Protokoll:
18223

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 18

  • date_rangeSitzungsnummer: 223

  • date_rangeDatum: 22. März 2017

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 12:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 13:18 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 18/223 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 223. Sitzung zugleich 955. Sitzung des Bundesrates Berlin, Mittwoch, den 22. März 2017 Inhalt: Eidesleistung des Bundespräsidenten ge- mäß Art. 56 Grundgesetz Ansprache des Präsidenten des Deutschen Bundestages Prof. Dr. Norbert Lammert . . . 22433 A Ansprache der Präsidentin des Bundesrates Malu Dreyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22434 A Ansprache des scheidenden Bundespräsiden- ten Dr. h. c. Joachim Gauck . . . . . . . . . . . . . 22435 D Eidesleistung des Bundespräsidenten Dr. Frank-Walter Steinmeier . . . . . . . . . . . . 22438 A Ansprache des Bundespräsidenten Dr. Frank- Walter Steinmeier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22438 B Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . . 22443 A (A) (C) (B) (D) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 223 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 22 . März 2017 22433 223. Sitzung zugleich 955. Sitzung des Bundesrates Berlin, Mittwoch, den 22. März 2017 Beginn: 12 .00 Uhr
  • folderAnlagen
    Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) (C) (B) (D) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 223 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 22 . März 2017 22443 Anlage zum Stenografischen Bericht Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Albsteiger, Katrin CDU/CSU 22 .03 .2017 Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 22 .03 .2017 Barthle, Norbert CDU/CSU 22 .03 .2017 Binder, Karin DIE LINKE 22 .03 .2017 Bosbach, Wolfgang CDU/CSU 22 .03 .2017 Bülow, Marco SPD 22 .03 .2017 Dröge, Katharina * BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 22 .03 .2017 Hajek, Rainer CDU/CSU 22 .03 .2017 Heller, Uda CDU/CSU 22 .03 .2017 Jelpke, Ulla DIE LINKE 22 .03 .2017 Katzmarek, Gabriele SPD 22 .03 .2017 Klein, Volkmar CDU/CSU 22 .03 .2017 Kudla, Bettina CDU/CSU 22 .03 .2017 Lerchenfeld, Philipp Graf CDU/CSU 22 .03 .2017 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Möhring, Cornelia DIE LINKE 22 .03 .2017 Mosblech, Volker CDU/CSU 22 .03 .2017 Müntefering, Michelle SPD 22 .03 .2017 Rüthrich, Susann * SPD 22 .03 .2017 Sarrazin, Manuel BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 22 .03 .2017 Schmidt, Dr . Frithjof BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 22 .03 .2017 Stauche, Carola CDU/CSU 22 .03 .2017 Strebl, Matthäus CDU/CSU 22 .03 .2017 Tank, Azize DIE LINKE 22 .03 .2017 Tressel, Markus BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 22 .03 .2017 Wagenknecht, Dr . Sahra DIE LINKE 22 .03 .2017 Wöhrl, Dagmar G . CDU/CSU 22 .03 .2017 *aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de 223. Sitzung zugleich 955. Sitzung des Bundesrates Inhaltsverzeichnis Eidesleistung des Bundespräsidenten gemäß Art. 56 Grundgesetz Anlage
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1822300000

Meine Herren Bundespräsidenten! Frau Bundeskanz-

lerin! Frau Bundesratspräsidentin! Herr Präsident des
Bundesverfassungsgerichts! Exzellenzen! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich zur
gemeinsamen Sitzung des Deutschen Bundestages und
des Bundesrates . Ich freue mich über die vielen Ehren-
gäste, darunter frühere Bundespräsidenten und Parla-
mentspräsidenten und eine stattliche Anzahl von amtie-
renden Richtern des Verfassungsgerichts .

Meine Damen und Herren, lebten wir noch in feudalen
Zeiten, wäre heute Feiertag .


(Beifall)


Vor genau 130 Jahren, 1887, wurde zum letzten Mal der
Geburtstag von Kaiser Wilhelm I . am 22 . März gefeiert,
übrigens nicht mit einem gesetzlich verankerten arbeits-
freien Tag, aber doch mit einem Feiertag mit nationalem
Anspruch, der mit Militärparaden und Festansprachen
begangen wurde . Und in den Schulen wurden Gedichte
vorgetragen wie dieses:


(Heiterkeit)


Der Kaiser ist ein lieber Mann
er wohnet in Berlin
und wär das nicht so weit von hier
so ging ich heut noch hin .

Nun ist uns der Kaiser abhandengekommen,


(Beifall)


aber pünktlich zum heutigen Ereignis haben Bundestag
und Bundesrat in einer gemeinsamen Kraftanstrengung
das Wetter organisiert, das man früher wohl als Kaiser-
wetter bezeichnet haben soll .


(Beifall)


Wir leben heute in republikanischen und vergleichs-
weise prosaischen Zeiten, weswegen ich darauf ver-
zichte, die weiteren Strophen dieser Kaiserhuldigung
oder meine Begrüßung in Reimform vorzutragen . Nicht
verzichten möchte ich aber darauf, neben den Vertretern

der Verfassungsorgane und den zahlreichen Ehrengästen
ganz besonders herzlich Daniela Schadt und Elke Büden-
bender zu begrüßen,


(Beifall)


die, um es in gutem Deutsch zu sagen, ersten Damen un-
seres Landes, die im angelsächsischen System als First
Ladies bezeichnet werden .

Sie nehmen ein Amt wahr, das es in unserer Verfas-
sungsordnung gar nicht gibt, wohl aber in der politischen
und gesellschaftlichen Wirklichkeit . Damit sind vielfälti-
ge Verpflichtungen, Aufgaben, Erwartungen und Ansprü-
che verbunden, für die sie weder kandidiert haben noch
gewählt wurden, aber die sie – meist unauffällig – mit
großem Engagement, Charme und stiller Größe wahrge-
nommen haben oder wahrnehmen werden .

Dafür möchte ich Ihnen, Frau Schadt, ganz herzlich
danken – und ich darf dies heute Morgen ausnahmsweise
nicht nur für den Deutschen Bundestag, sondern auch für
den Bundesrat zum Ausdruck bringen, deren Präsidentin
im Anschluss an meine Begrüßung die Arbeit des schei-
denden Bundespräsidenten würdigen wird .


(Beifall)


Ihnen, Frau Büdenbender, gelten unsere guten Wün-
sche für die bevorstehenden Jahre . Wir wünschen Ihnen
zusammen mit dem Herrn Bundespräsidenten eine er-
folgreiche Amtszeit, in der Sie beide hoffentlich immer
wieder auch Freude am eigenen Land und seiner Vertre-
tung nach innen wie nach außen haben mögen .

Dieses Amt – so hat es der erste Bundespräsident
Theodor Heuss bei seiner Vereidigung 1949 zum Aus-
druck gebracht – hat den Sinn, „über den Kämpfen, die
kommen, die nötig sind, die ein Stück des politischen Le-
bens darstellen, nun als ausgleichende Kraft vorhanden
zu sein“ .

Unseren Dank und Respekt an Sie, verehrter Herr
Bundespräsident Gauck, verbinden wir mit den besten
Wünschen an Ihren Nachfolger, Herrn Bundespräsiden-
ten Steinmeier, in den kommenden Jahren bei den unver-






(A) (C)



(B) (D)


meidlichen Auseinandersetzungen ebenso kraftvoll wie
ausgleichend zu wirken .

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit .

Nun hat die Präsidentin des Bundesrates, Frau Minis-
terpräsidentin Dreyer, das Wort .


(Beifall)


Malu Dreyer, Präsidentin des Bundesrates:
Sehr geehrte Herren Präsidenten! Sehr geehrte Frau

Bundeskanzlerin! Exzellenzen! Meine sehr verehrten
Herren und Damen! Diese Stunde bietet die wunderbare
Gelegenheit, unserem neuen Präsidenten Frank-Walter
Steinmeier die besten Wünsche mit auf den Weg zu
geben und unserem scheidenden Präsidenten Joachim
Gauck von Herzen Danke zu sagen .

Lieber Herr Dr . Steinmeier, lieber Frank-Walter, im
Namen des Bundesrates und des Bundestages, aber auch
persönlich darf ich Ihnen sehr herzlich zu Ihrer Wahl zum
Bundespräsidenten gratulieren . Wir freuen uns auf Sie als
zwölften Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland .


(Beifall)


Sehr geehrter, lieber Präsident Gauck, Sie haben in
den letzten fünf Jahren mit Ihrer klaren und herzlichen
Art das Vertrauen der Menschen in unserem Land, aber
auch weit über die Grenzen hinaus gewonnen . Im besten
Sinne haben Sie gezeigt, was die Kraft des klugen Wortes
vermag . Sie haben so dem Amt des Bundespräsidenten
im In- und Ausland Ansehen und Würde verliehen . Dafür
gebührt Ihnen unser aller Dank .


(Beifall)


Sehr verehrter Herr Präsident Gauck, schon als Sie
das höchste Staatsamt übernahmen, bestimmte das Wort
„Krise“ die politische Agenda und auch das Lebensge-
fühl vieler Menschen in unserem Land . Die Folgen der
Finanzmarktkrise und die enormen Staatsschulden meh-
rerer europäischer Länder nährten massive Zweifel am
Projekt Europa: Kann die Europäische Union wirklich
die Herausforderungen einer globalisierten Welt besser
bewältigen als ein Nationalstaat alleine? Ihre Antwort,
lieber Herr Bundespräsident, war eindeutig, als Sie in
diesem Hohen Hause Ihre Antrittsrede hielten . Sie sag-
ten: „Wir wollen mehr Europa wagen .“ Damals haben
wir uns wohl alle noch nicht vorstellen können, wie sehr
ein freies, ein solidarisches Europa tatsächlich unter
Druck geraten würde .

Heute erinnern wir in besonderer Weise an die Opfer
der Terroranschläge in Brüssel, die vor genau einem Jahr
durch Selbstmordattentäter des „Islamischen Staates“ ge-
tötet wurden . Wir sind als Europäer gefordert, alles zu
unternehmen, um Terror und Gewalt zu verhindern und
unsere Werte zu verteidigen . Umso wichtiger scheint mir
deshalb, was Sie uns, verehrter Präsident Gauck, in Ihrer
großen Europarede ein knappes Jahr später mit auf den
Weg gegeben haben:

Europäische Identität definiert sich nicht durch
negative Abgrenzung vom anderen . Europäische
Identität wächst mit dem Miteinander und der Über-

zeugung der Menschen, die sagen: Wir wollen Teil
dieser Gemeinschaft sein, weil wir die gemeinsa-
men Werte teilen .

Mit Sorge beobachten wir, dass heute auch in Deutsch-
land populistische Kräfte stark werden, die einem neuen
Nationalismus das Wort reden, die die Geschichte als
Siegergeschichte schreiben wollen und gegen alles Frem-
de hetzen . Aber das wollen die Menschen mehrheitlich
nicht . Die Wahl in den Niederlanden war ein klarer Sieg
gegen Fremdenfeindlichkeit und für Europa .


(Beifall)


Sie, verehrter Herr Gauck, haben populistischen Hass
stets einen „Ansporn“ genannt, noch entschiedener für
die demokratische Freiheit einzutreten . Diese Leiden-
schaft für die Freiheit, sie entspringt Ihrer Erfahrung von
massivem Unrecht, von Unfreiheit und Enge, die Sie in
der DDR erlebt haben . Daraus haben Sie den Trotz eines
evangelischen Pastors entwickelt, der als Bürgerrechtler
in der Friedlichen Revolution die Menschen geradezu
begeistert hat . Sie waren Abgeordneter der ersten frei
gewählten Volkskammer der DDR und mit der Wieder-
vereinigung Mitglied des Deutschen Bundestages – und
haben als Beauftragter der Stasi-Unterlagen-Behörde
wesentlich dazu beigetragen, die Gewalt des DDR-Staa-
tes aufzudecken . Mit all Ihrer Kraft kämpfen Sie gegen
Vergessen und für Demokratie .


(Beifall)


Es bleibt das Besondere Ihrer Präsidentschaft, dass
wir mit Ihnen noch einmal das Geschenk der deutschen
Einigung, die große Bedeutung freier Wahlen und den
Geschmack von Freiheit erleben durften, ja, dass wir
selbst noch einmal staunen durften über das „Wunder der
Demokratie“ . Sie haben das kostbare Gefühl von Befrei-
ung mit uns geteilt – und mit Ihrer Begeisterung auch
uns bewegt . Wir brauchen diese demokratische Leiden-
schaft . Der Wert der Freiheit darf nicht durch Gewöh-
nung verkümmern . Wir dürfen die Kraft der Emotionen
nicht denen überlassen, die unsere offene Gesellschaft
bekämpfen .


(Beifall)


Sehr geehrter Herr Präsident Gauck, auch im höchsten
Amt des Staates haben Sie Schwieriges offen ausgespro-
chen und damit eben auch Debatten angestoßen, etwa als
Sie forderten, die Bundesrepublik solle sich in internati-
onalen Konflikten, vor allem bei der Krisenprävention,
„früher, entschiedener und substanzieller einbringen“ .
Wenn Sie so die Macht des Wortes nutzten, haben nicht
alle Beifall geklatscht . Für Sie aber ist das offene Wort
Ausdruck der Überzeugung, dass Freiheit immer auch
Verpflichtung bedeutet.


(Beifall)


„Die Freiheit der Erwachsenen heißt Verantwortung .“ –
Dieser Satz, so wünschen Sie sich, möge mit Ihnen ver-
bunden bleiben .

Verantwortung zu übernehmen, ist besonders wichtig,
wenn es keine vorgezeichneten Wege gibt . Vieles ist der-
zeit im Umbruch . Sie haben mit Blick auf die digitale
Revolution sogar von einem „Epochenwechsel“ gespro-

Präsident Prof. Dr. Norbert Lammert






(A) (C)



(B) (D)


chen . Im Umbruch ist auch unsere Gesellschaft, die sehr
viel pluraler geworden ist . Sie haben uns dazu aufgefor-
dert, diese Vielfalt als Reichtum zu begreifen . Hartnäckig
und charmant werben Sie für ein gutes Miteinander –
ohne zu verschweigen, dass Vielfalt auch anstrengend ist .

In Ihrer Abschiedsrede haben Sie zudem darauf hin-
gewiesen, dass die entscheidende Trennlinie in unserer
Demokratie nicht zwischen Alteingesessenen und Neu-
bürgern oder zwischen Christen, Muslimen, Juden und
Atheisten verläuft, sondern zwischen Demokraten und
Nichtdemokraten .


(Beifall)


Meine Herren und Damen, wir müssen also alles tun,
um unsere Demokratie stark zu machen . Mit unserer fö-
deralen Ordnung haben wir alle Chancen dazu . Unser
föderaler Staat achtet die Verschiedenheit der Lebensver-
hältnisse, ohne ihre Gleichwertigkeit aus dem Blick zu
verlieren: Menschen in Berlin-Kreuzberg beschäftigt ja
manchmal anderes als Menschen in der Eifel . Und die
See in Rostock prägt das Gemüt anders als die Berge in
Bayern oder die Weinberge in Rheinland-Pfalz . – Wir
sind verschieden, aber wir gehören zusammen . Wir ge-
hören zusammen, und wir stehen zusammen . Das haben
Sie, lieber Herr Präsident Gauck, in den vergangenen
Jahren immer wieder betont . Ich möchte das bekräftigen:
Zusammen sind wir Deutschland .


(Beifall)


Sehr verehrter Herr Präsident Gauck, mit dem Klima
der See kennen Sie sich bestens aus . Den scharfen Ge-
genwind von Machthabern haben Sie in der DDR mehr
als einmal gespürt . Und als elfter Bundespräsident der
Bundesrepublik Deutschland mussten Sie so manches
Mal gegen ein Klima der Perspektivlosigkeit ankämpfen .
Das ist Ihnen ohne Zweifel gelungen . Ich glaube, ich darf
sagen: Sie haben mit Ihrer Leidenschaft für Freiheit und
Demokratie unseren Verstand und unsere Herzen erobert .


(Beifall)


Ich danke Ihnen für Ihren herausragenden Dienst an der
Bundesrepublik Deutschland .


(Langanhaltender Beifall – Die Anwesenden erheben sich)


Auch wenn der Bundestagspräsident Ihnen schon ge-
dankt hat, möchte auch ich in diesen Dank Sie, liebe, sehr
verehrte Frau Schadt, ausdrücklich einschließen . Sie wa-
ren die starke Frau an der Seite unseres Bundespräsiden-
ten . Und Sie selbst haben die Menschen auf Ihre warm-
herzige Art angesprochen und stark gemacht .


(Beifall)


Unabgesprochen hatten der Bundestagspräsident und
ich den gleichen Gedanken: Auch wenn unsere Verfas-
sung das Amt noch nicht kennt – Sie waren in den ver-
gangenen fünf Jahren unsere kluge und gewinnende First
Lady . Dafür danke ich Ihnen sehr herzlich .


(Beifall)


Lieber Herr Bundespräsident Steinmeier, Ihr Vorgän-
ger hat davon gesprochen, dass die Zeiten rau sind und

dass unser vereinigtes Deutschland auch international
größere Verantwortung übernehmen muss . Es ist ein
Glücksfall, dass mit Ihnen ein Präsident ins Amt kommt,
der Deutschland auch aus dem Blickwinkel anderer Na-
tionen kennengelernt hat und der dabei gezeigt hat, dass
man selbst in schwierigsten Konflikten wie im Iran oder
in der Ukraine mit Beharrlichkeit und großer Geduld et-
was für die Menschen erreichen kann .

In den letzten Wochen haben Sie immer wieder leiden-
schaftlich daran erinnert, wie wenig selbstverständlich
ist, was wir hier in unserem Rechtsstaat selbstverständ-
lich genießen: der Schutz des Lebens, die gleiche Würde
aller Menschen, Meinungs- und Gewissensfreiheit, eine
freie Presse, soziale Sicherheit . Sie lenken damit unseren
Blick auf die Möglichkeiten, die Deutschland bietet . De-
mokratie verträgt in Ihren Augen keine Resignation . Sie
braucht entschlossene Demokraten und Demokratinnen,
die sich engagieren und die sich auch dann nicht aufs
Glatteis führen lassen, wenn gefühlte Wahrheiten an die
Stelle überprüfter Fakten treten .


(Beifall)


Lieber Präsident Steinmeier, lieber Frank-Walter, ich
bin sicher: Sie treffen den Nerv der Zeit, wenn Sie den
Menschen Mut machen und die Zuversicht vermitteln,
dass wir unsere Aufgaben meistern können . Sie werden
das zusammen mit Ihrer Frau tun . Liebe Frau Büdenben-
der, liebe Elke, Sie stellen dafür Ihren Beruf hintan . Ich
danke Ihnen beiden dafür, dass Sie sich so in den Dienst
unseres Landes stellen .


(Beifall)


Meine Herren und Damen, in den nächsten Jahren
sind wir in besonderem Maße aufgerufen, für unsere of-
fene Demokratie einzutreten, damit auch unsere Kinder
und Enkel in einem Deutschland des guten Miteinanders
und in einem freien, solidarischen Europa leben können .

Ich wünsche Ihnen, lieber Herr Präsident Steinmeier,
für Ihr neues Amt zusammen mit Ihrer Frau alles erdenk-
lich Gute,


(Beifall)


viel Kraft und allzeit eine glückliche Hand . Lassen Sie
uns gemeinsam für Einigkeit und Recht und Freiheit
streiten .

Vielen Dank .


(Beifall)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1822300100

Vielen Dank, Frau Bundesratspräsidentin . – Ich freue

mich, nun Ihnen, Herr Präsident, lieber Herr Gauck, das
Wort erteilen zu dürfen .


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1822300200

Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Sehr geehrter

Herr Bundestagspräsident! Sehr geehrte Frau Bundes-
kanzlerin! Sehr geehrte Frau Bundesratspräsidentin!
Sehr geehrter Herr Präsident des Bundesverfassungs-
gerichtes! Sehr verehrte Abgeordnete! Verehrte Damen
und Herren! Es ist nun fünf Jahre her, als ich hier stand,

Präsidentin des Bundesrates Malu Dreyer






(A) (C)



(B) (D)


schon einmal vor Bundestag und Bundesrat . Damals als
Bundespräsident durfte ich jenen Eid leisten, den gleich
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hier ablegen
wird . Heute darf ich noch einmal zu Ihnen sprechen; ich
tue es diesmal als Bürger .

Als Erstes muss ich gestehen: Diese fünf Jahre als
Bundespräsident, sie sind wie im Flug vergangen . Aber
sie sind weitgehend anders verlaufen, als ich es mir vor-
gestellt habe . Einmal mehr hat sich bestätigt: Geschichte
ist nicht vorgezeichnet, sie ist auch nicht vorhersehbar .
Sie ist voller Überraschungen – im Guten, aber leider
auch im Bösen .

Ordnungen, die nahezu unverrückbar erschienen, sie
haben Risse bekommen oder lösen sich manchmal sogar
auf; Landesgrenzen gar werden nicht mehr von allen res-
pektiert, internationale Verträge, internationale Bündnis-
se und demokratische Spielregeln nicht mehr von allen
beachtet . An den Rändern Europas herrschen kriegeri-
sche Aktivitäten .

Die demokratische Ordnung, einst Sehnsuchtsziel vie-
ler Länder Europas und in der Welt, sie hat für manche
ihre Attraktivität verloren . Nationalistisches, autoritäres
und fundamentalistisches Denken hingegen hat an Boden
gewonnen . Demokratie und Freiheit sehen sich von in-
nen wie von außen unterschiedlich starken Gegenkräften
ausgesetzt . All dies hat viele verstört und auch erschreckt
und zu überraschenden Veränderungen in der politischen
Landschaft einzelner Länder geführt .

Doch gestatten Sie mir heute, nicht die Sorgen und
Ängste in den Mittelpunkt zu stellen . Vielmehr möchte
ich Sie alle teilhaben lassen an Eindrücken und Erfahrun-
gen aus meiner Zeit als Bundespräsident, die mein Ver-
hältnis zu diesem Land verändert haben, Eindrücke und
Erfahrungen, die in mir das Gefühl großer Dankbarkeit
ausgelöst haben . Bei den Auslandsreisen konnte ich, ähn-
lich wie Frank-Walter Steinmeier es schon beschrieben
hat, unser Land mit den Augen von Fremden erblicken
und es so neu schätzen lernen . Eine beglückende Erfah-
rung wurde dadurch bestärkt: Viele Länder orientieren
sich bei ihrem gesellschaftlichen Wandel an unserem
Modell des Rechtsstaates, an unserer demokratischen
Praxis mit dem umstandslosen und friedlichen Wechsel
von Regierungen, nicht zuletzt auch an unserem Sozial-
staat und unserer Sozialpartnerschaft mit ihren ausglei-
chenden Wirkungen auf die ganze Gesellschaft . Viele
Länder schätzen Deutschland auch als verlässlichen
Bündnispartner und als Stabilitätsanker in einer Welt der
Unwägbarkeiten . Länder mit eigener Diktaturerfahrung
orientieren sich auch an Deutschlands selbstkritischem
Umgang mit seiner Vergangenheit, am Umgang mit
Schuld und Versagen .

Ich habe oftmals, und zwar auf eine außerordentlich
berührende Weise, erlebt, wie Überlebende oder deren
Kinder, Enkel und Urenkel es wissen und spüren: Das
Deutschland von heute verurteilt und verfolgt Naziun-
geist und -methoden wie kaum ein anderes Land . An den
Stätten des einstigen Grauens, etwa im französischen
Oradour-sur-Glane, im griechischen Lingiades, im ita-
lienischen Sant’Anna di Stazzema, im tschechischen
Lidice, sind mir Menschen daher im Geist der Versöh-

nung und sogar mit Freundschaft begegnet . Ja, ehemalige
Opfer haben Vertrauen zu Deutschland entwickelt, und
Migranten wählen Deutschland als neue Heimat, darun-
ter Abertausende von Juden aus der ehemaligen Sowjet-
union . Für einen, der im Krieg geboren ist, ist dies eine
unglaubliche und wunderbare Erfahrung und Grund zu
tiefer Dankbarkeit .


(Beifall)


Meine Damen und Herren, mögen sich viele zu Recht
über das einstige Wirtschaftswunder und den wirtschaft-
lichen Aufschwung unseres Landes, der ja immer noch
anhält, beständig freuen und sich dafür begeistern, für
mich gibt es eine noch größere Leistung der alten und
neuen Bundesrepublik: Es ist das beglückende Demokra-
tiewunder, das unser Land bis heute prägt .


(Beifall)


Die dunklen Schatten der Vergangenheit begleiten uns
noch, aber sie dürfen auch die Erfahrungen und Prägun-
gen der letzten Jahrzehnte nicht überdecken, Erfahrun-
gen und Prägungen, die bestimmt wurden durch Teilha-
be am normativen Projekt des Westens . Wir haben allen
Grund, das Erreichte mit Freude und Dankbarkeit anzu-
schauen . Welch andere Ordnung hat den Menschen ähn-
lich viel Freiheit, Gerechtigkeit, Wohlstand und Frieden
gebracht? Welch andere Ordnung hat auch nur annähernd
so erfolgreiche Wege zu Korrekturen gefunden, Korrek-
turen, die nicht durch Gewalt oder Bürgerkrieg, sondern
durch Dialog und Gewaltlosigkeit erzielt wurden?

Nach meiner fünfjährigen Amtszeit ist mir noch mehr
als zuvor bewusst: Unsere Gesellschaft hat ein zuneh-
mend reflektiertes Selbstwertgefühl und Selbstbewusst-
sein gewonnen; sie hat sich damit selbst beschenkt . Denn
Vertrauen und Zutrauen zu sich selbst geben Kraft und
eröffnen Zukunft . Wir dürfen die sein, die sich mehr Ver-
antwortung zutrauen – in Deutschland, in Europa und in
der Welt .


(Beifall)


Schauen wir uns gegenwärtig um: Trotz der Verunsi-
cherung in letzter Zeit sind die meisten Bürger nicht in
Verzagtheit verfallen, haben sich nicht ins Private abge-
setzt oder sind gar in Wut und Hass verfallen . Ich habe in
den Jahren meiner Präsidentschaft unzählige Arbeiter und
Angestellte, Unternehmer und Wissenschaftler, Schüler,
Eingewanderte, Tausende von Ehrenamtlichen in den
verschiedensten Landesteilen gesprochen . Ich habe da-
bei die Gewissheit gewonnen: Diese Bürger verschließen
nicht die Augen vor den großen Problemen unserer Zeit .
Das Erstarken antidemokratischer Kräfte wird von ihnen
oftmals sogar als ein Weckruf empfunden . Weil das Be-
wusstsein von Bedrohungen wächst, wächst eben auch
das Rettende . Wir Bürger werden gerade wieder wacher,
und wir packen mehr an . Viele von uns lernen wieder –
und einige neu –: Frieden und Demokratie können gelin-
gen, weil wir sie wollen . Deshalb!


(Beifall)


Meine Damen und Herren, diese Kraft, diesen Optimis-
mus, diese Zukunftszugewandtheit einer starken Zivil-
gesellschaft spüren zu dürfen, das war eine der beglü-

Bundespräsident a. D. Dr. h. c. Joachim Gauck






(A) (C)



(B) (D)


ckendsten und eine mich stärkende Erfahrung dieser
Präsidentschaft . Ich bin zutiefst dankbar dafür .

Vor mir sehe ich sie, die Bürger, die sich den neuen
Entwicklungen in Gegenwart und Zukunft wirklich stel-
len und den Vereinfachern und Verführern mit der Kraft
der Vernunft begegnen . Sie widerstehen dem traditionel-
len politischen Extremismus, verschließen aber auch die
Augen nicht vor neuem Populismus und auch nicht vor
der Demokratieferne, dem Nationalismus oder Islamis-
mus unter Teilen unserer Einwanderer . Sie unterstützen
den Dialog mit unseren engeren und weiteren Nachbarn,
wollen aber auch nicht hilflos werden gegen Destabili-
sierungsversuche von außen, egal ob sie durch offene
Provokationen oder anonyme Cyberattacken erfolgen .
Demokraten wissen: Freiheit ist notfalls auch dadurch zu
verteidigen, dass sie für die Feinde der Freiheit begrenzt
wird . Unsere Gesellschaft hat dabei beständig abzuwä-
gen . Freiheiten dürfen zwar niemals vorschnell zur Ab-
wehr von Bedrohungen geopfert werden; sie dürfen aber
auch nicht zu lange dem Missbrauch überlassen bleiben .


(Beifall)


Manchmal führt das in ein Dilemma; das ist mir wohl
bewusst . Einfache Lösungen stehen eben oftmals nicht
zur Verfügung . Aber ich habe die Zuversicht – auch unter
den neuen Bedingungen und angesichts neuer Bedrohun-
gen –: Unsere Demokratie ist und bleibt wehrhaft .

Vor mir sehe ich Politiker wie Sie, auf die in Gegen-
wart und Zukunft besondere Verantwortung zukommt .
Es gilt, große Fragen zu klären, Fragen, die sich in einem
Geist der Furcht vor der Problemfülle oder der Furcht
vor den Wählern nicht lösen lassen . Ich schaue Sie noch
einmal an und denke an die kommenden Wahlkämpfe .
Schenken Sie denen, die mit Ressentiments und Hass auf
die Straßen strömen, nicht Ihre Furcht, und fürchten Sie
sich nicht vor den bösen Zwergen und Trollen, die im
Internet Hass und Niedertracht erzeugen!


(Beifall)


Sie sollen sich auch nicht fürchten vor den Scheinriesen,
die draußen, in der erweiterten politischen Welt, her-
umspringen und um Aufmerksamkeit buhlen .


(Beifall)


Politik, meine Damen und Herren, hat in der Vergan-
genheit der Bundesrepublik gerade dann Erfolg gezeigt,
wenn sie Kontroversen nicht scheute, wenn sie innova-
tiv und unter Umständen so weitsichtig war, dass sie in
einigen Fällen nicht auf Mehrheiten in der Bevölkerung
zählen konnte . Wir brauchen offene und erhellende De-
batten, und das Parlament ist ein guter Ort dafür .


(Beifall)


Wir brauchen, hier wie draußen, überall Menschen,
die sich immer wieder selbst ermächtigen, um unser Zu-
sammenleben zu stärken und zu verbessern . Wir brau-
chen eine Bürgergesellschaft, die gerade in der heutigen
Zeit Einheimische und Eingewanderte im Streben nach
dem demokratischen Rechtsstaat vereint . Denn ich weiß:
Es sind wir, die einheimischen und die eingewanderten
Bürger, die mit der Demokratie und der Freiheit in un-
serem Lande viel zu verteidigen haben . Wir wollen nicht

Hass, sondern Dialog, nicht Ausgrenzung, sondern Ein-
bindung und Mitwirkung aller .


(Beifall)


Ich will es ruhig mit dem diesem Anlass angemessenen
Pathos sagen: Wir wollen, dass sich all diese unterschied-
lichen Menschen, die hier leben, engagieren für das Land,
in dem wir gemeinsam leben: für unser Deutschland .


(Beifall)


Meine Damen und Herren, zum Schluss möchte ich
auch allen Menschen danken, die mir Vertrauen ge-
schenkt und mich als Bundespräsident auf verschiedene
Weise unterstützt haben . Dankbar bin ich für die frucht-
bare und faire Zusammenarbeit mit den anderen Ver-
fassungsorganen, dem Bundestag, dem Bundesrat, dem
Bundesverfassungsgericht, der Bundesregierung, und
insbesondere auch Ihnen, Frau Bundeskanzlerin Merkel .

Mein Dank gilt ferner all den Menschen im Land, die
mich zu Beginn ermutigt haben, die Präsidentschaft an-
zutreten, und die mich mit einem hohen Maß an Zustim-
mung begleitet haben .

Das gilt ganz besonders für einen Menschen, von dem
heute schon gelegentlich die Rede war: für die Frau, die
sich entschloss, sich von ihrem Beruf zu verabschieden
und an meiner Seite das Amt zu stärken . Ihre Offenheit,
ihre Neugier, ihre Klugheit und vor allem ihre Menschen-
freundlichkeit haben diese Präsidentschaft mitgeprägt
und mitgetragen . Daniela, zusammen mit vielen anderen
Menschen, aber auf meine ganz persönliche Weise sage
ich dir hier vor dieser Öffentlichkeit von Herzen: Danke!


(Beifall)


Das letzte Wort aber gilt Ihnen, Herr Bundespräsident
Frank-Walter Steinmeier . Lieber Herr Bundespräsident,
wir wissen es alle: Sie treten Ihr Amt in schwierigen
Zeiten an . Aber Sie haben diesem Land schon lange auf
vielfältige Weise gedient . Sie sind dabei Schwierigkeiten
nicht ausgewichen, sondern sind ihnen immer entschlos-
sen begegnet . Unzählige Menschen in unserem Land
sind Ihnen dafür dankbar .

Sie haben den Bürgern im Land nach Ihrer Wahl vor
allem Mut zugesprochen . Nun möchte ich es sein, der
Ihnen Mut zuspricht, Mut, aber auch Geduld, Freude und
Schaffenskraft . Gottvertrauen schadet dabei nicht, und
Zutrauen zu den Menschen wird zum Segen für das Land .


(Anhaltender Beifall – Die Anwesenden erheben sich)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1822300300

Sehr geehrter Herr Bundespräsident, lieber Herr

Gauck! Im Respekt vor Ihrer Leistung haben sich die
Mitglieder des Bundestages und des Bundesrates wie
die Mitglieder der Bundesversammlung am 12 . Februar
2017 von ihren Plätzen erhoben . Sie haben damit zum
Ausdruck gebracht, was ich heute für den Bundestag wie
für den Bundesrat vor der deutschen Öffentlichkeit aus-
drücklich bekräftigen möchte: Joachim Gauck hat sich
um unser Land verdient gemacht .


(Beifall)


Bundespräsident a. D. Dr. h. c. Joachim Gauck






(A) (C)



(B) (D)


Meine Damen und Herren, am 12 . Februar dieses Jah-
res hat die Bundesversammlung Herrn Dr . Frank-Walter
Steinmeier zum Bundespräsidenten der Bundesrepublik
Deutschland gewählt . Herr Dr . Frank-Walter Steinmeier
hat vor der Bundesversammlung die Wahl angenommen
und das Amt des Bundespräsidenten am vergangenen
Sonntag, dem 19 . März 2017, angetreten .

Nach Artikel 56 des Grundgesetzes leistet der Bundes-
präsident bei seinem Amtsantritt vor den versammelten
Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates den
vorgeschriebenen Eid . Ich bitte Sie, Herr Bundespräsi-
dent, zu mir zu kommen, um den Eid zu leisten . Dazu
bitten möchte ich auch die Frau Präsidentin des Bundes-
rates .


(Die Anwesenden erheben sich)


Herr Bundespräsident, ich halte in meinen Händen die
Urschrift des Grundgesetzes und darf Sie bitten, den in
der Verfassung vorgesehenen Eid zu leisten .


Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD):
Rede ID: ID1822300400

Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des

deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Scha-
den von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze
des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten ge-
wissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann
üben werde . So wahr mir Gott helfe .


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1822300500

Herr Bundespräsident, Sie haben den vorgesehenen

Eid geleistet . Ich gratuliere Ihnen im Namen des Deut-
schen Bundestages, des Bundesrates und des deutschen
Volkes herzlich und wünsche Ihnen für Ihre Amtszeit
Gottes Segen und viel Erfolg .


Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD):
Rede ID: ID1822300600

Vielen Dank, Herr Bundestagspräsident .


(Anhaltender Beifall)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1822300700

Niemand, Herr Bundespräsident, wäre überrascht,

wenn Sie nun auch etwas zu uns sagten . Jedenfalls möch-
te ich Sie dazu ausdrücklich einladen .


Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD):
Rede ID: ID1822300800

Herr Präsident des Deutschen Bundestages! Verehr-

te Mitglieder von Bundestag und Bundesrat! Verehrte
Gäste aus dem In- und Ausland! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Zunächst aber vor allem: Lieber
Joachim Gauck! Ich glaube, Sie selbst haben das ja in
den vergangenen Tagen gespürt: diese Welle von Sympa-
thie, die Sie getragen hat, bei Ihren Abschiedsreisen, bei
Ihren Auftritten überall .

Und Ihre gerade verklungenen Abschiedsworte haben
es den Deutschen noch mal eindrucksvoll vor Augen
geführt: Sie haben das Amt des Bundespräsidenten tief
geprägt und darüber unserem ganzen Land einen republi-
kanischen, einen aufgeklärten Stolz vermittelt .

Wenn nicht jeder wüsste, wofür der Bundespräsident
kraft unserer Verfassung steht – Sie haben es in Ihrer
Amtsführung gezeigt, mit Klugheit, mit Charme . Sie
haben die Einheit des Staates verkörpert und befördert
einschließlich all dessen – Sie haben es eben noch einmal
gesagt –, wofür unser Gemeinwesen steht und weltweit
geachtet wird: Freiheit und Demokratie, Rechtsstaatlich-
keit und Menschenrechte .

Lieber Herr Gauck, bei Ihrer Wahl vor fünf Jahren
haben Sie hier in diesen Plenarsaal gerufen: „Was für
ein schöner Sonntag!“ Mit Blick auf all das, was Sie ge-
meinsam mit Daniela Schadt für unser Land getan haben,
darf ich heute zu Ihrem Abschied auch sagen: Was für ein
wehmütiger Mittwoch! – Wir alle wollen Ihnen beiden
heute von Herzen noch einmal danken, und diese Dank-
barkeit bleibt .


(Beifall)


Aber nicht nur die Dankbarkeit bleibt . Freiheit,
Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte verteidigen –
auch die Aufgabe bleibt, umso mehr in einer Zeit, in der
alte Gewissheiten ganz offenbar ins Wanken geraten .
Viele Fragen: Wie fest sind die Fundamente der Demo-
kratie? Hat der Westen als Modell eine Zukunft? Wohin
treibt Europa?

Unser Blick geht zu den Wahlen in Frankreich, nach
Russland, in die USA, aber in diesen Tagen – und ich
glaube, das geht uns im Augenblick allen so – ganz be-
sonders in die Türkei! Viel steht auf dem Spiel für die
Türkei, aber auch für das Verhältnis der Türkei zu uns .
Wir versuchen, uns unser Urteil nicht allzu einfach zu
machen: Wer die Türkei vor 30 Jahren oder mehr bereist
hat, kam in ein rückständiges Land . Die Menschen waren
arm, Millionen verließen ihre Heimat auf der Suche nach
Arbeit in ganz Europa . Heute ist die Türkei ein anderes
Land . Sie hat eine Phase von wirtschaftlichem Aufbau
und Reformen erlebt und – ich glaube, niemand wird das
leugnen – zwischendurch auch eine Periode der Annähe-
rung an Europa . All das haben wir Deutsche gewürdigt
und unterstützt . Dem Weg, den die Türkei in zwei Jahr-
zehnten nahm, fühlten wir uns sogar besonders verbun-
den – auch wegen der vielen Menschen türkischer Ab-
stammung, die in Deutschland leben, arbeiten und hier
zu Hause sind .

Und weil das alles so ist, meine Damen und Herren,
schauen wir auf die Türkei von heute nicht mit Hochmut
und Besserwisserei . Wir wissen um die Lage der Türkei
in Nachbarschaft der großen Krisenregionen Irak und
Syrien . Wir verurteilen den versuchten Militärputsch im
vergangenen Sommer . Aber: Unser Blick ist von Sorge
geprägt, dass all das, was über Jahre und Jahrzehnte auf-
gebaut worden ist, gewachsen ist, zerfällt .

Diese Sorge ist es, die meinen Appell leitet: Präsident
Erdogan, gefährden Sie nicht das, was Sie mit anderen
selbst aufgebaut haben! Glaubwürdige Signale der Ent-
spannung sind willkommen . Aber: Beenden Sie die un-
säglichen Nazivergleiche! Zerschneiden Sie nicht das
Band zu denen, die wie wir Partnerschaft mit der Türkei
wollen! Respektieren Sie den Rechtsstaat, Freiheit von

Präsident Prof. Dr. Norbert Lammert






(A) (C)



(B) (D)


Medien und Journalisten! Und: Geben Sie Deniz Yücel
frei!


(Beifall)


Aber, meine Damen und Herren, machen wir es uns –
auch mit Blick auf unseren eigenen Kontinent – nicht zu
einfach! Die Anfechtung der freiheitlichen Demokratie
findet nicht nur bei anderen statt – weit westlich und öst-
lich der europäischen Grenzen . Die Wahrheit ist doch:
Eine neue Faszination des Autoritären ist inzwischen tief
nach Europa eingedrungen . Sosehr ich mich freue über
die niederländischen Nachbarn, sosehr ich mich darüber
freue, dass die Niederländer den Angriff auf ihre demo-
kratischen Traditionen in der Wahlkabine zurückgeschla-
gen haben: Ich finde, für übergroße Gelassenheit besteht
kein Anlass .

Geht uns das was an in Deutschland? Ich denke: ja .
Wir können uns nicht zurücklehnen, uns gegenseitig auf
die Schulter klopfen und Noten für andere verteilen . Wir
leben nicht auf einer Insel! Die weltweiten Trends wirken
auch bei uns . Ich glaube, auch unsere eigene Geschich-
te, insbesondere die des 20 . Jahrhunderts, hat uns nicht
wirklich immunisiert . Die Geschichte der Weimarer De-
mokratie – deren 100 . Jubiläum wir im nächsten Jahr be-
gehen – zeigt doch, dass die Demokratie weder selbstver-
ständlich ist noch mit Ewigkeitsgarantie ausgestattet ist,
dass sie, einmal errungen, auch wieder verloren gehen
kann, wenn wir uns nicht um sie kümmern .

„Die liberale Demokratie steht unter Beschuss“, so hat
es Joachim Gauck in seiner Abschiedsrede ausgedrückt .
Ja, sie steht unter lautem Beschuss von Radikalismus und
Terrorismus, vom Machthunger der Autokraten, die –
rund um die Welt – einer freien Zivilgesellschaft die Luft
zum Atmen rauben .

Aber es gibt auch das andere, die schleichende Ero-
sion von innen: durch Gleichgültigkeit, Trägheit und
Teilnahmslosigkeit oder, wie Präsident Lammert es in
der Bundesversammlung gesagt hat, die Anfechtung
durch jene, die Parlamente und demokratische Institu-
tionen nicht mehr als Ort für politische Lösungen sehen
wollen, sondern als Zeitverschwendung diskreditieren –
und das politische Personal gleich mit .

Populisten erhitzen die öffentliche Debatte durch ein
Feuerwerk von Feindbildern, laden zum Kampf ein ge-
gen das sogenannte Establishment und verheißen eine
blühende Zukunft nach dessen Niedergang .

Es gibt – das ist meine Sicht – in Deutschland kei-
nen Grund für Alarmismus; das nicht . Aber ich sage mit
Blick auf das, was sich da am Horizont auftut, mit ganz
großer Ernsthaftigkeit, meine Damen und Herren: Wir
müssen über Demokratie nicht nur reden – wir müssen
wieder lernen, für sie zu streiten! Darum geht es .


(Beifall)


Nun ist Streiten für Demokratie nicht Sache der Po-
litik allein . Aber Politik muss verstehen, dass die Zeiten
besondere sind; Zeiten, in denen alte Gewissheiten ver-
schwunden und, jedenfalls bislang, neue nicht an ihre
Stelle getreten sind; Zeiten, in denen internationale Kon-
flikte Sorge um den Frieden und auch um die Sicherheit

im eigenen Lande auslösen; Zeiten, in denen Eltern sich
fragen, ob es ihren Kindern noch genauso gut gehen wird
wie ihnen selbst .

Wir leben in Zeiten des Übergangs . Wie die Zukunft
wird, darauf gibt es nicht nur eine Antwort . Da ist Zu-
kunft nicht „alternativlos“ . Im Gegenteil: Die Zukunft
ist offen, und sie ist überwältigend ungewiss . Diese Of-
fenheit, die bei den einen Hoffnung auslöst, jagt anderen
Angst ein . „Wer von Angst getrieben ist, vermeidet das
Unangenehme, verleugnet das Wirkliche und verpasst
das Mögliche“, so hat Heinz Bude geschrieben .

Ich glaube auch: Der Ängstliche ist anfällig für die
Lockrufe jener, die immer mit ganz einfachen Antworten
zur Stelle sind . Mir scheint: Das Angebot an einfachen
Antworten steigt im Wochenrhythmus . Dabei könnten
wir doch eigentlich wissen: Die einfachen Antworten
sind in der Regel keine Antworten . Wer soll denn glau-
ben, dass in einer Welt, die komplizierter geworden ist,
die Antworten einfacher werden? Wer soll denn glauben,
dass nach dem blutigen 20 . Jahrhundert und den Lehren
aus zwei Weltkriegen ausgerechnet die alten Muster von
Abschottung und nationaler Eiferei die Welt friedlicher
machen?

Die neue Faszination des Autoritären, auch die in
Teilen Europas, ist nach meiner Überzeugung am Ende
nichts anderes als die Flucht in die Vergangenheit aus
Angst vor der Zukunft. Ich finde, das kann und das darf
nicht unser Weg in diesem Land, in Deutschland, sein .


(Beifall)


Ich kenne Weltregionen, in denen die Zukunft weit
weniger gewiss ist als bei uns . Ich denke an meine letzte
Begegnung mit Shimon Peres vor seinem Tod im vergan-
genen Jahr . Wir beide waren unterwegs zu einem Besuch
der Hebräischen Universität in Jerusalem – für mich bis
heute ein ganz und gar unvergesslicher Tag! Dort in der
Nachmittagssonne unter freiem Himmel auf dem Sco-
pusberg waren wir zu Gast, als die stolzen Absolven-
tinnen und Absolventen der Universität ihre Zeugnisse
bekamen . Nach der Veranstaltung standen wir mit einer
kleinen Gruppe von Studenten zusammen und diskutier-
ten . In dieser Gruppe gab es eine junge Frau, die fragte:
„Verehrter Shimon Peres, was wird uns die Zukunft brin-
gen?“ Statt einer langen Antwort hat Shimon Peres ihr
eine Geschichte erzählt . „Die Zukunft“, sagte Peres, „ist
wie ein Kampf zweier Wölfe . Der eine ist das Böse, ist
Gewalt, Furcht und Unterdrückung . Der andere ist das
Gute, ist Frieden, Hoffnung und Gerechtigkeit .“ Die jun-
ge Frau hörte zu, schaute fasziniert und fragte dann ganz
gespannt zurück: „Und? Wer gewinnt?“ Peres lächelte
und sagte: „Der, den du fütterst .“

Du hast es in der Hand! Wir haben es in der Hand!
Das war seine Botschaft an die jungen Leute . Und er hat
eigentlich recht damit: Zukunft ist kein Schicksal, dem
Gesellschaften ausgeliefert sind – erst recht nicht die
demokratischen . Wer, wenn nicht wir Deutsche, kann
davon ein glückliches Zeugnis geben? Wer, wenn nicht
wir, hat erfahren, dass nach zwei Weltkriegen Frieden
werden kann und nach Jahren der Teilung Versöhnung?
Wer, wenn nicht wir, hat erfahren, dass nach der Raserei

Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier






(A) (C)



(B) (D)


der Ideologien so etwas einkehren kann wie politische
Vernunft?

Es ist nicht alles gut in unserem Land, aber vieles ist
bei uns geglückt, und das miteinander . Deshalb haben
wir allen Grund, zuallererst zu sagen: Lasst uns bewah-
ren, was gelungen ist in diesem Land, meine Damen und
Herren!


(Beifall)


Aber natürlich – Sie ahnen es –: Bewahren wird nicht
genügen . Wir machen doch alle die Erfahrung: Das ge-
rade Erreichte bleibt immer hinter dem Besseren zurück
und immer weit weg von dem Erträumten . Haben wir
Probleme gelöst, stellen sich bald die nächsten, oder –
auch das erfahren wir – die alten Probleme stellen sich in
neuem Gewand . Das mag den einen oder anderen frust-
rieren . Aber wir wissen: Das Gebäude der Demokratie ist
eben nie ganz vollständig errichtet . Demokratie ist Herr-
schaft auf Zeit und liefert auch nur Lösungen auf Zeit .

Eine kluge Frau, eine ehemalige Kollegin, aus Indien
hat mir in einem Gespräch darüber mal den tröstenden
Rat gegeben: In der Rechtschreibung der Politik gibt es
keinen Punkt, sondern immer nur das Komma . – Die
Frage ist: Muss uns das eigentlich frustrieren, oder ist
das nicht eigentlich die Stärke von Demokratie? Demo-
kratie ist die einzige Staatsform, die Fehler erlaubt, weil
die Korrekturfähigkeit mit eingebaut ist . Die Stärke von
Demokratien liegt nach meiner Überzeugung nicht in ih-
rem Sendungsbewusstsein, sondern in ihrer Fähigkeit zur
Selbstkritik und zur Selbstverbesserung .


(Beifall)


Wo denn sonst als in der Demokratie können so unter-
schiedliche Interessen von Alt und Jung, Stadt und Land,
Wirtschaft und Umwelt friedlich zum Ausgleich gebracht
werden? Wo denn sonst als in der Demokratie begegnen
sich Bürger unabhängig von ihrer Herkunft als Gleiche
und Gleichberechtigte? Und wo sonst als in der Demo-
kratie, wo Minderheiten Stimme und Gehör finden, soll
uns etwa die gewaltige Aufgabe der Integration gelin-
gen? Nur in der Demokratie kriegen wir das hin . Das ist
ihre Stärke, und deshalb brauchen wir sie, meine Damen
und Herren .


(Beifall)


Defizite benennen, um Lösungen ringen – das ist an-
strengend . Demokratie ist eine anstrengende Staatsform,
und sie ist zugleich ein Wagnis: Wir trauen einander zu,
uns selbst zu regieren . Herrschaft aus dem Volk, durch
das Volk und für das Volk – so hat es uns ein großer ame-
rikanischer Präsident gelehrt, ein Republikaner übrigens .
Das mag dem einen oder anderen zu idealistisch klingen,
und es ist idealistisch . Aber was dahintersteckt, ist doch
die tiefe Einsicht, dass die Flucht vor den Anstrengun-
gen der Demokratie nicht etwa zu besserer Politik führt,
ganz sicher nicht, auch und gerade nicht von denen, die
von sich behaupten, im Namen des „eigentlichen Vol-
kes“ oder der schweigenden Mehrheit zu sprechen gegen
„die da oben“ . Demokratie kennt das Volk aber nur in
seiner ganzen Vielfalt . Deshalb: Wer heute in Deutsch-
land seinen Sorgen Luft macht und dabei ruft „Wir sind
das Volk!“, der darf das gern – aber der muss auch hin-

nehmen, dass andere Leute mit anderen Ansichten diesen
stolzen Satz genauso beanspruchen,


(Beifall)


so wie ich das vor ein paar Monaten in Dresden gesehen
habe, wo eine bunte Truppe junger Leute ein Plakat in
die Höhe hielt, auf dem ganz gelassen stand: „Nö – wir
sind das Volk“ .


(Heiterkeit und Beifall)


Genauso ist es, meine Damen und Herren . In der De-
mokratie tritt das Volk eben nur im Plural auf und hat
viele Stimmen . Nie wieder darf eine politische Kraft so
tun, als habe sie allein den Willen des Volkes gepachtet
und alle anderen seien Lügner, Eindringlinge oder Ver-
räter . Deshalb ist meine Bitte: Wo immer solche Art von
Populismus sich breitmacht – bei uns im Land oder bei
unseren Freunden und Partnern –, da lassen Sie uns ge-
meinsam vielstimmig dagegenhalten!


(Beifall)


Herr Gauck, Sie haben es angedeutet: Wir navigieren
zurzeit in unbekannten Gewässern . Ob wir nach Os-
ten oder nach Westen schauen: Wir steuern da auf viel
unkartiertes Gelände zu . Oftmals werden wir Antworten
geben müssen, ohne uns an andere anlehnen zu können .
Das verlangt Selbstbewusstsein . Aber noch viel mehr
verlangt es Mut, Mut, nach vorn in Richtung Zukunft
zu denken, nicht darauf zu hoffen, die Antworten in der
Vergangenheit zu finden, Mut, unsere Geschicke selbst
in die Hand zu nehmen – ohne, Herr Präsident, den Kai-
ser oder den „großen Bruder“ oder selbsternannte „starke
Männer“. Ich finde: Mut ist das Lebenselixier der De-
mokratie, so wie die Angst der Antrieb von Diktatur und
Autokratie ist .


(Beifall)


Deshalb, meine Damen und Herren: Die Staatsform
der Mutigen – das ist die Demokratie . Die Demokratie
braucht diesen Mut auf beiden Seiten: auf der Seite der
Regierten ebenso wie auf der Seite der Regierenden .
Denn nur wer selber Mut hat, kann auch andere ermuti-
gen, und nur der kann Mut erwarten .

Politik tut sich keinen Gefallen, wenn sie über Sor-
gen der Menschen, über politische Fehlentwicklungen,
über offene Fragen nicht ebenso offen redet . Wir leben in
hochpolitischen Zeiten . Das verlangt den Mut, zu sagen,
was ist und was zu tun ist . Wie gelingt Integration? Wie,
lieber Herr Gauck, bringen wir das überein: unser weites
Herz und die endlichen Möglichkeiten? Wie erneuern wir
das Versprechen vom Aufstieg durch Bildung, das mich
persönlich und eine ganze Generation auf den Weg ge-
bracht hat? Wie erhalten wir Hoffnung dort, wo im Dorf
Schule, Arztpraxis, Friseurladen und Tankstelle längst
geschlossen sind und jetzt auch noch die letzte Busver-
bindung gekappt wird?

Wie schaffen wir ethische Standards auch in der Wirt-
schaft, die das Oben und Unten in der Gesellschaft ver-
bunden halten, damit oben nicht nach Regeln gehandelt
wird, die von den Menschen als unanständig empfunden
werden? Wo Abfindungen und Bonuszahlungen nur noch
„Fassungslosigkeit“ bei den Menschen hervorrufen – so

Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier






(A) (C)



(B) (D)


hat gerade in der Zeit einer der großen deutschen Wirt-
schaftsführer geschrieben –, sollten wir die Debatte da-
rüber nicht „vorschnell als Neiddebatte abtun“. Ich finde:
Recht hat er . Es geht um das gemeinsame Interesse, dass
das Vertrauen in unsere wirtschaftliche und politische
Ordnung nicht durch das Handeln weniger insgesamt
Schaden nimmt .

Der Bundespräsident hat dazu keine Vorschläge zu
machen . Aber die lebendige Debatte darüber – davon bin
ich überzeugt – braucht die Gesellschaft . Führen wir sie
nicht, dann – das sage ich voraus – werden Populisten
unterschiedlicher Couleur sie am Ende gegen die Demo-
kratie wenden . Deshalb sind wir alle miteinander gefragt,
meine Damen und Herren .


(Beifall)


Das geht nicht von allein . Dafür brauchen wir eine
Kultur des demokratischen Streits . Selten werden wir
alle derselben Meinung sein . Umso wichtiger ist, dass
wir das gemeinsame Fundament von Demokratie pfle-
gen, aber die Auseinandersetzung über Ideen, Optionen
und Alternativen nicht scheuen . Wir brauchen das Dauer-
gespräch unter Demokraten, wo nötig, auch kontrovers .
Die tägliche Selbstbestätigung unter Gleichgesinnten
bringt uns nicht weiter . Bevor wir uns daran gewöhnen,
nur noch mit denen zu reden, die gleicher Meinung sind,
frage ich: Warum nicht mal mit denen sprechen, die uns
Facebook nicht als Kontakt vorschlägt? Warum nicht
überhaupt mal den Blick vom Smartphone heben und ins
wirkliche Leben schauen?


(Beifall)


Ich will, dass diese Gesellschaft miteinander im Ge-
spräch bleibt . Der Raum der Demokratie, das ist einer, in
dem – ja – viele zu Wort kommen müssen, in dem es aber
auch ein paar geben muss, die zuhören .

Ich will, dass wir uns rauswagen aus den Echokam-
mern, auch aus mancher Selbstgewissheit der intellektu-
ellen Ohrensessel und erst recht aus der Anonymität des
Netzes, wo die Grenze zwischen dem Sagbaren und dem
Unsäglichen immer mehr schwindet, wo inzwischen eine
Sprache aggressiver Maßlosigkeit herrscht und wo täg-
lich immer nur noch neue Erregungswellen erzeugt wer-
den . Und vor allem, meine Damen und Herren, will ich
eines: dass wir in Deutschland festhalten an dem Unter-
schied von Fakt und Lüge . Wer das aufgibt, der rührt am
Grundgerüst von Demokratie .


(Beifall)


Vor einigen Monaten fragte mich ein prominentes Mit-
glied dieses Hauses – wohlgemerkt ganz wohlwollend –:
„Herr Steinmeier, nach so vielen Jahren in der Politik –
können Sie da eigentlich neutral sein?“ Die ehrliche Ant-
wort ist: Nein, ich bin nicht neutral . Überparteilich – ja,
wie es das Amt verlangt . Aber ich glaube, neutral darf ich
gar nicht da sein, wo es um das ganz Grundsätzliche geht .
Deshalb sage ich Ihnen: Ich werde parteiisch sein, partei-
isch, wenn es um die Sache der Demokratie selbst geht .


(Beifall)


Partei ergreifen werde ich auch für Europa . Ich freue
mich über die vielen, vor allen Dingen jungen Menschen,

die in diesen Tagen auf die Plätze gehen und uns den Puls
von Europa wieder spüren lassen .


(Beifall)


Die, die sich da versammeln, erinnern uns vielleicht da-
ran, wie viel gerade wir Deutsche dem vereinten Europa
zu verdanken haben: die Rückkehr unseres Landes in die
Weltgemeinschaft, Wiederaufbau, Wachstum, Wohlstand
und vor allem 70 Jahre Frieden . Das verdanken wir den
Müttern und Vätern Europas, die nach 1945 den Mut hat-
ten, die richtigen Lehren aus Jahrhunderten von Kriegen
zu ziehen .

Mut zu Europa, den brauchen wir wohl auch heute . Es
stimmt ja: Europa ist weit davon entfernt, perfekt zu sein .
Das wissen wir auch nicht erst seit dem Brexit . Wir dür-
fen nichts schönreden, was schlecht läuft . Und selbstver-
ständlich ist dringend Zeit für mutige Reformen . Dabei
muss vielleicht auch nicht jedes Detail des institutionell
verfassten Europas mit Zähnen und Klauen verteidigt
werden . Aber denen, die heute meinen: „Ach, ich habe
dieses Europa über; lieber zurück hinter die vertrauten
Butzenscheiben der Nation“, denen sage ich: Das ist zu
einfach, und das ist der falsche Weg .


(Beifall)


Jean-Claude Juncker hat jüngst gesagt: „Wir haben
nicht das Recht, gegeneinander patriotisch zu sein .“ Ich
sehe es genauso: Aufgeklärter Patriotismus und Einste-
hen für Europa, das geht Hand in Hand .

Denn – auch wenn wir, meine Generation, es nicht so
nennen – für viele unserer Kinder ist Europa längst ein
„zweites Vaterland“ geworden . Deshalb lassen Sie uns
gemeinsam Partei ergreifen – für ein besseres Europa, für
eines, das für die politische Freiheit steht, das sein Ge-
wicht einsetzt für eine friedlichere und gerechtere Welt,
für gute Nachbarschaft! Dafür will ich gerne streiten –
und das mit möglichst vielen von Ihnen, meine Damen
und Herren .


(Beifall)


All die Mutigen, all die, die Partei ergreifen für Demo-
kratie, werden jedenfalls den Bundespräsidenten dabei
an ihrer Seite wissen .

Meine Antrittsbesuche in unseren Bundesländern wer-
den eine Deutschlandreise ganz besonderer Art sein: Ich
will an die Orte der deutschen Demokratie gehen – und
vor allen Dingen hin zu den Menschen, die sie leben und
beleben, die, um auf Shimon Peres zurückzukommen,
dem guten Wolf das Futter geben . Ich will zu denen,
die nach ihrem wohlverdienten Feierabend in Gemein-
deräten um das Schwimmbad oder die Bücherei in der
Nachbarschaft ringen . Ich will zu den kleinen und mittel-
ständischen Unternehmen, die auf den Märkten der Welt
bestehen müssen, aber zugleich Verantwortung für ihre
Mitarbeiter, für ihre Stadt, für ihre Region zeigen, zu den
Betriebsräten, die geholfen haben, dass Unternehmen
auch Krisenjahre überstanden haben, und darauf achten,
dass es fair zugeht im Betrieb . Ich will zu denen, die in
Kindergärten vorlesen oder im Hospiz Sterbende beglei-
ten .

Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier






(A) (C)



(B) (D)


Und wenn ich allein alle diejenigen, die sich bis zur
Erschöpfung für Flüchtlinge engagiert haben, mit einem
Orden auszeichnen wollte – das würde ich gern; glauben
Sie es mir –, dann wäre allerdings jetzt schon klar, womit
ich die nächsten fünf Jahre vollauf beschäftigt wäre .


(Beifall)


Doch, meine Damen und Herren, das muss ich gar nicht .
Denn wenn ich mit Feuerwehrleuten, Rotkreuzhelfern,
Jugendtrainern oder Kirchenvertretern spreche, höre ich:
Die warten nicht auf Orden, sondern die sagen mir: Wo-
rum’s geht, ist nicht, was du für dich selber rausholst,
sondern das, was du für andere reingibst . – Das sagt nicht
nur einer, das sagen nicht zehn, das sagt nicht eine Min-
derheit – es sind viele Millionen in unserem Land, die
sich um mehr kümmern als nur um sich selbst, die Ver-
antwortung übernehmen für die Nachbarschaft, das Dorf,
die Region, die helfen, wo Hilfe nötig ist . Nichts, glaube
ich, ist wertvoller als das, und das macht mich so stolz
auf unser Land und seine Menschen .


(Beifall)


Und weil das so einzigartig ist – wenn man ein biss-
chen herumgekommen ist und sich andere Länder ange-
schaut hat, weiß man das – und uns das von vielen ande-
ren Ländern unterscheidet, bin ich mir so sicher, dass wir
den Stürmen der Zeit trotzen werden und unseren Kin-
dern eine lebenswerte Zukunft schenken werden, meine
Damen und Herren .


(Beifall)


1949, am Tag, als unsere Verfassung in Kraft trat, sag-
te Theodor Heuss: Mit dem Grundgesetz ist „ein ganz
kleines Stück festen Bodens für das deutsche Schicksal
geschaffen“ . – Heute ist dieses Grundgesetz ein breites
Fundament für das wiedervereinigte Deutschland .

1969 sagte Gustav Heinemann:

Wir stehen erst am Anfang der ersten wirklich frei-
heitlichen Periode unserer Geschichte . Freiheitliche
Demokratie muß endlich das Lebenselement unse-
rer Gesellschaft werden .

Heute ist sie uns ganz und gar selbstverständlich gewor-
den .

1990, im Jahr der Einheit, sagte Richard von Weiz-
säcker: Nun gilt es, in der Freiheit zu bestehen . Das ist

schwer . – Heute setzen andere, die anderswo in Unfrei-
heit leben, ihre Hoffnung in uns .

Meine Damen und Herren, welch ein weiter, welch ein
erstaunlicher Weg! Ist es nicht eigentlich ganz wunder-
bar, dass unser Land, ein Land mit dieser Geschichte, zu
einem Anker der Hoffnung in der Welt geworden ist?


(Beifall)


Ist es nicht ein unschätzbares Glück, meine Damen und
Herren, dass wir – unsere Generationen – das erleben
dürfen?

Wer also, wenn nicht wir, ist gefragt, mutig für die De-
mokratie zu streiten, wenn sie heute weltweit angefoch-
ten wird . Das ist der Mut, von dem ich spreche, das ist
der Mut, den wir brauchen: keinen Kleinmut – dafür gibt
es keinen Grund –, keinen Hochmut – davon hatten wir
in Deutschland genug –, sondern den tatkräftigen, den
lebenszugewandten Mut von Demokraten . Den brauchen
wir!

Herzlichen Dank .


(Langanhaltender Beifall)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1822300900

Ich danke Ihnen, Herr Bundespräsident . – Für Ihre

Amtszeit wünsche ich Ihnen noch einmal im Namen des
ganzen Hauses die Autorität dieses Amtes, das Vertrauen
der Menschen und eine glückliche Hand .

Zur Bekräftigung unserer gemeinsamen Überzeugun-
gen, unserer Prinzipien, unserer Erfahrungen, unserer
Erwartungen und guten Wünsche an alle, die für dieses
Land Verantwortung tragen, singen wir nun gemeinsam
die Nationalhymne .


(Nationalhymne)


Bevor ich die gemeinsame Sitzung des Bundestages
und des Bundesrates schließe, muss ich daran erinnern,
dass dies zwar ein Festtag, aber kein Feiertag ist .

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages für heute, 14 .30 Uhr, ein . Dann geht es mit der
Regierungsbefragung weiter .

Die Sitzung ist geschlossen .


(Beifall)