni 2015 sind fastzwei Jahre vergangen. Heute, auf Antrag der Grünen –dem können Sie sich nicht verweigern, weil es ein Rechtin der Geschäftsordnung ist –, debattieren wir nach § 62der Geschäftsordnung den Bericht über den Stand derBeratungen zum dritten Mal. Für diejenigen, die nichtwissen, was es bedeutet, weil sie sich mit der Geschäfts-ordnung nicht auskennen: Wenn ein Gesetzentwurf bzw.ein Bericht dazu hier im Plenum behandelt wurde, dannkann man, wenn er zehn Sitzungswochen in einem Aus-schuss lag, verlangen, dass hier wieder der Bericht überden Stand der Beratungen auf die Tagesordnung gesetztwird. Dies geschieht heute zum dritten Mal, weil Siesich bisher – darauf hat meine Kollegin Katrin Göring-Eckardt hingewiesen – 28-mal entschieden haben, undzwar mit den Stimmen von SPD und Union, diesen Ge-setzentwurf abzusetzen
und noch nicht einmal zu beraten.Herr Hirte und alle anderen, die von Ihrer Seite gere-det haben, tun Sie doch nicht so, als würden Sie ernst-haft unsere Gesetzentwürfe beraten! Sie versenken sieim Ausschuss, mit dem Hinweis darauf, Sie hätten Bera-tungsbedarf. Sie blockieren eine Abstimmung im Parla-ment darüber. Das ist das große Problem.
Das darf man Ihnen an dieser Stelle so nicht durchgehenlassen. Denn Sie betreiben ja nicht nur Arbeitsverwei-gerung, indem Sie sagen, dass Sie sich mit den Gesetz-entwürfen der Grünen, der Linken und des Bundesrateseinfach nicht befassen. Nein, viel schlimmer: Sie verwei-gern dem Parlament, und zwar uns Abgeordneten unddamit auch Ihren Abgeordneten, meine Damen und Her-ren, die Möglichkeit, sich zu diesen Gesetzentwürfen zuverhalten
und darüber abzustimmen.
Das ist auch verfassungsrechtlich hochproblematischund zweifelhaft. Gegen die Verschleppung der Schluss-beratung der Vorlagen im Ausschuss haben wir erheb-liche verfassungsrechtliche Bedenken. Denn aufgrunddieser Blockadehaltung ist kein Abgeordneter, keine Ab-geordnete des gesamten Parlaments – weder aus unserer
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Fraktion noch aus Ihren Fraktionen – in der Lage, sichzu einem der drei Gesetzentwürfe zu verhalten. MeineDamen und Herren, das ist nicht nur politisch das Aller-letzte, sondern auch verfassungsrechtlich hochproblema-tisch.
Insofern, meine Damen und Herren, kann die CDU/CSU von mir aus noch 20 Jahre innerhalb ihrer Fraktiondiskutieren, ob sie für die Ehe für alle und die Gleich-heit vor dem Gesetz ist – das interessiert mich überhauptnicht.
Die Parlamentarierinnen und Parlamentarier der Grü-nenfraktion, die wir hier sitzen, interessiert, dass Sie unsverweigern, dem Parlament verweigern, sich zu einemGesetzentwurf zu verhalten.
Darum geht es, meine Damen und Herren. Das über-spannt den Bogen der politischen Einschätzung. Das istdie verfassungsrechtliche Problematik.Wir verlangen also, dass wir heute in die zweite Be-ratung einsteigen, damit Sie bei der Frage, wie Sie zumThema Ehe für alle stehen, endlich mal Farbe bekennen;denn da ducken Sie sich weg. Viele von Ihnen haltenauf den CSDs – auch dem nächsten CSD, der ansteht –flammende Reden dazu, wie Sie für die Gleichstellungkämpfen,
aber hier im Parlament verweigern Sie die inhaltlicheDebatte dazu, und dies seit über drei Jahren. Das darfman Ihnen so nicht durchgehen lassen.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – In der GO-Debatte
spricht für die SPD-Fraktion Dr. Johannes Fechner.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Es kann überhauptkeine Rede davon sein, dass sich die SPD bei diesemwichtigen Thema nicht verhalten würde,
dass wir uns nicht positionieren würden. Wir sind für dieEhe für alle. In Ihre Anträge haben Sie im Wesentlichenübernommen, was wir in der letzten Legislaturperiodebeantragt haben. Für uns ist klar: Es darf keine Liebe ers-ter und zweiter Klasse geben. Auch wir wollen die Ehefür alle, und zwar so schnell wie möglich, meine Damenund Herren.
Eines will ich festhalten: Die Fraktionen der Grünen,der Union und der SPD sind bei diesem wichtigen The-ma stark vertreten – ihnen ist das Thema wichtig –, aberSie von der Linken kommen mit fünf Personen in dieDebatte zu diesem wichtigen Thema, und im Ausschusswaren Sie, Herr Kollege Petzold, alleine. Da kann auchniemand sagen, dass es eine rot-rot-grüne Mehrheit ge-ben würde. Wie oft haben Sie uns aufgefordert – etwa beider Miete –, mit Ihnen zu stimmen! Bei diesem Themagibt es wegen der mangelnden Sitzungspräsenz der Lin-ken keine Mehrheit.
Insofern müssen wir mit unserem Koalitionspartner wei-ter daran arbeiten.Auch wir wollen alle Diskriminierungen abschaffen.
Wir wollen auch, dass Adoptionen durch homosexuellePaare möglich sind. Das entscheidende Argument musssein, ob Eltern liebevoll ein Kind großziehen können, obsie es versorgen können.
Das darf aber nicht von der sexuellen Orientierung derEltern abhängen. Das ist für uns ganz klar.
Ich höre, dass mit Herrn Spahn ein Regierungsmit-glied und mit Herrn Günther ein aufstrebender Politikeraus Schleswig-Holstein dafür eintreten. Dasselbe gilt fürHerrn Hirte und Herrn Kaufmann. Herr Hirte, ich darfSie zitieren. Sie sagten: Wir sind ganz nah dran. – Sie ha-ben sogar eine Grundgesetzänderung ins Spiel gebracht.
Insofern will ich als chronisch optimistischer Sozialde-mokrat nicht die Flinte ins Korn werfen, sondern michwirklich bis zum Letzten dafür engagieren, dass wir indieser Legislaturperiode die überfällige Regelung zurEhe für alle bei uns in Deutschland schaffen, liebe Kolle-ginnen und Kollegen.
Britta Haßelmann
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Ich glaube, dass sich gute Ideen bei uns durchsetzenund dass wir deshalb weiter am Ball bleiben sollten.
Bei Frau Merkel gab es ja schon öfter, etwa beim Atom-ausstieg oder bei der Wehrpflicht, recht überraschendeWendungen. Insofern bin ich optimistisch.Ich glaube jedoch, dass Ihre Geschäftsordnungsanträ-ge hier mehr kaputtmachen, dass sie wahltaktisch mo-tiviert sind. Sie wollen uns hier vorführen, obwohl Siegenau wissen, wie die Abstimmung über die Anträgeausgehen wird.Deswegen: Geben Sie uns noch mehr Zeit! Lassen Sieuns noch weiter beraten! Die SPD-Fraktion wird beideAnträge ablehnen.
Warten Sie ab, wie die weiteren Beratungen im Aus-schuss ablaufen! Die SPD-Fraktion will die Ehe für alle.Deswegen wollen wir weiter beraten.Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Fechner. – Jetzt spricht für
die Linke der Kollege Harald Petzold.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! Wir
diskutieren jetzt über einen Geschäftsordnungsantrag
von Bündnis 90/Die Grünen, gemäß dem wir sofort in
die zweite und dritte Beratung von drei Gesetzentwürfen
gehen sollen, die diesem Parlament seit Dezember 2013,
seit Juni 2015 und seit Frühjahr 2016 zur Behandlung
vorliegen.
Erster Punkt. Das bisherige Vorgehen hat dazu geführt,
dass sich die Landesregierung von Rheinland-Pfalz, die
im Moment den Vorsitz im Bundesrat innehat, inzwi-
schen an den Deutschen Bundestag gewandt hat und im
Auftrag des Bundesrates energisch darauf gedrungen hat,
dass mit dem entsprechenden Gesetzentwurf des Bun-
desrates so verfahren wird, wie in Artikel 76 Absatz 3
Grundgesetz vorgeschrieben:
Der Bundestag hat über die Vorlagen in angemesse-
ner Frist zu beraten und Beschluss zu fassen.
Ich finde, dass sich der Bundestag ein Armutszeugnis
ausstellen würde,
wenn er dem energischen Appell der Vorsitzenden des
Bundesrates, einen Gesetzentwurf des Bundesrates zu
behandeln, nicht wenigstens Gehör schenken würde.
Wenn Sie schon nicht die Gesetzentwürfe der Opposi-
tionsfraktionen behandeln wollen, haben Sie wenigstens
Respekt vor dem Bundesrat und behandeln Sie dessen
Gesetzentwurf.
Zweitens. Mit dem Geschäftsordnungsantrag versu-
chen wir Oppositionsfraktionen durchzusetzen, dass das
Recht auf das freie Mandat für die Abgeordneten wirklich
zum Tragen kommt. Natürlich, Herr Kollege Fechner,
macht es mich nicht froh, dass meine Fraktion hier nicht
zahlreicher vertreten ist; die Kritik ist sicherlich berech-
tigt. Ich sage Ihnen aber auch: Sie zwingen uns kleine Op-
positionsfraktionen – wie jetzt –, an sinnlosen Anhörun-
gen teilzunehmen. Mitglieder unserer Fraktion müssen
anwesend sein, obwohl wir schon festgestellt haben: Es
geht um Anhörungen zu Gesetzentwürfen, die überhaupt
nicht strittig sind, bei denen die Zustimmung überhaupt
nicht infrage steht bzw. wir sie signalisiert haben. Aber
Sie bestehen trotzdem darauf, dass diese Anhörungen
durchgeführt werden, und verhindern damit, dass unser
Personal an den Plenarsitzungen teilnehmen kann. Das
kann nicht sein. Da das auf Veranlassung Ihrer Fraktion
geschieht, muss ich daher Ihren Vorwurf zurückweisen.
Mir geht es darum, dass die im Grundgesetz festge-
schriebene Definition „Vertreter des ganzen Volkes, an
Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem
Gewissen unterworfen“ tatsächlich zur Geltung kommen
kann. Das sage ich auch, damit auch Ihre Abgeordneten
genau das tun können, was sie in der Öffentlichkeit und
hier im Parlament ständig zusagen und was mindestens
40 bis 45 Kolleginnen und Kollegen aus der Unionsfrak-
tion, zumindest in der Öffentlichkeit, immer sagen, näm-
lich dass sie dafür sind, dass die Abstimmung freigege-
ben wird. Was hindert uns denn daran, die Abstimmung
freizugeben? Die Union kann ihren Meinungsbildungs-
prozess doch trotzdem fortsetzen. Niemand von Ihnen
muss unsere Meinung übernehmen. Sie können weiter
in Ihrem Sandkasten buddeln, aber Sie können uns nicht
verweigern, bei einer Abstimmung im Parlament von
unserem Recht auf freies Mandat, nur unserem Gewis-
sen unterworfen, Gebrauch zu machen. Darum geht es
in dem Geschäftsordnungsantrag. Deswegen wird meine
Fraktion dafür stimmen, dass wir die zweite und dritte
Lesung hier gleich durchführen.
Es geht schließlich auch darum, deutlich zu machen,
dass die Zusagen, die von einzelnen Abgeordneten der
Großen Koalition hier ständig gegeben werden, Bestand
haben und diejenigen, die am lautesten rufen, dass sie da-
für sind, endlich die Chance haben, dafürzustimmen und
diesen Gesetzentwürfen eine Chance zu geben.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Als letzter Redner indieser GO-Debatte spricht jetzt Michael Grosse-Brömerfür die CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Johannes Fechner
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Liebe Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Wie ich gerade gelernt habe, ist der Grund da-
für, dass wir sofort abstimmen müssen, dass man nicht
genau weiß, welche Auffassung die Fraktionen vertreten.
Es wurde gesagt, man müsse sich endlich einmal beken-
nen. Wenn Sie nicht wissen, welche Auffassung wir ver-
treten, wieso werfen Sie uns dann Respektlosigkeit und
Homophobie vor?
– Ich weiß, dass bei den Grünen bei diesem Thema im-
mer ganz große Aufregung herrscht; aber man kann man-
che Sachen auch ein bisschen ruhiger besprechen.
Herr Kollege Petzold, man kann ja sehr unterschiedli-
che Auffassungen haben; aber wenn Sie meiner Fraktion
vorwerfen „Die Ansicht der CDU ist Anlass für Verfol-
gung von Homosexuellen weltweit“, dann ist das nicht
nur Unfug, sondern megagrober Unfug. Hören Sie auf,
so einen Unfug zu behaupten.
Ich wäre ganz vorsichtig mit solchen Behauptungen.
Fahren Sie gerne nach Guatemala und nehmen Sie das
nächste Mal einen CDU/CSU-Kollegen mit, damit er
selbst erklären kann, welche Auffassung wir dazu haben.
Jetzt zum Geschäftsordnungsantrag. Gerade in der
Debatte, die ich verfolgt habe, ist doch deutlich gewor-
den, wie groß die Unterschiede sind.
Diese müssen noch geklärt werden. Dafür gibt es die
Ausschussarbeit. Es geht darum, das zu klären. Im Üb-
rigen wäre ich vorsichtig, Herr Petzold, immer wieder
zu fragen: Warum brauchen wir dann eine Anhörung? –
Nicht jeder, der bei diesem Thema eine andere Auffas-
sung hat als Sie, ist homophob.
Er hat möglicherweise nur rechtliche Bedenken, oder er
hat möglicherweise nur eine andere Auffassung. Diese
Auffassung müsste man vielleicht auch einmal tolerie-
ren, auch wenn man sie falsch findet. Es gibt im Aus-
schuss den Bedarf, die weiteren Informationsmöglich-
keiten zu nutzen.
Im Übrigen erfordert es eine Zweidrittelmehrheit, den
Ausschuss zu umgehen. Ich weiß nicht, wie Sie, liebe
Grüne, auf die Idee gekommen sind, dass Sie im Deut-
schen Bundestag eine Zweidrittelmehrheit zustande be-
kommen. Ihrem Optimismus möchte ich aber nicht im
Wege stehen.
Der zweite Punkt, den ich in diesem Zusammenhang
ansprechen möchte, hat auch etwas mit Demokratie zu
tun – hier wird ja immer erzählt, welche Leute welche
Auffassung haben –: Wir werden durch die Wahl am
24. September feststellen, wer nach Auffassung der
Mehrheit in Deutschland Verantwortung für dieses Land
haben soll. Auch dazu gibt es unterschiedliche Auffas-
sungen, und wir werden darüber weiter diskutieren. Nur
hören Sie auf, uns zu unterstellen, wir hätten mangelnden
Respekt vor gleichgeschlechtlichen Paaren, vor Homose-
xuellen. Das ist wirklich neben der Sache.
Ich glaube, die Kollegen Hirte und Hoffmann haben sehr
gut dargelegt, dass es um unterschiedliche Rechtsauffas-
sungen geht.
Zum Thema Hilfsantrag: Wir haben unabhängige und
freie Ausschussberatungen, und diese werden bestimmt
von der Mehrheit im Ausschuss. Das ist klug so, weil im
Ausschuss Entscheidungen im Plenum vorbereitet wer-
den.
Die Tatsache, dass wir schon 16-mal über das Thema, das
Sie hier vorbringen, diskutiert haben, verdeutlicht mögli-
cherweise auch, dass meine Fraktion weit davon entfernt
ist, ihre klare Auffassung zu diesem Thema – auch wenn
wir innerhalb unserer Fraktion teilweise unterschiedliche
Auffassungen vertreten – nicht deutlich zu sagen.
Das ist kein Grund, sich aufzuregen, aber eben auch kein
Grund, direkt abzustimmen. Wir machen das so, wie wir
das für richtig halten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Wir kommen zur Ab-stimmung über den Geschäftsordnungsantrag auf sofor-tigen Eintritt in die zweite Beratung der Gesetzentwürfe.Ich weise darauf hin, dass zur Annahme dieses Antragseine Zweidrittelmehrheit der anwesenden Mitglieder er-forderlich ist.
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Wer stimmt für den sofortigen Eintritt in die zweiteBeratung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Der Geschäftsordnungsantrag ist mit den Stimmen derCDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen dieStimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und derFraktion Die Linke bei einzelnen Gegenstimmen aus denReihen der SPD-Fraktion abgelehnt.Da die erforderliche Mehrheit nicht erreicht wurde,kommen wir nun zur Abstimmung über den hilfswei-sen Geschäftsordnungsantrag, den Ausschuss für Rechtund Verbraucherschutz zu verpflichten, dem Bundestagbis spätestens zum 31. Mai 2017 die Beschlussempfeh-lung und Berichte zu den Gesetzentwürfen vorzulegen.Wer stimmt für diesen Geschäftsordnungsantrag? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Geschäftsord-nungsantrag ist mit den gleichen Stimmen wie in der vo-rausgegangenen Abstimmung abgelehnt.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungBerufsbildungsbericht 2017Drucksache 18/11969Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-zung
Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Tourismus Ausschuss Digitale Agendab) Beratung des Antrags der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENWege in die Zukunft – Berufsausbildung jetztmodernisierenDrucksache 18/12361Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-zung
Innenausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lung Ausschuss Digitale Agenda HaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. – Ich bittedie Kolleginnen und Kollegen, die Plätze einzunehmen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort derBundesministerin Professor Dr. Johanna Wanka.
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildungund Forschung:Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich setze darauf, dass die nachfolgenden Rednerin dieser Debatte sicherlich etwas dazu sagen werden,wie wichtig das duale Ausbildungssystem ist und wiewir international dastehen. In dieser Hoffnung will ich andieser Stelle darauf verzichten. Ich möchte mich zu demäußern, was der Berufsbildungsbericht liefert. Er zeigt,wo wir im Moment in Deutschland stehen und wie dieSituation ist.Zu Beginn möchte ich auf drei positive Botschaftenhinweisen, die in diesem Bericht enthalten sind.Die erste positive Botschaft ist, dass es für 100 jungeMenschen, die im Moment einen Ausbildungsplatz su-chen, 104 Ausbildungsplatzangebote gibt.
– Im Durchschnitt, klar. – Wir haben in der Allianz fürAus- und Weiterbildung das realisiert, was Bündnis 90/Die Grünen in ihrem Antrag fordern, nämlich eine Ga-rantie, einen Pfad für jeden einzelnen Auszubildenden.Ich kann Ihnen sagen: Das ist ein großer Erfolg. Das gabes in Ihrer Regierungszeit nie.Die zweite positive Botschaft ist, dass die Zahl derAusbildungsverträge stabil geblieben ist. Das ist ange-sichts der demografischen Entwicklung – sie müsste ei-gentlich dazu führen, dass weniger geschlossen werden –eine gute Leistung.Der dritte positive Befund ist, dass von denjenigenJugendlichen, die einen höheren Schulabschluss haben,die also, wenn sie wollten, sofort studieren könnten, eingrößerer Anteil als noch vor einigen Jahren in die beruf-liche Ausbildung geht. Das ist das, was wir wollen undwofür wir werben.Aber man kann in diesem Bericht nicht nur positiveBotschaften lesen. Es gibt auch problematische Befunde.Zum einen steht dort, dass die Zahl der Ausbildungs-verträge, die von kleinen und mittleren Unternehmen ge-schlossen werden, Jahr für Jahr rückläufig ist. Die Groß-betriebe kompensieren dies zum Teil. Deswegen habenwir eine entsprechende Initiative gestartet. Wie kannman die kleinen und mittleren Unternehmen im großenMaßstab unterstützen? Hier gibt es zum Beispiel unserJobstarter-Programm. Wie kann man Konstrukte der Ver-bundausbildung bilden? Hier müssen wir noch vieles an-dere mehr machen; denn das ist ein Problem.Der zweite negative Befund ist, dass die Relation, dassauf 100 junge Menschen 104 Ausbildungsplätze kommen,nur den Durchschnitt in der Bundesrepublik Deutschlanddarstellt. Es gibt regional große Unterschiede. In denneuen Bundesländern und in Bayern gibt es zu wenig Ju-gendliche für die vorhandenen Ausbildungsplätze. ZumBeispiel in den großen Städten in Nordrhein-Westfalengibt es viele suchende Jugendliche. Deswegen brauchenwir hier staatliches Handeln. Marktmechanismen werdendieses Problem nicht regeln.Wir hatten im Jahr 2000 eine ähnliche Situation imBereich der Studierenden. Dort haben wir durch denHochschulpakt eine Mobilität, die es vorher nie gab,erzeugt. Wir müssen jetzt versuchen, Mobilität bei denpotenziell Auszubildenden zu erreichen. Das haben wirwettbewerblich ausgeschrieben, um verschiedene Mög-lichkeiten auszuprobieren: Baut man Internate? MachtVizepräsidentin Michaela Noll
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man Fahrkostenzuschüsse? Wie regelt man das? Denn eswird sich nicht automatisch ergeben.
Der dritte negative Befund ist das, was wir hier schonmehrfach diskutiert haben: das Matchingproblem. Wirbrauchen präventiv eine individuelle Beratung von jun-gen Leuten in der siebten, achten Klasse. In dieser Legis-laturperiode haben wir über 500 000 junge Leute mit Be-ratungsangeboten erreicht. Wir haben in diesen Bereich1,2 Milliarden Euro hineingesteckt. Das müssen wir inden nächsten Jahren zum Regelangebot machen.Wir müssen den Ländern auch nicht vorschreiben,wie sie am besten beraten. Die Berufsjugendagenturenaus Hamburg sind ein sehr vernünftiges Modell. Ich hattealle Kultusminister angeschrieben und ihnen gesagt, dasswir hier unterstützen. Wir können das sehr unterschied-lich machen. Derzeit haben wir, glaube ich, schon zehnVerträge mit einzelnen Bundesländern geschlossen. Wirsagen ihnen nicht, was sie machen müssen und wofür esdann Geld gibt. Es wird in den Ländern sehr unterschied-lich gehandhabt. Dort gibt es gewachsene Strukturen,aber auch Mängel. Von daher fördern wir sehr unter-schiedlich: mal im Gymnasium, mal an anderer Stelle.Das läuft; das ist für die nächsten Jahre organisiert.
Es gibt zwei große Herausforderungen. Die erste gro-ße Herausforderung ist, die vielen jungen Flüchtlinge indas Ausbildungssystem zu bringen, zu integrieren. Waswir rechtlich gemacht haben – „3 plus 2“ –, ist allen hierbekannt. Was wir zusammen mit den Handwerkskam-mern mit unserem großen Programm für 10 000 Jugend-liche angestoßen haben, läuft. Das Problem an der Stelleist, genügend Jugendliche zu finden, die bereit sind undes auch leisten können. Deswegen ist es ganz wichtig,dass das Übergangssystem, das Jahr für Jahr, angefan-gen bei über 400 000, reduziert wurde, jetzt wieder einenleichten Aufwuchs erfährt, was vielleicht von einigen alsnegativ angesehen wird. Das ist aber zwingend notwen-dig. Denn: Wenn wir das nicht haben, dann verwehrenwir den jugendlichen Flüchtlingen, die nach den Inte-grationskursen sprachlich nicht in der Lage sind, soforteine Ausbildung zu beginnen und in eine Berufsschule zugehen, diese Chance. Das ist eine Chance für die jungenFlüchtlinge und kein Punkt, den wir negativ adressierensollten.
Die letzte große Herausforderung ist die Digitalisie-rung. Wir haben sowohl in Hardware, also Förderungder überbetrieblichen Ausbildungsstätten, als auch in dieKompetenzen der beruflichen Ausbilder investiert, auchfür die nächsten Jahre die Gelder schon reserviert. Aufdiesem Weg werden wir weitergehen.Die Länder sind für das Thema digitale Bildung ori-ginär zuständig. Aber wir alle wissen, dass es oftmalsdie Berufsschulen sind, die den größten Nachholbedarfhaben, was die Ausstattung angeht. Deswegen ist meinAngebot der Digitalpakt. Wir vonseiten des Bundes ge-ben richtig Geld – das können wir an der Stelle –, um alle40 000 Schulen und insbesondere die Berufsschulen zuerreichen, aber unter der Bedingung, dass die PädagogikPriorität haben muss. Das Ganze macht nur Sinn, wenngeklärt ist, was die Länder leisten und wie im Rahmenvon Lehrerbildung, Lehrerfortbildung die Akzeptanz beiLehrern für diese Aufgabe erzeugt werden kann.Zunächst gab es bei den Ländern keine große Begeis-terung. Sie hatten zwar in der KMK eine Digitalstrate-gie entwickelt, die in vielen Punkten auch sehr klug ist,aber es waren keine länderübergreifenden Maßnahmendabei, die für einheitliche Standards sorgen und die dieFinanzierung sichern. Jetzt sind die Länder bereit, undwir diskutieren. Wir haben mehrere Runden gedreht. Wirsind fast fertig mit den Eckpunkten eines solchen Digital-paktes, mit einer sehr konstruktiven Herangehensweisevonseiten der Länder. Darüber bin ich sehr froh. Denndas ist die einzige Chance, dass wir es vollfinanziert be-kommen. Das gelingt aber nicht, wenn einer sich etwaswünscht und die anderen nicht mitmachen.Ich habe in der letzten Zeit eine Frühjahrsreise zumThema „Schwerpunkt berufliche Bildung“ gemacht, mitganz vielen interessanten Stationen, die wir gar nicht soim Blick haben, zum Beispiel Binnenschiffer. Das ist eininteressanter Beruf. Die Binnenschiffer sind in der Re-gel nicht stationär tätig, sondern viel auf ihren Schiffenunterwegs. Die Weiterbildung und berufliche Bildungmittels Digitalisierung eröffnet ihnen Chancen, die sienoch nie hatten. Das wird das ganze Berufsbild und dieQualifizierung dort verändern.Ein Punkt, der mich bei der Digitalisierung beson-ders beeindruckt hat und den ich vorher so nicht erwar-tet habe, ist folgender: Es war mir natürlich klar, dassman nur noch den Arm heben muss, um einen Roboter zuveranlassen, schwere Dinge zu heben. Das ist körperlicheine Entlastung. Aber es bietet auch für Menschen mitkörperlichen Handicaps eine Möglichkeit der Berufsaus-übung. Ich habe in den Hannoverschen Werkstätten zumersten Mal die Möglichkeit gesehen – und das hat michtief beeindruckt –, mit den Mitteln der Digitalisierungund durch die Rehabilitationspädagogik von Dortmundfür Menschen mit geistigem Handicap ein Berufslebenzu ermöglichen, das so bisher nicht möglich war. Fürdiese Menschen wird damit die Chance auf ein erfülltesLeben eröffnet.Ich denke, es sollte uns alle freuen, dass die Digitali-sierung – wir müssen natürlich auch über die Probleme,Geld und anderes reden – gerade im Bereich der beruf-lichen Ausbildung vielen Menschen eine sichere Chancegeben wird. Deswegen: Danke schön, dass wir das heutehier diskutieren.
Herzlichen Dank, Frau Ministerin Wanka. – Als nächs-te Rednerin spricht Dr. Rosemarie Hein für die FraktionDie Linke.
Bundesministerin Dr. Johanna Wanka
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher auf
den Tribünen! Frau Kollegin Wanka, Sie haben vorhin
gesagt, dass sich die Lage auf dem Ausbildungsmarkt
stabilisiert hat, und Sie haben das als einen Erfolg darge-
stellt. „Stabilisiert“ ist die beschönigende Umschreibung
der Tatsache, dass sich eigentlich nichts zum Besseren
bewegt.
Ich könnte die Zahlen aus dem Berufsbildungsbericht
2014 zitieren. Sie würden es nicht merken.
Die Allianz für Aus- und Weiterbildung ist Ende 2014
ins Leben gerufen worden, um die erkannten und zuge-
standenen Defizite auf dem Ausbildungsmarkt zu beseiti-
gen. 20 000 Ausbildungsplätze mehr sollten innerhalb ei-
nes Jahres zur Verfügung gestellt werden. Jetzt sind zwei
Jahre vorbei, und es sind gerade einmal 5 000 gewesen.
Nicht einmal 700 betriebliche Ausbildungsverträ-
ge mehr als 2014 wurden abgeschlossen – und das bei
etwa 500 000 Ausbildungsverträgen. Dafür ist die Zahl
der Bewerberinnen und Bewerber, die bis zum 30. Sep-
tember keinen Ausbildungsvertrag abschließen konnten,
wie die Jahre zuvor etwa bei 80 000 anzusetzen. 185 000
junge Menschen haben sich vor dem Jahr 2016 schon
einmal beworben, und 298 000 befinden sich wieder im
Übergangsbereich. Auch wenn man zugestehen muss,
dass darunter eine große Zahl zu uns gekommener ge-
flüchteter junger Menschen ist – das will ich gerne einge-
stehen –, ist die Sockelzahl nach wie vor fix, und es geht
nicht wirklich etwas voran. Wie man diese Bilanz loben
kann, erschließt sich mir nicht.
Ich sehe vielmehr viele junge Menschen, die sich ih-
ren Wunsch nach einer guten Berufsausbildung nicht er-
füllen können. Darum hört sich die Pressemeldung der
Allianz für Aus- und Weiterbildung aus dem März die-
ses Jahres auch ein bisschen wie das berühmte Pfeifen
im Walde an. Sie haben das mit „Duale Ausbildung hat
Zukunft!“ überschrieben. Ja, sicher, aber nur, wenn die
Unternehmen endlich ihrer Verantwortung gerecht wer-
den und sich auch an der Ausbildung von Fachkräften
beteiligen. Die Zahl der Unternehmen, die ausbilden, ist
aber weiter gesunken. Nur noch jeder fünfte Betrieb bil-
det überhaupt aus.
Das Einzige, was seit Jahren in beachtlicher Weise
wächst, ist die Zahl der unbesetzten Ausbildungsplätze.
Inzwischen sind es 43 000. Die Jugendlichen seien nicht
ausbildungsreif, sagen viele Betriebe. Ich weiß eigentlich
nicht, was das soll.
Es gibt bundesweit 329 Programme, die Menschen
bei der beruflichen Ausbildung unterstützen sollen. Doch
die wenigsten erreichen eine Flächenwirkung. Selbst das
hochgelobte Programm für Berufseinstiegsbegleitung ist
nicht für eine flächendeckende Versorgung vorgesehen,
wie wir jüngst der Antwort der Bundesregierung entneh-
men konnten. Wen wundert es da, dass junge Menschen
auf dem Weg zum Beruf verzweifeln und es eine große
Anzahl Erwachsener gibt, die keine abgeschlossene Be-
rufsausbildung hat? Fast ein Viertel der Ausbildungsver-
träge wird aufgelöst; in der Gastronomie ist es sogar fast
jeder zweite.
All diese Zahlen, die das Bundesinstitut für Berufsbil-
dung Jahr für Jahr kritisch und akribisch aufrechnet, sind
eigentlich ein Skandal.
Das können noch so viele Allianzen nicht richten. Frau
Ministerin, ein Pfad ist keine Garantie. Wir brauchen
endlich einen einklagbaren Rechtsanspruch auf einen
Ausbildungsplatz und eine verlässliche Ausbildungsfi-
nanzierung. Daran müssen sich alle Branchen und alle
Unternehmen beteiligen; denn Fachkräfte brauchen sie
irgendwann alle.
Außerdem muss endlich Schluss damit sein, dass
künftige Pflegekräfte, Hebammen, Physiotherapeuten
und auch Erzieherinnen ihre Ausbildung selber finan-
zieren müssen und dann noch nicht einmal eine Ausbil-
dungsvergütung erhalten. Ein Skandal ist es auch, dass
selbst bei den dualen Berufen die Ausbildungsvergütung
teilweise bei gerade einmal 300 Euro im Monat liegt, was
nur durch eine Mindestausbildungsvergütung zu beenden
ist.
Es muss etwas für die Verbesserung der Ausbil-
dungsqualität getan werden. All das könnte im Berufs-
bildungsgesetz besser geregelt werden. Darum ist es
völlig unverständlich, warum sich die Koalition und die
Bundesregierung weigern, das Berufsbildungsgesetz
endlich dahin gehend zu novellieren. Darum haben wir
im Bundestag einen Antrag vorgelegt, der schon an den
Ausschuss überwiesen wurde. Er wird dann im Zusam-
menhang mit diesem Bericht beraten werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, kommen Sie endlich
aus den Puschen! Machen Sie Nägel mit Köpfen, statt auf
weitere Appelle zu setzen oder sich auf Allianzen zu ver-
lassen, die offensichtlich nichts bringen.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Hein. – Als Nächster
spricht Herr Rainer Spiering für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau MinisterinWanka! Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuhörerin-nen und Zuhörer! Ich sehe, es sind eine Menge jungerLeute da. Das finde ich ausgesprochen begrüßenswert. Esgeht ja um sie.
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Den Berufsbildungsbericht 2017 kann man mit fol-genden Worten überschreiben: Nichts Neues aus demBerufsbildungsbereich. Beruhigend, zufriedenstellend?Für mich eher ernüchternd. Wir treten auf der Stelle. Mi-nisterien haben bekanntlich ein bestimmtes Beharrungs-vermögen. Bei der Berufsbildung stimmt das für das Bil-dungsministerium auf jeden Fall. Ich finde es erstaunlich,dass es in den letzten drei Jahren so wenig Bewegunggab.Lassen Sie mich kurz etwas zum BBiG sagen. DieBerufsbildung ist ein lebendiger Bereich, bewegt sichschneller als viele andere Bereiche und bedarf deswegender Anpassung. Wir befinden uns in einem Interessens-konflikt der unterschiedlichen Beteiligten: der Hand-werkskammern, der IHK und der Gewerkschaften. Auchunsere eigenen Interessen kommen hinzu. Weil wir die-sen Interessenskonflikt nicht aushalten, sind wir an dieNovellierung des Berufsbildungsgesetzes nicht herange-gangen. Diesen Kampf haben wir nicht ausgefochten unddamit jungen Menschen eine Perspektive verwehrt, diesie unbedingt brauchen.
Wir hätten, glaube ich, im Berufsbildungsgesetz meh-rere Fragen beantworten können: Rechtsstellung desEhrenamtes bzw. Freistellung für das Ehrenamt, Durch-stiegsmöglichkeiten von zwei- und dreieinhalbjährigerAusbildung, Korrektur der Berufsschulzeit mit Blick aufüber und unter 18-Jährige und – das wurde eben schonangesprochen – Regelung des dualen Studiums. Da hät-ten wir etwas tun müssen, weil das duale Studium fürviele wirklich eine Zukunftsperspektive darstellt. VertaneZeit, vertane Chancen und Probleme für die Zukunft!Im Sinne von jungen Menschen, dem Staat, unserenInteressen und den wirtschaftlichen Interessen müssenwir uns von Partikularinteressen lösen. Wir haben meh-rere Problemfelder im Bereich der Berufsbildung. Aufder einen Seite haben wir ein Fachkräfteproblem. Das istreal vorhanden. Das schädigt uns als Standort. Auf deranderen Seite haben wir das Problem, dass wir viele jun-ge Menschen nicht dahin bringen können, wo sie mit or-dentlicher Arbeit ordentlich Geld verdienen können undsich so selber ernähren können. In diesem Spannungsfeldbewegen wir uns.Man muss deutlich sagen, Frau Ministerin: Wenn mansich mit den realen Zahlen auseinandersetzt, dann wer-den auch Sie feststellen, dass sich die Großindustrie inden vergangenen 20 Jahren deutlich stärker aus der Aus-bildung verabschiedet hat, als es die Handwerks- undmittelständischen Unternehmen gemacht haben.Dazu werde ich eine Zahl nennen. Die Ausbildungs-quote lag vor 30 oder 40 Jahren bei großen Industrieun-ternehmen noch zwischen 5,5 und 7 Prozent. Heute kön-nen Sie froh sein, wenn die Ausbildungsquote bei VWbei 3 Prozent liegt. Das hat ganz klare Auswirkungen.Den großen Betrieben fehlt nämlich das Facharbeiterre-servoir, das sie dringend brauchen. Auch fehlt die Ent-lastung des Arbeitsmarktes. Ich bin mir sicher: Wenn wirden Ausbildungsmarkt besser steuern würden – Stich-wort „Schweinezyklus“ –, dann hätten wir deutlich bes-sere Möglichkeiten.In den Jahren 2003, 2004 und 2005 haben jungeLeute händeringend Ausbildungsplätze gesucht. Ihnenist gesagt worden: Ihr seid nicht ausbildungsfähig, ihrseid nicht ausbildungswillig. – Dann hat man die Leu-te vor der Tür stehen lassen. Daraufhin haben wir dasÜbergangssystem entwickelt und, und, und. Das hat derStaat zwar gut gemacht, aber ich muss auch deutlich andie Verantwortung der Industrie erinnern: Das sind dieArbeitskräfte, die ihr braucht. Ihr braucht sie für eurenFortbestand. Dafür müsst ihr auch etwas tun.
Lassen Sie mich das mit einer Zahl unterlegen. Es gibteine bemerkenswerte Studie der IG Metall. In der wirdbeschrieben, dass die Ausbildungsquote in Deutschlandim Maschinenbau 6,5 Prozent beträgt. Das ist eine or-dentliche Zahl. Die IG Metall sagt: Wenn alle der unsangeschlossenen Industriebetriebe im Metall- und Elek-trobereich mit der Quote ausbilden würden, dann müss-ten sie 60 000 Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen.Ich finde, aus der Verantwortung dürfen wir die Industrienicht entlassen.
Dasselbe gilt übrigens für Banken und Sparkassen wienatürlich auch für uns, die öffentliche Hand. Wir alle bil-den deutlich weniger aus, als wir könnten.Ich halte es übrigens für ausgesprochen gefährlich,Frau Hein, zu sehr auf die außerbetriebliche Ausbildungzu setzen. Ich war gerade mit anderen Ausschussmitglie-dern in Israel und Jordanien, und wir wurden gefragt, wiewir das in Deutschland machen. Gerade die Komplexitätdes praktischen Tuns am Ausbildungsplatz mit der Aus-bildung in der Schule ist weltweit einzigartig.Deswegen kann ich nur dazu auffordern, alles zu tun,um junge Menschen wie auch immer in Ausbildungsbe-triebe zu bringen. Wenn wir Betriebe dabei unterstützenmüssen, dann mögen wir dies tun. Aber ich sage nocheinmal: Wir können die großen und mittleren Betriebenicht aus ihrer Verantwortung entlassen. Es kann nichtsein, dass ein Handwerker in der Region Wolfsburg, woVW angesiedelt ist, das Nachsehen hat, weil VW 4 Europro Stunde drauflegt. Das ist nicht in Ordnung, Kollegin-nen und Kollegen.
– Dazu komme ich jetzt.Die Kernkompetenz der dualen Berufsausbildung bie-tet vor allem – darauf möchte ich noch einmal ausdrück-lich hinweisen; das ist, wie Sie wissen, das Steckenpferd,auf dem ich gerne herumreite – die Berufsschule. Ichhabe mich mit der Ausbildung bei VW beschäftigt: Sieist phänomenal. Ich war so begeistert. Mehr geht nicht.Das kann ein kleiner Handwerksbetrieb nicht leisten. Esgibt nur eine Einrichtung, die man dazu befähigen kann,und zwar die Berufsschule.Rainer Spiering
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Frau Wanka, an diesem Punkt bin ich nicht bei Ihnen:Wenn Sie jetzt dabei sind, länderübergreifend etwas zutun, dann finde ich das zwar gut. Aber die Bundesrepu-blik Deutschland ist mit der Kraft ihres Geldes in derVerantwortung, dem Berufsbildungsbereich bzw. denBerufsschulen deutlich mehr Mittel zuzuführen, undzwar nicht nur im IT-Bereich, sondern auch für die tech-nische Ausstattung, die Raumausstattung und vor allemfür die Ausbildung der Berufsschullehrer, dem Herzblutder Schule. In dem Bereich sind wir nach dem, was ichbeobachtet habe, in den letzten vier Jahren schlecht ge-wesen.
– Da müssen wir nicht über die Länder reden, Kollege.Wir sind zuständig, Stichwort BBiG, Berufsbildungsge-setz. Wir haben das Geld.Sie werden das übrigens merken. Alle, die aus Nord-rhein-Westfalen kommen, werden ab morgen umdenken.Sie werden nämlich auch den Bund in Anspruch nehmen,und zwar mit Recht. Das ist eine Aufgabe, die nur derStaat im Ganzen stemmen kann. Es ist eine Riesenauf-gabe.Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf dieAutonomie der Universitäten hinweisen. Es kann keineAnweisung eines Kultusministers an eine Universität ge-ben, etwas zu tun. Denn wir haben die Autonomie derUniversitäten, und wir können nur durch großangeleg-te Bemühungen um entsprechende Pakte versuchen, dieUniversitäten davon zu überzeugen, diesen Bereich zustärken.„Was ist zu tun?“, haben Sie mich gefragt. Ich habemir heute Morgen ebenfalls diese Frage gestellt. Ich habeeine begabte Tochter – hoffentlich bekomme ich jetzt zuHause keinen Ärger –, die mittlere Reife gemacht hat unddie dann über den zweiten Bildungsweg in Bibelwissen-schaften promoviert hat. Hätte ich ihr nach der mittlerenReife empfehlen sollen, eine Ausbildung zur Friseurin zumachen?Ich glaube, das berufliche Bildungssystem ist auchdeshalb in einer Schräglage, –
Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Zeit.
– weil unsere Angebotssituation auch in den tarifären
Bereichen für die jungen Leute nicht gut genug ist. Das
heißt, wir müssen dafür Sorge tragen, dass die Angebots-
situation für die jungen Leute in den Betrieben es ihnen
schmackhaft macht, in die Betriebe zu gehen.
Ein Abschlussbeispiel.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. Es ist
keine Zeit mehr für Abschlussbeispiele.
Ein Abschlussbeispiel: Eine examinierte Kranken-
schwester in der Schweiz bekommt als Absolventin
4 000 Franken Gehalt. Ich glaube, wir werden uns da-
ran gewöhnen müssen, dass die Absolventinnen und Ab-
solventen unserer Berufsausbildungssysteme auch einen
Anspruch auf ordentliche und faire Entlohnung haben.
Herzlichen Dank.
Herzlichen Dank, Herr Kollege. – Als Nächste sprichtdie Kollegin Beate Walter-Rosenheimer von der FraktionBündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Mi-nisterin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Liebe Gäste!Vielleicht ist dies der letzte Berufsbildungsbericht, FrauMinisterin, den Sie als Ministerin für Bildung zu verant-worten haben. Ich finde trotzdem, dass Ihre Rede vomschönen Schwanengesang noch ein Stück entfernt war.Dennoch denke ich, dass heute ein guter Zeitpunkt ist,Bilanz zu ziehen.Wie sieht es also aus nach fast vier Jahren Gro-ßer Koalition? Wie steht es um die berufliche Bildungin Deutschland? Der Übergangsbereich war schon imJahr 2013 mit 258 000 jungen Menschen viel zu groß.Zwei Jahre später ist er auf 271 000 angewachsen. Heutegibt es ganze 300 000 Neuzugänge in diesem Maßnah-mendschungel. Das ist doch kein Erfolg.
Nein, das sind 300 000 junge Menschen, denen Sie infast vier Jahren Regierungsverantwortung keine besserePerspektive bieten konnten. Es sind 300 000 junge Men-schen, die oftmals sinnlose Warteschleifen drehen, an-statt eine echte Ausbildung zu beginnen. Und dafür sindSie politisch verantwortlich. Sie hätten das Übergangs-system reformieren können.
Dumm nur, dass Sie selbst seit Jahren in der Warte-schleife hängen. Wachen Sie auf, und lassen Sie uns diePotenziale fördern, statt Geld in teuren Maßnahmen zuversenken! Lassen Sie uns gemeinsam eine Ausbildungs-garantie schaffen! Das ist gut für die Jugendlichen, dieeine Ausbildung bekommen und echte Wertschätzung er-halten, und das ist gut für die Wirtschaft, der schon heuteder Nachwuchs fehlt; Sie haben es ja selbst gesagt, FrauWanka.Ich komme zum nächsten Punkt, zur Ausbildungs-betriebsquote. Sie ist auf einem historischen Tiefstand.Das war seit Beginn der Wahlperiode in jedem Jahr so.Mittlerweile bildet nur noch jeder fünfte Betrieb aus.Was haben Sie dagegen getan? Nichts, überhaupt nichts.Beenden Sie diesen Sinkflug! Schaffen Sie Anreize fürRainer Spiering
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Unternehmen, damit diese endlich wieder mehr ausbil-den können!
Wie wir Grüne uns das vorstellen, haben wir in un-seren Anträgen oft gezeigt. Wir wollen den Übergangs-dschungel reformieren, überbetriebliche Ausbildungs-stätten fördern und Jugendliche passgenau unterstützen.Da müssen Sie ran.Ich komme zum Thema Matching, das auch Sie,Frau Ministerin, angesprochen haben. Jugendliche undBetriebe finden nicht mehr zusammen. Betriebe bietenAusbildungsplätze dort an, wo es keine Bewerber gibt,und andersherum. Diesen Befund bescheinigt uns derBerufsbildungsbericht aber schon seit Jahren. Sie habensich diesem Problem trotzdem nie gestellt. Wie kann essonst sein, dass auch im letzten Ausbildungsjahr wieder43 500 Ausbildungsplätze unbesetzt geblieben sind, wäh-rend rund 80 600 Bewerber als unversorgt gelten, vonden 300 000 im Übergangssystem zwischengeparktenJugendlichen einmal ganz abgesehen? Das, sehr geehrteFrau Ministerin, ist das Ergebnis Ihrer Arbeit. Ich finde,es ist ein schlechtes Ergebnis.
Auch von der Digitalisierung sprechen die Autorendes Berichts nicht erst seit gestern. Anstatt die beruflicheBildung an die Anforderungen des 21. Jahrhunderts an-zupassen, haben Sie bisher nur eine Nebelkerze nach deranderen gezündet.
– Doch! – Da sinnierte zum Beispiel der damalige Bun-deswirtschaftsminister über einen Berufsschulpakt, dersich danach als so klein entpuppte, dass er selbst mit derLupe in keinem Haushalt zu finden ist.
Wenn Sie die beruflichen Schulen wirklich fit für das di-gitale Zeitalter machen wollen, wenn Sie die Lehrerinnenund Lehrer bei der Integration von Geflüchteten wirklichunterstützen wollen, dann frage ich mich schon, warumSie unserem Haushaltsantrag im vergangenen Jahr nichtzugestimmt haben. 500 Millionen Euro pro Jahr wärendann bei den beruflichen Schulen gelandet.Auch in der CDU mögen Sie ja die Digitalpakte.Dort sind sie aber so digital, dass sie im analogen Haus-haltsentwurf gar nicht erst zu finden sind.
5 Milliarden Euro sollten in die digitale Ausstattung derSchulen fließen. Genau diese 5 Milliarden Euro drohenwegen der Erhöhung des Verteidigungsetats jetzt unterdie Räder zu kommen.
Ja, Aufrüstung statt Bildungsinvestitionen, Panzer stattWhiteboards – das ist eine Bilanz, die keine Bildungsmi-nisterin zu verantworten haben sollte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir leben doch nichtin einer Zeit, in der das Wünschen noch geholfen hat.Eine Bildungspolitik, die die Gesellschaft wirklich vo-ranbringen will, eine Politik, die Probleme nicht nur inBerichten darstellen, sondern auch lösen will, erfordertMut. Geben Sie sich einen Ruck, und stoßen Sie wenigs-tens in Ihrem letzten Haushaltsentwurf die wichtigenZukunftsinvestitionen und Reformen an, von denen amEnde die ganze Gesellschaft profitiert.
Es wäre doch schade, wenn diese Legislatur wirklich soendet, wie sie begonnen hat, nämlich als maximale Koa-lition der minimalen Ergebnisse.
Vielen Dank. – Als Nächste spricht Uda Heller von
der CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Selbst auszubilden, ist die beste Art für einenBetrieb, sich gute Fachkräfte zu sichern und damit auchwettbewerbsfähig zu bleiben. Ohne Lehrlinge sieht manim wahrsten Sinne des Wortes alt aus. Das sagte mir einUnternehmer, in dessen Betrieb der Altersdurchschnittbei 60 Jahren lag. Nach diesem Grundsatz handelte erund erhielt im vorigen Jahr von der Bundesagentur fürArbeit das Zertifikat für hervorragende Arbeit in derNachwuchsförderung. Als Politiker im Bildungsbereichwünscht man sich natürlich solche vorbildlichen Ausbil-dungsbetriebe und Erfolgsgeschichten. Die Realität siehtjedoch nicht immer ganz so positiv aus. Im Mittelstandsind viele Branchen vom Fachkräftemangel betroffen,allerdings regional sehr unterschiedlich; das möchte ichbetonen.Sinkende Schulabgängerzahlen und die unausgewo-gene Studien- und Berufsorientierung an Gymnasienin Richtung akademischer Studiengänge führen leiderdazu, dass viele Schülerinnen und Schüler die guten Ein-kommens- und Karriereperspektiven, die ihnen das du-ale Ausbildungssystem bietet, nicht richtig einschätzenkönnen. Es ist beunruhigend, dass mittlerweile nur noch12 Prozent der Kleinstbetriebe ausbilden. Besetzungs-probleme ergeben sich vor allem durch regionale und be-rufsspezifische Unterschiede bei Angebot und Nachfragedualer Ausbildungsstellen. Einerseits fehlen die Bewer-ber, andererseits sind die kleinen Betriebe nicht in derLage, ebenso viel Zeit und Kraft in eine Ausbildung zuinvestieren wie größere Unternehmen. Sie müssen vielBeate Walter-Rosenheimer
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Geld in eine Ausbildung investieren und sind deshalb be-müht, dass junge Menschen fester Bestandteil des Unter-nehmens bleiben. Das ist ein wichtiger Vorteil, den dasStudium nicht bieten kann.Die Bundesregierung unterstützt mit soliden Maßnah-men wie zum Beispiel mit der Assistierten Ausbildung,dem Programm Jobstarter plus oder auch mit der För-derung überbetrieblicher Bildungsstätten vor allem diekleinen und mittleren Unternehmen. Um die beruflicheBildung zusätzlich zu stärken, wurde die Allianz für Aus-und Weiterbildung als gemeinsame Handlungsplattformgeschaffen. Wenn Sie den Bericht richtig lesen, könnenSie zahlreiche Maßnahmen feststellen, wo die Allianzbereits gewirkt hat.Meine Damen und Herren, Kompetenzvermittlungmuss bereits in der Schule beginnen. Dies machte mirein Beispiel auf einer Logistikmesse deutlich. Die An-forderung, hochmoderne und millionenteure technischeGeräte wie zum Beispiel landwirtschaftliche Maschi-nen, Busse usw. zu bedienen, erfüllen nur noch wenigeBewerber. Dieser Tatsache müssen wir ins Auge sehen.Auch Betriebe anderer Branchen sind mit dem Dilem-ma mangelnder Ausbildungseignung junger Menschenkonfrontiert. Dieses Argument werden Sie immer wiederhören. Deshalb ist es umso notwendiger, Berufsorientie-rung endlich an allen Schulformen – speziell an unserenGymnasien – durchzusetzen. Da wir im Bund nicht überschulische Inhalte und Lehrpläne zu befinden haben, lau-tet meine Forderung an die Bildungsminister der Länder:Die Berufsorientierung muss in allen Schulformen ver-pflichtend und im Lehrplan verankert sein.Was wir brauchen, ist eine solide, langfristige undauf Praxis angelegte Berufsorientierung. Da sind Maß-nahmen wie der ehemalige polytechnische Unterrichtkein alter Hut, sondern praxistauglich. Es ist wichtig,die beteiligten Akteure – Schüler und Lehrer – mehr indie Veränderungen des Ausbildungs- und Arbeitsmarkteseinzubeziehen.
Die Herausbildung von Schlüsselkompetenzen, dieÜberprüfung der Ausbildungsreife und die Förderungpraktischer Fähigkeiten dürfen dabei nicht wegfallen. Ichempfehle, dass wir die Agenturen für Arbeit und damitdie Fachleute im Bereich der Berufsberatung mehr vonbürokratischer Arbeit entlasten, damit sie regelmäßig vorOrt, also an den Schulen, tätig werden können. Das istsowohl für Schüler als auch für Lehrer, die sich im Ange-botsdschungel orientieren sollen, hilfreich.
Meine Damen und Herren, im Antrag von Bünd-nis 90/Die Grünen verwundert mich die Aussage, wirhätten politisch nicht gehandelt und nur kleine Schrittegemacht. Natürlich ist man in der Opposition angehalten,Kritik zu üben. Tatsachen sollte man aber zur Kenntnisnehmen und die Schwerpunkte der Bundesregierung imJahr 2016 noch einmal aufmerksam lesen. Ich glaube, Siewollen einfach nicht begreifen, dass wir für viele Aufga-ben in der Bildung, die Sie gerne angehen möchten, nichtzuständig sind. Bildungspolitik ist nur dann erfolgreich,wenn jede einzelne politische Ebene ihren Beitrag leistet.Wir haben viele Maßnahmen auf den Weg gebracht. Aberman muss ihnen auch Zeit geben, zu wirken.Verehrte Frau Ministerin, liebe Kolleginnen und Kol-legen, ich habe heute nach drei Legislaturperioden dieletzte Rede in diesem Hohen Haus gehalten. Ich verlassefreiwillig die politische Bühne und bin dankbar, dass ichin den Bereichen Landwirtschaft, Tourismus, Bildungund Forschung arbeiten durfte und einiges für mein Bun-desland Sachsen-Anhalt und den Wahlkreis 74 erreichenkonnte. Dankbar bin ich auch Ihnen, Frau Ministerin, denStaatssekretären, den Referenten und allen Mitgliederndes Ausschusses für die stets kollegiale und konstruktiveZusammenarbeit.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Heller. – Als Nächster
spricht der Kollege Oliver Kaczmarek von der SPD-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In denDebatten über berufliche Bildung sollten wir immer auchden Wert des Systems und seine internationale Anerken-nung betonen. Sie ist tatsächlich ein Prunkstück des Bil-dungssystems. Es geht aber auch darum, dass wir überdas Bekenntnis zur beruflichen Bildung hinausgehen undkonkret handeln.Ich will einen kritischen Punkt ansprechen, den auchder Kollege Spiering angesprochen hat. Ich glaube, es istdas falsche Signal in dem System der beruflichen Bil-dung, das im Wandel ist, das vielfältigen Herausforde-rungen ausgesetzt ist und in dem es neue Wege gibt, zusagen, wir hätten keinen Bedarf zur Novellierung desBerufsbildungsgesetzes.
Wir haben unserer Meinung nach eine Chance verpasst,Dinge konkret zu verbessern, zum Beispiel Freistellungs-zeiten für die ehrenamtlichen Prüfer zu ermöglichen undbessere Standards bei der Weiterbildung zu erreichen.Das alles haben wir in dieser Wahlperiode verpasst. Ichglaube, dass die Bundesregierung mit ihrer Einschätzungfalsch gelegen hat. Deshalb ist es umso wichtiger, dasswir in der nächsten Wahlperiode die Novellierung desBerufsbildungsgesetzes entschlossen anpacken.
Der Berufsbildungsbericht zeigt aus meiner Sicht, dassdie aktuelle Debatte, die unter der Überschrift „Akade-mikerwahn“ geführt wird, keine große Berechtigung hatund in die falsche Richtung führt. Es geht nicht um dasAusspielen von akademischer gegen berufliche Bildung,sondern es geht um gleiche Wertschätzung. Es geht da-rum, dass die Trennung zwischen akademischer und be-Uda Heller
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ruflicher Bildung immer mehr aufweicht. Das lässt sichauch an den Zahlen des Berufsbildungsberichtes ablesen.Die Ministerin hat gerade darauf hingewiesen: Immermehr Auszubildende beginnen eine Ausbildung mit ei-ner Hochschulzugangsberechtigung, mehr als ein Viertelmittlerweile. Sie wünschen sich nicht eine Sackgasse –nur berufliche Bildung oder nur akademische Bildung –,sondern immer mehr von ihnen interessieren sich füreine sinnvolle und gute Kombination von beruflichenund akademischen Inhalten. Deswegen müssen wir dasals Herausforderung begreifen und mehr für die Durch-lässigkeit von akademischer und beruflicher Bildung inbeiden Richtungen tun.Das heißt, wir brauchen neue Wege. Wir brauchenden Bachelor auf der Grundlage einer beruflichen Aus-bildung, verknüpft mit akademischen Inhalten. Wir brau-chen für die Meisterinnen und Meister den Zugang zumMasterstudium, so wie es in Rheinland-Pfalz vorbildhaftschon gemacht wird. Zur Gleichheit gehört auch: Stu-diengebühren bleiben abgeschafft. Ich hoffe, das bleibtauch in Nordrhein-Westfalen so. Ebenso müssen die Ge-bühren für die Meister- und Technikerkurse abgeschafftwerden. Das zeugt von einer gleichen Wertschätzung vonakademischer und beruflicher Bildung.
Lassen Sie uns aber auch einen Blick auf die werfen,die durch den Markt nicht versorgt werden können. Beidem Akademikerwahn geht es nicht nur darum, dassmehr Abiturienten eine Ausbildung machen sollen. DieseDebatte blendet völlig aus, dass immer mehr Schülerin-nen und Schüler mit Hauptschulabschluss und auch mitdem mittleren Schulabschluss am Markt nicht mehr ver-sorgt werden. Dafür brauchen wir regional unterschied-liche Lösungen. Das ist vollkommen klar, weil das keinbundesweites Phänomen ist. Mobilität ist als Stichwortgenannt worden; das ist richtig. Wir brauchen aber aucheine Garantie, dass junge Menschen, wenn sie die Aus-bildungsvoraussetzungen erfüllen und ausgebildet wer-den wollen, einen Ausbildungsplatz bekommen; dennwir können es uns wirtschaftlich und gesellschaftlichnicht leisten, Tausende Menschen pro Jahr in bestimmtenRegionen nicht auszubilden.
Zum Schluss: Keine Rede zur Ausbildung ohne dieFrage nach dem Danach, nämlich nach dem sicherenÜbergang von der Ausbildung in die Arbeit. Wir erwar-ten viel von jungen Menschen in dieser Phase; aber zuoft besteht bei ihnen Unsicherheit, weil ihnen nach derAusbildung befristete Arbeitsverträge angeboten werden.Deswegen brauchen wir zwei Dinge:Wir brauchen erstens mindestens eine Ankündigungs-frist im Falle der Nichtübernahme. Das heißt, jungeMenschen, die nach ihrer Ausbildung nicht übernommenwerden können, müssen das rechtzeitig wissen, damit siesich am Arbeitsmarkt orientieren können.Wir brauchen zweitens eine Lösung in Bezug auf dasgrößte Hindernis beim Übergang: die sachgrundlose Be-fristung. Diese heißt so, weil es keinen Grund für dieBefristung gibt. Deswegen ist die Idee des SPD-Vorsit-zenden Martin Schulz richtig: Die sachgrundlose Befris-tung ist ein Hindernis für die jungen Menschen, in dieArbeitswelt eintreten zu können. Deswegen gehört diesachgrundlose Befristung abgeschafft. Auch das gehörtzur Thematik der beruflichen Bildung.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Als letzter Redner in
dieser Debatte spricht Dr. Wolfgang Stefinger für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Der Berufsbildungsbericht bestätigt ein wei-teres Mal: Deutschland verfügt über ein qualitativ hoch-wertiges und leistungsfähiges Berufsbildungssystem.Wer es erfolgreich durchläuft, der ist sehr gut auf dasBerufsleben vorbereitet und hat vor allem auch hervorra-gende Aufstiegschancen.Für die Union ist die Stärkung der betrieblichen Be-rufsausbildung ein Herzensanliegen – ein Herzensan-liegen deshalb, weil sie beste Chancen bietet und weilhervorragend ausgebildete Fachkräfte das Fundament fürunsere Wirtschaftsstärke und vor allem für unsere Inno-vationskraft sind.Wenn ich in meinem Heimatbundesland Bayern unter-wegs bin, dann erlebe ich, dass Fachkräfte mit einer Be-rufsausbildung überall gefragt sind, vor allem bei kleinenund mittleren Unternehmen. Die Zahl der offenen Stel-len ist auf einem Rekordniveau. Qualifizierte Bewerberwerden überall händeringend gesucht. Das belegt: DieBerufsperspektiven für Menschen mit dualer Ausbildungsind ausgezeichnet.Frau Ministerin Wanka und meine Vorredner habenbereits auf eine Reihe positiver Aspekte und Entwick-lungen hingewiesen. Deswegen möchte ich nur einenAspekt noch einmal betonen: Noch nie gab es für jungeMenschen hierzulande so gute Chancen auf einen Aus-bildungsplatz und so positive Berufsperspektiven wieheute. Und noch nie waren in Deutschland so wenig Ju-gendliche arbeitslos.Das zeigt, dass die unionsgeführte Bundesregierung inden letzten Jahren die richtigen Weichen gestellt und vorallem wichtige Akzente gesetzt hat.
Der vorliegende Berufsbildungsbericht listet ein be-achtliches Bündel an Maßnahmen zur Attraktivitätsstei-gerung, zur Qualitätsverbesserung, zur Modernisierungund auch zur Durchlässigkeit auf. Ich erinnere an dieAllianz für Aus- und Weiterbildung, die Fortentwicklungdes Meister-BAföG zum Aufstiegs-BAföG oder die Ini-tiative Bildungsketten, um hier nur ein paar Beispiele zunennen.Oliver Kaczmarek
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Mai 201723570
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Wir wissen doch alle, dass Delegationen aus der gan-zen Welt zu uns kommen, um sich über das deutsche Er-folgsmodell der dualen Ausbildung zu informieren undes nachzuahmen. Hier leisten die deutschen Akteure eineganze Menge, aber ob und was davon in den jeweiligenLändern tatsächlich eingeführt und umgesetzt wird, liegtletztendlich in deren Verantwortung. Wir stehen auf je-den Fall jederzeit gerne mit Rat und Tat zur Verfügung.Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich müssenwir auch auf die aktuellen und künftigen Herausforde-rungen reagieren und damit Schritt halten; das haben wirauch getan. Ich möchte vor allem zwei Themenfelder an-sprechen, die uns bereits beschäftigt haben und uns inden nächsten Jahren weiterhin fordern werden, nämlichdas ganze Thema der Digitalisierung, die Auswirkungender digitalen Transformation auf unsere Ausbildung, so-wie die Integration von jungen Menschen mit Migrati-onshintergrund und vor allem von Flüchtlingen in unserBildungs- und Beschäftigungssystem.Mit Blick auf die Berufsbildung 4.0 haben wir schoneiniges bewegt, beispielsweise die Initiative „Fachkräf-tequalifikation und Kompetenzen für die digitalisierteArbeit von morgen“ oder das Förderprogramm „DigitaleMedien in der beruflichen Bildung“.Auch für Flüchtlinge haben wir vieles getan. So habenwir das Angebot an Integrationskursen ausgebaut undzusätzliche Angebote zur Berufsorientierung, zur Berufs-vorbereitung, zur Berufsausbildung und -nachqualifizie-rung geschaffen. Ich darf auch hier als Positivbeispielmein Heimatbundesland Bayern nennen. 60 000 Flücht-linge wurden bis Ende 2016 in Praktika und Ausbildungvermittelt – vorgesehen waren bis zu diesem Zeitpunkt20 000 Flüchtlinge; die Zahl von 60 000 Flüchtlingen ha-ben wir erreicht.
Es gibt aber, meine sehr geehrten Damen und Herren,eine grundsätzliche Herausforderung im beruflichen Be-reich, nämlich die Erhöhung des Stellenwerts der berufli-chen Bildung. Wir alle sind gefordert, die Wertschätzungder dualen Ausbildung in unserer Gesellschaft weiter zuerhöhen; denn wir brauchen nicht nur den gut ausgebil-deten Ingenieur, sondern eben auch den gut ausgebilde-ten Facharbeiter, der die Maschinen, die der Ingenieurentwickelt, nicht nur bauen, sondern auch bedienen, war-ten und reparieren kann.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die enge Ver-bindung von Theorie und Praxis bei der Ausbildung, über300 duale Ausbildungsberufe, die stärkere Durchlässig-keit und vielfältige Karrierechancen, das alles macht un-ser Berufsausbildungssystem zu etwas Besonderem. DieChancen für junge Menschen sind nach zwölf Jahren uni-onsgeführter Bundesregierung so gut wie nie zuvor, undso soll es auch bleiben.Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/11969 und 18/12361 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Donnerstag, den 18. Mai 2017, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche allen Kolle-
gen noch einen schönen, sonnigen Abend.