Gesamtes Protokol
Meine Herren Bundespräsidenten! Frau Bundeskanz-lerin! Frau Bundesratspräsidentin! Herr Präsident desBundesverfassungsgerichts! Exzellenzen! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich zurgemeinsamen Sitzung des Deutschen Bundestages unddes Bundesrates . Ich freue mich über die vielen Ehren-gäste, darunter frühere Bundespräsidenten und Parla-mentspräsidenten und eine stattliche Anzahl von amtie-renden Richtern des Verfassungsgerichts .Meine Damen und Herren, lebten wir noch in feudalenZeiten, wäre heute Feiertag .
Vor genau 130 Jahren, 1887, wurde zum letzten Mal derGeburtstag von Kaiser Wilhelm I . am 22 . März gefeiert,übrigens nicht mit einem gesetzlich verankerten arbeits-freien Tag, aber doch mit einem Feiertag mit nationalemAnspruch, der mit Militärparaden und Festansprachenbegangen wurde . Und in den Schulen wurden Gedichtevorgetragen wie dieses:
Der Kaiser ist ein lieber Mann er wohnet in Berlin und wär das nicht so weit von hier so ging ich heut noch hin .Nun ist uns der Kaiser abhandengekommen,
aber pünktlich zum heutigen Ereignis haben Bundestagund Bundesrat in einer gemeinsamen Kraftanstrengungdas Wetter organisiert, das man früher wohl als Kaiser-wetter bezeichnet haben soll .
Wir leben heute in republikanischen und vergleichs-weise prosaischen Zeiten, weswegen ich darauf ver-zichte, die weiteren Strophen dieser Kaiserhuldigungoder meine Begrüßung in Reimform vorzutragen . Nichtverzichten möchte ich aber darauf, neben den Vertreternder Verfassungsorgane und den zahlreichen Ehrengästenganz besonders herzlich Daniela Schadt und Elke Büden-bender zu begrüßen,
die, um es in gutem Deutsch zu sagen, ersten Damen un-seres Landes, die im angelsächsischen System als FirstLadies bezeichnet werden .Sie nehmen ein Amt wahr, das es in unserer Verfas-sungsordnung gar nicht gibt, wohl aber in der politischenund gesellschaftlichen Wirklichkeit . Damit sind vielfälti-ge Verpflichtungen, Aufgaben, Erwartungen und Ansprü-che verbunden, für die sie weder kandidiert haben nochgewählt wurden, aber die sie – meist unauffällig – mitgroßem Engagement, Charme und stiller Größe wahrge-nommen haben oder wahrnehmen werden .Dafür möchte ich Ihnen, Frau Schadt, ganz herzlichdanken – und ich darf dies heute Morgen ausnahmsweisenicht nur für den Deutschen Bundestag, sondern auch fürden Bundesrat zum Ausdruck bringen, deren Präsidentinim Anschluss an meine Begrüßung die Arbeit des schei-denden Bundespräsidenten würdigen wird .
Ihnen, Frau Büdenbender, gelten unsere guten Wün-sche für die bevorstehenden Jahre . Wir wünschen Ihnenzusammen mit dem Herrn Bundespräsidenten eine er-folgreiche Amtszeit, in der Sie beide hoffentlich immerwieder auch Freude am eigenen Land und seiner Vertre-tung nach innen wie nach außen haben mögen .Dieses Amt – so hat es der erste BundespräsidentTheodor Heuss bei seiner Vereidigung 1949 zum Aus-druck gebracht – hat den Sinn, „über den Kämpfen, diekommen, die nötig sind, die ein Stück des politischen Le-bens darstellen, nun als ausgleichende Kraft vorhandenzu sein“ .Unseren Dank und Respekt an Sie, verehrter HerrBundespräsident Gauck, verbinden wir mit den bestenWünschen an Ihren Nachfolger, Herrn Bundespräsiden-ten Steinmeier, in den kommenden Jahren bei den unver-
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meidlichen Auseinandersetzungen ebenso kraftvoll wieausgleichend zu wirken .Vielen Dank für die Aufmerksamkeit .Nun hat die Präsidentin des Bundesrates, Frau Minis-terpräsidentin Dreyer, das Wort .
Malu Dreyer, Präsidentin des Bundesrates:Sehr geehrte Herren Präsidenten! Sehr geehrte FrauBundeskanzlerin! Exzellenzen! Meine sehr verehrtenHerren und Damen! Diese Stunde bietet die wunderbareGelegenheit, unserem neuen Präsidenten Frank-WalterSteinmeier die besten Wünsche mit auf den Weg zugeben und unserem scheidenden Präsidenten JoachimGauck von Herzen Danke zu sagen .Lieber Herr Dr . Steinmeier, lieber Frank-Walter, imNamen des Bundesrates und des Bundestages, aber auchpersönlich darf ich Ihnen sehr herzlich zu Ihrer Wahl zumBundespräsidenten gratulieren . Wir freuen uns auf Sie alszwölften Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland .
Sehr geehrter, lieber Präsident Gauck, Sie haben inden letzten fünf Jahren mit Ihrer klaren und herzlichenArt das Vertrauen der Menschen in unserem Land, aberauch weit über die Grenzen hinaus gewonnen . Im bestenSinne haben Sie gezeigt, was die Kraft des klugen Wortesvermag . Sie haben so dem Amt des Bundespräsidentenim In- und Ausland Ansehen und Würde verliehen . Dafürgebührt Ihnen unser aller Dank .
Sehr verehrter Herr Präsident Gauck, schon als Siedas höchste Staatsamt übernahmen, bestimmte das Wort„Krise“ die politische Agenda und auch das Lebensge-fühl vieler Menschen in unserem Land . Die Folgen derFinanzmarktkrise und die enormen Staatsschulden meh-rerer europäischer Länder nährten massive Zweifel amProjekt Europa: Kann die Europäische Union wirklichdie Herausforderungen einer globalisierten Welt besserbewältigen als ein Nationalstaat alleine? Ihre Antwort,lieber Herr Bundespräsident, war eindeutig, als Sie indiesem Hohen Hause Ihre Antrittsrede hielten . Sie sag-ten: „Wir wollen mehr Europa wagen .“ Damals habenwir uns wohl alle noch nicht vorstellen können, wie sehrein freies, ein solidarisches Europa tatsächlich unterDruck geraten würde .Heute erinnern wir in besonderer Weise an die Opferder Terroranschläge in Brüssel, die vor genau einem Jahrdurch Selbstmordattentäter des „Islamischen Staates“ ge-tötet wurden . Wir sind als Europäer gefordert, alles zuunternehmen, um Terror und Gewalt zu verhindern undunsere Werte zu verteidigen . Umso wichtiger scheint mirdeshalb, was Sie uns, verehrter Präsident Gauck, in Ihrergroßen Europarede ein knappes Jahr später mit auf denWeg gegeben haben:Europäische Identität definiert sich nicht durchnegative Abgrenzung vom anderen . EuropäischeIdentität wächst mit dem Miteinander und der Über-zeugung der Menschen, die sagen: Wir wollen Teildieser Gemeinschaft sein, weil wir die gemeinsa-men Werte teilen .Mit Sorge beobachten wir, dass heute auch in Deutsch-land populistische Kräfte stark werden, die einem neuenNationalismus das Wort reden, die die Geschichte alsSiegergeschichte schreiben wollen und gegen alles Frem-de hetzen . Aber das wollen die Menschen mehrheitlichnicht . Die Wahl in den Niederlanden war ein klarer Sieggegen Fremdenfeindlichkeit und für Europa .
Sie, verehrter Herr Gauck, haben populistischen Hassstets einen „Ansporn“ genannt, noch entschiedener fürdie demokratische Freiheit einzutreten . Diese Leiden-schaft für die Freiheit, sie entspringt Ihrer Erfahrung vonmassivem Unrecht, von Unfreiheit und Enge, die Sie inder DDR erlebt haben . Daraus haben Sie den Trotz einesevangelischen Pastors entwickelt, der als Bürgerrechtlerin der Friedlichen Revolution die Menschen geradezubegeistert hat . Sie waren Abgeordneter der ersten freigewählten Volkskammer der DDR und mit der Wieder-vereinigung Mitglied des Deutschen Bundestages – undhaben als Beauftragter der Stasi-Unterlagen-Behördewesentlich dazu beigetragen, die Gewalt des DDR-Staa-tes aufzudecken . Mit all Ihrer Kraft kämpfen Sie gegenVergessen und für Demokratie .
Es bleibt das Besondere Ihrer Präsidentschaft, dasswir mit Ihnen noch einmal das Geschenk der deutschenEinigung, die große Bedeutung freier Wahlen und denGeschmack von Freiheit erleben durften, ja, dass wirselbst noch einmal staunen durften über das „Wunder derDemokratie“ . Sie haben das kostbare Gefühl von Befrei-ung mit uns geteilt – und mit Ihrer Begeisterung auchuns bewegt . Wir brauchen diese demokratische Leiden-schaft . Der Wert der Freiheit darf nicht durch Gewöh-nung verkümmern . Wir dürfen die Kraft der Emotionennicht denen überlassen, die unsere offene Gesellschaftbekämpfen .
Sehr geehrter Herr Präsident Gauck, auch im höchstenAmt des Staates haben Sie Schwieriges offen ausgespro-chen und damit eben auch Debatten angestoßen, etwa alsSie forderten, die Bundesrepublik solle sich in internati-onalen Konflikten, vor allem bei der Krisenprävention,„früher, entschiedener und substanzieller einbringen“ .Wenn Sie so die Macht des Wortes nutzten, haben nichtalle Beifall geklatscht . Für Sie aber ist das offene WortAusdruck der Überzeugung, dass Freiheit immer auchVerpflichtung bedeutet.
„Die Freiheit der Erwachsenen heißt Verantwortung .“ –Dieser Satz, so wünschen Sie sich, möge mit Ihnen ver-bunden bleiben .Verantwortung zu übernehmen, ist besonders wichtig,wenn es keine vorgezeichneten Wege gibt . Vieles ist der-zeit im Umbruch . Sie haben mit Blick auf die digitaleRevolution sogar von einem „Epochenwechsel“ gespro-Präsident Prof. Dr. Norbert Lammert
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chen . Im Umbruch ist auch unsere Gesellschaft, die sehrviel pluraler geworden ist . Sie haben uns dazu aufgefor-dert, diese Vielfalt als Reichtum zu begreifen . Hartnäckigund charmant werben Sie für ein gutes Miteinander –ohne zu verschweigen, dass Vielfalt auch anstrengend ist .In Ihrer Abschiedsrede haben Sie zudem darauf hin-gewiesen, dass die entscheidende Trennlinie in unsererDemokratie nicht zwischen Alteingesessenen und Neu-bürgern oder zwischen Christen, Muslimen, Juden undAtheisten verläuft, sondern zwischen Demokraten undNichtdemokraten .
Meine Herren und Damen, wir müssen also alles tun,um unsere Demokratie stark zu machen . Mit unserer fö-deralen Ordnung haben wir alle Chancen dazu . Unserföderaler Staat achtet die Verschiedenheit der Lebensver-hältnisse, ohne ihre Gleichwertigkeit aus dem Blick zuverlieren: Menschen in Berlin-Kreuzberg beschäftigt jamanchmal anderes als Menschen in der Eifel . Und dieSee in Rostock prägt das Gemüt anders als die Berge inBayern oder die Weinberge in Rheinland-Pfalz . – Wirsind verschieden, aber wir gehören zusammen . Wir ge-hören zusammen, und wir stehen zusammen . Das habenSie, lieber Herr Präsident Gauck, in den vergangenenJahren immer wieder betont . Ich möchte das bekräftigen:Zusammen sind wir Deutschland .
Sehr verehrter Herr Präsident Gauck, mit dem Klimader See kennen Sie sich bestens aus . Den scharfen Ge-genwind von Machthabern haben Sie in der DDR mehrals einmal gespürt . Und als elfter Bundespräsident derBundesrepublik Deutschland mussten Sie so manchesMal gegen ein Klima der Perspektivlosigkeit ankämpfen .Das ist Ihnen ohne Zweifel gelungen . Ich glaube, ich darfsagen: Sie haben mit Ihrer Leidenschaft für Freiheit undDemokratie unseren Verstand und unsere Herzen erobert .
Ich danke Ihnen für Ihren herausragenden Dienst an derBundesrepublik Deutschland .
Auch wenn der Bundestagspräsident Ihnen schon ge-dankt hat, möchte auch ich in diesen Dank Sie, liebe, sehrverehrte Frau Schadt, ausdrücklich einschließen . Sie wa-ren die starke Frau an der Seite unseres Bundespräsiden-ten . Und Sie selbst haben die Menschen auf Ihre warm-herzige Art angesprochen und stark gemacht .
Unabgesprochen hatten der Bundestagspräsident undich den gleichen Gedanken: Auch wenn unsere Verfas-sung das Amt noch nicht kennt – Sie waren in den ver-gangenen fünf Jahren unsere kluge und gewinnende FirstLady . Dafür danke ich Ihnen sehr herzlich .
Lieber Herr Bundespräsident Steinmeier, Ihr Vorgän-ger hat davon gesprochen, dass die Zeiten rau sind unddass unser vereinigtes Deutschland auch internationalgrößere Verantwortung übernehmen muss . Es ist einGlücksfall, dass mit Ihnen ein Präsident ins Amt kommt,der Deutschland auch aus dem Blickwinkel anderer Na-tionen kennengelernt hat und der dabei gezeigt hat, dassman selbst in schwierigsten Konflikten wie im Iran oderin der Ukraine mit Beharrlichkeit und großer Geduld et-was für die Menschen erreichen kann .In den letzten Wochen haben Sie immer wieder leiden-schaftlich daran erinnert, wie wenig selbstverständlichist, was wir hier in unserem Rechtsstaat selbstverständ-lich genießen: der Schutz des Lebens, die gleiche Würdealler Menschen, Meinungs- und Gewissensfreiheit, einefreie Presse, soziale Sicherheit . Sie lenken damit unserenBlick auf die Möglichkeiten, die Deutschland bietet . De-mokratie verträgt in Ihren Augen keine Resignation . Siebraucht entschlossene Demokraten und Demokratinnen,die sich engagieren und die sich auch dann nicht aufsGlatteis führen lassen, wenn gefühlte Wahrheiten an dieStelle überprüfter Fakten treten .
Lieber Präsident Steinmeier, lieber Frank-Walter, ichbin sicher: Sie treffen den Nerv der Zeit, wenn Sie denMenschen Mut machen und die Zuversicht vermitteln,dass wir unsere Aufgaben meistern können . Sie werdendas zusammen mit Ihrer Frau tun . Liebe Frau Büdenben-der, liebe Elke, Sie stellen dafür Ihren Beruf hintan . Ichdanke Ihnen beiden dafür, dass Sie sich so in den Dienstunseres Landes stellen .
Meine Herren und Damen, in den nächsten Jahrensind wir in besonderem Maße aufgerufen, für unsere of-fene Demokratie einzutreten, damit auch unsere Kinderund Enkel in einem Deutschland des guten Miteinandersund in einem freien, solidarischen Europa leben können .Ich wünsche Ihnen, lieber Herr Präsident Steinmeier,für Ihr neues Amt zusammen mit Ihrer Frau alles erdenk-lich Gute,
viel Kraft und allzeit eine glückliche Hand . Lassen Sieuns gemeinsam für Einigkeit und Recht und Freiheitstreiten .Vielen Dank .
Vielen Dank, Frau Bundesratspräsidentin . – Ich freue
mich, nun Ihnen, Herr Präsident, lieber Herr Gauck, das
Wort erteilen zu dürfen .
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Sehr geehrterHerr Bundestagspräsident! Sehr geehrte Frau Bundes-kanzlerin! Sehr geehrte Frau Bundesratspräsidentin!Sehr geehrter Herr Präsident des Bundesverfassungs-gerichtes! Sehr verehrte Abgeordnete! Verehrte Damenund Herren! Es ist nun fünf Jahre her, als ich hier stand,Präsidentin des Bundesrates Malu Dreyer
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schon einmal vor Bundestag und Bundesrat . Damals alsBundespräsident durfte ich jenen Eid leisten, den gleichBundespräsident Frank-Walter Steinmeier hier ablegenwird . Heute darf ich noch einmal zu Ihnen sprechen; ichtue es diesmal als Bürger .Als Erstes muss ich gestehen: Diese fünf Jahre alsBundespräsident, sie sind wie im Flug vergangen . Abersie sind weitgehend anders verlaufen, als ich es mir vor-gestellt habe . Einmal mehr hat sich bestätigt: Geschichteist nicht vorgezeichnet, sie ist auch nicht vorhersehbar .Sie ist voller Überraschungen – im Guten, aber leiderauch im Bösen .Ordnungen, die nahezu unverrückbar erschienen, siehaben Risse bekommen oder lösen sich manchmal sogarauf; Landesgrenzen gar werden nicht mehr von allen res-pektiert, internationale Verträge, internationale Bündnis-se und demokratische Spielregeln nicht mehr von allenbeachtet . An den Rändern Europas herrschen kriegeri-sche Aktivitäten .Die demokratische Ordnung, einst Sehnsuchtsziel vie-ler Länder Europas und in der Welt, sie hat für mancheihre Attraktivität verloren . Nationalistisches, autoritäresund fundamentalistisches Denken hingegen hat an Bodengewonnen . Demokratie und Freiheit sehen sich von in-nen wie von außen unterschiedlich starken Gegenkräftenausgesetzt . All dies hat viele verstört und auch erschrecktund zu überraschenden Veränderungen in der politischenLandschaft einzelner Länder geführt .Doch gestatten Sie mir heute, nicht die Sorgen undÄngste in den Mittelpunkt zu stellen . Vielmehr möchteich Sie alle teilhaben lassen an Eindrücken und Erfahrun-gen aus meiner Zeit als Bundespräsident, die mein Ver-hältnis zu diesem Land verändert haben, Eindrücke undErfahrungen, die in mir das Gefühl großer Dankbarkeitausgelöst haben . Bei den Auslandsreisen konnte ich, ähn-lich wie Frank-Walter Steinmeier es schon beschriebenhat, unser Land mit den Augen von Fremden erblickenund es so neu schätzen lernen . Eine beglückende Erfah-rung wurde dadurch bestärkt: Viele Länder orientierensich bei ihrem gesellschaftlichen Wandel an unseremModell des Rechtsstaates, an unserer demokratischenPraxis mit dem umstandslosen und friedlichen Wechselvon Regierungen, nicht zuletzt auch an unserem Sozial-staat und unserer Sozialpartnerschaft mit ihren ausglei-chenden Wirkungen auf die ganze Gesellschaft . VieleLänder schätzen Deutschland auch als verlässlichenBündnispartner und als Stabilitätsanker in einer Welt derUnwägbarkeiten . Länder mit eigener Diktaturerfahrungorientieren sich auch an Deutschlands selbstkritischemUmgang mit seiner Vergangenheit, am Umgang mitSchuld und Versagen .Ich habe oftmals, und zwar auf eine außerordentlichberührende Weise, erlebt, wie Überlebende oder derenKinder, Enkel und Urenkel es wissen und spüren: DasDeutschland von heute verurteilt und verfolgt Naziun-geist und -methoden wie kaum ein anderes Land . An denStätten des einstigen Grauens, etwa im französischenOradour-sur-Glane, im griechischen Lingiades, im ita-lienischen Sant’Anna di Stazzema, im tschechischenLidice, sind mir Menschen daher im Geist der Versöh-nung und sogar mit Freundschaft begegnet . Ja, ehemaligeOpfer haben Vertrauen zu Deutschland entwickelt, undMigranten wählen Deutschland als neue Heimat, darun-ter Abertausende von Juden aus der ehemaligen Sowjet-union . Für einen, der im Krieg geboren ist, ist dies eineunglaubliche und wunderbare Erfahrung und Grund zutiefer Dankbarkeit .
Meine Damen und Herren, mögen sich viele zu Rechtüber das einstige Wirtschaftswunder und den wirtschaft-lichen Aufschwung unseres Landes, der ja immer nochanhält, beständig freuen und sich dafür begeistern, fürmich gibt es eine noch größere Leistung der alten undneuen Bundesrepublik: Es ist das beglückende Demokra-tiewunder, das unser Land bis heute prägt .
Die dunklen Schatten der Vergangenheit begleiten unsnoch, aber sie dürfen auch die Erfahrungen und Prägun-gen der letzten Jahrzehnte nicht überdecken, Erfahrun-gen und Prägungen, die bestimmt wurden durch Teilha-be am normativen Projekt des Westens . Wir haben allenGrund, das Erreichte mit Freude und Dankbarkeit anzu-schauen . Welch andere Ordnung hat den Menschen ähn-lich viel Freiheit, Gerechtigkeit, Wohlstand und Friedengebracht? Welch andere Ordnung hat auch nur annäherndso erfolgreiche Wege zu Korrekturen gefunden, Korrek-turen, die nicht durch Gewalt oder Bürgerkrieg, sonderndurch Dialog und Gewaltlosigkeit erzielt wurden?Nach meiner fünfjährigen Amtszeit ist mir noch mehrals zuvor bewusst: Unsere Gesellschaft hat ein zuneh-mend reflektiertes Selbstwertgefühl und Selbstbewusst-sein gewonnen; sie hat sich damit selbst beschenkt . DennVertrauen und Zutrauen zu sich selbst geben Kraft underöffnen Zukunft . Wir dürfen die sein, die sich mehr Ver-antwortung zutrauen – in Deutschland, in Europa und inder Welt .
Schauen wir uns gegenwärtig um: Trotz der Verunsi-cherung in letzter Zeit sind die meisten Bürger nicht inVerzagtheit verfallen, haben sich nicht ins Private abge-setzt oder sind gar in Wut und Hass verfallen . Ich habe inden Jahren meiner Präsidentschaft unzählige Arbeiter undAngestellte, Unternehmer und Wissenschaftler, Schüler,Eingewanderte, Tausende von Ehrenamtlichen in denverschiedensten Landesteilen gesprochen . Ich habe da-bei die Gewissheit gewonnen: Diese Bürger verschließennicht die Augen vor den großen Problemen unserer Zeit .Das Erstarken antidemokratischer Kräfte wird von ihnenoftmals sogar als ein Weckruf empfunden . Weil das Be-wusstsein von Bedrohungen wächst, wächst eben auchdas Rettende . Wir Bürger werden gerade wieder wacher,und wir packen mehr an . Viele von uns lernen wieder –und einige neu –: Frieden und Demokratie können gelin-gen, weil wir sie wollen . Deshalb!
Meine Damen und Herren, diese Kraft, diesen Optimis-mus, diese Zukunftszugewandtheit einer starken Zivil-gesellschaft spüren zu dürfen, das war eine der beglü-Bundespräsident a. D. Dr. h. c. Joachim Gauck
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ckendsten und eine mich stärkende Erfahrung dieserPräsidentschaft . Ich bin zutiefst dankbar dafür .Vor mir sehe ich sie, die Bürger, die sich den neuenEntwicklungen in Gegenwart und Zukunft wirklich stel-len und den Vereinfachern und Verführern mit der Kraftder Vernunft begegnen . Sie widerstehen dem traditionel-len politischen Extremismus, verschließen aber auch dieAugen nicht vor neuem Populismus und auch nicht vorder Demokratieferne, dem Nationalismus oder Islamis-mus unter Teilen unserer Einwanderer . Sie unterstützenden Dialog mit unseren engeren und weiteren Nachbarn,wollen aber auch nicht hilflos werden gegen Destabili-sierungsversuche von außen, egal ob sie durch offeneProvokationen oder anonyme Cyberattacken erfolgen .Demokraten wissen: Freiheit ist notfalls auch dadurch zuverteidigen, dass sie für die Feinde der Freiheit begrenztwird . Unsere Gesellschaft hat dabei beständig abzuwä-gen . Freiheiten dürfen zwar niemals vorschnell zur Ab-wehr von Bedrohungen geopfert werden; sie dürfen aberauch nicht zu lange dem Missbrauch überlassen bleiben .
Manchmal führt das in ein Dilemma; das ist mir wohlbewusst . Einfache Lösungen stehen eben oftmals nichtzur Verfügung . Aber ich habe die Zuversicht – auch unterden neuen Bedingungen und angesichts neuer Bedrohun-gen –: Unsere Demokratie ist und bleibt wehrhaft .Vor mir sehe ich Politiker wie Sie, auf die in Gegen-wart und Zukunft besondere Verantwortung zukommt .Es gilt, große Fragen zu klären, Fragen, die sich in einemGeist der Furcht vor der Problemfülle oder der Furchtvor den Wählern nicht lösen lassen . Ich schaue Sie nocheinmal an und denke an die kommenden Wahlkämpfe .Schenken Sie denen, die mit Ressentiments und Hass aufdie Straßen strömen, nicht Ihre Furcht, und fürchten Siesich nicht vor den bösen Zwergen und Trollen, die imInternet Hass und Niedertracht erzeugen!
Sie sollen sich auch nicht fürchten vor den Scheinriesen,die draußen, in der erweiterten politischen Welt, her-umspringen und um Aufmerksamkeit buhlen .
Politik, meine Damen und Herren, hat in der Vergan-genheit der Bundesrepublik gerade dann Erfolg gezeigt,wenn sie Kontroversen nicht scheute, wenn sie innova-tiv und unter Umständen so weitsichtig war, dass sie ineinigen Fällen nicht auf Mehrheiten in der Bevölkerungzählen konnte . Wir brauchen offene und erhellende De-batten, und das Parlament ist ein guter Ort dafür .
Wir brauchen, hier wie draußen, überall Menschen,die sich immer wieder selbst ermächtigen, um unser Zu-sammenleben zu stärken und zu verbessern . Wir brau-chen eine Bürgergesellschaft, die gerade in der heutigenZeit Einheimische und Eingewanderte im Streben nachdem demokratischen Rechtsstaat vereint . Denn ich weiß:Es sind wir, die einheimischen und die eingewandertenBürger, die mit der Demokratie und der Freiheit in un-serem Lande viel zu verteidigen haben . Wir wollen nichtHass, sondern Dialog, nicht Ausgrenzung, sondern Ein-bindung und Mitwirkung aller .
Ich will es ruhig mit dem diesem Anlass angemessenenPathos sagen: Wir wollen, dass sich all diese unterschied-lichen Menschen, die hier leben, engagieren für das Land,in dem wir gemeinsam leben: für unser Deutschland .
Meine Damen und Herren, zum Schluss möchte ichauch allen Menschen danken, die mir Vertrauen ge-schenkt und mich als Bundespräsident auf verschiedeneWeise unterstützt haben . Dankbar bin ich für die frucht-bare und faire Zusammenarbeit mit den anderen Ver-fassungsorganen, dem Bundestag, dem Bundesrat, demBundesverfassungsgericht, der Bundesregierung, undinsbesondere auch Ihnen, Frau Bundeskanzlerin Merkel .Mein Dank gilt ferner all den Menschen im Land, diemich zu Beginn ermutigt haben, die Präsidentschaft an-zutreten, und die mich mit einem hohen Maß an Zustim-mung begleitet haben .Das gilt ganz besonders für einen Menschen, von demheute schon gelegentlich die Rede war: für die Frau, diesich entschloss, sich von ihrem Beruf zu verabschiedenund an meiner Seite das Amt zu stärken . Ihre Offenheit,ihre Neugier, ihre Klugheit und vor allem ihre Menschen-freundlichkeit haben diese Präsidentschaft mitgeprägtund mitgetragen . Daniela, zusammen mit vielen anderenMenschen, aber auf meine ganz persönliche Weise sageich dir hier vor dieser Öffentlichkeit von Herzen: Danke!
Das letzte Wort aber gilt Ihnen, Herr BundespräsidentFrank-Walter Steinmeier . Lieber Herr Bundespräsident,wir wissen es alle: Sie treten Ihr Amt in schwierigenZeiten an . Aber Sie haben diesem Land schon lange aufvielfältige Weise gedient . Sie sind dabei Schwierigkeitennicht ausgewichen, sondern sind ihnen immer entschlos-sen begegnet . Unzählige Menschen in unserem Landsind Ihnen dafür dankbar .Sie haben den Bürgern im Land nach Ihrer Wahl vorallem Mut zugesprochen . Nun möchte ich es sein, derIhnen Mut zuspricht, Mut, aber auch Geduld, Freude undSchaffenskraft . Gottvertrauen schadet dabei nicht, undZutrauen zu den Menschen wird zum Segen für das Land .
Sehr geehrter Herr Bundespräsident, lieber HerrGauck! Im Respekt vor Ihrer Leistung haben sich dieMitglieder des Bundestages und des Bundesrates wiedie Mitglieder der Bundesversammlung am 12 . Februar2017 von ihren Plätzen erhoben . Sie haben damit zumAusdruck gebracht, was ich heute für den Bundestag wiefür den Bundesrat vor der deutschen Öffentlichkeit aus-drücklich bekräftigen möchte: Joachim Gauck hat sichum unser Land verdient gemacht .
Bundespräsident a. D. Dr. h. c. Joachim Gauck
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Meine Damen und Herren, am 12 . Februar dieses Jah-res hat die Bundesversammlung Herrn Dr . Frank-WalterSteinmeier zum Bundespräsidenten der BundesrepublikDeutschland gewählt . Herr Dr . Frank-Walter Steinmeierhat vor der Bundesversammlung die Wahl angenommenund das Amt des Bundespräsidenten am vergangenenSonntag, dem 19 . März 2017, angetreten .Nach Artikel 56 des Grundgesetzes leistet der Bundes-präsident bei seinem Amtsantritt vor den versammeltenMitgliedern des Bundestages und des Bundesrates denvorgeschriebenen Eid . Ich bitte Sie, Herr Bundespräsi-dent, zu mir zu kommen, um den Eid zu leisten . Dazubitten möchte ich auch die Frau Präsidentin des Bundes-rates .
Herr Bundespräsident, ich halte in meinen Händen dieUrschrift des Grundgesetzes und darf Sie bitten, den inder Verfassung vorgesehenen Eid zu leisten .
Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des
deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Scha-
den von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze
des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten ge-
wissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann
üben werde . So wahr mir Gott helfe .
Herr Bundespräsident, Sie haben den vorgesehenen
Eid geleistet . Ich gratuliere Ihnen im Namen des Deut-
schen Bundestages, des Bundesrates und des deutschen
Volkes herzlich und wünsche Ihnen für Ihre Amtszeit
Gottes Segen und viel Erfolg .
Vielen Dank, Herr Bundestagspräsident .
Niemand, Herr Bundespräsident, wäre überrascht,
wenn Sie nun auch etwas zu uns sagten . Jedenfalls möch-
te ich Sie dazu ausdrücklich einladen .
Herr Präsident des Deutschen Bundestages! Verehr-te Mitglieder von Bundestag und Bundesrat! VerehrteGäste aus dem In- und Ausland! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Zunächst aber vor allem: LieberJoachim Gauck! Ich glaube, Sie selbst haben das ja inden vergangenen Tagen gespürt: diese Welle von Sympa-thie, die Sie getragen hat, bei Ihren Abschiedsreisen, beiIhren Auftritten überall .Und Ihre gerade verklungenen Abschiedsworte habenes den Deutschen noch mal eindrucksvoll vor Augengeführt: Sie haben das Amt des Bundespräsidenten tiefgeprägt und darüber unserem ganzen Land einen republi-kanischen, einen aufgeklärten Stolz vermittelt .Wenn nicht jeder wüsste, wofür der Bundespräsidentkraft unserer Verfassung steht – Sie haben es in IhrerAmtsführung gezeigt, mit Klugheit, mit Charme . Siehaben die Einheit des Staates verkörpert und beförderteinschließlich all dessen – Sie haben es eben noch einmalgesagt –, wofür unser Gemeinwesen steht und weltweitgeachtet wird: Freiheit und Demokratie, Rechtsstaatlich-keit und Menschenrechte .Lieber Herr Gauck, bei Ihrer Wahl vor fünf Jahrenhaben Sie hier in diesen Plenarsaal gerufen: „Was fürein schöner Sonntag!“ Mit Blick auf all das, was Sie ge-meinsam mit Daniela Schadt für unser Land getan haben,darf ich heute zu Ihrem Abschied auch sagen: Was für einwehmütiger Mittwoch! – Wir alle wollen Ihnen beidenheute von Herzen noch einmal danken, und diese Dank-barkeit bleibt .
Aber nicht nur die Dankbarkeit bleibt . Freiheit,Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte verteidigen –auch die Aufgabe bleibt, umso mehr in einer Zeit, in deralte Gewissheiten ganz offenbar ins Wanken geraten .Viele Fragen: Wie fest sind die Fundamente der Demo-kratie? Hat der Westen als Modell eine Zukunft? Wohintreibt Europa?Unser Blick geht zu den Wahlen in Frankreich, nachRussland, in die USA, aber in diesen Tagen – und ichglaube, das geht uns im Augenblick allen so – ganz be-sonders in die Türkei! Viel steht auf dem Spiel für dieTürkei, aber auch für das Verhältnis der Türkei zu uns .Wir versuchen, uns unser Urteil nicht allzu einfach zumachen: Wer die Türkei vor 30 Jahren oder mehr bereisthat, kam in ein rückständiges Land . Die Menschen warenarm, Millionen verließen ihre Heimat auf der Suche nachArbeit in ganz Europa . Heute ist die Türkei ein anderesLand . Sie hat eine Phase von wirtschaftlichem Aufbauund Reformen erlebt und – ich glaube, niemand wird dasleugnen – zwischendurch auch eine Periode der Annähe-rung an Europa . All das haben wir Deutsche gewürdigtund unterstützt . Dem Weg, den die Türkei in zwei Jahr-zehnten nahm, fühlten wir uns sogar besonders verbun-den – auch wegen der vielen Menschen türkischer Ab-stammung, die in Deutschland leben, arbeiten und hierzu Hause sind .Und weil das alles so ist, meine Damen und Herren,schauen wir auf die Türkei von heute nicht mit Hochmutund Besserwisserei . Wir wissen um die Lage der Türkeiin Nachbarschaft der großen Krisenregionen Irak undSyrien . Wir verurteilen den versuchten Militärputsch imvergangenen Sommer . Aber: Unser Blick ist von Sorgegeprägt, dass all das, was über Jahre und Jahrzehnte auf-gebaut worden ist, gewachsen ist, zerfällt .Diese Sorge ist es, die meinen Appell leitet: PräsidentErdogan, gefährden Sie nicht das, was Sie mit anderenselbst aufgebaut haben! Glaubwürdige Signale der Ent-spannung sind willkommen . Aber: Beenden Sie die un-säglichen Nazivergleiche! Zerschneiden Sie nicht dasBand zu denen, die wie wir Partnerschaft mit der Türkeiwollen! Respektieren Sie den Rechtsstaat, Freiheit vonPräsident Prof. Dr. Norbert Lammert
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Medien und Journalisten! Und: Geben Sie Deniz Yücelfrei!
Aber, meine Damen und Herren, machen wir es uns –auch mit Blick auf unseren eigenen Kontinent – nicht zueinfach! Die Anfechtung der freiheitlichen Demokratiefindet nicht nur bei anderen statt – weit westlich und öst-lich der europäischen Grenzen . Die Wahrheit ist doch:Eine neue Faszination des Autoritären ist inzwischen tiefnach Europa eingedrungen . Sosehr ich mich freue überdie niederländischen Nachbarn, sosehr ich mich darüberfreue, dass die Niederländer den Angriff auf ihre demo-kratischen Traditionen in der Wahlkabine zurückgeschla-gen haben: Ich finde, für übergroße Gelassenheit bestehtkein Anlass .Geht uns das was an in Deutschland? Ich denke: ja .Wir können uns nicht zurücklehnen, uns gegenseitig aufdie Schulter klopfen und Noten für andere verteilen . Wirleben nicht auf einer Insel! Die weltweiten Trends wirkenauch bei uns . Ich glaube, auch unsere eigene Geschich-te, insbesondere die des 20 . Jahrhunderts, hat uns nichtwirklich immunisiert . Die Geschichte der Weimarer De-mokratie – deren 100 . Jubiläum wir im nächsten Jahr be-gehen – zeigt doch, dass die Demokratie weder selbstver-ständlich ist noch mit Ewigkeitsgarantie ausgestattet ist,dass sie, einmal errungen, auch wieder verloren gehenkann, wenn wir uns nicht um sie kümmern .„Die liberale Demokratie steht unter Beschuss“, so hates Joachim Gauck in seiner Abschiedsrede ausgedrückt .Ja, sie steht unter lautem Beschuss von Radikalismus undTerrorismus, vom Machthunger der Autokraten, die –rund um die Welt – einer freien Zivilgesellschaft die Luftzum Atmen rauben .Aber es gibt auch das andere, die schleichende Ero-sion von innen: durch Gleichgültigkeit, Trägheit undTeilnahmslosigkeit oder, wie Präsident Lammert es inder Bundesversammlung gesagt hat, die Anfechtungdurch jene, die Parlamente und demokratische Institu-tionen nicht mehr als Ort für politische Lösungen sehenwollen, sondern als Zeitverschwendung diskreditieren –und das politische Personal gleich mit .Populisten erhitzen die öffentliche Debatte durch einFeuerwerk von Feindbildern, laden zum Kampf ein ge-gen das sogenannte Establishment und verheißen eineblühende Zukunft nach dessen Niedergang .Es gibt – das ist meine Sicht – in Deutschland kei-nen Grund für Alarmismus; das nicht . Aber ich sage mitBlick auf das, was sich da am Horizont auftut, mit ganzgroßer Ernsthaftigkeit, meine Damen und Herren: Wirmüssen über Demokratie nicht nur reden – wir müssenwieder lernen, für sie zu streiten! Darum geht es .
Nun ist Streiten für Demokratie nicht Sache der Po-litik allein . Aber Politik muss verstehen, dass die Zeitenbesondere sind; Zeiten, in denen alte Gewissheiten ver-schwunden und, jedenfalls bislang, neue nicht an ihreStelle getreten sind; Zeiten, in denen internationale Kon-flikte Sorge um den Frieden und auch um die Sicherheitim eigenen Lande auslösen; Zeiten, in denen Eltern sichfragen, ob es ihren Kindern noch genauso gut gehen wirdwie ihnen selbst .Wir leben in Zeiten des Übergangs . Wie die Zukunftwird, darauf gibt es nicht nur eine Antwort . Da ist Zu-kunft nicht „alternativlos“ . Im Gegenteil: Die Zukunftist offen, und sie ist überwältigend ungewiss . Diese Of-fenheit, die bei den einen Hoffnung auslöst, jagt anderenAngst ein . „Wer von Angst getrieben ist, vermeidet dasUnangenehme, verleugnet das Wirkliche und verpasstdas Mögliche“, so hat Heinz Bude geschrieben .Ich glaube auch: Der Ängstliche ist anfällig für dieLockrufe jener, die immer mit ganz einfachen Antwortenzur Stelle sind . Mir scheint: Das Angebot an einfachenAntworten steigt im Wochenrhythmus . Dabei könntenwir doch eigentlich wissen: Die einfachen Antwortensind in der Regel keine Antworten . Wer soll denn glau-ben, dass in einer Welt, die komplizierter geworden ist,die Antworten einfacher werden? Wer soll denn glauben,dass nach dem blutigen 20 . Jahrhundert und den Lehrenaus zwei Weltkriegen ausgerechnet die alten Muster vonAbschottung und nationaler Eiferei die Welt friedlichermachen?Die neue Faszination des Autoritären, auch die inTeilen Europas, ist nach meiner Überzeugung am Endenichts anderes als die Flucht in die Vergangenheit ausAngst vor der Zukunft. Ich finde, das kann und das darfnicht unser Weg in diesem Land, in Deutschland, sein .
Ich kenne Weltregionen, in denen die Zukunft weitweniger gewiss ist als bei uns . Ich denke an meine letzteBegegnung mit Shimon Peres vor seinem Tod im vergan-genen Jahr . Wir beide waren unterwegs zu einem Besuchder Hebräischen Universität in Jerusalem – für mich bisheute ein ganz und gar unvergesslicher Tag! Dort in derNachmittagssonne unter freiem Himmel auf dem Sco-pusberg waren wir zu Gast, als die stolzen Absolven-tinnen und Absolventen der Universität ihre Zeugnissebekamen . Nach der Veranstaltung standen wir mit einerkleinen Gruppe von Studenten zusammen und diskutier-ten . In dieser Gruppe gab es eine junge Frau, die fragte:„Verehrter Shimon Peres, was wird uns die Zukunft brin-gen?“ Statt einer langen Antwort hat Shimon Peres ihreine Geschichte erzählt . „Die Zukunft“, sagte Peres, „istwie ein Kampf zweier Wölfe . Der eine ist das Böse, istGewalt, Furcht und Unterdrückung . Der andere ist dasGute, ist Frieden, Hoffnung und Gerechtigkeit .“ Die jun-ge Frau hörte zu, schaute fasziniert und fragte dann ganzgespannt zurück: „Und? Wer gewinnt?“ Peres lächelteund sagte: „Der, den du fütterst .“Du hast es in der Hand! Wir haben es in der Hand!Das war seine Botschaft an die jungen Leute . Und er hateigentlich recht damit: Zukunft ist kein Schicksal, demGesellschaften ausgeliefert sind – erst recht nicht diedemokratischen . Wer, wenn nicht wir Deutsche, kanndavon ein glückliches Zeugnis geben? Wer, wenn nichtwir, hat erfahren, dass nach zwei Weltkriegen Friedenwerden kann und nach Jahren der Teilung Versöhnung?Wer, wenn nicht wir, hat erfahren, dass nach der RasereiBundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier
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der Ideologien so etwas einkehren kann wie politischeVernunft?Es ist nicht alles gut in unserem Land, aber vieles istbei uns geglückt, und das miteinander . Deshalb habenwir allen Grund, zuallererst zu sagen: Lasst uns bewah-ren, was gelungen ist in diesem Land, meine Damen undHerren!
Aber natürlich – Sie ahnen es –: Bewahren wird nichtgenügen . Wir machen doch alle die Erfahrung: Das ge-rade Erreichte bleibt immer hinter dem Besseren zurückund immer weit weg von dem Erträumten . Haben wirProbleme gelöst, stellen sich bald die nächsten, oder –auch das erfahren wir – die alten Probleme stellen sich inneuem Gewand . Das mag den einen oder anderen frust-rieren . Aber wir wissen: Das Gebäude der Demokratie isteben nie ganz vollständig errichtet . Demokratie ist Herr-schaft auf Zeit und liefert auch nur Lösungen auf Zeit .Eine kluge Frau, eine ehemalige Kollegin, aus Indienhat mir in einem Gespräch darüber mal den tröstendenRat gegeben: In der Rechtschreibung der Politik gibt eskeinen Punkt, sondern immer nur das Komma . – DieFrage ist: Muss uns das eigentlich frustrieren, oder istdas nicht eigentlich die Stärke von Demokratie? Demo-kratie ist die einzige Staatsform, die Fehler erlaubt, weildie Korrekturfähigkeit mit eingebaut ist . Die Stärke vonDemokratien liegt nach meiner Überzeugung nicht in ih-rem Sendungsbewusstsein, sondern in ihrer Fähigkeit zurSelbstkritik und zur Selbstverbesserung .
Wo denn sonst als in der Demokratie können so unter-schiedliche Interessen von Alt und Jung, Stadt und Land,Wirtschaft und Umwelt friedlich zum Ausgleich gebrachtwerden? Wo denn sonst als in der Demokratie begegnensich Bürger unabhängig von ihrer Herkunft als Gleicheund Gleichberechtigte? Und wo sonst als in der Demo-kratie, wo Minderheiten Stimme und Gehör finden, solluns etwa die gewaltige Aufgabe der Integration gelin-gen? Nur in der Demokratie kriegen wir das hin . Das istihre Stärke, und deshalb brauchen wir sie, meine Damenund Herren .
Defizite benennen, um Lösungen ringen – das ist an-strengend . Demokratie ist eine anstrengende Staatsform,und sie ist zugleich ein Wagnis: Wir trauen einander zu,uns selbst zu regieren . Herrschaft aus dem Volk, durchdas Volk und für das Volk – so hat es uns ein großer ame-rikanischer Präsident gelehrt, ein Republikaner übrigens .Das mag dem einen oder anderen zu idealistisch klingen,und es ist idealistisch . Aber was dahintersteckt, ist dochdie tiefe Einsicht, dass die Flucht vor den Anstrengun-gen der Demokratie nicht etwa zu besserer Politik führt,ganz sicher nicht, auch und gerade nicht von denen, dievon sich behaupten, im Namen des „eigentlichen Vol-kes“ oder der schweigenden Mehrheit zu sprechen gegen„die da oben“ . Demokratie kennt das Volk aber nur inseiner ganzen Vielfalt . Deshalb: Wer heute in Deutsch-land seinen Sorgen Luft macht und dabei ruft „Wir sinddas Volk!“, der darf das gern – aber der muss auch hin-nehmen, dass andere Leute mit anderen Ansichten diesenstolzen Satz genauso beanspruchen,
so wie ich das vor ein paar Monaten in Dresden gesehenhabe, wo eine bunte Truppe junger Leute ein Plakat indie Höhe hielt, auf dem ganz gelassen stand: „Nö – wirsind das Volk“ .
Genauso ist es, meine Damen und Herren . In der De-mokratie tritt das Volk eben nur im Plural auf und hatviele Stimmen . Nie wieder darf eine politische Kraft sotun, als habe sie allein den Willen des Volkes gepachtetund alle anderen seien Lügner, Eindringlinge oder Ver-räter . Deshalb ist meine Bitte: Wo immer solche Art vonPopulismus sich breitmacht – bei uns im Land oder beiunseren Freunden und Partnern –, da lassen Sie uns ge-meinsam vielstimmig dagegenhalten!
Herr Gauck, Sie haben es angedeutet: Wir navigierenzurzeit in unbekannten Gewässern . Ob wir nach Os-ten oder nach Westen schauen: Wir steuern da auf vielunkartiertes Gelände zu . Oftmals werden wir Antwortengeben müssen, ohne uns an andere anlehnen zu können .Das verlangt Selbstbewusstsein . Aber noch viel mehrverlangt es Mut, Mut, nach vorn in Richtung Zukunftzu denken, nicht darauf zu hoffen, die Antworten in derVergangenheit zu finden, Mut, unsere Geschicke selbstin die Hand zu nehmen – ohne, Herr Präsident, den Kai-ser oder den „großen Bruder“ oder selbsternannte „starkeMänner“. Ich finde: Mut ist das Lebenselixier der De-mokratie, so wie die Angst der Antrieb von Diktatur undAutokratie ist .
Deshalb, meine Damen und Herren: Die Staatsformder Mutigen – das ist die Demokratie . Die Demokratiebraucht diesen Mut auf beiden Seiten: auf der Seite derRegierten ebenso wie auf der Seite der Regierenden .Denn nur wer selber Mut hat, kann auch andere ermuti-gen, und nur der kann Mut erwarten .Politik tut sich keinen Gefallen, wenn sie über Sor-gen der Menschen, über politische Fehlentwicklungen,über offene Fragen nicht ebenso offen redet . Wir leben inhochpolitischen Zeiten . Das verlangt den Mut, zu sagen,was ist und was zu tun ist . Wie gelingt Integration? Wie,lieber Herr Gauck, bringen wir das überein: unser weitesHerz und die endlichen Möglichkeiten? Wie erneuern wirdas Versprechen vom Aufstieg durch Bildung, das michpersönlich und eine ganze Generation auf den Weg ge-bracht hat? Wie erhalten wir Hoffnung dort, wo im DorfSchule, Arztpraxis, Friseurladen und Tankstelle längstgeschlossen sind und jetzt auch noch die letzte Busver-bindung gekappt wird?Wie schaffen wir ethische Standards auch in der Wirt-schaft, die das Oben und Unten in der Gesellschaft ver-bunden halten, damit oben nicht nach Regeln gehandeltwird, die von den Menschen als unanständig empfundenwerden? Wo Abfindungen und Bonuszahlungen nur noch„Fassungslosigkeit“ bei den Menschen hervorrufen – soBundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier
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hat gerade in der Zeit einer der großen deutschen Wirt-schaftsführer geschrieben –, sollten wir die Debatte da-rüber nicht „vorschnell als Neiddebatte abtun“. Ich finde:Recht hat er . Es geht um das gemeinsame Interesse, dassdas Vertrauen in unsere wirtschaftliche und politischeOrdnung nicht durch das Handeln weniger insgesamtSchaden nimmt .Der Bundespräsident hat dazu keine Vorschläge zumachen . Aber die lebendige Debatte darüber – davon binich überzeugt – braucht die Gesellschaft . Führen wir sienicht, dann – das sage ich voraus – werden Populistenunterschiedlicher Couleur sie am Ende gegen die Demo-kratie wenden . Deshalb sind wir alle miteinander gefragt,meine Damen und Herren .
Das geht nicht von allein . Dafür brauchen wir eineKultur des demokratischen Streits . Selten werden wiralle derselben Meinung sein . Umso wichtiger ist, dasswir das gemeinsame Fundament von Demokratie pfle-gen, aber die Auseinandersetzung über Ideen, Optionenund Alternativen nicht scheuen . Wir brauchen das Dauer-gespräch unter Demokraten, wo nötig, auch kontrovers .Die tägliche Selbstbestätigung unter Gleichgesinntenbringt uns nicht weiter . Bevor wir uns daran gewöhnen,nur noch mit denen zu reden, die gleicher Meinung sind,frage ich: Warum nicht mal mit denen sprechen, die unsFacebook nicht als Kontakt vorschlägt? Warum nichtüberhaupt mal den Blick vom Smartphone heben und inswirkliche Leben schauen?
Ich will, dass diese Gesellschaft miteinander im Ge-spräch bleibt . Der Raum der Demokratie, das ist einer, indem – ja – viele zu Wort kommen müssen, in dem es aberauch ein paar geben muss, die zuhören .Ich will, dass wir uns rauswagen aus den Echokam-mern, auch aus mancher Selbstgewissheit der intellektu-ellen Ohrensessel und erst recht aus der Anonymität desNetzes, wo die Grenze zwischen dem Sagbaren und demUnsäglichen immer mehr schwindet, wo inzwischen eineSprache aggressiver Maßlosigkeit herrscht und wo täg-lich immer nur noch neue Erregungswellen erzeugt wer-den . Und vor allem, meine Damen und Herren, will icheines: dass wir in Deutschland festhalten an dem Unter-schied von Fakt und Lüge . Wer das aufgibt, der rührt amGrundgerüst von Demokratie .
Vor einigen Monaten fragte mich ein prominentes Mit-glied dieses Hauses – wohlgemerkt ganz wohlwollend –:„Herr Steinmeier, nach so vielen Jahren in der Politik –können Sie da eigentlich neutral sein?“ Die ehrliche Ant-wort ist: Nein, ich bin nicht neutral . Überparteilich – ja,wie es das Amt verlangt . Aber ich glaube, neutral darf ichgar nicht da sein, wo es um das ganz Grundsätzliche geht .Deshalb sage ich Ihnen: Ich werde parteiisch sein, partei-isch, wenn es um die Sache der Demokratie selbst geht .
Partei ergreifen werde ich auch für Europa . Ich freuemich über die vielen, vor allen Dingen jungen Menschen,die in diesen Tagen auf die Plätze gehen und uns den Pulsvon Europa wieder spüren lassen .
Die, die sich da versammeln, erinnern uns vielleicht da-ran, wie viel gerade wir Deutsche dem vereinten Europazu verdanken haben: die Rückkehr unseres Landes in dieWeltgemeinschaft, Wiederaufbau, Wachstum, Wohlstandund vor allem 70 Jahre Frieden . Das verdanken wir denMüttern und Vätern Europas, die nach 1945 den Mut hat-ten, die richtigen Lehren aus Jahrhunderten von Kriegenzu ziehen .Mut zu Europa, den brauchen wir wohl auch heute . Esstimmt ja: Europa ist weit davon entfernt, perfekt zu sein .Das wissen wir auch nicht erst seit dem Brexit . Wir dür-fen nichts schönreden, was schlecht läuft . Und selbstver-ständlich ist dringend Zeit für mutige Reformen . Dabeimuss vielleicht auch nicht jedes Detail des institutionellverfassten Europas mit Zähnen und Klauen verteidigtwerden . Aber denen, die heute meinen: „Ach, ich habedieses Europa über; lieber zurück hinter die vertrautenButzenscheiben der Nation“, denen sage ich: Das ist zueinfach, und das ist der falsche Weg .
Jean-Claude Juncker hat jüngst gesagt: „Wir habennicht das Recht, gegeneinander patriotisch zu sein .“ Ichsehe es genauso: Aufgeklärter Patriotismus und Einste-hen für Europa, das geht Hand in Hand .Denn – auch wenn wir, meine Generation, es nicht sonennen – für viele unserer Kinder ist Europa längst ein„zweites Vaterland“ geworden . Deshalb lassen Sie unsgemeinsam Partei ergreifen – für ein besseres Europa, füreines, das für die politische Freiheit steht, das sein Ge-wicht einsetzt für eine friedlichere und gerechtere Welt,für gute Nachbarschaft! Dafür will ich gerne streiten –und das mit möglichst vielen von Ihnen, meine Damenund Herren .
All die Mutigen, all die, die Partei ergreifen für Demo-kratie, werden jedenfalls den Bundespräsidenten dabeian ihrer Seite wissen .Meine Antrittsbesuche in unseren Bundesländern wer-den eine Deutschlandreise ganz besonderer Art sein: Ichwill an die Orte der deutschen Demokratie gehen – undvor allen Dingen hin zu den Menschen, die sie leben undbeleben, die, um auf Shimon Peres zurückzukommen,dem guten Wolf das Futter geben . Ich will zu denen,die nach ihrem wohlverdienten Feierabend in Gemein-deräten um das Schwimmbad oder die Bücherei in derNachbarschaft ringen . Ich will zu den kleinen und mittel-ständischen Unternehmen, die auf den Märkten der Weltbestehen müssen, aber zugleich Verantwortung für ihreMitarbeiter, für ihre Stadt, für ihre Region zeigen, zu denBetriebsräten, die geholfen haben, dass Unternehmenauch Krisenjahre überstanden haben, und darauf achten,dass es fair zugeht im Betrieb . Ich will zu denen, die inKindergärten vorlesen oder im Hospiz Sterbende beglei-ten .Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier
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Und wenn ich allein alle diejenigen, die sich bis zurErschöpfung für Flüchtlinge engagiert haben, mit einemOrden auszeichnen wollte – das würde ich gern; glaubenSie es mir –, dann wäre allerdings jetzt schon klar, womitich die nächsten fünf Jahre vollauf beschäftigt wäre .
Doch, meine Damen und Herren, das muss ich gar nicht .Denn wenn ich mit Feuerwehrleuten, Rotkreuzhelfern,Jugendtrainern oder Kirchenvertretern spreche, höre ich:Die warten nicht auf Orden, sondern die sagen mir: Wo-rum’s geht, ist nicht, was du für dich selber rausholst,sondern das, was du für andere reingibst . – Das sagt nichtnur einer, das sagen nicht zehn, das sagt nicht eine Min-derheit – es sind viele Millionen in unserem Land, diesich um mehr kümmern als nur um sich selbst, die Ver-antwortung übernehmen für die Nachbarschaft, das Dorf,die Region, die helfen, wo Hilfe nötig ist . Nichts, glaubeich, ist wertvoller als das, und das macht mich so stolzauf unser Land und seine Menschen .
Und weil das so einzigartig ist – wenn man ein biss-chen herumgekommen ist und sich andere Länder ange-schaut hat, weiß man das – und uns das von vielen ande-ren Ländern unterscheidet, bin ich mir so sicher, dass wirden Stürmen der Zeit trotzen werden und unseren Kin-dern eine lebenswerte Zukunft schenken werden, meineDamen und Herren .
1949, am Tag, als unsere Verfassung in Kraft trat, sag-te Theodor Heuss: Mit dem Grundgesetz ist „ein ganzkleines Stück festen Bodens für das deutsche Schicksalgeschaffen“ . – Heute ist dieses Grundgesetz ein breitesFundament für das wiedervereinigte Deutschland .1969 sagte Gustav Heinemann:Wir stehen erst am Anfang der ersten wirklich frei-heitlichen Periode unserer Geschichte . FreiheitlicheDemokratie muß endlich das Lebenselement unse-rer Gesellschaft werden .Heute ist sie uns ganz und gar selbstverständlich gewor-den .1990, im Jahr der Einheit, sagte Richard von Weiz-säcker: Nun gilt es, in der Freiheit zu bestehen . Das istschwer . – Heute setzen andere, die anderswo in Unfrei-heit leben, ihre Hoffnung in uns .Meine Damen und Herren, welch ein weiter, welch einerstaunlicher Weg! Ist es nicht eigentlich ganz wunder-bar, dass unser Land, ein Land mit dieser Geschichte, zueinem Anker der Hoffnung in der Welt geworden ist?
Ist es nicht ein unschätzbares Glück, meine Damen undHerren, dass wir – unsere Generationen – das erlebendürfen?Wer also, wenn nicht wir, ist gefragt, mutig für die De-mokratie zu streiten, wenn sie heute weltweit angefoch-ten wird . Das ist der Mut, von dem ich spreche, das istder Mut, den wir brauchen: keinen Kleinmut – dafür gibtes keinen Grund –, keinen Hochmut – davon hatten wirin Deutschland genug –, sondern den tatkräftigen, denlebenszugewandten Mut von Demokraten . Den brauchenwir!Herzlichen Dank .
Ich danke Ihnen, Herr Bundespräsident . – Für Ihre
Amtszeit wünsche ich Ihnen noch einmal im Namen des
ganzen Hauses die Autorität dieses Amtes, das Vertrauen
der Menschen und eine glückliche Hand .
Zur Bekräftigung unserer gemeinsamen Überzeugun-
gen, unserer Prinzipien, unserer Erfahrungen, unserer
Erwartungen und guten Wünsche an alle, die für dieses
Land Verantwortung tragen, singen wir nun gemeinsam
die Nationalhymne .
Bevor ich die gemeinsame Sitzung des Bundestages
und des Bundesrates schließe, muss ich daran erinnern,
dass dies zwar ein Festtag, aber kein Feiertag ist .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages für heute, 14 .30 Uhr, ein . Dann geht es mit der
Regierungsbefragung weiter .
Die Sitzung ist geschlossen .