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ID1822300700

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    Plenarprotokoll 18/223 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 223. Sitzung zugleich 955. Sitzung des Bundesrates Berlin, Mittwoch, den 22. März 2017 Inhalt: Eidesleistung des Bundespräsidenten ge- mäß Art. 56 Grundgesetz Ansprache des Präsidenten des Deutschen Bundestages Prof. Dr. Norbert Lammert . . . 22433 A Ansprache der Präsidentin des Bundesrates Malu Dreyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22434 A Ansprache des scheidenden Bundespräsiden- ten Dr. h. c. Joachim Gauck . . . . . . . . . . . . . 22435 D Eidesleistung des Bundespräsidenten Dr. Frank-Walter Steinmeier . . . . . . . . . . . . 22438 A Ansprache des Bundespräsidenten Dr. Frank- Walter Steinmeier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22438 B Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . . 22443 A (A) (C) (B) (D) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 223 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 22 . März 2017 22433 223. Sitzung zugleich 955. Sitzung des Bundesrates Berlin, Mittwoch, den 22. März 2017 Beginn: 12 .00 Uhr
  • folderAnlagen
    Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) (C) (B) (D) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 223 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 22 . März 2017 22443 Anlage zum Stenografischen Bericht Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Albsteiger, Katrin CDU/CSU 22 .03 .2017 Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 22 .03 .2017 Barthle, Norbert CDU/CSU 22 .03 .2017 Binder, Karin DIE LINKE 22 .03 .2017 Bosbach, Wolfgang CDU/CSU 22 .03 .2017 Bülow, Marco SPD 22 .03 .2017 Dröge, Katharina * BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 22 .03 .2017 Hajek, Rainer CDU/CSU 22 .03 .2017 Heller, Uda CDU/CSU 22 .03 .2017 Jelpke, Ulla DIE LINKE 22 .03 .2017 Katzmarek, Gabriele SPD 22 .03 .2017 Klein, Volkmar CDU/CSU 22 .03 .2017 Kudla, Bettina CDU/CSU 22 .03 .2017 Lerchenfeld, Philipp Graf CDU/CSU 22 .03 .2017 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Möhring, Cornelia DIE LINKE 22 .03 .2017 Mosblech, Volker CDU/CSU 22 .03 .2017 Müntefering, Michelle SPD 22 .03 .2017 Rüthrich, Susann * SPD 22 .03 .2017 Sarrazin, Manuel BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 22 .03 .2017 Schmidt, Dr . Frithjof BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 22 .03 .2017 Stauche, Carola CDU/CSU 22 .03 .2017 Strebl, Matthäus CDU/CSU 22 .03 .2017 Tank, Azize DIE LINKE 22 .03 .2017 Tressel, Markus BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 22 .03 .2017 Wagenknecht, Dr . Sahra DIE LINKE 22 .03 .2017 Wöhrl, Dagmar G . CDU/CSU 22 .03 .2017 *aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de 223. Sitzung zugleich 955. Sitzung des Bundesrates Inhaltsverzeichnis Eidesleistung des Bundespräsidenten gemäß Art. 56 Grundgesetz Anlage
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Frank-Walter Steinmeier


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)


    Vielen Dank, Herr Bundestagspräsident .


    (Anhaltender Beifall)




Rede von Dr. Norbert Lammert
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

Niemand, Herr Bundespräsident, wäre überrascht,

wenn Sie nun auch etwas zu uns sagten . Jedenfalls möch-
te ich Sie dazu ausdrücklich einladen .


  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Frank-Walter Steinmeier


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)


    Herr Präsident des Deutschen Bundestages! Verehr-

    te Mitglieder von Bundestag und Bundesrat! Verehrte
    Gäste aus dem In- und Ausland! Meine sehr verehrten
    Damen und Herren! Zunächst aber vor allem: Lieber
    Joachim Gauck! Ich glaube, Sie selbst haben das ja in
    den vergangenen Tagen gespürt: diese Welle von Sympa-
    thie, die Sie getragen hat, bei Ihren Abschiedsreisen, bei
    Ihren Auftritten überall .

    Und Ihre gerade verklungenen Abschiedsworte haben
    es den Deutschen noch mal eindrucksvoll vor Augen
    geführt: Sie haben das Amt des Bundespräsidenten tief
    geprägt und darüber unserem ganzen Land einen republi-
    kanischen, einen aufgeklärten Stolz vermittelt .

    Wenn nicht jeder wüsste, wofür der Bundespräsident
    kraft unserer Verfassung steht – Sie haben es in Ihrer
    Amtsführung gezeigt, mit Klugheit, mit Charme . Sie
    haben die Einheit des Staates verkörpert und befördert
    einschließlich all dessen – Sie haben es eben noch einmal
    gesagt –, wofür unser Gemeinwesen steht und weltweit
    geachtet wird: Freiheit und Demokratie, Rechtsstaatlich-
    keit und Menschenrechte .

    Lieber Herr Gauck, bei Ihrer Wahl vor fünf Jahren
    haben Sie hier in diesen Plenarsaal gerufen: „Was für
    ein schöner Sonntag!“ Mit Blick auf all das, was Sie ge-
    meinsam mit Daniela Schadt für unser Land getan haben,
    darf ich heute zu Ihrem Abschied auch sagen: Was für ein
    wehmütiger Mittwoch! – Wir alle wollen Ihnen beiden
    heute von Herzen noch einmal danken, und diese Dank-
    barkeit bleibt .


    (Beifall)


    Aber nicht nur die Dankbarkeit bleibt . Freiheit,
    Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte verteidigen –
    auch die Aufgabe bleibt, umso mehr in einer Zeit, in der
    alte Gewissheiten ganz offenbar ins Wanken geraten .
    Viele Fragen: Wie fest sind die Fundamente der Demo-
    kratie? Hat der Westen als Modell eine Zukunft? Wohin
    treibt Europa?

    Unser Blick geht zu den Wahlen in Frankreich, nach
    Russland, in die USA, aber in diesen Tagen – und ich
    glaube, das geht uns im Augenblick allen so – ganz be-
    sonders in die Türkei! Viel steht auf dem Spiel für die
    Türkei, aber auch für das Verhältnis der Türkei zu uns .
    Wir versuchen, uns unser Urteil nicht allzu einfach zu
    machen: Wer die Türkei vor 30 Jahren oder mehr bereist
    hat, kam in ein rückständiges Land . Die Menschen waren
    arm, Millionen verließen ihre Heimat auf der Suche nach
    Arbeit in ganz Europa . Heute ist die Türkei ein anderes
    Land . Sie hat eine Phase von wirtschaftlichem Aufbau
    und Reformen erlebt und – ich glaube, niemand wird das
    leugnen – zwischendurch auch eine Periode der Annähe-
    rung an Europa . All das haben wir Deutsche gewürdigt
    und unterstützt . Dem Weg, den die Türkei in zwei Jahr-
    zehnten nahm, fühlten wir uns sogar besonders verbun-
    den – auch wegen der vielen Menschen türkischer Ab-
    stammung, die in Deutschland leben, arbeiten und hier
    zu Hause sind .

    Und weil das alles so ist, meine Damen und Herren,
    schauen wir auf die Türkei von heute nicht mit Hochmut
    und Besserwisserei . Wir wissen um die Lage der Türkei
    in Nachbarschaft der großen Krisenregionen Irak und
    Syrien . Wir verurteilen den versuchten Militärputsch im
    vergangenen Sommer . Aber: Unser Blick ist von Sorge
    geprägt, dass all das, was über Jahre und Jahrzehnte auf-
    gebaut worden ist, gewachsen ist, zerfällt .

    Diese Sorge ist es, die meinen Appell leitet: Präsident
    Erdogan, gefährden Sie nicht das, was Sie mit anderen
    selbst aufgebaut haben! Glaubwürdige Signale der Ent-
    spannung sind willkommen . Aber: Beenden Sie die un-
    säglichen Nazivergleiche! Zerschneiden Sie nicht das
    Band zu denen, die wie wir Partnerschaft mit der Türkei
    wollen! Respektieren Sie den Rechtsstaat, Freiheit von

    Präsident Prof. Dr. Norbert Lammert






    (A) (C)



    (B) (D)


    Medien und Journalisten! Und: Geben Sie Deniz Yücel
    frei!


    (Beifall)


    Aber, meine Damen und Herren, machen wir es uns –
    auch mit Blick auf unseren eigenen Kontinent – nicht zu
    einfach! Die Anfechtung der freiheitlichen Demokratie
    findet nicht nur bei anderen statt – weit westlich und öst-
    lich der europäischen Grenzen . Die Wahrheit ist doch:
    Eine neue Faszination des Autoritären ist inzwischen tief
    nach Europa eingedrungen . Sosehr ich mich freue über
    die niederländischen Nachbarn, sosehr ich mich darüber
    freue, dass die Niederländer den Angriff auf ihre demo-
    kratischen Traditionen in der Wahlkabine zurückgeschla-
    gen haben: Ich finde, für übergroße Gelassenheit besteht
    kein Anlass .

    Geht uns das was an in Deutschland? Ich denke: ja .
    Wir können uns nicht zurücklehnen, uns gegenseitig auf
    die Schulter klopfen und Noten für andere verteilen . Wir
    leben nicht auf einer Insel! Die weltweiten Trends wirken
    auch bei uns . Ich glaube, auch unsere eigene Geschich-
    te, insbesondere die des 20 . Jahrhunderts, hat uns nicht
    wirklich immunisiert . Die Geschichte der Weimarer De-
    mokratie – deren 100 . Jubiläum wir im nächsten Jahr be-
    gehen – zeigt doch, dass die Demokratie weder selbstver-
    ständlich ist noch mit Ewigkeitsgarantie ausgestattet ist,
    dass sie, einmal errungen, auch wieder verloren gehen
    kann, wenn wir uns nicht um sie kümmern .

    „Die liberale Demokratie steht unter Beschuss“, so hat
    es Joachim Gauck in seiner Abschiedsrede ausgedrückt .
    Ja, sie steht unter lautem Beschuss von Radikalismus und
    Terrorismus, vom Machthunger der Autokraten, die –
    rund um die Welt – einer freien Zivilgesellschaft die Luft
    zum Atmen rauben .

    Aber es gibt auch das andere, die schleichende Ero-
    sion von innen: durch Gleichgültigkeit, Trägheit und
    Teilnahmslosigkeit oder, wie Präsident Lammert es in
    der Bundesversammlung gesagt hat, die Anfechtung
    durch jene, die Parlamente und demokratische Institu-
    tionen nicht mehr als Ort für politische Lösungen sehen
    wollen, sondern als Zeitverschwendung diskreditieren –
    und das politische Personal gleich mit .

    Populisten erhitzen die öffentliche Debatte durch ein
    Feuerwerk von Feindbildern, laden zum Kampf ein ge-
    gen das sogenannte Establishment und verheißen eine
    blühende Zukunft nach dessen Niedergang .

    Es gibt – das ist meine Sicht – in Deutschland kei-
    nen Grund für Alarmismus; das nicht . Aber ich sage mit
    Blick auf das, was sich da am Horizont auftut, mit ganz
    großer Ernsthaftigkeit, meine Damen und Herren: Wir
    müssen über Demokratie nicht nur reden – wir müssen
    wieder lernen, für sie zu streiten! Darum geht es .


    (Beifall)


    Nun ist Streiten für Demokratie nicht Sache der Po-
    litik allein . Aber Politik muss verstehen, dass die Zeiten
    besondere sind; Zeiten, in denen alte Gewissheiten ver-
    schwunden und, jedenfalls bislang, neue nicht an ihre
    Stelle getreten sind; Zeiten, in denen internationale Kon-
    flikte Sorge um den Frieden und auch um die Sicherheit

    im eigenen Lande auslösen; Zeiten, in denen Eltern sich
    fragen, ob es ihren Kindern noch genauso gut gehen wird
    wie ihnen selbst .

    Wir leben in Zeiten des Übergangs . Wie die Zukunft
    wird, darauf gibt es nicht nur eine Antwort . Da ist Zu-
    kunft nicht „alternativlos“ . Im Gegenteil: Die Zukunft
    ist offen, und sie ist überwältigend ungewiss . Diese Of-
    fenheit, die bei den einen Hoffnung auslöst, jagt anderen
    Angst ein . „Wer von Angst getrieben ist, vermeidet das
    Unangenehme, verleugnet das Wirkliche und verpasst
    das Mögliche“, so hat Heinz Bude geschrieben .

    Ich glaube auch: Der Ängstliche ist anfällig für die
    Lockrufe jener, die immer mit ganz einfachen Antworten
    zur Stelle sind . Mir scheint: Das Angebot an einfachen
    Antworten steigt im Wochenrhythmus . Dabei könnten
    wir doch eigentlich wissen: Die einfachen Antworten
    sind in der Regel keine Antworten . Wer soll denn glau-
    ben, dass in einer Welt, die komplizierter geworden ist,
    die Antworten einfacher werden? Wer soll denn glauben,
    dass nach dem blutigen 20 . Jahrhundert und den Lehren
    aus zwei Weltkriegen ausgerechnet die alten Muster von
    Abschottung und nationaler Eiferei die Welt friedlicher
    machen?

    Die neue Faszination des Autoritären, auch die in
    Teilen Europas, ist nach meiner Überzeugung am Ende
    nichts anderes als die Flucht in die Vergangenheit aus
    Angst vor der Zukunft. Ich finde, das kann und das darf
    nicht unser Weg in diesem Land, in Deutschland, sein .


    (Beifall)


    Ich kenne Weltregionen, in denen die Zukunft weit
    weniger gewiss ist als bei uns . Ich denke an meine letzte
    Begegnung mit Shimon Peres vor seinem Tod im vergan-
    genen Jahr . Wir beide waren unterwegs zu einem Besuch
    der Hebräischen Universität in Jerusalem – für mich bis
    heute ein ganz und gar unvergesslicher Tag! Dort in der
    Nachmittagssonne unter freiem Himmel auf dem Sco-
    pusberg waren wir zu Gast, als die stolzen Absolven-
    tinnen und Absolventen der Universität ihre Zeugnisse
    bekamen . Nach der Veranstaltung standen wir mit einer
    kleinen Gruppe von Studenten zusammen und diskutier-
    ten . In dieser Gruppe gab es eine junge Frau, die fragte:
    „Verehrter Shimon Peres, was wird uns die Zukunft brin-
    gen?“ Statt einer langen Antwort hat Shimon Peres ihr
    eine Geschichte erzählt . „Die Zukunft“, sagte Peres, „ist
    wie ein Kampf zweier Wölfe . Der eine ist das Böse, ist
    Gewalt, Furcht und Unterdrückung . Der andere ist das
    Gute, ist Frieden, Hoffnung und Gerechtigkeit .“ Die jun-
    ge Frau hörte zu, schaute fasziniert und fragte dann ganz
    gespannt zurück: „Und? Wer gewinnt?“ Peres lächelte
    und sagte: „Der, den du fütterst .“

    Du hast es in der Hand! Wir haben es in der Hand!
    Das war seine Botschaft an die jungen Leute . Und er hat
    eigentlich recht damit: Zukunft ist kein Schicksal, dem
    Gesellschaften ausgeliefert sind – erst recht nicht die
    demokratischen . Wer, wenn nicht wir Deutsche, kann
    davon ein glückliches Zeugnis geben? Wer, wenn nicht
    wir, hat erfahren, dass nach zwei Weltkriegen Frieden
    werden kann und nach Jahren der Teilung Versöhnung?
    Wer, wenn nicht wir, hat erfahren, dass nach der Raserei

    Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier






    (A) (C)



    (B) (D)


    der Ideologien so etwas einkehren kann wie politische
    Vernunft?

    Es ist nicht alles gut in unserem Land, aber vieles ist
    bei uns geglückt, und das miteinander . Deshalb haben
    wir allen Grund, zuallererst zu sagen: Lasst uns bewah-
    ren, was gelungen ist in diesem Land, meine Damen und
    Herren!


    (Beifall)


    Aber natürlich – Sie ahnen es –: Bewahren wird nicht
    genügen . Wir machen doch alle die Erfahrung: Das ge-
    rade Erreichte bleibt immer hinter dem Besseren zurück
    und immer weit weg von dem Erträumten . Haben wir
    Probleme gelöst, stellen sich bald die nächsten, oder –
    auch das erfahren wir – die alten Probleme stellen sich in
    neuem Gewand . Das mag den einen oder anderen frust-
    rieren . Aber wir wissen: Das Gebäude der Demokratie ist
    eben nie ganz vollständig errichtet . Demokratie ist Herr-
    schaft auf Zeit und liefert auch nur Lösungen auf Zeit .

    Eine kluge Frau, eine ehemalige Kollegin, aus Indien
    hat mir in einem Gespräch darüber mal den tröstenden
    Rat gegeben: In der Rechtschreibung der Politik gibt es
    keinen Punkt, sondern immer nur das Komma . – Die
    Frage ist: Muss uns das eigentlich frustrieren, oder ist
    das nicht eigentlich die Stärke von Demokratie? Demo-
    kratie ist die einzige Staatsform, die Fehler erlaubt, weil
    die Korrekturfähigkeit mit eingebaut ist . Die Stärke von
    Demokratien liegt nach meiner Überzeugung nicht in ih-
    rem Sendungsbewusstsein, sondern in ihrer Fähigkeit zur
    Selbstkritik und zur Selbstverbesserung .


    (Beifall)


    Wo denn sonst als in der Demokratie können so unter-
    schiedliche Interessen von Alt und Jung, Stadt und Land,
    Wirtschaft und Umwelt friedlich zum Ausgleich gebracht
    werden? Wo denn sonst als in der Demokratie begegnen
    sich Bürger unabhängig von ihrer Herkunft als Gleiche
    und Gleichberechtigte? Und wo sonst als in der Demo-
    kratie, wo Minderheiten Stimme und Gehör finden, soll
    uns etwa die gewaltige Aufgabe der Integration gelin-
    gen? Nur in der Demokratie kriegen wir das hin . Das ist
    ihre Stärke, und deshalb brauchen wir sie, meine Damen
    und Herren .


    (Beifall)


    Defizite benennen, um Lösungen ringen – das ist an-
    strengend . Demokratie ist eine anstrengende Staatsform,
    und sie ist zugleich ein Wagnis: Wir trauen einander zu,
    uns selbst zu regieren . Herrschaft aus dem Volk, durch
    das Volk und für das Volk – so hat es uns ein großer ame-
    rikanischer Präsident gelehrt, ein Republikaner übrigens .
    Das mag dem einen oder anderen zu idealistisch klingen,
    und es ist idealistisch . Aber was dahintersteckt, ist doch
    die tiefe Einsicht, dass die Flucht vor den Anstrengun-
    gen der Demokratie nicht etwa zu besserer Politik führt,
    ganz sicher nicht, auch und gerade nicht von denen, die
    von sich behaupten, im Namen des „eigentlichen Vol-
    kes“ oder der schweigenden Mehrheit zu sprechen gegen
    „die da oben“ . Demokratie kennt das Volk aber nur in
    seiner ganzen Vielfalt . Deshalb: Wer heute in Deutsch-
    land seinen Sorgen Luft macht und dabei ruft „Wir sind
    das Volk!“, der darf das gern – aber der muss auch hin-

    nehmen, dass andere Leute mit anderen Ansichten diesen
    stolzen Satz genauso beanspruchen,


    (Beifall)


    so wie ich das vor ein paar Monaten in Dresden gesehen
    habe, wo eine bunte Truppe junger Leute ein Plakat in
    die Höhe hielt, auf dem ganz gelassen stand: „Nö – wir
    sind das Volk“ .


    (Heiterkeit und Beifall)


    Genauso ist es, meine Damen und Herren . In der De-
    mokratie tritt das Volk eben nur im Plural auf und hat
    viele Stimmen . Nie wieder darf eine politische Kraft so
    tun, als habe sie allein den Willen des Volkes gepachtet
    und alle anderen seien Lügner, Eindringlinge oder Ver-
    räter . Deshalb ist meine Bitte: Wo immer solche Art von
    Populismus sich breitmacht – bei uns im Land oder bei
    unseren Freunden und Partnern –, da lassen Sie uns ge-
    meinsam vielstimmig dagegenhalten!


    (Beifall)


    Herr Gauck, Sie haben es angedeutet: Wir navigieren
    zurzeit in unbekannten Gewässern . Ob wir nach Os-
    ten oder nach Westen schauen: Wir steuern da auf viel
    unkartiertes Gelände zu . Oftmals werden wir Antworten
    geben müssen, ohne uns an andere anlehnen zu können .
    Das verlangt Selbstbewusstsein . Aber noch viel mehr
    verlangt es Mut, Mut, nach vorn in Richtung Zukunft
    zu denken, nicht darauf zu hoffen, die Antworten in der
    Vergangenheit zu finden, Mut, unsere Geschicke selbst
    in die Hand zu nehmen – ohne, Herr Präsident, den Kai-
    ser oder den „großen Bruder“ oder selbsternannte „starke
    Männer“. Ich finde: Mut ist das Lebenselixier der De-
    mokratie, so wie die Angst der Antrieb von Diktatur und
    Autokratie ist .


    (Beifall)


    Deshalb, meine Damen und Herren: Die Staatsform
    der Mutigen – das ist die Demokratie . Die Demokratie
    braucht diesen Mut auf beiden Seiten: auf der Seite der
    Regierten ebenso wie auf der Seite der Regierenden .
    Denn nur wer selber Mut hat, kann auch andere ermuti-
    gen, und nur der kann Mut erwarten .

    Politik tut sich keinen Gefallen, wenn sie über Sor-
    gen der Menschen, über politische Fehlentwicklungen,
    über offene Fragen nicht ebenso offen redet . Wir leben in
    hochpolitischen Zeiten . Das verlangt den Mut, zu sagen,
    was ist und was zu tun ist . Wie gelingt Integration? Wie,
    lieber Herr Gauck, bringen wir das überein: unser weites
    Herz und die endlichen Möglichkeiten? Wie erneuern wir
    das Versprechen vom Aufstieg durch Bildung, das mich
    persönlich und eine ganze Generation auf den Weg ge-
    bracht hat? Wie erhalten wir Hoffnung dort, wo im Dorf
    Schule, Arztpraxis, Friseurladen und Tankstelle längst
    geschlossen sind und jetzt auch noch die letzte Busver-
    bindung gekappt wird?

    Wie schaffen wir ethische Standards auch in der Wirt-
    schaft, die das Oben und Unten in der Gesellschaft ver-
    bunden halten, damit oben nicht nach Regeln gehandelt
    wird, die von den Menschen als unanständig empfunden
    werden? Wo Abfindungen und Bonuszahlungen nur noch
    „Fassungslosigkeit“ bei den Menschen hervorrufen – so

    Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier






    (A) (C)



    (B) (D)


    hat gerade in der Zeit einer der großen deutschen Wirt-
    schaftsführer geschrieben –, sollten wir die Debatte da-
    rüber nicht „vorschnell als Neiddebatte abtun“. Ich finde:
    Recht hat er . Es geht um das gemeinsame Interesse, dass
    das Vertrauen in unsere wirtschaftliche und politische
    Ordnung nicht durch das Handeln weniger insgesamt
    Schaden nimmt .

    Der Bundespräsident hat dazu keine Vorschläge zu
    machen . Aber die lebendige Debatte darüber – davon bin
    ich überzeugt – braucht die Gesellschaft . Führen wir sie
    nicht, dann – das sage ich voraus – werden Populisten
    unterschiedlicher Couleur sie am Ende gegen die Demo-
    kratie wenden . Deshalb sind wir alle miteinander gefragt,
    meine Damen und Herren .


    (Beifall)


    Das geht nicht von allein . Dafür brauchen wir eine
    Kultur des demokratischen Streits . Selten werden wir
    alle derselben Meinung sein . Umso wichtiger ist, dass
    wir das gemeinsame Fundament von Demokratie pfle-
    gen, aber die Auseinandersetzung über Ideen, Optionen
    und Alternativen nicht scheuen . Wir brauchen das Dauer-
    gespräch unter Demokraten, wo nötig, auch kontrovers .
    Die tägliche Selbstbestätigung unter Gleichgesinnten
    bringt uns nicht weiter . Bevor wir uns daran gewöhnen,
    nur noch mit denen zu reden, die gleicher Meinung sind,
    frage ich: Warum nicht mal mit denen sprechen, die uns
    Facebook nicht als Kontakt vorschlägt? Warum nicht
    überhaupt mal den Blick vom Smartphone heben und ins
    wirkliche Leben schauen?


    (Beifall)


    Ich will, dass diese Gesellschaft miteinander im Ge-
    spräch bleibt . Der Raum der Demokratie, das ist einer, in
    dem – ja – viele zu Wort kommen müssen, in dem es aber
    auch ein paar geben muss, die zuhören .

    Ich will, dass wir uns rauswagen aus den Echokam-
    mern, auch aus mancher Selbstgewissheit der intellektu-
    ellen Ohrensessel und erst recht aus der Anonymität des
    Netzes, wo die Grenze zwischen dem Sagbaren und dem
    Unsäglichen immer mehr schwindet, wo inzwischen eine
    Sprache aggressiver Maßlosigkeit herrscht und wo täg-
    lich immer nur noch neue Erregungswellen erzeugt wer-
    den . Und vor allem, meine Damen und Herren, will ich
    eines: dass wir in Deutschland festhalten an dem Unter-
    schied von Fakt und Lüge . Wer das aufgibt, der rührt am
    Grundgerüst von Demokratie .


    (Beifall)


    Vor einigen Monaten fragte mich ein prominentes Mit-
    glied dieses Hauses – wohlgemerkt ganz wohlwollend –:
    „Herr Steinmeier, nach so vielen Jahren in der Politik –
    können Sie da eigentlich neutral sein?“ Die ehrliche Ant-
    wort ist: Nein, ich bin nicht neutral . Überparteilich – ja,
    wie es das Amt verlangt . Aber ich glaube, neutral darf ich
    gar nicht da sein, wo es um das ganz Grundsätzliche geht .
    Deshalb sage ich Ihnen: Ich werde parteiisch sein, partei-
    isch, wenn es um die Sache der Demokratie selbst geht .


    (Beifall)


    Partei ergreifen werde ich auch für Europa . Ich freue
    mich über die vielen, vor allen Dingen jungen Menschen,

    die in diesen Tagen auf die Plätze gehen und uns den Puls
    von Europa wieder spüren lassen .


    (Beifall)


    Die, die sich da versammeln, erinnern uns vielleicht da-
    ran, wie viel gerade wir Deutsche dem vereinten Europa
    zu verdanken haben: die Rückkehr unseres Landes in die
    Weltgemeinschaft, Wiederaufbau, Wachstum, Wohlstand
    und vor allem 70 Jahre Frieden . Das verdanken wir den
    Müttern und Vätern Europas, die nach 1945 den Mut hat-
    ten, die richtigen Lehren aus Jahrhunderten von Kriegen
    zu ziehen .

    Mut zu Europa, den brauchen wir wohl auch heute . Es
    stimmt ja: Europa ist weit davon entfernt, perfekt zu sein .
    Das wissen wir auch nicht erst seit dem Brexit . Wir dür-
    fen nichts schönreden, was schlecht läuft . Und selbstver-
    ständlich ist dringend Zeit für mutige Reformen . Dabei
    muss vielleicht auch nicht jedes Detail des institutionell
    verfassten Europas mit Zähnen und Klauen verteidigt
    werden . Aber denen, die heute meinen: „Ach, ich habe
    dieses Europa über; lieber zurück hinter die vertrauten
    Butzenscheiben der Nation“, denen sage ich: Das ist zu
    einfach, und das ist der falsche Weg .


    (Beifall)


    Jean-Claude Juncker hat jüngst gesagt: „Wir haben
    nicht das Recht, gegeneinander patriotisch zu sein .“ Ich
    sehe es genauso: Aufgeklärter Patriotismus und Einste-
    hen für Europa, das geht Hand in Hand .

    Denn – auch wenn wir, meine Generation, es nicht so
    nennen – für viele unserer Kinder ist Europa längst ein
    „zweites Vaterland“ geworden . Deshalb lassen Sie uns
    gemeinsam Partei ergreifen – für ein besseres Europa, für
    eines, das für die politische Freiheit steht, das sein Ge-
    wicht einsetzt für eine friedlichere und gerechtere Welt,
    für gute Nachbarschaft! Dafür will ich gerne streiten –
    und das mit möglichst vielen von Ihnen, meine Damen
    und Herren .


    (Beifall)


    All die Mutigen, all die, die Partei ergreifen für Demo-
    kratie, werden jedenfalls den Bundespräsidenten dabei
    an ihrer Seite wissen .

    Meine Antrittsbesuche in unseren Bundesländern wer-
    den eine Deutschlandreise ganz besonderer Art sein: Ich
    will an die Orte der deutschen Demokratie gehen – und
    vor allen Dingen hin zu den Menschen, die sie leben und
    beleben, die, um auf Shimon Peres zurückzukommen,
    dem guten Wolf das Futter geben . Ich will zu denen,
    die nach ihrem wohlverdienten Feierabend in Gemein-
    deräten um das Schwimmbad oder die Bücherei in der
    Nachbarschaft ringen . Ich will zu den kleinen und mittel-
    ständischen Unternehmen, die auf den Märkten der Welt
    bestehen müssen, aber zugleich Verantwortung für ihre
    Mitarbeiter, für ihre Stadt, für ihre Region zeigen, zu den
    Betriebsräten, die geholfen haben, dass Unternehmen
    auch Krisenjahre überstanden haben, und darauf achten,
    dass es fair zugeht im Betrieb . Ich will zu denen, die in
    Kindergärten vorlesen oder im Hospiz Sterbende beglei-
    ten .

    Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier






    (A) (C)



    (B) (D)


    Und wenn ich allein alle diejenigen, die sich bis zur
    Erschöpfung für Flüchtlinge engagiert haben, mit einem
    Orden auszeichnen wollte – das würde ich gern; glauben
    Sie es mir –, dann wäre allerdings jetzt schon klar, womit
    ich die nächsten fünf Jahre vollauf beschäftigt wäre .


    (Beifall)


    Doch, meine Damen und Herren, das muss ich gar nicht .
    Denn wenn ich mit Feuerwehrleuten, Rotkreuzhelfern,
    Jugendtrainern oder Kirchenvertretern spreche, höre ich:
    Die warten nicht auf Orden, sondern die sagen mir: Wo-
    rum’s geht, ist nicht, was du für dich selber rausholst,
    sondern das, was du für andere reingibst . – Das sagt nicht
    nur einer, das sagen nicht zehn, das sagt nicht eine Min-
    derheit – es sind viele Millionen in unserem Land, die
    sich um mehr kümmern als nur um sich selbst, die Ver-
    antwortung übernehmen für die Nachbarschaft, das Dorf,
    die Region, die helfen, wo Hilfe nötig ist . Nichts, glaube
    ich, ist wertvoller als das, und das macht mich so stolz
    auf unser Land und seine Menschen .


    (Beifall)


    Und weil das so einzigartig ist – wenn man ein biss-
    chen herumgekommen ist und sich andere Länder ange-
    schaut hat, weiß man das – und uns das von vielen ande-
    ren Ländern unterscheidet, bin ich mir so sicher, dass wir
    den Stürmen der Zeit trotzen werden und unseren Kin-
    dern eine lebenswerte Zukunft schenken werden, meine
    Damen und Herren .


    (Beifall)


    1949, am Tag, als unsere Verfassung in Kraft trat, sag-
    te Theodor Heuss: Mit dem Grundgesetz ist „ein ganz
    kleines Stück festen Bodens für das deutsche Schicksal
    geschaffen“ . – Heute ist dieses Grundgesetz ein breites
    Fundament für das wiedervereinigte Deutschland .

    1969 sagte Gustav Heinemann:

    Wir stehen erst am Anfang der ersten wirklich frei-
    heitlichen Periode unserer Geschichte . Freiheitliche
    Demokratie muß endlich das Lebenselement unse-
    rer Gesellschaft werden .

    Heute ist sie uns ganz und gar selbstverständlich gewor-
    den .

    1990, im Jahr der Einheit, sagte Richard von Weiz-
    säcker: Nun gilt es, in der Freiheit zu bestehen . Das ist

    schwer . – Heute setzen andere, die anderswo in Unfrei-
    heit leben, ihre Hoffnung in uns .

    Meine Damen und Herren, welch ein weiter, welch ein
    erstaunlicher Weg! Ist es nicht eigentlich ganz wunder-
    bar, dass unser Land, ein Land mit dieser Geschichte, zu
    einem Anker der Hoffnung in der Welt geworden ist?


    (Beifall)


    Ist es nicht ein unschätzbares Glück, meine Damen und
    Herren, dass wir – unsere Generationen – das erleben
    dürfen?

    Wer also, wenn nicht wir, ist gefragt, mutig für die De-
    mokratie zu streiten, wenn sie heute weltweit angefoch-
    ten wird . Das ist der Mut, von dem ich spreche, das ist
    der Mut, den wir brauchen: keinen Kleinmut – dafür gibt
    es keinen Grund –, keinen Hochmut – davon hatten wir
    in Deutschland genug –, sondern den tatkräftigen, den
    lebenszugewandten Mut von Demokraten . Den brauchen
    wir!

    Herzlichen Dank .


    (Langanhaltender Beifall)