Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Bleiben Sie bitte von Ihren
Plätzen erhoben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste! Am
vergangenen Samstag ist nach langer, schwerer Krank-
heit unser Kollege und Vizepräsident Peter Hintze
gestorben . Mit ihm verlieren wir einen der erfahrensten
und angesehensten Politiker, der unser Land über drei
Jahrzehnte mitgestaltet hat, einen Parlamentarier mit
Leib und Seele – und viele von uns einen einfühlsamen
Zuhörer, klugen Ratgeber und guten Freund . „Eine still
prägende Gestalt der Republik“, hat man ihn in einem
Nachruf genannt . Es hätte ihm gefallen, und es ist nicht
übertrieben .
Geboren in Bad Honnef, wurde Peter Hintze nach dem
Studium der Theologie zunächst Pfarrer in Königswin-
ter; einer größeren Öffentlichkeit wurde er bereits in den
1980er-Jahren bekannt, als der damalige Bundesminister
für Jugend und Familie, Heiner Geißler, ihn zum Bundes-
beauftragten für den Zivildienst berief .
Peter Hintze bekleidete in seiner politischen Laufbahn
zahlreiche Ämter in Partei, Regierung und Parlament,
unter anderem als Parlamentarischer Staatssekretär im
Bundesministerium für Familie und Jugend, später acht
Jahre im Bundeswirtschaftsministerium, dazu auch als
Koordinator der Bundesregierung für Luft- und Raum-
fahrt .
Diesem Haus gehörte er über ein Vierteljahrhundert
an; 1990 wurde er erstmals in den Bundestag gewählt –
in das erste gesamtdeutsche Parlament. In seiner ersten
Rede zur damaligen Hauptstadtdebatte beschwor er den
weiteren Bau Europas als vorrangige Aufgabe . Dies
blieb eines seiner zentralen Anliegen, das er später auch
als langjähriger Vizepräsident der Europäischen Volks-
partei und der Christlich Demokratischen Internationale
nachhaltig vertrat . Es ist schön, dass dieses europäische
Engagement heute Morgen auch in der Anwesenheit des
Präsidenten der Assemblée nationale, Claude Bartolone,
zum Ausdruck kommt und gewürdigt wird .
Die Wahl Peter Hintzes zum Vizepräsidenten des Bun-
destages zu Beginn dieser Legislaturperiode war Aus-
druck der hohen Wertschätzung, die er unter Kolleginnen
und Kollegen über die Fraktionsgrenzen hinweg genoss .
Seine bemerkenswerten Fähigkeiten, ausgleichend zu
wirken und Brücken zwischen unterschiedlichen Auffas-
sungen und Interessen zu bauen, wurden nun einer brei-
teren Öffentlichkeit bewusst, in der viele ihn vor allem
als Generalsekretär der CDU in den 1990er-Jahren in
Erinnerung hatten – ein eher polarisierendes Amt, in dem
er auch zuzuspitzen wusste und durchaus gerne die Kon-
troverse gesucht hat: mal mit und mal ohne rote Socken .
Peter Hintze war ein Mann mit Überzeugungen, der
das offene Wort ebenso pflegte wie seinen rheinländi-
schen Humor mit der Begabung zur Selbstironie . Wich-
tigster Maßstab seiner politischen Arbeit war – in seinen
eigenen Worten – die Freiheit des Menschen, verstanden
als Autonomie der Person. „Die Selbstbestimmung ist
der Kern der Menschenwürde“, betonte er immer wie-
der . Darauf pochte er vor allem in seinen stark beach-
teten Redebeiträgen zu den großen ethischen Debatten
innerhalb wie außerhalb des Parlaments über Grundsatz-
fragen, die den Beginn und das Ende des Lebens betref-
fen . Hier meldete er sich als theologisch versierter und
religiös geprägter, aber liberal argumentierender Mensch
regelmäßig zu Wort, zuletzt und unvergessen zu den an-
gemessenen rechtlichen Rahmenbedingungen der Ster-
bebegleitung .
Peter Hintze hatte eine ausgeprägte Liebe zum Leben.
Und wie nur wenige andere Politiker hat er sich inten-
siv mit dem Sterben beschäftigt . Dass die Antworten
bei dieser existenziellen Frage zwischen Leben und Tod
unterschiedlich ausfallen können, gehörte für ihn „zur
evangelischen Freiheit“ . Streitbar war er, der gläubige
Christ, eben auch in seinem Glauben und im Umgang
mit seiner Kirche . „Zwei zentrale Gebote tragen unsere
Werteordnung“, rief er uns im vergangenen Jahr in die-
ser denkwürdigen Debatte in Erinnerung: „das Gebot der
Menschenwürde und das Gebot der Nächstenliebe“ .
Auch wenn er so aus seinem christlichen Grundver-
ständnis heraus argumentierte, stellte er – abweichend
von der Haltung der Kirchen – aus seiner Sicht klar – Zi-
tat –: „Leiden im Sterben ist sinnlos!“ Auch als er selbst
längst sterbenskrank war, hat er dieses Schicksal mit
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620488
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bewundernswerter Haltung ertragen, wie all diejenigen
berichten können, die bis zuletzt, bis in die letzten Wo-
chen und Tage hinein, mit ihm Kontakt hatten: ohne jede
erkennbare Verbitterung .
Freundschaft, Loyalität und Treue bedeuteten Peter
Hintze viel – in der Politik genauso wie im richtigen
Leben . Das zeichnete ihn als Mensch aus . Und das wird
vielen von uns ebenso in Erinnerung bleiben wie die Le-
bensleistung eines Politikers, der seinem Land gedient
hat und dabei stets mit Nachdruck auch für die europä-
ische Idee und die notwendige Zusammenarbeit einge-
treten ist .
Der Politiker wie der Mensch Peter Hintze wird uns
fehlen . Wir trauern mit der Familie und wünschen sei-
ner Frau, seinem Sohn und allen Angehörigen in dieser
schweren Zeit Kraft und Trost .
Ich danke Ihnen .
Bevor wir in die Tagesordnung unserer heutigen Ple-
narsitzung eintreten, möchte ich dem Kollegen Heinz
Riesenhuber zu seinem heutigen 81 . Geburtstag gratu-
lieren
und alles Gute für ein Lebensjahr wünschen, das sich von
vielen anderen, die ihm vorausgegangen sind, deutlich
unterscheiden wird und bei dem wir uns an den Gedan-
ken gewöhnen müssen, dass deutscher Parlamentarismus
irgendwann auch ohne Heinz Riesenhuber stattfinden
muss .
– Das hört sich fast an wie ein Antrag auf Verfassungs-
änderung, der aber noch der Schriftform und förmlicher
Verfahren bedürfte .
Dann müssen wir noch ein Mitglied des wissenschaft-
lichen Beratungsgremiums gemäß § 39a des Stasi-Un-
terlagen-Gesetzes wählen. Die SPD-Fraktion schlägt
vor, für den ausgeschiedenen Professor Dr. Klaus-
Dietmar Henke für den Rest der Amtszeit Herrn Pro-
fessor Dr. Rainer Eckert als Mitglied des Beratungs-
gremiums zu berufen . Stimmen Sie dem zu? – Das ist
offensichtlich der Fall. Damit ist Herr Professor Eckert
als Mitglied des wissenschaftlichen Beratungsgremiums
gewählt .
Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die Tages-
ordnung um die in der Zusatzpunkteliste aufgeführten
Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Aktuelle Lage in Aleppo und Syrien
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Bundeswaldgesetzes
Drucksache 18/10456
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Meiwald, Oliver Krischer, Annalena Baerbock,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Minamata-Konvention zu Quecksilber unver-
züglich ratifizieren
Drucksache 18/7657
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr . Valerie Wilms, Beate Walter-Rosenheimer,
Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Nachhaltigkeit im politischen Prozess veran-
kern
Drucksache 18/10475
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
d) Unterrichtung durch die Bundesregierung
Erster Bericht der Bundesregierung über die
Auswirkungen des Conterganstiftungsgeset-
zes sowie über die gegebenenfalls notwendige
Weiterentwicklung dieser Vorschriften
Drucksache 18/8780
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
ZP 3 Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/
CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neu-
ordnung der Verantwortung in der kerntech-
nischen Entsorgung
Drucksache 18/10469
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit
Präsident Dr. Norbert Lammert
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(D)
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Britta
Haßelmann, Luise Amtsberg, Volker Beck
, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Parteiensponsoring regeln
Drucksache 18/10476
Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratun-
gen, soweit erforderlich, abgewichen werden .
Die Tagesordnungspunkte 19 – hier geht es um die ab-
schließende Beratung des Entwurfes eines Gesetzes zur
verbesserten Durchsetzung des Anspruchs der Urheber
und ausübenden Künstler auf angemessene Vergütung –
und 35 a – auch hier eine erste Beratung des Gesetzent-
wurfs zur Neuordnung der Aufbewahrung von Notariats-
unterlagen – werden abgesetzt .
Des Weiteren soll auch der Tagesordnungspunkt 31
abgesetzt werden – hier geht es um Beschlussempfeh-
lungen zum Thema Bahnpolitik – und stattdessen der
Tagesordnungspunkt 8 – hier geht es um einen Antrag
mit dem Titel „Familien stärken – Kinder fördern“ – mit
einer Debattendauer von nunmehr 77 Minuten aufgeru-
fen werden .
Die Tagesordnungspunkte 11 – hier geht es um den
NATO-Beitritt Montenegros – und 32 – hier geht es um
die Fortsetzung des Bundeswehreinsatzes in Afghanis-
tan – tauschen unter Beibehaltung der dafür vorgesehe-
nen Debattenzeiten ihre Plätze.
Schließlich mache ich Sie noch auf eine nachträg-
liche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatz-
punkteliste aufmerksam, die Sie sicherlich längst regis-
triert und hoffentlich auch längst gebilligt haben:
Der am 10 . November 2016 überwie-
sene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Neunten Geset-
zes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbe-
werbsbeschränkungen
Drucksache 18/10207
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss Digitale Agenda
Der guten Ordnung halber frage ich, ob jemand Ein-
wände hat . – Das ist nicht der Fall . Dann ist das so be-
schlossen .
Dann kommen wir jetzt zu unseren Tagesordnungs-
punkten 3 a und 3 b:
a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und
Selbstbestimmung von Menschen mit
Drucksachen 18/9522, 18/9954, 18/10102
Nr. 16
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
Drucksache 18/10523
Drucksache 18/10526
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
– zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin
Werner, Sigrid Hupach, Matthias W . Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Das Teilhaberecht menschenrechtskonform
gestalten
– zu dem Antrag der Abgeordneten Corinna
Rüffer, Kerstin Andreae, Markus Kurth, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Mit dem Bundesteilhabegesetz volle Teilha-
be ermöglichen
Drucksachen 18/10014, 18/9672, 18/10523
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein
Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen vor .
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 77 Minuten vorgesehen . – Einwände sind
nicht erkennbar . Dann verfahren wir so .
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Bundesministerin Andrea Nahles .
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und So-
ziales:
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Weniger behindern, mehr möglich machen:
Das ist der Kern des Bundesteilhabegesetzes . Dieses
neue Sozialgesetzbuch IX steht damit in einer Reihe
wichtiger politischer Wegmarken auf dem Weg zu einer
inklusiven Gesellschaft .
Begonnen haben wir in Deutschland diesen Weg vor
mehr als 20 Jahren . 1994 haben wir das Verbot der Be-
nachteiligung von Behinderten in unserer Verfassung
festgeschrieben . 2001 ist das SGB IX in Kraft getreten .
Seit 2009 gilt die UN-Behindertenrechtskonvention auch
bei uns . Heute gehen wir auf diesem Weg den nächsten
Schritt . Das ist ein großer, ein mutiger Schritt; denn es ist
nichts Geringeres als ein Systemwechsel . Wir führen die
Präsident Dr. Norbert Lammert
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620490
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Eingliederungshilfe aus der Sozialhilfe heraus und brin-
gen sie – gesetzestechnisch – an die richtige Stelle als
Leistungsrecht in das SGB IX . Auf unserem Weg haben
wir viel erlebt: Zweifel, Kritik, gezielte Desinformation,
auch Enttäuschung und Zorn, ebenso jedoch Zuspruch
und Ermunterung. Ein anspruchsvoller politischer Pro-
zess ist daraus geworden . Nun liegt das neue SGB IX vor
uns. Es ist im Prozess noch einmal besser geworden. Wir
haben noch einmal zusätzliche Finanzmittel erstritten .
Darüber freue ich mich sehr .
Lassen Sie mich an drei Punkten verdeutlichen, was
das Bundesteilhabegesetz ist und was wir erreicht haben:
Erstens . Wir vereinfachen die Verwaltung für die Bür-
gerinnen und Bürger: ein Leistungsantrag, wo bisher vie-
le nötig waren . Die Leistungen werden aus einer Hand
erbracht . Entscheidend ist die Unterstützung für die Men-
schen mit Behinderung und nicht etwa, was der einzelne
Träger dem anderen zu sagen hat . Das müssen diese nun
untereinander klären, aber nicht mehr auf dem Rücken
der Betroffenen. Das ist wirklich ein großer Fortschritt.
Der zweite wichtige Punkt ist: Bei der Eingliederungs-
hilfe werden Einkommen und Vermögen von Ehe- und
Lebenspartnern künftig nicht mehr herangezogen . Die-
se lebensfremde Regelung wurde von vielen schlicht als
Heiratshindernis empfunden. Das schaffen wir nun ab.
Auch die Freigrenzen für eigenes Einkommen und Ver-
mögen werden um ein Vielfaches angehoben, damit es
sich lohnt, eine Arbeit aufzunehmen . Der Schonbetrag
für Vermögen in der Sozialhilfe wird ebenfalls erhöht .
Das ist ein wichtiges Ergebnis, das die Bundestagsfrakti-
onen in den Verhandlungen noch erzielen konnten .
Die dritte wichtige Verbesserung sind neue Chancen
auf Arbeit vor allem auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt .
Wir wollen mit dem Budget für Arbeit Arbeitgeber dafür
gewinnen, sich für Menschen mit Behinderung zu ent-
scheiden . Das tun noch immer zu wenige . 39 000 Un-
ternehmen in Deutschland beschäftigen niemanden mit
Behinderung . Das darf nicht so bleiben . Wir gehen nun
den Weg mit dem Budget für Arbeit . Einige Bundeslän-
der wie mein Heimatland Rheinland-Pfalz haben das
schon ausprobiert. Es besteht aber für die Betroffenen
die Möglichkeit, in die Werkstatt zurückzukehren, wenn
es auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht klappt . Wir
machen daraus keine ideologische Frage. Wir schaffen
vielmehr eine praktische Regelung, die den Betroffenen
helfen soll, den notwendigen Mut aufzubringen, um den
angeblichen Schonbereich der Werkstätten zu verlassen .
Das sind nur drei Meilensteine auf dem Weg hin zu
einer inklusiven Gesellschaft . Ein großes Thema in der
Debatte war auch die Schnittstelle zwischen Eingliede-
rungshilfe und Pflege. Da möchte ich mich bei den Kol-
legen aus dem Gesundheitsbereich bedanken, insbeson-
dere bei Minister Gröhe; denn hierzu mussten wir viele
Sachen miteinander klären . Hierzu haben auch die Län-
der im Bundesrat einen guten Vorschlag eingebracht . Für
Menschen mit Behinderung sollte die Hilfe zur Pflege
über die Eingliederungshilfe erbracht werden . Wir nen-
nen das Lebenslagenansatz . Ich freue mich, dass das so
gelungen ist .
Ich bin froh, dass die Verhandlungen diese Lösung
erbracht haben . Es war nicht immer einfach, aus den
vielschichtigen und – das muss ich ehrlich zugeben –
teilweise völlig gegensätzlichen Interessenlagen eini-
gungsfähige Positionen zu entwickeln. Wir haben uns
dafür sehr viel Zeit genommen . Über ein Jahr bevor das
Gesetz überhaupt auf den Weg kam, haben wir einen Di-
alog mit allen Beteiligten, mit Kommunen und Ländern,
geführt und Interessen abgeglichen . Es ist wichtig, dass
wir an dieser Stelle sagen, dass es auch Interessenkon-
flikte gibt und dass diese ein Stück weit bleiben werden.
Dass wir in Zukunft auf dem Weg, den wir heute mit ei-
nem guten Fundament versehen, noch viele Baustellen
haben werden, ist klar . Aber das schmälert nicht den gro-
ßen Fortschritt, den wir heute auf den Weg bringen .
Ich möchte mich bei allen bedanken, auch bei den Kri-
tikern, die sich in sehr deutlicher Form zu Wort gemeldet
haben . Ich möchte an dieser Stelle sagen: Ich sehe das als
Fortschritt an . Früher war Behinderung etwas – ich habe
eine behinderte Tante –, das versteckt wurde . Die Fami-
lie hat sich dafür mehr oder weniger geschämt . Da war
eine ganz andere Haltung. Wir und die Betroffenen selber
haben uns langsam aus dieser Haltung herausgearbeitet .
Wenn die Betroffenen sich heute laut in diesen Prozess
einbringen, dann ist das doch gut . Das ist genau das, was
wir wollen . Ich habe mich gelegentlich darüber geärgert,
wie ich mich auch über andere ärgere . Jetzt sind wir aber
auch da ein Stück weit in der ganz normalen Auseinan-
dersetzung, und das ist auch richtig so .
Ein solches Gesetz, das wir über Jahre erarbeitet
haben, macht man nicht allein . Ich möchte ausdrück-
lich meinem Haus, Abteilung V, danken und besonders
Gabriele Lösekrug-Möller, meiner Parlamentarischen
Staatssekretärin, die die Begabung hat, die mir manch-
mal abgeht, nämlich ausgleichend zu wirken . In diesem
Sinne vielen Dank .
Auch die Beteiligungskultur in diesem Gesetzge-
bungsverfahren, dieser intensive Dialog, ist etwas Be-
sonderes und, wie ich finde, Vorbildliches, was wir auch
in anderen Gesetzgebungsverfahren gebrauchen können .
Das wird auch weitergehen .
Bundesministerin Andrea Nahles
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20491
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Die neuen Regelungen der Eingliederungshilfe wer-
den erst am 1 . Januar 2020 in Kraft treten . Die Rege-
lungen zum leistungsberechtigten Personenkreis, die
zu vielen Sorgen geführt haben, führen wir erst ab dem
1 . Januar 2023 ein . Bis dahin wollen wir miteinander er-
proben und gemeinsam lernen . Ich bin mir sicher, dass
sich viele der jetzigen Ängste auf der Strecke, so hoffe
ich, positiv auflösen werden. Da bin ich ganz zuversicht-
lich . Aber diese Zeit nehmen wir uns; denn wir wollen
die Leute mitnehmen . Wir wollen den Menschen die
Ängste nehmen . Deshalb haben wir eine längere Einlei-
tungsphase bei diesem Gesetz .
Wenn wir feststellen, dass es noch besser geht, dann
müssen wir das eben machen. So geht gute Politik, lie-
be Kolleginnen und Kollegen, so kommen wir weiter bei
der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderun-
gen . Denn das ist es, was unser Herzensanliegen ist . Das
ist heute mit einem neuen Gesetz auf einem guten Weg .
Vielen Dank .
Vielen Dank . – Für die Fraktion Die Linke hat jetzt der
Kollege Dr . Dietmar Bartsch das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Zuschauerinnen und Zuschauer, die Sie sich die Debatte
jetzt bei Phoenix live anschauen! Frau Nahles, Sie ha-
ben eben dargelegt, welche historischen Etappen es beim
Bundesteilhabegesetz gab . In besonderer Weise war
natürlich die UN-Behindertenrechtskonvention ein Ein-
schnitt, weil diese die Schaffung eines modernen Teilha-
berechts für Menschen mit Behinderungen verlangt . Die-
se Konvention – daran will ich erinnern – ist seit 2009
geltendes Recht in Deutschland . Die Herstellung von
gleichberechtigter Teilhabe am beruflichen, wirtschaftli-
chen, sozialen und politischen Leben der Gesellschaft ist
eine menschenrechtliche Verpflichtung.
Sie haben sich in Ihrem Koalitionsvertrag das Ziel
gesetzt, ein modernes Teilhabegesetz zu schaffen, das
aus dem derzeitigen Fürsorgesystem herausführt und
den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention ent-
spricht . Wir hatten an Ihrem Koalitionsvertrag extrem
viel zu kritisieren, an dieser Stelle aber ausdrücklich
nichts; denn das ist ein hoher Anspruch . Das ist sehr ver-
nünftig, und wir als Linke hatten die Hoffnung gehabt,
dass Sie diesen Anspruch umsetzen .
Ich will auch klar und deutlich sagen: Ja, es gibt in
dem Gesetz Verbesserungen . Es ist gut, dass Sie eine
unabhängige Teilhabeberatung und einen Anspruch auf
Assistenz für Eltern von Kindern mit Behinderungen ein-
führen . Es ist gut, dass Sie das Entgelt in Werkstätten für
behinderte Menschen erhöhen . Ja, es ist gut, dass Sie die
Schwerbehindertenvertretungen und die Werkstatträte
stärken und Frauenbeauftragte in Werkstätten einführen .
Es ist auch gut, dass das Budget für Arbeit endlich fest-
geschrieben wird . Das alles ist gut .
Aber, Frau Nahles, Sie haben eben davon gesprochen,
dass das ein großer Schritt ist und dass es ein paar Bau-
stellen gibt . Es gibt Großbaustellen bei dem, was Sie vor-
legen .
Das Gesetz verdient den Namen Bundesteilhabegesetz
nicht, weil die uneingeschränkte und gleiche gesell-
schaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen
eben nicht erreicht wird . Von einer Herauslösung aus
dem Fürsorgesystem kann nicht die Rede sein, das wäre
aber der Kern eines solchen Gesetzes .
Die Unterhaltspflicht von Eltern für volljährige Kin-
der, die Leistungen aus der Eingliederungshilfe beziehen,
soll erhalten bleiben . Sie ändern nichts an der Möglich-
keit, Betroffene in Heime zu zwingen, wenn die Kosten
für die Unterstützung zu Hause zu hoch sind . Sie schaf-
fen die Möglichkeit, Menschen zu zwingen, ihre Assis-
tenz mit anderen zu teilen, und verhindern damit eine
selbstbestimmte gesellschaftliche Teilhabe .
Auch in Zukunft wird das Einkommen und Vermögen
von Menschen angerechnet, wenn sie Teilhabeleistungen
erhalten, auch wenn hier Verbesserungen erreicht wur-
den . Auch in Zukunft werden nicht alle Menschen, die
Unterstützung brauchen, diese auch bekommen . Auch in
Zukunft wird es keine deutliche Verbesserung für Men-
schen mit Behinderung auf dem allgemeinen Arbeits-
markt geben .
Sie schränken die Rechte von Menschen mit Behin-
derung ein, und zwar aus Kostengründen, weil Sie Kos-
ten sparen wollen . Dieses ganze Gesetz diskutieren Sie
immer unter dem Substantiv „Kostendeckelung“ . Damit
sparen Sie substanziell an Menschenrechten . Das ist der
Kern .
– Da helfen auch die 800 Millionen Euro nichts, die Sie
jetzt mehr ausgeben wollen, mit denen Sie sich rühmen .
Dieses Geld verschwindet zum großen Teil im System .
Aber anstatt die Kritik der Betroffenen – darüber ha-
ben wir eben geredet – wirklich ernst zu nehmen und sie
zu nutzen, haben Sie sie doch lange ignoriert . Sie haben
Bundesministerin Andrea Nahles
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620492
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ja sogar unterstellt, dass sich die Betroffenen von der Op-
position instrumentalisieren lassen .
Danke für das Kompliment an Linke und Grüne . Aber
trauen Sie uns wirklich zu, massenhaft Leute bei Wind,
Wetter und Eiseskälte auf die Straße zu bringen, sie zu
veranlassen, sich 22 Stunden anzuketten oder in die
Spree zu springen? Das kriegen Grüne und Linke wirk-
lich nicht hin .
Nein, das Problem ist: Die Menschen gehen auf die
Straße, weil sie sich betrogen fühlen,
weil Sie ihre Rechte beschneiden, weil Sie zu wenig zu-
hören . Das ist der Kern .
Letztlich ist es doch so, dass Sie prioritär aus Kosten-
gründen entscheiden . Das hat eben nichts mit Menschen-
rechten, nichts mit Selbstbestimmung und letztlich auch
nichts mit der Umsetzung der UN-Behindertenrechts-
konvention zu tun .
Mit den eingebrachten Änderungsanträgen zum Ge-
setz, die wir heute auch diskutieren, haben die Regie-
rungsfraktionen Union und SPD einige der Härten des
Gesetzes abgemildert, und sie haben große Scherben, die
Frau Nahles hinterlassen hat, jetzt eingesammelt . Es wa-
ren ja Gott sei Dank die Regierungsfraktionen, die hier
noch Veränderungen erzielt haben . – Und Sie haben da-
mit letztlich dem enormen Druck der Proteste von Be-
troffenen nachgegeben. Das ist doch der Kern: Außerpar-
lamentarisches Engagement lohnt sich, das kann man an
den Veränderungen sehen .
Ich kann nur feststellen, dass es selten Gesetze gege-
ben hat, zu denen es so viele Briefe und Stellungnahmen
gab . Es ist eben kein Zufall, dass sowohl ich als Frakti-
onsvorsitzender als auch meine Kollegin Katrin Göring-
Eckardt dazu reden werden . Es ist eben ein Thema, das
viele, die hier auch zusehen, bewegt .
Große Verbesserungen für die jetzige Situation von
Betroffenen haben aber auch die Regierungsparteien
leider nicht geschaffen. Sie leisten es sich, die Teilhabe
und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung
zu beschneiden, einfach weil es Ihnen zu teuer ist – und
das in einem der reichsten Länder der Erde . Was sollen
andere Länder, die sich auch an die Konvention zu halten
haben, darüber denken?
Was die Kosten betrifft, möchte ich festhalten, dass
das letztlich eine Milchmädchenrechnung ist . Denken
Sie doch auch einmal an die Kosten, die entstehen, wenn
immer mehr Menschen aufgrund von Isolation und Aus-
grenzung depressiv und psychisch krank werden .
Sie haben im Übrigen auch einen Schaden für die De-
mokratie angerichtet .
Frau Nahles, warum sollte nach dem Gesetz der eine oder
andere noch glauben, dass hier Vertrauen da ist? Das ha-
ben Sie letztlich gründlich vermasselt .
Eines ist festzustellen: Sie haben Ihren Koalitions-
vertrag nicht realisiert . Das ist der Kern . Der Anspruch
des Koalitionsvertrages wird mit diesem Gesetz nicht
realisiert . Setzen Sie den um! Es muss Weiteres folgen,
und zwar möglichst schnell . Eigentlich müssten Sie das
Gesetz überarbeiten, damit es wirklich der UN-Behin-
dertenrechtskonvention entspricht . Eigentlich sollten Sie
das in dieser Legislatur machen . Wenn nicht, müssen wir
das in der nächsten angehen .
Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Jetzt hat der Kollege Karl Schiewerling
für die CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in zwei-
ter und dritter Lesung das Bundesteilhabegesetz . Um es
deutlich zu sagen: Damit setzt die Große Koalition ein
weiteres wichtiges sozialpolitisches Versprechen aus
ihrem Koalitionsvertrag um . Wir modernisieren im Sin-
ne der Betroffenen die Behindertenpolitik, ermöglichen
gesellschaftliche Teilhabe und Selbstbestimmung von
Menschen mit Behinderung und setzen die UN-Behin-
dertenrechtskonvention weiter um .
Bevor ich im Detail auf den Gesetzentwurf und die
Änderungen eingehe, die sich im parlamentarischen
Verfahren ergeben haben, möchte ich die Möglichkeit
nutzen, um auf einige grundsätzliche Dinge in der Be-
hindertenpolitik hinzuweisen . Es ist guter parlamenta-
rischer Brauch über alle Parteigrenzen hinweg, dass die
Debatten über die Behindertenpolitik nicht dazu genutzt
werden, Lebenssituationen zu skandalisieren .
Dr. Dietmar Bartsch
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20493
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Vielmehr sollten die Gemeinsamkeiten betont werden:
Alle in diesem Haus – alle – wollen, dass Menschen mit
Behinderung gleichberechtigter Teil unserer Gesellschaft
sind .
Seit 2009 bin ich Sprecher der Union für Arbeits-
markt- und Sozialpolitik . Selten habe ich erlebt, dass ein
Gesetzgebungsverfahren derart intensiv durch Zuschrif-
ten, Anrufe, Stellungnahmen und kritische Äußerungen
begleitet wurde . Ich halte dies für ein gutes Zeichen,
zeigt es doch, mit welchem Selbstverständnis sich Men-
schen mit Behinderung für ihre Interessen einsetzen und
sie gegenüber der Politik vertreten.
Im parlamentarischen Verfahren konnten viele, aber
nicht alle Forderungen voll umgesetzt werden . Es war
unsere Aufgabe als Politik, die divergierenden Interessen
zum Ausgleich zu bringen und sie zu einem Gesetz zu-
sammenzuführen . Dies war mühsam; ich bin aber sicher,
dass wir auf dem richtigen Weg sind . Das Bundesteilha-
begesetz wird nicht das letzte Gesetz sein . Wir werden
auch in Zukunft weiter Stück für Stück wie bei den ande-
ren Solzialgesetzbüchern auch an Verbesserungen für die
Menschen arbeiten .
Mein Dank gilt ausdrücklich der Parlamentarischen
Staatssekretärin Frau Lösekrug-Möller für die von der
Ministerin bereits gewürdigte moderierende, ausglei-
chende und auf eine gemeinsame Zielrichtung hin aus-
gerichtete Arbeit .
Mein Dank gilt auch allen Mitarbeiterinnen und Mitar-
beitern des Bundesarbeitsministeriums, ausdrücklich
auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Fraktio-
nen sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den
Abgeordnetenbüros .
Meine Damen und Herren, wer ist eigentlich von
den zu beschließenden Neuregelungen betroffen? In
Deutschland leben etwa 7,5 Millionen Menschen mit Be-
hinderungen; 700 000 beziehen Eingliederungshilfe . Die
Lebenssituation der Menschen ist höchst unterschiedlich;
es ist keine homogene Gruppe . Die Menschen sind unter-
schiedlich betroffen, und sie alle hatten ihre Erwartungen
an dieses Gesetz .
Mit dem Bundesteilhabegesetz führen wir die Ein-
gliederungshilfe aus dem Fürsorgesystem der Sozialhilfe
heraus und integrieren sie in das Neunte Buch Sozial-
gesetzbuch . Damit gehen Verbesserungen für die knapp
700 000 Leistungsberechtigten einher . Entgegen vielen
Befürchtungen wird der Zugang zur Eingliederungshil-
fe nicht eingeschränkt . Zur Wahrheit gehört aber auch,
dass er nicht ausgeweitet werden soll . Es bleibt daher zu-
nächst bei der geltenden Rechtslage .
Bis 2023 werden neue Zugangskriterien konkretisiert .
Hierauf haben wir uns in der Koalition verständigt . Zu-
dem wird es deutliche Verbesserungen bei der Anrech-
nung von Einkommen und Vermögen für diejenigen
geben, die arbeiten . Ab 2020 wird das Einkommen bis
30 000 Euro frei sein . Wer mehr verdient, leistet einen
Eigenbeitrag zu seinen Fachleistungen . Das Vermögen
wird bis zu 50 000 Euro anrechnungsfrei bleiben . Damit
ist ein wichtiges Anliegen der Union umgesetzt:
Wir wollten nämlich, dass dieses Mitanrechnen des Ein-
kommens des Partners beendet wird; denn es war fak-
tisch ein Heiratsverbot .
Mit dem Gesetz eröffnen wir den Leistungsberech-
tigten mehr Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt . Wer
aus der Werkstatt auf den ersten Arbeitsmarkt wechseln
möchte, kann zukünftig bundesweit vom Budget für Ar-
beit profitieren. Dabei erhalten Arbeitgeber unbefristet
einen Lohnkostenzuschuss von bis zu 75 Prozent. Für
die rund 300 000 Beschäftigten in den Werkstätten ver-
doppeln wir das Arbeitsförderungsgeld auf zukünftig
52 Euro . Zudem wird der Vermögensfreibetrag für Men-
schen, die nicht erwerbsfähig sind und Leistungen der So-
zialhilfe beziehen, von derzeit 2 600 Euro auf 5 000 Euro
angehoben. Hiervon profitieren zum Beispiel Bezieher
der Blindenhilfe, aber auch alle anderen Bezieher von
Sozialhilfe . Mein Dank gilt an dieser Stelle ausdrücklich
dem Bundesfinanzminister und den Haushaltspolitikern,
die uns in diesem Anliegen mit zusätzlichem Geld unter-
stützt haben; sonst wäre das nicht möglich gewesen .
Meine Damen und Herren, wir haben auch die Situa-
tion von Schwerbehinderten in Betrieben im Blick . Wir
werden die Anhörungsrechte und damit auch die Rolle
der Schwerbehindertenvertreter insgesamt stärken .
Neben der Teilhabe am Arbeitsleben hat das selbst-
bestimmte Wohnen von Menschen mit Behinderungen
im parlamentarischen Verfahren eine wichtige Rolle
gespielt . Wir haben die vorgetragenen Sorgen und die
Wünsche mit Blick auf ihre Rechte sehr ernst genom-
men . Im Rahmen der Angemessenheit und Zumutbarkeit
soll jeder entscheiden können, wie bzw . mit wem er leben
möchte . Die entsprechenden Regelungen haben wir deut-
lich geschärft . Es war der Union wichtig, dass außerhalb
stationärer Einrichtungen den Wünschen der Betroffenen
bei der gemeinsamen Inanspruchnahme von Assistenz-
leistungen besondere Bedeutung beigemessen wird .
Gemeint sind solche Assistenzleistungen, die die unmit-
telbare Privatsphäre der Berechtigten betreffen.
Meine Damen und Herren, ich danke an dieser Stelle
auch dem Bundesgesundheitsminister sehr herzlich . Er
hat bei der sehr komplizierten Frage der Verbindung von
Eingliederungshilfe und neuem Pflegestärkungsgesetz
mit dem neuen Pflegebegriff sehr konstruktiv mitgewirkt.
Ohne ihn wäre dieses Gesetz nicht möglich gewesen .
Karl Schiewerling
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620494
(C)
(D)
In einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zei-
tung hat der Autor das Bundesteilhabegesetz mit der
Elbphilharmonie in Hamburg verglichen. Beide Projekte
seien wesentlich teurer als zunächst geplant .
Ich empfinde dies – anders, als es der Autor gemeint hat –
als Kompliment . Ja, die zusätzlichen Leistungen kosten
Geld – keine Frage . Aber wir tun das für die Menschen
mit Behinderungen und für die Betroffenen. Die Elbphil-
harmonie ist bereits jetzt, kurz nach der Fertigstellung,
zu einem Wahrzeichen Hamburgs mit Strahlkraft über
Deutschland hinaus geworden . Im Sinne der Betrof-
fenen wäre ich froh, wenn sie in ein paar Jahren, wenn
das Gesetz richtig greift, ähnlich positiv über das Gesetz
sprechen würden . Am Ende zählt das Ergebnis, und da
können wir sehr zufrieden sein .
Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen spricht jetzt Katrin Göring-Eckardt .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was war die Aufgabe? Die Aufgabe war die Umsetzung
der Behindertenrechtskonvention . Und dabei verhält es
sich ungefähr so, als ob die Aufgabe gewesen wäre, ein
Haus zu bauen, und am Ende ist es nur eine Garage ge-
worden. Aber alle loben sich dafür, dass sie das geschafft
haben .
Die Behindertenrechtskonvention wird erst noch um-
gesetzt werden müssen . Frau Nahles, bei vielen behinder-
ten Menschen war mit diesem Gesetzentwurf die Erwar-
tung verbunden, dass sich in ihrem Leben im Sinne der
Behindertenrechtskonvention wirklich etwas verbessert .
Diese Erwartung haben Sie übrigens auch geschürt und
vorangetrieben, weil Sie so viele beteiligt haben . Umso
größer war dann die Enttäuschung, dass genau das nicht
gelungen ist, sondern höchstens kleine Schritte in diese
Richtung gegangen worden sind,
kleine Schritte in Richtung Teilhabe, die für uns alle ganz
selbstverständlich ist, die wir alle ganz selbstverständlich
in Anspruch nehmen . Meine Damen und Herren, dieses
Gesetz sagt noch nichts aus über mehr Autonomie, sagt
noch nichts aus über mehr Selbstbestimmung und sagt
noch nichts aus über ein freieres Leben . Deswegen ist es
höchstens ein erster Schritt .
Was Sie ursprünglich als Vorschlag der Bundesregie-
rung präsentiert haben, war sogar das Gegenteil . Um ih-
rem Protest Ausdruck zu verleihen, sind Menschen mit
Behinderungen in die Spree gesprungen . Sie haben vor
dem Brandenburger Tor und anderswo protestiert und
demonstriert . Warum? Weil ihnen das Leben mit Ihrem
ursprünglichen Entwurf nicht leichter, sondern schwerer
gemacht worden wäre – frei nach dem Motto: Wir wissen
schon, was gut für euch ist . – Das ist aber genau das Ge-
genteil von Selbstbestimmung .
Leben im Heim gegen den Willen der Gehandicapten,
das Poolen von Leistungen, die Absage an Teilhabe in
der Freizeit – das alles waren feste Bestandteile Ihres
Entwurfes, den Sie als Verbesserung feiern wollten . Ich
kann es nicht verstehen, und ich werde es nicht verste-
hen, wie Sie mit dieser Haltung an dieses Gesetz heran-
gehen konnten .
Frau Kollegin Göring-Eckhardt, darf ich Sie kurz un-
terbrechen? – Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kol-
legin Wolff?
Sehr gern .
Bitte schön, Frau Kollegin Wolff.
Vielen Dank, Frau Kollegin Göring-Eckardt . – Sind
Sie bereit, anzuerkennen – und damit Ihre Aussage zu-
rückzunehmen –, dass wir mit dem Gesetzentwurf etwas
für die betroffenen Menschen getan haben? Es ist so, wie
die Frau Ministerin gesagt hat: Schon ein Jahr nachdem
diese Koalition ins Arbeiten kam, haben wir einen ganz
breiten Beteiligungsprozess
mit Betroffenen, Verbänden, Kommunen,
mit allen begonnen, das heißt miteinander und nicht
übereinander geredet .
Lassen Sie mich die Anmerkung noch machen: Ich
kann überhaupt nicht verstehen, dass die Opposition sich
hier an irgendwelchen ursprünglichen Referentenentwür-
fen abarbeitet,
Karl Schiewerling
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20495
(C)
(D)
anstatt anzuerkennen, dass Parlament und Ministerium
hier in einzigartiger Weise zusammengearbeitet haben .
Frau Wolff, nein, ich habe mich nicht an Referenten-
entwürfen abgearbeitet, sondern ich habe mich gerade
abgearbeitet, wenn Sie das so ausdrücken wollen, an dem
Gesetzentwurf, den die Bundesregierung, Ihre Bundesre-
gierung, hier eingebracht hat .
In diesem Gesetzentwurf, Frau Wolff, steht alles das, was
ich gerade gesagt habe .
Ein Punkt ärgert mich wirklich. Ich kann es nicht
verstehen, wieso Sozialdemokraten Menschen zwingen
wollen, im Heim zu wohnen . Ich kann das nicht verste-
hen, weil „selbstbestimmt“ anders aussieht .
– Ich bin noch nicht fertig . – Ich will ausdrücklich et-
was anerkennen . Ich habe das gerade auch getan . Wenn
Sie zugehört hätten und nicht so selbstgerecht gewesen
wären,
dann wäre Ihnen das klar geworden . Ich wollte Ihren Be-
teiligungsprozess ausdrücklich anerkennen . Der Beteili-
gungsprozess war lang, und er war ausführlich . Ich fand
es gut, dass Sie ihn gemacht haben . Es war ausdrücklich
gut . Die Frage ist nur: Was ist dabei eigentlich heraus-
gekommen? Die Menschen, die nach diesem Beteili-
gungsprozess demonstriert haben, haben doch deswegen
demonstriert, weil sie darüber enttäuscht gewesen sind,
dass keine der vernünftigen Forderungen, die sie in all
diesen Runden, in all diesen Gesprächen auf die Tages-
ordnung gebracht haben, auch umgesetzt worden ist .
Beteiligung ist doch nicht eine Beschäftigungsveranstal-
tung, sondern Beteiligung heißt, dass wirklich etwas da-
bei herauskommt, Frau Wolff, und genau darum geht es
doch .
Frau Kollegin Göring-Eckardt, Sie sind so gut in
Fahrt: Gestatten Sie auch noch eine Zwischenfrage der
Kollegin Kerstin Tack?
Aber gern .
Bitte schön .
Frau Kollegin, Sie haben sich über – angebliche –
Zwangsmaßnahmen geäußert, die Sie aus dem Gesetz
herausgelesen haben . Würden Sie uns bitte im Detail
erläutern, was Sie mit „Zwangsmaßnahmen“ meinen?
Würden Sie auch erläutern, was das aus Ihrer Sicht – als
Veränderung gegenüber dem heute geltenden Gesetz –
auslösen soll? Würden Sie das bitte noch einmal im De-
tail erklären? Was meinen Sie, wenn Sie von „Zwangs-
maßnahmen“ reden? Bitte sagen Sie uns, wie aus Ihrer
Sicht die heutige Praxis ist und wo die Verschärfung ist,
die der Gesetzgeber vornimmt .
Ich hätte das in meiner Rede noch gesagt, aber so spa-
re ich ein bisschen Redezeit; das ist auch gut .
Worum geht es denn? – Ich wäre noch zu den Verbes-
serungen gekommen . Das mache ich gern noch .
– Jetzt habe ich mehr Redezeit . Das ist doch super . Ge-
nau . – Es geht darum, dass Leistungen gepoolt werden
müssen, dass man sich mit anderen absprechen muss,
dass man nicht selber entscheiden kann, welche Leistun-
gen man in Anspruch nimmt, und es geht um die Tatsa-
che – das sage ich noch einmal ausdrücklich –, dass Sie
dafür sorgen wollen, dass es immer einen Kostenvorbe-
halt beim Umzug ins Heim gibt . Das ist so geblieben .
Ich will Ihnen einen Fall erzählen . Eine Frau, die uns
geschrieben hat, Marita, mit 18 Jahren querschnittsge-
lähmt, wurde sehr lange – das ist übrigens etwas ganz Ty-
pisches – von ihrer Mutter betreut . Dann konnte die Mut-
ter diese Betreuung nicht mehr leisten . Daraufhin hat sich
Marita überlegt: Wie mache ich es jetzt, dass ich weiter
am Leben teilhaben kann? – Was hat sie gemacht? Sie
ist in eine andere Stadt gezogen, dorthin, wo sie Freunde
hat, wo sie Bekannte hat, wo sie andere Verwandte hat .
Dort konnte sie eine ganze Weile weiter am Leben teil-
haben . Was passierte dann? Dann kam der Kostenträger
und hat gesagt: Es wäre zwar jetzt subjektiv hart für sie,
Waltraud Wolff
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620496
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(D)
aber bedauerlicherweise müsse man ihr jetzt sagen, dass
die Kosten nicht mehr tragbar sind und dass sie deswe-
gen bitte schön in ein Heim zieht .
Deswegen sage ich Ihnen: Genau das ist altes Recht . Ge-
nau das verändern Sie mit diesem Gesetz nicht .
Deswegen bedauere ich es besonders, dass es nicht ge-
lungen ist, diese Verbesserung hinzubekommen, meine
Damen und Herren .
Insofern sage ich Ihnen: Hier sind wir noch lange nicht
bei einer echten Umsetzung der Behindertenrechtskon-
vention .
Aber ich will jetzt gerne über die Verbesserungen re-
den; darauf warten Sie ja schon . Ich bin sehr froh, dass
es in dem Prozess gelungen ist – unter Beteiligung der
Länder, auch unserer Beteiligung –, dass zum Beispiel
Menschen mit Sinnesbehinderungen jetzt wieder Leis-
tungen erhalten können . Das muss man sich einmal
vorstellen: Menschen, die zum Beispiel blind oder taub
sind, konnten nach Ihrem ursprünglichen Vorschlag die
Leistungen nicht mehr bekommen . Das ist immer noch
nicht gut. Julia Probst, die vielleicht besser bekannt ist
als „@EinAugenschmaus“, hat heute Morgen gesagt: In
Zukunft entscheidet eine Sachbearbeiterin darüber, ob
ich teilhaben kann. – Liebe Julia Probst, Sie haben es auf
den Punkt gebracht. Ich sage in Gebärdensprache: Danke
für diese klare Aussage .
Die Verbesserungen, die wir in diesem Prozess hin-
bekommen haben, haben auch damit zu tun, dass es da
draußen eine engagierte Community gibt, dass es Leu-
te gibt, die nicht aufgehört haben, uns vorzuleben, was
für sie Selbstbestimmung bedeutet . Die Initiative „Nicht
mein Gesetz“ oder Raul Krauthausens Heimexperiment
können Sie sich einmal anschauen . Er hat sich einmal
einweisen lassen und war, undercover, fünf Tage in ei-
nem Pflegeheim. Da gibt es keine Intimsphäre mehr.
Da kann man als selbstbestimmter erwachsener Mensch
nicht sagen: Ich will essen, wenn ich essen kann . Des-
wegen sage ich Ihnen: Wir sind bei der Umsetzung der
Behindertenrechtskonvention noch lange nicht da, wo
wir hin müssen .
Selbstbestimmung sieht anders aus .
Ich will noch einen Punkt hinzufügen, den Sie ja er-
lebt haben, nämlich das bürgerschaftliche Engagement .
Ihr Beteiligungsprozess hat gezeigt, dass viele Menschen
mit Handicap bereit sind, sich in die Gesellschaft ein-
zubringen, und zwar nicht nur, wenn es, wie in diesem
Fall, um ihre eigenen Interessen geht . Nach Ihrem Ge-
setz werden sie zukünftig eben genau dafür keine Unter-
stützung und Assistenz bekommen, sondern sie müssen
Freunde und Verwandte fragen . Jetzt stellen wir uns das
einmal in unserem Alltag vor . Wenn ich mich ehrenamt-
lich zum Beispiel im Fußballverein engagieren will, dann
muss ich immer jemanden finden, der mich hinfährt. Das
macht man mit Kindern – ganz aufopferungsvoll – eine
ganze Weile . Aber natürlich werden Menschen mit Be-
hinderungen das nicht dauernd von ihren Freunden und
Bekannten einfordern können . Es ist falsch, es ist grund-
falsch für die Demokratie, dass wir sagen: Diese Gruppe
ist uns nicht so wichtig . Die wollen wir aus dem bürger-
schaftlichen Engagement ausschließen .
Auch deswegen sage ich Ihnen: Dieses Gesetz ist ein An-
fang . Mehr nicht .
Unsere Vorstellungen bleiben anders . Trotzdem bin
ich über die Verbesserungen froh . Das will ich ausdrück-
lich sagen . Ich danke Ihnen als Koalitionsfraktionen da-
für, dass Sie diese Beratungen ernsthaft weitergeführt
und den Gesetzentwurf verändert haben .
Deswegen sage ich Ihnen auch: Wir haben es ge-
schafft, deutliche substanzielle Verbesserungen hinzube-
kommen . Deswegen werden wir in den Bundesländern,
in denen wir die Möglichkeit dazu haben, alle Spielräume
dieses Gesetzes ausschöpfen . Das wird so sein . Aber wir
werden vor allem die weitere Umsetzung und Durchset-
zung der Behindertenrechtskonvention in unserem Land
weiter auf die Tagesordnung setzen . Die Menschen, die
selbstverständlich Teilhabe verdient haben, haben unser
Engagement verdient . Sie haben verdient, dass wir ihnen
sagen: Ihr seid selbstbestimmt, nicht wir wissen, was gut
für euch ist . Sie haben verdient, dass sie selbstverständ-
lich gleichberechtigter Teil dieser Gesellschaft sind .
Vielen Dank .
Vielen Dank. – Nächste Rednerin für die SPD-Frakti-
on ist die Kollegin Katja Mast .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Heute werden wir mit dem Bundesteilhabegesetz die
größte Sozialreform seit Inkrafttreten des SGB IX vor
15 Jahren verabschieden .
Ich will zu meiner Vorrednerin, Frau Göring-Eckardt,
zwei Dinge sagen. Erstens finde ich es unredlich, wenn
Sie den Hauptteil Ihrer Redezeit darauf verwenden, wie
Katrin Göring-Eckardt
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20497
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(D)
das bestehende Gesetz die Dinge regelt, und nicht darauf
eingehen, was wir an Verbesserungen auf den Weg brin-
gen oder was für ein Gesetz wir heute überhaupt verab-
schieden .
Zweitens will ich Ihren Ministerpräsidenten aus Ba-
den-Württemberg zitieren, der eine Politik der Beteili-
gung macht
und der immer wieder Wert darauf legt, dass es eine „Po-
litik des Gehörtwerdens“, aber nicht des Erhörtwerdens
ist .
Und Sie suggerieren: Wenn man mit Menschen spricht,
übernimmt man automatisch ihre Interessen . – Das ist
falsch; das tut der Demokratie nicht gut, und das tut uns
allen hier nicht gut .
Das Bundesteilhabegesetz ist ein kompliziertes Ge-
setz; es ist kein einfaches Gesetz. Und, ja, es betrifft das
Leben vieler Menschen mit Behinderung und ihrer Fami-
lien . Wir machen ihr Leben besser . Wir sorgen für einen
Perspektivwechsel, weg vom Fürsorgesystem der Sozi-
alhilfe, hin zum Teilhabesystem mit Nachsorgeausgleich
im SGB IX . Das wollen wir als Koalition gemeinsam .
Ich will etwas zu Dietmar Bartsch sagen, der hier
als Fraktionsvorsitzender geredet hat, aber leider gehen
musste, was ich wirklich bedauere . Wer austeilt, muss
auch bis zum Schluss zuhören . Nur dann nimmt man die
Menschen mit Behinderung ernst .
Ich will sagen: Dieses Gesetz ist kein Spargesetz . Wir
nehmen 800 Millionen Euro Jahr für Jahr in die Hand,
um das Leben der Menschen mit Behinderung und ihrer
Familien zu verbessern .
Da verschwindet, anders als Dietmar Bartsch suggeriert
hat, kein Euro im System, sondern wir sorgen für echte
Verbesserungen .
Ich möchte gern anhand dreier Punkte diese Verbesse-
rungen darstellen:
Erstens . Wir führen das Budget für Arbeit ein; Andrea
Nahles hat dazu alles ausgeführt . Das hilft den Menschen
in den Werkstätten beim Schritt in den ersten Arbeits-
markt .
Sie können in den Schutz zurückkehren, wenn es nicht
klappt .
Zweitens . Teilhabe an Bildung ist mir besonders wich-
tig, weil sie Aufstieg bedeutet, auch für die Menschen
mit Behinderung . Wir regeln künftig den Übergang auf
die weiterführende Schule, wir regeln, dass nach dem
Bachelor der Masterstudiengang folgen kann, und wir
regeln berufliche Weiterbildungen für Menschen mit Be-
hinderung . In Zeiten der Digitalisierung ist das nicht tri-
vial, Kolleginnen und Kollegen .
Drittens . Dadurch, dass mehr vom Einkommen und
Vermögen behalten werden kann, aber vor allen Dingen,
weil das Partnereinkommen nicht mehr bei den Leistun-
gen angerechnet werden kann,
können Menschen mit Behinderung ohne Zwang heira-
ten, und das ist gut für sie .
Ich will noch einmal betonen: Niemand will mit die-
sem Gesetz Leistungseinschränkungen oder -ausdehnun-
gen erreichen – niemand in diesem Haus, niemand in der
Koalition . Wir haben gemeinsam beschlossen, auf die
große Kritik einzugehen: Die einen, diejenigen, die die
Eingliederungshilfe bezahlen müssen, sagten, das Gesetz
führe zu einer Leistungsausdehnung; die anderen, die
Menschen mit Behinderung, sagten, es handele sich um
eine Leistungseinschränkung . Deshalb haben wir gesagt:
Wir nehmen den § 99 noch einmal mutig in die Hand und
werden dafür sorgen, dass die neuen Zugangskriterien
bei der Eingliederungshilfe nach einer Überprüfung erst
2023 in Kraft treten, und diese neuen Zugangskriterien
müssen noch einmal durch Bundestag und Bundesrat . –
Auch das war den Bundesländern wichtig . Ich glaube,
es ist ein wichtiges Zeichen für alle Beteiligten, dass wir
beim Zugang zur Eingliederungshilfe – gut Ding will
Weile haben – Ruhe hineinbringen .
Zum Schluss kommend, will ich sagen: Ich finde es
gut, dass sich die Menschen mit Behinderung im Prozess
zum Bundesteilhabegesetz zu Beteiligten und Akteuren
in der Politik weiterentwickelt haben. Es war gut, dass
wir gespürt haben, sie wollen bestimmte Dinge nicht; es
war gut, dass sie ihre Interessen vertreten haben . Sie sind
mitten in der Gesellschaft; da gehören sie hin . Aber es ist
auch gut, dass wir mit unseren Änderungsanträgen doku-
mentieren: Parlamentarismus, Demokratie und Födera-
lismus funktionieren. Wir nehmen nicht nur die Punkte
der Menschen mit Behinderung auf, sondern auch all das,
was wir von den Experten in den Anhörungen im Prozess
gemeinsam gelernt haben . Ich will sagen: Es war ein gu-
Katja Mast
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620498
(C)
(D)
ter Prozess zwischen den Koalitionsfraktionen, in dem
es gelungen ist, zehn Monate vor einer Bundestagswahl
68 substanzielle Änderungsanträge zusammen hinzube-
kommen . Das ist nicht trivial, das ist eine Riesenleistung
in unserer Demokratie .
Ich bin allen Beteiligten, allen Abgeordneten, Andrea
Nahles und Gabriele Lösekrug-Möller dankbar für die-
sen hervorragenden Prozess. Ich will auch sagen: Ich bin
den Bundesländern dankbar dafür, dass sie den Prozess
gut begleitet haben . Das brauchen wir .
Und ich wäre jetzt dankbar, wenn Sie zum Schluss
kommen, Frau Kollegin Mast .
Vielen Dank . – Denn die Menschen mit Behinderung
gehören mitten in unsere Gesellschaft . Dieses Gesetz
verbessert ihr Leben substanziell . Dieses Gesetz ist nicht
nur ein Meilenstein . Mit diesem Gesetz legen wir viele
Meilensteine in Richtung Teilhabe mitten in der Gesell-
schaft .
Frau Kollegin!
Vielen Dank .
Nächste Rednerin ist Katrin Werner, Fraktion Die Lin-
ke .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Da-
men und Herren! Vielleicht vorab, Frau Mast: Dietmar
Bartsch hat geredet – und ich bin ihm dankbar dafür –,
und auch die Fraktionsvorsitzende der Grünen hat ge-
redet . Sie haben so noch einmal die Wichtigkeit dieser
Debatte betont .
– Er hat sich persönlich entschuldigt . Er musste zu einem
Treffen mit dem Netzwerk Kinderarmut. Das ist auch ein
wichtiges Thema .
Kommen wir zur Debatte . Die Verbesserungen im Ge-
setz wurden von beiden Oppositionsfraktionen erwähnt .
Sie legen in einem Großteil Ihrer jetzigen Redebeiträgen
wie wahrscheinlich auch in Ihren zukünftigen Redebei-
trägen das Augenmerk auf diese Verbesserungen, näm-
lich auf die 68 Änderungsanträge, durch die der schlechte
Entwurf aus dem Ministerium Nahles verbessert wurde .
Dazu sage ich: Die Verbesserungen wurden aufgrund des
Protestes von betroffenen Menschen mit Behinderungen,
von Verbänden und Organisationen angegangen . Ich
möchte den Menschen, die sich eingesetzt haben, ganz
klar Danke sagen; der Protest wurde ja erwähnt.
Lassen Sie mich, damit Sie es verstehen, einfach et-
was zum Kern der Debatte sagen . Sie haben versprochen,
ein Bundesteilhabegesetz auf den Tisch zu legen, das im
Lichte der UN-Behindertenrechtskonvention geschrie-
ben wird . Aber die Grundvoraussetzung dafür wäre, dass
man sich erst einmal mit dem Begriff „Behinderung“
auseinandersetzt. Aber dieser Begriff aus der UN-Behin-
dertenrechtskonvention ist nicht vollumfänglich über-
nommen worden . Ich kann Ihnen dazu eine Lektüre emp-
fehlen, und zwar die Stellungnahme der Monitoringstelle
vom Deutschen Institut für Menschenrechte, in der ganz
klar kritisiert wird, dass Sie eben nicht den kompletten
Begriff übernehmen. Bei ihnen fehlen die Worte „volle“
und „wirksame“ Teilhabe . Die sind aber entscheidend .
Wenn Sie den Begriff komplett übernehmen würden,
dann würden Sie in § 104 – es gab hierzu einen entspre-
chenden Änderungsantrag – nicht immer noch von „Zu-
mutbarkeit“ und von „prüfen“ reden . Da geht es nämlich
genau um die Wahlfreiheit, um die Angst, ins Heim abge-
schoben zu werden, und die gibt es heute schon .
Herr Schiewerling, auf der Pressekonferenz am Mon-
tag wussten Sie noch nicht von dem Fall aus Freiburg .
Es ist momentan nicht nur ein Mensch in Freiburg davon
betroffen, in ein Heim abgeschoben zu werden, sondern
es sind mehr als zehn Personen, die sich regelmäßig tref-
fen . Sie sind aktuell von der Abschiebung in ein Heim
betroffen, weil laut Amt die Übernahme der Kosten für
das Wohnen zu Hause nicht zumutbar ist .
Ein Mann soll im Februar abgeschoben werden, und
dieser Mensch fängt an, zu hungern . Er selber sagt: Er
wird sich zu Tode hungern, wenn er ins Heim gehen
muss . Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ändern Sie
so etwas nicht . Wenn Sie es geändert hätten, dann gäbe es
ein Vetorecht. Die SPD hätte für dieses Vetorecht kämp-
fen müssen .
Aber es gibt keine Änderung, und genau darum haben die
Menschen Angst .
Zu einem weiteren Änderungsantrag .
Frau Kollegin Werner, ich stoppe gerade Ihre Rede-
zeit . Gestatten Sie, dass die Kollegin Tack Sie etwas
fragt?
Frau Tack hat noch ihren Redebeitrag .
Katja Mast
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20499
(C)
(D)
Gut, dann sind Sie weiter dran . – Bitte schön .
Sie hätten bei den Assistenzleistungen, wo es um das
Selbstbestimmte geht, weitere Änderungen vornehmen
sollen . Sie nehmen das Zwangspooling zwar an ein oder
zwei Stellen heraus, und zwar im sozialen, im persönli-
chen, im privaten Bereich – dabei geht es darum, dass
man mit Freunden weggehen kann – und im Bereich der
kompletten persönlichen Lebensplanung; Sie können
aber weiter zwangspoolen im kulturellen und hauswirt-
schaftlichen Bereich . Was ist der kulturelle Bereich? Ist
das der Theaterbesuch? Ist das der Kinobesuch? Was ist
das? Wer stellt das gegenüber? Das Amt entscheidet . –
Und was sind hauswirtschaftliche Tätigkeiten? Dabei
geht es um genau das, was im persönlichen Umfeld ge-
währleistet werden muss . In diesen Bereichen gibt es
weiter Einschränkungen . Diese Einschränkungen sind,
ganz ehrlich gesagt, Blödsinn .
Übermorgen ist der Internationale Tag der Menschen
mit Behinderung . Ich hätte mir gewünscht – das wäre ein
Geschenk gewesen –, dass Sie die Menschenrechte um-
gesetzt hätten, dass Sie Artikel 19 der UN-Behinderten-
rechtskonvention umgesetzt hätten . Mit dieser Vorlage
tun Sie genau das aber nicht .
Herr Schiewerling, die CDU war einmal ganz mutig,
und zwar 1973, als die sie forderte, die Leistungen „un-
abhängig von Einkommens- und Vermögensverhältnis-
sen der Betroffenen und ihrer Familien zu gewähren“.
Wenn Sie das in diese Vorlage geschrieben hätten, wären
Sie mutig gewesen .
Insofern bleibe ich bei dem Schlusssatz meiner letzten
Rede .
Danke .
Vielen Dank . – Nächste Rednerin ist die Kollegin
Dr . Astrid Freudenstein für die CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Meine Damen! Meine Herren! Jetzt ist er also fertig, der
Entwurf des Bundesteilhabegesetzes . Er hat für heftige
Diskussionen gesorgt und sorgt offenbar immer noch
dafür . Er hat für manchen Ärger gesorgt, für viel Brief-
verkehr, für viel Arbeit . Er hat einen ziemlich sperrigen
und nicht besonders eleganten Namen, aber das ist bei
Gesetzen ja öfter so . Er ist kompliziert und sehr umfang-
reich . Aber jetzt steht er zur Verabschiedung an, und ich
sage aus voller Überzeugung: Das Bundesteilhabegesetz
ist ein gutes Gesetz .
Ich finde interessant, was in den vergangenen Mona-
ten deutlich geworden ist . Frau Kollegin Göring-Eckardt,
weil Sie einiges angeprangert haben, möchte ich ein paar
Beispiele nennen, die den Unterschied zwischen Ihren
Reden und Ihrem Handeln zeigen: Im Bundesrat hat der
Freistaat Bayern einen Antrag gestellt, Assistenzleistun-
gen generell von der Zustimmung des Betroffenen ab-
hängig zu machen . Der Antrag wurde abgelehnt mit den
Stimmen von sieben Ländern . In sechs dieser sieben Län-
der regieren die Grünen mit .
Der Freistaat Bayern hat im Bundesrat einen Antrag ge-
stellt, einen zeitlichen Horizont für die völlige Freistel-
lung von Einkommen und Vermögen zu erstellen . Der
Antrag wurde mit den Stimmen von sieben Bundeslän-
dern abgelehnt . In sechs dieser sieben Bundesländer re-
gieren die Grünen mit .
So viel zu Ihrem Handeln, zu Ihrem Tun . Ihre konstruk-
tiven Beiträge im Gesetzgebungsverfahren zu diesem
Bundesteilhabegesetz waren überschaubar .
Aber viele haben sehr konstruktiv mitgewirkt . Bei
denen möchte ich mich heute als Berichterstatterin der
Unionsfraktion ausdrücklich bedanken . Ich möchte mich
bedanken bei allen Kollegen und Mitarbeitern aus dem
Bundestag, aus meiner Landesgruppe, aus der Unions-
fraktion und aus der SPD. Ich möchte mich beim Bun-
desministerium für Arbeit und Soziales bedanken: Das
war ein wahrer Kraftakt! Ich möchte mich bei den vielen
Verbänden bedanken, die sich konstruktiv in dieses Ver-
fahren eingebracht haben, und bei vielen einzelnen Be-
troffenen, die uns rückgemeldet haben, wo es hakt.
Ich habe schon bei der Einbringung des Gesetzent-
wurfs meine Bedenken zum Ausdruck gebracht . Die
68 Änderungsanträge, die wir erarbeitet haben, begegnen
nicht nur meinen Bedenken, sondern auch vielen Be-
fürchtungen und Ängsten von Betroffenen. Da war zum
einen die viel diskutierte Fünf-aus-neun-Regelung . Sie
hat große Ängste ausgelöst, dass manche Menschen kei-
nen Zugang zur Eingliederungshilfe mehr erhalten . Ich
habe schon bei der Einbringung des Gesetzentwurfs ge-
sagt: Auch in Zukunft muss jeder, der Eingliederungshil-
fe braucht, diese Eingliederungshilfe auch bekommen . –
Das wird auch der Fall sein . Wir haben die umstrittene
Fünf-aus-neun- oder Drei-aus-neun-Regelung aus dem
Gesetzentwurf genommen – das war auch mir persönlich
ein wichtiges Anliegen –, nicht, weil wir wissen, dass sie
garantiert nicht funktioniert, sondern weil das Misstrauen
so groß war . Wir bleiben jetzt erst einmal bei der alten
Definition und lassen eine neue Definition erarbeiten.
Dafür haben wir Zeit bis 2023 . Das ist gut so .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620500
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Wir haben bei der Schnittstelle zwischen Eingliede-
rungshilfe und Hilfe zur Pflege nachjustiert. Das ist ein
zweiter ganz wichtiger Punkt. Viele Menschen hatten
Angst, in Zukunft nur noch Pflegeleistungen zu bekom-
men . Das war ausdrücklich nicht die Absicht des Ge-
setzgebers . Wir bleiben bei der heutigen Regelung des
Gleichrangs . Das ist gesetzgeberisch etwas unbefriedi-
gend, weil wir die Probleme im Bereich der Schnittstelle
nicht lösen, aber wir kommen damit einer Kernforderung
der Verbände nach .
Wir haben uns Gedanken über den Pflegekostendeckel
in § 43a SGB XI gemacht . Wir stellen sicher, dass es kei-
ne Ausweitung auf ambulante Wohnformen geben wird .
Wir halten also den Status quo . Es wird aber Aufgabe des
neuen Parlaments sein, sich darüber Gedanken zu ma-
chen, ob dieser Paragraf heute noch seine Berechtigung
hat . Ich persönlich meine, er hat es nicht . Die Schnittstel-
le der Eingliederungshilfe zur Hilfe zur Pflege haben wir
behandelt und einen Vorschlag aus dem Bundesrat auf-
gegriffen: das Lebenslagenmodell. Kommt also die Hilfe
zur Pflege mit der Eingliederungshilfe zusammen, dann
profitieren die Menschen, bei denen die Behinderung bis
zur Regelaltersgrenze eintritt, von den neuen Anrech-
nungsmodalitäten . Das ist ein guter Fortschritt .
Ich hatte bereits in der ersten Lesung hinsichtlich der
Anrechnung von Einkommen und Vermögen betont, wie
sehr all jene von diesem Gesetz profitieren, die trotz
Behinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt ganz ordent-
lich verdienen . Diese Verbesserungen sind sehr groß .
Mir persönlich war es immer ein Anliegen, dass dieje-
nigen profitieren, die in Werkstätten beschäftigt sind,
die nicht komplett für sich selbst sorgen können . Das
halte ich für einen der größten Erfolge dieses Gesetzes .
Wir verdoppeln das Arbeitsförderungsgeld für die rund
300 000 Werkstattbeschäftigten in Deutschland, und wir
verdoppeln den Schonbetrag für Empfänger von Grund-
sicherung nach dem SGB XII .
Wir haben beim Wunsch- und Wahlrecht nachjustiert .
Wenn es um sehr private Bereiche geht, dürfen Leistun-
gen nur noch mit der Zustimmung des Betroffenen ge-
poolt werden . Wer außerhalb stationärer Einrichtungen
wohnen will, der wird in seinen Rechten maßgeblich
gestärkt . Der CSU und auch mir persönlich war es ein
Bedürfnis, dass die besonders Schutzbedürftigen auch
künftig über einen Barbetrag verfügen . Das wird mit die-
sem Gesetz sichergestellt .
Ich meine, dass dieser Gesetzgebungsprozess manche
in die Wirklichkeit zurückgeholt hat . Manche hatten sich
ja zu Beginn der Debatte eine Revolution auf die Fahnen
geschrieben . Heftig wurde aus der Opposition gegen die
Sonderwelten der Werkstätten gewettert . Mitunter wurde
deren Abschaffung gefordert. Solche Kritik gab es auch
von den Grünen . Ich bin froh, dass sich die Erkenntnis
durchgesetzt hat, dass man Menschen mit Ideologien
nicht helfen kann, dass Inklusion keine Revolution, son-
dern ein Prozess ist und dass es immer auch Menschen
gibt und geben wird, die Schutzräume brauchen und un-
serer Fürsorge bedürfen .
Wir haben mit dem Bundesteilhabegesetz ein gutes
Gesetz geschaffen, weil es der Individualität der Men-
schen gerecht wird, weil es denen mehr Selbstbestim-
mung gibt, die mehr Selbstbestimmung brauchen, und
weil es denen Schutz gewährt, die Schutz brauchen . Ich
würde mir wünschen, dass diejenigen, die in den vergan-
genen Monaten nicht konstruktiv diskutiert und protes-
tiert haben, sondern all ihre Energie darauf verwandt ha-
ben, Angst und Aggression zu schüren – ich spreche Sie
von den Linken hier ausdrücklich an –,
diesen Schaden wieder in Ordnung bringen . Ich würde
mir wünschen, dass die Einrichtungen und Sozialverwal-
tungen manche Beharrungstendenzen überwinden und
dieses Gesetz beherzt aufgreifen und umsetzen . Ich wür-
de mir wünschen, dass die Politik den Weg weitergeht,
jeden Menschen mit oder ohne Behinderung den Platz
finden zu lassen, den er für sich finden will.
Vielen Dank .
Vielen Dank . – Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt
Corinna Rüffer das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter Herr Schiewerling, ich muss
kurz auf das eingehen, was Sie ganz am Anfang Ihrer
Rede gesagt haben . Sie haben gesagt, man solle die Le-
benssituation von Menschen nicht skandalisieren . Dazu
sage ich Ihnen erstens: Dieses Parlament ist keine kri-
tikfreie Zone . Zweitens muss ich sagen: Wenn Lebens-
situationen ein Skandal sind, dann muss man das auch
in diesem Parlament benennen dürfen; denn sonst haben
wir grundsätzlich ein Problem.
Ich möchte Ihnen sagen, was behinderte Menschen zu
diesem Gesetz und zu diesem Beratungsprozess zu sagen
haben – sie können leider nicht persönlich an diesem Pult
reden; deshalb möchte ich das übernehmen –:
Wenn ich geahnt hätte, dass wir primär Verschlech-
terungen unserer Lebenssituation zu erwarten ha-
ben, dass auch in Zeiten einer gültigen UN-Behin-
dertenrechtskonvention unsere Menschenwürde mit
Füßen getreten wird, hätte ich meine Lebenszeit
sinnvoller investiert .
Das sagt Frau Dr . Arnade von der Interessenvertretung
Selbstbestimmt Leben in Deutschland .
Ich muss Ihnen sagen: Ich fühle mich heute so ein
bisschen wie in einem Paralleluniversum. Wir reden
seit vielen Jahren darüber, die UN-Behindertenrechts-
konvention umzusetzen . Die Vereinten Nationen haben
uns Empfehlungen mit auf den Weg gegeben . Darin
steht ganz deutlich, was wir zu tun haben . Behinderte
Menschen und ihre Verbände haben auch immer wie-
Dr. Astrid Freudenstein
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20501
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der klargemacht, an welchen Stellen der Schuh drückt,
wo sie kämpfen müssen, wo Dinge nicht klappen, wo
etwas schiefläuft. Und heute stimmen wir hier über ei-
nen Gesetzentwurf ab, der wesentliche Probleme behin-
derter Menschen immer noch nicht berücksichtigt . Wir
stimmen über einen Gesetzentwurf ab, mit dem Sie das
Vertrauen behinderter Menschen in den letzten Monaten
nachhaltig verspielt haben, und das in einer Zeit – das
ist das besonders Schlimme an der Sache –, in der das
Misstrauen gegenüber der Politik so groß ist wie lange
nicht mehr .
Frau Kollegin Rüffer, darf ich Sie einmal unterbre-
chen? – Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Wolff?
Ja, gerne .
Ich bedanke mich ganz herzlich für die Möglichkeit,
eine Zwischenfrage zu stellen. – Frau Kollegin Rüffer,
können Sie uns vielleicht erklären, an welchen Stellen
sich das Leben der von Ihnen geschilderten Personen
durch unsere Gesetzgebung jetzt entscheidend ver-
schlechtert?
Frau Wolff, das wollte ich im Verlauf meiner Rede
darlegen . Das werde ich auch gleich tun . Was ich an die-
ser Stelle aber ganz deutlich machen möchte, ist, dass
sich das, was ich gesagt habe, auf den Entwurf bezieht,
den Ihre Regierung vorgelegt hat .
Das ist ja ganz wichtig. In Ihren Reden – Frau Wolff,
ganz ruhig! – kommt es immer so rüber, als würde dieses
Gesetz – –
Jetzt hat erst einmal die Kollegin Rüffer das Wort. –
Bitte .
Das ist total nett . Ich denke, wer eine Frage stellt,
möchte bestimmt auch die Antwort hören .
In Ihren Reden hört es sich so an, als sei das, was Sie
hier vorlegen, eine Verbesserung gegenüber dem, was
gültige Rechtslage ist .
Das ist leider mitnichten so . Anfang der Woche, zwei
Tage vor Verabschiedung dieses Gesetzes, haben Sie
68 Änderungsanträge vorgelegt . Was sagt uns das, Frau
Wolff? Das sagt uns, dass Sie einen schlechten Gesetz-
entwurf vorgelegt haben und last-minute-mäßig an den
ganz schlimmen Stellen Nachbesserungen vornehmen
mussten .
An der Schnittstelle zur Hilfe zur Pflege
wäre es zu Verschlechterungen gekommen . Bei der An-
rechnung von Einkommen und Vermögen wäre es zu Un-
gerechtigkeiten gekommen . Die Leute hatten zu Recht
Angst, ihren Lebensabend nicht in ihrer gewohnten Um-
gebung verbringen zu können, sondern ins Heim abge-
schoben zu werden . – Sie können sich doch heute nicht
hierhinstellen und so tun, als wären Sie stolz auf das Ge-
setz, das wir heute zu verabschieden haben .
Das, was an Verbesserungen drinsteht, bezieht sich auf
den Gesetzentwurf und nicht auf die gültige Rechtslage .
Wir stimmen heute im Wesentlichen über einen Ge-
setzentwurf ab, der keine Verbesserung der Lebenssitua-
tion der Menschen mit Behinderung bringt .
Wir stimmen über einen Gesetzentwurf ab, dessen
schlimmste Verschlechterungen, schlimmste Grausam-
keiten sie herausgenommen haben; dafür bin ich Ihnen
wirklich dankbar .
Dass Sie hier vollmundig so tun, als könnten Sie sich
stolz auf die Schulter klopfen, finde ich unmöglich.
Ich habe das Gesetz gelesen und vorgetragen, was die
Menschen mit Behinderung zu diesem Gesetz zu sagen
haben .
Frau Kollegin Rüffer, es gibt noch eine Zwischenfrage
des Kollegen Weiß .
Ja, sehr gern .
Bitte schön .
Corinna Rüffer
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620502
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Das mache ich doch immer, Frau Wolff.
Wie geantwortet wird, entscheiden immer noch dieje-
nigen, die gefragt werden .
Jetzt Ihre Frage, bitte schön .
Frau Kollegin Rüffer, ich habe eine ganz einfache Fra-
ge. Man kann Ihre Rede ja später im Protokoll nachlesen;
aber vielleicht wäre es gut, in dieser Diskussion doch
einmal festzuhalten, ob ich es vorhin richtig verstanden
habe, dass Sie festgestellt haben, dass der heute aufgrund
der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit
und Soziales zu verabschiedende Entwurf eines Bun-
desteilhabegesetzes zu einer Verbesserung der Rechtsla-
ge gegenüber den bestehenden rechtlichen Regelungen
der Eingliederungshilfe führt . Ist das richtig?
Nein . Wenn ich mir den Gesetzentwurf im Detail an-
schaue und entsprechend abwäge, dann muss ich sagen,
dass dieser Gesetzentwurf keine Verbesserung gegenüber
der gültigen Rechtslage ist .
Die positiven Punkte sind ja genannt worden; das ha-
ben wir auch immer anerkannt . Ich denke zum Beispiel
daran, dass endlich das Budget für Arbeit bundesweit
eingeführt werden kann .
Ich kann Ihnen als Rheinland-Pfälzerin sagen: Wir haben
das seit vielen Jahren . Die bundesweite Ausdehnung ist
ein wichtiger Punkt. Im Vergleich zu dem, was ansonsten
in diesem Gesetzentwurf mit Bezug auf die Lebenswirk-
lichkeit der Menschen steht, muss man aber sagen, dass
man dafür keinen solchen Aufwand wie jetzt mit dem
Bundesteilhabegesetz hätte betreiben müssen . Das hätte
man auch einfacher machen können, und dann hätte man
auch nicht die Wut und die Angst der Menschen auf sich
gelenkt .
Ich bin froh – das sage ich noch einmal –, dass Ver-
schlechterungen gegenüber der heute geltenden Rechtsla-
ge zum Teil zurückgenommen worden sind, zum Beispiel
bei der Schnittstelle zwischen der Eingliederungshilfe
und der Hilfe zur Pflege.
Ich bin froh, dass wir auch beim Wunsch- und Wahlrecht
noch Kleinigkeiten verbessern konnten . Ich bin auch
ganz froh darüber, dass wir die unsinnige Fünf-von-
neun-Regelung endlich vom Tisch haben – zumindest bis
2023 . Das ist aber doch nichts, worauf man stolz sein
kann, sondern etwas, wofür man sich als Bundesregie-
rung, die alle Möglichkeiten hätte, gute Gesetzentwürfe
vorzulegen, eigentlich schämen müsste .
Frau Kollegin Rüffer, der Kollege Stritzl würde auch
noch gerne eine Frage stellen, wenn Sie sie zulassen .
Ja, gerne .
Das ist aber die letzte Zwischenfrage, die der Kollegin
Rüffer gestellt wird. Danach kann sie Ihre Rede zu Ende
führen . – Bitte schön, Herr Kollege Stritzl .
Frau Kollegin, Ihre Fraktionsvorsitzende hat vorhin
von begrüßenswerten Verbesserungen in diesem Gesetz-
entwurf gesprochen . Dazu haben Sie applaudiert . Kön-
nen Sie mir sagen, wozu Sie applaudiert haben?
Na ja, einen Punkt habe ich genannt. Es gibt durchaus
noch andere Punkte, wie die unabhängige Beratung.
Sie wird aber auch nur begrenzt eingeführt . Zum Budget
für Arbeit
muss man sagen, dass die Ausstattung, die wir in Rhein-
land-Pfalz kennen, deutlich besser ist als die nach bun-
desgesetzlichen Regelung .
Ich will zugestehen, dass in diesem Gesetzentwurf
natürlich auch Verbesserungen stehen . Es wäre ja auch
schlimm, wenn auf 400 Seiten keine Verbesserungen
stünden .
Man muss aber sagen, dass Sie damit natürlich weit hin-
ter den Erwartungen zurückbleiben, und das sollten Sie
einfach einmal zur Kenntnis nehmen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20503
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Wir freuen uns darüber – das will ich noch einmal sa-
gen –, dass die Grausamkeiten in dem Gesetzentwurf,
den Ihre Regierung verabschieden wollte, zu einem we-
sentlichen Teil zurückgenommen worden sind .
Aber ich finde es wirklich unglaublich, dass Sie hier so
tun, als hätten Sie einen Meilenstein geschaffen oder wä-
ren auf dem Weg dahin . Das stimmt nicht .
Frau Katrin Göring-Eckardt hat gerade gesagt: Wir ste-
hen bestenfalls am Anfang eines Prozesses. Nicht mehr
und nicht weniger ist richtig und hier gesagt worden .
Sie müssen es schon einmal aushalten, für einen Gesetz-
entwurf kritisiert zu werden, gegen den Menschen mit
Behinderungen seit Monaten Protest laufen. Sie glauben
doch nicht, dass sie das ohne Grund tun . Es gibt also kei-
nen Grund, sich hier auf die Schulter zu klopfen .
Von den Kritikpunkten sind hier schon einige ange-
sprochen worden . Mit diesem Gesetz verhindern Sie
zum Beispiel nicht, dass zukünftig Menschen in Heime
gezwungen werden. Das findet heute statt, und das fin-
det auch zukünftig statt . Wenn die Leute die Kraft ha-
ben, vor Gericht zu gehen, dann werden diese schlechten
Entscheidungen zukünftig wahrscheinlich auch wieder
revidiert. Sie schaffen hier null Verbesserungen. Es wird
zukünftig so sein, dass Menschen darum kämpfen müs-
sen, zu Hause wohnen zu können, wozu sie eigentlich ein
Recht haben .
Teilweise verschlechtern Sie die Situation der Men-
schen auch; das muss man eben sagen . Zum Zwangspoo-
len und zur Assistenz im Ehrenamt wurde schon einiges
gesagt. Ich möchte Nancy Poser vom Forum behinderter
Juristinnen und Juristen zitieren, welches schon 2012 ei-
nen Entwurf für ein Bundesteilhabegesetz vorgelegt hat .
Mit Bezug auf das Zwangspoolen sagt sie:
Damit wird erstmals durch dieses Gesetz ein im-
menser Eingriff in die Selbstbestimmung behinder-
ter Menschen möglich gemacht und legitimiert .
Aus ihrer Sicht fallen vor diesem Hintergrund auch die
positiven Veränderungen nicht ins Gewicht; das bestätigt
meine These . Sie erklärt:
Ganz ehrlich – wem bringen die neugeschaffenen
finanziellen Vorteile etwas, wenn dafür die Freiheit
genommen wird?
So Nancy Poser vom Forum behinderter Juristinnen und
Juristen, eine renommierte Richterin .
So sehr ich Ihnen für die Verbesserungen dankbar
bin – das habe ich jetzt mehrfach betont –: Das, was Sie
hier vorlegen, ist kein Bundesteilhabegesetz . Wir sind am
Anfang und nicht am Ende des Prozesses.
Ich möchte am Schluss auf eine Personengruppe zu
sprechen kommen, die hier noch nicht angesprochen
worden ist: die Menschen mit Behinderungen, die einen
besonders hohen Unterstützungsbedarf haben, die Men-
schen, die nach wie vor aus Werkstätten ausgeschlossen
werden, für die es kaum Angebote gibt, die Menschen,
deren Angehörige jeden Tag immer wieder kämpfen
müssen, um die notwendige Unterstützung zu organi-
sieren, die sie brauchen, die Menschen, die ihr ganzes
Leben lang subtil und auch offen signalisiert bekommen,
dass sie in dieser Gesellschaft nicht erwünscht sind, dass
sie Kosten verursachen . Für diese Menschen – das ver-
stehe ich beileibe nicht – tun Sie mit diesem Gesetz gar
nichts . Das ist einfach ein Armutszeugnis .
Sie reden seit drei Jahren davon, ein modernes Teil-
haberecht schaffen zu wollen. Ich sage Ihnen heute: Wir
sind ganz am Anfang dieses Prozesses und haben noch
viel Weg vor uns . Es gibt keinen Grund, liebe Große Ko-
alition, sich mit stolzgeschwellter Brust auf die Schulter
zu klopfen .
Den Eindruck vermitteln Sie . Dazu gibt es überhaupt kei-
nen Anlass . Es liegt viel Arbeit vor uns . Meine Fraktion
und ich sind dabei, wenn es darum geht, dieses Gesetz
in den Ländern umzusetzen und es in den nächsten Jah-
ren besser zu machen, damit Menschen mit Behinderung
wirklich etwas davon haben .
Vielen Dank .
Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die
Kollegin Carola Reimann .
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eine Gesellschaft, die behinderte Menschen aller
Art nicht als natürlichen Teil ihrer selbst zu achten
und zu behandeln weiß, spricht sich selbst das Ur-
teil .
Diese Worte sind ein Zitat unseres dritten Bundesprä-
sidenten, Gustav Heinemann, aus dem Jahr 1969 . Es
stammt aus einer Zeit, in der Familien ihre behinderten
Kinder nicht selten vor der Öffentlichkeit versteckt ha-
ben, in der es als Schande angesehen wurde, nicht so zu
sein wie andere, „normale“ . Es stammt aus einer Zeit, als
die Gesellschaft sich in vielen Bereichen aufgemacht hat,
ihr Leben neu zu gestalten . Erinnern wir uns: Erst seit
Corinna Rüffer
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620504
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1977 dürfen Frauen in Deutschland gleichberechtigt am
gesellschaftlichen Leben teilhaben .
Die Gesellschaft zu verändern, dauert . Wir als Gesetz-
geber können wichtige Rahmen setzen . Das Bundesteil-
habegesetz ist so ein wichtiger Rahmen . Es wird von uns
allen einen neuen Blick auf Menschen mit Behinderun-
gen verlangen: weg davon, zu schauen, was das behin-
derte Kind des Nachbarn alles nicht kann, hin dazu, zu
sehen, was dieses Kind doch alles kann, welche Stärken
und Fähigkeiten es hat, und hin dazu, zu erkennen, was
wir tun können, damit es besser teilhaben kann .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Bun-
desteilhabegesetz muss gelebt werden . Dazu braucht es
bei allen Beteiligten größtmögliche Akzeptanz . Daher
war das umfangreiche Beteiligungsverfahren der Betrof-
fenen im Vorfeld der Gesetzgebung ebenso notwendig
wie vorbildlich .
Dadurch ist für alle erstmalig offenkundig und auch
nachzulesen, welche Herausforderungen noch vor uns
liegen, bis eine inklusive Gesellschaft erreicht ist .
Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mich an die-
ser Stelle bei unserer Parlamentarischen Staatssekretärin
Gabriele Lösekrug-Möller ganz herzlich bedanken .
Sie ist die gute Seele dieses Gesetzes . Gabriele, ohne
dein Engagement, deine Beharrlichkeit und deine kluge,
vermittelnde Art wären wir jetzt nicht an diesem Wende-
punkt der Behindertenpolitik .
Ich habe vorhin von einem neuen Blick gesprochen .
Dieser neue Blick hat auch die umfangreichen Verhand-
lungen mit der Union geprägt . Das lösungsorientierte
Klima dieser Gespräche war bemerkenswert . Ich denke,
jedem von uns war bewusst, dass jetzt der entscheiden-
de Schritt gelingen muss . Das ist sicherlich dem Betei-
ligungsverfahren und den beharrlichen Hinweisen der
Betroffenenverbände darauf zu verdanken, wo noch eine
Nachsteuerung nötig war .
Kollegin Rüffer, es ist immer gut, mehr zu wollen.
Aber es ist schäbig, das Erreichte schlechtzureden .
Den Ländern, in denen Sie mitregieren und Mitverant-
wortung tragen, muss das wie ein Schlag ins Gesicht er-
scheinen .
Wir hatten versprochen, dass der Zugang zur Einglie-
derungshilfe nicht eingeschränkt wird . Das haben wir
gehalten und werden wir halten . Der jetzt vorgesehene
Weg ist beispiellos . Es wird 2017 eine wissenschaftliche
Untersuchung geben . Mit dem Bericht über die Ergeb-
nisse wird sich der Deutsche Bundestag 2018 wieder be-
fassen . Auf dieser Basis werden in allen Bundesländern
Modellvorhaben umgesetzt . Die Ergebnisse werden dann
wieder dem Bundestag und dem Bundesrat vorgelegt, um
dann noch vor 2023 eine abschließende Entscheidung zu
treffen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich habe
es schon in der ersten Lesung gesagt: Auch beim Bun-
desteilhabegesetz gilt das Struck’sche Gesetz . Die jetzt
vorgelegten Änderungsvorschläge belegen dies in aller
Deutlichkeit . Wir haben mit der Regierung sehr substan-
zielle Änderungen vorgenommen . Diese werden dazu
beitragen, dass sich das Parlament auch in den nächsten
beiden Wahlperioden intensiv mit der Verwirklichung
von Teilhabe für behinderte Menschen auseinanderset-
zen wird . Der heutige Tag ist damit nur ein weiterer,
wenn auch ein sehr wichtiger Tag auf dem Weg in Rich-
tung Inklusion .
Danke schön .
Vielen Dank . – Nächster Redner für die CDU/
CSU-Fraktion ist der Kollege Uwe Schummer .
Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren!
Kollegin Rüffer, vor mehr als einem Jahr haben Sie im
Ausschuss gewarnt, es gebe starke politische Kräfte,
nicht nur im Bund, sondern auch in den Ländern, die
verhindern wollen, dass das Bundesteilhabegesetz über-
haupt parlamentarisch beraten wird . Ich kann Ihnen heu-
te sagen: Es gibt starke politische Kräfte, auch hier im
Bund, die dafür gesorgt haben, dass dieser Entwurf zum
Bundesteilhabegesetz heute beraten und beschlossen
wird .
Das zeigt, dass wir bereit sind, das, was wir miteinander
vereinbart haben, auch durchzusetzen .
Sie haben gesagt, dass es so viel Protest gegen den
Regierungsentwurf gegeben hat und die Abgeordneten
der Koalition mit 68 Änderungsanträgen darauf reagiert
haben, das sei ein Skandal und ein Zeichen dafür, dass
irgendwas schiefgelaufen ist .
Das ist für mich ein merkwürdiges Demokratieverständ-
nis. Deshalb sind wir doch im Parlament: damit wir als
Abgeordnete die Regierung kontrollieren und unsere Po-
sitionen mit einbringen .
Kollege Schummer, darf ich kurz unterbrechen? Die
Kollegin Rüffer würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Lassen Sie sie zu?
Ja .
Dr. Carola Reimann
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Okay .
Herr Kollege Schummer, vielen Dank . – Ich frage
mich, ob Sie mich vielleicht missverstanden haben . Ich
habe gesagt, dass die 68 Änderungsanträge ein Beleg da-
für sind, dass der Entwurf Ihrer Regierung so schlecht
gewesen ist .
Sie haben vorhin gesagt, dass der Protest, der zu die-
sen 68 Änderungsanträgen geführt hat, mit denen wir im
Parlament – als Volksvertreter im Deutschen Bundes-
tag – darauf reagieren, ein Zeichen dafür war, dass das
Verfahren nicht in Ordnung war . Beides gehört zusam-
men: Wir transportieren das, was wir vor Ort und auf
Veranstaltungen erfahren, ins Parlament, und das führt
zu Änderungsanträgen . Das ist gelebte Demokratie . Ich
hoffe, darin sind wir uns einig.
Nun zu einem anderen Thema, das für mich schwer
nachvollziehbar war . Wir wollen von der negativen me-
dizinischen Diagnose wegkommen – „wesentlich be-
hindert“ und dann in die Eingliederungshilfe – und die
Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention mit der
neuen Begrifflichkeit umsetzen, wonach Behinderung
durch das, was in den Menschen angelegt ist, und in
Wechselwirkung mit anderen Menschen und dem Le-
bensumfeld entsteht . Das bedeutet, dass wir gemäß der
UN-Behindertenrechtskonvention neun Lebensberei-
che wie Mobilität, Kommunikation, Wissen und Lernen
definieren. Das finde ich nach wie vor richtig. Aber für
mich und viele andere war fachlich nicht nachvollzieh-
bar, warum ein Rechtsanspruch auf Eingliederungshilfe
erst dann gegeben ist, wenn in fünf von neun Lebens-
bereichen eine erhebliche Teilhabebeschränkung besteht .
Uns war nicht klar, ob diese Zahl fünf gewürfelt war, ob
sie in goldenen Lettern am Firmament stand oder ob sie
eine nächtliche Erscheinung war . Die mathematische Er-
klärung lautete: Es sind mehr als 50 Prozent. – Das ist
aber keine fachliche Erklärung . Deshalb haben wir den
Zugang verändert . Wir werden das in den Bundesländern
und den Regionen wissenschaftlich aufarbeiten und dann
2022/23 im Lichte der Erkenntnisse darüber entscheiden .
Aber das Umsteuern hin zu einem anderen Zugang im
Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention ist nach wie
vor unser Ziel .
Entscheidend war, dass wir den Schutz der privaten
Wohnform weiter konkretisiert haben . Bislang ist es ein
Problem, dass Menschen in Heime abgeschoben werden.
Es gibt einen Verschiebebahnhof, der dafür sorgt, dass
Menschen aus Behinderteneinrichtungen in Pflegeein-
richtungen abgeschoben werden . Das wollen wir verän-
dern .
Deshalb haben wir – auch in den Änderungsanträgen –
das persönliche Wohnumfeld und die Intimsphäre auf be-
sondere Weise im Gesetz geschützt, und zwar stärker, als
es heute real der Fall ist .
Wer diesen Gesetzentwurf ablehnt, der lehnt auch ab,
dass wir endlich – ergänzend zu den Beratungsstrukturen
in den Ländern – eine unabhängige, vom Bund finanzier-
te Beratungsstruktur schaffen. Wie Sie wissen, gibt es
manche Bundesländer, in denen sich die Beratungsstruk-
turen gut entwickeln . Es gibt aber auch Bundesländer,
in denen so gut wie keine Beratungsstruktur vorhanden
ist . In solchen Ländern ist die Fahrt in die nächste Stadt
unumgänglich . Deshalb ist es wichtig, dass mit Bundes-
mitteln in Höhe von 58 Millionen bis 60 Millionen Euro
jährlich flächendeckend eine ergänzende und unabhän-
gige Beratungsstruktur für die Betroffenen und ihre An-
gehörigen geschaffen wird. Arbeit prägt den Menschen.
Wir brauchen die Förderwerkstätten weiterhin . Aber wir
wollen sie öffnen und durchlässiger gestalten. Wir wollen
die Beschäftigten durch verbesserte Einkommens- und
Vermögensbildungsmöglichkeiten stärker beteiligen .
Wir wollen bundesweit ein Budget für Arbeit etablieren,
damit der Gang auf den ersten Arbeitsmarkt stärker un-
terstützt und organisiert werden kann .
Wir haben derzeit eine starke Kostendynamik in
der Eingliederungshilfe zu verzeichnen . 13 000 bis
15 000 Werkstattplätze für psychisch behinderte Ar-
beitnehmer vom ersten Arbeitsmarkt müssen geschaffen
werden . Allein das verursacht Kosten in Höhe von rund
200 Millionen Euro in der Eingliederungshilfe . Wir wol-
len, dass die Betroffenen durch Integrationsfirmen und
virtuelle Werkstätten möglichst nah am ersten Arbeits-
markt verbleiben können und dort intelligente Arbeits-
systeme bekommen, die ihrer Produktivität zugutekom-
men .
Wir müssen die Kostendynamik dort bekämpfen, wo
sie stattfindet, und zwar durch die Stärkung der Schwer-
behindertenvertretungen in Betrieben und Verwaltungen .
Das sind die sozialen Faktoren. Die Betreffenden wissen,
wie man ein Gesundheitsmanagement bei chronischen
Erkrankungen organisiert und wie man Frühwarnsyste-
me gegen Burn-out und psychisch-seelische Erkrankun-
gen schaffen kann. Sie sorgen dafür, dass in Betrieben
und Verwaltungen mit Beratung und Unterstützung bei
Anträgen, Krankheiten und Integrationsnotwendigkeiten
Inklusionsabteilungen geschaffen werden, die wissen,
wie damit umzugehen ist . Es ist wichtig, dass wir den
Betreffenden mehr Freiräume im Bundesteilhabegesetz
zugestehen, sodass sie von bürokratischen Lasten ent-
bunden werden . Sie werden dabei durch eine Aufwertung
ihrer Stellvertreter und eine Stärkung der Qualifikations-
maßnahmen ergänzend unterstützt. Wir schaffen zudem
den Einstieg in eine Wirksamkeitsklausel . Bevor sich ein
Betrieb oder eine Verwaltung von einem schwerbehin-
derten Arbeitnehmer trennt, sollen die Möglichkeiten der
Weiterbeschäftigung geprüft werden .
Die zweite Kostendynamik resultiert daraus, dass
mittlerweile 43 Prozent aller Frühverrentungen aufgrund
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620506
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von psychischen Erkrankungen erfolgen . Das heißt, es
sind nicht mehr die kaputten Knochen oder Herz-Kreis-
lauf-Erkrankungen, sondern psychische Erkrankungen,
die für 43 Prozent der Frühverrentungen verantwortlich
sind. Unser Schlüssel, dieses Problem anzugehen, ist die
Stärkung der Schwerbehindertenvertretungen in den Be-
trieben und der Verwaltung .
Wer sagt, dieses Gesetz sei nicht sein Gesetz, der
verhindert, dass bei der Anrechnung von Vermögen bei
70 000 Menschen, die Erwerbsarbeit leisten, massive
Verbesserungen stattfinden. Die Vermögensgrenze wird
von derzeit 2 600 Euro auf 50 000 Euro angehoben wird .
Das ist die Perspektive bis 2020. Wichtig ist, dass die
Ehepartnerinnen und Ehepartner von der Mitfinanzie-
rung befreit werden und für die 300 000 Menschen in den
Werkstätten das Arbeitsfördergeld verstärkt wird . Auch
deren Recht auf ein Sparbuch wird gestärkt . Wer sagt,
dass das nicht sein Gesetz sei, der gibt den Menschen, die
betroffen sind, kein Brot, sondern Steine.
Deshalb ist es so wichtig, dass wir dieses Gesetz heute
verabschieden und einen Prozess starten. Wir sind nicht
am Ende, sondern wir haben jetzt einen wichtigen Pro-
zess mit dem Teilhabegesetz gestartet . Dadurch werden
Türen geöffnet, und die Räume werden weiter ausgestal-
tet . Das Gesetz zeugt von einer lebendigen Demokratie –
es gab vielfältige Aktionen im Parlament und außerhalb
des Parlaments – und von selbstbewussten Abgeordne-
ten . Es zeigt, dass die Teilhabe behinderter Menschen
in allen Facetten des Lebens unumkehrbar von heute an
vorangeht .
Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die
Kollegin Kerstin Tack .
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte
auf einige der hier gemachten Aussagen gerne einge-
hen . Der Kollege Bartsch, der nicht mehr hier ist, weil er
schon andere Aufgaben wahrnimmt – das hätte man auch
anders machen können; aber so ist es –,
war der Meinung, dass in diesem Gesetz die Finanzen
nicht hinreichend berücksichtigt würden . Wer sich hier-
hinstellt und das macht, der haut den Kommunen und den
Ländern richtig einen vor den Latz .
Vielleicht hat er es nicht gewusst, vielleicht woll-
te er, dass es so kommt . Das wissen wir nicht; denn er
ist nicht mehr da . Danach können wir ihn nicht fragen .
Die Eingliederungsleistungen zahlen nicht wir, sondern
die Kommunen und die Länder . Wer sagt, dass da nicht
ordentlich Geld investiert würde, bezieht seine eigenen
Kommunen und auch sein Land massiv in die Kritik ein .
Ich hoffe, dass er noch hört, dass er sich an dieser Stelle
ein bisschen verrannt hat, wenn er das zum Thema macht .
Frau Kollegin Werner, von Ihnen hätte ich erwartet,
dass Sie ein bisschen tiefer in der Materie sind . Wenn
Sie sich hierhinstellen und einen aktuellen Fall der Leis-
tungsgewährung in einer Stadt in Baden-Württemberg
mit dem Hinweis auf ein Gesetz, das in drei Jahren in
Kraft tritt, schildern, dann haben Sie sich, finde ich, mas-
siv verrannt .
Die heutige Praxis der Leistungsgewährung ist über-
all komplett unterschiedlich . Das macht uns allergrößte
Sorge . Deshalb machen wir in unserem Gesetz bundes-
einheitliche Kriterien für genau diese Bedarfsermittlung .
Wir stärken die Rechte . Endlich werden wir es hinbe-
kommen, dass wir im Gesamtplanverfahren die Betrof-
fenen an den Tisch holen . Wir stärken ihre Beratung,
und sie können ihre Vertrauenspersonen zur Beratung
mitnehmen . Das wird die neue Gewährungspraxis sein,
wenn wir in drei Jahren dieses Gesetz haben . Aber zu
meinen, man könnte mit einem heutigen Fall mit Verweis
auf ein Gesetz, das in drei Jahren in Kraft tritt, argumen-
tieren, ist nicht in Ordnung .
Frau Kollegin Rüffer und Frau Göring-Eckardt, es ist
wirklich nicht in Ordnung, wenn man sich hierhinstellt
und sagt: Ich verwende meine Redezeit darauf, über ei-
nen Entwurf zu reden, und rede nicht über das, was heute
eigentlich zur Abstimmung steht . Wenn das das Ziel Ihrer
Rede ist, dann will ich sehr deutlich sagen: Das ist eine
Missachtung der Parlamentarierinnen und Parlamentari-
er,
die sich in den letzten Wochen hier sehr massiv genau da-
mit beschäftigt haben . Wenn jemand sagt, ich rede über
etwas, was heute gar nicht zur Abstimmung steht, finde
ich, dass das nicht redlich ist .
Frau Kollegin Rüffer, wenn Sie sagen, da seien Ver-
schlechterungen in dem Gesetz für die betroffenen Men-
schen: Was für eine Verantwortungslosigkeit werfen Sie
denn den Grünen in den Ländern vor, die genau diese
angeblich großen Verschlechterungen in zwei Wochen
hier mit auf den Weg bringen werden?
Deshalb finde ich, dass das nicht in Ordnung ist.
Uwe Schummer
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Sie sagen, Ihre Kolleginnen und Kollegen in den Län-
dern hätten eine große Verantwortungslosigkeit an den
Tag gelegt, weil sie Ihnen an dieser Stelle nicht folgen .
Da muss man sich sehr genau überlegen, wie man hier
an diesem Redepult agiert und wie man es gerade nicht
tut . Ich glaube, da haben Sie Ihren Kollegen in den Län-
dern heute keinen guten Dienst erwiesen .
Für uns ist ganz entscheidend, dass wir das Selbstbe-
stimmungsrecht der Menschen stärken, und das in der
Tat nicht nur bei dem Einkommen und Vermögen – das
ist hier schon ganz viel gesagt worden –, sondern gera-
de auch mit der Erhöhung des Vermögensfreibetrages in
der Grundsicherung. Das betrifft nicht nur Menschen mit
Behinderung, sondern das betrifft jeden in Deutschland,
unabhängig von der Frage, ob er eine Behinderung hat
oder nicht . Das sind 2 Millionen Menschen in Deutsch-
land. Für diese Personengruppen werden wir den Frei-
betrag von heute 2 600 Euro auf 5 000 Euro erhöhen .
Das ist eine echte sozialpolitische Leistung, von der über
das Bundesteilhabegesetz auch andere profitieren, auch
wenn sie keine Beeinträchtigung haben . Wir halten das
für eine richtig wichtige Maßnahme .
Zu der Schwerbehindertenvertretung hat Kollege
Schummer schon erläutert, was jetzt alles im Gesetz steht .
Aber ich will auch sehr deutlich sagen: Für die SPD ist
die Stärkung der Schwerbehindertenvertretung ein rich-
tig wichtiges Anliegen . Es bleibt auch ein Anliegen in der
nächsten Legislatur, die Stärkung weiter voranzutreiben .
Mit der heute erreichten Unwirksamkeit der Kündigun-
gen sind wir noch nicht hinreichend einverstanden . Wir
wollen mehr .
Wir glauben auch, dass dieses Gesetz ein erster wich-
tiger Schritt auf dem Weg zur weiteren Umsetzung der
UN-Behindertenrechtskonvention ist . Aber es müssen
weitere Schritte folgen .
Wir wollen ganz selbstverständlich, dass wir bei der
Einkommens- und Vermögensanrechnung zu einer vol-
len Freistellung kommen .
Deshalb muss es an dieser Stelle weitergehen .
Wir möchten den inklusiven Arbeitsmarkt weiter stär-
ken, die Rolle der Werkstätten in diesem System noch
einmal deutlicher unter die Lupe nehmen und ihnen auch
künftig eine Rolle zuweisen .
Wir möchten – ich glaube, es war Frau Reimann, die
das auch im Bereich der Schnittstelle zur Pflege gesagt
hat –, dass auch Menschen mit Behinderung, die in voll-
stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe leben,
die Beiträge an die Pflegeversicherung gezahlt haben,
die heute aber die einzige Gruppe in Deutschland sind,
die keine Leistungen der Versicherungen bekommen, alle
Leistungen der Pflegeversicherung erhalten, wie sie auch
Menschen außerhalb von vollstationären Einrichtungen
bekommen . Das wird noch eine Aufgabe der nächsten
Legislatur sein, das tatsächlich auf den Weg zu bringen,
und die entsprechenden Mittel für die Pflegeversicherung
zu kompensieren .
In diesem Sinne freue ich mich, dass wir hier heute
den ersten großen Schritt gehen . Weitere werden folgen .
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Jetzt hat die Kollegin Gabriele
Schmidt, CDU/CSU-Fraktion, das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuhörer und Zuseher im Bundestag! Das Bun-
desteilhabegesetz ist für mich mit das wichtigste sozial-
politische Vorhaben dieser Legislaturperiode . Jeder von
uns wünscht sich ein selbstbestimmtes und erfülltes Le-
ben . Mit der Reform der Eingliederungshilfe werden wir
dazu beitragen, dass dies endlich auch für Menschen mit
Behinderung gelingt . Das Gesetz wird ihre Lebenssitua-
tion in vielen Bereichen deutlich verbessern, egal wie oft
das hier bestritten wird .
Das Gesetzgebungsverfahren – dazu zählen auch die
Vorarbeit und die Beteiligung Betroffener in der Arbeits-
gruppe „Bundesteilhabegesetz“ und die Mitwirkung von
Kommunen, Ländern, Verbänden – war gekennzeichnet
von Transparenz und Mitbestimmung . Alle hatten und
haben das gemeinsame Ziel, Teilhabe und Selbstbestim-
mung von Menschen mit Behinderungen weiter zu stär-
ken .
Dass die Regierung zugehört und entsprechend gehan-
delt hat, sieht man an den vielen Änderungen und Ver-
besserungen, die über die Monate Eingang in das vorlie-
gende Gesetz gefunden haben . Das geschah zum größten
Teil in enger Abstimmung mit den Verbänden und den
Betroffenen. Es handelte sich um einen Prozess, und die-
ser Prozess wird fortgeführt. Einzelne Regelungen wer-
den evaluiert und da, wo nötig, nachgebessert .
Kerstin Tack
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620508
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(D)
Nachbesserung gibt es beim Zugang zur Eingliede-
rungshilfe . Die zu Recht kritisierte Fünf-aus-neun-Rege-
lung wurde gestrichen – Kollegin Dr . Freudenstein hat
das im Detail erklärt –; ein ganz wichtiger Punkt.
Verbesserungen gibt es auch für Werkstattbeschäftigte
mit der Verdoppelung des Arbeitsförderungsgeldes . Da-
von profitieren viele geistig behinderte Menschen, und
der Bund und die Länder stellen nochmals 125 Millionen
Euro bereit . Es handelt sich um eine Gruppe von Men-
schen, die unseren besonderen Schutz brauchen, den wir
ihnen gewähren wollen .
Gerade war wieder die Rede von der Schnittstelle
zwischen Eingliederungshilfe, Pflegeversicherung und
Hilfe zur Pflege. Auch hier wurde nachjustiert. Was für
mich persönlich sehr wichtig ist – nicht nur für Frau Tack
und die SPD –, ist die Stärkung des Schwerbehinderten-
rechts . Ab 100 schwerbehinderten Menschen in einem
Unternehmen wird die Vertrauensperson für die Arbeit
freigestellt . Dass die Kündigung eines Schwerbehinder-
ten ohne die Beteiligung der Vertretung unwirksam ist,
war wirklich überfällig; auch das steht jetzt im Gesetz .
Ich habe in Gesprächen mit der Schwerbehinderten-
vertretung des Landratsamtes Waldshut, immerhin der
größte Arbeitgeber in meiner Region, gehört, dass die
Kollegen dort insbesondere mehr Zeit für ihre Arbeit
brauchen . Sie brauchen mehr personelle Unterstützung
und auch mehr und breitere Weiterbildungen . Genau die-
sen Wünschen tragen wir mit dem Gesetz Rechnung .
Da leider gerade Frauen mit Beeinträchtigungen, die
in Einrichtungen der Behindertenhilfe arbeiten oder le-
ben, besonders häufig Opfer von Gewalt sind, gibt es
künftig in jeder Werkstatt eine Frauenbeauftragte . Insge-
samt werden die Rechte und damit die Mitbestimmung
der Vertreter der Beschäftigten in Werkstätten für behin-
derte Menschen in den Werkstatträten gestärkt .
Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass mit der Reform
mehr Übergänge in Arbeit geschaffen werden sollen.
Mit dem Budget für Arbeit werden bestehende Beschäf-
tigungsangebote sinnvoll ergänzt, und das Recht auf
Rückkehr in die Werkstatt bleibt dabei unangetastet . Ge-
nau damit wird an dieser Stelle das Wunsch- und Wahl-
recht der Menschen mit Behinderung gestärkt . Von den
rund 15 000 Neuzugängen in den Werkstätten sind fast
13 000 Menschen mit psychischen Behinderungen . Sie
fühlen sich in diesen Werkstätten oft fehlplatziert . Für sie
kann das Budget für Arbeit eine gute Möglichkeit sein,
wieder auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen .
Damit chronische Erkrankungen nicht erst entstehen
und die Erwerbsfähigkeit erhalten bleibt, sollen Präven-
tivmaßnahmen ergriffen werden. Damit sind wir wieder
bei den Schwerbehindertenvertretungen, denen eine
Schlüsselrolle in diesem Bereich zukommt . Die Träger
von Rehamaßnahmen werden verpflichtet, drohende Be-
hinderungen frühzeitig zu erkennen und gezielt zu han-
deln .
Jeder von uns hat leidvolle Erfahrungen mit dem
Dschungel an Vorschriften, Gesetzen und entsprechen-
den Formularen . Wir wollen dem entgegenwirken mit
dem Teilhabeplanverfahren und der „Hilfe wie aus einer
Hand“, von der wir ja auch schon gehört haben . Das ist
definitiv eine deutliche Verbesserung gegenüber der jet-
zigen Situation . Das gilt auch dafür, dass in Beratungs-
stellen gezielt mehr Menschen mit Behinderung tätig
sein sollen .
Die weitere zentrale Änderung ist die Anhebung von
Einkommens- und Vermögensfreigrenzen bei der Ein-
gliederungshilfe . Menschen, die ihr Geld selbst verdie-
nen, sollen auch etwas davon haben . Ein ganz wichtiges
Anliegen der Union ist dabei die Abschaffung der Heran-
ziehung von Ehe- und Lebenspartnern .
Sie sehen also: Es sind grundlegende Reformen, die
wir gemeinsam anstoßen . Die eigentliche Kraftanstren-
gung, die Umsetzung, liegt aber noch vor uns . Gemein-
sam mit Ländern, Kommunen und den Betroffenen sowie
deren Vertretern wird es uns gelingen, diese gemeinsame
Kraftanstrengung auch zum Erfolg zu führen . Das ist
meine Überzeugung .
Vielen Dank .
Vielen Dank . – Die letzte Rednerin zum diesem Ta-
gesordnungspunkt ist die Kollegin Jutta Eckenbach,
CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer wie
ich seit über 20 Jahren mit Menschen mit Behinderungen
zu tun hat – das habe ich auch im Landschaftsverband
Rheinland seit vielen Jahren – und heute Morgen die ers-
te Rede von Herrn Bartsch gehört hat, der kann nur sa-
gen: Wir müssen ein verdammt gutes Gesetz auf den Weg
gebracht haben, dass sich die Opposition heute hier mit
so populistischen Argumentationen aus der Mottenkiste
hinstellt . Verdammt noch mal, wir waren gut mit unse-
rem Gesetz – ich bin sehr damit zufrieden – und werden
es heute auf den Weg bringen .
Frau Göring-Eckardt, auch Sie habe ich nicht verstan-
den: Gerade die Koalitionsfraktionen haben doch viele
Gespräche mit den Menschen, mit den Betroffenen ge-
führt; ich denke, da spreche ich auch für meine Kolle-
ginnen und Kollegen der SPD. Es ist nicht so, dass wir
nicht mit den Betroffenen gesprochen hätten. Und dieje-
nigen, mit denen wir im Vorfeld gesprochen haben, ha-
ben uns vielfach aufgezeigt, wo die Schwachstellen sind .
Wir haben dann diese Hinweise aufgenommen . Dieses
umfangreiche Paket an Änderungen haben wir heute
Morgen eingebracht . Ich glaube, das zeigt, dass die Koa-
litionsfraktionen gewissenhaft, ernsthaft und sehr zielge-
richtet mit diesem Gesetzgebungsverfahren umgegangen
sind . Uns an dieser Stelle quasi menschenunwürdiges
Verhalten vorzuwerfen, ist, finde ich, eine schiere Un-
Gabriele Schmidt
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20509
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(D)
verschämtheit . Das sage ich Ihnen ganz ehrlich . Das hat
mich schon sehr aufgeregt .
Ich will noch einmal auf die Gespräche zu sprechen
kommen, die ich geführt habe, und möchte mich dafür
bei den Menschen, bei vielen Verbänden, bei Firmen, bei
Einrichtungen und bei den Behinderten selbst bedanken .
Was mich ein bisschen schockiert hat – lassen Sie
mich das an dieser Stelle auch sagen –, ist, mit wie vie-
len Falschinformationen wir bei diesem Gesetzgebungs-
verfahren zu tun hatten und wie viel Verunsicherung wir
auch unter die Menschen gebracht haben . Das schadet
der Demokratie . Was wollten wir? Wollten wir die Men-
schen einfach nur auf die Palme bringen, oder wollten
wir mit ihnen reden und gemeinsam etwas nach vorne
bringen?
Ich glaube, das ist uns doch sehr gut gelungen . Es ist
richtig, dass wir einen Paradigmenwechsel vornehmen.
Das sehe ich als mit das Wichtigste bei diesem Gesetz
an . Wir gehen dieses Mal von den Stärken der Menschen
aus, und nicht von ihren Schwachstellen, Frau Rüffer.
Wir nehmen die Stärken ernst . Wer insbesondere mit
den Landschaftsverbänden in Nordrhein-Westfalen bei
diesem Thema zu tun hat, der weiß, dass das dort seit
vielen Jahren in diese Richtung geht . Dort haben wir mit
Werkstätten sehr gute Erfahrungen gemacht; wir haben
auch schwerstbehinderte Menschen in Werkstätten unter-
gebracht und tun ganz viel für psychisch erkrankte Men-
schen .
Aber das ist nicht in ganz Deutschland so . Insofern ist
es richtig, dass wir hier im Bundestag die Rahmenbedin-
gungen festlegen, die von den Ländern und den Kommu-
nen ausgefüllt werden können . Ich bin sehr darauf ge-
spannt, wie diese Umsetzung in den Ländern letztendlich
erfolgt . Darauf warte ich; denn es ist noch einiges zu tun
in Deutschland . Die Rahmenbedingungen sind von uns
im Deutschen Bundestag festgelegt . Das kann man nur
weiterhin begrüßen .
Ich möchte gerne noch auf einen Bereich eingehen,
der mir auch wichtig war, der aber gar nicht so sehr im
Fokus gestanden hat. Wenn Sie mit den betroffenen Men-
schen, die in Werkstätten arbeiten, gesprochen haben,
haben Sie erfahren, dass es ihnen immer darum ging:
Warum bekommen eigentlich andere Menschen mit Be-
hinderungen Freibeträge, können mehr Geld behalten?
Wir bekommen nichts . – Das war eine große Diskussion .
Wir haben es geschafft – da bin ich der Politik und der
Koalition wirklich ausgesprochen dankbar –, nach fast
fünf Jahren auch die Mittel für Menschen in Werkstätten
deutlich zu erhöhen – es hätte vielleicht noch ein biss-
chen mehr sein können, aber wir arbeiten daran –; auch
die Freibeträge wurden erhöht, um fast 100 Prozent. Ich
denke, das wird immer ein wenig vergessen und geht
unter . Aber für die Menschen in Werkstätten ist das ein
wichtiger Beweis der Wertschätzung . Deswegen danke
ich hier wirklich noch einmal der Koalition .
Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas sagen, das
bisher noch gar nicht zur Sprache gekommen ist . Ich
möchte es gern in leichter Sprache zusammenfassen:
Erstens . Die Eingliederungshilfe ist auch heute schon
sehr gut .
Zweitens . Das neue Gesetz bringt viele Verbesserun-
gen .
Drittens. Wenn wir das neue Gesetz in den Papierkorb
geworfen hätten, würde es auch die guten Vorschläge
nicht geben .
Viertens . Die schlechteren Ideen haben wir verbessert
und korrigiert .
Fünftens . Das Gesetz ist also gut für Menschen mit
Behinderungen .
Sechstens . Wenn etwas trotzdem nicht gut funktionie-
ren wird, werden wir es später verbessern .
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Damit sind wir am Ende dieser Debat-
te angekommen .
Wir kommen zur Abstimmung über Tagesordnungs-
punkt 3 a . Es geht um den von der Bundesregierung ein-
gebrachten Gesetzentwurf zur Stärkung der Teilhabe und
Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen .
Zu dieser Abstimmung liegen zahlreiche Erklärungen
nach § 31 Absatz 1 unserer Geschäftsordnung vor .1)
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 18/10523, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf den Drucksachen 18/9522 und 18/9954 in der Aus-
schussfassung anzunehmen . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wol-
len, um das Handzeichen . – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ge-
gen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen .
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist damit in dritter Lesung mit dem gleichen
Stimmenverhältnis angenommen .
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD auf Drucksache 18/10528. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
1) Anlage 2
Jutta Eckenbach
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620510
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von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke angenommen .
Vielen Dank für die Debatte . Wir sehen, wir haben
heute alle möglichen Abstimmungsverhältnisse . Die De-
batte war lebhaft, aber notwendig .
Wir setzen jetzt die Abstimmungen über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und So-
ziales fort .
Tagesordnungspunkt 3 b . Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und So-
ziales auf Drucksache 18/10523 . Der Ausschuss emp-
fiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung
die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/10014 mit dem Titel „Das Teilhaberecht
menschenrechtskonform gestalten“ . Wer stimmt für die-
se Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Opposition angenommen .
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchsta-
be c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 18/9672 mit dem Titel „Mit dem Bundesteilha-
begesetz volle Teilhabe ermöglichen“ . Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Opposition angenommen .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b auf:
a) – Zweite und dritte Beratung des von der
Bundesregierung eingebrachten Ent-
wurfs eines Dritten Gesetzes zur Stär-
kung der pflegerischen Versorgung und
zur Änderung weiterer Vorschriften
Drucksachen 18/9518, 18/9959, 18/10102
Nr. 19
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Gesundheit
Drucksache 18/10510
Drucksache 18/10511
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Pia
Zimmermann, Sabine Zimmermann
, Matthias W . Birkwald, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Pflege teilhabeorientiert und wohnortnah
gestalten
– zu dem Antrag der Abgeordneten Elisabeth
Scharfenberg, Kordula Schulz-Asche, Maria
Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Pflege vor Ort gestalten – Bessere Bedin-
gungen für eine nutzerorientierte Versor-
gung schaffen
Drucksachen 18/8725, 18/9668, 18/10510
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen vor .
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 77 Minuten vorgesehen . – Ich sehe kei-
nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich bitte Sie, die Plätze einzunehmen; denn dann
könnte ich die Aussprache eröffnen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bun-
desregierung hat die Parlamentarische Staatssekretärin
Ingrid Fischbach . – Bitte schön .
I
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube,
wir haben heute etwas geschafft, was uns zu Beginn der
Legislaturperiode sicherlich niemand zugetraut hätte .
Wir haben heute das zum Abschluss gebracht, was wirk-
lich den Namen „Reform“ verdient. Wir haben eine Pfle-
gereform auf den Weg gebracht, die mit dem Pflegestär-
kungsgesetz I, dem Pflegestärkungsgesetz II und heute
mit dem Pflegestärkungsgesetz III in drei Stufen endlich
das umsetzt, was sich all die, die Pflege benötigen, und
diejenigen, die pflegen – sowohl hauptamtlich als auch
ehrenamtlich –, gewünscht haben, was sie brauchen, was
sie benötigen . Deswegen können wir stolz darauf sein,
dieses Gesetz heute zum Abschluss zu bringen .
Wir haben mit dem Pflegestärkungsgesetz I einen
Bereich in Angriff genommen, der – schauen wir uns
die Zahlen an – der wichtigste ist: die Pflege zu Hause,
ambulant vor stationär. Wir haben mit dem PSG I alles
getan, um denjenigen, die zu Hause pflegen oder die ge-
pflegt werden, Verbesserungen zu bringen. Wir haben die
Anzahl der Betreuungskräfte für die stationären Einrich-
tungen deutlich erhöht . Auch das ist angekommen . Das
sagen alle, die damit zu tun haben . Wir haben endlich das
gemacht, was wir immer wollten, nämlich Flexibilität in
der Angebotsvielfalt. Das heißt, Pflege ist individuell,
und deswegen muss auch die Angebotsannahme indivi-
duell sein. Das haben wir mit dem PSG I geschafft.
Mit dem PSG II ist etwas verabschiedet worden, was
zehn Jahre diskutiert wurde, wovon auch niemand glaub-
te, dass wir es zu Ende bringen, nämlich endlich den neu-
en Pflegebedürftigkeitsbegriff einzuführen. Heute in ei-
nem Monat wird es so weit sein . Ab 1 . Januar 2017 ist die
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20511
(C)
(D)
Leistung unabhängig davon, ob jemand eine körperliche
oder eine geistige oder eine psychische Beeinträchtigung
hat. Das spielt keine Rolle mehr. Alle Pflegebedürftigen
werden dann Zugriff auf die Pflegeleistungen haben, un-
abhängig von der Art ihrer Beeinträchtigung . Ich glaube,
das ist ein guter, wichtiger Schritt und eine große Hilfe
für die Menschen, die zu Hause demenziell Erkrankte ha-
ben und pflegen.
Meine Damen und Herren, der Sechste Pflegebericht,
der Mitte Dezember im Kabinett verabschiedet wird, wird
zeigen, dass die Maßnahmen, die wir mit dem PSG I auf
den Weg gebracht haben, gut angenommen werden . Aber
wir wissen auch: Das PSG II und auch das PSG I können
sich nur voll entfalten, wenn die Maßnahmen, die wir be-
schlossen haben, vor Ort umgesetzt werden . Deswegen
ist es wichtig – aller guten Dinge sind drei –, dass wir
heute mit dem Pflegestärkungsgesetz III die Orte in den
Blick nehmen, die wichtig sind, nämlich die Kommunen,
das heißt die Situation in den Stadtteilen, in den Fami-
lien, in den WGs, dort, wo die Pflege stattfindet. Dazu
brauchen wir die Kommunen vor Ort . Deswegen ist es
gut, dass wir das heute mit dem PSG III zum Abschluss
bringen .
Meine Damen und Herren, Pflege muss passgenau und
individuell gestaltet sein, aber sie braucht dafür ein gut
gestaltetes Umfeld, damit die Möglichkeiten dann auch
in Anspruch genommen werden können . Sie braucht en-
gagierte Dienste, Einrichtungen, Menschen, die helfen .
Sie braucht aber auch kommunal Verantwortliche, die
sich dieses Themas annehmen und sagen: Wir wollen,
dass die Menschen in unserer Stadt das bestmögliche An-
gebot bekommen . – Es gibt viele Angebote . Sie müssen
besser koordiniert werden; es muss kooperiert werden .
Dazu brauchen wir die Kommunen . Sie müssen dafür
da sein, gute, starke Ideen, die die Beteiligten haben, zu
vernetzen, sodass alle Beteiligten, vor allen Dingen die-
jenigen, die gepflegt werden müssen, die bestmöglichen
Angebote bekommen .
Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Stärkung der
Rolle der Kommunen in der Pflege hat lange getagt. Sie
hat sich mit vielen Themen auseinandergesetzt, etwa mit
der Sicherstellung der Versorgung, mit niederschwelli-
gen Angeboten – das ist ganz wichtig, auch wenn es da-
rum geht, kurzfristig kleine Entlastungen für diejenigen,
die pflegen, anzubieten – sowie mit der Beratung; das ist
ein ganz wichtiges Stichwort; denn ich glaube, vielen ist
noch gar nicht bewusst, welche Möglichkeiten sie haben .
Aber auch Stichworte wie altersgerechtes Wohnen sowie
Ehrenamt und Selbsthilfe waren in der Bund-Länder-Ar-
beitsgruppe ein Thema .
Aus diesen fünf Themenfeldern sind über 60 Emp-
fehlungen entstanden, die umgesetzt werden und auch
umgesetzt werden müssen . Wir erweitern jetzt mit dem
PSG III – das ist unser Ziel, und das bringen wir jetzt auf
den Weg – die Handlungsfelder der Kommunen, indem
wir zum Beispiel die Pflegekassen zur Beteiligung an re-
gionalen Pflegekonferenzen verpflichten. Es ist wichtig,
dass sie wirklich zusammenarbeiten . Wir ermöglichen
den Kommunen aber auch, sich an der Bereitstellung
niederschwelliger Angebote zu beteiligen, und geben
ihnen die Möglichkeit, diese zu verbessern . Das ist ein
ganz wichtiger Punkt. Wir geben den Kommunen nun die
Möglichkeit, stärker die Initiative zu ergreifen und neue
Pflegestützpunkte zu errichten. Im Rahmen von 60 Mo-
dellvorhaben haben sie die Möglichkeit, das anzugehen
und auszuprobieren, was nötig ist, nämlich die Beratung
aus einer Hand. Ich glaube, das ist etwas, was die Pfle-
gebedürftigen und die Familien brauchen: Beratung aus
einer Hand .
Meine Damen und Herren, wir brauchen nieder-
schwellige Angebote . Dazu müssen wir sowohl das Eh-
renamt als auch – das ist genauso wichtig – die Selbsthil-
fe vor Ort stärken . Auch diese Möglichkeiten bietet das
PSG III. Auch bei den altersgerechten Wohnmöglichkei-
ten müssen wir neue Wege gehen, entsprechende Ange-
bote fördern und ausbauen, sodass sie individuell nutzbar
sind .
Pflegebedürftige, die finanziell bedürftig sind, sollen
ebenfalls von der Einführung des neuen Pflegebedürf-
tigkeitsbegriffs profitieren und sich darauf verlassen
können, dass sie sicher und zuverlässig die Hilfe und
Unterstützung bekommen, die notwendig ist . Wir lösen
damit einmal mehr unser Versprechen ein, dass niemand
alleingelassen wird, der Pflege braucht. Es ist wichtig,
dass die Gemeinschaft zusammensteht und wir die Men-
schen nicht alleinlassen, sie keine Sorgen und Angst ha-
ben müssen .
Diejenigen, die gepflegt werden, und diejenigen, die
pflegen, brauchen aber auch eine ehrliche Pflege. Das
heißt, Vertrauen spielt eine ganz große Rolle . Deswegen
habe ich schon bei der Einführung in dieses Gesetz deut-
lich gemacht: Es gibt wenige schwarze Schafe, die die
Leute – ich sage es mal so – wirklich abzocken . Das kann
es nicht sein. Deswegen bringen wir mit dem PSG III
Verbesserungen bei den Kontrollen auf den Weg, damit
die Missstände, die aufgetreten sind und aufgezeigt wur-
den, nicht wieder auftreten können . Ich glaube, auch das
ist ein ganz wichtiger Punkt.
Mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff, liebe Kol-
leginnen und Kollegen, werden pflegerische Betreuungs-
leistungen zukünftig Regelleistungen der Pflegeversi-
cherung . Das ist eine Erweiterung, die notwendig ist . Es
war dadurch aber auch nötig, dass wir das Verhältnis von
Eingliederungshilfe und Pflegeversicherung im PSG III
regeln . Wir brauchen gute Regelungen zum Verhältnis
der beiden Systeme .
Und wir sind auch lernfähig: Wir haben den Gesetzent-
wurf anders eingebracht, als er heute vorliegt . Ich nenne
das Stichwort der Gleichrangigkeit der beiden Leistungs-
systeme . Es hat sich im Rahmen der Beratungen ergeben,
dass wir bei der Gleichrangigkeit beider Leistungssyste-
me im häuslichen Umfeld bleiben . Gleichzeitig schärfen
wir aber auch die Verpflichtung zur Zusammenarbeit der
Parl. Staatssekretärin Ingrid Fischbach
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620512
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Leistungsträger, wenn Menschen auf Leistungen beider
Systeme angewiesen sind . Die Menschen sollen nicht
leiden . Sie müssen das bekommen, was sie brauchen . Sie
müssen nicht den Zank und Streit beider Systeme ausba-
den . Das muss im Vorfeld geklärt werden, und das haben
wir mit diesem Gesetz auch auf den Weg gebracht .
Meine Damen und Herren, Norbert Blüm hat vor
21 Jahren, als er die Pflegeversicherung eingeführt hat,
gesagt: Auch bei der Pflegebedürftigkeit lassen wir euch
nicht alleine. Er hat recht gehabt. Mit unseren Pflegestär-
kungsgesetzen – mit dem heutigen schließen wir die Rei-
he ab – zeigen wir den Menschen, dass wir verstanden
haben, was wir tun müssen . Diese Reform war mehr als
überfällig . Sie ist ein guter und wichtiger Schritt .
Ich möchte mich am Ende meiner Rede bei den vie-
len Kollegen bedanken, die tatkräftig bei der Erarbeitung
dieses Gesetzes mitgeholfen haben . Wir haben eine gro-
ße Anzahl von Berichterstattergesprächen geführt . Des-
wegen gilt zunächst mein Dank den Berichterstattern
Mechthild Rawert, Erwin Rüddel und Erich Irlstorfer,
die immer wieder mitgeholfen haben, aber auch den
Sprecherinnen Hilde Mattheis und Maria Michalk . Die
stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Karl Lauterbach
und Georg Nüßlein haben am Ende auch noch einmal
mitgeholfen, das Ganze auf den Weg zu bringen . Aber
das Ganze geht natürlich nur, wenn wir gute Mitarbei-
terinnen und Mitarbeiter haben . An Sie in den Büros ein
herzliches Dankeschön dafür, aber auch an das Haus; ich
habe Frau Kraushaar, Leiterin der Abteilung 4, hier sit-
zen sehen . Allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein
ganz herzliches Dankeschön für die Unterstützung und
natürlich auch meinem Kollegen Staatssekretär Karl-Jo-
sef Laumann . Es wurde Tag und Nacht gearbeitet, am
Schluss sogar an Wochenenden, an Samstagen und Sonn-
tagen . Ich sage: Es hat sich gelohnt . Dieses Gesetz ist es
wert, dass wir es verkünden und leben lassen . Die Men-
schen haben es verdient .
Ich danke für die gute Zusammenarbeit und hoffe auf
eine gute Wirkung unserer Gesetze .
Sabine Zimmermann hat als nächste Rednerin das
Wort für die Fraktion Die Linke .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Sie überkleben erneut die Probleme der Pfle-
geversicherung mit Pflästerchen, statt endlich die struk-
turellen Ursachen zu beseitigen . Das hat schon bei den
Vorgängergesetzen nicht funktioniert, und das wird auch
dieses Mal nicht funktionieren .
Die zentralen Probleme gehen Sie nicht an.
Unverändert wird nur ein Teil der Pflegekosten über-
nommen und nicht die Gesamtkosten, die den pflegebe-
dürftigen Menschen tatsächlich entstehen. Pflegebedürf-
tig zu werden, bedeutet heute ein hohes Armutsrisiko .
Eigenanteile für die Pflege können leicht Hunderte Euro
pro Monat ausmachen . Wer kann sich das alles leisten?
400 000 Menschen brauchen schon jetzt die Hilfe zur
Pflege, die sogenannte Sozialhilfe.
Auch für die Beschäftigten in der Pflege tun Sie
nichts. In einem Pflegeheim in Saarbrücken arbeitet Uwe
seit zehn Jahren als Altenpfleger. Er sagt mir: Durch die
bisherigen gesetzlichen Veränderungen hat sich seine Ar-
beitssituation nicht verbessert . Er betreut auf zwei Eta-
gen 40 Bewohnerinnen und Bewohner, davon 20 in der
Grundversorgung, und das umfasst alles: von der Kör-
perpflege über die Ernährung bis hin zu den nicht medizi-
nischen, pflegerischen Tätigkeiten. Für die anderen 20 ist
er nur – ich sage: „nur“ – für die Medikation und die Ver-
bände usw. zuständig. Das ist Pflege im Minutentakt und
im Dauerlauf, sagt Uwe . Leider seien bei diesem Stress
Pflegefehler zum Alltag geworden. 2 000 Euro netto ver-
dient er mit allen Zulagen im Schichtsystem, und er ist
noch einer der Besserverdienenden im Haus .
Und da wundern Sie sich, meine Damen und Herren,
wenn immer weniger junge Menschen Pflegeberufe er-
lernen wollen?
Im angesprochenen Heim konnte keiner der Ausbil-
dungsplätze besetzt werden . Dieser Beruf bedeutet hohe
psychische Belastungen, erhöhte Burn-out-Raten, psy-
chosomatische Erkrankungen und Rückenbeschwerden .
Viele Altenpflegerinnen und -pfleger steigen deshalb ir-
gendwann aus, zu viele während oder unmittelbar nach
der Ausbildung, und daran wird Ihr Gesetz nichts ändern .
Die Linke sagt: Je mehr qualifizierte und gut bezahlte
Pflegekräfte, umso besser für die Pflege.
Allein aus Kostengründen scheuen Sie aber davor zu-
rück, gewisse Standards festzulegen .
Die Linke fordert: Pflegeberufe müssen aufgewertet wer-
den, und das sofort .
Das heißt konkret: bessere Löhne und weniger Arbeits-
belastung .
Die Linke fordert ein Ende des Wettbewerbs- und Pri-
vatisierungswahns .
Parl. Staatssekretärin Ingrid Fischbach
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20513
(C)
(D)
Auch jemand mit wenig Geld hat ein Recht auf eine gute
Pflege im Alter.
Pflege ist eine Aufgabe der öffentlichen Daseinsvorsorge
und gehört deshalb ohne Wenn und Aber in die öffentli-
che Hand .
Geben Sie den Kommunen endlich das Geld dafür .
Wir brauchen eine Pflegevollversicherung, die alle
Kosten der Pflege abdeckt. Zuzahlungen sind und blei-
ben unsozial .
Zuzahlungen ließen sich vermeiden, wenn endlich alle
in dieselbe Versicherung einzahlen würden . Da sind wir
doch gar nicht so weit weg voneinander, liebe Kollegin .
– Die wollen wir nicht alle; aber wir wollen sie .
Wir wollen, dass der Chefarzt und die Krankenschwester,
die Abgeordneten und unsere Kolleginnen und Kollegen
Saaldienerinnen und Saaldiener in eine Versicherung ein-
zahlen . Das gehört sich einfach so .
Die private und die gesetzliche Pflegeversicherung
gehören zusammengeführt zu einer solidarischen Pfle-
geversicherung . Es darf nicht sein, dass die privaten
Versicherungen die Besserverdiener, die Jungen, die Ge-
sunden einsammeln und die Solidargemeinschaft alle Ri-
siken trägt. – Zumindest auf dem Papier, liebe Kollegin
Rawert, haben wir ja die gleiche Meinung . – Aber statt
solidarisch die Kosten der Pflege auf alle in der Gesell-
schaft zu übertragen, legen Sie heute wieder einen Ge-
setzentwurf vor, mit dem keines der zentralen Probleme
in der Pflege wirklich angegangen wird. Es bleibt dabei:
Eine andere Pflegepolitik geht nur mit der Linken.
Danke schön .
Als nächster Redner hat Dr . Karl Lauterbach für die
SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
legen! Zunächst einmal: Wir haben in dieser Legislatur-
periode in den Bereichen Gesundheit und Rente nach
meiner Rechnung bereits 18 Gesetze beschlossen, davon
3 im Bereich Pflege.
In der Pflege haben wir wichtige Verbesserungen er-
reichen können, auf die wir aus meiner Sicht stolz sein
können . Ich danke allen, die teilgenommen haben, und
will kurz in Erinnerung rufen, was wir gemacht haben,
sodass man das Gesamtbild sieht:
Wir haben mit dem Pflegestärkungsgesetz I die Zahl
der Betreuungskräfte in den Pflegeeinrichtungen deut-
lich erhöht . Ohne Betreuungskräfte kann man selbst bei
bester Pflege in einer Pflegeeinrichtung traurig und allein
sein . Das gilt insbesondere für diejenigen, die keine An-
verwandten haben . Das heißt, den Wert der Betreuungs-
kräfte, die sich um die Betroffenen kümmern, die mit
ihnen mal einen kleinen Spaziergang im Park machen
oder schlicht und ergreifend mal ein Spiel mit ihnen spie-
len, darf man nicht unterschätzen . Wir haben zwischen
25 000 und 30 000 zusätzliche Stellen für Betreuungs-
kräfte geschaffen. Das war aus meiner Sicht eine wichti-
ge Initiative zur Vermenschlichung der Pflege.
Zum Zweiten. Mit dem Pflegestärkungsgesetz II
haben wir den massiven systematischen Nachteil von
Menschen mit psychischen Erkrankungen oder mit Ein-
schränkungen hinsichtlich der Art und Weise, wie sie die
Umwelt wahrnehmen, beseitigt . Wir hätten ohne diese
Maßnahme, ohne die Einführung der neuen Pflegegrade
in Zukunft eine massive Zweiklassenversorgung bekom-
men, nicht mit Blick auf den Unterschied zwischen privat
und gesetzlich Versicherten, den Sie, Frau Kollegin, zu
Recht beklagen, sondern wir hätten massive Unterschie-
de zwischen denjenigen, die diese Einschränkungen ha-
ben, und denjenigen, die sie nicht haben .
Wenn ich diejenigen, die diese Einschränkungen ha-
ben, und diejenigen, die sie nicht haben, in dieselbe Pfle-
gestufe einteile und für die Pflege das gleiche Geld gebe,
statt unterschiedliche Pflegegrade zu wählen, dann bringt
die Versorgung von Menschen mit einer psychischen Er-
krankung – das sind diejenigen, die hohe Kosten verur-
sachen – für die Einrichtungen ein Verlustrisiko mit sich,
weil ihre Versorgung mit dem gleichen Beitrag abgedeckt
wird wie die Versorgung der Menschen ohne psychische
Erkrankung. Wir hätten in der Pflege eine Zweiklassen-
medizin gehabt, einen Unterschied zwischen denjenigen,
die eingeschränkt sind, und denjenigen, die nicht einge-
schränkt sind . Das konnten wir abwenden, indem wir bei
den Pflegegraden genau diese Unterscheidung getroffen
haben .
Das war aus meiner Sicht eine wichtige Initiative, um
mit einem Problem umzugehen, das sich jetzt anbahnt.
Denn wir stellen fest, dass bei den Menschen, die jetzt
neu pflegebedürftig sind, 80 Prozent eine kognitive Ein-
schränkung im Sinne einer Vorstufe der Demenz oder be-
reits eine Demenz haben . Das war nicht abgebildet . Von
Sabine Zimmermann
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620514
(C)
(D)
daher war das auch aus meiner Sicht ein wesentlicher
Erfolg, ein wichtiger Schritt nach vorne .
Wir haben in der Pflege Planungsprobleme. Diese Pla-
nungsprobleme werden an Bedeutung gewinnen . Denn
es gelingt uns seit 2011 nicht mehr, die notwendigen
Pflegekräfte zu gewinnen, die wir benötigen. Wir könn-
ten sie sogar bezahlen . Seit 2011 haben wir einen sich
aufbauenden Bedarf . Es gibt immer mehr Stellen, die wir
besetzen wollen, aber nicht besetzen können . Uns feh-
len die Pflegekräfte, und zwar bereits seit einigen Jahren.
Langfristig gibt es weniger Betreuung durch Angehörige .
Bisher werden zwei Drittel der zu Pflegenden zu Hause
betreut. Das könnte ein riesiges Problem werden.
Darum brauchen wir nicht nur eine Stärkung der Fi-
nanzierungsbasis der Pflegeversicherung, wie wir sie in
dieser Legislaturperiode in den entsprechenden drei Ge-
setzen beschlossen haben – insgesamt 6 Milliarden Euro
mehr für die Pflegeversicherung; das ist ein Aufwuchs
von 23 Prozent in einer Legislaturperiode –, sondern
wir brauchen auch bessere Arbeitsbedingungen . Diese
besseren Arbeitsbedingungen können wir nur erreichen,
wenn nach Tarif bezahlt wird . Wir haben bereits erreicht,
dass die tarifliche Bezahlung von Pflegekräften bei der
Wirtschaftlichkeitsprüfung nicht gegen die Einrichtung
verwendet werden kann . Das Gleiche konnte auch schon
bei kirchlichen Trägerschaften erreicht werden . Wir ha-
ben dies jetzt zusätzlich für diejenigen erreicht, die gar
nicht tariflich gebunden sind. Das sind in den neuen Bun-
desländern zwei Drittel der Beschäftigten . Zwei Drittel
der Beschäftigten werden nicht nach Tarif bezahlt . Wir
konnten jetzt erreichen, dass eine Bezahlung bis zum Ta-
rif nicht genutzt werden kann, um einer Einrichtung Un-
wirtschaftlichkeit vorzuwerfen . Das halte ich für einen
großen Schritt nach vorne .
Ich weiß, dass das dem einen oder anderen in der Uni-
onsfraktion nicht so leicht gefallen ist . Sie haben es trotz-
dem mitgetragen . Dafür möchte ich mich an dieser Stelle
noch einmal ausdrücklich bedanken .
Die Kommunen müssen bei der Planung der Pflege
stärker berücksichtigt werden. Das ist mein letzter Punkt;
ich bitte noch einmal kurz um Ihre Aufmerksamkeit . Wir
wissen, in den skandinavischen Ländern haben die Kom-
munen eine viel aktivere Rolle bei der Pflegeplanung.
Wenn jetzt hier in Deutschland Pflegedienste dichtma-
chen, weil die Wirtschaftlichkeit nicht mehr gegeben ist,
weil der Bedarf nicht gedeckt werden kann, dann gibt
es keine kommunale Planung für die Pflege. Wir haben
diese kommunale Planung nicht nur finanziell gestärkt
und möglich gemacht, sondern wir haben auch die Kos-
tenträger, also die Pflegekassen, und die Einrichtungen
verpflichtet, an den Planungsgesprächen teilzunehmen
und die Ergebnisse bei den Verhandlungen zu den ent-
sprechenden Pflegeverträgen zu berücksichtigen. Das ist
für denjenigen, der damit nicht jeden Tag beschäftigt ist,
eine technische Kleinigkeit .
Herr Kollege, mit dieser technischen Kleinigkeit müs-
sen Sie jetzt zum Schluss kommen .
Frau Präsidentin – Ich bestreite, dass es eine techni-
sche Kleinigkeit ist .
Sie haben es gesagt .
Ich komme zum Abschluss . – Das war ja gerade mein
Punkt. Es handelt sich nicht um eine technische Kleinig-
keit, sondern es handelt sich um eine wesentliche Stär-
kung der Kommunen bei der Pflegeplanung und bei der
zukünftigen Bedarfsdeckung .
Ich danke für die Geduld und auch für die Aufmerk-
samkeit .
Nachdem wir es jetzt noch einmal erläutert bekom-
men haben – die Ironie hinsichtlich der technischen Klei-
nigkeit hat, glaube ich, jeder verstanden –, kommen wir
zur nächsten Rednerin . Elisabeth Scharfenberg hat das
Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
legen! Sehr geehrte Damen und Herren! Bevor ich jetzt
über das PSG III spreche, möchte ich ganz kurz auf ei-
nige Wordings meines Kollegen Lauterbauch eingehen .
Herr Professor Lauterbach, Sie haben sich hierhingestellt
und gesagt: Ohne Betreuungskräfte kann das Leben in
einem Pflegeheim ganz schön einsam sein. Die Betreu-
ungskräfte haben die Pflege vermenschlicht. – Machen
Sie sich einmal deutlich, was Sie jeder Pflegefachkraft in
diesem Land hier mit auf den Weg geben . Vergessen Sie
bitte nicht die Situation, mit der die Pflege jeden Tag vor
Ort kämpft,
zum Beispiel mit der Minutenpflege, mit dem Gerenne
usw . Das gehört goutiert . Wir sollten nicht die einzelnen
Kräfte in den Einrichtungen gegeneinander ausspielen .
Dr. Karl Lauterbach
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20515
(C)
(D)
Es braucht eine Teamleistung, damit die Pflege funktio-
niert. Die Pflegekräfte gehen jeden Tag über ihre persön-
lichen Grenzen hinaus, damit der Laden läuft .
Zum PSG III. Sie beschließen heute ein sehr mutloses
Gesetz .
Welche Rolle die Kommunen in der pflegerischen Ver-
sorgung spielen sollen, ist doch eine der zentralen pfle-
gepolitischen Zukunftsfragen . Das Gesetz gibt einfach
keine Antwort darauf .
In den Kommunen leben die Menschen . Dort wer-
den sie versorgt . Dort haben sie ihre Nachbarn und ihre
Freunde und meist auch ihre Familie . Die lokalen Ge-
gebenheiten sind überall anders . Deswegen müssen wir
Spielräume vor Ort schaffen, damit auch in einer Ge-
meinde in Mecklenburg-Vorpommern die Selbsthilfe, die
Kasse, die Leistungserbringer, die Sozialhilfeträger usw .
nach diesen Gegebenheiten entscheiden können, welche
Versorgung sie vor Ort brauchen .
Das können ganz andere Notwendigkeiten sein als bei-
spielsweise für eine Gemeinde im nördlichen Rheinland
oder bei mir zu Hause in Oberfranken . Mit anderen Wor-
ten: Wir müssen das starre System der Pflegeversiche-
rung auflockern.
Als wir vor drei Jahren den Koalitionsvertrag dieser
Regierung gelesen haben, haben wir uns durchaus ge-
freut. Wir fanden es gut, dass Union und SPD die Kom-
munen im Bereich Pflege stärken wollten. Wir haben
Ihnen aber auch schon damals gesagt, dass Ihre Koali-
tionsvereinbarung zur Pflege zwar sehr ambitioniert da-
herkommt, dass sie aber auch merkwürdig konzeptions-
los bleibt . Schon damals wurde nicht deutlich, in welche
Richtung Sie die pflegerische Versorgung entwickeln
möchten . Das zeigt sich eben auch heute . Sie stellen uns
keine Idee der Pflege in der Zukunft vor, und Sie tasten
wesentliche Stellschrauben der pflegerischen Versorgung
einfach nicht an .
Die Rolle der Kommunen ist eine solche Stellschrau-
be. Noch einmal: Es geht darum, wie wir die pflegerische
Versorgung wieder näher an die Menschen bringen kön-
nen . Das können wir nur in und das können wir nur mit
den Kommunen schaffen. Diese Chance verspielen Sie
heute .
Letztlich erschöpft sich die sogenannte Stärkung der
Kommunen in bis zu 60 Modellvorhaben zur kommuna-
len Pflegeberatung. Beratung ist enorm wichtig, aber die
Modellkommunen erhalten keine Möglichkeiten zur Ge-
staltung der pflegerischen Versorgung an sich, zur Pfle-
geplanung und zur Erprobung von Case- und Care-Ma-
nagement-Ansätzen .
Dann noch eine ganz besondere Volte, die Sie hier dre-
hen . Von diesen wenigen Modellkommunen dürfen die
Hälfte zwingend keine Vorerfahrungen mit Pflegebera-
tung haben . Ein gewisser Anteil ist sicherlich sinnvoll .
Aber die Hälfte? Ich denke, damit ist heute schon klar,
dass die Modelle in der Gesamtbetrachtung am Ende
nicht erfolgreich sein werden .
Das ist eine reine Alibiveranstaltung . Die Koalition –
so scheint es – will gar nicht, dass es funktioniert .
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, Sie waren in den letzten Jahren zweifellos flei-
ßig . Das ist für Sie wieder die Möglichkeit, einen Zwi-
schenapplaus zu geben .
Die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbe-
griffs und die deutliche Ausdehnung der finanziellen Mit-
tel der Pflegeversicherung waren absolut überfällig. Aber
Sie dürfen sich darauf nicht ausruhen . Insgesamt bleibt
es eine Pflegepolitik des Weiter-so, und davon ganz viel.
Aber auch mit viel Geld kann man nicht zukleistern, dass
eine zukunftsorientierte Pflege eine Orientierung braucht.
Sie haben und bieten diese Orientierung einfach nicht .
Darüber darf auch der neue Pflegebedürftigkeitsbe-
griff nicht hinwegtäuschen. Welche Art von Pflege, wel-
che Form von Leistungen die Menschen damit in Zukunft
bekommen, ist doch völlig offen. Das ist doch aber eine
der entscheidenden Fragen .
Auch Ihre großzügige Ausgabenpolitik ist absolut auf
Sand gebaut . Es sind doch übrigens alles Versicherten-
gelder, über die wir hier sprechen .
Im aktuellen Pflegereport der Barmer GEK wird schon
für das nächste Jahr ein Defizit der Pflegeversicherung
befürchtet .
Diese schwere Hypothek hinterlassen Sie der nächs-
ten Bundesregierung, weil diese Große Koalition wieder
keine grundlegende Finanzierungsreform vorgelegt hat .
Diese grundlegende Finanzierungsreform muss natürlich
lauten: Bürgerversicherung . Das wissen Sie; das wissen
wir ganz genau . Daran wird kein Weg vorbeiführen .
Stattdessen haben wir Ihren völlig sinnlosen Pflegevor-
sorgefonds an der Backe – so sinnlos wie ein Kropf –,
Elisabeth Scharfenberg
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620516
(C)
(D)
einen Fonds, der nur Geld bindet .
Das ist reine Symbolpolitik; dabei brauchen wir in der
momentanen Situation etwas ganz anderes .
Auch gegen den dramatischen Personalmangel in der
Pflege haben Sie kaum etwas getan. Die Entwicklung
eines Personalbemessungsverfahrens haben Sie zwar
beschlossen, aber schön bis ins Jahr 2020 verschoben .
Und von einer Einführung ist schon gar nicht die Rede .
Ich frage mich, ob Sie persönlich gar keine Schreiben der
Pflegekräfte erhalten, ob Sie keine Wasserstandsmeldun-
gen der pflegenden Angehörigen erhalten.
– Die Pflegekräfte sind da ganz anders unterwegs. Lie-
be Mechthild Rawert, ich glaube, du unterhältst dich mit
den Funktionären,
die ganz anders unterwegs sind als die Pflegekräfte vor
Ort,
die letztendlich die Arbeit bewältigen müssen und auch
eine ordentliche Unterstützung in der Pflege brauchen.
Ohne ausreichend und gut qualifiziertes Personal wird
keine Ihrer Reformen greifen, und das ist ein Drama .
Das Personal ist der Dreh- und Angelpunkt, und da haben
Sie absolut versagt .
Vielen Dank .
Als nächste Rednerin hat Maria Michalk von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine lieben Kol-
leginnen und Kollegen! Verehrte Damen und Herren!
Manchmal finde ich es schon ein bisschen komisch, dass
wir Menschen immer nur das laut sagen, was nicht funk-
tioniert, was nicht geht, was wir noch haben müssen, wo
es Probleme gibt.
Warum demotivieren Sie sich denn selber so?
Heute ist der Tag, an dem wir darüber reden, was wir
für die Pflegebedürftigen, ihre Angehörigen und die Pfle-
gekräfte in einem dreistufigen Pflegereformkonzept um-
gesetzt haben. Und das ist ein guter Tag für die Pflege,
meine sehr verehrten Damen und Herren .
Worum geht es hier eigentlich? Jeder Mensch hat
Sorge, dass er pflegebedürftig wird; das ist unabhängig
vom Alter . Das kann durch die Geburt, durch einen Un-
fall in der Kindheit oder in der Jugend, durch eine schwe-
re Krankheit – unabhängig vom Alter – kommen, es kann
aber auch im Alter passieren . Alle wünschen sich, dass
sie nicht pflegebedürftig werden, aber Pflegebedürftig-
keit gab es schon immer . Früher, im Familienverbund,
in den Drei-Generationen-Familien, hat man sich gegen-
seitig geholfen, und diesen Grundgedanken enthält heute
die Pflegeversicherung.
Als wir vor gut 20 Jahren, 1995, die gesetzliche Pfle-
geversicherung etabliert haben – damals noch im Was-
serwerk in Bonn –, wussten wir, dass hier ein enormer
Bedarf auf uns zukommt und dass vieles nicht im ersten
Schritt geregelt werden kann . 20 Jahre lang wurde im
Zusammenhang mit der Pflegeversicherung vieles auf-
gebaut .
Liebe Frau Zimmermann, ich kann Ihnen nur empfeh-
len, mit Leuten, die schon vor 30 Jahren pflegebedürftig
waren und heute vielleicht Gott sei Dank noch leben, da-
rüber zu reden, wie die Pflegeheime zu DDR-Zeiten aus-
sahen . Wenn Sie hier behaupten, da sei nichts geschehen:
Das ist eine Lüge und entspricht nicht der Wirklichkeit .
Entschuldigung, aber das musste einmal gesagt werden .
In diesen Jahren ist infrastrukturell vieles aufge-
baut worden . Ich denke zum Beispiel an die Erhöhung
der Zahl der Pflegefachkräfte in ganz unterschiedlicher
Form . Auch heute gibt es noch private Institute, die mit
Schulgeld Pflegekräfte ausbilden. Das und vieles mehr
hat sich im Laufe der Zeit entwickelt,
und es ist immer besser geworden . Aber wir haben na-
türlich erkannt, dass durch die Veränderungen in der
Gesellschaft an vielen Stellen Korrekturen – wir sagen
dazu: Reformen – notwendig sind . Diese haben wir im
Koalitionsvertrag vereinbart – hier waren wir uns einig –,
und jetzt haben wir sie in drei Schritten konsequent um-
gesetzt .
Elisabeth Scharfenberg
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20517
(C)
(D)
Im Ersten Pflegestärkungsgesetz, das im Januar letz-
ten Jahres in Kraft getreten ist, haben wir sehr viele ein-
zelne Maßnahmen etabliert; sie sind von unserer Staats-
sekretärin heute schon genannt worden . Dafür haben wir
einen Zusatzbeitrag von 0,3 Prozentpunkten ins Gesetz
geschrieben . Ich will hier noch einmal feststellen, dass
mich kein einziger Brief mit einem Protest erreicht hat,
dass der Beitrag in der Pflegeversicherung erhöht wurde.
Die Akzeptanz für diese Aufgabe ist nämlich in der Ge-
sellschaft enorm angestiegen. Das ist ein Prozess, und
darüber können wir uns freuen . Wir sind hier aber noch
nicht am Ende des Tages .
Wir haben dann entschieden, dass von diesen 0,3 Pro-
zentpunkten Beitragssatzerhöhung 0,1 Prozentpunkte in
eine Rücklage fließen und somit dazu beitragen, bis zum
Jahr 2033 einen Vorsorgefonds aufzubauen .
Damit betreiben wir Vorsorge . Auch in diesem Bereich
gilt, in guten Zeiten für schlechte Zeiten vorzusorgen;
das macht man zu Hause genauso . Wir machen das ver-
antwortungsvoll in einem solidarischen System . Das ist
sinnvoll, um mit der steigenden Zahl an Pflegebedürfti-
gen in späteren Jahren – das ist heute schon zu erken-
nen – besser umgehen zu können . Das ist eine vernünfti-
ge Maßnahme gewesen .
Ich möchte Ihnen auch in Erinnerung rufen, dass die
Umstellung im PSG II von drei Pflegestufen auf fünf
Pflegegrade, um den Bedürfnissen der Menschen besser
gerecht zu werden, ein richtiger Schritt war. Wir befinden
uns im Dezember 2016 . Dieses Jahr war das sogenannte
Vorbereitungsjahr . Ich will mich an dieser Stelle wirklich
bei allen Fachleuten und Fachkräften in den einzelnen
Einrichtungen bis runter zu denen, die in der Pflegeversi-
cherung und in den Koordinierungskreisen arbeiten, be-
danken, dass sie die Umstellungsprozesse in diesem Jahr
auf den Weg gebracht haben . Dadurch können wir pünkt-
lich am 1 . Januar 2017 sagen: Niemand wird schlechter-
gestellt . Dafür an alle ein herzliches Dankeschön .
Das ist für die beteiligten Menschen und die Verwaltung
eine enorme Arbeit gewesen .
Im Pflegestärkungsgesetz III geht es um die Klar-
stellung der Schnittstellen zwischen – technisch ge-
sagt – dem SGB XII, also der Hilfe zur Pflege, und dem
eigentlichen Pflegegesetz. Damit wollen wir verhindern,
dass in Zukunft Menschen von Pontius zu Pilatus ge-
schickt werden, dass es zu weiteren Verschiebebahnhö-
fen kommt oder gar weitere Koordinierungskreise mit
entsprechenden Bezeichnungen etabliert werden . Das ist
also für alle sinnvoll .
Mit diesem Gesetz geben wir den Kommunen den
Schlüssel in die Hand, um ihre Angebote vor Ort besser
zu vernetzen, auch wenn es hier und da einen Bürger-
meister gibt – das ist Gott sei Dank nicht flächendeckend
so –, der gar nicht weiß, was in der Pflege in seinem
Zuständigkeitsbereich passiert . Die Kommunen können
so jedenfalls besser koordinieren und beraten und auch
die aufsuchende häusliche Beratung durchführen . Diese
Aufwendungen bekommen sie zwar von der Pflegeversi-
cherung ersetzt; trotzdem bleibt es bei der kommunalen
Selbstverwaltung . Auch das muss man an dieser Stelle
erwähnen. Ich empfinde das als eine richtige Maßnahme,
die dabei helfen wird, das Geschehen vor Ort besser zu
koordinieren, und zwar um die Menschen dabei zu unter-
stützen, möglichst lange in ihrer häuslichen Umgebung
bleiben zu können . Wenn das nicht mehr geht, werden sie
sofort Unterstützung bekommen, um den Platz in einem
Heim zu erhalten, den sie brauchen .
Für unvorhergesehene Situationen haben wir schon
im PSG I eine Freistellung von der Arbeit für maximal
zehn Tage eingeführt, damit man die Pflege für seine Lie-
ben organisieren kann . Auch diese von uns beschlosse-
ne Maßnahme ist wichtig und richtig und muss genutzt
werden . Dass dieses niedrigschwellige Angebot bisher so
schlecht angenommen worden ist – in diesem Sommer
gab es gerade einmal, wenn ich das richtig sehe, bundes-
weit knapp 500 Anträge –, liege, so habe ich erst gedacht,
an einer Fehlinformation .
Aber nein, es ist so: Dieses Instrument ist einfach noch
nicht bekannt genug .
Deshalb sind die koordinierenden Kreise vor Ort wichtig,
um alle niedrigschwelligen Angebote bei den Leuten be-
kannt zu machen .
Ich möchte zum Schluss darauf hinweisen – diesen
Punkt hat auch der Kollege Lauterbach angesprochen –,
dass sich die Entlohnung der schweren Arbeit der Pfle-
gekräfte in den Pflegesätzen widerspiegeln muss. Das
darf natürlich nicht dazu führen, dass der Träger jahre-
lang ein Minus erwirtschaftet; denn dann müsste er ja
Insolvenz anmelden . Wir haben deshalb extra im Än-
derungsantrag festgeklopft, dass die Entlohnung unter
betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten erfolgen muss .
Ich kann von daher nur an alle Verhandler – das sind
die Pflegekassen und die Krankenkassen, aber auch die
kommunale Seite – appellieren, dass sie mit diesem In-
strument vernünftig umgehen; denn sonst wird es eine
Wanderungsbewegung der Pflegekräfte zugunsten der
Ballungsgebiete oder der Länder geben, die mehr zahlen
können, zulasten der ländlich strukturierten Regionen .
Das wollten wir auf keinen Fall .
Frau Kollegin, auch Sie müssen zum Schluss kom-
men .
Maria Michalk
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620518
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(D)
Deshalb ist das ein gutes Gesetz .
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit .
Pia Zimmermann hat als nächste Rednerin das Wort
für die Linke .
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich bin sehr froh, dass es massive Kritik
von den Verbänden und von Betroffenen zu diesem Ge-
setzentwurf gegeben hat .
Denn dadurch ist es nach der ersten Lesung des Gesetz-
entwurfs tatsächlich noch einmal zu einer Entwicklung
gekommen .
Wir begrüßen, dass die Eingliederungshilfe für Men-
schen mit Behinderung und Pflegebedarf nun weiterhin
gewährt werden soll . So kann wenigstens ein Teil der
Betroffenen in gewissem Maße über ihre Versorgung be-
stimmen und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen .
Aber – auch das will ich noch einmal ganz deutlich sa-
gen – es handelt sich eben nur um einen Teil der Men-
schen; es gilt nicht für alle . Weil die Finanzierung der
Pflege bei Ihnen vorne und hinten knarrt und Sie sich
ohne Not vehement gegen die solidarische Bürgerinnen-
und Bürgerversicherung stemmen, wird Ihnen auch keine
menschenwürdige und individuelle Pflege, Assistenz und
Versorgung für alle gelingen .
Ihr Gesamtprojekt mit den drei Pflegestärkungsgeset-
zen geht in die falsche Richtung,
und es bleibt dabei: Gute Pflege ist weiterhin vom Geld-
beutel abhängig . Das ist mit uns nicht zu machen .
Auf der Internetseite des Ministeriums für Gesundheit
kann man lesen – ich zitiere –:
Mit den Pflegestärkungsgesetzen hat ein Umdenken
in der Pflege begonnen. Mehr Leistungen für Pfle-
gebedürftige, mehr Entlastung und Sicherheit für
pflegende Angehörige und mehr Zeit für Pflegekräf-
te – die Neuerungen kommen im Alltag an .
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, können wir ja jetzt
einmal unter die Lupe nehmen .
Punkt eins: mehr Leistungen für Pflegebedürftige. Es
wird mehr Leistungen für Menschen mit Pflegebedarf ge-
ben, aber – ich sagte es schon – eben nicht für alle . Denn
gerade diejenigen, die ohnehin schon am wenigsten ha-
ben, machen Sie zum Gegenstand Ihrer Sparpolitik . Fast
400 000 Menschen sind auf Hilfe zur Pflege angewiesen.
Sie können die finanziellen Belastungen aus der Pflege-
versicherung nicht mit ihrem eigenen Einkommen be-
gleichen . Und wir wissen alle: Dank Ihrer Rentenpolitik
werden es immer mehr werden .
Das Pflegestärkungsgesetz III benachteiligt diese Men-
schen . Sie erhalten nicht dieselben Leistungen wie an-
dere Menschen mit Pflegebedarf, die keine Sozialhilfe
beziehen müssen . Das, meine Damen und Herren, sind
unhaltbare Zustände .
Punkt zwei: mehr Entlastung und Sicherheit für pfle-
gende Angehörige. Menschen, die Hilfe zur Pflege be-
ziehen, sollen zu Hause möglichst von Angehörigen oder
Nahestehenden gepflegt werden. Das Wörtchen „sollen“
im Gesetzentwurf hat man Ihnen abgetrotzt, Herr Minis-
ter. Sie wollten sogar eine Pflicht zur Familienpflege, da-
mit die Kommunen Sozialausgaben sparen können . Jetzt
ist zumindest der alte Gesetzeszustand wiederhergestellt .
Welch seltsame Pflegestärkung!
Meine Damen und Herren, zu Hause pflegen vor al-
lem Frauen aus der Familie, Freundinnen und Nachba-
rinnen. Doch sie können fachlich qualifizierte Pflege
nicht ersetzen . Sie werden zusätzlich gebraucht: neben
der Fachpflege, begleitend, unterstützend und betreuend.
Die Pflege ist aber kein „Kann doch jeder“-Beruf. Sorge-
arbeit darf nicht abgewertet werden . Und Sie nennen das
Entlastung und Sicherheit für pflegende Angehörige! Tut
mir leid, auch da können wir nicht mitgehen .
Punkt drei: mehr Zeit für Pflegekräfte. Das ist die
Gruppe der Beteiligten in der Pflege, für die Sie am we-
nigsten tun. Sie setzen den Pflegebedürftigkeitsbegriff in
Kraft und wollen 2020 beginnen, sich über das Ausmaß
des dafür nötigen Personals Gedanken zu machen. Das
kann doch nicht Ihr Ernst sein .
Ich frage Sie: Haben Sie denn wirklich keinen blassen
Schimmer, unter welch immensem Druck das Pflegeper-
sonal schon jetzt steht?
Pflege im Minutentakt, keine Zeit für Gespräche, keine
verlässlichen Dienstpläne und, und, und .
Meine Damen und Herren, das Pflegestärkungsge-
setz III schließt viele Menschen aus, die bisher anspruchs-
berechtigt waren . Das sind vor allen Dingen Nichtversi-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20519
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cherte, Geflüchtete und alle, die die Mindestpunktzahl in
der Begutachtung nicht erreichen .
Durch das Pflegestärkungsgesetz III bleiben auch
Menschen mit Behinderungen benachteiligt, wenn sie
Pflege brauchen.
Gerade diese Menschen sind allzu oft auf Sozialhilfe an-
gewiesen . Wir wollen, dass alle Menschen mit Behinde-
rung umfassende Eingliederungshilfe erhalten, damit sie
am Leben teilhaben können .
Meine Damen und Herren, Menschen mit Behinderung
müssen ihren Anspruch auf Eingliederungshilfe behal-
ten, auch wenn sie Hilfe zur Pflege bekommen.
Außerdem werden Menschen mit demenzieller Er-
krankung, die auf Hilfe zur Pflege angewiesen sind, ab
Januar 2017 schlechter eingestuft als Menschen mit der-
selben Beeinträchtigung außerhalb der Sozialhilfe .
Diese weitere Ungerechtigkeit müssen Sie den Menschen
erklären . Unsere Zustimmung erhalten Sie dafür nicht .
Auch eine Stärkung der Kommunen sieht anders aus,
meine Damen und Herren . Wenn Kommunen wirklich
entscheiden und gestalten sollen, brauchen sie mehr als
nur Beratungsstellen, die Sie in 16 Modellkommunen
einrichten .
– Ja, 60 Modellkommunen von über 11 000 . – Das ist
doch eher lächerlich . Die Kommunen benötigen Geld
und Entscheidungsgremien für eine altersgerechte Infra-
struktur, für Barrierefreiheit und für alternative Wohnan-
gebote. Und Sie brauchen mehr finanzielle Unterstützung
und nicht immer mehr Aufgaben .
All das berücksichtigen Sie in Ihrem Gesetz nicht .
Am Ende bleibt: Sozialhilfebezieherinnen und Sozialhil-
febezieher werden mit diesem Gesetz diskriminiert . Die
Kommunen können Pflege nicht wirklich gestalten.
Meine Damen und Herren, trotz Ihrer Änderungen,
die zum Teil ja gut sind, können wir diesem Gesetzent-
wurf nicht zustimmen; denn meine Fraktion steht dafür,
dass jeder und jede selbst entscheiden kann, wo er bzw .
sie gepflegt wird, von wem er oder sie gepflegt wird und
in welchem Umfeld er bzw. sie gepflegt wird.
Sie verpassen mit diesem Gesetz erneut die Chance, ei-
nen Paradigmenwechsel durchzuführen, der der Pflege
guttun würde. Gute Pflege für alle wird es aber nur ge-
ben, wenn die Pflegeversicherung auch alle Leistungen
bezahlt, wenn gut ausgebildete Fachkräfte gut verdienen
und gut arbeiten können . Das geht nur, wenn alle ohne
Wenn und Aber in die Pflegeversicherung einzahlen.
Vielen Dank, meine Damen und Herren .
Als nächste Rednerin hat Hilde Mattheis das Wort für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nicht immer ist eine Behauptung besser als ein Beweis .
Damit kommt man einfach nicht durch . Man sollte dieses
Gesetz wirklich lesen .
Wir haben in dieser Legislaturperiode Baustein um
Baustein für bessere Pflege gesetzt.
Wir haben Leistungsverbesserungen gemacht . Wir haben
die Angehörigen entlastet. Wir haben viel für das Pflege-
fachpersonal getan .
Jetzt kommt ein Baustein für die Pflegeinfrastruktur. Es
sollen noch weitere Bausteine folgen . Sie könnten uns
dabei unterstützen, zum Beispiel bei dem Thema genera-
listische Ausbildung .
Übrigens wollen das nur wenige nicht . Die meisten wol-
len das. Diese kommen zu uns und sagen: Hoffentlich
bekommt ihr das noch in dieser Legislaturperiode hin .
Wir wollen natürlich auch einen Mindestpersonal-
schlüssel für die Alteneinrichtungen und für die ambu-
lante Pflege. Aber das fällt nicht vom Himmel. Wenn Sie
Pia Zimmermann
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620520
(C)
(D)
sagen, bis 2020 geschehe nichts, dann entgegne ich Ih-
nen: Wenn wir das bis übernächstes Jahr auf den Weg ge-
bracht hätten, dann hätte es garantiert geheißen, dass wir
uns nicht genug Zeit gelassen hätten, das auf den Weg zu
bringen . Was also die fachlich-sachliche Ausgestaltung
anbelangt, kann ich nur raten, sich auf den Text zu kon-
zentrieren, der hier vorliegt .
Das will ich jetzt gerne tun . Erstens geht es um die
Einbeziehung der kommunalen Ebene und der Landes-
ebene. Als zweiten wichtigen Punkt – ich bin froh, dass
wir heute hintereinander über beide Gesetzentwürfe de-
battieren: erst über den Entwurf eines Bundesteilhabege-
setzes und nun über den PSG-III-Entwurf –, machen wir
jetzt alles im Pflegebereich, um die Schnittstellenproble-
matik mit dem Bundesteilhabegesetz bei der Überleitung
in die Hilfe zur Pflege zu lösen. Diese beiden Bausteine
beschäftigen uns heute .
Die Länder sollen wesentlich stärker in die Pflicht ge-
nommen werden . Deswegen haben wir gesagt: Ja, auch
das geht nicht ohne den Austausch mit den Ländern . – Es
gibt ein Bund-Länder-Eckpunktepapier, an dessen Er-
arbeitung auch die Landesminister der Grünen beteiligt
waren . Ich fand das gut; denn das ist die Grundlage des-
sen, was wir jetzt hier tun .
Die Länder und die Kommunen haben uns gesagt:
Nein, macht es bitte nicht überall, sondern zuerst als Mo-
dellprojekt . Lasst uns erst einmal in 60 Kommunen mo-
dellhaft das erproben, was wir alle wollen, nämlich eine
ordentliche Vor-Ort-Infrastruktur . – Diese können wir in
Berlin nämlich gar nicht vernünftig berechnen oder aus-
gestalten, weil es eben um Angebote vor Ort geht . Und
diese sind in jeder Kommune anders auszugestalten . Das
also soll jetzt in 60 Kommunen erprobt werden, und dazu
sollen Gelder bereitgestellt werden, damit diese niedrig-
schwelligen Angebote wirklich auch organisiert und fi-
nanziert werden können .
Auf Landesebene sollen sich bitte schön die Pflege-
kassen in den Landesausschüssen einbringen und die
Empfehlungen in die Kommunen mitnehmen . So wird
doch ein Schuh daraus . Wir auferlegen eben den Kom-
munen nicht etwas, was sie nicht leisten können, sondern
wir betreiben vielmehr auf der Basis der Empfehlungen
auf Landes- und Kommunalebene mit Geldern aus der
Pflegeversicherung den Aufbau der Pflegeinfrastruktur.
Und dies soll in 60 Modellkommunen geleistet werden .
Natürlich wollen wir, dass die Pflege vor Ort gestärkt
wird . Das ist die Intention . Wir wollen sozialräumliche
Arbeit unterstützen . Das geht nur dann, wenn wir alle
mitnehmen .
Ich möchte noch auf das Thema Pflegebedürftigkeits-
begriff eingehen, auf die Übertragbarkeit in den Punkt
„Hilfe zur Pflege“ im SGB XII. Das ist nicht banal. Da
sind auch die Kommunen unsere Verhandlungspartner .
Sie haben Angst, dass sich die Finanzströme verschie-
ben . Sie haben Angst, dass sie eine zusätzliche Belastung
erfahren werden . Ich kann das nachvollziehen . Aber wir
brauchen eine Lösung für die Menschen . Darum geht es .
Diese Lösung haben wir hinbekommen . Wir haben
gesagt: Wir wollen die Gleichrangigkeit von Pflege,
Teilhabe und Eingliederung weiterhin erhalten . Das ist
ein wesentlicher Punkt. Wir haben ja mit der Reform
des Pflegebedürftigkeitsbegriffs und der Ausweitung der
Leistungsansprüche erreicht, dass auch Teilhabe in den
Bereich der Pflege einwirkt. Dadurch gibt es natürlich
Überlappungen . Deswegen muss man diese Schnittstel-
lenproblematik lösen . Das haben wir gemacht . Es ist, wie
das schon heute Morgen auch beim Bundesteilhabege-
setz herausgestrichen worden ist, eine Leistung des Par-
laments, mit vielen Änderungsanträgen da nachjustiert
zu haben .
Uns geht es um die Menschen, egal ob sie pflegebe-
dürftig oder Menschen mit Handicap sind . Uns geht es
um die, die Pflegeleistungen erbringen, egal ob sie es
im Ehrenamt oder als Beruf machen . Uns geht es da-
rum, dass wir die Teilhabe verbessern und ermöglichen .
Mit dem PSG III und weiteren Gesetzen, die wir auf der
Agenda haben, kommen wir dem Schritt für Schritt ein
Stück näher . Darum geht es . Dafür bitten wir um Unter-
stützung .
Herzlichen Dank .
Als nächste Rednerin spricht Kordula Schulz-Asche
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Jeder
Mensch, der pflegebedürftig wird, hat zu diesem Zeit-
punkt seine eigene, ganz persönliche Lebenssituation:
Hat man einen Partner oder Freunde, die einem helfen
oder einen pflegen können? Wohnen die Kinder in der
Nähe, oder hat man überhaupt Kinder? Hat man eine
Wohnung im dritten Stock ohne Fahrstuhl, oder wohnt
man in einer Erdgeschosswohnung, die gut zugänglich
ist? Ist man noch sehr selbstständig, oder hat man bereits
einen hohen Pflegebedarf oder eine beginnende Demenz?
Und deshalb braucht jeder Mensch, der pflegebedürftig
wird, eine ganz persönliche Beratung und Hilfe, um den
nächsten Lebensabschnitt selbstbestimmt und entspre-
chend den eigenen Wünschen zu gestalten .
Hilde Mattheis
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20521
(C)
(D)
Das, meine Damen und Herren, ist für mich der Maßstab,
an dem sich jede Pflegereform messen lassen muss.
Eines kann ich Ihnen gleich sagen: Das sogenannte
Pflegestärkungsgesetz III wird diesen Ansprüchen bei
weitem nicht gerecht .
Wir fragen doch: Was braucht es für individuelle Bera-
tung und Unterstützung? Mit Sicherheit keinen Pflege-
stützpunkt weit weg vom Wohnort, betrieben von den
Krankenkassen, die selber für die Leistungen zuständig
sind . Diese schwarz-gelbe Schnapsidee ist gescheitert;
denn sie geht an den Interessen der Menschen vorbei .
Nein, wir brauchen endlich eine individuelle Beratung
und Begleitung am Wohnort
für diejenigen, die zu Hause leben können und möchten,
für ihre pflegenden Angehörigen oder bei der Suche nach
passenden Pflegediensten oder geeigneten Wohnformen.
Und wir brauchen eine Planung für diese am Bedarf aus-
gerichteten Angebote vor Ort, Vernetzung, Qualifizie-
rung und Förderung bis hin zur ehrenamtlichen Nachbar-
schaftshilfe .
Wer macht das eigentlich irgendwie schon, manche
schon sehr gut, und andere noch ein bisschen in den Kin-
derschuhen steckend? Meine Damen und Herren, das
sind die Kommunen . Sie sind zuständig für die Altenhilfe
und für die soziale Teilhabe im Stadtteil . Sie könnten viel
mehr tun für die Prävention von Pflegebedürftigkeit. Sie
könnten natürlich wohnortnah unabhängige Pflegestütz-
punkte betreiben. Sie könnten auch die Pflegeplanung
lokal befördern und die vorhandenen Akteure besser ver-
netzen .
Diese Konzepte lediglich mit 60 Kommunen zu probie-
ren – 60 von rund 11 000 –, ist kein Konzept der flächen-
deckenden Versorgung .
Es kann doch nicht sein, dass es ein Zufall ist, ob man
im Alter selbstbestimmt versorgt wird und wie man sich
beraten lassen kann . Das können wir so nicht hinnehmen .
Sie haben in Ihrem Gesetz noch zwei andere Punkte,
die ich extra ansprechen möchte, weil mir nicht klar ist,
warum Sie diese Ungerechtigkeiten für Menschen, die
ohne eigene Schuld unzureichende Leistungen erhalten,
nicht beseitigt haben . Eine Gruppe sind die behinderten
Menschen mit Pflegebedarf, die in einer stationären Ein-
richtung der Behindertenhilfe nach § 43a SGB XI unter-
gebracht sind . Warum bekommen die nicht endlich einen
Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung? Das
würde die Kommunen entlasten und dort Investitionen
in eine bessere wohnortnahe Pflegeplanung erleichtern.
Eine relativ kleine Gruppe, die ich auch ansprechen
möchte, sind die Menschen, die trotz allgemeiner Ver-
sicherungspflicht nicht ausreichend versichert sind und
nur Hilfe zur Pflege erhalten, obwohl sie stationär unter-
gebracht sind: Das sind Suchtkranke, das sind aber auch
ältere jüdische Menschen aus der ehemaligen Sowjet-
union, die unzureichende Vorversicherungszeiten haben .
Ich verstehe nicht, warum man für diese Menschen nicht
Pflegeleistungen vorsehen kann, und ich glaube, die Be-
troffenen sicher auch nicht.
Deswegen, meine Damen und Herren, mein Fazit: Sie
sind groß im Eigenlob, aber in Wirklichkeit fehlt Ihnen
die Fantasie und der Mut, die Herausforderungen des de-
mografischen Wandels durch eine umfassende finanzier-
bare Reform der Pflege anzunehmen, bei der der Mensch
nicht nur in Worten, sondern endlich auch in Taten im
Mittelpunkt steht .
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit .
Als nächster Redner hat Erwin Rüddel für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Mit dem heute zur Verabschiedung anste-
henden Dritten Pflegestärkungsgesetz setzen wir den
Schlussstein einer großen Pflegereform, die größte Re-
form, die es in der Pflegeversicherung in den letzten
21 Jahren gegeben hat .
Wir haben Wort gehalten: Das, was wir im Koalitions-
vertrag geschrieben haben, setzen wir eins zu eins um .
Wir schaffen mehr Qualität, mehr Geld und mehr Betreu-
ung für gute Pflege in unserem Land.
Zum jetzt vorliegenden PSG-III-Entwurf gehören zentral
die Stärkung der örtlichen Pflegeinfrastruktur und der
Ausbau der Pflegeberatung. Wir wollen mehr Qualität
durch gute Beratung ins System bringen. Schon im PSG I
haben wir die niederschwelligen Leistungen ausgewei-
tet. Jetzt, im PSG III, schaffen wir es über die Stärkung
der Kommunen, dass neben niederschwelligen Angebote
auch flächendeckend entsprechende Strukturen aufge-
baut werden können .
Kordula Schulz-Asche
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620522
(C)
(D)
Es geht hier um Vernetzung: Wir verzahnen die am-
bulante und die stationäre, die medizinische und die pfle-
gerische Versorgung miteinander . Kommunen können
künftig selbst Beratungsleistungen anbieten und die Ein-
richtung weiterer Pflegestützpunkte auf den Weg brin-
gen . In 60 Kommunen können modellhaft neue Formen
der Beratung erprobt werden . Wir werden sehen, welche
konkreten Verbesserungen für die Pflegebedürftigen und
deren Angehörige sich daraus ableiten, und wir werden
dann die Verbesserungen flächendeckend auf den Weg
bringen . Unser Ziel ist eine lückenlose, wohnortnahe und
effektive Versorgung, maßgeschneidert für die jeweiligen
individuellen Bedürfnisse .
Das PSG III bedeutet auch mehr Geld für Pflegekräfte.
Schon im PSG I haben wir verankert, dass die Kassen bei
tarifgebundenen Einrichtungen die Tarife nicht als un-
wirtschaftlich einstufen können . Das Gleiche setzen wir
jetzt um für die Einrichtungen, die nicht tarifgebunden
sind . Ich möchte an dieser Stelle ganz herzlich dem Be-
auftragten der Bundesregierung für die Belange der Pati-
entinnen und Patienten sowie Bevollmächtigten für Pfle-
ge, Karl-Josef Laumann, für seine Beharrlichkeit danken .
Ich glaube, diese Verbesserungen hätten wir im Parla-
ment nicht umsetzen können, wenn hier nicht Menschen
gewesen wären, die sich diesem Ziel verschrieben haben .
Ich denke, es ist gut so, dass Pflege jetzt besser bezahlt
wird .
Ein Wort zum Thema Abrechnungsbetrug . Qualitäts-
kontrollen dürfen künftig nicht mehr zum Schaden der
Pflegeversicherung verhindert werden. Die Kassen erhal-
ten das Recht auf systematische Prüfung auch im Bereich
der häuslichen Krankenpflege. Der Medizinische Dienst
wird künftig regelmäßig die Qualität und die Abrech-
nungen von Leistungserbringern kontrollieren; denn die
Beitragsgelder der Versicherten müssen dort ankommen,
wo sie hingehören, und die Pflegebedürftigen und ihre
Familien müssen vor betrügerischen Pflegediensten ge-
schützt werden .
Das PSG III setzt den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff
auch im Recht der Hilfe zur Pflege in der Sozialhilfe um.
Dadurch entstehen neue Schnittstellen zwischen Pflege-
versicherung und Eingliederungshilfe .
Aus meiner Sicht ist entscheidend – wir haben die
damit verbundenen Probleme gelöst – die Beibehaltung
der Gleichrangigkeit der Leistungen von Pflegeversi-
cherung und Eingliederungshilfe . Entscheidend ist, dass
niemand schlechtergestellt wird als zuvor und dass es
keine Verschiebungen zulasten der sozialen Pflegeversi-
cherung gibt. Es hat keinen Sinn, die Pflegeversicherung
mit Mehrausgaben zu belasten, ohne dass sich die Leis-
tungen für Menschen mit Behinderung verbessern . Die
kommunalen Haushalte dürfen sich zudem nicht zulas-
ten der Pflegeversicherung ihrer Aufgaben aus der Ein-
gliederungshilfe entledigen; denn die Beitragsgelder der
Versicherten dienen einzig und allein einer guten Pflege.
Die drei Pflegestärkungsgesetze werden mit einer gan-
zen Reihe flankierender Maßnahmen abgerundet, und
damit wird die Pflegeversicherung einer grundlegenden
Erneuerung zugeführt . Ich denke hier an den Bürokra-
tieabbau. Ich denke hier an die Neugestaltung des Pfle-
ge-TÜVs . Ich denke hier auch an die Regelungen, die wir
zur Verbesserung der Medikamentensicherheit geschaf-
fen haben, an das E-Health-Gesetz mit dem Medikations-
plan, an das Palliativ- und Hospizgesetz.
Im Zentrum der Bemühungen steht für uns immer
mehr Qualität in der Pflege. Das gilt ausdrücklich auch
für das kommende Gesetz zur Stärkung der Heil- und
Hilfsmittelversorgung . Damit werden wir für Ausschrei-
bungen auf der Basis eines aktualisierten Heilmittelver-
zeichnisses sorgen, und wir werden sicherstellen, dass es
künftig nicht nur um eine gute Qualität der Produkte ge-
hen wird, sondern auch um eine fachkundige begleitende
Beratung und um einen anständigen Service . Ordentliche
Qualität ohne Zuzahlung soll künftig Standard sein .
Gestatten Sie mir noch einen Ausblick; denn es gibt
in Sachen Pflege auch über diese Legislaturperiode hi-
naus Handlungsbedarf . Wir müssen uns künftig darauf
konzentrieren, dass die Arbeitsbedingungen in der Pflege
attraktiver werden . Da gibt es ein weites Feld für Erleich-
terungen und verbesserte Rahmenbedingungen . Ich nen-
ne nur einige Stichworte: Digitalisierung in der Pflege,
technische Assistenz, Smart Home, Einbindung in die
Gematik, besserer Datenaustausch zwischen Kranken-
haus, Pflege, Arzt und Apotheke.
Intelligente Dokumentation und Prozesssteuerung
sind geeignet, den Personaleinsatz trotz absehbarem
Fachkräftemangel zu optimieren und damit zu einer
guten Versorgung beizutragen . Das ist ganz besonders
wichtig; denn die Pflegekräfte brauchen mehr Zeit für
Zuwendung . Mit einem Wort: Wir müssen die Rahmen-
bedingungen für den Beruf der Pflegekraft so gestalten,
dass er attraktiv bleibt und die Pflegekräfte ihm bis zur
Rente treu bleiben .
Zum Abschluss danke ich allen, die an diesem Gesetz-
gebungsverfahren beteiligt waren . Mein ganz besonderer
Dank für diesen Quantensprung, den wir geschafft haben,
geht an unsere Staatssekretärin Ingrid Fischbach . Bei
dieser Gelegenheit möchte ich aber auch Frau Kraushaar
ganz besonders erwähnen und ihr meinen Dank für diese
großartige Leistung aussprechen,
dieses Gesetz mit auf den Weg gebracht zu haben .
Vielen Dank .
Vielen Dank, Herr Kollege Rüddel . – Schönen guten
Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir kommen zur
Erwin Rüddel
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20523
(C)
(D)
nächsten Rednerin: Mechthild Rawert für die SPD-Frak-
tion .
Brauchen Sie einen Stuhl?
Nein, mir geht es gut. Danke. – Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Pflegestärkungs-
gesetz ist für uns – das ist heute schon mehrmals zu
Recht gesagt worden – der Abschluss einer wirklich
sehr erfolgreichen Pflegereform in dieser Legislaturpe-
riode . Wir widmen uns damit der Zukunft von uns allen .
Daran sollten wir häufiger denken. Denn bereits heute
wird jeder zweite Mann im Laufe seines Lebens pflege-
bedürftig, und bei den Frauen sind es sogar annähernd
drei von vier – jeweils mit steigender Tendenz . Wir alle
kennen die großen Trends der Zukunft . Deswegen ist es
notwendig, mögliche Versorgungslücken für die Zukunft
zu schließen. Dazu leisten wir mit den Pflegestärkungs-
gesetzen Wesentliches .
Die Gewährleistung einer qualitativ hochwertigen
Pflegeinfrastruktur hat aus meiner Sicht die gleiche ge-
sellschaftspolitische Bedeutung wie die ausreichende
bundesweite Versorgung mit Kitaplätzen oder die Ge-
währleistung von Bildungsgerechtigkeit unter anderem
durch Schule – unabhängig von Herkunft, Wohnort, Ge-
schlecht, Behinderung oder finanziellem Vermögen.
Der Zugang zu individuell bedarfsgerechter Pflege ist
Teil sozialer Gerechtigkeit . Deshalb engagieren wir uns
auch so stark in diesem Politik- und Lebensfeld.
Das PSG III ist ein gutes, wichtiges und politisch
komplexes Gesetz . Im Mittelpunkt stehen die zahlrei-
chen Interessen und Bedürfnisse der pflegebedürftigen
Menschen mit und ohne Behinderungen in ihrer ganzen
Vielfalt . Gemeinsam ist allen der Wunsch nach Selbstbe-
stimmung und Teilhabe. Das PSG III ist ein gutes Gesetz,
weil wir damit den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff ab
dem 1 . Januar 2017 für alle umsetzen – auch in der Hilfe
zur Pflege in der Sozialhilfe.
– Danke .
Es ist ein wichtiges, gutes und auch wegweisendes Ge-
setz, weil wir damit die Pflege weiterentwickeln und die
Rolle der Kommunen in der Pflege stärken. Wir beziehen
hierbei die besonderen Kompetenzen der Kommunen
in der Pflege mit ein: in die Planung der Infrastruktur,
bei der Entwicklung der Sozialräume vor Ort und in die
Planung sowie Steuerung der Pflegeberatungsstrukturen.
Pflege gehört zur kommunalen Daseinsvorsorge. Und
mit dem PSG III tragen wir zu diesem Verständnis und
zu dieser Verantwortungsübernahme – ich gebe durchaus
zu: auch das ist noch ein Lernprozess für manche Kom-
mune – wesentlich bei .
Das PSG III ist ein politisch komplexes Gesetz. Er-
gänzend zum Bundesteilhabegesetz haben wir die
Schnittstellen zwischen Pflegeversicherung und Einglie-
derungshilfe, zwischen Pflegeversicherung und Hilfe
zur Pflege im SGB XII geregelt. Berücksichtigt wurden
die Interessen der Menschen und die keineswegs immer
übereinstimmenden Interessen der Kostenträger: der Pfle-
gekassen, der Sozialhilfe- und Eingliederungshilfeträger .
Und auch alle Bundesländer mussten mit ins Boot; denn
dieses Bundesgesetz ist aufgrund seiner Finanzauswir-
kungen auf die Länder und Kommunen zustimmungsbe-
dürftig . Ohne die Zustimmung des Bundesrates würde es
am 1 . Januar 2017 nicht in Kraft treten .
Daher lassen Sie mich eines herausstellen: Unabhän-
gig davon, wie die einzelnen Fraktionen aus Regierung
und Opposition gleich über dieses Pflegestärkungsge-
setz III abstimmen werden: Alle tragenden Parteien –
CDU, CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und auch die
Linken – haben an unterschiedlichen Stellen Ja gesagt .
Somit kann ich sagen: Wir alle tragen die Neuerungen
des PSG III mit. Das finde ich natürlich super – im In-
teresse von Selbstbestimmung und Teilhabe vieler Men-
schen .
Beim PSG III gilt das altbekannte Struck’sche Gesetz:
Kein Gesetz kommt aus dem Parlament so heraus, wie es
eingebracht worden ist .
Wir hatten auch viele gute Grundlagen . Es hat die
Bund-Länder-Kommission gegeben . Vor allen Dingen
hatten wir viel Unterstützung und viele Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter . Daher an dieser Stelle mein Dank an die
beiden Ministerien, an die politischen Verantwortungs-
träger, an alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sowie
selbstverständlich auch an unsere eigenen Teams; denn
die waren wirklich alle sehr kompetent und einsatzbereit .
Das PSG III hat viele positive Punkte. Über die Kom-
munen ist schon viel gesagt worden . Ich denke, es ist nun
wirklich möglich, dass Bürgerinnen und Bürger mehr
über ihre Rechte und Leistungsansprüche erfahren . Ei-
nes ist klar: Es nützt das beste Gesetz nichts, wenn die
Bürgerin oder der Bürger nichts von den dynamischen
Leistungsrechten weiß . Daher: Bitte wenden Sie alle sich
an ihre Pflegestützpunkte.
Mit dem PSG III implementieren wir viele Quali-
tätsverbesserungen . Es gibt neue Qualitätsinstrumente .
Damit verbessern wir kurz- und mittelfristig die Versor-
gungssituation . Vieles wird wissenschaftlich untersucht
und evaluiert .
Wir stopfen auch Schlupflöcher. Pflegedienstleister
können sich einer Prüfung hinsichtlich einer verlässli-
chen Versorgung der Pflegebedürftigen nicht mehr ent-
ziehen, und das ist auch gut so . Transparenz ist gut; so
manches Mal ist aber Kontrolle noch besser . Nach der
Vizepräsidentin Claudia Roth
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620524
(C)
(D)
Aufdeckung von Betrugsfällen bei Pflegediensten kann
zukünftig außerdem die häusliche Krankenpflege stärker
kontrolliert werden .
Eines finde ich auch noch besonders toll – Herr
Rüddel, Sie hatten es angesprochen –: Bis dato war es
so, dass in tarifgebundenen Unternehmen die Beschäf-
tigten mehr Geld erhalten konnten . Darauf waren wir zu
Recht stolz . Leider ist der allergrößte Teil der privatwirt-
schaftlich geführten Pflegeunternehmen davon bis jetzt
ausgeschlossen gewesen . Das hat zu vielen Streiks in den
Unternehmen geführt . Jetzt kann man den Beschäftigten
sagen: Informieren Sie Ihren Arbeitgeber! Machen Sie
im Zweifelsfall auch Druck!
Frau Kollegin .
Bis zur Höhe von Tariflöhnen darf niemand Ihnen sa-
gen: Ihr Entgelt darf nicht steigen . – Auch hier sorgen wir
endlich dafür, dass gute Arbeit auch gut entlohnt wird .
Wir alle sagen: Arbeit in der Pflege darf nicht zur Billig-
arbeit verkommen .
Ich darf Sie daran erinnern, dass Sie die Redezeit bei
weitem überschritten haben .
Ja. – Pflege ist auch kein Feld für vielfach unfreiwilli-
ge Teilzeitarbeit .
Mit anderen Worten: Wir haben Großes geleistet . Wir
werden weiterhin Großes leisten . Wenn wir jetzt noch
die Pflegeberufereform unter Dach und Fach bekommen,
dann gebe ich sogar noch einen aus .
Danke .
Daran werden wir Sie erinnern . Und jetzt erst mal gute
Besserung!
Jetzt ist Zeit für Applaus . Normalerweise wird an die-
ser Stelle geklatscht .
Alle waren anscheinend so beeindruckt, weil Sie einen
ausgeben wollen . So einfach ist das .
Der nächste Redner: Erich Irlstorfer für die CDU/
CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich wollte meine Rede eigentlich ganz anders beginnen,
aber, verehrte Kollegin Schulz-Asche, Sie fordern mich
förmlich heraus, erst auf Ihre Rede einzugehen . Sie ha-
ben gesagt: Kreativität und Mut haben bei den Pflegestär-
kungsgesetzen gefehlt . – Ich kann Ihnen nur sagen, dass
dieser positive Einschnitt in die Pflege, den wir in dieser
Legislatur geschafft haben, immer von dem Gedanken
geprägt war: Wie entwickelt sich Deutschland? Wie ist
die demografische Situation? Hier waren sehr wohl viel
Kreativität, Mut und ein hohes Maß an Fachlichkeit in
Kombination mit Menschlichkeit immer mit dabei . Ich
möchte uns hier nicht loben, aber ich denke, dass wir da-
bei erfolgreich waren .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Pflege-
stärkungsgesetze in dieser Legislatur bringen spürba-
re Verbesserungen für die Menschen in unserem Land .
Wenn wir in die Pflegeeinrichtungen gehen und mit den
Pflegekräften und vor allem mit den zu pflegenden Per-
sonen und ihren Angehörigen sprechen, dann erhalten
wir ausgesprochen viel Zustimmung . Selbst diejenigen,
die von den hohen Beiträgen zur Pflegeversicherung
betroffen sind, also Beitragszahlerinnen und Beitrags-
zahler, egal ob Arbeitgeber oder Arbeitnehmer, haben
sich mit Kritik zurückgehalten, weil sie wissen, dass das
Geld richtig angelegt ist und dass das Geld auch dort an-
kommt, wo wir es dringend benötigen . Denn – das muss
man an dieser Stelle auch einmal sagen – diese Bundes-
regierung hat sich entschieden, dass sie nicht nur in Stra-
ßen, Schienen und Gebäude investiert, sondern dass sie
in Menschen investiert. Das ist die Melodie unserer Poli-
tik, meine sehr geehrten Damen und Herren .
Aufgrund dieser im Allgemeinen doch positiven Situ-
ation, auch in der Szene, kann ich über eine Ablehnung
des Gesetzentwurfes wirklich nur den Kopf schütteln .
Meine Damen und Herren, mir ist schon bewusst, dass
die Opposition in einem politischen System eine beson-
dere Rolle als Kontrollorgan hat, welches auch einmal
lautstark Kritik übt und vielleicht einmal über das Ziel
hinausschießen darf . Aber ein gewisser Bezug zur Rea-
lität, meine sehr geehrten Damen und Herren – das geht
vor allem auch an die Linke –, wäre auf jeden Fall auch
einmal angebracht .
Dass durch dieses Gesetz sogar Verschlechterungen
für Menschen mit Pflegebedarf oder gar mit Behinderung
zu konstatieren wären, war von Ihnen teilweise zu hören .
Ich kann nur sagen: Das ist einfach falsch . Durch dieses
Gesetz, meine sehr geehrten Damen und Herren, werden
Mechthild Rawert
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20525
(C)
(D)
viele Menschen bessergestellt und niemand soll und wird
schlechtergestellt werden .
Da wir mit dem Pflegestärkungsgesetz viel am offenen
System operiert haben, war es nicht einfach, das sicher-
zustellen . Es ist aber mit Übergangsregeln und Regeln
zum Bestandsschutz gelungen . Anders als Sie sagen,
droht auch nicht, dass die Träger der Pflegeversicherung
und der Eingliederungshilfe auf dem Rücken der Betrof-
fenen darüber in Konflikt geraten, wer für die Leistungen
zuständig ist . Ich bitte Sie wirklich: Verunsichern Sie
nicht laufend die Leute in unserem Land mit Ihren Aus-
sagen! Diese Debatte, die wir hier teilweise führen, ist
wirklich schändlich .
Ich möchte auch sagen: Das Thema Bürgerversiche-
rung wird immer wieder in die Debatte eingestreut, egal
von welcher Seite . Dabei wird mit sympathischen For-
mulierungen wie „Bürgerversicherung“ und „Solidarität“
jongliert .
Aber wissen Sie, was mir fehlt? Sie sind nicht in der
Lage, den Vorteil zu benennen, die systematische Ver-
besserung .
Wo ist denn der Vorteil, meine sehr geehrten Damen und
Herren? Dazu haben wir bisher wenig gehört .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, da Pflegeleis-
tungen und Leistungen der Eingliederungshilfe zusam-
menfallen, sind jetzt die Beteiligten verpflichtet – diese
Verpflichtungsregelung ist neu –, sich mit Zustimmung
des Betroffenen über Modalitäten der Übernahme und
Durchführung der Leistungen sowie der Erstattung zu
einigen . Dies ist ein großer Fortschritt im Interesse der
Pflegebedürftigen; denn sie müssen sich nicht mit der Bü-
rokratie auseinandersetzen – diese Abstimmung läuft im
Hintergrund ab . Auch das gehört zur Wahrheit . Jetzt ist
es folgendermaßen geregelt: Die eine Stelle übernimmt
die Leistung, die andere den Teil der Kosten, der von ihr
zu tragen ist . Für diesen Bereich der Schnittstellenprob-
lematik haben wir also in diesem Gesetz eine klare und
gute Regelung gefunden .
Das gilt auch für andere große Fragen: Vorrang,
Gleichrang – es wurde erwähnt . In meiner Rede zum
PSG III im September hatte ich erwähnt, dass von Be-
troffenen und ihren Verbänden die Befürchtung geäußert
wurde, im Verbund mit dem Bundesteilhabegesetz könne
es an den Schnittstellen zu Nachteilen für pflegebedürfti-
ge Behinderte kommen . Meine sehr geehrten Damen und
Herren, ich glaube, es ist uns allen gelungen, dass wir
diese geäußerten Bedenken ausräumen konnten, weil wir
die Menschen ernst genommen haben . Es ist, glaube ich,
eine Stärke unseres Parlaments, dass wir hier kritikfähig
waren und die entsprechenden Punkte eingebracht haben.
Deshalb ist es ein gutes Gesetz, und deshalb werden wir
heute auch zustimmen .
Herzlichen Dank .
Vielen Dank, Erich Irlstorfer . – Nächste Rednerin für
die SPD-Fraktion: Heike Baehrens.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das PSG III hat im
Rahmen der parlamentarischen Beratungen den richtigen
Schliff bekommen. In Anknüpfung an die Debatte heute
Morgen möchte ich sagen: Es zeugt von guter demokrati-
scher Kultur, wenn ein ordentlicher Gesetzentwurf nach
intensiven Debatten, Gesprächen mit Betroffenen und
Experten weiter verbessert wird .
Denn auf diesem Weg konnte erreicht werden, was wir
heute beschließen: dass die Leistungen der Eingliede-
rungshilfe für Menschen mit Behinderung im Verhältnis
zur Pflegeversicherung auch zukünftig nicht nachrangig
sind . Erst diese notwendige Klarstellung hat es möglich
gemacht, dass wir heute Morgen die größte sozialpoli-
tische Reform dieser Legislaturperiode tatsächlich be-
schließen konnten: das Bundesteilhabegesetz .
Menschen mit Behinderungen haben sowohl einen
Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung als
auch auf Leistungen zur gleichberechtigten Teilhabe am
Leben in der Gesellschaft . Darüber, wer dies zu bezah-
len hat, müssen sich die Kostenträger verständigen . Dazu
werden die Pflegekassen nun am neugeschaffenen Teil-
habe- und Gesamtplanverfahren der Eingliederungshilfe
beratend beteiligt . Der bisher bestehende Gleichrang der
Leistungen der Pflege und der Eingliederungshilfe bleibt
also bestehen . Gleichzeitig – das ist ganz wichtig – wer-
den die Mitwirkungsrechte von Menschen mit Behin-
derungen hinsichtlich dieser Verfahrensschritte deutlich
gestärkt . Das ist eine wichtige Errungenschaft, die vor al-
lem der Beharrlichkeit unserer Fraktion zu verdanken ist .
Leider sind die Regelungen zur Abgrenzung der am-
bulant betreuten Wohngemeinschaften gegenüber statio-
nären Wohnangeboten im PSG III recht kompliziert gere-
gelt worden . Dennoch bin ich zuversichtlich, dass damit
sichergestellt wird, dass auch zukünftig alle Menschen
mit Behinderung, die ambulant betreut wohnen möchten,
auch weiterhin die vollen Leistungen der Pflegeversiche-
rung erhalten, selbst dann, wenn sie einen hohen Pfle-
Erich Irlstorfer
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620526
(C)
(D)
ge- und Betreuungsbedarf haben . Denn „ambulant vor
stationär“ steht allen Menschen zu .
Von der Opposition war heute Morgen und auch jetzt
zu hören, dass es mit diesem Gesetz nicht gelungen sei,
die Kommunen nachhaltig in ihrer Beratungskompetenz
zu stärken; dafür hätte mehr Geld eingesetzt werden müs-
sen, so die Opposition . – Wie kommen Sie eigentlich da-
rauf, dass die Pflegeversicherung die Kommunen in die
Lage versetzen muss, Pflegeberatung leisten zu können?
Schon längst vor Einführung der Pflegeversicherung
hatten Kommunen und Landkreise die Aufgabe, für das
Vor- und Umfeld der Pflege zu sorgen. Ja, sie haben noch
immer im Rahmen der öffentlichen Daseinsvorsorge den
verbindlichen Auftrag, sich um die alten Menschen vor
Ort zu kümmern und sie in allen Lebenslagen bei Fragen
rund um die Versorgung zu beraten und zu unterstützen;
der Auftrag ist in § 71 SGB XII im Rahmen der Altenhil-
fe verankert . Diese Verantwortung haben sie .
Eine solche Beratung muss oft lange vor einem fest-
gestellten Pflegebedarf ansetzen – nur dann ist sie wir-
kungsvoll –, und sie muss selbstverständlich als gesamt-
gesellschaftliche Aufgabe aus Steuermitteln finanziert
werden .
Es gibt durchaus Gemeinden und Landkreise, die
diese Aufgaben vorbildlich wahrnehmen – das weiß ich
auch aus meinem eigenen Wahlkreis –, weil sie nahe dran
sind an dem, was ihre Bürgerinnen und Bürger brauchen,
wenn sie älter werden oder krank sind . Aber es gibt auch
viele Kommunen und Landkreise, die sich seit der Ein-
führung der Pflegeversicherung vor mehr als 20 Jahren
vornehm zurückgelehnt haben, um abzuwarten, was nun
alles von den Pflegekassen und von Pflegedienstleistern
übernommen wird,
und dies, obwohl gerade die Kommunen und Landkreise
mit der Einführung der Pflegeversicherung in erhebli-
chem Umfang bei den Sozialhilfekosten, also der Hilfe
zur Pflege, entlastet wurden.
Darum sage ich: Die Kommunen und Landkreise sind
im Rahmen der öffentlichen Daseinsvorsorge dazu ver-
pflichtet, dass sie nicht nur mithilfe dessen, was wir heute
im PSG III regeln, sondern auch aus eigenem Antrieb,
aus eigener Verantwortung heraus wieder mehr tun im
Bereich der Altenhilfe und dies auch finanzieren. Das
sind sie ihren Bürgerinnen und Bürgern schuldig . Auch
dafür werden wir die Kommunen zukünftig um 5 Milli-
arden Euro jährlich entlasten .
Ich komme zum Schluss . Bund, Länder und Gemein-
den haben gemeinsam für ein würdevolles Altern und für
gute Rahmenbedingungen in der Pflege zu sorgen. Mit
dem heutigen dritten Baustein der umfassenden Pflegere-
form leisten wir, aber eben auch alle Beitragszahlerinnen
und Beitragszahler der Pflegeversicherung, dazu einen
wichtigen Beitrag .
Vielen Dank .
Vielen Dank, Heike Baehrens . – Und der letzte Redner
in dieser Debatte: Tino Sorge für die CDU/CSU-Frakti-
on .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tri-
bünen! Wir haben den ganzen Vormittag über Gesetze
debattiert, die mit Fürsorge zu tun haben . Mir ist heute
Morgen leider aufgefallen – das ist von einigen Kollegen
schon angesprochen worden –, dass wir nie gesagt ha-
ben, was wir gut gemacht haben bzw . die Opposition hat
immer nur gesagt: Na ja, ganz schlecht war es nicht, aber
wir greifen uns nur die schlechten Sachen heraus . – Das
fand ich, ehrlich gesagt, ein bisschen schade .
Wir hatten gestern die Anhörung zum Heil- und
Hilfsmittelversorgungsgesetz, wir haben heute das Bun-
desteilhabegesetz verabschiedet, und wir werden jetzt
gleich das Pflegestärkungsgesetz III verabschieden. In-
sofern können wir sagen, dass wir gerade im Gesund-
heitsbereich in dieser Legislatur viele Verbesserungen
auf den Weg gebracht haben . Und es geht nicht darum,
dass wir uns auf die Schulter klopfen – wie hier einige
immer meinen – und sagen, wie toll wir sind, sondern es
geht einfach darum, zu sagen: Es gibt Verbesserungen;
und diese Verbesserungen wollen wir benennen .
Gerade kam ein Zwischenruf von unserem Haushäl-
ter, und Haushälter schauen sich die Zahlen immer sehr
genau an . In Bezug auf den Bereich Gesundheit kann
man sagen – das muss man sich einmal vorstellen –: Wir
haben in dieser Legislatur 16 Gesetze und damit Verbes-
serungen in diesem Bereich auf den Weg gebracht . Das
kann man doch nicht einfach so vom Tisch wischen . Man
darf nicht immer nur sagen: Das ist schlecht, wir reden
nicht darüber .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, werden wir doch
einmal konkret . Es ist schon angesprochen worden: Wir
reden über Teilhabe, und wir reden über Verbesserungen
für die Menschen gerade im Bereich der Pflege. Wenn
wir zu den Menschen auf den Tribünen schauen, dann
sehen wir ein Abbild unserer Gesellschaft . Wir sind eine
Gesellschaft, die immer älter wird, die gesünder älter
wird, aber dann im höheren Alter auch multimorbider .
Heike Baehrens
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20527
(C)
(D)
Gleichzeitig gibt es die jüngere Generation – auch die
sehr junge Generation sehe ich da oben –, und gerade für
den Bereich der Pflege ist es immer wichtig, darauf hin-
zuweisen: Es betrifft nicht nur die Alten, es betrifft nicht
nur betagte Menschen, sondern das Thema kann jeden
betreffen, junge Menschen genauso wie alte Menschen.
Deshalb ist Pflege ein gesamtgesellschaftlicher Auftrag,
und das müssen wir klarer benennen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu der Frage, was
wir mit diesem Gesetz verbessern, ist schon viel gesagt
worden. Als Schlussredner hat man das Privileg, auf ein-
zelne Dinge eingehen zu können, die besonders wichtig
sind . Ich will die Verbesserungen an einem Beispiel fest-
machen:
Eine 80-jährige Frau, verwitwet, zwei Kinder . Die
Kinder sind, wie das heute üblich ist, nicht vor Ort, kön-
nen sich nicht um die Mutter kümmern . Sie sind relativ
selten bei der Mutter, einmal im Quartal . – Es ist ganz
wichtig, dass wir dieser Frau und all diesen Menschen
konkrete Angebote unterbreiten . Künftig können sie –
das ist eine Verbesserung, die aus diesem Gesetz folgt –
in ihrer Gemeinde, also vor Ort, bei vertrauten Personen,
ohne langen Anfahrtsweg und ohne Stress Beratung
erhalten, sich informieren . Wir verbessern die regional
verankerte Beratung über individuelle Ansprüche und
Hilfemöglichkeiten .
Das ist eine ganz konkrete Ausformung des Schwer-
punkts, den wir hier immer ansprechen . Wir reden von
einer besseren Versorgung im ländlichen Raum, von ei-
ner strukturellen Stärkung des ländlichen Raums . Genau
darum geht es an dieser Stelle: Wir stärken die Rolle der
Kommunen bei der Pflege; wir stärken die Kommunen in
ihren begrenzten Gestaltungsmöglichkeiten . Wir geben
den Kommunen nicht nur die Möglichkeit, flexibler zu
agieren, sondern wir nehmen auch eine Menge Geld in
die Hand .
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, dieses Pro-
blem betrifft nicht nur einzelne Regionen. Ich komme aus
dem wunderschönen Bundesland Sachsen-Anhalt . Mein
Wahlkreis beinhaltet neben der Landeshauptstadt auch
viel ländlichen Raum . Daher weiß ich, wie wichtig es ist,
dass die Länder und die Kommunen gerade im ländli-
chen Raum noch viel mehr niedrigschwellige Angebo-
te unterbreiten können; das ist hier schon angesprochen
worden . Dabei geht es manchmal um relativ triviale Din-
ge wie die Einrichtung mit Mobiliar, aber auch um die
Ausstattung mit Personal.
Wir wissen ja alle, dass wir mehr Personal brauchen.
Jetzt kann man zwar sagen: „Wir brauchen mehr, mehr,
mehr . . .“, man kann aber auch einmal sagen: „Da hat es
Verbesserungen gegeben“; und diese Verbesserungen
sind, objektiv betrachtet, Fakt . Das sollten Sie von der
Opposition auch mal so benennen .
Vor dem Hintergrund der demografischen Entwick-
lung bei gleichzeitig knapper werdenden Mitteln sor-
gen wir mit diesem Gesetz dafür, dass die Mittel bes-
ser ausgeschöpft werden können . Die Finanzmittel der
Kommunen sind immer knapp . Es gibt Länder, die ihre
Mittel nicht ausschöpfen, und Länder, die einen höheren
Mittelbedarf haben . Wir sagen jetzt ganz konkret: Wenn
die Mittel nicht ausgeschöpft werden können, besteht die
Möglichkeit, sie zu verschieben . Das heißt, die Mittel
verfallen nicht. Dadurch können sie effizienter eingesetzt
werden . Das ist ein tatsächlicher Mehrwert . Dabei geht
es, wenn man so will, auch um die Solidarität zwischen
den Ländern .
Vielleicht noch ein Wort zum Abrechnungsmiss-
brauch, weil wir auch über diese Thematik gesprochen
haben. Wir haben mit dem PSG III bessere Möglichkeiten
zur Ahndung von Abrechnungsmissbrauch – hier gab es
ja Auswüchse – geschaffen. Es kann jetzt besser geprüft
werden . Ich möchte hier aber ganz klar sagen, dass wir
nicht eine ganze Branche pauschal unter Verdacht stellen
dürfen . Die schwarzen Schafe, die es in diesem Bereich
gibt, können wir – das zumindest ist der Anspruch dieses
Gesetzes – zukünftig besser herausfiltern. Wir müssen
aber sagen, dass das Gros der Branche eine ordentliche
Arbeit erbringt, sich aufopfert und gute Qualität anbietet .
Diesen Punkt möchte ich heute ganz besonders betonen.
Da wir uns in der Adventszeit befinden, möchte ich
meine Rede etwas besinnlich schließen .
So viel Zeit hat er nicht .
Die Präsidentin sagt, ich habe nicht mehr genug Zeit
für ein Gedicht . Sonst hätte ich gerne eins vorgetragen,
Herr Kollege Wunderlich .
Ich möchte nicht nur dem Ministerium, insbeson-
dere Karl-Josef Laumann, Ingrid Fischbach und Frau
Kraushaar – sie ist ja auch erwähnt worden –, danken,
sondern ich möchte auch denjenigen danken, die ihre Ar-
beit im Hintergrund erledigt haben, also all denjenigen,
denen heute noch nicht gedankt worden ist .
Ich wünsche Ihnen und uns allen eine schöne Ad-
ventszeit und eine schöne Weihnachtszeit. Ich hoffe, dass
wir alle, Frau Kollegin Rawert, gesund ins neue Jahr
kommen .
Tino Sorge
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620528
(C)
(D)
Herzlichen Dank .
Vielen Dank, Herr Kollege Sorge . Vor der Weih-
nachtszeit haben wir aber noch eine Sitzungswoche . Da-
rauf will ich hinweisen .
Wir sind in der Adventszeit; ja, da gebe ich Ihnen recht .
Ich schließe die Aussprache .
Tagesordnungspunkt 4 a . Wir kommen zur Abstim-
mung über den von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der pflegerischen
Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften .
Mir liegt eine schriftliche Erklärung von Ulla Schmidt
nach § 31 der Geschäftsordnung vor .1)
Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 18/10510, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf den Drucksachen 18/9518 und 18/9959 in der Aus-
schussfassung anzunehmen . Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, jetzt um ihr Handzeichen . – Wer stimmt dage-
gen? – Enthält sich jemand? – Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung angenommen . Zugestimmt
haben CDU/CSU und SPD. Dagegen waren Bündnis 90/
Die Grünen und die Linke .
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist angenommen bei Zustimmung von CDU/
CSU und SPD und bei Ablehnung von Bündnis 90/Die
Grünen und der Linken .
Abstimmung über den Entschließungsantrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/10530 .
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschlie-
ßungsantrag ist abgelehnt . Zugestimmt hat Bündnis 90/
Die Grünen. Dagegen waren CDU/CSU und SPD. Ent-
halten hat sich die Linke .
Tagesordnungspunkt 4 b . Wir setzen die Abstimmun-
gen zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für
Gesundheit auf Drucksache 18/10510 jetzt fort .
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/8725 mit dem
Titel „Pflege teilhabeorientiert und wohnortnah gestal-
ten“ . Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen . Zugestimmt haben CDU/CSU,
1) Anlage 3
SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Dagegen war die Lin-
ke . Enthalten hat sich niemand . Damit ist die Beschluss-
empfehlung angenommen .
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
18/9668 mit dem Titel „Pflege vor Ort gestalten – Bes-
sere Bedingungen für eine nutzerorientierte Versorgung
schaffen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen . Zugestimmt haben
CDU/CSU und SPD. Dagegen war Bündnis 90/Die Grü-
nen . Enthalten hat sich die Linke .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W . Birkwald, Sabine Zimmermann ,
Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Zeit für einen Kurswechsel – Rentenniveau
deutlich anheben
Drucksache 18/10471
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Matthias W . Birkwald, Sabine Zimmermann
, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Rentenniveau anheben – Für eine gute, le-
bensstandardsichernde Rente
Drucksachen 18/6878, 18/10517
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind
für die Aussprache 60 Minuten vorgesehen . – Ich höre
keinen Widerspruch . Ich sehe auch keinen Widerstand .
Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort Matthias
W . Birkwald für die Linke .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Ich sehe Finanzstaatssekretär Spahn auf der Re-
gierungsbank sitzen . Deswegen will ich zunächst einmal
die Gelegenheit nutzen, noch einmal darauf hinzuweisen,
dass wir eines in diesem Land auf gar keinen Fall ma-
chen dürfen: Kinderarmut und Altersarmut gegeneinan-
der ausspielen . Wir müssen beides bekämpfen .
Deswegen will ich kurz sagen: Nach den Kriterien
der Europäischen Union haben wir derzeit 2,5 Millionen
arme Kinder in diesem Land und über 2,85 Millionen
arme Menschen, die ihren 65 . Geburtstag bereits hinter
Tino Sorge
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20529
(C)
(D)
sich gebracht haben . Liebe Koalition, hören Sie bitte da-
mit auf, zu behaupten, es gebe keine Altersarmut, es gebe
nur viel Kinderarmut . Es gibt beides, und wir müssen ge-
gen beides etwas tun .
Meine Damen und Herren, 1957 hat Konrad Adenauer
unser heutiges System der gesetzlichen Rente eingeführt .
Sein Ziel war es, dass Menschen nach ihrem Arbeitsle-
ben in den wohlverdienten Ruhestand gehen können,
ohne auf allzu viel im Alter verzichten zu müssen . Das
nennt man Lebensstandardsicherung . Alle Experten sind
sich einig: Dafür brauchen wir ein Rentenniveau von
53 Prozent.
– Alle Experten und Expertinnen! – Bis zur Jahrtausend-
wende hielten sich Union und SPD auch an dieses Ver-
sprechen. Dann kamen Gerhard Schröder, SPD, Joschka
Fischer, Grüne, Walter Riester, SPD, und die Union und
die FDP haben zugestimmt, das Rentenniveau zu senken.
Jetzt sage ich Ihnen einmal, was die Absenkung des
Rentenniveaus bewirkt hat . Im Jahr 2000 bekamen lang-
jährig Versicherte, also Menschen, die immerhin 35 Jah-
re lang Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung
eingezahlt hatten, wenn sie in die Rente gingen, noch
1 021 Euro auf ihr Konto überwiesen . Im Jahr 2015 wa-
ren das nur noch 848 Euro. Wenn Sie sämtliche Preisstei-
gerungen einrechnen, stellen Sie fest, eine solche Rente
hätte im Jahr 2015 eigentlich 1 340 Euro betragen müs-
sen. Das bedeutet: Die Rentenreformen von SPD, Grü-
nen, CDU/CSU und FDP kosten langjährig Versicherte
jeden Monat 492 Euro. Ich finde, das ist skandalös.
Das ist das verheerende Ergebnis einer falschen Ar-
beits- und Arbeitsmarktpolitik und einer falschen Ren-
tenpolitik. Diese falsche Politik muss dringend gestoppt
werden, meine Damen und Herren .
Einer der wichtigsten Gründe von vielen für diese
Entwicklung ist das sinkende Rentenniveau . Vereinfacht
gesagt ist das Rentenniveau das Verhältnis einer ver-
fügbaren Standardrente zu einem verfügbaren Durch-
schnittseinkommen . Es hat also nichts mit dem letzten
Gehalt im Erwerbsleben zu tun .
Das Rentenniveau ist aber die wichtigste Stellschraube
für die Menschen, die bereits heute in Rente sind, und
für diejenigen, die künftig in Rente gehen werden . Wenn
nämlich das Rentenniveau sinkt, werden die Rentne-
rinnen und Rentner noch mehr als bisher von der Ein-
kommensentwicklung der arbeitenden Menschen abge-
koppelt . Man könnte auch sagen: Ihnen wird ein Stück
Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand verwehrt . Das,
meine Damen und Herren, darf nicht sein .
Im April dieses Jahres hatte CSU-Chef Horst Seehofer
erkannt, dass etwas falsch läuft . Er forderte höhere Al-
tersbezüge für alle und die Rückabwicklung der Ries-
ter-Rente . Er behauptete sogar kühn, dass die 2001
beschlossene Kürzung des Rentenniveaus dazu führen
werde, „dass etwa die Hälfte der Bevölkerung in der
Sozialhilfe landen würde“. Dies betreffe besonders Frau-
en, die oft weniger verdienten als Männer und die ihre
Berufstätigkeit zugunsten der Familie unterbrächen . Bei
der Reform müsse der gesetzliche Anteil an der Rente
im Zentrum der Überlegungen stehen . Nicht einmal die
Hälfte der Bevölkerung sorge privat fürs Alter vor . Er
sagte wörtlich: „Die Riester-Rente ist gescheitert .“ Recht
hat er!
– Sie können heute in der Süddeutschen Zeitung nachle-
sen, Kollegin Griese, wie recht er damit hat und wie rich-
tig das ist . In der Süddeutschen Zeitung finden Sie heute
ein vernichtendes Urteil zu der ganzen Riester-Reform .
Ich komme auch zur SPD. Sie hat nämlich mit ihrem
Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel ins gleiche Horn ge-
stoßen . Sigmar Gabriel sagte:
Das Niveau der gesetzlichen Rente darf nicht weiter
sinken, sondern muss auf dem jetzigen Niveau sta-
bilisiert werden .
Was aber kam nach dem Koalitionsgipfel genau heute
vor einer Woche in Sachen Rentenniveau nach wochen-
langen geheimnisvollen Ankündigungen der Arbeitsmi-
nisterin von zwei Haltelinien heraus? Gar nichts! Null!
Niente! Nitschewo! Nada! Zero! – Sigmar Gabriel und
Horst Seehofer, zwei der Parteichefs von Schwarz-
Schwarz-Rosa, haben sie voll auflaufen lassen. Das ist
doch die Wahrheit!
Zu den Ostrentnerinnen und -rentnern sagen Staats-
sekretär Jens Spahn und sein Chef, Finanzminister
Schäuble: Mir gäbet nix . – Bei allem Respekt vor
Frau Ministerin Nahles: Man könnte auch sagen: Herr
Schäuble und Herr Spahn ziehen die Frau Arbeitsminis-
terin Nahles am Nasenring durchs Kanzleramt . So ist es
doch!
Ja, ich weiß: Bei der EM-Rente hat es Verbesserungen
bei der Zurechnungszeit gegeben . Dazu muss man aber
wissen: von 2018 bis 2024 . Für die heutigen Erwerbs-
minderungsrentnerinnen und -rentner, deren Renten viel
zu niedrig sind, tun Sie alle rein gar nichts . Das ist die
Wahrheit .
Sie lassen sie im Regen stehen .
Matthias W. Birkwald
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620530
(C)
(D)
Zu den Ostrenten . Jemand, der 1990, beim Fall der
Mauer, in Rente ging, muss jetzt 100 Jahre alt werden,
um noch „gleiche Rente für gleiche Lebensleistung“ zu
erleben . Meine Damen und Herren von der Koalition, ich
sage Ihnen: Das ist null Leistung .
Das Rentenniveau darf jetzt auch in Zukunft weiter
sinken . CSU-Chef Seehofer hat nur eine große Klappe
gehabt . Die Koalition lässt Alte und Junge im Regen ste-
hen . Ich sage: Das ist ein Armutszeugnis .
Jetzt sind alle enttäuscht . Sogar Ministerin Nahles ist von
den Beschlüssen des Koalitionsgipfels enttäuscht . Die
Rentnerinnen und Rentner sind enttäuscht . Ministerin
Nahles konnte der CDU nicht einmal abringen, dass das
Rentenniveau wenigstens stabil bei den heutigen 48 Pro-
zent bleibt .
Frau Nahles, ich sage: Im Interesse der vielen Milli-
onen Menschen, die bereits heute Rente beziehen oder
einmal eine beziehen wollen, hätte ich Ihnen hier einen
Erfolg gegönnt . Stattdessen sagen Sie in der FAZ:
Ich würde ungern über das Rentenniveau streiten
im Wahlkampf . Das führt zu einem reinen Überbie-
tungswettbewerb und wird zu teuer . Das kann sich
nur die Linkspartei leisten, die sich einen feuchten
Kehricht darum kümmert, was es kostet .
– Klatschen Sie nicht zu früh . – Das sagt die Richtige!
Sie will nämlich noch einmal zusätzliche 60 Millionen
Euro in den Riester-Unsinn investieren .
Nein, genau deshalb sind unsere beiden Anträge rich-
tig und wichtig . Wir müssen das Rentenniveau wieder
auf 53 Prozent anheben; denn dann hätten wir die Pro-
bleme mit dem absinkenden Niveau nicht mehr, und die
Menschen könnten auch im Alter ihren Lebensstandard
halten. Das ist auch finanzierbar.
Ein Rentenniveau von 53 Prozent brächte der Stan-
dardrentnerin oder dem Eckrentner von heute 127 Euro
mehr netto und dem von 2030 314 Euro, und das ist
auch finanzierbar. Ich kann es nicht mehr hören, dass
die Beiträge in den Himmel wachsen, durch die Decke
gehen oder explodieren . Jemand, der heute durchschnitt-
lich verdient – 3 022 Euro brutto im Monat –, müsste
nur 33 Euro mehr in die gesetzliche Rentenversicherung
zahlen – und der Arbeitgeber auch . Dann würden wir das
Rentenniveau erreichen .
– Ich habe mit Ihrem Zuruf gerechnet . Die Bundesre-
gierung geht von einem durchschnittlichen Bruttoein-
kommen von 4 423 Euro im Jahre 2029 aus . Dann kann
man dadurch, dass man 99 Euro mehr pro Monat in die
gesetzliche Rentenversicherung einzahlt, ein lebensstan-
dardsicherndes Rentenniveau sichern .
Jetzt kommt der Clou: Dann brauchen wir die Ries-
ter-Beiträge nicht mehr . Sie muten den Menschen zu,
mindestens 4 Prozent ihres Einkommens für Riester ein-
zuzahlen . Das heißt, die Menschen hätten heute jeden
Monat 75 Euro mehr in der Tasche – 108 Euro weniger
für Riester, 33 Euro mehr in die gesetzliche Rentenver-
sicherung –, und im Jahr 2029 wären es noch 65 Euro
mehr . Ich sage Ihnen: Ein anständiges Rentenniveau ist
finanzierbar.
Diese Berechnung wird auch von der Ministerin in
ihrem schönen Rentenversicherungskonzept bestätigt .
Schauen Sie auf Seite 26! Da werden alle Zahlen belegt .
Im Jahr 2000 musste man 24 Jahre arbeiten, um bei
einem Rentenniveau von 53 Prozent eine Rente in Höhe
der Sozialhilfe bzw . der Grundsicherung im Alter zu be-
kommen . Aktuell sind das aber schon 29 Jahre und 9 Mo-
nate, und wenn es so weitergeht, dann werden wir dies in
Zukunft selbst bei einem Rentenniveau von 46 Prozent
erst nach 33 Jahren erreichen .
Ich komme zum Schluss .
Ja, bitte .
Hören Sie auf Norbert Blüm . Er war 16 Jahre Arbeits-
minister und hat gesagt – Zitat –:
Die Rente muss höher sein als die Grundsicherung,
sonst verliert das System seine Legitimation . Ein
Niveau von 46 Prozent wird dafür nicht reichen.
Recht hat er .
Man kann eine gute Rente finanzieren. Schauen Sie
nach Österreich . Darüber reden wir aber ein anderes Mal .
Ich sage: Herzlichen Dank .
Vielen Dank, Matthias W . Birkwald . Meine Bemer-
kung vorhin bezog sich auf das Überziehen der Redezeit .
Ich bin nämlich ganz objektiv. – Nächster Redner: Peter
Weiß für die CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Gestern hat das Bundeskabinett den Rentenversiche-
rungsbericht 2016 beschlossen . Es ist etwas geschehen,
was in den Voraussagen der letzten Jahre nicht enthalten
war und was völlig dem widerspricht, was die Linke vor-
Matthias W. Birkwald
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20531
(C)
(D)
trägt, dass es nämlich einen tiefen Absturz des Rentenni-
veaus geben werde: Das Rentenniveau ist in diesem Jahr
gestiegen . Das Rentenniveau wird voraussichtlich auch
im kommenden Jahr steigen, und es wird über mehrere
Jahre auf einem hohen Niveau bleiben .
Warum widerspricht diese Nachricht allem was bisher
gesagt wurde? Weil die gute wirtschaftliche Entwicklung
in Deutschland und vor allem die zunehmende Anzahl
sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnis-
se – jeden Monat mehr als im Vormonat – dazu führen,
dass nicht nur genügend Geld in die Rentenversicherung
fließt, sondern dass das Rentenniveau sogar steigt. Das
ist die eigentliche positive Nachricht, die allem wider-
spricht, was die Linken hier vortragen . Mit einer guten
wirtschaftlichen Entwicklung – das ist das Entschei-
dende – und mit mehr sozialversicherungspflichtiger
Beschäftigung wird die Rente stabilisiert . Das ist das
Kernanliegen . Dafür stehen wir, die Große Koalition mit
Angela Merkel .
Wir wollen durch gutes Wirtschaften und durch gute Be-
schäftigungspolitik auch in Zukunft für eine sichere Ren-
te in Deutschland sorgen .
Ein weiterer Punkt. Wenn man unbedingt schon jetzt
eine rentenpolitische Bilanz der Großen Koalition, meh-
rere Monate vor der Bundestagswahl, ziehen will, dann
muss man feststellen, dass wir mit dem Rentenpaket zu
Beginn dieser Legislaturperiode
zum ersten Mal seit 30 Jahren im Deutschen Bundestag
konkret finanziell spürbare Verbesserungen für die Rent-
nerinnen und Rentner in Deutschland geschaffen haben.
Diese Große Koalition hat das hinbekommen .
Da waren wir nicht knauserig, sondern wir haben zum
Leidwesen mancher mehr Geld bereitgestellt, zuallererst
mit der Mütterrente . Sie beschert uns zwar 6,7 Milliarden
Euro zusätzliche Ausgaben im Jahr,
bedeutet aber für die Mütter, die Kinder großgezogen
haben, eine großartige, zusätzliche Hilfe, wenn sie Rent-
nerinnen sind .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, nun kann
man, so wie es der Kollege Birkwald gemacht hat, erzäh-
len: Wenn ich mehr in die Rente einzahle, ist mehr in der
Rentenkasse . Dann erwerbe ich als Beitragszahler einen
Anspruch auf eine höhere künftige Rente . – Gut, das ist
das System der Rentenversicherung,
wie es mit der dynamischen Rente 1957 von Konrad
Adenauer zu Recht eingeführt worden ist und wie es
auch weiter Bestand haben soll . Aber Herr Birkwald und
auch andere der Linken beantworten uns nie die Frage,
wie denn diese Zusage eingehalten wird, dass jeder von
uns und von Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren, die
Sie zuhören, dann, wenn er mehr in die Rentenkasse ein-
zahlt, hinterher, wenn er in Rente geht, auch tatsächlich
mehr bekommt, dass also die junge Generation diesen
Rentenanspruch einlösen wird . Das ist doch die entschei-
dende Frage .
Es war übrigens Norbert Blüm, der sich als erster
Arbeits- und Sozialminister in Deutschland durch Pro-
gnos in einem Gutachten hat ausrechnen lassen, was es
bedeuten würde, wenn am Rentenrecht gar nichts geän-
dert würde, und was es darüber hinaus bedeuten würde,
wenn die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gingen,
die Jahrgänge, die also jetzt noch im Arbeitsleben sind,
während nach ihnen relativ wenig junge Menschen ins
Arbeitsleben eintreten werden . Dabei kamen Rentenver-
sicherungsbeiträge von deutlich über 30 Prozent heraus.
Sie müssen sich das vorstellen: Der Rentenversiche-
rungsbeitrag steigt auf 30 Prozent, ein hoher Krankenver-
sicherungsbeitrag, ein hoher Pflegeversicherungsbeitrag
und – mit einem steigenden Rentenversicherungsbeitrag
steigt auch der Zuschuss aus Steuern – hohe Steuern . Was
werden die jungen Leute, die eines Tages dank linker
Politik vor diesem Ergebnis stehen, sagen? Sie werden
sagen: Entschuldigung, bei dieser Steuer- und Abgaben-
belastung lohnt sich Arbeiten schlichtweg nicht mehr .
Herr Kollege Weiß, erlauben Sie eine Frage oder Be-
merkung von Herrn Matthias W . Birkwald?
Ja . Er muss ja seine Redezeit verlängern . Bitte sehr .
Das ist jetzt aber Ihre Redezeit . – Also, Herr Birkwald,
bitte .
Vielen Dank, Frau Präsidentin, dass Sie das klarge-
stellt haben . Das verlängert die Redezeit von Herrn Weiß .
Peter Weiß
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620532
(C)
(D)
Herr Weiß, ich hätte mich nicht gemeldet, wenn Sie
nicht gerade sozusagen nach der Zwischenfrage gegiert
hätten . Ich will Ihnen einmal Folgendes erläutern: In Ih-
ren Beiträgen kommen die Begriffe Wirtschaftswachs-
tum und Produktivitätsfortschritt niemals vor.
Jetzt machen wir das einmal ganz konkret; denn
ich ahnte schon, dass Sie so etwas sagen würden . Im
Jahr 1960 betrug der Durchschnittsverdienst umgerech-
net 260 Euro . Damals hatten wir einen Beitragssatz von
insgesamt 14 Prozent, also je 7 Prozent für Arbeitnehmer
und Arbeitgeber . Der Beitrag zur Rentenversicherung
betrug 18,20 Euro . Wenn man die von dem damaligen
Gehalt abzieht, blieben 241,80 Euro übrig .
Jetzt machen wir zwei Schritte: 2016 sind bei einem
Gehalt von 3 022 Euro brutto und einem Beitragssatz von
9,35 Prozent 283 Euro als Beitrag zu zahlen. Übrig blei-
ben 2 739 Euro .
Jetzt gehen wir ins Jahr 2030 . Dann wird das Durch-
schnittseinkommen 4 502 Euro betragen . Wenn man
dann einen Beitragssatz von 29 Prozent paritätisch finan-
ziert, bleiben 3 849 Euro übrig .
Anders ausgedrückt: Der Kuchen wächst, und selbst
wenn die Beitragssätze steigen, bleibt hinterher für die
Beschäftigten wesentlich mehr übrig . Für die Finanzie-
rung brauchen wir nur die Rückkehr zur Parität, dass sich
die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber endlich wieder
vollständig paritätisch an der Finanzierung der Alterssi-
cherung beteiligen .
Herr Weiß, bitte .
Herr Kollege Birkwald, Norbert Blüm, seine Nach-
folger und auch diejenigen, die den Rentenversiche-
rungsbericht erstellen, haben all das, was Sie vortra-
gen – Produktivitätssteigerungen, Wirtschaftswachstum
und Zuwanderung nach Deutschland –, bereits mit ein-
gepreist . Deswegen, Entschuldigung, stimmen Ihre Bei-
spiele alle nicht . Dass auch die Lebenserhaltungskosten
steigen usw . usf ., kommt bei Ihnen gar nicht vor .
Es ist doch selbstverständlich: Jeder Arbeitnehmer
heute und genauso in 10, 20 oder 30 Jahren wird die Fra-
ge „Ist das, was ich als Lohn verdiene, ausreichend?“ da-
nach beantworten, was ihm nach Abzug der Steuern und
Sozialversicherungsbeiträge übrig bleibt . So wie mich
heute junge Leute fragen, die gerade einen neuen Job an-
getreten haben, ob es richtig ist, dass sie auf jeden Euro,
den sie mehr verdienen, so hohe zusätzliche Steuern und
Abgaben zahlen, werden auch die jungen Leute in 10, 20
oder 30 Jahren dieselbe Frage stellen . Auf diese Frage
können Sie aber keine Antwort geben .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, richtig ist,
dass 2001 unter rot-grüner Verantwortung – es war nicht
unter der Verantwortung der CDU/CSU – eine Gesetzes-
reform beschlossen worden ist, die schlichtweg so aus-
sieht, dass sie den jungen Leuten eine Garantie gibt, was
die Höhe des Beitrags anbelangt . Bis 2030 darf der Bei-
trag nicht über 22 Prozent steigen. Wenn man das einhal-
ten will, ist es logisch – das ist einfache Mathematik –,
dass das Rentenniveau ein bisschen niedriger ist .
Der Fehler von 2001 ist, dass man nur bis 2030 ge-
rechnet hat . Deswegen möchte ich betonen: Auch aus
meiner Sicht ist es dringend notwendig, dass wir als Ge-
setzgeber auf die Zukunft hin eine klare Festlegung tref-
fen, welches Mindestrentenniveau erreicht werden muss
und wo der Höchstbeitrag liegt, der eines Tages für die
Rente gezahlt werden soll . Denn die junge Generation
fragt zu Recht: Lohnt es sich für mich, noch in dieses
System einzuzahlen?
Deswegen werden wir nicht umhinkommen, gemein-
sam eine solche Festlegung zu treffen. Aber in einer Si-
tuation wie zurzeit, in der wir es mit einem steigenden
Rentenniveau zu tun haben, ist es verrückt, die Menschen
schalu zu machen . Zum anderen haben wir die Zeit, um
in Ruhe eine solche Gesetzgebung hinzubekommen, die
ich für notwendig halte .
Wir brauchen Mindestsicherungsziele in der Renten-
versicherung, sowohl was das Niveau als auch was den
Beitrag anbelangt, aber wir können froh sein, dass wir
in einer Zeit leben, in der dank starker Wirtschaft und
Beschäftigung das Rentenniveau in Deutschland steigt .
Mit der Reform von 2001 war zudem die Vorstellung
verbunden, dass das, was die Bürgerinnen und Bürger in
Deutschland durchaus schon gemacht haben, künftig fest
zum Gesamtversorgungsniveau der Rentnerinnen und
Rentner gehören muss, nämlich eine Zusatzrente, die
nicht umlagefinanziert ist, sondern die jeder für die Zu-
kunft anspart . Das versteht die Linke übrigens überhaupt
nicht bzw. will es nicht verstehen. Aber über 85 Prozent
aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer betreiben –
so kann man es dem Altersvorsorgebericht der Bundes-
regierung entnehmen, der gestern verabschiedet wurde –
zusätzliche Altersvorsorge .
Das ist auch vernünftig . Das Unvernünftigste ist, unseren
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die das Richtige
tun, das auszureden . Das Gegenteil ist richtig . Sie soll-
ten darin bestärkt werden, zusätzliche Altersvorsorge zu
betreiben .
(C)
(D)
Wir als Große Koalition werden in dieser Legisla-
turperiode etwas umsetzen, was wir uns vorgenommen
haben, nämlich das Betriebsrentenstärkungsgesetz, über
dessen Entwurf am 14 . Dezember im Bundeskabinett be-
raten werden soll . Dieses Gesetz enthält etwas, was eine
echte Revolution des deutschen Sozialrechts darstellt .
Bisher sagen gerade viele Geringverdiener: Warum soll
ich mir ein zusätzliches Sparvermögen abknapsen und
anlegen, wenn am Schluss alles verrechnet wird und
dann weg ist, weil ich auf Grundsicherung im Alter an-
gewiesen bin . – Damit haben die Geringverdiener recht .
Deswegen werden wir in der Grundsicherung eine Revo-
lution vornehmen .
Künftig werden mindestens 100 Euro bzw . maximal
200 Euro als zusätzliches Alterseinkommen nicht auf die
Grundsicherung angerechnet . Andersherum ausgedrückt:
Ich muss mir zuerst Mühe geben und mich anstrengen,
um zusätzlich etwas für das Alter anzusparen, weil ich
weiß, dass das nicht mehr verrechnet wird, sondern auf
die Grundsicherung obendrauf kommt . Das ist eine wirk-
lich starke Ansage an alle Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer im Land .
Es ist richtig: Wer wenig verdient, hat wenig übrig,
um zusätzlich etwas für das Alter anzusparen . Deswegen
werden wir im Betriebsrentenrecht eine zusätzliche För-
derung in Höhe von 480 Euro jährlich
für Geringverdiener einführen . Auch das ist ein starkes
Zeichen . Wer wenig verdient, bekommt von uns zusätz-
liche Hilfe, damit er eine zusätzliche Altersversorgung
ansparen kann, die ihm nachher bei der Grundsicherung
nicht angerechnet wird . Mit dem Betriebsrentenstär-
kungsgesetz machen wir deutlich: Ja, wir wissen, dass
wir für die Zukunft der Altersversorgung mehr brauchen
als die gesetzliche Rente . Damit alle mitmachen wollen,
stellen wir die Stellschrauben so, dass es sich sowohl für
die Unternehmen als auch für die Arbeitnehmer lohnt, in
die betriebliche Altersversorgung zu investieren . Dank
des Freibetrags lohnt es sich für jeden, zusätzlich Al-
tersversorgung zu betreiben; denn freigestellt werden bei
der Grundsicherung nicht nur die betriebliche Altersver-
sorgung, sondern zum Beispiel auch das Riester-Sparen,
das Rürup-Sparen und Lebensversicherungen .
Unsere Botschaft an alle Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer lautet: Wir stärken die Altersversorgung
durch zusätzliche Anreize . Wir wollen durch ein starkes
Wirtschaftswachstum und mehr Beschäftigung dafür sor-
gen, dass das Rentenniveau auch in Zukunft stabil bleibt .
Vielen Dank .
Vielen Dank, Peter Weiß. – Nächster Redner: Markus
Kurth für Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Matthias Birkwald, eines muss man Ihnen lassen: Sie las-
sen keine Gelegenheit aus, um zu zeigen, was man Ihnen
nicht zu Weihnachten schenken muss, nämlich einen Ta-
schenrechner . Gerechnet haben Sie hier schon oft . Wenn
Sie einmal nicht mehr als Abgeordneter aufgestellt wer-
den, dann haben Sie vielleicht noch eine zweite Karriere
als Double von Graf Zahl in der Sesamstraße vor sich .
Ich habe Ihnen aber schon oft gesagt, dass Politik nicht
die Fortsetzung der Mathematik mit anderen Mitteln ist .
Vielmehr geht es darum, Mehrheiten zu organisieren,
Gesamtkonzepte zu erarbeiten und keine Rechenexem-
pel zu statuieren .
– Ich gehe gleich darauf ein .
Einen Punkt will ich vorwegnehmen: Es ist vorder-
gründig richtig, wenn Sie sagen
– ja –, dass wir, wenn wir den Beitragssatz um 2,4 Pro-
zentpunkte anheben – das bedeutet das –, auf ein Renten-
niveau von 53 Prozent kommen. Das gilt für heute, aber
das gilt nicht für das Jahr 2030 .
Dann sind wir in anderen Dimensionen . Das haben Sie
gestern im Ausschuss noch bestätigt . Dann sind wir bei
einem Beitragssatz von 25 Prozent, und so geht es immer
weiter nach oben .
Das ist doch der entscheidende Punkt. Sie sollten doch
nicht so tun, als ob man, wenn man heute 30 Euro ein-
zahlt, umstandslos 300 Euro mehr Rente im Jahr 2035
bekommt . So einfach ist es leider nicht .
Ich glaube, wir sollten die Debatte nutzen, um auf die
letzte Woche zurückzublicken, in der Andrea Nahles – ich
weiß nicht genau, ob als Bundesarbeitsministerin oder als
SPD-Generalsekretärin – das Gesamtkonzept vorgestellt
hat . Das war sowohl von der Art und Weise als auch vom
Zeitpunkt her denkwürdig . Am Donnerstagabend haben
Sie Ihren Rentengipfel und verabschieden drei Punkte –
drei Pünktchen, drei kleine, auf die ich noch eingehe. Das
ist typisch: die Politik des kleinsten gemeinsamen Nen-
Peter Weiß
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620534
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(D)
ners . Am Freitag, um 10 .30 Uhr, setzt sich Andrea Nahles
in die Bundespressekonferenz und sagt: Gestern ist eine
große Chance vertan worden . – Dann stellt sie plötzlich
acht andere Punkte vor.
In der Talkshow bei Anne Will am Sonntag sagte sie
dann: Die Union ist jetzt blank . Sie hat nämlich keine
Antwort . – Herr Weiß, wie fühlt man sich denn als Koali-
tionspartner, wenn man in der Art und Weise zusammen-
arbeiten muss?
Das ist, finde ich, interessant.
Interessant ist auch, dass Volker Kauder im Nachhi-
nein sagt, über das Rentenniveau sei doch gar nicht gere-
det worden . Es scheint auch noch Uneinigkeit darüber zu
herrschen, wie Sie die Ost-West-Rentenangleichung fi-
nanzieren wollen, ob über Steuern oder Beiträge . Da geht
es wieder hin und her . Das ist symptomatisch für den Zu-
stand der Rentenpolitik der Großen Koalition . Blocka-
de, wechselseitige Missgunst, Sie gönnen sich nicht das
Schwarze unter dem Fingernagel, und was herauskommt,
ist eine Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners. Das
ist kläglich .
Ein Beispiel konnten wir jüngst bei der Flexirente be-
sichtigen . Es gab minimale Änderungen, die das längere
Arbeiten im Alter nicht wirklich befördern werden . Auch
Ihr Rentengipfel ist ein Beispiel für den Befund, den ich
eben genannt habe .
Bei der Erwerbsminderungsrente sind wir uns über die
Fraktionsgrenzen einig, dass wir Verbesserungen brau-
chen . Das hätte man aber schon damals beim Rentenpa-
ket viel besser machen können . Bei der Betriebsrente, die
Sie gerade so gelobt haben, verschweigen Sie, dass Sie
nur oder vorwiegend auf die tarifgebundenen Beschäf-
tigten abzielen und die ganzen Beschäftigten, die nicht
tarifgebunden sind, besonders die in kleinen und mittel-
ständischen Unternehmen, im Regen stehen lassen .
Sie schaffen neue Subventionstatbestände. Im Grun-
de genommen ist das ein ähnliches Muster wie das, das
bei der sogenannten Rente mit 63 verfolgt worden ist .
Für diejenigen, die in den tarifgebundenen Großbetrie-
ben sind, wurden Veränderungen gemacht, aber für die
anderen nicht .
Die Rentenangleichung von Ost und West schieben
Sie über viele Jahre hinweg . Wir wollen eine sofortige
Rentenangleichung von Ost und West, rechtlich alles
klarstellen, den Rentenwert angleichen und die Höher-
wertung abschaffen. Wenn wir das machen würden, hät-
ten wir das Thema im nächsten Jahr vom Tisch .
Jetzt möchte ich kurz etwas zum Thema Rentenniveau
sagen, worauf sich der Antrag der Linken richtet . Klar
ist, dass die Höhe des Rentenniveaus natürlich von zwei
Seiten betrachtet werden muss, einmal von der Seite der
Beitragszahlerinnen und Beitragszahler, aber auch von
der Seite der jetzt Jüngeren, die später für ihre Beiträ-
ge ein Rentenniveau haben wollen, das klar ein Leben
oberhalb der Armutsgrenze ermöglicht . Das nenne ich
Generationengerechtigkeit 2 .0 . Der Ausgleichsmecha-
nismus über die Riester-Rente – da sind wir uns auch ei-
nig – funktioniert in der Breite nicht . Darum diskutieren
wir in allen Fraktionen, wie man mit dem Rentenniveau
weiter umgeht .
Ihr Vorschlag funktioniert in dieser Form nicht . Wir
sagen: Wir streben eine Stabilisierung auf heutigem Ni-
veau an . Wir wollen uns bei der Finanzierung allerdings
nicht gleich auf die Beiträge fokussieren, sondern sie in
ein Gesamtkonzept einbetten . Das heißt – das könnte
man sofort machen – erstens einmal: eine Steuerfinanzie-
rung der Mütterrente .
Zweitens . Wir wollen die Frauenerwerbstätigkeit er-
höhen . Das geht nicht mit zusätzlichen Mütterrenten-
punkten, sondern durch eine Verbesserung der Verein-
barkeit von Familie und Beruf und eine Neuaufteilung
bei der Zeitpolitik .
Wir wollen die Beitragsgrundlagen durch die Bürger-
versicherung verbessern . Durch die Bürgerversicherung
sollen natürlich in erster Linie Sicherungslücken gerade
bei Selbstständigen geschlossen werden . Aber wir schaf-
fen es auch, einen Teil des demografischen Buckels durch
die damit verbundene Verbreiterung der Beitragsgrund-
lage abzumildern. Qualifizierte und gesteuerte Zuwande-
rung – wir haben einen Gesetzentwurf zum Einwande-
rungsgesetz vorgelegt – ist ein weiterer Baustein, um die
Grundlage der Rentenversicherung zu verbessern .
Als Ultima Ratio schließen wir auch eine Beitragssatz-
erhöhung nicht aus, aber weit entfernt von den lichten
Höhen, die Sie dort anstreben .
Diese zusammengesetzten Komponenten machen
erst Sinn in einem Gesamtkonzept und nicht durch eine
scheuklappenartige Verengung, wie sie die Linkspar-
tei vornimmt, und auch nicht durch eine verkürzte und
holzschnittartige Verengung eines Generationengerech-
tigkeitsbegriffs, wie ihn Herr Spahn ja gern benutzt, der
aber am Ende des Tages nur dazu führt, dass die junge
Generation keine verlässlichen Renten mehr bekommt .
Das durchschaut die junge Generation im Übrigen schon
heute, und das kann auch deswegen keine Antwort sein .
Markus Kurth
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20535
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(D)
Zu einer langfristigen Sicherung des Rentenniveaus
und der Umlagefinanzierung gehört natürlich auch, dass
wir über längeres Arbeiten sprechen . Das bedeutet, dass
wir an die belasteten Beschäftigten denken müssen, die
Ausstiegsmöglichkeiten und Ausgleiche bekommen
müssen . Aber natürlich werden wir auch darüber debat-
tieren, wie diejenigen, die können, auch länger arbeiten
können . Auch das ist eine Möglichkeit, das Rentenniveau
zu stabilisieren .
– Jetzt kommt der Zwischenruf: „Sag das mal den Ge-
rüstbauern!“ – Herr Birkwald, wenn Sie eben zugehört
haben, wissen Sie, dass ich gesagt habe: Für belastete
Beschäftigte müssen wir besondere Regelungen finden.
Wir als Bündnis 90/Die Grünen sind nämlich diejenigen,
die sich individuelle Lebenssituationen anschauen . Wenn
man keine individuellen Lösungen schafft, wird man bei
der Verlängerung der Lebensarbeitszeit auch nicht wei-
terkommen . Wir nehmen die Ängste der Beschäftigten an
dieser Stelle sehr ernst .
Ich kann allen nur empfehlen, sich den Bericht der
Rentenkommission von Bündnis 90/Die Grünen und
unsere Beschlüsse vom Parteitag vor drei Wochen an-
zusehen . Das können die Zuhörerinnen und Zuschauer
auch im Internet sehr einfach tun . Da ist eine Reihe von
interessanten anderen Aspekten, wie zum Beispiel unsere
Garantierente gegen Armut, enthalten .
Das führt jetzt aber zu weit .
Ich komme zum Schluss. – Sie war ja offensichtlich
auch in weiten Teilen Vorlage für das Rentenkonzept von
Frau Nahles . Sie hat unsere Vorschläge nicht ganz eins
zu eins übernommen, sonst wäre es sogar noch besser
geworden .
Vielen Dank .
Vielen Dank, Markus Kurth . – Nächste Rednerin:
Katja Mast für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! 15 Jahre nach der letzten Rentenreform hat Bun-
desarbeitsministerin Andrea Nahles letzten Freitag ein
Gesamtkonzept zur Alterssicherung vorgelegt . Dieses
Konzept ist mutig, vorausschauend und bereitet den Weg
für eine zukunftsfeste und verlässliche Alterssicherung,
und zwar weit über das Jahr 2030 hinaus – mit klaren,
doppelten Haltelinien: für ein dauerhaft garantiertes Ren-
tenniveau von mindestens 46 Prozent, für einen maxima-
len Beitragssatz von 22 Prozent bis 2030 und 25 Prozent
bis 2045 und für eine politische Ziellinie von 48 Prozent
Rentenniveau und maximal 24 Prozent Rentenbeitrag.
An der Stelle will ich meinem Kollegen Peter Weiß
zurufen: Peter, wenn die CDU/CSU bereit ist, Leitplan-
ken beim Rentenniveau und bei Beitragssätzen einzuzie-
hen, warum haben wir das im Koalitionsausschuss nicht
hinbekommen?
Ich habe das Gefühl, dass deine Kanzlerin und dein Mi-
nisterpräsident aus Bayern deiner Haltung an der Stelle
nicht ganz gefolgt sind .
Außerdem ist in dem Rentenkonzept auch noch viel
drin, was das Thema „Kampf gegen Altersarmut“ angeht,
von dem ich finde, dass es in der Debatte gerade teilwei-
se nicht so stark war. Wir haben die Punkte Solidarren-
te – das heißt, dass diejenigen, die lang gearbeitet und
einbezahlt haben, mehr haben sollen als andere –, Versi-
cherungspflicht für Selbstständige, die heute besonders
von Altersarmut betroffen sind, Verbesserungen für die
Erwerbsminderungsrentnerinnen und -rentner und Frei-
beträge, über die auch schon gesprochen worden ist, auf-
gegriffen. Gesamtkonzept heißt also nicht, dass eine Sa-
che isoliert angeschaut wird; vielmehr wird die gesamte
Altersvorsorge in den Blick genommen, und man nimmt
auch den Kampf gegen die Altersarmut auf .
Keine andere hier vertretene Partei hat ein Konzept
vorgelegt, das so mutig ist wie das, das Bundesministerin
Andrea Nahles vorgelegt hat .
Niemand hier im Raum – keine andere Partei – schaut bis
zum Jahr 2045 –
da können Sie dazwischenrufen, was Sie wollen –; bei
niemandem von Ihnen steht dazu irgendetwas aufge-
schrieben .
Lassen Sie mich ganz deutlich sagen: Man hätte sich
auch einen schlanken Fuß machen können . Auch Bun-
desarbeitsministerin Nahles hätte das tun können – einige
hier tun das auch –; denn die Zahlen bis 2030 sind noch
ganz akzeptabel . Deshalb ist es einfach, nur bis 2030
zu rechnen . Danach gehen aber die letzten Babyboo-
mer-Jahrgänge in Rente .
Markus Kurth
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620536
(C)
(D)
Frau Mast, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Lassen Sie mich noch einen Satz sagen . – Dann haben
wir in der Rentenversicherung keinen Demografieberg
vor uns, wie viele behaupten, sondern ein richtiges De-
mografieplateau.
Entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbrochen habe . –
Erlauben Sie eine Bemerkung – das ist nämlich auch
möglich – oder eine Zwischenfrage des Kollegen Kurth?
Wenn er gerne möchte .
Das scheint so; sonst hätte er ja nicht darum gebeten .
Genau . Ich möchte gerne eine Zwischenfrage stel-
len . – Danke, dass Sie sie zulassen, Frau Mast .
Sie haben gerade gesagt, dass niemand in der Renten-
politik so mutig wie die SPD ist.
Niemand ist so mutig wie Andrea Nahles .
Moment, den Fragesteller müssen Sie schon ausreden
lassen .
Jetzt stelle ich mir die Frage – Sie haben gerade da-
von gesprochen, die SPD plane eine Solidarrente –: Wo
hat Sie der Mut verlassen, als Sie eine Woche vor dem
Rentengipfel die sogenannte solidarische Lebensleis-
tungsrente schlichtweg beerdigt haben, die doch schon
im Koalitionsvertrag vereinbart war? Wieso verkündet
die SPD jetzt eigentlich eine Solidarrente, und warum
machen Sie sich nicht daran, einfach eine Absicherung
für langjährig Arbeitende, deren Rente unter dem Grund-
sicherungsniveau ist, einzuführen? Dafür hätten Sie doch
als Grundlage sowohl eine im Koalitionsvertrag festge-
haltene Vereinbarung als auch eine satte Mehrheit hier im
Parlament. Wo bleibt denn da der Mut?
Vielen Dank, Herr Kollege Kurth, für diese Zwischen-
frage . Sie macht es mir noch einmal möglich, den Unter-
schied zwischen einer Solidarrente und der sogenannten
solidarischen Lebensleistungsrente zu erklären .
– Nur durch den Unterschied wird klar, warum man man-
che Dinge nicht umsetzt: weil man damit Themen ver-
brennt . Das weiß Herr Kurth genauso gut wie ich, und
deshalb möchte ich das Ganze gern erklären, indem ich
den Unterschied aufzeige .
Die SPD ist, übrigens schon im letzten Wahlkampf,
angetreten mit dem Vorhaben, die Zahlung einer Solidar-
rente an das langjährige Einzahlen in die Rentenversi-
cherung – mindestens 35 Jahre – zu koppeln . – Unser
Koalitionspartner, angetrieben auch durch die frühere
Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen, die ja
eine Lebensleistungsrente einführen wollte, will unbe-
dingt eine Kopplung an die private Altersvorsorge . Ge-
nau an diesem Punkt wird es schwierig; denn diejenigen
Menschen, die wenig verdienen, sorgen in der Regel
auch nicht privat vor .
– Ja, klar . – Deshalb ist diese Kopplung mit einem wei-
teren Faktor zu einem großen Ausschlusskriterium für
Menschen geworden, die lange eingezahlt haben . Daher
sagen wir: Es ist sinnvoll, nicht etwas Schlechtes für die
Menschen umzusetzen, sondern in diesem Fall tatsäch-
lich etwas Gutes, das viele Menschen betrifft und nicht
nur wenige . Deshalb sagen wir an dieser Stelle: Nein zur
solidarischen Lebensleistungsrente, wie sie im Koaliti-
onsvertrag vereinbart ist, und Ja zur steuerfinanzierten
Solidarrente . –Vielen Dank .
Aus meiner Sicht ist die zentrale Zukunftsfrage: Wie
geht es in der Rentenversicherung nach 2030 generatio-
nengerecht weiter? Sie von der Linken werfen uns von
der SPD – ich zitiere – „Beitragsdogmatismus“ vor.
Das ist zumindest intellektuell unredlich; denn uns geht
es doch gerade um zwei Dinge, nicht nur um eine Sache:
auf der einen Seite das Rentenniveau zu sichern und auf
der anderen Seite auch eine klare Beitragssatzzusage zu
machen . Da kommt noch etwas hinzu . Beim Thema Bei-
tragssätze dürfen Sie auch nicht vergessen: Wir dürfen
über die Beiträge zur Rentenversicherung nicht isoliert
diskutieren . Die Frage, wie sich die Beitragssätze in der
Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung entwickeln,
muss auch gesamtgesellschaftlich eine Rolle spielen .
Ich fände es viel spannender, mit Ihnen darüber zu
diskutieren, ob wir neben einem vorausschauenden Ren-
tenversicherungsbericht – den haben wir ja in der Bun-
desrepublik Deutschland – nicht endlich auch zu einem
vorausschauenden Bericht bei der Kranken- und Pflege-
versicherung kommen könnten . Denn dann könnten wir
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20537
(C)
(D)
an der Stelle eine echte Belastung des Faktors Arbeit dis-
kutieren .
Da Demografie aber nicht nur eine Frage von Beitrags-
sätzen und Rentenniveau ist, schlagen wir einen steuerfi-
nanzierten Demografiezuschuss in der gesetzlichen Ren-
tenversicherung vor, den alle bezahlen, und nicht nur die
abhängig Beschäftigten und ihre Arbeitgeber . Eigentlich
hätte ich mir gewünscht, dass die Linke heute hier sagt:
Jawohl, die SPD schlägt mehr Steuermittel für die Ren-
tenversicherung vor; da gehen wir mit . – Das habe ich
aber leider nicht gehört .
Eigentlich ist Ihre Redezeit seit geraumer Zeit zu
Ende .
Noch einen Schlusssatz . – Ich will an die Bürgerin-
nen und Bürger appellieren, in der Rentendebatte, die wir
in den nächsten Wochen und Monaten sicherlich munter
führen werden, genau zuzuhören . Hören Sie nicht nur
immer auf die einfachen Antworten; denn die sind in
der Rentenversicherung meistens nicht umsetzbar – und
wenn doch, dann sind sie extrem teuer .
Schauen Sie einfach, wer Ihnen echte Zahlen bis 2045
vorlegt, und dann diskutieren Sie darüber mit Ihren Ab-
geordneten und anderen Akteuren . Ich freue mich auf
diese Debatte .
Vielen Dank .
Danke, Frau Kollegin Mast .
Ich bitte Sie wirklich, tendenziell die Redezeit ein-
zuhalten . Wir sind zwar in der Adventszeit, aber auch
unglaublich weit im Zeitplan zurück . Ich bitte Sie, das
Blinken am Redepult ernst zu nehmen . Sonst wird den
anderen Kollegen Zeit abgezogen .
Der nächste Redner ist Stephan Stracke für die CDU/
CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die heutige Debatte gibt einen kleinen Vor-
geschmack auf die Auseinandersetzungen, die wir im
nächsten Jahr erwarten dürfen . Der Rentenwahlkampf ist
eröffnet. Die Oppositionsparteien und die SPD scheint ja
eines bei dieser heutigen Debatte zu einen: Sie liefern
sich einen Überbietungswettbewerb – einen Wettbewerb
darum, wer den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
durch zusätzliche Beiträge tiefer in die Tasche greifen
will .
Das eint Sie .
Der Ansatz der Union ist in diesem Bereich ein ganz
anderer . Wir wollen an dem Beschäftigungsniveau, das
wir derzeit haben, festhalten . Wir sehen derzeit nicht die-
sen Handlungsbedarf mit Blick auf das Rentenniveau,
sondern meinen, dass wir alles für die richtigen politi-
schen Weichenstellungen für die Zukunft tun müssen .
Das bedeutet vor allem, die richtige Arbeitsmarktpolitik
zu machen . Und bei der Beschäftigung, bei den Arbeitslo-
senzahlen sind wir in den letzten Jahren sehr erfolgreich;
da haben wir sehr viel erreicht . Drei von vier Frauen sind
heute erwerbstätig, und auch die älteren Beschäftigten
verbleiben länger im Arbeitsleben . Das ist eine sehr gute
Entwicklung .
Dennoch verschließen wir natürlich auch nicht die
Augen vor den demografischen Entwicklungen, die auf
uns zukommen .
Es wird wirklich tiefgreifende Veränderungen geben,
wenn sich die Anzahl derjenigen im Erwerbstätigenalter
in der Bevölkerung Mitte der 2030er-Jahre von 50 Milli-
onen auf 36 Millionen reduzieren wird und es 40 Prozent
mehr Rentner als heute geben wird .
Das bedeutet, dass wir einer stabilen Demografiebrü-
cke bedürfen . Deswegen bedarf es eines Gesamtpakets .
Und dazu gehören auch gute Löhne . Deswegen sind
die Tarifbindung und die Anbindung von tariflich abge-
schlossenen Lohnvereinbarungen so notwendig . Dazu
trägt auch der Mindestlohn ein Stück weit bei . Natürlich
müssen wir auch alles tun, damit das Beschäftigungsni-
veau so lange wie möglich auf dem jetzigen Stand ge-
halten werden kann . Deswegen tun wir auch alles, um
die Arbeitslosigkeit zurückzudrängen . All das tun wir,
weil die Rente letztlich das Spiegelbild des Erwerbsle-
bens darstellt . Deswegen gehört zu einer guten Sozial-
politik, die Bildungspolitik weiter in den Mittelpunkt zu
stellen – das tut Bayern beispielsweise vorbildlich –, aber
auch die Gesundheitsförderung, die Prävention und die
Reha . Wir dürfen es nicht zulassen, dass Arbeitsplätze
Menschen krank und kaputtmachen . Wir müssen dafür
sorgen, dass die Menschen das Renteneintrittsalter tat-
sächlich erreichen können . Auch dafür hat diese Große
Koalition schon sehr viel getan .
Was das Rentenniveau angeht: Wenn man sich das
einmal ansieht, stellt man fest: Es ist weitaus besser, als
alle Prognosen besagen. Das hat viel mit der derzeit gu-
ten wirtschaftlichen Lage und mit der Anzahl an sozial-
versicherungspflichtigen Arbeitsplätzen zu tun. Deshalb
ist es so wichtig, genau darauf den Akzent zu setzen .
Katja Mast
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620538
(C)
(D)
Tendenziell wird ein viel zu niedriges Rentenniveau
ausgewiesen . Darauf weist beispielsweise die Deutsche
Bundesbank in ihrem Bericht vom August dieses Jahres
hin . Zum einen wird die Erhöhung des Renteneintrittsal-
ters nicht wirklich abgebildet . Das Rentenniveau wird
also eher weit weniger sinken, als wir überall lesen . Zum
anderen wird das Gesamtversorgungsniveau sehr wohl
stabilisiert, und zwar durch die Riester-Rente . Auch da-
rauf weist die Deutsche Bundesbank hin . Das gilt auch
im Zeitalter der Niedrigzinspolitik .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir set-
zen vor allem da an, wo typische Armutsrisiken beste-
hen. Das betrifft die Erwerbsgeminderten. Derzeit sind
500 000 Erwerbsgeminderte auf Grundsicherung im Al-
ter angewiesen; dies ist ein schwerwiegendes Thema . Es
sind im Übrigen 320 000 mehr als 2003 . Deswegen hat
diese Große Koalition bereits in ihrem Rentenpaket mit
der Erhöhung der Zurechnungszeit reagiert . Wir werden
dies nochmals tun .
Ich glaube, das ist der richtige Ansatz, um gerade in die-
sem Bereich zu helfen . Deswegen machen wir hier ent-
sprechend weiter .
Bei der Rentenleistung im Alter wollen wir diejeni-
gen, die ein Leben lang gearbeitet und auch vorgesorgt
haben, besserstellen als diejenigen, die nicht gearbeitet
haben und sich nicht um ihre Altersvorsorge gekümmert
haben . Arbeit und Vorsorge müssen sich im Alter auszah-
len . Das heißt aber auch: Die Zugangsvoraussetzung für
eine Besserstellung muss ein kapitalgedecktes Standbein
sein . – Das sieht der Koalitionsvertrag auch so vor .
Frau Nahles möchte mit ihrer Solidarrente bereits die
langjährige Zahlung von Beiträgen in die gesetzliche
Rente genügen lassen . Das ist ein zentraler Webfehler
dieses Konzepts . Deswegen lehnen wir die Vorschläge in
diesem Bereich ab .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die gesam-
te Diskussion, die wir führen, konzentriert sich auf die
Rente . Dabei spielt natürlich auch die Frage der richti-
gen Balance zwischen denen, die derzeit in Rente sind,
und denen, die für die Rentenzahlung aufkommen, eine
erhebliche Rolle . Deswegen müssen wir da ganz genau
aufpassen .
Ich vermisse in dieser Debatte eines . Wir konzentrie-
ren uns ausschließlich auf den Bereich der Rente . Wir
sollten aber die Entwicklungen in der Pflege und in der
gesetzlichen Krankenversicherung genauso in den Blick
nehmen . Nur wenn wir alle drei Sozialversicherungssys-
teme in den Blick nehmen, führen wir hier eine solide
Debatte über die Zukunft der sozialen Sicherungssyste-
me . Das darf nicht isoliert betrachtet werden, weil man
sonst nur einen begrenzten Blickwinkel hat . Wir treten
dafür ein, dass wir Pflegeversicherung, Krankenversi-
cherung und Rentenversicherung zusammen in den Blick
nehmen . Dafür bietet sich das an, was wir in den letzten
Jahren so erfolgreich gemacht haben, nämlich eine breite
gesamtgesellschaftliche Debatte, flankiert durch entspre-
chende Kommissionen . Das halte ich in diesem Bereich
für geboten .
Ein herzliches Dankeschön .
Vielen Dank, Stephan Stracke . – Nächster Redner:
Dr. Martin Rosemann für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn wir heu-
te ein Zwischenfazit nach drei Jahren Großer Koalition
ziehen, dann können wir sagen: In der Rentenpolitik hat
diese Regierung nur Verbesserungen geschafft: den vor-
zeitigen Rentenzugang für besonders langjährig Versi-
cherte, die Mütterrente,
Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente, Stär-
kung von Prävention und Rehabilitation. Hinzu kommt
die höchste Rentenerhöhung, die es jemals im vereinig-
ten Deutschland gegeben hat .
Jetzt kommt auch noch die West-Ost-Angleichung dazu,
meine Damen und Herren .
Also in Richtung Linke: Während Sie hier schöne An-
träge schreiben, sind wir im Maschinenraum und arbei-
ten an wirklichen Verbesserungen für die Menschen in
Deutschland .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich will Bun-
desarbeitsministerin Andrea Nahles für zwei Dinge dan-
ken: erstens für ihr Gesamtkonzept, weil dieses Konzept
endlich Klarheit schafft, endlich verlässliche Zahlen über
die Kosten von verschiedenen politischen Maßnahmen
Stephan Stracke
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20539
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auch in der Zukunft liefert. Damit findet die Debatte über
Rentenpolitik nicht mehr im luftleeren Raum statt, auch
wenn ich, ehrlich gesagt, wenig Hoffnung habe, dass sich
die Populisten von links und rechts daran orientieren
werden .
Zweitens . Ich möchte Andrea Nahles dafür danken,
dass sie beim Thema „Vermeidung von Altersarmut“ so
gekämpft hat . Dass wir nach der ersten Verbesserung
bei der Erwerbsminderungsrente jetzt noch einmal eine
Schippe drauflegen, ist so wichtig; denn Erwerbsmin-
derung ist ein großes Risiko für Altersarmut in unserem
Land .
In diesem Zusammenhang muss ich sagen, dass ich
es sehr bedauerlich finde, dass sich CDU und CSU bei
der Solidarrente verweigert haben . Das wäre auch ein
zielgenauer Schritt zur Verhinderung von Altersarmut
gewesen .
Denn für uns Sozialdemokraten gilt: Wer sein Leben lang
gearbeitet hat, darf nicht zum Sozialamt geschickt wer-
den .
Bedauerlich ist auch die Verweigerung der Union bei
der doppelten Haltelinie. Diese hätte für mehr Planungs-
sicherheit gesorgt, und das hätte das Vertrauen in die
Rentenpolitik und in die Politik insgesamt gestärkt. Of-
fenbar fehlt es bei Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Union, an Mut zu Entscheidungen . Was wir aber
nicht durchgehen lassen werden, ist, dass manche von
Ihnen vor der Absenkung des Rentenniveaus warnen und
die anderen jede Beitragserhöhung und jede Ausweitung
des Steuerzuschusses ablehnen oder am besten wie Horst
Seehofer gleich beides . Erst im April forderte er die Sta-
bilisierung des Rentenniveaus . Jetzt spricht er davon, es
dürfe keine Beitragserhöhung geben und auch nicht mehr
Steuermittel .
Für uns ist klar: Es geht um ein Leben in Würde, auch
im Alter . Es geht um Teilhabe, es geht darum, Altersar-
mut zu verhindern, aber auch sozialen Abstieg . Deshalb
gilt für uns:
Erstens . Die gesetzliche Rente ist und bleibt die zen-
trale Altersvorsorge in Deutschland .
Zweitens. Der demografische Wandel ist nur zu be-
wältigen, wenn die Lasten gerecht zwischen den Gene-
rationen verteilt werden . Deswegen brauchen wir bei der
Alterssicherung mehr als nur ein Standbein .
Lieber Matthias Birkwald, ich habe gestern im Aus-
schuss am Beispiel Ihrer eigenen Zahlen erklärt, wie man
mit Kapitaldeckung die Lasten zwischen den Generati-
onen gerechter verteilen kann. Sie haben offenbar nicht
ausreichend zugehört .
Wir machen dann im nächsten Ausschuss noch einmal
eine Lehrstunde .
Drittens . Soziale Sicherung im Alter muss unab-
hängig von der Erwerbsform sein . Deshalb wollen wir
Selbstständige Schritt für Schritt in die gesetzliche Ren-
tenversicherung einbeziehen, aber der Besonderheit der
Einkommenserzielung bei Selbstständigen bei der Bei-
tragserhebung Rechnung tragen und Selbstständige an
anderer Stelle entlasten .
Viertens . Wir brauchen keine Diskussion über die wei-
tere Erhöhung einer starren Regelaltersgrenze, sondern
müssen den Weg flexibler und individueller Übergänge,
die sich an der jeweiligen Erwerbsbiografie orientieren,
fortsetzen, wie wir es mit dem Flexigesetz begonnen ha-
ben .
Fünftens. Klar ist auch: Nicht alle Probleme lassen
sich in der Rentenpolitik lösen . Rente ist immer ein Spie-
gelbild der Erwerbsbiografie. Deswegen kommt dem Zu-
sammenhang von guter Arbeit, guten Löhnen und guter
Rente eine große Bedeutung zu . Deswegen beginnt Ren-
tenpolitik bei der Bildung, geht weiter über Ordnung auf
dem Arbeitsmarkt . Es geht ferner um eine bessere Bezah-
lung von Frauen und eine bessere Teilhabe von Frauen
am Arbeitsleben .
Und es geht darum, dass wir gerade in einer Zeit, in der
die Umbrüche im Erwerbsleben zunehmen, die Beschäf-
tigten bei diesen Umbrüchen durch präventive unterstüt-
zende Sozialpolitik während des Arbeitslebens besser
begleiten, und zwar durch Prävention, Rehabilitation,
Weiterbildung und Beratung . Auch da sind wir im Ma-
schinenraum unterwegs .
Vielen Dank .
Vielen Dank, Martin Rosemann . – Nächste Rednerin:
Jana Schimke für die CDU/CSU-Fraktion .
Dr. Martin Rosemann
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620540
(C)
(D)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich wur-
de kürzlich von einem Schülerpraktikanten der neunten
Klasse gefragt, wie ich bei meiner politischen Arbeit für
Generationengerechtigkeit sorge . Schließlich sei das, so
sagte er, angesichts so mancher Vorschläge, aber auch
Entscheidungen der Vergangenheit ja nicht so leicht . In
meiner Antwort machte ich dann deutlich, dass es na-
türlich darauf ankomme, bei Gesetzgebungsvorhaben
die richtigen politischen Entscheidungen zu treffen. Ich
sagte ihm aber auch, dass die Sicherstellung von Gene-
rationengerechtigkeit auch bedeute, hier im Deutschen
Bundestag einen täglichen politischen Abwehrkampf zu
fechten .
Wogegen?
Gegen jene politischen Kräfte, die den durch tiefgreifen-
de Reformen erarbeiteten Wohlstand schlichtweg ver-
frühstücken wollen
und unseren Sozialstaat als Selbstbedienungsladen ver-
stehen, oder – um es kurz zu machen – gegen Anträge
wie jenen, der hier heute diskutiert wird . Da heißt es:
„Zeit für einen Kurswechsel“ .
Allerdings stelle ich mir unter einem Kurswechsel etwas
anderes vor, als Politik von gestern und auf Kosten künf-
tiger Generationen zu machen .
Die Linke fordert in ihrem Antrag, jene Faktoren, die
die Rente bisher bezahlbar machen, zugunsten eines ho-
hen Rentenniveaus aufzugeben . Konkret soll dazu die im
Gesetz festgeschriebene Deckelung des Beitragssatzes
aufgehoben werden . Das bedeutet aber, der von den Ar-
beitnehmern zu erbringende Beitrag zur Rentenversiche-
rung könnte beliebig steigen, um die Renten auf einem
bestimmten Niveau zu halten .
Dass aber ein umlagefinanziertes System, das von den
Beiträgen der Beschäftigten lebt,
immer auch Solidarität in beide Richtungen erfordert, ge-
nau aus dem Grunde, dass es sonst die Gesellschaft nicht
mitträgt, lassen Sie dabei außer Acht .
Es ist erschreckend, meine Damen und Herren, für wie
selbstverständlich die Linke die Beiträge und die Leis-
tungen jener erachtet, die unseren Sozialstaat tragen .
Wenn wir Generationengerechtigkeit wollen und den
Generationenvertrag achten, dann müssen wir auch jene
im Blick behalten, die dafür heute mit ihren Beiträgen
geradestehen .
Der willkürliche Umgang mit dem Beitragssatz lässt das
Vertrauen in unseren Sozialstaat und seine Akzeptanz
schwinden . Solche Forderungen lassen sich nur damit
erklären, dass man entweder die demografische Entwick-
lung in unserem Land vollends ignoriert und die gesetz-
liche Rente in der Zukunft mit noch mehr Steuergeldern
bezuschussen, also die gute Haushaltspolitik der letzten
Jahre über Bord werfen will, oder die Steuerzahler mit
noch höheren Beiträgen zur Rentenversicherung belasten
will .
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie ma-
chen Politik auf Kosten anderer, auf Kosten von Arbeit-
gebern und Arbeitnehmern
und insbesondere der jungen Menschen in unserem Land .
Sie werden nach Ihren Plänen künftig
exorbitant mehr zahlen und am Ende weniger Netto in
der Tasche haben .
Jeder zusätzliche Prozentpunkt bei den Beiträgen zur So-
zialversicherung kostet aber Jobs und Geld . „Herzlichen
Glückwunsch!“ kann man dazu nur sagen .
Mit der Forderung nach Abschaffung des Nachhaltig-
keitsfaktors legen Sie auch die Axt an jenes Element bei
der Rente, das jüngeren Generationen einen natürlichen
Schutz vor den Begehrlichkeiten auch der Politik bietet.
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20541
(C)
(D)
Der Nachhaltigkeitsfaktor ist deshalb so wichtig, meine
Damen und Herren, weil er bei der jährlichen Rentenan-
passung das Verhältnis von Beitragszahlern und Ren-
tenbeziehern berücksichtigt . Dort rangehen zu wollen,
bestätigt, dass Sie schlichtweg keine anderen Antworten
auf die Herausforderungen der Zukunft haben . Sie schie-
ben Probleme vor sich her und vergrößern sie damit zu-
sätzlich .
Wir reden ja viel von Nachhaltigkeit – in der Umwelt,
in der Bildung und in der Wirtschaft . In der Renten- und
Sozialpolitik aber erhält Nachhaltigkeit eine existenzielle
Bedeutung . Das muss man können und wollen . Sie, ver-
ehrte Kollegen der Linken, können und wollen es nicht .
Deshalb ist es gut, dass Sie im Bund nicht über die Ge-
schicke unseres Landes bestimmen .
Meine Damen und Herren, ich glaube, wir brauchen
andere Lösungen . Fakt ist auch: In Zeiten einer älter wer-
denden Gesellschaft kann die Antwort eben nicht lauten,
dass die gesetzliche Rente allein es schon richten wird .
Ich würde behaupten, dass die Mehrzahl der Menschen
in meiner Generation das auch so sieht . Wir müssen des-
wegen den Menschen vielmehr die Möglichkeit geben,
ihre Rente noch stärker auch durch das eigene Erwerbs-
verhalten zu beeinflussen. Genau das berücksichtigen die
Beschlüsse und Maßnahmen der vergangenen Monate .
Mit der Einführung der Flexirente, die heute schon
mehrfach angesprochen wurde, haben wir Anreize dafür
gesetzt, dass sich längeres Arbeiten lohnt, für Arbeitneh-
mer, aber auch für Arbeitgeber. Wir schaffen dadurch
mehr Flexibilität und mehr Freiheit, und wir stärken die
Eigenverantwortung der Menschen . Wir müssen den
Menschen aber auch den Raum lassen und die Möglich-
keit geben, mit ihrem Einkommen in alternative Anlage-
formen zu investieren . Niedrige Steuern und angemesse-
ne Sozialbeiträge sind dafür zunächst die Voraussetzung .
Darauf aufbauend wollen wir künftig wieder den Erwerb
von Grundeigentum unterstützen; denn Grundeigentum
ist Garant für soziale Stabilität, vor allen Dingen im Al-
ter .
Doch die Niedrigzinsphase führt nicht nur dazu, dass tra-
ditionelle Anlageprodukte immer weniger attraktiv sind,
sie führt auch dazu, dass junge Familien mit einem durch-
schnittlichen Einkommen sich infolge steigender Grund-
stücks- und Baupreise eben kein Eigenheim mehr leisten
können . Das Budget ist oftmals schon mit dem Erwerb
des Grundstücks aufgebraucht . Deshalb ist es wichtig, in
diesem Bereich mehr politische Unterstützung zu geben .
Und: Wir wollen auch die zweite und dritte Säule in
unserem Vorsorgesystem stärken; das wurde heute auch
schon mehrfach angesprochen . Die Linke würde das al-
les am liebsten abschaffen,
aber wir halten daran fest, weil es sich bewährt hat . Gut
die Hälfte der heutigen Rentner haben Einkommen aus
betrieblicher und privater Vorsorge . In Deutschland gibt
es mehr als 20 Millionen aktive Anwartschaften aus der
betrieblichen Altersvorsorge .
Mehr als 70 Prozent der heutigen Arbeitnehmer haben ei-
nen Anspruch auf eine Zusatzrente . Diese Zahlen zeigen,
meine Damen und Herren, dass die Menschen in unserem
Land erkannt haben, dass für eine auskömmliche Alters-
vorsorge Zusatzrenten wichtig und richtig sind .
Dazu – um einen letzten Gedanken zu äußern – liegt
mit dem Betriebsrentenstärkungsgesetz ein Vorschlag
auf dem Tisch, den wir in den kommenden Wochen bera-
ten werden . Die größte Herausforderung ist dabei zwei-
felsohne, herauszufinden, wie es uns gelingen kann, mit
dem Gesetz eben nicht nur tarifgebundene Unternehmen
zu erreichen. Unser Ziel ist und bleibt, Politik für alle
Menschen in Deutschland zu machen, und dazu zählt der
größte Teil der Unternehmen in unserem Land, ebenje-
ne, die nicht tarifgebunden sind und keinen Tarifvertrag
anwenden .
Einen wahrlichen Kurswechsel im Vorschlag zur be-
trieblichen Altersvorsorge stellt auch der Übergang zu ei-
ner Zielrente bzw . einer reinen Beitragszusage dar . Diese
hat sich bereits im europäischen Ausland bewährt, und
damit gäbe es in der Tat eine denkbare Alternative zur
Garantierente, die immer weniger für die Versicherten
abwirft und Unternehmen in die Haftung nimmt . Be-
triebliche Altersvorsorge könnte damit auch künftig auf
andere Anlageformen zurückgreifen .
Meine Damen und Herren, wir neigen in vielen Berei-
chen der Politik dazu, Freiheit und Eigenverantwortung
zugunsten von Sicherheit und Garantien zu opfern . Da-
mit entgehen uns aber auch Chancen, die wir angesichts
demografischer Veränderungen und der Ausgestaltung
der europäischen Zinspolitik angehalten sind zu nutzen .
Lassen Sie uns über den Tellerrand hinwegschauen .
Unsere Kinder und späteren Enkel werden es uns danken .
Vielen Dank .
Vielen Dank, Jana Schimke . – Nächster Redner: Ralf
Kapschack für die SPD-Fraktion.
Jana Schimke
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620542
(C)
(D)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrte Zuschauer! Eine Bemerkung vorweg: Ich könn-
te mir Markus Kurth sehr gut als Supergrobi in der Se-
samstraße vorstellen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für uns, für die Sozi-
aldemokraten, ist die gesetzliche Rente die zentrale Säu-
le der Altersversorgung, und sie soll es bleiben . Das hat
Andrea Nahles vor einer Woche noch einmal sehr deut-
lich gemacht . Sie hat ein Konzept vorgelegt und eben
nicht bloß die Forderung nach Einführung der Rente mit
70 in die Welt gesetzt, wie manch einer unserer politi-
schen Lebensabschnittspartner aus der CDU/CSU
– irgendwo muss ich hingucken –, als sei mit der Rente
mit 70 ein Problem gelöst. Kein einziges Problem ist ge-
löst, ganz im Gegenteil .
Viele schaffen es jetzt schon nicht, bis 65 durchzuhal-
ten . Deshalb haben wir erst vor ein paar Wochen hier mit
den Möglichkeiten zum flexiblen Übergang neue Wege
eröffnet, um den Übergang vom Job in die Rente für äl-
tere Beschäftigte leichter zu machen, um es ihnen zu er-
leichtern, das normale Renteneintrittsalter zu erreichen .
Und jetzt sollen sie gleich bis 70 weitermachen? Das
kann doch nicht Ihr Ernst sein!
Eine flotte Forderung nach der Rente mit 70 bringt
sicher Schlagzeilen, eine Lösung bringt sie nicht . Und:
Solche simplen Parolen erschüttern das Vertrauen vieler
Menschen in den Sozialstaat, und das ist das Letzte, was
wir im Moment gebrauchen können .
Deshalb bin ich froh, dass die Arbeits- und Sozialmi-
nisterin es sich nicht so leicht gemacht hat und nur auf
kurze Sicht gefahren ist, wie manche empfohlen haben .
Sie hat klare Vorstellungen formuliert, wie mit einer So-
lidarrente – das ist schon gesagt worden – Menschen, die
lange gearbeitet haben, der Weg in die Grundsicherung
erspart bleibt . Sie hat klar formuliert, dass bei den Er-
werbsminderungsrenten weitere Verbesserungen drin-
gend notwendig sind .
Der erste große Schritt zu einer Erwerbstätigenversi-
cherung ist ebenfalls klar formuliert worden . Ja, Andrea
Nahles hat auch deutlich gemacht – ich will mich da gar
nicht drum herumdrücken –, dass das Niveau der gesetz-
lichen Rente nicht so stark sinken soll, wie ursprünglich
vorgesehen . Ich persönlich bin der Meinung: Das Niveau
der gesetzlichen Rente darf nicht weiter sinken .
Deshalb habe ich persönlich sehr große Sympathien für
die Forderung der Gewerkschaften nach einer Stabili-
sierung des aktuellen Niveaus und einer langfristigen
Anhebung . Natürlich gibt es konkrete Vorschläge, wie
das generationengerecht finanziert werden kann. Darü-
ber wird auch in meiner Partei sehr intensiv diskutiert.
Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir da eine gute Lösung
finden werden.
Ich sage aber auch ganz klar: Das, was im Antrag der
Linken steht – mindestens 53 Prozent –, hört sich ein
bisschen so an wie: Wir können auch noch mehr .
Die beste Ergänzung zur gesetzlichen Rente ist für die
SPD die betriebliche Altersversorgung als private und
zugleich kollektive Vorsorge .
Sie ist Ergänzung, um das klar zu sagen, kein Ersatz .
Anders als die Linke wollen wir nicht einfach darauf
verzichten . Die betriebliche Altersversorgung ist ein
eingeführtes, bewährtes Instrument . Mit dem Betriebs-
rentenstärkungsgesetz wird die Ministerin dem Parla-
ment demnächst ihren Vorschlag präsentieren, wie die
Altersversorgung ausgebaut werden kann . Aus unserer
Sicht muss es darum gehen, gerade Beschäftigten in klei-
nen und mittleren Unternehmen einen besseren Zugang
zu Betriebsrenten zu ermöglichen – tarifvertraglich, wo
es geht, aber auch dort, wo es keine Tarifverträge gibt .
Es muss auch darum gehen, dass für Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer mit kleinen Einkommen eine
Betriebsrente selbstverständlich wird . Deshalb soll es
einen speziellen Förderbetrag für Geringverdiener ge-
ben, und – das ist auch schon angesprochen worden –
Betriebsrenten sollen künftig nicht mehr vollständig auf
die Grundsicherung angerechnet werden . Ich würde das
nicht eine Revolution nennen, aber das ist ein Riesen-
fortschritt .
Auch das hat etwas mit Gerechtigkeit und mit Vertrauen
zu tun; denn es ist richtig, diejenigen besserzustellen, die
trotz kleinem Einkommen für das Alter vorsorgen, als an-
dere, die eben nicht vorsorgen .
All dies könnte mehr Frauen und Männern helfen, als
Ergänzung zur gesetzlichen Rente auch eine Betriebsren-
te zu erwerben – als Ergänzung, nicht als Ersatz .
Denken Sie an Ihre Redezeit?
Ich komme zum Schluss . – Denn im Mittelpunkt bleibt
für uns die gesetzliche Rente, ohne Wenn und Aber .
Vielen Dank .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20543
(C)
(D)
Vielen Dank, Kollege Kapschack . – Die letzte Redne-
rin in dieser Debatte: Kerstin Griese für die SPD-Frak-
tion .
Danke schön. – Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Was
kann ich zum Ende dieser Debatte sagen? Immer wenn
die Bundesregierung Verbesserungen macht – sei es die
abschlagsfreie Rente nach 45 Beitragsjahren, die Mütter-
rente oder die Rente für Erwerbsgeminderte – oder, wie
die Ministerin es jetzt tut, ein gutes, durchgerechnetes
Konzept für die Rente vorstellt, dann holt die Linke ihr
altes Konzept heraus, packt es in einen neuen Antrag,
schreibt eine neue Überschrift darüber und sagt: Das
Rentenniveau von 53 Prozent wird angehoben. Sie sagt
aber kein Wort dazu, wie das richtig finanziert werden
soll .
Damit bleibt die Rente nicht sicher .
Wir wissen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es
so einfach nicht ist . Es ist auch unverantwortlich, immer
einfach nur mehr zu fordern . Die Menschen wissen, dass
wir nicht einfach so weitermachen können; denn wür-
den wir es einfach so weiterlaufen lassen – das können
Sie in den Berechnungen von Frau Ministerin Nahles
nachlesen –, würde das Rentenniveau im Jahr 2045 auf
41,7 Prozent sinken, die Beiträge aber auf über 25 Pro-
zent steigen, und das wäre unverantwortlich .
Wir haben ganz andere Probleme, und die Menschen
wissen das. Ich finde, man kann über Generationenge-
rechtigkeit auch in einem Grundton reden, der davon
zeugt, dass wir uns das solidarische Miteinander der Ge-
nerationen und die soziale Gerechtigkeit zum Ziel neh-
men . Wir wissen, dass wir da etwas tun müssen . 1950
haben noch sechs Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
einen Rentner finanziert, heute sind es drei, und 2030
werden es zwei sein . Darauf muss man eine verantwor-
tungsvolle und zukunftsweisende Antwort finden.
Unsere Politik und übrigens der hervorragende Ar-
beitsmarkt, der ja auch etwas mit unserer Politik zu tun
hat, haben dazu beigetragen, dass wir in diesem Jahr die
höchste Rentenerhöhung seit über 25 Jahren hatten . Der
Beitragssatz liegt bei 18,7 Prozent und das Rentenniveau
bei 47,7 Prozent. Das sind gute Zahlen. Das zeigt, dass
gute Rentenpolitik und gute Arbeitsmarktpolitik zusam-
mengehören .
Mir geht es um die Wahrung der Generationengerech-
tigkeit, um das solidarische Miteinander . Wir sozialde-
mokratischen Bundestagsabgeordneten machen keine
wolkigen Rentenversprechungen zulasten der jungen
Generation .
Ich höre immer wieder: Ach, das macht ja nichts, wenn
die Beiträge um 1, 2 oder 3 Prozent steigen.
Aber das ist netto wirklich weniger für die Menschen .
Die Menschen merken das, auch wenn sich Mitglieder
der Linkenfraktion das scheinbar nicht vorstellen kön-
nen . Menschen merken das, wenn eine niedrigere Zahl
auf dem Gehaltszettel steht .
Wir wollen einen Ausgleich zwischen den Genera-
tionen. Denn das ist verantwortungsvolle Politik. Auch
ich danke Ministerin Nahles, dass sie ein umfassendes
Konzept zur Stabilisierung der gesetzlichen Rentenversi-
cherung vorgelegt hat . – Denn wir kümmern uns um alle
Generationen: um gute Renten für die Älteren und um
bezahlbare Beiträge für die Jüngeren, die heute arbeiten .
Damit ist dies auch ein gutes und wichtiges Konzept ge-
gen Altersarmut .
Das Konzept bedeutet Verbesserungen für alle Men-
schen . Das wichtigste Versprechen des Sozialstaates ist,
dass man auch im Alter sicher leben kann . Wir tun et-
was gegen Altersarmut und sorgen dafür, dass der Le-
bensstandard gesichert ist. Deshalb finde ich es so gut,
dass wir gezielt schauen, wo man etwas gegen Altersar-
mut tun muss . Wir haben bei den Erwerbsminderungs-
renten schon einiges verbessert und gehen jetzt in dieser
Koalition weitere Schritte, damit die betroffenen Men-
schen monatlich etwa 100 Euro mehr in der Hand haben
werden . Das hilft echt gegen Altersarmut . Das hilft den
erwerbsgeminderten Menschen wirklich . Das ist verant-
wortungsvolle Rentenpolitik .
Wir wollen auch für die Selbstständigen etwas tun . Wir
haben gesehen, dass auch die Selbstständigen in Gefahr
sind, im Alter arm zu werden . Deshalb ist es aus Sicht der
SPD wichtig, auch die Selbstständigen in die gesetzliche
Rentenversicherung einzubeziehen . Das stärkt die Ren-
tenversicherung, und das hilft den Selbstständigen dabei,
eine gesicherte Altersversorgung zu haben . Deshalb ist
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620544
(C)
(D)
das ein wichtiges Thema, eine wichtige Komponente in
der Rentenpolitik .
Mit der Solidarrente, einer Alterssicherung oberhalb
der Grundsicherung für diejenigen, die 35 Jahre einge-
zahlt haben, machen wir einen weiteren Vorschlag, der
für Sicherheit im Alter sorgt; dadurch wird anerkannt,
dass Menschen gearbeitet haben. Ich finde, das ist eine
richtig gute Sache, um Altersarmut gezielt vorzubeugen .
Der Vorschlag, den Frau Nahles vorgelegt hat, ist im
Gegensatz zu dem von den Linken klar durchgerechnet .
Er ist nachhaltig, er ist umsetzbar, und er würde Verbes-
serungen für alle Menschen bedeuten . Das ist das Gute
daran . Damit gehen wir gezielt gegen Altersarmut vor .
Wir helfen denen, die es wirklich brauchen, und wir sor-
gen für ein solidarisches und nachhaltiges Gesamtkon-
zept . Ich freue mich auf weitere Diskussionen dazu .
Vielen Dank .
Vielen Dank, Kerstin Griese . – Damit schließe ich die
Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/10471 an den in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschuss vorgeschlagen . Sie sind damit ein-
verstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen .
Tagesordnungspunkt 5 b . Wir kommen zur Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zum
Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Rentenni-
veau anheben – Für eine gute, lebensstandardsichernde
Rente“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 18/10517, den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/6878 abzuleh-
nen . Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Dann wird sich niemand mehr ent-
halten . Die Beschlussempfehlung ist angenommen . Zu-
gestimmt haben CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die
Grünen . Dagegen war die Linke .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 35 b und 35 c sowie
die Zusatzpunkte 2 a bis 2 d auf:
35 b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Özcan Mutlu, Tabea Rößner, Kai Gehring,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die digitale Welt verstehen und mitgestal-
ten – Lernen und Lehren digitalisieren
Drucksache 18/6203
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss Digitale Agenda
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Özcan Mutlu, Kai Gehring, Beate Walter-
Rosenheimer, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bildungseinrichtungen fit für die digitale
Gesellschaft und die Zukunft machen
Drucksache 18/10474
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsausschuss
ZP 2 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Dritten Geset-
zes zur Änderung des Bundeswaldgesetzes
Drucksache 18/10456
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Peter Meiwald, Oliver Krischer, Annalena
Baerbock, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Minamata-Konvention zu Quecksilber
unverzüglich ratifizieren
Drucksache 18/7657
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
c) Beratung des Antrags der Abgeordne-
ten Dr . Valerie Wilms, Beate Walter-
Rosenheimer, Harald Ebner, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Nachhaltigkeit im politischen Prozess ver-
ankern
Drucksache 18/10475
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
d) Unterrichtung durch die Bundesregierung
Erster Bericht der Bundesregierung über
die Auswirkungen des Conterganstiftungs-
gesetzes sowie über die gegebenenfalls
notwendige Weiterentwicklung dieser Vor-
schriften
Drucksache 18/8780
Kerstin Griese
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20545
(C)
(D)
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen . Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall . Dann sind die Überweisungen so beschlossen .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 36 a bis 36 l auf . Es
handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist .
Tagesordnungspunkt 36 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Einbeziehung der Bundespolizei in
den Anwendungsbereich des Bundesgebüh-
rengesetzes
Drucksache 18/9759
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses
Drucksache 18/10276
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 18/10276, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/9759 in der
Ausschussfassung anzunehmen . Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um ihr Handzeichen . – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Was macht die Linke? Gar nichts!
– Gut . Dann habe ich links nicht richtig geguckt . Dann
gibt es keine Enthaltungen . – Der Gesetzentwurf ist da-
mit in zweiter Beratung angenommen . Zugestimmt ha-
ben CDU/CSU, SPD und die Linke, enthalten haben sich
die Grünen .
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzent-
wurf ist angenommen . Zugestimmt haben die Linke, die
SPD, die CDU/CSU, enthalten haben sich die Grünen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 36 b auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Umsetzung der Richtlinie 2014/55/EU
über die elektronische Rechnungsstellung im
öffentlichen Auftragswesen
Drucksache 18/9945
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses
Drucksache 18/10287
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 18/10287, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/9945 an-
zunehmen . Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um ihr Handzeichen . – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung angenommen . Zugestimmt
haben CDU/CSU, SPD und die Linke, enthalten haben
sich die Grünen .
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erhe-
ben . – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Gesetzentwurf ist angenommen . Zugestimmt haben
CDU/CSU, SPD und die Linke, enthalten haben sich die
Grünen .
Ich rufe Tagesordnungspunkt 36 c auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Änderung des Versorgungsrück-
lagegesetzes und weiterer dienstrechtlicher
Vorschriften
Drucksachen 18/9532, 18/9834
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses
Drucksache 18/10512
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 18/10512, dem Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 18/9532
und 18/9834 in der Ausschussfassung anzunehmen .
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/10529 vor . Wer
stimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt da-
gegen? – Es enthält sich niemand . Der Änderungsantrag
ist abgelehnt . Zugestimmt haben Bündnis 90/Die Grünen
und die Linke, dagegen waren CDU/CSU und die SPD.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzei-
chen . – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen .
Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, dagegen waren
Bündnis 90/Die Grünen, und enthalten hat sich die Linke .
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist angenommen . Zugestimmt haben CDU/CSU
und SPD, dagegen waren die Grünen, und enthalten hat
sich die Linke .
Ich rufe Tagesordnungspunkt 36 d auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 7. April
2016 zwischen der Regierung der Bundesre-
publik Deutschland und der Regierung der
Französischen Republik über den grenzüber-
Vizepräsidentin Claudia Roth
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620546
(C)
(D)
schreitenden Einsatz von Luftfahrzeugen zur
Ergänzung des Abkommens vom 9. Oktober
1997 über die Zusammenarbeit der Polizei-
und Zollbehörden in den Grenzgebieten
Drucksache 18/9988
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses
Drucksache 18/10492
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 18/10492, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/9988 an-
zunehmen .
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist angenommen . Zugestimmt haben CDU/CSU,
Bündnis 90/Die Grünen und die SPD, dagegen war nie-
mand, und die Linke hat sich enthalten .
Sie haben geguckt, warum Sie gleich aufstehen muss-
ten . Das ist so, weil es sich um ein Vertragsgesetz handelt
und es dazu nur eine zweite Lesung gibt . Das habe ich
auch gerade gelernt .
Ich übergebe an Edelgard Bulmahn und wünsche ei-
nen weiteren schönen Nachmittag .
Es geht weiter mit Tagesordnungspunkt 36 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe zu dem Antrag
der Abgeordneten Annette Groth, Inge Höger,
Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Freiheit für Mumia Abu-Jamal
Drucksachen 18/4722, 18/7349
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/7349, den Antrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 18/4722 abzulehnen . Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Enthält sich jemand? – Dann ist die Be-
schlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition ge-
gen die Stimmen der Opposition angenommen worden .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 36 f auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung und Land-
wirtschaft zu dem Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD
Antibiotika-Resistenzen vermindern – Er-
folgreichen Weg bei Antibiotikaminimierung
in der Human- und Tiermedizin gemeinsam
weitergehen
Drucksachen 18/9789, 18/10308
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf der Drucksache 18/10308, den Antrag der Frak-
tionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/9789
anzunehmen . Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthält sich jemand? –
Damit ist auch diese Beschlussempfehlung mit den
Stimmen der Koalition bei Enthaltung der Opposition
angenommen worden .
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-
titionsausschusses, Tagesordnungspunkte 36 g bis 36 l .
Tagesordnungspunkt 36 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-
onsausschusses
Sammelübersicht 382 zu Petitionen
Drucksache 18/10421
Wer stimmt für diese Sammelübersicht? – Stimmt je-
mand dagegen? – Damit ist Sammelübersicht 382 ein-
stimmig angenommen worden .
Tagesordnungspunkt 36 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-
onsausschusses
Sammelübersicht 383 zu Petitionen
Drucksache 18/10422
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Damit ist die Sammelübersicht 383 mit den
Stimmen der Koalition und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenom-
men worden .
Tagesordnungspunkt 36 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-
onsausschusses
Sammelübersicht 384 zu Petitionen
Drucksache 18/10423
Wer stimmt dafür? – Stimmt jemand dagegen? – Ent-
hält sich jemand? – Damit ist die Sammelübersicht 384
einstimmig angenommen worden .
Tagesordnungspunkt 36 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-
onsausschusses
Sammelübersicht 385 zu Petitionen
Drucksache 18/10424
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthält
sich jemand? – Damit ist die Sammelübersicht 385 mit
den Stimmen der Koalition und der Fraktion Die Linke
gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen ange-
nommen worden .
Tagesordnungspunkt 36 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-
onsausschusses
Sammelübersicht 386 zu Petitionen
Drucksache 18/10425
Vizepräsidentin Claudia Roth
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20547
(C)
(D)
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthält
sich jemand? – Damit ist diese Sammelübersicht mit den
Stimmen der Koalition und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen gegen die Stimmen der Linken angenommen
worden .
Tagesordnungspunkt 36 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-
onsausschusses
Sammelübersicht 387 zu Petitionen
Drucksache 18/10426
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Damit ist
auch diese Sammelübersicht mit den Stimmen der Koa-
lition gegen die Stimmen der Opposition angenommen
worden .
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 sowie den Zusatz-
punkt 3 auf:
6 . Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neu-
ordnung der Verantwortung in der kerntech-
nischen Entsorgung
Drucksachen 18/10353, 18/10482
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
ZP 3 Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/
CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neu-
ordnung der Verantwortung in der kerntech-
nischen Entsorgung
Drucksache 18/10469
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . Gibt es dazu
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall . Dann ist das so
beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in die-
ser Debatte hat Hubertus Heil für die SPD-Fraktion das
Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Kaum eine gesellschaftliche Debatte
hat unser Land über Jahrzehnte so tief gespalten wie die
Auseinandersetzung um die Kernkraft in Deutschland –
beginnend mit den Protesten 1973/1974 in Wyhl am Kai-
serstuhl bis hin zu heftigen Debatten der 70er-, 80er-,
90er- und frühen 2000er-Jahre mit frühen Mahnern wie
beispielsweise Erhard Eppler oder Robert Jungk . Jeder
Einzelne von uns und jede einzelne Partei in diesem
Haus hat im Zusammenhang mit dieser Auseinanderset-
zung eine eigene Geschichte .
Bündnis 90/Die Grünen sind darüber 1980 als grüne
Partei entstanden. Sie waren als erste Partei – seit ihrer
Wiege sozusagen – klare Kernkraftgegner . Die deutsche
Sozialdemokratie hat sich trotz der Tatsache, dass es auch
in der SPD in den 70er- und 80er-Jahren schon massiven
Widerstand gab, erst 1986 auf dem Nürnberger Parteitag
für den geordneten Ausstieg aus der Kernkraft ausge-
sprochen . Die Vorgängerparteien der Linkspartei waren
seit 1989/1990 Gegner der Kernkraft, und CDU/CSU ist
seit 2011, seit dem furchtbaren Unglück in Fukushima,
auch entschieden dagegen . – Was will ich damit sagen?
Eine übergroße Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in
diesem Land ist am Ende dieser Auseinandersetzung zu
Kernkraftgegnern geworden. Alle demokratischen Par-
teien in Deutschland sind mittlerweile für den Ausstieg
aus der Atomkraft . Das ist ein gutes Zeichen . Deshalb ist
es Zeit, diese gesellschaftliche Auseinandersetzung ein
für alle Mal zu beenden .
Wir werden im Jahre 2022 erleben, dass das letzte
deutsche Atomkraftwerk vom Netz geht . Unsere Genera-
tion muss dafür sorgen, dass die Abwicklung der Erblas-
ten des atomaren Zeitalters auf den Weg gebracht wird .
Das heißt ganz konkret, dass wir durch Regelungen in
zwei Bereichen dafür sorgen müssen – das tun wir mit
dem Gesetz, dessen Entwurf wir heute einbringen –, dass
wir den zukünftigen Generationen das ihnen Zustehen-
de hinterlassen . Dazu gehört, die Verantwortung für die
Atomabfälle neu zu regeln . Die Betreiber der Kernkraft-
werke sind auch in Zukunft für die gesamte Abwicklung
und die Finanzierung von Stilllegung, Rückbau und Ver-
packung der radioaktiven Abfälle zuständig; das liegt in
ihrer Verantwortung . Der Bund übernimmt allerdings die
klare Verantwortung für die Zwischen- und Endlagerung .
Finanziell bedeutet das, dass die Betreiber der Atom-
kraftwerke 17,3 Milliarden Euro dafür zur Verfügung
stellen; das sind die Rückstellungen . Hinzu kommt ein
Risikozuschlag in Höhe von 6,1 Milliarden Euro . Diese
insgesamt 23,4 Milliarden Euro wird der Staat in einem
Fonds sichern, der diesem Ziel gewidmet ist .
Es gilt aber nach wie vor – im Sinne des Verursacher-
prinzips – die Nachhaftung . Der Atomausstieg und die
gesamte Energiewende bedingen einen Strukturwandel
in der Energiewirtschaft . Diese veränderten Strukturen
erleben wir gerade in diesen Tagen bei den großen EVUs .
Es muss deshalb klar sein, dass der Staat weiterhin dieje-
nigen in Verantwortung nimmt, die in den Unternehmen
Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620548
(C)
(D)
Verantwortung tragen . Auch hier gilt der Satz: Eltern haf-
ten für ihre Kinder . – Bei Zahlungsunfähigkeit von Kern-
kraftwerksbetreibern müssen deren Mütterunternehmen
die Kosten für Rückbau und Entsorgung tragen .
Der Gesetzentwurf, den wir heute in erster Lesung
beraten, ist kein Regierungsentwurf, sondern ein ge-
meinsamer Fraktionsentwurf von CDU/CSU, SPD und
Bündnis 90/Die Grünen . Ich bin sehr dankbar, dass das
möglich war . Die Basis für diesen Gesetzentwurf wurde
in einer Kommission gelegt, die gründlich, kompetent
und, wie ich finde, sehr umsichtig gearbeitet hat. Ihre
Mitglieder haben mit ihren unterschiedlichsten persön-
lichen Historien und Interessen dafür gesorgt, dass jetzt
Vorschläge vorliegen, die wir in Gesetzesform umsetzen
können . Ich möchte für die Arbeit dieser Kommission
einmal ganz herzlich danken . Viele waren daran betei-
ligt: viele Kolleginnen und Kollegen der Fraktionen
dieses Hauses, kompetente Partner aus Wirtschaft, Wis-
senschaft und Gewerkschaften . Namentlich möchte ich
denjenigen danken, die diese Kommission geleitet ha-
ben: Ole von Beust, Matthias Platzeck und nicht zuletzt
Jürgen Trittin . Sie haben dazu beigetragen, dass es ein
einstimmiges Votum gegeben hat, auf dessen Basis wir
diesen Gesetzentwurf vorlegen konnten .
Ich möchte den Kollegen Trittin persönlich anspre-
chen und ihm herzlich danken, weil er wie wenige andere
einen Beitrag dazu geleistet hat, diese gesellschaftliche
Auseinandersetzung nicht nur heftig zu führen, sondern
auch zu einem guten Ende zu bringen . Das hat er als zu-
ständiger Minister für Umwelt, Naturschutz und Reak-
torsicherheit in der Regierungszeit von Gerhard Schröder
getan, als Gerhard Schröder, Jürgen Trittin und Werner
Müller gemeinsam mit den Energieversorgungsunter-
nehmen den geordneten Ausstieg aus der Atomkraft im
Jahre 2000 vereinbart hatten . Das hat er als Vertreter der
Opposition getan, und das tut er auch im Rahmen sei-
ner parlamentarischen Arbeit in der Kommission . Jürgen
Trittin, ich hoffe, es schadet dir in deiner Fraktion nicht
zu sehr, wenn ich ganz herzlich Danke sage für das, was
du jetzt getan hast und was du in der Vergangenheit getan
hast .
Das Ergebnis dieser KFK ist eine wirklich gute
Grundlage für den heute vorliegenden Gesetzentwurf .
Ich gebe aber zu, dass in nächster Zeit noch heftige Ar-
beit vor uns liegt . Wir wollen unverzüglich, also ohne
schadhaftes Verzögern, aber auch gründlich dafür sorgen,
dass das ein guter Gesetzentwurf ist . Wir werden deshalb
an der einen oder anderen Stelle noch darüber diskutieren
müssen .
Eines ist mir ganz wichtig: Wenn es notwendig ist,
für dieses Gesetz einen öffentlich-rechtlichen Vertrag
zwischen den EVUs und dem Staat zu schließen, damit
alle Rechtsfolgen bedacht sind, dann habe ich die kla-
re Erwartung an die Energieversorgungsunternehmen in
Deutschland, dass sie die Klagen, die im Zuge des Atom-
ausstieges gegen den Staat eingereicht worden sind, zu-
rückziehen .
Wenn wir die Risiken nicht im Sinne einer Staatsbeihil-
fe – das darf es auch nach EU-Recht nicht sein –, sondern
im Sinne von Verantwortungssicherung in die eben be-
schriebene Form überführen, dann muss klar sein, dass
alle den Krieg um die Atomkraft beenden müssen, auch
diejenigen, die ihn verloren haben . Das heißt, es darf kein
Nachtreten geben . Deshalb muss dafür gesorgt werden,
dass wir nicht nur einen gesellschaftlichen, sondern auch
einen Rechtsfrieden haben . Meine Damen und Herren,
wir brauchen genug Kraft, um gemeinsam nach vorne
zu schauen und die Energiewende zum Erfolg zu führen,
und dürfen deshalb nicht in Schlachten der Vergangen-
heit stecken bleiben . Gesellschaftliche Auseinanderset-
zungen sind verantwortungsvoll zu beenden, gerade in
diesen Zeiten . Wir müssen in Deutschland nach vorne
gucken und das atomare Zeitalter hinter uns lassen . Mit
diesem Gesetz leisten wir einen Beitrag dazu, dass die
Finanzierung dessen möglich ist .
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
Als nächster Redner hat Hubertus Zdebel von der
Fraktion Die Linke das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Wenn die Atomkonzerne Eon, Vattenfall,
RWE und EnBW ein Problem haben, springt nicht nur
die Bundesregierung, sondern dieses Mal sogar fast das
gesamte Parlament. Was unter dem verharmlosenden Ti-
tel einer Neuordnung der Atommüllentsorgung beschlos-
sen werden soll, hat offensichtlich nur einen Grund: Den
Atomkonzernen soll ein richtig großes, fettes Weih-
nachtsgeschenk unter den Tannenbaum gelegt werden .
Die Verantwortung für den Rückbau der Atommeiler soll
zwar bei den Konzernen bleiben; aber gegen eine Ein-
malzahlung von etwas über 23 Milliarden Euro – mein
Vorredner hat darauf hingewiesen – sollen die Atomba-
rone von sämtlicher Verantwortung für ihren Atommüll
befreit werden . Sie hatten die Gewinne; für die Bürger
bleiben die Atommüllberge und die Kosten .
Seit vorgestern liegt der Gesetzentwurf von CDU/
CSU, SPD und Grünen vor. Heute findet die erste Lesung
dieses äußerst komplexen Artikelgesetzes im Plenum
statt . Morgen ist die Anhörung mit den Experten, die den
Entwurf bestenfalls überfliegen konnten. Schon in der
Hubertus Heil
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20549
(C)
(D)
nächsten Sitzungswoche wollen Sie dieses Artikelgesetz
mit seinen kostspieligen Folgen verabschieden . Die ganz
große Mehrheit des Parlaments macht sich selbst zur blo-
ßen Abnickmaschine und veranstaltet so eine Farce . Das
ist erschreckend .
CDU/CSU und SPD und unter Trittin als Umweltmi-
nister auch die Grünen hatten Jahrzehnte Zeit, um die
Probleme bei der Finanzierung der Atommülllagerung zu
regeln . Das haben sie verpennt . Heute sagen sie – wir
werden es sicherlich noch hören –, man müsse jetzt han-
deln, weil man einem nackten Mann, den Konzernen,
nicht in die Tasche greifen könne, bzw . wenn man jetzt
nichts tue, wäre das Geld weg . Unglaublich, was hier
abgezogen wird! Die Konzerne stecken sicher in einer
Strukturkrise; aber sie sind potent genug und haben ge-
nügend Substanz . Es gibt keinen vernünftigen Grund, sie
aus der Nachschusspflicht und ihrer Verantwortung für
die Kostenrisiken für die Atommülllagerung zu befreien .
Jahrzehntelang galt als Versprechen: Die Atomkon-
zerne zahlen die Atomzeche auch für die Atommülllage-
rung und den Rückbau der Meiler .
Dieses Versprechen wird nun wie so viele in der miesen
Geschichte der Atomenergienutzung gebrochen, erneut
zum Schaden und auf Kosten der Bürgerinnen und Bür-
ger . Es ist erschreckend, dass es hierfür einen Schulter-
schluss der Großen Koalition mit den Grünen gibt . Sie
wetten auf die Zukunft und setzen das Verursacherprin-
zip außer Kraft .
Die dem Gesetzentwurf zugrundeliegende Kosten-
schätzung ist auf Sand gebaut . Nach allen Erfahrungen
werden die Kosten der Entsorgung steigen . Das zeigt
ganz aktuell die Asse; das wissen Sie alle . Auch der Bun-
desrat hat sich in der letzten Woche klar geäußert .
Ich habe sehr genau verfolgt, was insbesondere die grü-
nen Minister dort vorgetragen haben . Die Länder wollen
nicht auf den Mehrkosten sitzen bleiben und fordern, im
Gesetz klipp und klar zu regeln, dass der Bund die Kos-
tenverantwortung ohne Wenn und Aber übernimmt . Das
ist eine sehr deutliche Aussage .
Ob die prognostizierte langfristige vierprozentige
Verzinsung der in den Fonds einzuzahlenden 23 Milliar-
den Euro tatsächlich eintritt, weiß zum jetzigen Zeitpunkt
niemand. Dabei geht es allerdings nicht um Peanuts,
sondern um riesige Beträge in zweistelliger Milliarden-
höhe . Es kann also für die Steuerzahlerinnen und Steu-
erzahler richtig dicke kommen. Eine Nachschusspflicht
der AKW-Betreiber oder die Pflicht, Rücklagen zu bil-
den – das wäre eine Alternative dazu; wir reden bisher
immer nur über die vermaledeiten Rückstellungen statt
über Rücklagen –, besteht nicht und ist im Gesetzentwurf
auch nicht vorgesehen . Einmal zahlen, und der Atommüll
ist in den Bilanzen der Konzerne für immer vergessen .
Hinzu kommt, dass jetzt die Brennelementesteuer aus-
läuft, wodurch die Konzerne zusätzlich entlastet werden
sollen. Was mit der Trittin-Kommission anfing, wird hier
fortgesetzt .
Es ist unglaublich dreist und skandalös, wie eine ganz
große Koalition sehenden Auges das nächste Milliarden-
geschenk für die Stromkonzerne vorbereitet . Seien Sie
gewiss: Mit uns ist eine Verlagerung der Kosten für den
Atommüll auf die Bürgerinnen und Bürger nicht zu ma-
chen .
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Jetzt hat Dr . Michael Fuchs für die CDU/CSU-Frak-
tion das Wort .
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe
Kolleginnen! Wir haben vor etwas mehr als einem Jahr
mit der Arbeit der Kommission zur Überprüfung der Fi-
nanzierung des Atomenergieausstiegs begonnen, und wir
haben sehr intensiv zusammengearbeitet . Als ich die Lis-
te der 19 Kommissionsmitglieder zum ersten Mal gese-
hen habe, war mein Gedanke: Das wird ja eine muntere
gruppendynamische Übung. Da saß nämlich der Präsi-
dent des BDI neben der Direktorin des WWF und 30 Jah-
ren Kernenergiegeschichte in Deutschland – namentlich
mir gegenübersitzend –; Pro und Kontra waren in einem
Raum versammelt, Schreckgespenster der Kernenergie-
gegner wie auch Schreckgespenster der Kernenergiebe-
fürworter . Wir hatten auch – das war wahrscheinlich gut
so – einen leibhaftigen Bischof unter uns, der am Ende
dafür gesorgt hat, dass wir himmlischen Beistand hatten .
Deswegen war es möglich, dass diese Kommission zu ei-
nem einvernehmlichen Konzept gekommen ist, das wir
einstimmig beschlossen haben .
Entscheidend war: Wir haben in der Kommissions-
arbeit eben nicht die Schlachten der Vergangenheit ge-
schlagen . Wir haben die Ideologie außen vor gelassen,
und das war richtig so . Uns ging es um eine sichere
und – Hubertus Heil hat es schon gesagt – zukunftsfes-
te Lösung, die vor allen Dingen dem Verursacherprinzip
Rechnung trägt und die eine Vielzahl von Streitereien im
Bereich der Kernenergie rechtlich und politisch befrie-
den und beenden soll .
Alles in allem glaube ich, dass die Kommission eine
vernünftige Arbeit abgeliefert hat . Mein Dank geht da-
her an die Mitglieder der Kommission, vorrangig aber
an die drei Vorsitzenden – Hubertus Heil hat sie schon
erwähnt –: Ole von Beust, Matthias Platzeck und Jürgen
Trittin . Lieber Herr Trittin, ich bin mir nicht hundertpro-
zentig sicher, ob Ihnen das schadet . Ich habe es auch nie
Hubertus Zdebel
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620550
(C)
(D)
für möglich gehalten, dass ich in diesem Hause mal einen
Grünen lobe . Aber wenn es Ihnen schadet, ist es ja gut so .
Mein herzliches Dankeschön also besonders an Sie . Ich
muss ehrlich zugeben: Ich habe mir am Anfang der Kom-
missionsarbeit eine so vernünftige Zusammenarbeit nicht
vorstellen können .
Klar ist aber auch: Die Kommissionsarbeit war nur das
Vorspiel . Das Entscheidende kommt jetzt . Wir beginnen
damit heute . Der Gesetzentwurf der Bundesregierung
ist eine ordentliche Grundlage . Er zeichnet wesentliche
Weichenstellungen der Kommissionarbeit nach . Mit die-
sem Gesetzentwurf können wir weiterarbeiten .
Erstens . Die Betreiber der Kernkraftwerke bleiben für
die Stilllegung und den sicheren Rückbau zu 100 Prozent
verantwortlich und auch in der Zahlungsverpflichtung.
Zweitens . Für die Zwischen- und Endlagerung über-
tragen die Energieversorger die Finanzmittel auf einen
Fonds beim Bundesfinanzminister. Grundlage sind rund
17,4 Milliarden Euro, die die Energieversorger hierfür
zurückgestellt haben, wie man in den Bilanzen sehen
kann . Die Kommissionsarbeit hat gezeigt, dass diese
Rückstellungen – das sollte die Linke zumindest wahr-
nehmen – im internationalen Vergleich eher konservativ
als zu hoch berechnet sind . Hinzu kommt ein gemein-
sam von uns berechneter Risikozuschlag in Höhe von
rund 6 Milliarden Euro . Das sind immerhin noch einmal
35 Prozent obendrauf. Am Ende beläuft sich der Gesamt-
betrag auf annähernd 23,5 Milliarden Euro . Dieser wurde
auch von unabhängigen Gutachtern der Bundesregierung
als sachgerecht bestätigt .
Umgekehrt werden die Energieversorger nach Zah-
lung dieses Betrags von einer Nachschusspflicht befreit.
Dieser Ansatz ist für mich sachgerecht . Er setzt das Ver-
ursacherprinzip strikt um und sorgt dafür, dass die Mittel
für Zwischen- und Endlagerung in Zukunft nicht mehr
bei den Unternehmen, sondern beim Staat sind . Umge-
kehrt gewinnen die Energieversorger Planungssicherheit
und ein Stück weit Bilanzsicherheit, was meiner Mei-
nung nach dringend notwendig ist; denn man kann wahr-
lich nicht behaupten, dass es ihnen gerade in letzter Zeit
gut geht . Man schaue sich nur die Verlustbilanzen an .
Am wichtigsten ist für mich aber die dritte zentrale
Weichenstellung der KFK-Empfehlung . Die operative
und die finanzielle Verantwortung für die Zwischen- und
Endlagerung werden zukünftig beim Bund zusammenge-
führt, und zwar für den schwach-, mittel- und hochradi-
oaktiven Abfall . Das heißt aber auch: Der Staat hat es in
Zukunft allein in der Hand, mit den Geldern für die Zwi-
schen- und Endlagerung effizient zu wirtschaften. Es gibt
jetzt keine Ausreden mehr . Das muss schnell gemacht
werden . Wie kann es schnell gehen? Das kann man in
Finnland sehen . Vor zwei Tagen hat im Südwesten Finn-
lands der Bau des Endlagers Olkiluoto begonnen . Ich
gebe zu, dass Finnland etwas weniger stark besiedelt ist
als Deutschland . Aber man hat vor, bis 2023 dieses End-
lager so weit fertiggestellt zu haben, dass es beschickt
werden kann, dass also Abfälle eingelagert werden kön-
nen . Das ist der richtige Weg .
Wir haben ein Budget von 23,5 Milliarden Euro, das
seit dem Frühjahr dieses Jahres dem BMF zur Verfügung
steht . Damit muss gehaushaltet werden . Das liegt im In-
teresse des Steuerzahlers . Dass es bei einem vernünftigen
Verfahren möglich ist, innerhalb eines absehbaren Zeit-
raums ein Endlager zu finden, ist klar. Wir dürfen dann
aber keine Endlosdiskussion in diesem Hohen Hause
beginnen und permanent darüber nachdenken, wo sich
überall ein Loch bohren lässt . Wir dürfen nach Gorleben
nicht weitere Löcher im Bayerischen Wald, im Schwarz-
wald, im Hunsrück oder irgendwo in der Heide bohren .
Wir müssen uns irgendwann entscheiden . Das muss dann
politisch durchgesetzt werden . Das muss dieses Hohe
Haus verantworten .
Dann werden wir mit diesen Summen sicherlich hinkom-
men . Anders werden wir das nicht geregelt bekommen .
Wichtig ist auch, dass wir für den schwach- und mit-
telradioaktiven Abfall endlich den Knoten bei Schacht
Konrad durchschlagen; denn hiervon hängt ein Stück
weit der Rückbau der Kernkraftwerke ab . Ich halte es für
notwendig, dort voranzukommen . Deshalb ist es wichtig,
dass wir auf einen effizienten Fluss der Finanzmittel zwi-
schen Fonds und Betreibergesellschaft achten . Genauso
wichtig ist, dass der effiziente Mitteleinsatz ständig über-
wacht wird . Wir haben eine Kommission gebildet, die
dies tun wird . Ich gehe davon aus, dass wir das in großer
Verantwortung gemeinsam machen werden .
Wichtig ist mir auch, dass wir nach dem international
festgelegten Trennungsprinzip aus dem Euratom-Vertrag
zwischen atomrechtlicher Aufsicht und Betrieb klar tren-
nen und den Sicherheitsfragen sauber Rechnung tragen .
Sicherheitsfragen dürfen mit nichts anderem vermischt
werden . Die richtigen Strukturen und Vorkehrungen hier-
für zu schaffen, das ist unsere Aufgabe im parlamenta-
rischen Verfahren . Ich gehe davon aus, dass wir das in
Kürze machen werden und dass wir mit dem nächsten
Jahr das Kernkraftzeitalter in Deutschland in geordneten
Bahnen abwickeln werden .
Danke .
Als nächster Redner spricht Jürgen Trittin für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit
2001 heißt das Atomgesetz „Gesetz zur geordneten Be-
endigung der Kernenergienutzung … “, und seit 2011
haben wir hierüber einen Konsens . Seit 2009 – übrigens,
Kollege Fuchs, da sollten Sie noch einmal in das von Ih-
nen mit verabschiedete Standortauswahlgesetz schauen –
haben wir auch einen Konsens in diesem Hause darüber,
wie man ein entsprechendes Endlager für den Müll fin-
det; denn mit der Beendigung des atomaren Leistungsbe-
triebs ist das Atomzeitalter nicht vorbei . Heute sprechen
wir über die Chance zu einem dritten Konsens, nämlich
Dr. Michael Fuchs
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20551
(C)
(D)
dem Konsens darüber, wie man die Mittel für die Kosten,
die dafür anfallen – das sind bis zu 170 Milliarden Euro
bis 2099 –, entsprechend sichert .
Ich sage Ihnen deutlich: Dieses Gesetz kommt mit
15 Jahren Verspätung . Ich erinnere mich noch gut, wie
zum Zeitpunkt des Ausstiegs die Unternehmen sich mit
Händen und Füßen dagegen gewehrt haben, dass sie die-
se Mittel in einen Zweckverband übertragen . Der Grund
war einfach: Sie wollten mit hohen Rückstellungen
Steuern sparen . Sie wollten diese als eine Kriegskasse
im Konkurrenzkampf nutzen . Das ist ihnen nicht gut be-
kommen, und das ist übrigens der Gesellschaft nicht gut
bekommen . Nach zehn Jahren Blockade sieht es so aus,
dass Eon, RWE, Vattenfall und EnBW keine EEG-Anla-
gen haben und mit ihren Kohle- und Atomkraftwerken
kein nennenswertes Geld mehr verdienen . Erst jüngst
musste Eon 9,3 Milliarden Euro abschreiben . Ihre Bör-
senkurse haben sich halbiert . Aus dieser schönen Kriegs-
kasse, die man einmal hatte in Form der Rückstellungen,
ist eine Belastung ihrer Kreditwürdigkeit geworden . Sie
haben dann versucht, sich dessen zu entledigen: durch
Umbau, Umstrukturierung und Enthaftung. Plötzlich
haftete der schwedische Staat nicht mehr für Vattenfall .
Genau diesem Versuch, sich der Verantwortung zu ent-
ziehen, schieben wir heute gemeinschaftlich einen Riegel
vor .
Wir haben als Grüne immer dafür plädiert, dass man
das über einen öffentlich-rechtlichen Fonds macht. Die
Bundesregierung hat lange geleugnet, dass das über-
haupt nötig sei . Nun hat Ihnen Ihr eigener Gutachter von
Warth & Klein ins Stammbuch geschrieben, wie hoch
die Wahrscheinlichkeit ist, dass, wenn die Beträge fällig
werden, die Erlöse der Unternehmen diese noch decken:
50 Prozent. 50 Prozent, das ist, als würden Sie eine Mün-
ze werfen, nur dass das in diesem Falle eine 170-Milliar-
den-Euro-Münze ist. Ich finde, mit diesem Risiko sollten
wir alle nicht mehr leben wollen .
Es drohte nämlich, dass die Unternehmen sich aus ihrer
Verantwortung stehlen und dass die Steuerzahler das be-
zahlen, was sie als Stromkunden schon einmal bezahlt
haben . Es drohte die Aushebelung des Verursacherprin-
zips, und dem beugen wir mit diesem Gesetzentwurf vor .
Wir haben das sehr gründlich in dieser Kommission
geprüft . Wir haben Bürgerinitiativen, Sachverständige,
Wirtschaftsprüfer und Ratingagenturen, also alle, die ir-
gendetwas dazu sagen konnten, zu öffentlichen Anhörun-
gen eingeladen . Das Ergebnis ist: Die Höhe der heutigen
Rückstellungen ist international vergleichbar, eher am
oberen Rand, und sie ist – so das Ergebnis der Kommissi-
on – angemessen, um die Kosten von insgesamt 170 Mil-
liarden Euro am Ende zu sichern. Das Problem ist nicht
die Höhe. Das Problem, vor dem wir stehen, ist, dass
diese Mittel nicht mehr sicher sind . Darum geht es . Des-
wegen schlagen wir vor, CDU/CSU, BDI, DGB, WWF,
alle diejenigen, die dort vertreten waren, dass künftig wie
folgt verfahren wird: Die Unternehmen müssen bis 2040
60 Milliarden Euro aufbringen, um rückzubauen und zu
verpacken . Dafür müssen sie künftig ihre Rückstellungen
mit Aktiva unterlegen . Das wird von der Bundesregierung
unter Kontrolle des Bundestages kontrolliert . Sie müssen
unverzüglich mit dem Rückbau anfangen . Das andere ist:
Sie müssen die Mittel für die Zwischen- und Endlage-
rung in einen öffentlich-rechtlichen Fonds überführen –
das sind die 17 Milliarden Euro –, und sie müssen, wenn
sie sich enthaften wollen, noch einmal über 6 Milliarden
Euro als Risikozuschlag obendrauf legen, den sie bisher
nicht hatten . Ein schönes Weihnachtsgeschenk übrigens,
wenn ich eben einmal 23 Milliarden Euro, die ich bisher
nur in den Büchern stehen hatte, ausreiche . Ich habe mir
ein Geschenk bisher anders vorgestellt, liebe Kollegen
von der Linken .
Wir haben erwartet, dass die Unternehmen alle Kla-
gen, die sich auf die Entsorgung beziehen, fallen lassen .
Ich finde, dass damit das Verursacherprinzip sehr viel
besser gesichert ist. Wir schaffen mehr Sicherheit. Wir
müssen nicht mehr bangen oder – wie die Linkspartei –
hoffen, dass die Konzerne bis 2099 nicht pleitegehen und
nicht an irgendwelche Hedgefonds verkauft werden, und
wir hätten dann tatsächlich so etwas wie einen neuen
Konsens .
Ich will aber eines zum Abschluss in aller Deutlichkeit
sagen: Zu einem solchen Konsens passt es nicht, wenn
die Unternehmen weiterhin gegen den ersten Konsens,
gegen den Ausstieg, Schadensersatzklagen erheben, sei
es vor Oberlandesgerichten, sei es vor Schiedsgerichten
in Washington . Konsens bedarf des Rechtsfriedens . Des-
wegen erwarten wir, dass auch solche Klagen zurückge-
nommen werden . Dann wird aus dem Ausstiegskonsens
ein Entsorgungskonsens .
Als nächste Rednerin spricht Dr . Nina Scheer für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen
und Kollegen! Ich möchte mit der Frage anfangen, wie
wir überhaupt in diese Situation kommen konnten . Man
muss konstatieren, dass im Grunde genommen die Fra-
gen, die wir jetzt klären, schon zu Beginn der Atome-
nergienutzung hätten geklärt werden müssen . Man hätte
eigentlich die Betriebsgenehmigung für Atomkraftwerke
gar nicht erteilen dürfen, wenn genau die Dinge, die wir
jetzt – Jahrzehnte später – klären, damals schon geklärt
worden wären. Man hätte damit eine Verpflichtung for-
muliert, die wahrscheinlich verhindert hätte, dass wir
je Atomenergie genutzt hätten . Ich will damit sagen: Es
wurde damals unterlassen, und es war eine politische
Entscheidung, das zu unterlassen . Und genau dieses lässt
sich nach Jahrzehnten nicht mehr zurückschrauben . Ge-
nau darin liegt jetzt auch die politische Verantwortung,
noch das an Möglichkeiten der Vermögenssicherung zu
nutzen, was durch politische Entscheidungen stattfinden
Jürgen Trittin
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620552
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kann, um zu vermeiden – was gerade eben schon geschil-
dert wurde –, dass Geld für die Nachsorge und die ganze
Abwicklung der Atomenergienutzung und die Endlage-
rung verloren geht .
Ich denke, es ist ein überfälliger Prozess, der jetzt ein-
geleitet wird und eingeleitet werden muss . Diese Zäsur,
die mit dem Gesetzentwurf vorgenommen wird, hat na-
türlich in starkem Maße das Verursacherprinzip zu be-
rücksichtigen . Das Verursacherprinzip sagt im Grunde
genommen, dass die Verantwortlichkeit komplett bei den
Atomkraftwerksbetreibern liegt . Natürlich ist das auch
die Erwartungshaltung, die in der Öffentlichkeit zu sehr
viel Misstrauen führt, wenn es darum geht, dass wir mit
der Fondslösung und den Abwicklungsmöglichkeiten
jetzt quasi eine Enthaftungsregelung schaffen. Ich den-
ke, wir müssen in der Öffentlichkeit ganz klar deutlich
machen, dass uns das sehr bewusst ist, dass wir hier über
das Verursacherprinzip eine grundsätzliche Verantwor-
tung der Betreiber haben, aber gleichwohl auch damit
umgehen müssen, dass wir, wenn wir keine Regelung
treffen, möglicherweise eine Gesamtlast beim Steuerzah-
ler haben .
Insofern bleibt uns nichts anderes übrig, als diese
Lösung jetzt sobald wie möglich zu gestalten, natürlich
möglichst auch mit parlamentarischer Beteiligung . Die
Kommission hat eine sehr gute Vorarbeit geleistet, und
wir müssen jetzt dafür sorgen, dass im parlamentarischen
Prozess noch weitere Veränderungen vorgenommen wer-
den .
Ich sehe zum Beispiel – das wurde auch schon er-
wähnt – eine ganz große Aufgabe darin, dass natürlich
die Klagen zurückgenommen werden . Es kann nicht sein,
dass wir hier verhandeln – es ist eine Verhandlung not-
wendig, in einem öffentlich-rechtlichen Vertrag müssen
die Details geklärt werden, die können wir gesetzlich
nicht regeln – und uns mit den Konzernen an einen Tisch
setzen, die gleichzeitig die Bundesrepublik Deutschland
verklagen . Das geht nicht . Deswegen müssen wir unbe-
dingt zu einer Klagerücknahme kommen .
Ich möchte so weit gehen, zu sagen: Die Betreiber
sollten sich vergegenwärtigen, dass wir durchaus Gestal-
tungsmöglichkeiten haben, wenn sie ihre Klagen nicht
zurückziehen . Natürlich könnte man darüber nachden-
ken, ob die konsensual gefundene Vermögensbemessung
noch so stichhaltig ist, wenn sich die Vermögensmasse
im Nachhinein noch zulasten des Staates verschieben
würde . Das könnte man ja noch machen . Insofern möchte
ich an dieser Stelle einen Appell an die Konzerne richten,
dass sie sich gut überlegen, ob sie in diesen Prozess hin-
eingehen, ohne ihre Klagen zurückgenommen zu haben .
Ich möchte noch auf einen weiteren Punkt hinweisen,
den wir uns für die parlamentarischen Beratungen vor-
nehmen sollten . Es gibt verschiedene Segmente der Haf-
tungsregelungen . Es gibt einmal den Bereich des Rück-
baus, der Verpackung . Dieser Bereich liegt weiterhin in
der Verantwortlichkeit der Betreiber; insofern ist nicht
ganz richtig, was hier vorhin dargestellt wurde . Darüber
hinaus gibt es den Bereich der Zwischenlagerung und
der Endlagerung . Wir haben mit dem Nachhaftungsge-
setz schon im letzten Jahr versucht – das ist übrigens von
der Union damals leider blockiert worden –, zu regeln,
dass Vermögen weder durch die Insolvenz noch durch
die Aufspaltung von Unternehmen verloren gehen kann .
Durch Verabschiedung des vorliegenden Gesetzentwurfs
würde gesichert, dass weder durch Aufspaltung noch
durch Pleitegehen von Konzernen ein Vermögensverlust
stattfindet.
Für einen kleinen Teilbereich haben wir das aber noch
nicht sicherstellen können. Er betrifft den Rückbau und
die Verpackung . Was das Risiko angeht, dass in diesem
Bereich etwas passiert, sollten wir als Parlamentarier
noch einmal genau hinschauen, ob wir da nicht noch
nachbessern können . Die Kommission konnte diesen
Gesichtspunkt nicht in vollem Umfang aufgreifen, weil
sie gearbeitet hat, als das Nachhaftungsgesetz noch im
parlamentarischen Prozess war.
Als allerletzten Punkt möchte ich sagen, dass mir
sehr daran gelegen ist, dass man darauf achtet, dass die
aus den Fondsmitteln getätigten Geldanlagen nachhaltig
sind . Diese Mittel sollten nicht auf verstecktem Weg zur
Finanzierung von irgendwelchen Kernenergiegewin-
nungsvorhaben oder anderweitigen nicht nachhaltigen
Energiegewinnungsmöglichkeiten eingesetzt werden .
Ich finde, wir sollten Wert darauf legen, dass dafür eine
Regelung getroffen wird.
Vielen Dank .
Als nächster Redner hat Dr . Georg Nüßlein für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Der
Ausstieg aus der Kernenergie steht fest . Wir alle erleben
momentan auch politisch, wie schwierig es ist, die Kern-
kraftwerke unter den Restriktionen des Klimaschutzes
in einer verlässlichen und kostengünstigen Art und Wei-
se zu ersetzen . Neben dieser Großbaustelle gibt es eine
andere mit dem Kernenergieausstieg in Zusammenhang
stehende Großbaustelle, nämlich die Frage des Rück-
baus, der Zwischenlager und der Endlager . Wie alle mei-
ne Vorredner möchte ich betonen, wie wichtig in diesem
Zusammenhang der gefundene Konsens ist . Ich spüre
schon manchmal – übrigens hat es sich ganz am Anfang
der Rede der Kollegin Scheer auch so angedeutet –, wie
uns noch die alten Kampflinien beschäftigen.
– Das gilt für beide Seiten; keine Sorge. Da differenziere
ich nicht .
Dr. Nina Scheer
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20553
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(D)
Auch wenn man sich unsere Energiepolitik ansieht,
erlebt man, wie stark wir oft nur auf das Thema Strom
fixiert sind. Das hängt natürlich auch damit zusammen,
dass wir die Themen Wärme, Verkehr usw . etwas ver-
nachlässigen . Aus der alten Kampfposition heraus haben
wir eine Energiedebatte immer unter dem Gesichtspunkt
„Strom durch Kernenergienutzung“ geführt . Ich wür-
de mir wünschen, dass wir da bei der Behandlung des
Gesamtthemas mit dem heutigen Tag nach und nach he-
rausfinden.
Natürlich ist es schwierig, einen solchen Konsens zu
finden. Es gab zwei Dinge, die uns von Anfang an vereint
haben, Michael Fuchs: erstens, dass uns allen miteinan-
der in der Kommission klar war, dass das Verursacher-
prinzip nicht infrage gestellt wird, und, zweitens, dass es
darum geht, die Verursacher tatsächlich in die Haftung
zu nehmen, und zwar dauerhaft, und durchsetzen zu
können, dass der Ausstieg nicht zulasten des Steuerzah-
lers geht, wie es uns die Linke jetzt an dieser Stelle gern
unterjubeln möchte. Ich finde, Ihre Weitsicht, die Sie in
wirtschaftspolitischen Fragen sonst nicht so unter Be-
weis stellen, schon bemerkenswert . Sie stellen sich hier-
hin und sagen, Sie hätten ganz klare Erkenntnisse, dass
die Energieversorger für die Zukunft substanziell ausrei-
chend gut aufgestellt sind . So habe ich Sie jedenfalls ver-
standen, und so haben Sie es auch formuliert . Das halte
ich für falsch . Ich glaube, dass wir hier zu Recht Hand-
lungsbedarf gesehen haben .
Nun ist es aber eine komplizierte Materie, und zwar
sowohl was den Diskontierungszinssatz angeht – da spielt
uns der Herr Draghi manches an Tragik in die Bilanzen,
übrigens auch in andere Bilanzen – als auch hinsichtlich
der Frage, wie groß so ein Risikoaufschlag ist . Umso be-
merkenswerter ist es, dass wir uns – auch wenn das nicht
mathematisch genau geht, weil es keine unumstößlichen
Dinge gibt – am Schluss auf den Konsens geeinigt haben,
der hier so wichtig ist .
Nun ist das in der Tat – das möchte ich betonen – ein
Verdienst von Herrn Trittin, auch wenn es sein kann, dass
das ein Totalschaden für einen Grünen ist, wenn sich die
CSU dem Lob anschließt . Aber Sie haben natürlich sehr
integrativ Ihre Seite mit zur Verantwortung gezogen –
das fand ich bemerkenswert –, und das kann man in einer
solchen Debatte nicht oft genug herausstellen, meine Da-
men und Herren .
Ich sage Ihnen auch: Für mich hat diese Thematik na-
türlich auch eine regionale Bedeutung . In meinem Wahl-
kreis ist nicht nur das Kernkraftwerk Gundremmingen,
sondern damit auch ein Zwischenlager . Da könnte ich zu
der Rolle von Herrn Trittin seinerzeit etwas anderes, we-
niger Gutes sagen . Wir haben uns das Zwischenlager an
dieser Stelle jedenfalls nicht gewünscht . Ich will nicht sa-
gen, dass das bei mir akzeptiert wird, aber es wird als un-
vermeidbares Übel hingenommen . Ich sage Ihnen auch –
da muss man kein Prophet sein –: Es wird hingenommen,
solange das Kernkraftwerk läuft . Ich bin sicher, dass sich
die Perspektive der Bürgerinnen und Bürger mit Blick
auf das Zwischenlager in der Sekunde des Abschaltens
komplett ändern wird . Deshalb ist es, glaube ich, ein gu-
ter Ansatz, dass wir uns nicht nur um das Geld kümmern,
sondern auch um die Verantwortlichkeit des Staates und
klarmachen: Für dieses Zwischenlager ist am Ende der
Staat zuständig, und zwar insbesondere auch für die Si-
cherheit dieses Zwischenlagers . Das ist, glaube ich, eine
vertrauensbildende Maßnahme für die Menschen .
Natürlich haben die Menschen auch die Erwartung,
dass das Zwischenlager das ist, was der Name andeu-
tet, nämlich eine Zwischen-, eine Übergangslösung, und
nicht ein faktisches Endlager . Deshalb wächst natürlich
mit der Übernahme durch den Staat unsere Verantwor-
tung, dafür Sorge zu tragen, dass es am Schluss tatsäch-
lich diese Endlagermöglichkeit gibt, noch mehr .
Da bin ich noch einmal beim Verursacherprinzip: Na-
türlich sind die Konzerne verantwortlich für das, was sie
verursacht haben . Aber sie sind nicht dafür verantwort-
lich zu machen, meine Damen und Herren, wenn es in
Zukunft Ränkespiele bei der Thematik Endlagersuche
geben sollte . Auch das haben wir bei dem, was wir hier
beschließen wollen, sehr weise mit eingeplant: dass die
Konzerne nicht für politische Schwierigkeiten zur Ver-
antwortung gezogen werden . Das, meine ich, sollten und
dürfen wir unserer Wirtschaft nicht antun .
Ich glaube umgekehrt aber auch, dass wir mit ihnen
das Thema Klageverzicht – dazu haben wir heute ei-
niges gehört – durchaus offen und offensiv diskutieren
müssen . Natürlich gehört es auch zu einem gemeinsamen
Konsens, keine gerichtlichen Auseinandersetzungen von
gestern und vorgestern zu führen . Deshalb halte ich es
für entscheidend, dass wir in dieses Gesetz die Mög-
lichkeit einbauen, einen öffentlich-rechtlichen Vertrag
abzuschließen . Das ist auch deshalb wichtig, weil sich
die Konzernführungen nach dem Aktienrecht gar nicht so
leicht tun, auf Klagen zu verzichten – übrigens auch nicht
vor dem Hintergrund einer Gesetzeslage, wie wir sie hier
beschließen wollen . Auch hier geht es ja um die Frage,
wenn wir ihnen das aufoktroyieren, ob es ihnen möglich
ist, einfach zu sagen: Das machen wir nicht . – Es stellt
sich die Frage, ob es einen Ansatz gibt, aus der Thematik
aktienrechtlich herauszukommen . Ich glaube, da ist der
öffentlich-rechtliche Vertrag ein entscheidender Ansatz,
um das noch einmal anzugehen .
Ob wir die Anlagestrategie, Frau Kollegin Scheer, also
was das Bundesfinanzministerium mit dem ihm zuwach-
senden Geld tun soll, schon gemeinschaftlich im Gesetz
beschließen müssen: Mir wäre es wichtig, dass das Geld
so intelligent angelegt wird, dass der Diskontierungszins-
satz in Zukunft tatsächlich etwas mit der Realität zu tun
hat . Das ist schwer genug .
Herr Kollege Nüßlein, ich habe verzweifelt auf eine
Atempause gewartet, weil die Kollegin Kotting-Uhl Ih-
nen gerne eine Zwischenfrage stellen möchte . Lassen Sie
das zu?
Dr. Georg Nüßlein
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620554
(C)
(D)
Wenn die Kollegin selber kein Rederecht hatte, dann
kann sie jetzt gerne eine Zwischenfrage stellen .
Wunderbar .
Ich werde schon noch dazu reden; keine Sorge . – Der
Punkt, zu dem ich Sie etwas fragen möchte, liegt schon
ein bisschen zurück, aber Sie haben Ihre Rede noch im
Kopf .
Sie haben vorhin gesagt, man dürfe die Konzerne nicht
in die finanzielle Verantwortung nehmen, wenn es um
politische Schwierigkeiten bei der Endlagersuche geht .
Ich habe mir jetzt überlegt, was für politische Schwierig-
keiten bei der Endlagersuche Sie denn meinen könnten .
Ich möchte Sie daher fragen: Meinen Sie zum Beispiel,
dass Bayern, das vorab schon einmal erklärt hat, dass in
Bayern überhaupt nichts für ein Endlager infrage kommt,
sich weigert, es zu akzeptieren, wenn man bei der Suche
in Bayern zu Ergebnissen kommt? „Politische Schwie-
rigkeiten“, ist das in diesem Sinne gemeint?
Liebe Kollegin, die Einschätzung Bayerns fußt auf ei-
ner Würdigung der geologischen Situation, die das aus
unserer Sicht an der Stelle unmöglich macht .
Was ich mit politischen Ränkespielen gemeint habe,
ist das, was wir bei Gorleben schon einmal erlebt haben,
nämlich dass es bis zum heutigen Tag und nach hohen
Investitionen keine technischen Einwendungen gegen
Gorleben gibt, unter anderem Sie aber alles dafür getan
haben, Gorleben aus der Endlagersuche komplett heraus-
zuhalten .
Das ist das, was ich meine: dass man nicht am Schluss
die Konzerne zur Kasse bitten kann, nur weil die einen
oder anderen an der einen oder anderen Stelle unwillig
sind .
– Warten Sie doch einmal ab, ob wir mit unserer geolo-
gischen Einschätzung an dieser Stelle tatsächlich recht
haben . Das wird sich erweisen .
Jetzt haben wir immerhin die Hoffnung, dass wir die-
ses Gesamtthema zügig so voranbringen, wie es unserer
Verantwortung entspricht . Wir halten die Konzerne in der
Verantwortung . Wir tun alles dafür, dass an dieser Stelle
keine neuen Kampflinien aufbrechen. Ich wünsche mir
auf allen Ebenen Rechtsfrieden . Das würde der Thematik
guttun . Wie ich einleitend gesagt habe: Wir haben genü-
gend andere Schwierigkeiten . Wir müssen uns jetzt et-
was einfallen lassen, wie man dieses Land klimaschutz-
gerecht, aber auch so, dass Versorgungssicherheit besteht
und der Preis passt, mit Strom versorgt. Das wäre unsere
eigentliche Aufgabe .
In diesem Sinne herzlichen Dank fürs Zuhören .
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe
auf den Drucksachen 18/10353, 18/10482 und 18/10469
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen . Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das
ist nicht der Fall . Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
– Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Weiterentwicklung der steu-
erlichen Verlustverrechnung bei Körper-
schaften
Drucksachen 18/9986, 18/10348, 18/10444
Nr. 1.7
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz-
ausschusses
Drucksache 18/10495
Drucksache 18/10504
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . Gibt es dazu
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall . Dann ist das so
beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat
Dr. Philipp Murmann für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Hier liegt ein gutes Gesetz vor, auf das viele von uns
schon lange gewartet haben . Ich denke, es ist auch eine
gute Nachricht für den Unternehmensstandort Deutsch-
land, dass wir heute in dieser Diskussion zum Schluss
kommen und das Gesetz verabschieden .
Was ist das Ziel? Das Ziel ist die Stärkung junger und
innovativer Unternehmen durch die Möglichkeit, neue
Investoren aufzunehmen, ohne dadurch die steuerlich
nicht genutzten Verluste zu verlieren . Es soll die Mög-
lichkeit bestehen, Verluste, die in frühen Phasen ange-
fallen sind, mit späteren Gewinnen zu verrechnen und
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20555
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(D)
dadurch Eigenkapital zu bilden . Ich denke, genau dieses
Ziel können wir mit diesem Gesetz erreichen .
– Genau . Ich denke auch, es lohnt sich .
Wie können wir das Ziel erreichen? Wir schaffen ein
neues Instrument, nämlich § 8d Körperschaftsteuerge-
setz. Er eröffnet sozusagen ein neues Gebäude. Er gibt
den Unternehmen die Möglichkeit, auf Antrag von dem
Gebäude des bisherigen § 8c in das neue Gebäude des
§ 8d zu wechseln, um die Verluste, die bisher angefallen
sind, mit zukünftigen Gewinnen verrechnen zu können,
wie ich es eben schon ausgeführt habe . Dazu müssen die
Unternehmen entweder neu sein oder seit drei Jahren
denselben Geschäftsbetrieb geführt haben . Damit wollen
wir verhindern, dass nicht irgendwelche alten Verluste
aus Geschäftsbetrieben, die damit nichts zu tun haben,
auch noch mit verrechnet werden können . Ich denke, die
Möglichkeit, das mit diesem neuen Gebäude zu lösen, ist
eine sehr gute Idee . Wer immer die Idee im BMF hatte,
dem müssen wir herzlich dafür danken .
[SPD]: Das war das Finanzministerium NRW!
Aber wunderbar! Wir verteilen Lorbeeren an
alle, die es verdienen!)
– Aus dem Finanzministerium NRW . Normalerweise
sind es nicht Einzelne, die solche Ideen generieren, son-
dern sie werden in einem Dialog entwickelt und dann zu
Papier gebracht, was dann immer noch eine besondere
Leistung darstellt .
Was heißt „Geschäftsbetrieb“? Das heißt, dieser Ge-
schäftsbetrieb muss bestimmte Anforderungen erfüllen .
Er darf nicht ruhend gestellt werden, er darf keiner ande-
ren Zweckbestimmung zugeführt werden, er darf keinen
zusätzlichen Geschäftsbetrieb aufnehmen, er darf keine
Beteiligung an Mitunternehmerschaften eingehen, und
er darf keine Wirtschaftsgüter zu einem geringeren als
dem gemeinen Wert übertragen bekommen . Warum ist
das alles so? Das klingt kompliziert . Das ist so, um zu
vermeiden, dass irgendwelche Verluste aus anderen Ge-
schäften, die vielleicht vorhanden sind, in den neuen § 8d
Körperschaftsteuergesetz hineinwandern . So wollen wir
Steuerverluste eindämmen, die früher durch Mantelkäu-
fe – man kauft eine GmbH, die nur Verluste, aber keinen
Geschäftsbetrieb mehr hat, und nutzt die Verluste, um
irgendetwas anderes zu machen – möglich waren . Das
wollen wir verhindern .
Wir haben lange darüber diskutiert: Was bedeutet
„Geschäftsbetrieb“, und was bedeutet es, diesen fortzu-
führen? Wie attraktiv ist der neue § 8d Körperschaftsteu-
ergesetz für junge Unternehmen? Die jungen Unterneh-
mer haben uns in der Anhörung gesagt: Es sei überfällig,
dass das Gesetz kommt; denn die großen Unternehmen
können Verluste aus ihrem Unternehmen schon immer
innerhalb des Unternehmens mit Gewinnen verrechnen .
Kleine und junge Unternehmen können das nicht . – In-
sofern haben wir damit ein Tor für die jungen Unterneh-
men geöffnet, neue Investoren aufzunehmen. Das ist der
wichtigste Aspekt .
Wir haben mit dem BMF und in den Berichterstatter-
gesprächen lange diskutiert . Natürlich ist es bei jungen
Unternehmen so, dass der Geschäftsbetrieb nicht gerad-
linig verläuft, sondern es gibt auch Veränderungen . Am
Anfang hat man eine Idee, mit der man beginnt . Diese
verändert sich dann leicht . Diese Veränderung muss und
wird auch möglich sein . Aber die Unternehmensidentität
darf nicht geändert werden . Das ist ein wichtiges Merk-
mal, an das man sich halten sollte .
Die Grünen werden sich leider kraftvoll enthalten,
obwohl wir lange darüber diskutiert haben . Sie sind der
Meinung, diese Regelung im Gesetzentwurf sei zu eng
gefasst . Darüber kann man reden . Sie meinen, man sollte
sie breiter fassen . Die Linken stimmen dagegen . Ihnen
ist es zu weit gefasst . Also, man sieht, die Diskussion ist
durchaus unterschiedlich . Insofern haben wir einen guten
Kompromiss gefunden, den wir jetzt in die Tat umsetzen
wollen, um endlich zu beginnen .
Das Thema „EU-Konformität“ haben wir auch inten-
siv diskutiert . Wir haben keinen Comfort Letter bekom-
men . Das BMF und das BMWi haben keinen Comfort
Letter bekommen . Insofern gibt es ein gewisses Risiko .
Wir denken aber, das Risiko ist vertretbar; denn der ge-
plante § 8d Körperschaftsteuergesetz gilt grundsätzlich
für alle Unternehmen . Es ist auch ein formelles Bestre-
ben der EU-Kommission, dass gerade junge Wachstums-
unternehmen durch alle möglichen Maßnahmen gestärkt
werden . Genau dem tragen wir mit diesem Gesetz Rech-
nung . Also setzen wir es auch ohne Vorbehalt in Kraft .
Ich denke, das ist auch gut so .
Ganz zum Schluss noch vier kurze Aspekte .
Erstens: Wirkung zum 1 . Januar 2016 . Dies hat den
Vorteil, dass alle Anteilsübertragungen schon in diesem
Jahr mit eingehen .
Zweitens: Evaluierung nach drei Jahren . Nach drei
Jahren werden wir uns das noch einmal ansehen und
prüfen: Wie attraktiv ist das Gesetz überhaupt? Wie vie-
le Anträge sind gestellt worden? Müssen wir vielleicht
noch einmal nachjustieren?
Drittens . Die Kommunalpolitiker schauen immer
besonders auf ihre Zahlen . In der kleinen Tabelle steht:
235 Millionen Euro Steuerausfälle bei den Kommunen .
Dabei muss man nur immer schauen, welche Kommunen
es denn trifft. Es sind natürlich die Kommunen, in denen
es junge Wachstumsunternehmen gibt, die neue Investo-
ren finden und damit in den Genuss des neuen § 8d Kör-
perschaftsteuergesetz kommen, also nicht die Kommu-
nen, die vielleicht sowieso finanziell extrem unter Druck
stehen . Es sind in der Regel Kommunen, die Gewerbebe-
triebe haben, die Körperschaften haben, die überhaupt in
der Lage sind, den neuen Paragrafen anzuwenden.
Der vierte und letzte Punkt: ein herzliches Dankeschön
an alle, die daran mitgewirkt haben . Heinz Riesenhuber
hat heute nicht nur Geburtstag, sondern ist auch einer
der Väter zumindest des Antriebs dieses Gesetzes . Ins-
besondere gilt der Dank den Mitarbeitern des BMF, auch
Ihnen, Herr Dr . Meister, aber auch den Mitarbeitern des
Dr. Philipp Murmann
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620556
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Wirtschaftsministeriums sowie Helge Braun vom Bun-
deskanzleramt, der das Ganze positiv koordiniert hat;
denn am Ende ist etwas Gutes herausgekommen . Inso-
fern möchte ich Sie bitten, ein positives Zeichen zu set-
zen und diesem guten Gesetz zuzustimmen .
Herzlichen Dank .
Als nächster Redner spricht Richard Pitterle für die
Fraktion Die Linke .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-
ginnen und Kollegen! Liebe Besucher auf der Tribüne!
Stellen wir uns mal klischeehaft vor, eine Gruppe junger,
dynamischer Studentinnen und Studenten hat eine inno-
vative Geschäftsidee und gründet ein Unternehmen, ein
sogenanntes Start-up . Dazu brauchen sie zu Anfang und
in den ersten Jahren immer wieder frisches Geld, viel-
leicht auch, weil nicht alles gleich so läuft, wie sie es sich
vorgestellt haben, und weil das neugeborene Unterneh-
men erst einmal nur Verluste einfährt . Das ist bekanntlich
eine schwierige Phase.
So . Und nun kommt die Bundesregierung mit einem
Gesetz daher, das etwas sperrig heißt: „Gesetz zur Wei-
terentwicklung der steuerlichen Verlustverrechnung bei
Körperschaften“ . Damit wollen Sie nach Ihren Bekun-
dungen Unternehmen, insbesondere auch Start-ups, un-
ter die Arme greifen . Die potenziellen Geldgeber sollen
nämlich in unser Start-up-Unternehmen investieren und
dafür die Verluste, die das Start-up in den ersten Jahren
gemacht hat, vereinfacht gesagt, steuerlich verrechnen
können . So weit, so gut .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass junge klei-
ne und mittlere Unternehmen in ihrer Gründungsphase
gefördert werden sollen, klingt ja erst mal sehr nett . Ich
habe wirklich angenommen, dass der Großen Koalition
endlich mal ein vernünftiges Gesetz gelungen ist . Aber
für die Ausführung bekommen Sie von mir eine saftige
Fünf; denn das Gesetz hat enorme Schwachstellen . Ich
will Ihnen drei davon nennen .
Erstens . Es ist gestaltungsanfällig, soll heißen, es er-
öffnet wieder einmal Spielraum für ein gezieltes Inves-
tieren findiger Spekulanten, die Unternehmensverluste
nur für steuerliche Vorteile nutzen wollen . Darauf hat
übrigens auch der Bundesrat hingewiesen und gar von
„erheblichem Gestaltungspotenzial“ gesprochen . Das
hängt auch damit zusammen, dass die Bundesregierung
hier wieder einmal eine so komplizierte Regelung vor-
legt, dass sogar den Juristen bereits nach kurzer Zeit die
Augen wehtun .
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koali-
tion, wir von der Linken haben es wirklich satt, dass Sie
immer wieder Gesetze verabschieden, die den Konzer-
nen stets neue Steuerumgehungsmöglichkeiten bieten .
Zweitens . Der Gesetzentwurf geht mit erheblichen
Steuermindereinnahmen einher . Im Entwurf selbst wer-
den die Mindereinnahmen auf insgesamt 600 Millionen
Euro jährlich beziffert. Das trifft vor allem die Kommu-
nen eiskalt – wir haben es schon gehört –: 235 Millionen
Euro werden den Gemeinden für Straßen, Schulen und
Krankenhäuser fehlen .
Das ist bei weitem nicht das Schlimmste. In der öffent-
lichen Anhörung zum Gesetzentwurf wurde vom Sach-
verständigen Professor Jarass erörtert, dass es bei voller
Nutzung aller Verlustvorträge durch die deutschen Kapi-
talgesellschaften knüppeldick käme; denn dann könnten
in den nächsten Jahren Steuerausfälle von insgesamt bis
zu 150 Milliarden Euro drohen .
Meine Damen und Herren, das ist schlichtweg eine Kata-
strophe auf Kosten der Gemeinschaft der Steuerzahlerin-
nen und Steuerzahler .
Dritter und letzter Punkt und sozusagen das i-Tüp-
felchen: Insbesondere Start-ups werden wahrscheinlich
überhaupt nicht von den Regelungen profitieren. Die
Möglichkeit der steuerlichen Verlustverrechnung ist
nämlich an die Voraussetzung gebunden, dass das Un-
ternehmen seit mindestens drei Jahren bzw . seit seiner
Gründung ausschließlich denselben Geschäftsbetrieb un-
terhält .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere in den
ersten Jahren nach Gründung gibt es bei Start-up-Unter-
nehmen noch laufend Anpassungsbedarf und entspre-
chende Umstrukturierungen . Zum Beispiel kann es sein,
dass Abläufe in der Produktion oder vielleicht auch das
Produkt selber geändert werden müssen, um am Markt
die richtige Nische zu finden. Genau das wäre dann aber
möglicherweise ein Ausschlussgrund, um in den Genuss
Ihres Steuergeschenkes zu kommen .
Wenn aber insbesondere die, die von einem Gesetzent-
wurf explizit profitieren sollen, am Ende gar nichts davon
haben, dann ist das ganz, ganz schlechte Gesetzgebungs-
arbeit .
Meine Damen und Herren von der Großen Koalition,
mit diesem Gesetz werden Sie nicht den kleinen Start-
ups helfen, sondern wieder einmal unter Inkaufnahme
erheblicher Steuermindereinnahmen Tür und Tor für die
großen Zocker öffnen. Die Linke kann dieses Gesetz nur
ablehnen .
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Dr. Philipp Murmann
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20557
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(D)
Vielen Dank . – Jetzt hat der Kollege Lothar Binding,
SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist ein kompli-
ziertes Gesetz . Normalerweise ist es ja so: Sie bekommen
Lohn und zahlen Lohnsteuer . Jemand macht Gewinn mit
einem Unternehmen, dann zahlt er Gewinnsteuer . Hat er
im letzten Jahr Verlust gemacht, dann kann er die Verlus-
te in diesem Jahr mit dem Gewinn verrechnen .
Das ist auch fair; denn so kann man den Gewinn über die
Jahre korrekt versteuern . Bis dahin ist alles in Ordnung .
Nun gab es in der Vergangenheit Menschen, die ange-
fangen haben, Verluste zu sammeln und so zu sortieren,
dass sie, wann immer ein Gewinn eingefahren wurde,
diesen Gewinn aus steuerlichen Gründen vernichtet ha-
ben, um Steuern zu sparen . Das nannten wir Mantelkauf .
Die Leute haben „Mäntel“ gekauft, die alte Verluste
enthalten haben, um sie über junge Gewinne zu legen,
sodass man keine Steuern mehr bezahlt . Das wollen wir
verhindern . Das hat bei uns einen kurzen Namen: Es
heißt Körperschaftsteuergesetz § 8c . Er hat auch richtig
gut funktioniert .
Natürlich hatte das alte Gesetz Schwachstellen . Kol-
lege Pitterle hat jetzt gesagt: Das neue Gesetz hat auch
Schwachstellen. Ich muss ihm in allen drei Punkten, die
er aufgeführt hat, recht geben .
Es ist gestaltungsanfällig, wie im Übrigen jedes Ge-
setz . Wir kennen kein Gesetz, das nicht gestaltungsanfäl-
lig ist; denn kaum gibt es ein Hindernis auf der Straße,
suchen wir einen kleinen Umweg . Es wird auch Steuer-
mindereinnahmen geben, allerdings gezielt; denn wenn
ich die Hilfe von jemandem benötige, dann kann es sein,
dass die Hilfe etwas kostet; das kann auch hier der Fall
sein . Das regeln wir ganz bewusst so . Wir sagen: Viel-
leicht erwischt es die Kommunen eiskalt, vielleicht hilft
es aber auch den Kommunen sehr viel weiter, wenn neue
Unternehmen bei ihnen eine wirtschaftliche Dynamik
entfalten und dann Gewinne erzeugen, die fair versteuert
werden . Insofern ist die neue Regelung etwas sehr Gutes .
Eine absolute Zielgenauigkeit hat das Gesetz auch nicht,
weil es auch für Unternehmen gilt, die keine Start-ups
sind . Es stimmt, dass die Zielgenauigkeit dadurch ein
bisschen leidet . Allerdings müssen wir uns über den Un-
terschied zwischen Behauptung und Beweis unterhalten .
Wenn ein Professor in einer Anhörung etwas behauptet,
könnte es klug sein, dies auch zu beweisen . Leider hat
Professor Jarass vergessen, das zu tun; aber es wäre klug
gewesen .
Wir suchen schon lange nach Möglichkeiten, innova-
tive Unternehmen zu fördern . Aber was ist eigentlich ein
innovatives Unternehmen? Sie machen etwas Neues, sie
suchen nach neuen Produkten, sie wollen am Markt et-
was Neues entwickeln . Gerade aus den Erfahrungen der
letzten 20 Jahre wissen wir, dass viel Neues entstanden
ist, oft zu unserem Besten; manchmal auch nicht immer
nur zu unserem Besten . Jedenfalls hat das uns und unsere
Wirtschaft vorangebracht .
Wir sagen zu diesen Unternehmen auch Start-ups .
Start-up, das heißt ja eigentlich „anspringen“ . Ich hatte
einen VW-Bus, der damit einige Probleme hatte, und
deswegen mussten immer Leute kommen und helfen .
Das kann auch hier sein: Ein neues Unternehmen hat
Probleme, „anzuspringen“, und dann braucht man frem-
de Menschen, die helfen . Genau das soll dieses Gesetz
leisten .
Warum haben wir diesen Bereich in den Blick ge-
nommen? Eigentlich fühlen wir uns doch ganz wohl in
unserer unternehmerischen Landschaft . Wir haben aber
gesehen, dass in den USA – gut, die USA sind größer als
Deutschland – ungefähr 60 Milliarden Dollar über eine
entsprechende Förderung in die Start-up-Unternehmen
fließen. Jetzt haben wir gedacht: In Deutschland werden
das vielleicht 15 oder 20 Milliarden Euro sein, es sind
aber nur 1,3 Milliarden Euro . Das hat uns doch zu denken
gegeben . Wir haben gesagt: Das ist im Vergleich irgend-
wie zu wenig .
Ich will hinzufügen, dass durch den von mir eben
genannten Paragrafen schon sehr viel möglich war, nur
eben kein Mantelkauf . Wenn zum Beispiel ein Business
Angel Geld in ein Start-up, in ein neues Unternehmen
gibt, dann ist es bisher so, dass er oft sehr viel mehr be-
zahlt hat, als die Buchwerte in diesem Unternehmen aus-
machen . Er hat also eigentlich mehr bezahlt, als er dafür
bekommt. Warum? Weil er hofft, dass das Unternehmen
eines Tages Gewinn macht und er an diesem Gewinn teil-
hat. Er hat sozusagen die Hoffnung auf Patente. Er glaubt
an die Idee .
Bisher war es so, dass dieser Mehrpreis, den er be-
zahlt hat, stille Reserve war . Jetzt kommt das Besondere:
Das war für ganz viele Unternehmen, auch für Start-ups,
eine gute Lösung, weil der Verlust, der möglicherweise
entstand, genutzt werden konnte, solange er diese stil-
len Reserven nicht überstieg . Also: Wenn jemand gro-
ße stille Reserven erzeugt hat, hatte er die Möglichkeit,
auch große Verluste zu nutzen, selbst bei, wie wir sagen,
schädlichem Beteiligungserwerb . Das war eine sehr gute
Möglichkeit in § 8c Körperschaftsteuergesetz . Bei einem
Gesellschafterwechsel passierte bei einem Übertrag von
bis zu 25 Prozent gar nichts, bei einem Übertrag von 25
bis 50 Prozent waren die Verluste ratierlich oder quotal
zu verwerten, und erst ab einem Übertrag von mehr als
50 Prozent der Anteile konnten die Verluste komplett
nicht mehr genutzt werden . § 8c war also, wie gesagt,
eine gute Lösung für viele, aber nicht für alle . Um dieje-
nigen, für die es in § 8c Körperschaftsteuergesetz keine
gute Lösung gab, kümmern wir uns heute .
In einem jungen Unternehmen – Kollege Murmann
hat das schon angedeutet – besteht eine hohe Dynamik .
Es gibt oft Eigentümerwechsel, die Leute kommen und
gehen, sie wollen Geld geben oder es zurückhaben . Das
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620558
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ist kein ganz gerader Pfad; das ist ja auch klar, weil eine
unbekannte Strecke begangen wird . Deshalb muss man
besondere Hilfen bereitstellen .
Die zweite Besonderheit ist, dass die Finanzierung
solcher Unternehmen oft nicht über einen normalen
Bankkredit läuft, sondern häufig über Beteiligungska-
pital . Das ist eine etwas andere Landschaft als die, mit
der wir uns üblicherweise beschäftigen . Deshalb waren
wir froh, dass das BMWi und die AG Wirtschaft ihre Ge-
danken dazu eingebracht haben . – Deshalb spricht heute
auch Matthias Ilgen zu diesem Thema . Wir danken dir
übrigens für deinen Brief, der eine Initialzündung war .
Es gibt ja immer mehrere Väter für gute Ideen . – Das
BMWi und die AG Wirtschaft haben eine Lösung entwi-
ckelt, die wir in § 8d Körperschaftsteuergesetz gießen .
Gewundert hat uns nicht, was das BMF und das BMWi
uns aufgeschrieben haben, sondern, dass trotz wissen-
schaftlicher Betreuung – wir haben ja mit den Wissen-
schaftlern gesprochen – in dem Gesetzentwurf ein rie-
siges Schlupfloch formuliert war, durch das Altverluste
hätten aktiviert werden können . Und dabei reden wir
über einen richtig hohen dreistelligen Milliardenbetrag;
er liegt sogar über 150 Milliarden Euro, und das ist sogar
bewiesen . Damit hätte man das gesamte Gesetz zunich-
temachen können . Dank der Expertise von BMF und der
Kollegen aus Nordrhein-Westfalen konnten wir dieses
Schlupfloch im Gesetzentwurf schließen. Davon verspre-
chen wir uns sehr viel .
– Das Schlupfloch war nicht gewollt, sondern das Schlie-
ßen der Schlupflöcher ist gewollt. Es ist ja unsere Aufga-
be als Finanzpolitiker, solche Schlupflöcher zu schließen.
Wir kennen aber die Kreativität auf dem Markt . Es gibt
immer wieder neue Schlupflöcher.
Es ist gut, jetzt ein Regime mit starken Restriktio-
nen zu schaffen, in das man auf Antrag kommt. Kollege
Murmann hat schon vorgetragen, was alles erfüllt sein
muss, damit man überhaupt in den Genuss von § 8d Kör-
perschaftsteuergesetz kommt .
Insofern denken wir: § 8d Körperschaftsteuergesetz
ist ein Erfolg . Er hat aber einen kleinen Nachteil, und das
ist seine Zielgenauigkeit . Er gilt für alle Unternehmen,
auch für diejenigen, die wir gar nicht gemeint haben . Das
ist ein Wermutstropfen, den wir in Kauf nehmen müssen,
weil die Regelung ansonsten nicht europarechtskonform
wäre .
Ich fasse zusammen: § 8c Körperschaftsteuergesetz
hemmt die Start-up-Unternehmen, und § 8d begünstigt
gelegentlich die Falschen . Angesichts dieses ewigen
Zielkonflikts ist die Evaluierung eine gute Lösung. So
wissen wir in drei Jahren, ob wir entspannt Weihnach-
ten feiern können oder nicht . Ich glaube, auf dieser Basis
sollten wir den Gesetzentwurf heute beschließen und in
drei oder vier Jahren noch einmal nachschauen .
Schönen Dank .
Vielen Dank . – Nächster Redner für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen ist Dr . Thomas Gambke .
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Verlustver-
rechnung ist ein Thema, mit dem wir Grüne uns schon
lange beschäftigen . Schon vor vier Jahren haben wir in
unser Wahlprogramm geschrieben: Wir wollen den Ver-
lustuntergang bei innovativen Unternehmen nicht zulas-
sen . Warum?
Weil innovative Unternehmen erst einmal investieren –
das ist Forschung und Entwicklung – und diese Gelder
später mit Gewinnen verrechnen wollen, so wie das in
einem Konzern passiert; Kollege Binding hat darauf hin-
gewiesen .
Nicht, weil Sie so sympathisch darum geworben ha-
ben, lieber Kollege Murmann, sondern weil die Inhalte
stimmen, ist uns dieses Thema ein großes Anliegen . Das
Ziel wird von uns absolut unterstützt . Wie könnte man
die ökologische Wende der Wirtschaft, die Energiewende
und die Verkehrswende ohne Innovationen erreichen?
Seit zweieinhalb Jahren wird über das Thema nach-
gedacht . Im September dieses Jahres wurde ein Entwurf,
wie das Problem zu lösen sei, vorgelegt. Die Ziele wa-
ren klar: Wir wollen nicht allgemein, sondern wir wollen
Innovationen fördern . Wir wollen es gestaltungssicher
machen, sodass die ursprünglichen Themen des Mantel-
kaufs nicht berührt sind .
Wir wollten auch eine hinreichende Flexibilität – das ist
ein ganz wichtiges Ziel – für unternehmerische Entschei-
dungen haben . Wir mussten und wollten das im Rahmen
der beihilferechtlichen Vorgaben der EU machen .
Lassen Sie mich ein Wort dazu sagen . Das klingt im-
mer so, als ob die böse EU uns Grenzen setzt . Warum
macht die EU das? Wir stehen hoffentlich dazu, dass wir
Wettbewerb durch singuläre Maßnahmen in den nationa-
len Gesetzgebungen nicht eindämmen wollen . Das heißt
also, dass etwas beihilferechtlich unproblematisch sein
soll, ist im Grunde genommen ein vernünftiges und rich-
tiges Ziel, das man sehr ernst nehmen muss .
Ich verhehle nicht, dass das keine einfache Angele-
genheit war . Aber wir müssen jetzt kritisch darauf schau-
en, ob denn die Ziele wirklich erreicht wurden oder ei-
nigermaßen erreicht wurden . Wir wissen, dass es nie ein
wirklich gestaltungssicheres Gesetz gibt . Aber die Frage
ist, in welchem Umfang Gestaltungen möglich sind . Wir
konnten uns nicht – das muss ich Ihnen sagen – für eine
Zustimmung in der Bewertung entscheiden, obwohl wir
es gerne gemacht hätten . Warum nicht? Zum einen geht
es dabei um das EU-Recht . Das Berichterstattergespräch
Lothar Binding
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20559
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fand leider erst vorgestern statt . Wir hatten nur zwei Mo-
nate Zeit, im Parlament über diese doch sehr komplexe
Sachlage zu beraten .
– Ja, aber nicht die Lösung . – Ich fragte Herrn Murmann
noch vor zwei Monaten: Was sind denn nun die Rahmen-
bedingungen? Er sagte: Ich weiß es noch nicht . Das BMF
hat noch nicht gesprochen . – Das BMF hat erst Ende Au-
gust gesprochen und den Gesetzentwurf erst Mitte Sep-
tember vorgelegt . Auf die Frage nach dem Beihilferecht
hat man ganz lapidar gesagt: Na ja, das Wirtschaftsminis-
terium hat uns sozusagen einen Freibrief gegeben . – Ich
meine, das ist zu dürftig .
Wir bekommen keinen Comfort Letter – das ist rich-
tig –, aber nach unserer Auffassung hätte man noch ein-
mal intensiv darüber nachdenken und sprechen müssen,
um zu schauen, ob es wirklich beihilferechtlich unpro-
blematisch ist . Warum? Weil die Unternehmen Rechts-
sicherheit brauchen . Wir haben ja gerade festgestellt,
dass, wenn man aus § 8d Körperschaftsteuergesetz fällt,
der Verlustuntergang wirklich komplett ist . Es gibt keine
Heilungsmöglichkeiten .
Das Gleiche gilt – jetzt komme ich auf den zweiten
wesentlichen Punkt zu sprechen –, wenn es eine Ver-
änderung des Geschäftsbetriebes gibt . Ich glaube, wir
Grüne haben Ihnen sehr eindrucksvolle Beispiele nennen
können . Sie sind auch in der Anhörung genannt worden,
zum Beispiel von dem Vertreter des BITKOM . BITKOM
hatte mit uns eine vernünftige Lösung gesucht und ge-
sagt: Wir brauchen gerade für innovative Unternehmen
einen größeren Bewegungsspielraum, als wir jetzt in dem
Gesetzentwurf – übrigens auch mit unsicheren Rechtsbe-
griffen – haben.
– Es hätte eine bessere Lösung gegeben, Herr Kollege
Binding .
Wir hatten einen Gesetzentwurf vorgelegt, um steuer-
liche Forschungsförderung zu ermöglichen . Das wäre si-
cher gewesen . Dazu habe ich überall große Zustimmung
gesehen .
Das wurde in die nächste Legislaturperiode verschoben .
Ich bedaure das . Uns Grünen hätte es besser gefallen,
wenn wir das in dieser Legislaturperiode gemacht hät-
ten . Ein entsprechender Gesetzentwurf war vorbereitet .
Wenn wir uns hier ein wenig mehr Zeit genommen hät-
ten, um es gestaltungssicher und mit EU-Recht konform
zu machen, dann hätten wir ein gutes Gesetz gemacht .
Wir können uns heute leider nur enthalten .
Vielen Dank .
Vielen Dank . – Jetzt hat Dr . h . c . Hans Michelbach,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Innovationen sind das Gebot der Stunde . An ausgezeich-
neten Ideen mangelt es in Deutschland ja nicht . Vielmehr
haben wir ein Problem bei der Umsetzung der Ideen in
die Praxis.
Wie aber gelingt es, hervorragende Ideen zu marktrei-
fen Produkten zu machen? Wie kann die Politik dafür
sorgen, dass die guten Ideen nicht in der Schublade lan-
den, sondern zur Grundlage eines Unternehmens werden,
um damit auf der einen Seite Geld zu verdienen und auf
der anderen Seite neue Arbeitsplätze zu schaffen? Das
sind die entscheidenden Fragen, liebe Kolleginnen und
Kollegen, die wir uns für eine erfolgreiche Wirtschafts-
und Standortpolitik stellen müssen .
2015 gab es 388 000 Existenzgründungen . Allerdings
ist die Zahl leider rückläufig. Das ist ein gefährlicher
Trend, den wir stoppen wollen, liebe Freunde; denn wir
werden unseren Wohlstand nur sichern können, wenn wir
unseren Unternehmen die besten Finanzierungsmöglich-
keiten bieten .
Unser Wirtschaftsstandort ist auf eine funktionierende
Generationenbrücke, eine stetige Erneuerung dringend
angewiesen . Deshalb ist es gut, dass wir heute eine Wei-
terentwicklung der steuerlichen Verlustverrechnung auf
den Weg bringen . Für deutsche Unternehmen und spe-
ziell für Start-ups entsteht mit der Einführung des § 8d
des Körperschaftsteuergesetzes eine wichtige steuerliche
Verbesserung, meine Damen und Herren . Das wollen wir
heute festhalten .
Das bedeutet mehr Steuergerechtigkeit für die Zukunft,
mehr Planungssicherheit, mehr Wachstumsperspektiven
mit Wagniskapital, mehr Liquidität, mehr Investitionen
und damit mehr Arbeitsplätze . Das ist das Ziel, und das
ist der Erfolg dieses Gesetzes, meine Damen und Herren .
Das ist nicht nur ein gutes Zeichen für die Handlungsfä-
higkeit unserer Großen Koalition, sondern insbesondere
ein gutes Zeichen für die deutsche Wirtschaft .
Bisher hat der § 8c Körperschaftsteuergesetz viel-
mals zu einem Verlustuntergang geführt und zu einem
erheblichen unternehmerischen Risiko beigetragen . Die
Verluste sind nur dann nicht weggefallen, wenn die Kör-
perschaft die Stille-Reserve-Klausel oder die Konzern-
klausel erfüllt hat. Die Praxis hat aber gezeigt, dass diese
Maßnahmen zu eng gefasst waren . Deshalb müssen wir
in der Steuerpolitik immer wieder auf den Grundsatz des
Nettoprinzips schauen .
Der Verlust in einem Unternehmen ist in Wirklichkeit
kein Missbrauch, sondern ein Verlust von Liquidität, die
Dr. Thomas Gambke
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620560
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besser in eine Neuentwicklung gesteckt wird . Verluste
sind in Unternehmen echte und werthaltige Vermögens-
gegenstände, da sie bei der Erzielung von ertragsteuer-
lichen Einkünften entstanden sind . Natürlich muss man
Missbrauch eindämmen . Das haben wir auch getan .
Bisher hat der Einstieg eines neuen oder weiteren Ge-
sellschafters oftmals zu einem Wegfall von Verlustver-
rechnungspotenzial geführt . Das ist nun mal eine Res-
sourcen-, eine Investitions-, eine Liquiditätsvernichtung,
die wir uns nicht leisten sollten . Deswegen wollen wir
das heute beseitigen . Das ist der erfolgreiche Weg für die
Zukunft, meine Damen und Herren .
Wenn bei der Einkünfteerzielung echte Vermögens-
verluste entstanden sind, sollten nach dem verfassungs-
rechtlichen Nettoprinzip steuerliche Verluste eigentlich
grundsätzlich Berücksichtigung finden. Deshalb erhal-
ten mit dem heutigen Gesetz vor allem die kleinen und
mittelständischen Betriebe neue Steuergerechtigkeit und
zukünftig neue Impulse, um in neue Produkte, um in Di-
gitalisierung investieren zu können .
Vor allem ist es essenziell, den Wagniskapitalmarkt
um die Gründerszene zu stärken . Wir vereinfachen den
Zugang zu privatem Beteiligungskapital und schaffen da-
mit die Grundlage für Wachstum und neue Arbeitsplätze .
Ihnen wird es mit dem heutigen Gesetz zukünftig besser
gelingen, Investoren für Geschäftsmodelle zu gewinnen .
Die neue Ausrichtung ist an verschiedenen Konditio-
nen ausgerichtet; das ist richtig . Wir haben hier bewusst
Missbrauchsmöglichkeiten eingedämmt . Ich glaube, un-
ter dem Strich war das ein erfolgreicher Verhandlungs-
weg, der von unserem Berichterstatter Philipp Murmann
und seinen Partnern gegangen wurde.
Zum Abschluss, liebe Kolleginnen und Kollegen,
möchte ich Professor Dr. Heinz Riesenhuber herzlichen
Dank sagen . Er hat viele Jahre für mehr Wagniskapi-
tal gekämpft und dafür in der Politik geworben. Lieber
Heinz, zu deinem heutigen 81 . Geburtstag liefern wir –
nicht unbedingt pünktlich, aber wir liefern – und gratu-
lieren dir .
Vielen Dank .
Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion hat jetzt Matthias
Ilgen das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dann
muss ich zunächst dem Kollegen Riesenhuber gratulie-
ren – natürlich zuerst zum Geburtstag –; denn wir haben
uns in den letzten Jahren viele Male im Ausschuss über
dieses Thema unterhalten .
Wie Sie wissen, hat der Erfolg sehr viele Väter. Peer
Steinbrück und ich haben für unsere Fraktion einmal ein
Papier mit 29 Thesen geschrieben, wie das im Steuerrecht
vereinfacht werden kann, was man tun könnte, um prak-
tische Probleme zu lösen. Einer der ganz dicken Kern-
punkte war die Körperschaftsteuer – § 8c . Nun ist der
Kollege Pitterle von den Linken leider schon entschwun-
den; er musste in einen wichtigen Untersuchungsaus-
schuss . Das ist schade; denn ich hätte ihm gern selbst
gesagt, dass er nicht verstanden hat, was wir mit diesem
Gesetz tun wollen . Er hat es nämlich kritisiert und gesagt,
das sei quasi ein neues Steuerschlupflochmodell und lade
die Konzerne ein, neue Gestaltungsmöglichkeiten zu ent-
wickeln . Was er aber nicht verstanden hat, ist, dass wir
gerade mit diesem Gesetz versuchen, kleine junge und
innovative Unternehmen – das mögen rechtlich GmbHs
sein –, die am Anfang nicht in Konzernstrukturen unter-
wegs sind, sondern in der Regel von den Gründern, den
Eigentümern geführt werden –, gleichzustellen . Wir re-
den in Europa und auch hier im Deutschen Bundestag
immer so schön vom Level Playing Field, also von den
gleichen Rahmenbedingungen, und die wollen wir hier
endlich auch für die Start-up-Szene schaffen, damit sie
ihre Verluste, wenn dies berechtigt ist, genauso loswer-
den können wie andere .
Herr Kollege Gambke, ich finde es in Ordnung, dass
wir über steuerliche Forschungsförderung reden wollen .
Das braucht sicherlich ein Extragesetz . Man darf das
nicht mit der Fragestellung in einen Topf werfen: Wie
gehen wir mit berechtigten Verlusten um, die am Beginn
eines Unternehmens entstehen, wenn investiert wird und
noch kein Gewinn erzielt werden kann, weil noch keine
Produkte am Markt sind, weil das Geschäftsmodell noch
nicht vollständig ausgereift ist? Das darf man nicht in ei-
nen Topf werfen und sagen: Wir können dem einen nicht
zustimmen, weil wir das andere auch wollen . – Stimmen
Sie dem einen zu, dann machen wir gemeinsam das an-
dere auch noch . Das wäre die Lösung an dieser Stelle .
Wir Wirtschaftspolitiker stellen täglich bei unseren
Gesprächen mit Unternehmerinnen und Unternehmern –
insbesondere der jungen und innovativen Unternehmen –
in diesem Land fest, dass wir viele Hemmnisse haben,
die wir Politiker manchmal gar nicht sehen, weil wir
all unsere Gesetze – das hat Kollege Binding so schön
gesagt – in bester Absicht hier im Deutschen Bundestag
machen, weil wir Lösungen und Rahmenvorschläge so
zu gestalten versuchen, dass der Staat und auch die Wirt-
schaft funktionieren können . Auf der anderen Seite gibt
es manchmal eben auch Paragrafen, die dem einen oder
anderen hinderlich sind bei dem, was er tun will . Wenn
man das feststellt, muss man die Ehrlichkeit aufbringen
und sagen: „Wir gucken uns an, was das bedeuten wür-
de, wenn man das machte“, und dann einen Lösungs-
vorschlag unterbreiten . Das ist ein Weg, den man gehen
kann .
Natürlich ist Gesetzgebung auch immer Trial and Er-
ror. Das wissen wir, und deswegen begrüßt die SPD-Bun-
destagsfraktion eindeutig die Evaluierung nach drei Jah-
ren . Dann werden wir nämlich Zahlen an der Hand haben
Dr. h. c. Hans Michelbach
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20561
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und schauen können, wie sich das entwickelt hat . Aber
die hier an die Wand gemalten Horrorszenarien von Mil-
liarden und Abermilliarden werden nicht stattfinden, lie-
be Kolleginnen und Kollegen .
Und das wissen Sie auch . Sie sagen das hier wider bes-
seres Wissen .
Da sind wir alle miteinander gespannt .
Der Bereich Wagniskapital muss auch in den kom-
menden Jahren weiter genau angeschaut werden . Wir
müssen aufholen . Lothar Binding hat hier die Vereinigten
Staaten von Amerika genannt, die sozusagen Vorzeige-
land bei dieser Entwicklung sind . Aber auch ein Blick
in die europäische Nachbarschaft lohnt sich . Großbritan-
nien ist zwar ein schlechtes Beispiel – wir hatten gera-
de den Brexit –, aber wir können einmal nach Holland
gucken . Wenn ich sehe, dass man dort das x-Fache an
Wagniskapitalinvestitionen pro Kopf wie in der Bundes-
republik Deutschland hat, weiß ich doch: Man kann da
besser werden, auch ohne dass man alle Rahmenbedin-
gungen und Gesetzgebungen in diesem Bereich aufge-
ben muss und sozusagen nur noch den amerikanischen
Wilden Westen hat . Ich glaube nicht, dass die Holländer
den haben, sondern es lohnt sich, in die Nachbarschaft
zu gucken und in Deutschland in den kommenden Jahren
weiter Projekte in dieser Richtung umzusetzen.
Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als besonderes Geburtstagsgeschenk
erhält jetzt der Kollege Professor Dr. Heinz Riesenhuber
die Gelegenheit, diese Debatte abzuschließen .
Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegen! Es ist sicher
nur ein Zufall, dass dieses Gesetz ausgerechnet an mei-
nem Geburtstag beschlossen werden soll . Aber ich gebe
zu, dass ich mich freue . Hans, du hast das zusammen mit
Philipp Murmann mit großer Herzlichkeit und Beharr-
lichkeit im Finanzausschuss vorangebracht . Herzlichen
Dank an alle unsere Finanzer . Herr Binding, Sie waren
mit genau solch einer Entschlossenheit dabei . Sonst wäre
es uns nicht gelungen .
In nobler Beiläufigkeit hat Herr Gambke angespro-
chen, dass die Debatte über die Europatauglichkeit ein
bisschen spröde ist . Ich freue mich, dass Sie seit vier Jah-
ren daran arbeiten . Wir haben es vor zwölf Jahren schon
einmal versucht .
Damals hatten wir auch eine prachtvolle Große Koali-
tion, mit der wir alle glücklich waren . Steinbrück war Fi-
nanzminister . Wir haben das MoRaKG geschrieben, und
jeder sagte uns – einschließlich des Finanzministers –:
Europafest, europafest! – An Europa ist es aber geschei-
tert . Jetzt haben wir mithilfe von Michael Meister und
He
„Das müsste stehen“, und darauf bauen wir .
Einige Dinge werden wir uns in zwei, drei Jahren
noch einmal anschauen; dann evaluieren wir die Sache
mit dem „Geschäftsbetrieb“. Der Begriff ist zum Glück
ziemlich vage . Bei jungen Unternehmen gibt es nun ein-
mal Dynamiken, die nicht ganz leicht juristisch einzufan-
gen sind . Die Juristen unterstützen uns aber, und damit
wird die Weisheit zunehmen .
Dass diese Sache hier wirklich dauerhaft grundsätz-
lich ist, haben uns die USA vorgemacht . Die größten Un-
ternehmen der Welt sind sehr jung, vielleicht 20 Jahre alt;
manche sind noch jünger: Google, Facebook . Microsoft
ist nur wenig älter . Sie können sie durchdeklinieren . Das
alles waren Start-ups .
Diese Start-ups sind nicht plötzlich entstanden, weil
die Zeit reif war, sondern das war der Erfolg einer lang-
jährigen Arbeit in Richtung einer enormen Innovations-
kultur, die in den USA entstanden ist, seitdem sie da-
mals – 1958 war es – die SBICs gegründet haben, die
Small Business Investment Corporations . Das hat sich
entwickelt .
Flankierend hat man dann die Kapitalertragsteuer, die
Capital Gains Tax, halbiert, und die Sache blühte und ge-
dieh . Inzwischen haben SBICs in 2 100 Fonds investiert
und insgesamt über 166 000 Investments in kleinere Un-
ternehmen getätigt . Das heißt, wir sehen da eine breite
Dynamik . Einige sind dann durchgebrochen und sehr er-
folgreich gewesen . – Genau diese Landschaft brauchen
wir auch für die nächste Runde unserer Arbeit hier .
Wenn Sie heute über den Campus des MIT gehen,
dann sehen Sie, dass die jungen Leute an einem schönen
Sommertag da sitzen . Die Jungs quatschen dann natür-
lich über die Mädchen, und die Mädchen quatschen über
die Jungs,
aber sie quatschen auch über die Ideen, die sie haben, um
einmal reich zu werden . Einige werden auch reich, und
wenn sie reich werden, dann ist das ungemein anregend
für die anderen .
Wenn wir an einigen Stellen wirklich einen Durch-
bruch erzielen und das Ergebnis vorzeigen können, wird
die Welt anders . Als aus dem von Günter Spur geleite-
Matthias Ilgen
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620562
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ten Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik Mitte der
80er-Jahre hier in Berlin zwei, drei Gründer herauska-
men, haben die anderen Kollegen gelächelt . Ein siche-
res Beamtenverhältnis, und der Mensch gründet! Sie
waren aber erfolgreich . Innerhalb weniger Jahre hatten
wir plötzlich anderthalb Dutzend Gründungen, die sich
fröhlich im Markt bewegt haben . Das jetzt wieder hinzu-
kriegen, das wird die große Aufgabe sein .
Es wäre faszinierend, wenn Sie mir noch eine Viertel-
stunde Redezeit geben würden, Frau Präsidentin. Dann
würde ich das im Einzelnen erläutern
und zeigen, wie wir seit dem Programm von 1983 zur
Förderung von Technologisch Orientierten Unterneh-
mensgründungen, TOU, systematisch weitere Program-
me zur finanziellen Beteiligung an jungen Technologi-
eunternehmen aufgebaut haben: BJTU in 1989, BTU in
1995. Der Staat hat sich dabei finanziell immer weiter
zurückgezogen: Darlehen statt Zuschüsse, dann Bürg-
schaften statt Darlehen . Der Staat hat Gründerzentren
und Technologieparks gegründet . Es ist damals eine
prachtvolle Landschaft entstanden, bis der Neue Markt
hier funktioniert hat und ein entsprechendes Segment an
der Börse eingerichtet wurde .
Dann platzte im Jahr 2000 die Blase . Seitdem sind
die Menschen ein bisschen deprimiert . Aus einer De-
pression entsteht wenig Dynamik . Es ging darum, wie-
der Schwung in den Markt zu bringen . Der Staat hat mit
vielen Fonds geholfen: EIF/ERP-Dachfonds, ERP-Start-
fonds, High-Tech Gründerfonds . Er hat auch mit dem
Programm EXIST und anderen Programmen geholfen.
Das sind wunderbare Sachen, alle in Ordnung . Aber da-
mit konnte man nicht die Zukunft gewinnen . Die Zukunft
entsteht aus Wagniskapitalgesellschaften, deren Gründer
für ihr eigenes Geld mit einer Innovationskraft und Ent-
schlossenheit kämpfen, die ein Beamter nicht immer auf-
bringen sollte .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, heute liegt
ein großes Gesetz vor . Ich bin zuversichtlich, dass es auf
große Zustimmung stößt .
In der nächsten Runde wird es dann besser gehen; denn
wir haben noch einiges vor uns . Wolfgang Schäuble, ein
ungemein dynamischer und innovationsfreudiger Bun-
desfinanzminister, hat uns angekündigt, in den nächsten
zehn Jahren 10 Milliarden Euro an Krediten über einen
Tech Growth Fund für Start-ups bereitzustellen . Das ist
schon einmal ganz beachtlich . Manche erreichen mit ih-
rer Firma einen Marktwert von vielleicht 20 Millionen
Euro, aber dann fehlt ihnen das Geld für weiteres Wachs-
tum . Wir kommen jetzt mit beachtlichen Beträgen . Ich
bin voller Dankbarkeit und Bewunderung für den Fi-
nanzminister .
Es gibt auch weitere Themen, um die wir uns küm-
mern müssen. Die Abschaffung der Umsatzsteuer auf die
Management-Fee ist eine Zehnerpotenz weniger als das,
was wir heute mit diesem Gesetz beschließen . Trotzdem
ist es ein Riesenhebel, weil das Geld direkt in die Kassen
der Unternehmer fließt. Wenn jemand die Wahl hat, hier
ein Unternehmen zu gründen und damit erfolgreich zu
sein oder in Luxemburg zu arbeiten und dort 20 Prozent
mehr zu verdienen, dann ist das eine große Versuchung .
Wir müssen zudem sehen, ob wir die Transparenz der
Vermögensverwaltung gesetzlich regeln .
Wir haben also noch einiges Schöne vor uns . Aber
heute freuen wir uns über das, was uns mit diesem Gesetz
gelingt . Es ist ein großer Schritt mit einer breiten Un-
terstützung dieses dynamischen Parlaments. Auch Herr
Gambke will sich nur aus Höflichkeit enthalten.
Mit diesem Gesetz erreichen wir, dass die Menschen, die
etwas selber machen wollen, ein bisschen mehr Luft zum
Atmen haben; Menschen, die nicht darauf versessen sind,
38 Stunden in der Woche zu arbeiten, sondern entschlos-
sen sind, mehr zu arbeiten und erfolgreich zu sein .
Die Aufgabe eines stolzen und zugleich demütigen
Abgeordneten ist es, dafür zu arbeiten, dass andere
glücklich und erfolgreich sind – ohne Rücksicht auf un-
sere 38-Stunden-Woche .
Vielen Dank . – Wir kommen damit zur Abstimmung
über den von der Bundesregierung eingebrachten Ent-
wurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der steu-
erlichen Verlustverrechnung bei Körperschaften . Der
Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/10495, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 18/9986 und 18/10348
in der Ausschussfassung anzunehmen . Ich bitte dieje-
nigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
zustimmen wollen, um das Handzeichen . – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfrakti-
onen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Ent-
haltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen .
Damit kommen wir zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte all diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von den Plätzen
zu erheben . – Wer ist dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Gesetzentwurf ist in dritter Lesung mit dem gleichen
Stimmenverhältnis angenommen .
Damit rufe ich den Zusatzpunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Britta
Haßelmann, Luise Amtsberg, Volker Beck
Dr. Heinz Riesenhuber
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, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Parteiensponsoring regeln
Drucksache 18/10476
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich bitte Sie, möglichst schnell Ihre Plätze einzuneh-
men und die Gespräche außerhalb des Plenarsaals wei-
terzuführen .
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin
Britta Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen .
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrte Kol-
leginnen und Kollegen! Wir haben heute einen Antrag
vorgelegt, in dem wir Sie auffordern, noch in dieser Le-
gislaturperiode eine Regelung zum Parteiensponsoring
zu machen . Warum tun wir das? Weil wir wollen, dass
Sponsoring endlich den gleichen Transparenzpflich-
ten unterworfen wird, welche im Parteiengesetz für
Geldspenden bestehen .
Diese Forderung ist überfällig . Dies endlich einzulösen,
ist auch überfällig . Das zeigen die jüngsten Skandale um
das Thema „Rent a Sozi“ .
Wer es nicht mitbekommen hat: Wir reden seit 2010
darüber, dass eine Einnahmequelle der Parteien neben
der staatlichen Parteienfinanzierung, neben der Frage
von Geldspenden einen immer größeren Stellenwert be-
kommt, und das ist das Thema Sponsoring . Das Spon-
soring ist aber im Parteiengesetz bisher nicht geregelt.
Deshalb bedarf es dringend Klarheit und einer transpa-
renten Darstellung gegenüber der Öffentlichkeit darüber:
Wie viele Sponsoringeinnahmen haben eigentlich Partei-
en, worüber verfügen sie da, und in welchem Verhältnis
stehen Geld und Zuwendung zu einer Leistung? Darüber
gibt es aber überhaupt keine Klarheit, meine Damen und
Herren .
Nun passiert Folgendes: Wechselseitig werfen sich
Parteien Skandale und Unterstellungen vor, aber ändern
tun wir letztlich nichts . Im Jahr 2010, als die CDU in
Nordrhein-Westfalen auf die Idee gekommen war, dass
man Herrn Rüttgers für relativ viel Geld mieten kann,
gab es eine riesige Empörungswelle . Es gab Diskussio-
nen hier im Deutschen Bundestag . Damals gehörte ich
dem Deutschen Bundestag seit einer Legislaturperiode
und einem Jahr an . Deshalb habe ich das noch genau in
Erinnerung. Seitens der SPD beispielsweise wurde hier
im Parlament eine wahnsinnige Empörung an den Tag
gelegt und gesagt: Wir brauchen jetzt im Parteiengesetz
dringend die Verankerung zum Sponsoring . – Was ist
daraus geworden? Bis heute, 2016, nichts . Weder in der
alten Regierungskonstellation noch in dieser Regierungs-
zeit waren Sie bereit, zum Sponsoring etwas zu machen .
Jetzt, im Jahr 2016, ist die Lage plötzlich andershe-
rum . Jetzt fängt eine Untergesellschaft des Vorwärts
an, Termine mit Ministerinnen und Ministern zu verge-
ben und diese quasi zu vermieten . Unter dem Stichwort
„Rent a Sozi“ finden wir alle das im Netz. Jetzt wird wie-
der erklärt: Wir brauchen dringend eine Regelung zum
Sponsoring . – Nur, meine Damen und Herren: Es passiert
nichts, weil keine der großen Parteien Bereitschaft zeigt,
endlich im Parteiengesetz eine Regelung zum Sponso-
ring vorzunehmen . Dazu fordern wir Sie heute auf .
Wir haben auch gesagt: Wir könnten hier im Bundestag
eine sofortige Abstimmung machen; denn die Argumen-
te sind doch ausgetauscht . Jeder weiß sogar, an welcher
Stelle im Parteiengesetz wir eine solche gesetzliche Re-
gelung platzieren müssten . Aber uns wurde schon erklärt,
es bestehe Beratungsbedarf . Wir müssen das erst einmal
wieder in den Ausschüssen versenken, weil keine Bereit-
schaft besteht, heute zu einer gesetzlichen Regelung im
Parteiengesetz in Sachen Sponsoring zu kommen.
Meine Damen und Herren von der SPD, wenn ich
dann von Ihrer Seite das Argument höre, Ihnen würde der
Antrag nicht weit genug gehen, kann ich dazu nur sagen:
Das schlägt dem Fass den Boden aus .
Außerdem höre ich von Ihrer Seite, man könne heute
nicht über unseren Antrag abstimmen, weil Sie weitge-
hendere Vorstellungen haben und einen Gesetzentwurf
vorbereiten wollen . Meine Damen und Herren, haben Sie
noch nicht gemerkt, dass es im Interesse von uns allen ist,
wenn wir das schnell regeln und klar regeln, mit Trans-
parenzpflichten wie bei Geldspenden im Parteiengesetz?
Die §§ 23, 24 und 25 haben uns hierzu die Vorlage ge-
liefert .
Sie können sich auch gerne unserem Gesetzentwurf
anschließen . Er liegt vor . Da braucht man gar keine Bera-
tung bis zum Frühjahr . Wir können ihn gern in der nächs-
ten Woche gemeinsam wieder einbringen .
Ich habe das Gefühl, dass Sie mit diesen Vorwänden
einfach vernebeln wollen, dass Sie, also Union und SPD,
letztlich nicht bereit sind, zu einer klaren Regelung zum
Sponsoring zu kommen . Dabei wäre es für uns alle wich-
tig. Für alle Parteien würde das nach außen mehr Trans-
parenz und Klarheit gegenüber den Bürgerinnen und
Bürgern bringen .
Nichtregierungsorganisationen wie LobbyControl
und Transparency sowie Rechtswissenschaftlerinnen
und -wissenschaftler fordern uns genauso wie der Bun-
destagspräsident seit 2010/11 in seinem Bericht über die
Rechenschaftsberichte 2010 und 2011 der Parteien zur
Parteienfinanzierung dazu auf, endlich eine Transparenz-
pflicht und Darlegungspflicht für Sponsoring zu schaf-
fen . Ich zitiere den Bundestagspräsidenten und seinen
Bericht: Die damit verbundene Transparenz liegt „im
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620564
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(D)
wohlverstandenen Eigeninteresse der Parteien“. Das hat
Herr Lammert formuliert .
Warum um alles in der Welt weigern Sie sich bis heute,
mit uns zusammen für mehr Transparenz zu sorgen? Es
geht doch nicht um wechselseitige Vorwürfe, sondern da-
rum, endlich im Gesetz klar zu regeln, dass wir als Par-
teien beim Sponsoring die gleichen Darlegungspflichten
haben wie bei Geldspenden, da das Thema eine so große
Bedeutung hat .
Lassen Sie mich zuletzt noch etwas zu Ihrem Aus-
weichargument sagen, Sie wollten einen Gesetzentwurf
erarbeiten . Wir haben in der 17 . Legislaturperiode einen
Antrag zum Parteiensponsoring eingebracht, der zum
Ziel hatte, das Ganze transparenter zu gestalten . Die Bot-
schaft war: Beratungsbedarf! – Wir haben in der 17 . Le-
gislaturperiode einen entsprechenden Gesetzentwurf in
den Bundestag eingebracht . Dieser wurde monatelang im
Ausschuss versenkt – Beratungsbedarf! – und letztlich
abgelehnt . Wir haben in der 18 . Legislaturperiode einen
entsprechenden Entschließungsantrag eingebracht und
sogar das Parteiengesetz geändert, nur nicht bezüglich
Sponsoring . Heute beraten wir wieder über einen von uns
eingebrachten Antrag .
Ich fordere Sie abschließend auf: Lassen Sie uns das
im Interesse aller Parteien klar und eindeutig regeln! Wir
brauchen mehr Transparenzpflichten beim Sponsoring.
Vielen Dank .
Vielen Dank . – Das Wort hat jetzt der Kollege
Dr. Philipp Murmann von der CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jetzt hat sich Frau Haßelmann so aufgeregt . Dabei muss
ich sagen: Eine schlechte Idee wird natürlich nicht da-
durch besser, wenn man sie nur oft genug hier vorträgt .
Die Forderung der Grünen nach einer weiteren zusätz-
lichen Regelung im Parteiengesetz ist unseres Erachtens
aus mehreren Gründen nicht zielführend .
Erstens. Das Sponsoring für Parteien ist rechtlich zu-
lässig und bereits heute geregelt . Die Einnahmen sind
nach § 24 des Parteiengesetzes im Rechenschaftsbericht
der Parteien zu erfassen.
Das gilt übrigens auch für andere Bereiche des wirt-
schaftlichen Geschäftsbetriebes . Warum wollen Sie ei-
gentlich jetzt eine einzelne Einnahmeart herausgreifen?
Das ist völlig unsystematisch .
Wenn, dann müssten doch alle Einnahmen individuell
und nach ihrer Herkunft ausgewiesen und zugeordnet
werden .
Zweitens . Sponsoring ist per se bereits ein transparen-
ter Vorgang .
Der Sponsor bezahlt dafür, dass er für sich wirbt, und
zwar offen und publikumswirksam.
Sonst würde es auch gar keinen Sinn machen . Der Vor-
gang ist für jeden sichtbar .
Sie können das auf fast jeder größeren Veranstaltung be-
obachten. Ich lade Sie gerne auch einmal zum Parteitag
der CDU ein . Dort werden alle Aussteller und Sponsoren
öffentlich genannt,
und Sie können sich ein Bild davon machen . Das Gleiche
gilt übrigens auch für die Grünen. Wir veröffentlichen
das, wie ich Ihnen sagte, ja auch und die SPD, soweit ich
das weiß, auch . Bei den Linken bin ich mir nicht ganz si-
cher . Aber darüber wollen wir jetzt einmal hinwegsehen .
Herr Kollege Murmann, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Volker Beck?
Ich möchte die Gedanken gerne zu Ende führen . Wenn
Sie, Herr Beck, am Ende noch Lust haben, können wir
noch einmal schauen .
Am Ende geht das nicht, nur mittendrin . – Gut .
Danke .
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(D)
– Lehnen Sie sich ein bisschen zurück, und hören Sie erst
einmal zu!
Wenn Ihnen das noch nicht ausreicht, dann beantwor-
ten wir Ihnen alle Fragen zum Sponsoring . Auch unsere
Ausstellerunternehmen werden häufig von Journalisten
deswegen angesprochen und beantworten entsprechende
Fragen .
Es gibt an diesem ganzen Vorgang überhaupt gar
nichts zu beanstanden .
Im Gegenteil: Sponsoring ist transparent und hilft den
Parteien auch, ihren verfassungsmäßigen Auftrag zu er-
füllen, nämlich in die Gesellschaft hineinzuwirken .
Drittens . Wir lehnen eine weitere Bürokratisierung im
Parteienrecht ab. Die bestehenden Transparenzregeln im
Parteiengesetz sind auch im internationalen Vergleich
weitreichend und haben sich bewährt . Die Transparenz
unserer Parteienfinanzierung ist nämlich viel höher als
irgendeine sonst . Weder Vereine noch irgendeine von all
den NGOs, die uns sonst natürlich immer gerne mit er-
hobenem Zeigefinger begegnen, erfüllen solche Transpa-
renzregeln wie wir in den Parteien. Das ist so.
Allerdings führen diese Standards bereits heute dazu,
dass ein erheblicher administrativer und auch finanzieller
Aufwand getrieben wird. Die Parteien aber und damit wir
alle leben vom ehrenamtlichen Engagement ihrer Mit-
glieder . Das gilt besonders für die vielen Schatzmeister in
unseren Parteien. Mit immer mehr Bürokratie frustrieren
Sie nur diejenigen, die noch bereit sind, solche Ämter zu
übernehmen, und sich damit für unsere Demokratie ein-
setzen . Es ist bereits heute nicht einfach, Kandidaten für
die Schatzmeisterämter zu finden.
Wir sollten das nicht durch noch mehr Bürokratie weiter
erschweren .
Viertens. Ihr Antrag zielt ja ganz offensichtlich auf ei-
nen aktuellen Fall im Umfeld der SPD. Dazu muss ich
Ihnen aber sagen: Thema verfehlt, denn die von Ihnen
vorgeschlagene Regulierung im Parteiengesetz würde
diesen Fall gar nicht erfassen. – Es wurde in der Presse
sogar der Vorwurf erhoben, die CDU sei an den Vorfällen
schuld, weil wir bei der letzten Novelle des Parteienge-
setzes gegen eine Sponsoringvorschrift gestimmt hätten .
Das ist zwar ein netter Versuch, aber auch ein ziemlich
plumpes Ablenkungsmanöver weg vom eigentlichen
Vorgang .
Bitte erlauben Sie mir, dass ich hier die Parteienrecht-
lerin Frau Professor Schönberger aus Konstanz zitiere,
die die Sponsoringpraxis der SPD im ZDF als – ich zi-
tiere –
eine sehr intelligente, aber im Endeffekt trotzdem
rechtswidrige Umgehung der Parteienfinanzierung
bezeichnet hat . Sie ergänzte dazu, es könne nicht sein,
dass – ich zitiere nochmals –
durch die Zwischenschaltung einer GmbH legal
wird, was sonst illegal wäre .
Es ging also gar nicht um das Parteiengesetz, sondern
um die Umgehung des Parteiengesetzes. Liebe Kollegen
von der SPD, die Verantwortung für diese Vorgänge müs-
sen Sie natürlich selber tragen. Ich finde es auch gut und
richtig, dass Sie klipp und klar gesagt haben, dass diese
Praxis jetzt beendet wird; denn natürlich schadet sie uns
allen .
Fünftens und letztens . Liebe Grüne, Regulierungen
und Verbote sind ja Ihre Spezialität .
Aber Sie drangsalieren natürlich vor allem die vielen Eh-
renamtlichen, die für eine gute Sache werben, nämlich
für unsere parlamentarische Demokratie . Die Unions-
fraktion wird diesen Antrag deswegen ablehnen . Lassen
Sie uns stattdessen lieber gemeinsam überlegen, wie wir
unsere Demokratie und auch unser Land voranbringen,
wie wir mehr Ehrenamtliche für unsere Parteien gewin-
nen können .
Transparenz ist für uns alle wichtig .
Sie ist ein hohes Gut .
Wir haben, wie ich finde, auch einige sehr gute Vorschlä-
ge in den Schatzmeisterrunden – Frau Haßelmann, wir
waren an der einen oder anderen Stelle ja auch zusam-
men – gefunden . Ob man die wirklich gleich in ein Ge-
setz gießen muss und damit zusätzliche Bürokratie aus-
löst, das möchte ich allerdings infrage stellen . Lassen Sie
uns lieber Regelungen finden, die keine Bürokratie auf
den unteren Ebenen auslösen . Für praktische und ange-
messene Vorschläge sind wir offen.
Vielen Dank .
Dr. Philipp Murmann
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620566
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Vielen Dank . – Jetzt hat der Kollege Volker Beck um
die Gelegenheit zu einer Kurzintervention gebeten . Die
Betonung liegt auf „kurz“ .
Ich will es auch ganz kurz machen . – Soweit ich mich
erinnere, geht aus den Rechenschaftsberichten der Par-
teien nicht hervor, welches Unternehmen mit welchem
Zahlbetrag für welche Sponsoringleistung einsteht .
Deshalb frage ich Sie einfach einmal probeweise: Kön-
nen Sie mir sagen, welche Zahlungen in diesem oder im
letzten Jahr – das dürfen Sie sich aussuchen –, ausgehend
von den drei besten Sponsorverträgen, von wem in wel-
cher Höhe an die CDU geleistet wurden? Das ist in den
Drucksachen des Bundestages, in den Rechenschaftsbe-
richten, nicht nachzuvollziehen . Deshalb würde ich das
gerne von Ihnen wissen . Sie haben ja behauptet, das sei
transparent .
So viel Transparenz können wir uns ja heute hier einmal
leisten .
Herr Kollege Murmann .
Nur ganz kurz: Die Sponsoringeinnahmen werden in
den Rechenschaftsberichten ausgewiesen,
und Sie sehen bei jedem Parteitag die Liste der Sponso-
ren . Sie können auch nachfragen, was die Standgebühr
kostet . Das alles ist völlig transparent .
Dieser Antrag ist komplett überflüssig.
Vielen Dank . – Der Kollege Murmann hat jetzt Stel-
lung genommen .
Jetzt hat die Kollegin Dr. Petra Sitte die Möglichkeit,
hier vorne für die Fraktion Die Linke Stellung zu neh-
men . – Bitte schön .
Danke schön, Frau Präsidentin. – Es ist ja schon gesagt
worden: Das Thema Parteiensponsoring beschäftigt uns
jetzt nicht zum ersten Mal . Nach den beeindruckenden
Worten von Herrn Murmann traut man sich ja schon fast
gar nicht mehr, das wieder aufzurufen . Wir hatten 2014
auch schon einen entsprechenden Antrag eingebracht; in
ihm wurde gefordert, neben den Unternehmensspenden
an Parteien auch das Parteiensponsoring zu verbieten.
Das haben damals allerdings alle anderen Fraktionen ab-
gelehnt . Das halte ich für fragwürdig; denn Sponsoring
bedeutet im Gegensatz zu Spenden immer: Gegenleis-
tungen . Wer sponsert, will dafür eine Gegenleistung . Da
geht es bei weitem nicht nur um die Frage, ob man sich
dort darstellt .
Das ist eben anders als bei Spenden .
Herr Murmann, es ist eben auch nicht so, dass in den
Rechenschaftsberichten die Sponsoren im Einzelnen
nachvollziehbar sind . Im Gegenteil: Es gibt eine Gesamt-
summe, und der Rest kann sich tapfer dahinter verste-
cken .
Worum geht es? Auch ich will das noch einmal sagen,
damit der Bogen etwas weiter gespannt wird: Parteien
müssen – das ist so vom Grundgesetz vorgeschrieben –
auch Spenden einwerben . „Huch?“, mag der eine oder
andere staunen . Wieso das denn? Der Hintergedanke
dabei war, dass Parteien nicht gänzlich vom Staat finan-
ziert werden sollen, um nicht gänzlich von ihm abhängig
zu sein . Aber: Nicht nur Geld vom Staat kann abhängig
machen, sondern eben auch Geld von Spendern . Ins-
besondere bei großzügigen Spendern könnte schon der
Eindruck entstehen, als solle die bedachte Partei ebenje-
nem Spender mit der einen oder anderen Entscheidung
besonders entgegenkommen . Wir haben das hier auch
schon erlebt; ich nenne nur das breitgelatschte Beispiel
Mövenpick .
Dieses Dilemma löst das geltende Recht durch Of-
fenlegung möglicher Beeinflussung. Es gibt also Veröf-
fentlichungspflichten für bestimmte Spenden, und es gibt
Spendenannahmeverbote . Auch das haben wir geregelt .
Aber das ist uns zu wenig . Im Gegensatz zu Spenden gibt
es in diesem Feld der Sponsoringeinnahmen von Partei-
en, für die es keine besonderen Anforderungen zur Ver-
öffentlichung der Sponsoren gibt – das habe ich vorhin
ausdrücklich gesagt –, immer eine Grauzone . Die Re-
chenschaftsberichte bieten diese Grauzone . Sponsoring
ist dann eben nicht öffentlich nachvollziehbar. Und Sie
wollen ja wohl nicht, dass ich zu jedem CDU-Parteitag
komme, um mir auf Ihrer Wand anzugucken, wer Sie dort
im Einzelnen sponsert,
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20567
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damit im Endeffekt der Parteitag überhaupt stattfinden
kann, weil Parteitage nun einmal unverschämt teuer sind.
Was in letzter Zeit bei der SPD mit der Agentur Net-
work Media GmbH passiert ist, ist natürlich schon eine
höchst fragwürdige Praxis und stellt genau die Grenz-
überschreitung dar, die wir hier vermeiden müssen . Dass
diese Agentur zu dem zur SPD gehörenden Vorwärts-Ver-
lag gehört, ist relativ nebensächlich . Fakt ist, dass die
Agentur versucht hat, Unternehmen und Lobbygruppen
anzusprechen, um dann eben für Beträge zwischen 3 000
und 7 000 Euro Termine mit SPD-Bundesministern, mit
ministerialen Beamten oder eben auch mit einzelnen
Staatssekretären zu verkaufen .
In den Medien war dann schnell, wie wir das schon
festgestellt haben, „Rent a Sozi“ als Schlagwort zu hö-
ren . Es gab natürlich auch sofort das Remake: Ah, da
war doch was mit Herrn Rüttgers . – Der hat das ja schon
vor einigen Jahren – ich glaube, es waren sechs – aktiv
betrieben, wobei ich finde, dass die Beträge, die damals
Herrn Rüttgers bzw . der CDU zugegangen sind, weit
über Wert lagen .
2010 bestand dann auch Anlass, über diese Fragen
immer wieder zu reden . Es war von Werbebriefen an po-
tenzielle Sponsoren usw . die Rede . Es war die Rede von
Partnerpaketen und Ähnlichem mehr. Und es war natür-
lich von exklusiven Gesprächen die Rede . Das ist das,
was ich vorhin umschrieben habe mit den Worten: Der
Sponsor will eine Gegenleistung .
Da kommt nicht bloß ein Plakat hin, sondern da geht es
um Vernetzung . Genau dieser Eindruck sollte aus dem
Bundestag heraus verhindert werden .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass Vermieten von
Amtsträgern mit Parteibuch ist eben genau der Punkt, der
an die strafrechtliche Grenze heranreicht . Dass nun eini-
ge SPD-Kollegen – jeder von uns hat sich ja zwischen-
zeitlich den halbstündigen Bericht angesehen – ziemlich
glaubhaft versichert haben, dass sie das nicht gewusst
haben, ändert nichts daran . Allein, dass es möglich er-
scheint, zu Amtsträgern ebensolche Verbindungen auf-
bauen zu können oder sich zu erkaufen, ist sozusagen fast
ein Totalschaden für die Demokratie . Da wir im Ranking
der Liste der beliebtesten Berufe nicht gerade ganz oben
stehen, ist eine solche Praxis ganz besonders problema-
tisch .
Meine Kollegin hat es gesagt: Wenn es nicht so pro-
blematisch wäre, würde es nicht regelmäßig im Bericht
des Bundestagspräsidenten auftauchen . Der hat ja die
Angelegenheit immer wieder an das Parlament zurück-
gegeben und für eine Regelung geworben . Wir meinen,
dass Transparenz allein nicht ausreicht . Wir meinen, dass
man die gesamte Praxis unterbinden sollte.
Insofern würde man vonseiten der Parteien gar nicht erst
in den Geruch kommen, solche Gegenleistungen erbrin-
gen zu müssen. Parteienfinanzierung soll demokratisch
sein, und demokratisch geht es vor allem dann zu, wenn
Bürgerinnen und Bürger genau die gleichen Rechte auf
Zugang zu Politikerinnen und Politikern haben, wenn
nicht über bestimmte Brücken gegangen werden muss,
wenn keine Sonderzugänge für Lobbygruppen und für
Firmen geschaffen werden.
Ich hoffe, dass diese Debatte vielleicht ein ganz klei-
nes bisschen zum Umdenken beiträgt .
Vielen Dank . – An dieser Stelle darf ich der Kolle-
gin Sitte noch zu ihrem heutigen Geburtstag gratulieren .
Herzlichen Glückwunsch!
Jetzt hat die Kollegin Gabriele Fograscher, SPD-Frak-
tion, das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Transparenz – das ist wahr – ist unver-
zichtbar in einer parlamentarischen Demokratie . Sie ist
essenziell für die Willensbildung der Bürgerinnen und
Bürger und damit für eine informierte Wahlentscheidung .
Für uns ist Transparenz mehr als das, was Sie von
den Grünen heute zum Thema Sponsoring vorlegen . Wir
haben uns in den vergangenen Jahren immer wieder für
mehr Transparenz eingesetzt, und wir konnten auch eini-
ges erreichen:
Wir haben die Bestechung von Abgeordneten neu ge-
regelt und diese unter Strafe gestellt .
Wir haben klare Regeln für den Wechsel von Politi-
kern in die Wirtschaft geschaffen.
Wir haben die Zahl der Hausausweise des Deutschen
Bundestages für Interessenvertreterinnen und Interessen-
vertreter stark begrenzt .
Und wir erhalten regelmäßig halbjährlich einen Be-
richt der Bundesregierung über externe Berater in den
obersten Bundesbehörden .
Wir als SPD-Bundestagsfraktion würden gerne noch
weiter gehende Regelungen schaffen.
Damit Entscheidungsprozesse nachvollziehbar sind,
wollen wir ein verpflichtendes Lobbyregister auf gesetz-
licher Grundlage beim Deutschen Bundestag einrichten .
Dieses soll darüber Auskunft geben, welcher Interessen-
vertreter mit welchem Budget für welchen Auftraggeber
tätig ist .
Dr. Petra Sitte
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620568
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Auch der Einsatz von externen Beratern in den obers-
ten Bundesbehörden muss nachvollziehbar sein .
Wir wollen deshalb eine legislative Fußspur einführen,
aus der hervorgeht, welchen Beitrag externe Berater und
Interessenvertreter bei der Ausarbeitung eines Gesetzent-
wurfes geleistet haben .
Wir wollen, dass alle Bundestagsabgeordneten voll-
ständig ihre Einkünfte aus Nebentätigkeiten offenlegen,
und das auf Euro und Cent . Die derzeitige Stufenrege-
lung bringt immer noch keine vollständige Transparenz .
Auch bei der Parteienfinanzierung haben wir bereits
mehr Transparenz geschaffen. Ende vergangenen Jahres
haben wir die Saldierung wieder eingeführt . Damit wird
transparenter, welche Einnahmen und Ausgaben eine
Partei hat und worauf sich die staatliche Teilfinanzierung
stützt . Das haben wir beschlossen mit der Mehrheit der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Grünen bei
Enthaltung der Linken . Wir können uns auch hier durch-
aus noch mehr vorstellen . So fordern wir zum Beispiel
immer wieder – leider bis jetzt ergebnislos – ein Verbot
von Verbandsspenden, die Einführung einer jährlichen
Obergrenze von 100 000 Euro pro Spender und eine He-
rabsetzung der Sofortveröffentlichungsgrenze bei Groß-
spenden .
Auch wir wollen eine gesonderte Ausweisung von
Sponsoring in den Rechenschaftsberichten der Partei-
en . Das haben wir auch in unserem Regierungspro-
gramm von 2013 festgeschrieben . Zu diesem Thema
gab es bereits zahlreiche Berichterstattergespräche und
Diskussionsrunden . Doch leider – das haben wir heute
ja gehört – sehen CDU und CSU keinen Handlungsbe-
darf . Sponsoringeinnahmen werden derzeit unter der
Rubrik „Einnahmen aus Veranstaltungen, Vertrieb von
Druckschriften und Veröffentlichungen und sonstiger
mit Einnahmen verbundener Tätigkeit“ ausgewiesen .
Jetzt möchte ich einmal auf die Größenordnung einge-
hen, die dieser Einnahmeposten hat: bei der CDU und der
SPD beträgt er jeweils 8 Prozent der Gesamteinnahmen,
bei den Grünen sind es 1,6 Prozent und bei den Linken
0,9 Prozent.
Wenn es in dieser Legislaturperiode nicht mehr zu ei-
ner gesetzlichen Regelung zur gesonderten Ausweisung
des Sponsorings kommt, werden wir als SPD auf frei-
williger Basis ab dem nächsten Parteitag die Aussteller
und Sponsoren inklusive der gezahlten Nettosumme auf
unserer Homepage veröffentlichen.
Die Grünen stellen heute den Antrag, Sponsoring-
einnahmen ebenso zu behandeln wie Spenden . Spen-
den werden über alle Gliederungen hinweg im Rechen-
schaftsbericht der Bundespartei zusammengeführt . Egal
an wen, an welche Gliederung jemand spendet – alle die-
se Spenden werden für den Rechenschaftsbericht addiert .
Für das Sponsoring ist das nicht so einfach . Auf Bun-
des-, Landes- und Bezirksebene ist eine separate Auswei-
sung machbar . Für die zahlreichen Ortsvereine, Unterbe-
zirke, Kreisverbände mit Tausenden von ehrenamtlichen
Kassiererinnen und Kassierern halte ich eine separate
Ausweisung von Sponsoring aber nicht für zielführend .
Die Ehrenamtlichen müssen einen immensen bürokrati-
schen Aufwand leisten, um zum Beispiel die Brötchen
für 40 Euro, die der regionale Bäcker zum Kinderfest
geschenkt hat, und die Würstchen für 90 Euro, die der
regionale Metzger zum Sommerfest unentgeltlich gelie-
fert hat, auszuweisen . Ich meine, dieser Aufwand steht in
keinem Verhältnis zum Erkenntnisgewinn durch solche
Aufstellungen . Das zeigt, dass die bestehenden Regelun-
gen für Spenden eben nicht eins zu eins auf das Sponso-
ring übertragen werden können .
Wenn Sie von den Grünen wirklich eine praxistaugli-
che Regelung wollen, sollten Sie Ihren Antrag auf sofor-
tige Abstimmung zurückziehen und mit uns in ernsthafte
Gespräche eintreten . Frau Haßelmann, Ausschussbera-
tungen und Berichterstattergespräche als ein „Versen-
ken“ zu bezeichnen, entwertet auch unsere Arbeit im
Parlament.
Ich fordere Sie gerne zu ernsthaften Gesprächen auf, um
eine Lösung für dieses Problem zu finden.
Danke schön .
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt Michael Frieser
das Wort .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir erleben eine Sternstunde: Immer dann,
wenn in der Presse mit entsprechenden Schlagzeilen von
einer Verfehlung berichtet wird, muss das grundsätzliche
Regel- und Gesetzeswerk herangezogen werden . – Frau
Kollegin Fograscher: „Tapfer!“, würde ich mal sagen .
Dass die SPD nach diesem „Lapsus“ – ich bezeichne das
ganz vorsichtig mal so – genau das nicht weiter tut, näm-
lich einen Minister zu vermieten, versteht sich von selbst .
Dazu brauche ich kein Gesetz und kein Regelwerk .
Deshalb halte ich es auch für etwas schwierig, im
Augenblick vor dem Hintergrund dieser Frage einen Ha-
se-und-Igel-Wettbewerb zu veranstalten in dem Sinne:
Gabriele Fograscher
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20569
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(D)
Der eine will etwas zum Thema Sponsoring, und der an-
dere will etwas zum Thema Lobbyismus machen . – Das,
was passiert ist, hat nichts mit Sponsoring oder Partei-
enfinanzierung im Rahmen von Spenden zu tun. Ich bit-
te darum, das im Sinne der Demokratie fein säuberlich
auseinanderzuhalten .
Sponsoring bedeutet, dass sich Menschen innerhalb
eines Rechtsstaates, einer Demokratie dem politischen
Prozess zuwenden und erkennbar machen, dass sie wirk-
lich daran teilhaben wollen . Alle Einnahmen aus diesen
Geschäften – das gilt nicht nur für Parteitage – können
eingesehen werden . Die Rechenschaftsberichte liegen
beim Bundestagspräsidenten . Auf Ersuchen sind wir
selbstverständlich auch persönlich bereit, darüber Be-
richt zu erstatten . Wir laden jeweils auch gegenseitig zu
den Parteitagen ein.
Ich habe Verständnis dafür, dass die SPD, die diesen
Fehler eingesteht und auch Besserung lobt, jetzt nicht nur
sagt, dass sie das nicht mehr tut, sondern auch versucht,
mit einem eigenen Vorschlag politisch in die Vorhand
zu geraten . Ich glaube nur, dass wir uns damit in dieser
Frage, um die es im Zentrum geht, keinen Gefallen tun .
Denn weder eine Änderung beim Thema Lobbyismus
noch beim Thema Sponsoring wird etwas daran ändern,
dass man vor falsches Verhalten bei der Frage, wie man
Einfluss auf die Politik gewinnen kann, keine Regeln set-
zen kann; denn in diesem Parlament ist jeder Einzelne
von uns seinem Gewissen unterworfen – sofern der Ein-
zelne denn eines hat .
Aber im Ergebnis muss doch jeder selbst verantwor-
ten, wie er sich in dieser Frage verhält . Und ich bin darü-
ber erstaunt, dass es doch immer wieder jemanden gibt,
der sich tatsächlich für eine solche Aktion hergibt – egal
mit welchen gesellschaftspolitischen, gesellschaftsrecht-
lichen Verschachtelungen man versucht, das in irgendei-
ner Weise zu camouflieren.
Aber es bleibt dabei: Der Anteil des Sponsorings –
wir haben es gehört – ist wirklich verschwindend gering .
Deshalb kann man nur sagen: Die Ordnung, die wir in
§ 24 des Parteiengesetzes gefunden haben, beinhaltet
auch die Pflicht, alle Sponsoringleistungen auszuweisen.
Das bedeutet eindeutig, dass man das ablesen kann . Nicht
umsonst hat die europäische Staatengruppe GRECO zum
Thema Parteienfinanzierung gesagt: Dies ist in Ordnung.
Es ist in Deutschland ordnungsgemäß – wie in anderen
europäischen Staaten auch – geregelt .
Das sagt übrigens auch die in diesem Land immer
noch verbindliche Rechtsprechung: Alles, was zu dem
Thema Sponsoring an Ausweisung notwendig ist, ist ge-
leistet worden .
Ich verstehe, dass man in so einer aufgeheizten Dis-
kussion versucht, mit tollen Vorschlägen wieder nach
vorn zu kommen . Aber ich kann nur sagen: Wir haben
zwei Jahre zum Thema Parteienfinanzierung verhandelt.
Erst in der letzten Sitzung haben die Grünen gesagt: Zum
Thema Sponsoring könnten wir noch etwas machen .
Die entscheidende Botschaft muss doch sein, dass wir
in der Demokratie dankbar sein müssen für Menschen,
für Firmen, die sich nicht nur zu Parteien bekennen,
sondern auch zur Funktion von Parteien, nämlich an der
Willensbildung teilzunehmen . Das bedeutet, dass sie
sich nicht hinter Masken verbergen . Das bedeutet, dass
man sich nicht im Hinterzimmer trifft, wo es keiner mit-
bekommt, sondern das bedeutet, dass man mit offenem
Visier sagt, welche Firma an welcher Stelle Parteien mit
einer Art von Sponsoring unterstützt .
Darum geht es . Deshalb: Am Ende des Tages hilft al-
les Gerede nicht . Am Ende des Tages geht es darum, ob
wir das, was wir an Regeln für die Parteienfinanzierung
haben, anwenden. Es geht darum, dass wir als Parlamen-
tarier in den Parlamenten, als Funktionäre in den Partei-
en – und das geht bis hinunter zu den Ehrenamtlichen –
uns rechtstreu verhalten . Es muss gelten: Wir füllen diese
Funktionen aus und versuchen dabei, unsere Arbeit auf-
rechtzuerhalten .
Natürlich ist Sponsoring bei zurückgehenden Ein-
nahmen ein zunehmend wichtig werdender Aspekt . Wer
wüsste das besser als Parteienvertreter? Gegen dieses
Problem im Zusammenhang mit Sponsoring helfen keine
neuen Gesetze und auch kein neues Regelwerk; da hilft
nur ein funktionierender moralischer Kompass .
Vielen Dank .
Vielen Dank. – Jetzt hat für die SPD-Fraktion der Kol-
lege Dietmar Nietan das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich möchte gar nicht darum herumreden:
Das in der Berichterstattung der Sendung Frontal 21 ge-
schilderte Geschäftsgebaren innerhalb der SPD-eigenen
Medienagentur Network Media ist unakzeptabel und mit
sozialdemokratischen Prinzipien nicht vereinbar. Damit
wurde nicht nur dem Ansehen meiner eigenen Partei,
sondern auch der Politik insgesamt großer Schaden zu-
gefügt .
Ich habe deshalb als Schatzmeister der SPD veran-
lasst, dass dieser Vorgang intern untersucht wird, um
dann aus den gewonnenen Erkenntnissen auch Konse-
quenzen zu ziehen . Unabhängig von dieser Aufarbeitung
habe ich umgehend sichergestellt, dass es die sogenann-
ten Vorwärts-Gespräche nicht mehr geben wird .
Ich weiß, dass wir uns nicht nur der berechtigten Kri-
tik an dem, was passiert ist, sondern auch unberechtig-
Michael Frieser
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620570
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ten Unterstellungen stellen müssen . Deshalb will ich es
hier noch einmal in aller Deutlichkeit sagen: Trotz der
Berichterstattung über unsere Agentur bleibt es für die
SPD weiter dabei: Mit Sponsoringleistungen kann kein
Zugang zu Amtsträgern, Abgeordneten oder Parteifunk-
tionären erkauft werden .
Ich will hier noch einmal betonen, dass die Politike-
rinnen und Politiker, die in der Vergangenheit an Vor-
wärts-Gesprächen teilgenommen haben, nicht über De-
tails etwaiger Absprachen zwischen Sponsoren und der
Agentur ins Bild gesetzt wurden; ihnen war auch die
Höhe etwaiger Zahlungen nicht bekannt .
Auch wenn wir davon ausgehen können, dass in dem
in Rede stehenden Fall kein Verstoß gegen das Parteien-
gesetz vorliegt, hat Bundestagspräsident Lammert recht,
wenn er sagt:
Völlig unabhängig von der Frage, ob das rechtlich
relevant ist oder nicht, es ist jedenfalls selten däm-
lich .
Ich weiß, dass das, was hier geschehen ist, zu einem
weiteren Vertrauensverlust bei den Menschen in unse-
rem Land geführt hat . Aber ich will an dieser Stelle auch
deutlich sagen: Auch wenn es ein langer und schwerer
Weg sein wird, sollten wir jetzt gemeinsam im Bundestag
alles dafür tun, das verlorengegangene Vertrauen wieder
zurückzugewinnen . Aus diesem Grund begrüße ich die
hier eingebrachte Initiative der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen ausdrücklich .
Es wäre aus meiner Sicht ein gutes Signal, wenn wir
noch in dieser Legislaturperiode Regelungen in das Par-
teiengesetz aufnehmen, die das Parteiensponsoring trans-
parenter machen .
Wir hätten dem vorliegenden Antrag heute gerne zu-
gestimmt . Da aber unser Koalitionspartner bisher nicht
dafür zu gewinnen war, werden wir zu Beginn des kom-
menden Jahres unsere eigenen Vorschläge für mehr
Transparenz beim Sponsoring vorlegen .
Ich will es hier sehr deutlich sagen, weil ich es auch
belegen kann: Die Vorschläge, die wir machen, fordern
wir als SPD seit 2010. Sie können das in unseren Wahl-
programmen, in den Statements meiner Vorgängerin,
Dr. Barbara Hendricks, nachlesen. Es ist keine Erfin-
dung, die uns jetzt einfällt, weil wir Mist gebaut haben .
Ich will kurz schildern, was aus unserer Sicht wichtig
wäre und was, ohne eine überbordende Bürokratie aufzu-
bauen, getan werden könnte .
Erstens. Wir brauchen im Parteiengesetz eine sehr prä-
zise Definition davon, was wir unter Sponsoring verste-
hen, damit es keine Missverständnisse gibt . Ich glaube,
dass die Definition, wie sie im Erlass des Bundesfinanz-
ministeriums zur steuerlichen Behandlung von Sponso-
ring zu finden ist, eine gute Orientierung wäre.
Zweitens. In den Rechenschaftsberichten der Parteien
sollten Einnahmen aus Sponsoring mit einer neuen ei-
genen Einnahmeposition ausgewiesen werden und nicht
wie bisher in eine Sammelposition eingehen, die einen,
wie ich finde, schönen Titel hat.
Er lautet: „Einnahmen aus Veranstaltungen, Vertrieb von
Druckschriften und Veröffentlichungen und sonstiger
mit Einnahmen verbundener Tätigkeit“ . Ich glaube, es
ist sinnvoll, im Sinne der Transparenz Sponsoring nicht
in einer solchen Sammelposition zu verstecken, sondern
deutlich auszuweisen .
Drittens. Es ist auch sinnvoll, eine Veröffentlichungs-
pflicht, vergleichbar mit den Regelungen zu Parteispen-
den im jetzigen Parteiengesetz, zu verankern.
Viertens . Hier gebe ich allen recht, die es angespro-
chen haben . Wir sollten uns darüber verständigen, dass
wir, wenn wir eine neue Regelung schaffen, uns über-
legen, wie wir sie so ausgestalten können, dass wir ört-
liche, lokale Parteiorganisationen vor einer überborden-
den Bürokratie bewahren . Wenn Sie zum Beispiel vom
örtlichen Metzger die Grillwürstchen für ein Sommerfest
gesponsert bekommen, dann müssen Sie nicht ellenlange
bürokratische Wege auf sich nehmen .
Unabhängig von der Frage, wie wir uns hier im Parla-
ment einigen, haben wir – meine Kollegin Fograscher hat
das schon gesagt – uns auf freiwilliger Basis entschieden,
ab dem nächsten Jahr sicherzustellen, dass wir nicht nur
wie bisher die Liste der Sponsoren unserer Parteitage
veröffentlichen, sondern für jede SPD-Veranstaltung die
exakte Höhe des Betrages des jeweiligen Sponsors ver-
öffentlichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie können mir
wirklich glauben: Die jetzt bekanntgewordenen Vorfälle
sind nicht nur peinlich . Sie ärgern mich deshalb, weil sie
Wasser auf die Mühlen von Populisten sind, deren Partei-
en selbst mit dubiosesten Methoden zur Geldbeschaffung
auffällig geworden sind.
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, damit es
keinen Zweifel gibt, will ich noch einmal betonen: Für
Dietmar Nietan
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20571
(C)
(D)
das, was bei Network Media passiert sein soll oder pas-
siert ist – wir untersuchen es –, tragen wir als SPD eine
Verantwortung . Wir müssen dieser Verantwortung zu-
künftig durch ein besseres Handeln gerecht werden . Auf
der anderen Seite halte ich es für richtig, dass wir für die
Verteidigung einer pluralistischen, an den Werten unse-
res Grundgesetzes orientierten Parteiendemokratie hier
in diesem Hause eine gemeinsame Verantwortung tragen .
Wir sollten deshalb das Anliegen in dem hier vorlie-
genden Antrag von Bündnis 90/Die Grünen nicht nur
ernst nehmen, sondern auch sicherstellen, dass wir eine
entsprechende Regelung möglichst in großer Gemein-
samkeit noch in dieser Legislaturperiode umsetzen, liebe
Kolleginnen und Kollegen .
Ich kann Ihnen jedenfalls versichern, dass an der
SPD-Fraktion die Verabschiedung einer guten Regelung
zum Sponsoring im Parteiengesetz noch in dieser Legis-
laturperiode nicht scheitern wird . Hier müssen jetzt ande-
re Farbe bekennen .
Vielen Dank .
Vielen Dank . – Das Wort hat jetzt die Kollegin Barbara
Woltmann, CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vor einem Jahr – es war auch Adventszeit – ha-
ben wir schon einmal nach zweijähriger sehr intensiver
und heftiger Debatte eine Änderung des Parteiengesetzes
verabschiedet, und in dieser Debatte war auch ein wich-
tiger Punkt, dass wir mehr Transparenz bei der Parteien-
finanzierung schaffen. Ich denke – Kollege Frieser hat
das schon ausgeführt –, das ist uns mit den Änderungen,
die wir seinerzeit ins Gesetz hineingebracht haben, auch
durchaus gelungen .
Dass wir jetzt erneut über das Thema Transparenz und
die Frage, ob wir genügend Transparenz in der Partei-
enfinanzierung haben, sprechen müssen, ist einem aktu-
ellen Anlass geschuldet . Kollege Nietan, ich bin Ihnen
dankbar, dass Sie hier so offen angesprochen haben, dass
das ein Fehler war und sich so etwas auch nicht wieder-
holen darf . Ich glaube schon, es kann Ihnen nur peinlich
sein, eine Überschrift wie „Rent a Sozi“ in den Medien
zu lesen .
Die Überschrift in der taz vom gestrigen Tag lautet:
„Schluss mit Rent-a-Sozi“ . Das macht es auch nicht
wirklich besser, weil diese Art von Überschrift, wenn es
denn so ist, immer eine Art von Käuflichkeit suggeriert.
Ich bin von jeder Art von Schadenfreude weit entfernt .
Denn seien wir doch mal ehrlich: Es fällt doch auf uns
alle zurück, auf die gesamte politische Klasse . Wir alle
müssen dem Eindruck entgegentreten, dass Politik in ir-
gendeiner Art und Weise käuflich sein könnte.
Politiker stehen sowieso schon in der Beliebtheitsskala
ganz unten . Insofern sind die Aktivitäten Ihrer Werbe-
agentur, die Sie vorhin erwähnt haben – Network Me-
dia –, absolut kontraproduktiv und insgesamt schädlich .
Dass die betroffenen Politiker – Herr Oppermann hat
teilgenommen, Frau Lambrecht hat teilgenommen, Olaf
Lies, der niedersächsische Wirtschaftsminister von der
SPD, hat teilgenommen – von den Geldzahlungen keine
Kenntnis hatten, macht es ja nicht wirklich besser . Der
Negativeindruck ist erst mal da . Insofern müssen wir al-
les tun, damit sich dies nicht wiederholt .
Ich möchte an die Worte des Kollegen Frieser erin-
nern, der vorhin gesagt hat: Dieser Vorgang hat absolut
nichts mit dem normalen Sponsoring zu tun, sondern da
ist gesagt worden, Ihre Politiker, Ihre Führungskräfte kä-
men nur, wenn eine Summe X gezahlt wird . Auch andere
Parteien haben Fehler gemacht. Ich will uns da nicht aus-
nehmen: Das, was wir 2010 gemacht haben, war auch ein
Fehler. Ich bezeichne es bei jeder Partei als Fehler, wenn
der Eindruck vermittelt wird, mit einem Politiker könne
man nur sprechen, wenn man vorher dafür bezahlt habe .
Das möchte ich nicht .
Ansonsten kann ich zur Parteienfinanzierung insge-
samt nur sagen: Das ist in Artikel 21 Grundgesetz schon
geregelt:
Die Parteien wirken bei der politischen Willens-
bildung … mit . … Sie müssen über die Herkunft
und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermö-
gen … Rechenschaft geben .
Das haben wir ja auch mit der Novellierung im letzten
Jahr gewährleistet . Da gibt es die einschlägige Vorschrift
in § 24 Parteiengesetz.
Frau Kollegin Woltmann, das ist eine gute Stelle, um
Sie mal zu unterbrechen . Gestatten Sie eine Zwischenfra-
ge der Kollegin Wolff?
Ich glaube, wir sind schon jetzt in Zeitverzug .
Ich möchte gerne weitermachen .
Es gibt viele Möglichkeiten, wie sich Parteien finan-
zieren können: über Mitgliedsbeiträge und Spenden, aber
natürlich auch über Sponsoring . Sponsoring ist ein lega-
Dietmar Nietan
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620572
(C)
(D)
les mögliches Mittel; es ist überprüft worden . GRECO
hat gesagt, es sei verfassungsgemäß, es sei alles in Ord-
nung, wir könnten das so machen . Der werte, geschätzte
Kollege Helmut Brandt, der jetzt nicht mehr da ist, hat
in seiner Rede am 17 . Dezember letzten Jahres – er ist
ja bei uns der zuständige Berichterstatter – schon dazu
ausgeführt, dass § 24 Parteiengesetz das auch mit erfasst.
Ich möchte an dieser Stelle ganz ausdrücklich be-
tonen: Selbst wenn wir wie auch immer geartete Of-
fenlegungs- und Transparenzregelungen bezüglich des
Sponsorings hätten, wäre dieser Fall nicht davon erfasst
gewesen . Ich möchte auch daran erinnern, dass sich jeder
Abgeordnete – es gibt einen Verhaltenskodex, über den
wir diskutiert haben und den wir uns am Anfang dieser
Legislaturperiode gegeben haben – fragen muss: Was tue
ich? Ist das politisch korrekt? Handle ich richtig? Daran
müssen wir uns ausrichten .
Wir halten eine weiter gehende Regelung nicht für
erforderlich, weil wir glauben, dass § 24 Parteiengesetz
das abdeckt . Wenn es gute Vorschläge gibt, wäre ich die
Letzte, die darüber nicht noch einmal gerne redet . Aber
wie gesagt: Dieser Vorgang wäre davon nicht erfasst ge-
wesen .
Vielen Dank .
Vielen Dank . Damit sind wir am Ende der Debatte an-
gelangt .
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksa-
che 18/10476 mit dem Titel „Parteiensponsoring regeln“.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Abstim-
mung in der Sache, die Fraktionen der CDU/CSU und
SPD wünschen Überweisung, und zwar zur federführen-
den Beratung an den Innenausschuss und zur Mitbera-
tung an den Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz .
Nach ständiger Übung stimmen wir zunächst über
den Antrag auf Ausschussüberweisung ab . Ich frage
deshalb: Wer stimmt für die beantragte Überweisung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist die
Überweisung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der Opposition beschlossen . Deshalb
stimmen wir über den Antrag auf Drucksache 18/10476
nicht in der Sache ab .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 c auf:
a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Dritten Gesetzes zur Änderung des Asylbe-
werberleistungsgesetzes
Drucksachen 18/9985, 18/10351, 18/10444
Nr. 1.9
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
Drucksache 18/10521
Drucksache 18/10522
b) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedar-
fen sowie zur Änderung des Zweiten und
des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch
Drucksachen 18/9984, 18/10349, 18/10444
Nr. 1.8
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
Drucksache 18/10519
Drucksache 18/10520
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Arbeit und So-
ziales zu dem Antrag der Ab-
geordneten Dr . Wolfgang Strengmann-Kuhn,
Kerstin Andreae, Markus Kurth, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Existenzminimum verlässlich absichern,
gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen
Drucksachen 18/10250, 18/10519
Zu beiden Gesetzentwürfen der Bundesregierung liegt
je ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor .
Über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Er-
mittlung von Regelbedarfen werden wir später nament-
lich abstimmen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach einer interfrak-
tionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minu-
ten vorgesehen . – Ich sehe keinen Widerspruch . Dann ist
so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bun-
desregierung hat die Parlamentarische Staatssekretärin
Gabriele Lösekrug-Möller .
G
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Eines ist klar:
Die existenzsichernden Leistungen müssen sich an den
allgemeinen Lebensverhältnissen und der Wohlstands-
entwicklung orientieren; denn Teilhabe muss auch bei
Leistungsbezug möglich sein . Deshalb ist der Gesetzge-
ber zu Recht verpflichtet, regelmäßig die Leistungssätze
sowohl im SGB II und im SGB XII als auch im Asylbe-
werberleistungsgesetz anzupassen . Mit beiden Gesetzen,
die wir heute abschließend beraten, kommen wir dieser
Verpflichtung nach.
Barbara Woltmann
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20573
(C)
(D)
Schon der ursprüngliche Entwurf des Regelbedarfs-
Ermittlungsgesetzes sah vor, das soziokulturelle Exis-
tenzminimum auf Grundlage des bewährten Statistik-
modells erneut zu bemessen . Ich halte fest: Im Ergebnis
führt das Gesetz unter anderem zu deutlich höheren Re-
gelbedarfen für Kinder in der mittleren Altersstufe sowie
zu moderaten Erhöhungen bei Alleinstehenden und Part-
nern in Paarhaushalten.
Ich begrüße es sehr, dass wir uns im parlamentarischen
Verfahren auf weitere Punkte verständigen konnten, von
denen viele Menschen in unserem Land profitieren wer-
den . So haben wir zum Beispiel das sogenannte Erstren-
tenproblem gelöst . Viele Leistungsberechtigte, die keine
bedarfsdeckende Rente haben, mussten bislang im ersten
Rentenzahlmonat von ihrem Grundsicherungsanspruch
leben, weil die Rente erst am Monatsende überwiesen
wird. Dadurch konnten Betroffene in der Vergangenheit
in eine Notlage geraten . Mit dem vorliegenden Gesetzent-
wurf sorgen wir dafür, dass Leistungsberechtigte künftig
für den entsprechenden Monat ein Überbrückungsdarle-
hen erhalten, das nur in zumutbarer Höhe zurückgezahlt
werden muss .
Gestern im Ausschuss haben die Oppositionsfraktio-
nen erhebliche Zweifel an der Umsetzung der Vorgaben
des Bundesverfassungsgerichts geäußert . Diese Kritik
wird auch heute zu hören sein . Dazu sage ich ganz klar:
Der Gesetzgeber könnte es sich bei der Bewertung, an
welchem Lebensniveau sich das Existenzminimum be-
misst, natürlich leicht machen und die Referenzgruppe
ganz großzügig bemessen . Dann drückte er sich zwar vor
wertenden Entscheidungen in der Sache, erntete jedoch
den meisten Applaus . Oder er stellt sich wie die Bun-
desregierung der Verantwortung und bekennt Farbe bei
der Frage: Wie viel braucht ein Mensch zum würdevol-
len Leben? Die Bundesregierung hat sich mit ihrem Ge-
setzentwurf für eine verantwortliche und verantwortbare
Neubemessung der Regelbedarfe entschieden . Grundla-
ge ist das bewährte und vom Bundesverfassungsgericht
im Kern bestätigte Verfahren unter Beachtung der höch-
strichterlichen Urteile .
Auch mit dem zweiten heute vorliegenden Gesetzent-
wurf, dem Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung
des Asylbewerberleistungsgesetzes, nehmen wir verant-
wortungsvoll notwendige Anpassungen vor .
Ich bitte Sie um Zustimmung zu beiden Gesetzent-
würfen, damit die Gesetze am 1 . Januar 2017 in Kraft
treten können .
Vielen Dank .
Vielen Dank . – Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt
Katja Kipping .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Deutsche Gewerkschaftsbund sagt zu dem vorliegenden
Gesetzentwurf aus dem Hause von Andrea Nahles – Zi-
tat –: Aus unserer Sicht sind die Defizite so schwerwie-
gend und vielfältig, dass wir fordern, noch einmal ganz
neu zu rechnen . – Zitat Ende .
Recht hat er . Was Andrea Nahles hier vorgelegt hat, ist
nichts anderes als das gezielte Kleinrechnen des sozio-
kulturellen Existenzminimums . Und dazu sagen wir als
Linke geschlossen Nein .
Zur Erläuterung: „Soziokulturelles Existenzmini-
mum“ meint, dass der Mensch nicht nur körperlich
überleben soll, sondern auch als soziales Wesen überle-
ben muss . Das heißt eben, dass man nicht nur Geld zum
Essen braucht, sondern auch, um Freunde zu treffen, zu
einem Verein zu fahren oder sich den Bezug einer Tages-
zeitung leisten zu können . Beim soziokulturellen Exis-
tenzminimum handelt es sich um ein Grundrecht . Hier ist
also besondere Sorgfalt gefragt .
Doch Andrea Nahles hat alle Tricks ihrer Vorgänge-
rin mit CDU-Parteibuch faktisch fortgesetzt. Nur zur
Erinnerung, wie der Regelsatz berechnet wird: Mehrere
Haushalte halten über drei Monate ihre Konsumausga-
ben fest, und dann wird von den Ausgaben der ärmeren
dieser Haushalte – es sind die unteren 15 Prozent – das
Existenzminimum abgeleitet . Sie haben die unteren
15 Prozent der Einkommenshierarchie genommen. Nur,
um eine Ahnung davon zu vermitteln, wie arm die Leu-
te sind, von deren Ausgaben wir die Regelsätze ableiten,
sage ich: Das durchschnittliche Einkommen dieser Haus-
halte beträgt 764 Euro . Das heißt, diejenigen, von deren
Ausgaben wir das ableiten, leben weit unter der Armuts-
grenze . In dieser Gruppe sind verdeckt Arme enthalten .
Hinzu kommt, dass Sie jede Menge Abschläge zu-
sätzlich vornehmen . Um einige Beispiele zu nennen:
Die Haftpflichtversicherung, die Malstifte für die Kin-
der in der Freizeit, die Kugel Eis im Sommer, der Grab-
schmuck, der Weihnachtsbaum, das Glas Glühwein auf
dem Weihnachtsmarkt – das alles und vieles mehr ge-
stehen Sie Menschen, die auf Hartz IV angewiesen sind,
nicht zu . Ich muss ganz klar sagen: Das, was CDU/CSU
und SPD hier machen, ist eine große Bevormundung
durch die materielle Daumenschraube, und das ist übel .
Wenn man nur die offensichtlichen Tricks weglassen
würde, müsste der Regelsatz bei mindestens 560 Euro
liegen .
Nun ist es ja neuerdings Mode geworden, das Problem
Armut zu relativieren und zu sagen: Das ist ja nur ein sta-
tistischer Effekt. – Ich möchte klar festhalten: Es ist sehr
Parl. Staatssekretärin Gabriele Lösekrug-Möller
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620574
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(D)
sinnvoll, Armut im Verhältnis zum gesamtgesellschaftli-
chen Standard zu bemessen .
Darüber hinaus müssen wir aber auch klar sagen:
Hartz-IV-Betroffene hierzulande sind wirklich von ma-
terieller Unterversorgung betroffen. Dazu nur einige
Zahlen: 34 Prozent – das ist also jeder Dritte – sagen,
sie können sich keine notwendigen medizinischen Zu-
satzleistungen leisten; 59 Prozent sagen, sie können
nicht einmal abgenutzte Möbel ersetzen; 69 Prozent der
Hartz-IV-Betroffenen sagen, dass sie sich nicht einmal
eine Woche Urlaub auf niedrigstem Niveau mit ihrer Fa-
milie leisten können; 29 Prozent sagen, dass sie es sich
nicht leisten können, Freunde zu sich nach Hause ein-
zuladen . Um es zusammenzufassen: Für viele Menschen
hierzulande ist Armut wahrlich kein abstraktes Problem,
sondern bittere Realität . Daran muss man etwas ändern .
Unter diesem Tagesordnungspunkt wird auch der
Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des
Asylbewerberleistungsgesetzes behandelt . Das, was
Schwarz-Rot hier vorschlägt, ist schäbig . Es ist Aus-
druck einer wirklichen Ignoranz gegenüber höchstrich-
terlicher Rechtsprechung . Ich kann aus Zeitgründen nur
auf einen Punkt eingehen. Ihr Gesetzentwurf sieht vor,
dass Personen, die in Gemeinschaftsunterkünften leben,
die Leistungen um 10 Prozent gekürzt werden sollen. Sie
unterstellen damit, dass all diese Menschen quasi in einer
eheähnlichen Einstandsgemeinschaft leben . Der Vertre-
ter des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes hatte dafür nur ein
Wort . Er sagte: Das, was Schwarz-Rot hier macht, ist
faktische Zwangsverpartnerung . – Deshalb sagen wir zu
diesem Gesetzentwurf ganz klar und entschieden Nein .
Wir haben angeregt, dass über diesen Gesetzentwurf
namentlich abgestimmt wird, und das aus gutem Grund .
Ich habe in der Vergangenheit auf so mancher Diskus-
sionsveranstaltung vor Wahlen immer wieder den Ein-
druck gehabt: Mensch, in der SPD sitzen echt vernünf-
tige Leute, die verstanden haben, dass Hartz IV, dass die
Agenda 2010 ein Fehler war, und die kritische Punkte
einräumen. – Das Problem ist: Am Tag nach der Wahl ist
das offensichtlich nichts mehr wert. Deswegen steht heu-
te jeder von Ihnen ganz persönlich in der Verantwortung .
Das, was hier vorliegt, bedeutet ganz klar Armut und
materielle Ausgrenzung per Gesetz . Jeder, der diesem
Gesetzentwurf zustimmt, sagt Ja zu Armut und Ausgren-
zung . Wir als Linke sagen Nein dazu . Wir sagen Ja zu
den wirklichen Alternativen . Das sind für uns gute Arbeit
und eine sanktionsfreie Mindestsicherung in Höhe von
mindestens 1 050 Euro .
Vielen Dank .
Danke . – Jetzt hat die Kollegin Jana Schimke für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir bera-
ten heute abschließend Gesetzentwürfe, bei denen es um
die Neufestsetzung der Regelbedarfe im SGB II und im
SGB XII sowie im Asylbewerberleistungsgesetz geht . Es
geht also um jene Bereiche unseres Unterstützungssys-
tems, mit denen das Existenzminimum bedürftiger Men-
schen in Deutschland sichergestellt wird . Uns wurde die
Verantwortung zuteil, Wünschenswertes zu berücksich-
tigen, vor allem aber auch im Rahmen des Machbaren
zu bleiben . Schließlich geht es um sehr unterschiedliche
Gruppen von Menschen: Die einen sind dazu aufgerufen,
für ihren Lebensunterhalt möglichst bald wieder alleine
zu sorgen . Die anderen können das aus gesundheitlichen
oder altersbedingten Gründen nicht mehr .
Wenn es ums Geld geht, ist es fast nie möglich, alle
Beteiligten – dazu zähle ich Parteien, Interessensver-
bände oder auch die Bundesländer – zufriedenzustellen .
Deshalb hat eine Reihe von Forderungen keinen Zugang
ins Gesetz gefunden . Das ist auch gut so . Gleichwohl
schaffen wir heute die Grundlage, dass die Hilfebedürfti-
gen in unserem Land weiterhin ausreichende Leistungen
im Sinne des Existenzminimums erhalten . Bedürftige
können weiterhin darauf vertrauen, durch den Staat und
durch die Gemeinschaft unterstützt zu werden .
Maßgeblich dafür ist die aktuelle Einkommens- und
Verbrauchsstichprobe aus dem Jahr 2013 . Sie spiegelt
die Lebensverhältnisse der Haushalte und Menschen in
Deutschland wider und ist damit eine der wichtigsten
amtlichen Statistiken . Wir bleiben ganz bewusst bei die-
ser Methodik zur Berechnung des Regelsatzes, weil sie
sich bewährt hat und den verfassungsrechtlichen Vor-
gaben entspricht . Dies haben sowohl das Bundesverfas-
sungsgericht als auch die Sachverständigen in der erst
kürzlich stattgefundenen öffentlichen Anhörung noch
einmal bestätigt .
Die positiven Signale dieses Gesetzes an die Bürger
zeigen sich einmal mehr in mehrfacher Hinsicht . Zum
einen profitieren Bedürftige von der guten gesamtwirt-
schaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Lage in unse-
rem Land . So steigen die Regelsätze im Sozialgesetz-
buch II und im Sozialgesetzbuch XII um durchschnittlich
5 Euro und für Kinder im Alter von 7 bis 14 Jahren sogar
um 21 Euro. Hier kommen wir den Preissteigerungen der
letzten Jahre in vielen Bereichen nach, beispielsweise
in den Bereichen Nahrung, Kleidung und auch Energie .
Zum anderen sind diese Erhöhungen moderat . Sie sind
ein Signal an die vielen Menschen in unserem Land, die
diese Leistungen mit ihren Steuern und Einkommen fi-
nanzieren . Wir als politische Verantwortungsträger zei-
gen, dass wir verantwortungsvoll mit den Steuergeldern
umgehen .
Sozialpolitik ist aber auch oft eine Gratwanderung
zwischen Anreiz und Fehlanreiz . Deshalb werden wir
als Union unsere Ziele von Sozialpolitik nicht aus dem
Katja Kipping
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20575
(C)
(D)
Blick verlieren. Konkret ist damit das Prinzip von Hil-
fe zur Selbsthilfe gemeint . Ausufernde Regelsätze und
Zusatzleistungen hier und da können dazu führen, dass
Hilfe zu Abhängigkeit führt . Das wollen wir vermeiden .
Es geht aber auch darum, zu prüfen, ob Leistungen
noch zeitgemäß und in der Sache begründet sind . Dies
zeigt sich auch bei den Regelsätzen im Asylbewerber-
leistungsgesetz . Hier kommen wir den vielen Asyl-
rechtsänderungen des vergangenen Jahres nach, und wir
entsprechen unserem Anspruch, vorrangig Sach- statt
Geldleistungen auszugeben. Dies betrifft die Berechnung
der Regelbedarfe . Danach werden wir den notwendigen
Bedarf, zu dem Nahrung, Kleidung, Unterkunft, Ge-
sundheitspflege oder auch Haushaltsprodukte zählen, um
durchschnittlich 17 Euro reduzieren .
Wir führen ebenfalls eine neue, niedrigere Bedarfs-
stufe für erwachsene Leistungsberechtigte in Sammel-
unterkünften ein. Diese Personen teilen sich durch den
gemeinschaftlichen Wohnraum die Kosten . Das werden
wir künftig im Regelsatz berücksichtigen. Hier schaffen
wir in vielerlei Hinsicht Klarheit und auch mehr Gerech-
tigkeit im Sinne aller, die auf staatliche Hilfen angewie-
sen sind .
Weiter schaffen wir Klarheit bei den Menschen mit
Behinderung, die in einer Wohngemeinschaft leben, zum
Beispiel bei den Eltern, bei Freunden oder bei Verwand-
ten . Sie wurden vorher durch die Regelbedarfsstufe 3
erfasst und damit wie Menschen in stationären Einrich-
tungen behandelt . Das Bundessozialgericht hat uns be-
auftragt, das zu ändern . Diese Menschen erhalten künftig
einen höheren Regelsatz .
Meine Damen und Herren, jeder in unserem Land
kann darauf vertrauen, dass er in der Not die notwendige
Unterstützung bekommt . Wir haben deshalb im Bera-
tungsverlauf die Problematik der Erstrentner ausführlich
thematisiert und eine Lösung gefunden .
Diese durch Maß und Mitte geprägten Entscheidun-
gen stehen für eine finanzierbare, nachhaltige und damit
auch gute Sozialpolitik . Eine Gesellschaft muss sich ihre
Standards, die sie sich selbst setzt, auch immer leisten
können im Sinne kommender Generationen und des so-
zialen Friedens innerhalb der Gesellschaft . Genau das
setzen wir mit diesem Gesetz um .
Vielen Dank .
Vielen Dank . – Nächster Redner ist der Kollege
Dr . Wolfgang Strengmann-Kuhn von der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir behandeln heute ein sehr wichtiges Gesetz . Es geht
um das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwür-
digen Existenzminimums. Das betrifft die 8 Millionen
Menschen, die in Deutschland Mindestsicherungsleis-
tungen beziehen, und eigentlich uns alle, auch die, die
Steuern zahlen, weil sich auch der Steuerfreibetrag letzt-
lich aus diesen Berechnungen ableitet . Es ist also ein Ge-
setz, das uns alle betrifft.
Das Existenzminimum wird alle fünf Jahre neu be-
rechnet . Grundlage ist ein sogenanntes Statistikmodell .
Es geht aber nicht darum, das Existenzminimum objektiv
zu bestimmen, sondern dahinter stecken immer norma-
tive Entscheidungen . Die Grundidee ist eigentlich, dass
man eine Referenzgruppe, die ein existenzsicherndes
Einkommen hat, und deren Ausgaben betrachtet und da-
raus den Regelsatz ableitet .
Was die Bundesregierung jetzt allerdings macht, ist
Folgendes: Sie betrachtet eine Referenzgruppe, die sie so
ausgesucht hat, dass das Einkommen gerade etwas über
dem Grundsicherungsniveau liegt . In dieser Referenz-
gruppe sind zudem viele Menschen, die weniger als die
Grundsicherung haben . Dadurch entstehen Zirkelschlüs-
se . Ihr Einkommen beträgt gerade einmal 764 Euro .
Eigentlich müssten zumindest die Gesamtausgaben
der Menschen in dieser Gruppe als Referenzwert genom-
men werden, aber selbst das macht die Bundesregierung
nicht . Von den Ausgaben, die diese Gruppe hat, rechnet
sie 140 Euro herunter und rechnet damit das Existenzmi-
nimum künstlich klein . Es ist eindeutig, dass das Exis-
tenzminimum, das die Bundesregierung hat berechnen
lassen, nicht existenzsichernd ist . Deswegen werden wir
diesen Gesetzentwurf ablehnen .
Ich könnte relativ lange darüber reden, was an der
Berechnung der Bundesregierung problematisch ist, und
unsere Alternativen ausführlich darstellen . Ich mache das
jetzt nicht, weil die drei Minuten, die ich noch habe, dazu
nicht ausreichen und ich vermutlich keine zusätzliche
Redezeit bekomme. Frau Präsidentin, ich würde das gern
machen, lasse das aber und verweise auf die Stellung-
nahmen der Sozialverbände und den Alternativvorschlag
in unserem Antrag, der hier heute auch behandelt wird .
Darin steht, wie man das Existenzminimum methodisch
vernünftig und existenzsichernd berechnen könnte . Ich
empfehle das zum Nachlesen .
Ich möchte die Zeit nutzen, um auf zwei aus meiner
Sicht wichtige Punkte hinzuweisen, die in der Debatte
ein Rolle gespielt haben und interessanterweise aus den
Reihen der Unionsfraktion angesprochen worden sind,
die ich für den sozialen Zusammenhalt bei uns für rele-
vant halte, bei denen ich aber andere Schlussfolgerungen
ziehen würde als die Kolleginnen und Kollegen aus der
Unionsfraktion .
Der eine Punkt ist: Wir haben diese Woche gerade die
neuen Zahlen vom Statistischen Bundesamt erhalten,
wonach 8 Millionen Menschen in Deutschland Grund-
sicherungsleistungen beziehen – 8 Millionen, also fast
10 Prozent der Bevölkerung. Nimmt man noch Leistun-
gen nach dem BAföG hinzu, sind es schon 9 Millionen
Jana Schimke
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620576
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(D)
Menschen, die Grundsicherungsleistungen oder ähnliche
Leistungen in Deutschland beziehen .
Kollege Zimmer hat in der ersten Lesung hier im Ple-
num sowie gestern im Ausschuss noch einmal betont:
Wenn man das Existenzminimum ordentlich berechne-
te – wie wir das vorschlagen – oder wir dem Vorschlag
der Linken folgten, hätten wir nicht 8 oder 9 Millionen,
sondern 10 Millionen, 11 Millionen oder noch mehr
Menschen, die Grundsicherungsleistungen beziehen . Da-
mit stieße das bedürftigkeitsgeprüfte Grundsicherungs-
system an seine Grenzen, was durchaus problematisch
wäre . Deswegen ist es aus meiner Sicht wichtig, auch
über Alternativen wie das Grundeinkommen nachzuden-
ken und zu diskutieren .
Man muss aber mindestens dafür sorgen, dass die
Menschen, die eigentlich nicht in das Hartz-IV-Sys-
tem, nicht in die Grundsicherung gehören, dort heraus-
kommen . Dafür haben wir in unserem Rentenkonzept
Vorschläge unterbreitet – vor allen Dingen die grüne
Garantierente –, um Menschen, die lange rentenversiche-
rungspflichtig beschäftigt waren, nicht in die Grundsi-
cherung abrutschen zu lassen .
Und wir werden morgen Vormittag die grüne Kinder-
grundsicherung diskutieren, mit der wir es erreichen,
dass ein großer Teil der jetzt auf Hartz IV angewiesenen
Kinder aus dem Hartz-IV-Bezug herauskommt . Das wäre
das Mindeste, was man an der Stelle tun müsste .
Ich möchte aber auf eine weitere Gruppe verweisen,
und damit bin ich bei dem zweiten Punkt, der in der gest-
rigen Debatte eine Rolle gespielt hat, nämlich: Was ist
mit den Erwerbstätigen? Müsste es nicht einen Abstand
geben zwischen denen, die erwerbstätig sind, und denen,
die das Existenzminimum erhalten? Ja, ich finde schon.
Auch wenn das Lohnabstandsgebot nicht mehr gilt und
für die Berechnung des Existenzminimums laut Bundes-
verfassungsgericht keine Rolle mehr spielen darf, müs-
sen wir dafür sorgen, dass Menschen, die erwerbstätig
sind, ein höheres Einkommen haben als das Existenzmi-
nimum .
Da sind wir alle gefordert, noch einmal über Maßnah-
men nachzudenken, mit denen wir das erreichen . Denn
ich glaube, auch der soziale Zusammenhalt ist gefährdet,
wenn es nicht möglich ist, durch eigene Arbeit mehr zu
bekommen als das Existenzminimum . Das gilt auch für
Teilzeiterwerbstätige und Selbstständige . Ich glaube,
dass da noch eine wichtige Aufgabe vor uns liegt .
Auch da könnte ich Vorschläge unterbreiten .
Da aber meine Redezeit um ist, ein kurzes Fazit: Wir
müssen also an zwei Stellen ansetzen . Wir brauchen auf
der einen Seite eine Grundsicherung, die existenzsi-
chernd ist, vor Armut schützt und deren Regelsatz ver-
nünftig berechnet ist . Auf der anderen Seite müssen wir
aber dafür sorgen, dass möglichst wenig Menschen in die
Grundsicherung abrutschen, und dabei vor allem an die
Alten, die Kinder und an die Erwerbstätigen denken . So
wird ein Schuh daraus . Die Bundesregierung macht bei-
des nicht, es wäre aber beides dringend notwendig, um
den sozialen Zusammenhalt bei uns wiederherzustellen .
Vielen Dank .
Danke schön . – Jetzt hat Kollegin Daniela Kolbe für
die SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist gut und entspricht auch dem gesunden
Menschenverstand, dass wir uns die Höhe der Leistungs-
sätze regelmäßig anschauen und den tatsächlichen Le-
benshaltungskosten anpassen . Es ist logisch: Wenn die
Preise steigen, müssen auch die Sozialleistungen steigen.
Deswegen wird regelmäßig eine EVS durchgeführt –
Herr Strengmann-Kuhn hat ein paar grundsätzliche Din-
ge dazu gesagt –, die eine statistische Grundlage dafür
bietet, sich ein Bild zu machen, was man in Deutschland
braucht, um ein würdevolles Leben zu finanzieren und
teilhaben zu können .
Aber Sie haben völlig recht: Es ist eine normative Ent-
scheidung, es gibt nicht den objektiv richtigen Wert da-
für . Deswegen führen wir, wenn wir uns ehrlich machen,
diese wichtige und auch schwierige Diskussion mitei-
nander .
Dieses soziokulturelle Minimum ist in Deutschland
Gott sei Dank verbrieftes Recht, und zwar nicht nur für
die Empfängerinnen und Empfänger von SGB-II- und
SGB-XII-Leistungen, sondern auch für diejenigen Men-
schen in Deutschland, die Leistungen nach dem Asyl-
bewerberleistungsgesetz erhalten . Dazu möchte ich ein
paar Sätze sagen .
Auch nach dem neuen Asylbewerberleistungsgesetz
steigen die Leistungen, weil die Preise gestiegen sind.
Wenn Sie sich den Gesetzentwurf anschauen, dann wer-
den Sie allerdings feststellen, dass die Auszahlungsbeträ-
ge sinken . Das liegt unter anderem daran, dass nach einer
Einigung der Koalitionsfraktionen einige Dinge zukünf-
tig als Sachleistungen erbracht werden, die deshalb aus
dem Leistungssatz herausgenommen werden . Dazu sage
ich gleich noch mehr .
Wir gleichen das Asylbewerberleistungsgesetz an ei-
nigen Punkten auch an das SGB XII bzw. das SGB II an.
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20577
(C)
(D)
Dadurch gibt es hier eine größere Parallelität; das finde
ich auch gut und richtig . Unser System der Sozialgesetz-
gebung ist sehr kompliziert . Deshalb macht es Sinn, an
der einen oder anderen Stelle gleichlaufende Regelungen
zu haben .
Ich freue mich sehr, dass wir es endlich hinbekommen
haben, eine solche gleichlaufende Regelung im Bereich
des Ehrenamtes einzuführen. Zukünftig – ich finde das
vollkommen richtig – werden bis zu 200 Euro anrech-
nungsfrei sein, die ein Geflüchteter, der Leistungen nach
dem Asylbewerberleistungsgesetz erhält, dafür erhält,
dass er sich ehrenamtlich einbringt . Das ist genau die
gleiche Regelung, die auch schon im SGB XII gilt, und
wir freuen uns, dass das jetzt endlich auch für diesen Be-
reich in Kraft treten wird .
Wir wertschätzen damit das bürgerschaftliche En-
gagement von Geflüchteten, das viele von uns auch aus
ihren Wahlkreisen kennen . Wir fördern den Optimalfall
der Integration und senden das Signal: Liebe Geflüchtete,
ihr seid nicht zur Passivität in diesem Land verdammt,
sondern wir wollen, dass ihr euch einbringt, dass ihr ein
Teil dieser Gesellschaft seid und dass ihr euer Wissen
und Können im Sportverein – oder wo immer ihr das
mögt – teilt . Das ist die herzliche Einladung, die auch
von diesem Gesetzentwurf ausgeht .
Wir gliedern durch diesen Gesetzentwurf zwei Teile
aus und erbringen sie zukünftig als Sachleistungen, und
zwar die Leistungen für Strom und für Wohnungsin-
standhaltung . Das ist für verschiedenste Konstellationen
prinzipiell durchaus sinnvoll, etwa für Bewohner von
Gemeinschaftsunterkünften, die nicht renovieren, wenn
sie ausziehen, und wo auch nicht jedes Zimmer einen
Stromzähler hat . Diese Ausgliederung steht jetzt im Ge-
setzentwurf .
Wir haben in der Anhörung aber auch durchaus kriti-
sche Stimmen gehört; denn das Leben ist bunt . Es leben
eben nicht alle Bezieherinnen und Bezieher in Gemein-
schaftsunterkünften, sondern manche leben auch in einer
privaten Wohnung . Die Kommunen, die genau das för-
dern, dass Geflüchtete nämlich in privaten Wohnungen
untergebracht werden, fürchten zukünftig einen höheren
Verwaltungsaufwand, weil sie Stromrechnungen einsam-
meln und die Renovierungen klären müssen, und das
nehmen wir sehr ernst .
Außerdem müssen die Betroffenen wissen, dass sie
zukünftig ein Recht darauf haben, die Stromkosten und
die Kosten für die Wohnungsinstandsetzung abzurech-
nen . Womöglich wäre hier eine Kannregelung sinnvoller
gewesen; denn das Leben ist nun einmal bunt .
Wir haben aber etwas anderes getan: Wir werden uns
die Regelung und ihre Wirkungen 2018 noch einmal an-
schauen und genau prüfen, ob wir hiermit den Kommu-
nen einen Gefallen oder ob wir etwas Kontraproduktives
tun . Ich denke, wir werden diese Debatte sowieso stets
weiterführen, und das werden wir auch an dieser Stelle
tun .
Zum Schluss möchte ich noch einen Punkt loswerden,
weil das in der Debatte manchmal ein bisschen schräg
anklingt: Wir Sozis glauben nicht, dass man durch Leis-
tungskürzungen Geflüchtete abschrecken
oder davon abbringen kann, nach Deutschland zu kom-
men . Es gibt auch aktuelle Studien, die genau das bele-
gen . Die Leute kommen wegen der Demokratie, wegen
der Freiheit und wegen der Rechtsstaatlichkeit hierher .
Wir finden, dass das Bundesverfassungsgericht hier
einen wichtigen Rechtsgrundsatz formuliert hat, näm-
lich, dass die Festlegung des Existenzminimums eben
nicht migrationspolitisch motiviert sein darf, und dabei
sollte es auch bleiben .
Vielen Dank .
Vielen Dank. – Als Nächstes hat Professor Dr. Matthias
Zimmer für die CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Er-
mittlung der Regelbedarfe nach SGB XII ist ein kompli-
ziertes Verfahren .
Darüber zu streiten, ob das alles trennscharf ist und wel-
che Gruppen hereingerechnet, herausgerechnet, zu wel-
chem Prozentsatz berücksichtigt werden sollen, ist ein
unendliches Feld der Freude für die Fachwissenschaftler .
Der Kollege Strengmann-Kuhn, der ja Fachwissenschaft-
ler ist, hat uns gerade und auch gestern im Ausschuss ge-
zeigt: Das ist auch ein unendliches Feld der Leidenschaft .
Man kann es anders machen, als wir es gemacht ha-
ben, man muss es aber nicht . Mir reicht es, dass das Sta-
tistische Bundesamt in der Anhörung bestätigt hat, dass
die Berechnung fachlich in Ordnung ist .
Ähnliches gilt für die Frage der Vereinbarkeit mit der
Verfassung . Der Vorwurf der mangelnden Konformität
mit der Verfassung ist immer schnell bei der Hand . Je-
doch ist das Verfahren 2011 ähnlich durchgeführt wor-
den, ganz ohne Beanstandungen . Für mich bedeutet dies:
Daniela Kolbe
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620578
(C)
(D)
Die Ermittlung der Regelsätze ist sachgemäß und verfas-
sungskonform .
Wir als Union haben uns – auch dies sei gesagt – eini-
gen Wünschen des Koalitionspartners verweigert . Aber
wir haben das mit guten Gründen getan . Drei Bereiche
will ich einmal aufgreifen .
Erstens . Unser Koalitionspartner hätte gerne gesehen,
wenn wir für sogenannte Weiße Ware den Erwerb über
Darlehen bzw . Zuschuss möglich gemacht hätten, also
ganz ähnlich, wie es früher nach dem alten Bundessozi-
alhilfegesetz möglich war . Nun ist die Weiße Ware schon
Bestandteil des Regelsatzes . Mir ist aber auch klar, dass
der dafür vorgesehene Anteil höchst selten zurückgelegt
und gespart wird, wie übrigens auch bei den Haushalten,
deren Einkommen über dem Niveau von Hartz IV liegt .
Ich finde es schwer, zu begründen, dass wir den einen
helfen und den anderen sagen: Schaut ihr einmal selbst
zu, wie ihr das finanziert.
Zweitens: die Frage des Umgangsmehrbedarfs . Ja, es
ist richtig: Das ist ein schwieriges Thema . Besonders das
Argument des Kindeswohls wiegt schwer . Jedoch gibt
es schon heute einen Mehrbedarf für Alleinerziehende;
sie sind in der höheren Regelbedarfsstufe 1 eingeordnet .
Sie erhalten also mehr Leistungen als verheiratete Paare
mit Kindern . Dies jetzt noch einmal auszuweiten, scheint
mir zu Unwuchten zu führen, die schwer zu rechtfertigen
sind,
zumal unsere Bedenken, was die systematische Benach-
teiligung von Familien und eingetragenen Partnerschaf-
ten durch die unterschiedlichen Regelbedarfsstufen be-
trifft, nicht ausgeräumt sind.
Drittens: die Ausweitung des Bildungs- und Teilha-
bepakets auch auf Nachhilfe zum Bildungsaufstieg . Ich
sage offen: Hier hat es bei uns sehr kontroverse Diskus-
sionen gegeben . Richtig ist: Der Zusammenhang von
sozialer Lage und Bildungschancen muss durchbrochen
werden. Richtig ist aber auch: Die Förderung von Poten-
zialen im Bildungsbereich ist eine Aufgabe der Schulen,
mithin eine öffentliche Aufgabe. Warum soll ich eine ge-
nuin öffentliche Aufgabe privatisieren? Warum sollte ich
hier Anreize für eine Nachhilfeindustrie setzen? Nein,
ich jedenfalls halte dies für falsch . Bildung ist Aufgabe
der Schulen, nicht das Geschäft der Nachhilfe . Die Schu-
len sollen ihren Job richtig machen . Bildungspolitik ist
die Aufgabe der Länder . Den Bund durch die Hintertür in
diese Aufgabe mit hineinzubringen, halte ich für falsch .
Ein letzter Gedanke . Transferleistungen müssen er-
wirtschaftet werden . Sie werden auch von denjenigen
erwirtschaftet, deren Einkommen nur einen Wimpern-
schlag über der Grenze für den Bezug der Sozialleistun-
gen liegt . Die Legitimität des solidarischen Miteinanders
in unserer Gesellschaft hängt aber wesentlich davon ab,
dass wir nicht die Ränder stärken, sondern die Mitte der
Gesellschaft, dass wir den Menschen, die arbeiten und
keine Transferleistungen erhalten, das Gefühl geben: Ihr
seid uns wichtig, und zwar nicht nur als Zahlmeister für
gesellschaftliche Randgruppen .
Wenn wir den Populismus bekämpfen wollen, müssen
wir deutlich machen: Wir wollen nicht die gesellschaft-
lichen Ränder auf Kosten der Mitte stärken, sondern die
Randgruppen in die Mitte integrieren .
Über das, was dies bedeutet, waren wir in der Koalition
durchaus unterschiedlicher Meinung. Ich finde es richtig,
diese Differenzen deutlich zu machen. Sozialpolitische
Probleme sind aus unserer Sicht manchmal eben auch
ordnungspolitische Probleme und nicht, wie es manch
einer denken mag, lediglich finanzpolitische Probleme.
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir die gesell-
schaftliche Ressource Solidarität nicht überstrapazieren
dürfen, wenn wir sie erhalten wollen. Der Populismus
dieser Tage nährt sich nämlich gerade von der Zersetzung
und der Delegitimierung dieser Ressource . „Wehret den
Anfängen“ könnte dann nämlich auch heißen, auch und
gerade in schwierigen Diskussionen über Bedarfe den
Blick auf das Gemeinwohl und die Gesamtgesellschaft
nicht zu verlieren .
Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat die Kollegin
Dagmar Schmidt, SPD-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir reden
heute über Gesetze, die mehr als 8 Millionen Menschen
in Deutschland betreffen, davon allein 2 Millionen Kin-
der und noch einmal 260 000, die über den Kinderzu-
schlag von dem betroffen sind, was wir hier und heute
beschließen .
Wir haben uns bei der Methodik für das sogenannte
Statistikmodell entschieden . Ich gebe allen Rednerinnen
und Rednern recht, die heute gesagt haben: Wir müssen
an dieser Stelle ganz besondere Sorgfalt walten lassen,
weil es um viele Menschen geht . Es geht nicht nur um
diejenigen, die im Leistungsbezug nach dem SGB II
Dr. Matthias Zimmer
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20579
(C)
(D)
sind, die Arbeitslosengeld bekommen, die manchmal
jung sind und an ihrer Situation noch etwas verändern
könnten, sondern es geht auch um diejenigen, die alt und
krank sind, die mit einer Behinderung leben und denen
es deswegen nicht mehr möglich ist, an ihrer Situation
etwas zu ändern . Genau deswegen müssen wir eine be-
sondere Sorgfalt an den Tag legen .
Auch müssen wir eine besondere Sorgfalt walten lassen,
weil es um viele Kinder geht .
Frau Lösekrug-Möller hat es gesagt: Wir erhöhen die
Regelbedarfsstufe 5 um 21 Euro . Das ist super für all die-
jenigen, die jetzt diese 21 Euro mehr bekommen .
Aber dies ist auch ein Hinweis darauf, dass wir uns viel-
leicht noch einmal genau angucken müssen, ob unsere
Methodik wirklich ein valides Verfahren darstellt, um ge-
rade für die Kinder angemessene Regelsätze zu ermitteln .
Ich glaube, da haben wir eine Aufgabe für die Zukunft .
Die SPD hat es sich zur Aufgabe gemacht, die konkre-
ten Probleme zu lösen, die uns in unseren Bürgersprech-
stunden, bei Gesprächen, die wir führen, auf den Tisch
gelegt werden . Das war zunächst einmal die Frage der
sogenannten Erstrenten, zu denen auch die Staatssekre-
tärin schon etwas gesagt hat . Wer Arbeitslosengeld be-
zieht und dann in Rente geht, der hat bislang zu Beginn
des Monats sein Geld bekommen, bekommt es dann zum
Ende des Monats und hat einen Zeitraum vor sich liegen,
in dem er sehen muss, wie er zurechtkommt . Das wol-
len wir jetzt mit einem Darlehen unterstützen, das nicht
vollständig abbezahlt werden muss . Ich glaube, diese
Problemlösung ist mehr als angemessen angesichts einer
solchen Lücke im sozialen System .
Wir hätten gerne dasselbe Prinzip, nämlich dass wir
die Menschen nicht aus der Verantwortung lassen, ihnen
aber auch nichts aufbürden, was sie am Ende des Tages
nicht leisten und nicht stemmen können, auch für die
sogenannte Weiße Ware oder für unerwartet steigende
Stromkosten angewandt . Leider hatten wir die Kraft in
dieser Koalition nicht, das auch umzusetzen .
Wir haben eine weitere Diskussion geführt . Dabei
ging es um die Frage der Mobilität . Auch da haben wir
im Vergleich zu der Regelbedarfsermittlung der letzten
Legislatur eine deutliche Verbesserung erzielt . Aber wir
haben noch immer nicht das Problem gelöst, das Men-
schen haben, die im ländlichen Raum leben . Ich weiß
nicht, wie es bei Ihnen ist . Ich komme aus dem ländli-
chen Raum . Nicht alles, was man zum Leben an Mobi-
lität haben muss, ist über den öffentlichen Personennah-
verkehr gewährleistet . Ab einem bestimmten Alter und
auch ab einer bestimmten Steigung ist auch nicht mehr
alles wirklich zwingend mit dem Fahrrad zu erledigen .
Ich bin froh, dass wir mit einem Gesetz, das wir heute
Morgen beschlossen haben, wenigstens erreichen konn-
ten, das Schonvermögen im SGB XII so zu erhöhen, dass
ein günstiger Pkw darunterfällt. Das ist zumindest ein
kleiner Schritt .
Ich bin besonders traurig darüber, dass wir Folgendes
nicht geschafft haben – Ordnungspolitik hin oder her; die
Debatte hätten Sie schon mit Frau von der Leyen führen
müssen, als Sie das Grundprinzip eingeführt haben –:
Die jetzige Situation, dass Lernförderung in Form von
Nachhilfe nur für diejenigen Kinder gilt, die akut davon
betroffen sind, sitzen zu bleiben, und ich keine Möglich-
keit habe, denjenigen Kindern Nachhilfe zu geben, die
das Potenzial, das Talent und den Willen haben, sich zu
verbessern, vom B- in den A-Kurs, von der Hauptschule
in die Realschule zu kommen, ist etwas, was ich schon
ziemlich bitter finde und was wir uns hätten leisten müs-
sen .
Ein weiterer Punkt war die Frage des Umgangsmehr-
bedarfs . Auch dazu haben wir eine lange Diskussion
geführt . Dabei geht es darum, dass Menschen, die ihre
Kinder in zwei Haushalten aufziehen, weil sie getrennt
leben, einfach höhere Kosten haben, und diese an dieser
Stelle auch berücksichtigt werden müssten . Dazu, das
durchzusetzen, hatten wir ebenfalls nicht die Kraft – ich
hoffe, dass wir auch das irgendwann wieder auf die Ta-
gesordnung setzen können –;
das ist sehr schade . Auch das wäre eine wichtige sozial-
politische Maßnahme gewesen .
Frau Kollegin Schmidt, denken Sie bitte an die Zeit .
Ich denke an die Zeit, habe aber noch einen grundsätz-
lichen Punkt, den ich gerne loswerden möchte.
Da hier immer nur über die Höhe der Transferleis-
tungen geredet wird: Es geht nicht nur um die Höhe
der Transferleistungen, sondern auch um eine soziale
Infrastruktur, die wir für alle Menschen ausbauen müs-
sen . Wenn ich mir anschaue, was diese Koalition für die
Kommunen auf den Weg gebracht und geleistet hat, dann
kann ich nur feststellen, dass das ein wichtiger sozialpo-
litischer Beitrag ist .
Dagmar Schmidt
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620580
(C)
(D)
Wir dürfen diejenigen, die nicht auf der Sonnenseite des
Lebens stehen, nicht vernachlässigen .
In diesem Sinne: Glück auf und noch einen schönen
Abend!
Vielen Dank . – Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt
der Kollege Tobias Zech das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
unser gesetzlicher Auftrag, über die Regelbedarfe zu ent-
scheiden . Deshalb sind wir heute hier . Ich möchte Sie aber
auch daran erinnern, dass wir aufgrund unseres christli-
chen, wertegeleiteten Menschenbildes die Aufgabe ha-
ben, Regelsätze zu bestimmen, die eine gesellschaftliche
und kulturelle Teilnahme am Leben ermöglichen . Das
ist uns hiermit gelungen . In der katholischen Soziallehre
geht es um Solidarität und Subsidiarität, aber auch um
die Achtung des Gemeinwohls . Alle drei stehen neben-
einander . Alle drei sind gleich wichtig . Alle drei erfüllen
wir mit den beiden Gesetzen . Die Gesetze sind sachlich
richtig und verfassungsgemäß . Die Berechnungen stim-
men . Somit können wir ohne Weiteres zustimmen .
Wir stimmen heute über den Entwurf eines Geset-
zes ab, das in der Regel höhere Regelbedarfe vorsieht .
Meine Vorredner haben schon erwähnt, dass die Regel-
bedarfserhöhung bei Kindern zwischen 14 und 17 Jahre
21 Euro beträgt . Natürlich nutzen wir die Einkommens-
und Verbrauchsstichprobe, um beide Gesetze, sowohl
das Asylbewerberleistungsgesetz als auch das Gesetz zur
Ermittlung von Regelbedarfen, zu evaluieren und wei-
terzuentwickeln . Wenn wir an die Diskussionen in den
80er-Jahren zurückdenken, als es noch darum ging, ob
eine Kinokarte oder eine Zugfahrkarte zum Warenkorb
gehören, dann können wir feststellen, dass die Methodik,
die wir jetzt anwenden, wesentlich transparenter, ehrli-
cher und näher an den Menschen ist .
Wir haben auch Änderungen vorgenommen . Liebe
Dagmar Schmidt, es sind sicherlich nicht alle Änderun-
gen berücksichtigt worden, die wünschenswert gewesen
wären . Aber wir haben das Gesetz geändert, und zwar
in die richtige Richtung . Wir haben die Überbrückung
der Erstrenten eingeführt; das ist wichtig . Kollegin Mast,
das, was wir nun korrigieren, hat Rot-Grün eingeführt .
Wir haben es nun gemeinsam repariert . Es gibt allerdings
noch viel zu reparieren . Seien Sie doch einmal zufrieden
mit dem, was wir geändert haben . Der Teufel steckt be-
kanntlich im Detail . Die Nachhilfe wurde bereits als Bei-
spiel genannt . Der Kollege Zimmer hat sehr eindrucks-
voll dargelegt, wo überall Schwierigkeiten bestehen .
– Das sehen Sie anders als ich . Aber Sie erlauben mir
sicherlich meine eigene Meinung . Ich gestehe Ihnen Ihre
eigene auch zu .
So schwierig das alles im Detail ist – wir haben das
in der Anhörung und in der sehr emotionalen und guten
Ausschusssitzung erlebt –, so wichtig ist, dass wir die
Grundpfeiler Solidarität, Gemeinwohl und Subsidiarität
nicht vernachlässigen . Bildung ist in diesem Land Län-
dersache . Daher dürfen wir die Länder auch nicht der
Exkulpation zuführen . Die Länder haben sich darum zu
kümmern, dass jedem Kind – gleich welcher sozialen
Herkunft und gleich welcher finanziellen Verhältnisse –
Bildungschancen eröffnet werden. Wir müssen die Län-
der in die Pflicht nehmen und dürfen nicht in vorausei-
lendem Gehorsam finanzieren.
Wir beschließen zudem Änderungen des Asylbewer-
berleistungsgesetzes . Diese sind folgerichtig . Wir folgen
somit den Beschlüssen des Koalitionsausschusses vom
April dieses Jahres . Wir werden alles dafür tun, um die
Sachleistungen in den Vordergrund zu stellen . Sie dürfen
mit Geldleistungen verrechnet werden; das ist richtig .
Kollege Strengmann-Kuhn, das ist auch verfassungskon-
form und ist somit nicht zu kritisieren .
Wir müssen das Asylbewerberleistungsgesetz auf-
grund der Diskussionen in unserem Land und aufgrund
des Populismus, der über das Thema Asyl über uns alle
hereinbricht, offen und transparent debattieren. Das tun
wir heute . Dazu ist die Änderung im Gesetz notwendig .
Wir haben neben dem Fokus auf Sachleistungen statt
Geldleistungen mit der Adaption der Regelung über die
Steuerfreiheit von ehrenamtlichen Bezügen analog zum
SGB XII auch Erleichterungen geschaffen. Diese Er-
leichterungen können für eine bessere Integration ge-
nutzt werden .
Es ist ein schwieriges Thema . Der Teufel liegt im De-
tail . Man kann über jede einzelne Ausgabe länger strei-
ten . Ich bin mir aber sicher, dass wir hier zwei Gesetze
verabschieden, die den Grundgedanken der Werte der so-
zialen Marktwirtschaft in diesem Land gerecht werden .
Wir dürfen und müssen uns bei unserer Politik an den
Rändern orientieren, aber wir müssen immer die Mitte
im Fokus haben. Das schaffen wir damit. Ich bitte um
Zustimmung .
Herzlichen Dank .
Ich schließe die Aussprache .
Wir kommen nun zu den Abstimmungen . Zunächst
kommen wir unter Tagesordnungspunkt 9 a zur Abstim-
mung über den von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Asyl-
bewerberleistungsgesetzes . Der Ausschuss für Arbeit
und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf der Drucksache 18/10521, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf den Ihnen bekannten Drucksachen
in der Ausschussfassung anzunehmen . Ich bitte dieje-
Dagmar Schmidt
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20581
(C)
(D)
nigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
zustimmen wollen, um das Handzeichen . – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzent-
wurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition
gegen die Stimmen der Opposition angenommen .
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung . Wer dem Gesetzentwurf in die-
ser Ausschussfassung zustimmen will, den bitte ich, sich
vom Platz zu erheben. – Das läuft auf ein ähnliches Ab-
stimmungsergebnis hinaus . Wer ist dagegen? –
– Ja, der Hinweis ist völlig richtig . – Wer nicht gegen das
Gesetz stimmen will, der möge sich von den noch gar
nicht freigegebenen Urnen entfernen .
Selbst wenn ich jetzt zugunsten der Opposition eine
Reihe von Kolleginnen und Kollegen, die immerhin
am Rande des Plenums hinten stehen, den abgegebe-
nen Neinstimmen hinzurechnen würde, wäre das Erste
immer noch die Mehrheit . Damit ist der Gesetzentwurf
angenommen .
– Der Versuch war zulässig . Er ist auch mit dem entspre-
chenden Ergebnis abgewickelt worden .
Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke auf der Drucksache 18/10531 ab . Wer
stimmt diesem Entschließungsantrag zu? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Bei umgekehrter Stim-
menverteilung ist der Entschließungsantrag mehrheitlich
abgelehnt .
Unter dem Tagesordnungspunkt 9 b geht es um die
Abstimmung über den von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von
Regelbedarfen sowie zur Änderung des Zweiten und des
Zwölften Buches Sozialgesetzbuch . Der Ausschuss für
Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf der Drucksache 18/10519, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung in der Ausschussfas-
sung anzunehmen . Diejenigen, die diesem Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung zustimmen wollen – –
Da gibt es schon wieder das gleiche Problem. Ich ma-
che schon vorher darauf aufmerksam: Es beschleunigt
das Verfahren nicht, wenn sich alle um die noch nicht
vorhandenen Abstimmungsurnen drängen .
Diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss-
fassung zustimmen wollen, bitte ich um das Handzei-
chen . – Wer stimmt dagegen? – Damit ist der Gesetzent-
wurf in zweiter Beratung angenommen .
Jetzt muss sich jeder, der steht, überlegen, wofür er
stimmen will . Jedenfalls können Sie nicht gleichzeitig
für und gegen den gleichen Gesetzentwurf stimmen . Es
gibt auch noch ein paar einzelne Plätze. Insofern ist es
zumutbar, sich zu setzen .
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung . Wir stimmen auf Verlangen der
Fraktion Die Linke über den Gesetzentwurf namentlich
ab . Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle Plätze an
den Urnen besetzt? – Das ist offenkundig der Fall. Dann
eröffne ich die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das sei-
ne Stimmkarte nicht abgegeben hat? – Das scheint nicht
der Fall zu sein . Dann schließe ich die Abstimmung und
bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der
Auszählung zu beginnen . Das Ergebnis teilen wir dann
anschließend mit .1)
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion Die Linke auf der
Drucksache 18/10532 . Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? – Leichte Irritation bei der Fraktion der
Grünen? – Seid ihr wieder sortiert?
– Gut . – Wer stimmt dafür? – Die Antragsteller . Wer
stimmt dagegen? – Die Koalition . Wer enthält sich? –
Die Grünen . Ja, passt doch . Der Entschließungsantrag ist
mehrheitlich abgelehnt .
Tagesordnungspunkt 9 c . Wir setzen die Abstimmung
zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses auf der
Drucksache 18/10519 fort. Der Ausschuss empfiehlt un-
ter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ableh-
nung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
mit dem Titel „Existenzminimum verlässlich absichern,
gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen“ . Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Mit den Stimmen der Koalition ist die
Beschlussempfehlung mehrheitlich angenommen .
Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
– zu dem Antrag der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Klaus Ernst, Herbert Behrens,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Die Wahl von Betriebsräten erleichtern
und die betriebliche Interessenvertretung
sicherstellen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Beate
Müller-Gemmeke, Katja Keul, Dr . Thomas
Gambke, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mehr Betriebsrätinnen und Betriebsräte
braucht das Land
Drucksachen 18/5327, 18/2750, 18/7595
1) Ergebnis Seite 20587 C
Präsident Dr. Norbert Lammert
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620582
(C)
(D)
Das soll in 38 Minuten abgehandelt werden . Hat je-
mand weiter gehende Vorschläge? – Das ist offenkundig
nicht der Fall . Dann versuchen wir das einmal .
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem
Kollegen Bernd Rützel für die SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Lie-
be Kollegen! Sehr geehrte Damen! Sehr geehrte Herren!
Es ist mir völlig unverständlich, dass die Mitbestimmung
trotz ihrer wirklich großen Erfolge so in die Defensive
geraten ist – ja, das ist sie – ; deshalb bin ich den Linken
und den Grünen wirklich dankbar, dass sie dieses Thema
immer wieder auf die Tagesordnung setzen .
Sie stoßen bei uns auf offene Ohren.
Gleichwohl will ich Ihnen sagen, dass Ihre Anträge
zwar grundsätzlich in die richtige Richtung gehen, von
uns aber nicht angenommen werden können . Das liegt ei-
nerseits an manchem Unausgegorenem, aber andererseits
auch daran – das ist kein Geheimnis –, dass wir mit un-
serem Koalitionspartner nicht allzu viel aus dem Bereich
Mitbestimmung in den Koalitionsvertrag hineinverhan-
deln konnten .
Kaum jemand hier im Hause wird wohl bestreiten,
dass die Mitbestimmung seit Jahrzehnten eine tragende
Säule der deutschen Sozial- und Wirtschaftspolitik ist,
dass sie Ausgleich und sozialen Frieden schafft.
Die Mitbestimmung hat uns Teilhabe der Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer am Produktionsfortschritt
und Planungssicherheit für die Unternehmen gesichert.
Selbst Michael Rogowski, der noch 2004 als Präsident
des BDI die Mitbestimmung als „Irrtum der Geschichte“
bezeichnet hat, dürfte spätestens seit der Finanzkrise be-
kehrt sein; ich hoffe es zumindest.
Dank der Mitbestimmung ist Deutschland so gut wie
kein anderes Land durch die Finanzkrise 2008/2009 ge-
kommen .
Dank ihr gibt es ein seit Jahrzehnten erprobtes Vertrau-
ensverhältnis zwischen Beschäftigten und Arbeitgebern .
Eben durch dieses Vertrauensverhältnis konnten Be-
schäftigte und Arbeitgeber gemeinsam Massenentlassun-
gen und Betriebsschließungen oftmals verhindern . Auch
Gerhard Cromme, der damalige Aufsichtsratsvorsitzen-
de von ThyssenKrupp und von Siemens bestätigte im
März 2012 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:
Die Mitbestimmung in Deutschland hat in der Krise
enorm geholfen .
Dennoch haben nur 42 Prozent aller Betriebe in West-
deutschland und nur 33 Prozent aller Betriebe in Ost-
deutschland eine betriebliche Interessensvertretung .
Deswegen müssen wir die Mitbestimmung stärken .
Übrigens, neulich hatte ich in meinem Wahlkreisbüro
die Gewerkschaft der Profifußballer zu Gast.
– „Oh!“ – Sie sind organisiert; sie haben sich organisiert .
Das sollte manchem vielleicht zu denken geben. Ich finde
es sehr gut, dass sich die Profifußballer organisieren. Das
sollte ein Beispiel für viele andere sein .
Einige Arbeitgeber fürchten aber Betriebsratsgrün-
dungen wie der Teufel das Weihwasser .
Sie wehren sich mit allen zur Verfügung stehenden Mit-
teln, teilweise am Rande der Legalität und oftmals auch
darüber hinaus . Sie bekämpfen systematisch die Grün-
dung von Betriebsräten . Dementsprechend ist mittler-
weile ein juristisches Beratungsfachgebiet entstanden .
Wo man früher vielleicht noch versuchte, den einen oder
anderen Vorgang einer Betriebsratsgründung durch Zu-
geständnisse oder durch eine Schönrednerei aus dem
Weg zu räumen, so beauftragt man heute sofort Kanz-
leien – sehr teure Kanzleien – und greift auch sofort zur
Kündigung . Man heizt das Union Busting deutlich an .
Erst letzte Woche habe ich mit Vertretern der IG Me-
tall zusammengesessen . Die Geschichten, die ich dort
über Schikanen, Benachteiligungen, Verdächtigungen
und Abmahnungen hörte, waren haarsträubend .
Wir brauchen eine bessere Lösung mit Blick auf die
Strafverfolgung .
Ich habe das selber in meinem Wahlkreis miterlebt, als
eine Großbäckerei – ich habe das an dieser Stelle schon
einmal ausgeführt – ihren gewählten Betriebsratsvor-
sitzenden entlassen hat – trotz der Unterstützung durch
die Gewerkschaft NGG, trotz riesengroßer Medienkam-
pagnen und Berichterstattungen in der Zeitung und im
Fernsehen, trotz aller Interventionen von Mandatsträge-
rinnen, von Abgeordneten . Der Mann war raus . Er hat
verloren, ist zermürbt und kann auch nicht mehr zurück .
Für Unternehmen, die solche Methoden anwenden,
fehlen mir die Worte . Sie werden jedenfalls nicht erfolg-
reich sein .
Ich war lange selber Betriebsrat . Ich war Jugendver-
treter, später Personal- und dann Betriebsrat. Ich weiß,
dass die Politik die Mitbestimmung – da hast du voll-
Präsident Dr. Norbert Lammert
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20583
(C)
(D)
kommen recht, Beate – und damit die Personal- und Be-
triebsräte stärken muss. Die Politik ist hier gefordert.
Die Mitbestimmung ist ein Erfolgsmodell, auch wenn
das nicht oder vielleicht noch nicht allen Arbeitgebern
klar ist . Deutschland geht es gut – nicht trotz der Mitbe-
stimmung, sondern wegen der Mitbestimmung .
Vielen Dank .
Jutta Krellmann ist die nächste Rednerin für die Frak-
tion Die Linke .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Was fangen wir damit jetzt an?
Arbeitgeber, die Betriebsräte systematisch behindern,
gehören ins Gefängnis! – Das ist eine von 300 Antworten
auf die Frage, wie Betriebsräte besser geschützt werden
können .
– Da steht: Gefängnisstrafen für Geschäftsführer und
Vorstände .
– Das will ich gerade erzählen . Zuhören!
Darüber hat Die Linke letzten Freitag mit 250 Be-
triebs- und Personalräten im Bundestag diskutiert. Die
Schärfe der Forderung zeigt die tiefe Empörung der Be-
troffenen.
Im Gegensatz zu bezahlten Managern werden Be-
triebsräte von der Mehrheit der Beschäftigten im Betrieb
gewählt . Aber wer sich für Demokratie im Betrieb ein-
setzt, der lebt gefährlich . Denn Betriebsräte oder Be-
schäftigte, die einen Betriebsrat gründen wollen, werden
zunehmend eingeschüchtert, systematisch kaltgestellt
oder direkt gekündigt . Ob im Einzelhandel, der System-
gastronomie oder anderswo: Einige Arbeitgeber wollen
betriebsrats- und gewerkschaftsfreie Zonen schaffen, und
dazu scheint ihnen jedes Mittel recht . Dazu engagieren
sie Anwälte, die die Betroffenen mit Kündigungen über-
ziehen, egal, ob berechtigt oder nicht . Dazu beschäftigen
sie Detektive, die die Betroffene ausspionieren.
Im Kern geht es darum, die Betroffenen mürbe zu ma-
chen und sie zu brechen . Dieses System nennt sich Uni-
on Busting und wird in Deutschland immer salonfähiger .
Demokratie darf aber nicht am Werkstor enden!
Richtig ist: Verstöße gegen die Betriebsverfassung
sind kein Kavaliersdelikt, sondern eine Straftat . Im Be-
triebsverfassungsgesetz heißt es in § 119: „Mit Freiheits-
strafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird bestraft,
wer eine Wahl des Betriebsrats ... beeinflusst“ oder des-
sen Tätigkeit „behindert oder stört“ . Ich bin seit 30 Jah-
ren Gewerkschaftssekretärin, aber ich kenne keinen Ar-
beitgeber, der wegen Betriebsratsbehinderung wirklich
im Knast gelandet ist .
Um Straftaten festzustellen, bräuchten die Arbeitsge-
richte Ermittlungskompetenzen wie jedes andere Gerich-
te auch . Hier muss der Gesetzgeber handeln:
Wir brauchen Schwerpunktstaatsanwaltschaften, um sol-
che Vergehen gezielt zu verfolgen .
Aber der Gesetzgeber kann oder könnte noch mehr
tun . Die Linke fordert ein einheitliches Wahlverfahren
und fordert, dass der Kündigungsschutz für alle Kandi-
dierenden ausgeweitet und verlängert wird .
Der Einsatz von externem Sachverstand muss erleich-
tert werden . Genauso muss die Freistellung an heutige
Anforderungen angepasst werden . Wir fordern eine Be-
weislastumkehr bei der Feststellung der Erforderlichkeit
von Betriebsratsarbeit . Es kann doch nicht sein, dass
beispielsweise bei H&M eine Teilzeitbeschäftigte durch
Gehaltskürzung wegen ihrer Betriebsratstätigkeit in ihrer
Existenz bedroht wird .
Den Bundesregierungen der letzten 20 Jahre verdan-
ken wir neben zwei Klassen von Belegschaften auch
zwei Klassen von Betriebsräten: Betriebsräte, die seit
Jahrzehnten verankert sind – der Kollege Rützel hat dazu
schon etwas gesagt –, und Betriebsräte in Betrieben, in
denen es bisher keine Mitbestimmung gab und die den
Allmachtsfantasien ihrer Arbeitgeber schutzlos ausgelie-
fert sind. Politik muss diejenigen schützen, die von ihren
Arbeitgebern zum Abschuss freigegeben werden .
Die Arbeitswelt verändert sich, aber der Konflikt
bleibt der alte: der Interessengegensatz zwischen Arbeit
und Kapital . Auch bei der Arbeit der Zukunft ist die ent-
scheidende Frage, ob diejenigen, die die Werte erarbei-
ten, mitentscheiden können oder nicht .
Unser Antrag ist heute nur der Anfang . Wir streiten
auch 2017 im Bundestag für die Rechte der Betriebsräte .
Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
SPD: Sie könnten heute schon etwas machen. Ich wun-
dere mich sehr, dass Sie einerseits Betriebsräte unterstüt-
Bernd Rützel
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620584
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(D)
zen, aber heute vermutlich gegen unseren Antrag stim-
men werden . Das ist doch einfach nicht glaubwürdig .
Ziehen Sie die Korsettstangen ein, und stimmen Sie ge-
meinsam mit uns für den Antrag, damit für die Betriebs-
räte da draußen endlich etwas passiert, damit sie ihren
Glauben an die Politik wiederfinden und sehen, dass für
sie etwas gemacht wird .
Vielen Dank .
Für die Unionsfraktion hat jetzt der Kollege Wilfried
Oellers das Wort .
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Deutschland ist nicht nur ein wirtschaftlich starkes
Land, sondern wir leben hier auch die weltweit ausge-
prägteste Form der Beziehung zwischen Unternehmer
und Mitarbeiter . Das ist, auch was die Gesetzgebung
betrifft, maßgeblich auf unionsgeführte Regierungen zu-
rückzuführen .
Sie wird getragen von der Tarifautonomie und der be-
trieblichen Mitbestimmung .
Neben dem erfolgreichen Unternehmertum in
Deutschland mit den vielen mittelständischen und fami-
liengeprägten Unternehmen, den Groß- und Kleinbetrie-
ben mit ihren klugen Köpfen sind es aber gerade auch
diese beiden Säulen der industriellen Beziehung, die
Deutschland und die Menschen zu Wohlstand gebracht
haben . Wie wichtig dies für eine erfolgreiche und funk-
tionierende Wirtschaft ist, dafür, wie gut und verlässlich
sie funktioniert, das sieht man insbesondere in Krisenzei-
ten; Bernd Rützel hat es schon angesprochen . Gerade die
Erinnerungen an 2009 zeigen, wie wichtig es war, dass
man auf diese beiden Säulen zurückgreifen konnte . Ge-
rade diese beiden Säulen waren es, die uns weitgehend
schadlos durch die Krise geführt haben, aber vor allen
Dingen anschließend noch viel stärker aus der Krise
haben herauskommen lassen . Das sehen wir heute ins-
besondere an dem historischen Tiefststand der Arbeits-
losenzahl – circa 2,5 Millionen Arbeitslose – und an der
Rekordbeschäftigungszahl .
In dieser Beziehung ist es wichtig, dass Verständnis
für die Situation des jeweils anderen aufgebracht wird
und dass Lösungen gefunden werden, die die Interessen
beider Seiten berücksichtigen . Das ist natürlich nicht
immer einfach . Es führt zu intensiven und kontroversen
Diskussionen . Schließlich wollen beide Seiten voran-
kommen: Die Unternehmer wollen auf der einen Seite
bestimmte Vorstellungen umsetzen, wie man den Betrieb
erfolgreich weiterentwickeln kann . Auf der anderen Seite
möchten die Mitarbeiter eine Teilhabe an den Erfolgen
erhalten, insbesondere aber auch in bestimmten Ange-
legenheiten mitreden können, Einfluss nehmen können
und Ideen einbringen können . Wichtig erscheint mir in
diesem Verhältnis, dass beide Seiten bei ihrem Handeln
stets im Auge behalten, was der jeweils andere tut . Da,
wo es funktioniert, funktioniert es wirklich richtig gut .
Dort sind auch die Betriebe erfolgreich .
Natürlich ist es wünschenswert, dass von diesem er-
folgreichen Modell, so gut es geht und so viel es geht,
Gebrauch gemacht wird . Die Beschäftigtenzahlen, die
durch die heute in Rede stehenden Betriebsräte vertre-
ten werden, sind, wenn man die letzten 15 Jahre betrach-
tet, leider leicht rückläufig. Dabei ist festzustellen, dass
mit zunehmender Betriebsgröße der Organisationsgrad
zunimmt . Kleinere Betriebe – das verwundert natürlich
nicht – haben oft keinen so großen Organisationsgrad .
Das ist auch dem Umstand geschuldet, dass dort enge-
rer Kontakt zu dem Unternehmen besteht und dass das
Näheverhältnis dazu führt, dass Probleme konkreter an-
gegangen werden .
Nicht unerwähnt bleiben soll auch, dass es neben den
Betriebsräten auch weitere Einrichtungen gibt, wie zum
Beispiel die Schwerbehindertenvertretung oder die Frau-
enbeauftragten in Unternehmen, die Interessen wahr-
nehmen . Sicherlich ist zu berücksichtigen, dass die Mit-
bestimmung in den unterschiedlichsten Branchen auch
unterschiedlich stark verankert ist . Das hat aber auch
zum Teil historische Gründe . Zu betonen ist allerdings,
dass die Rechte der Betriebsräte im Betriebsverfassungs-
gesetz umfassend geregelt sind . Bereits ab fünf Mitarbei-
tern kann ein Betriebsrat gegründet werden . Er hat dann
umfangreiche Rechte wie Unterrichtungsrechte, Anhö-
rungsrechte, Informationsrechte, Mitbestimmungsrech-
te, Beratungsrechte usw . Sie beziehen sich nicht nur auf
Personalangelegenheiten, sondern unter anderem auch
auf die Gestaltung von Arbeitsplätzen und Arbeitsabläu-
fen . Betriebsräte genießen auch einen speziellen Kündi-
gungsschutz . Deswegen kann ich das Beispiel, das du,
Bernd, zitiert hast, nicht nachvollziehen; aber das scheint
es ja zu geben .
Zu erwähnen ist, dass in dem Gesetzespaket zu den
Werkverträgen und zur Zeitarbeit die Informationsrechte
der Betriebsräte konkretisiert worden sind .
Darüber hinaus erlaube ich mir auch, darauf hinzuwei-
sen, dass wir heute Morgen mit dem Bundesteilhabege-
Jutta Krellmann
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20585
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(D)
setz auch die Rechte der Schwerbehindertenvertretungen
gestärkt haben . Das ist sicher ein anderes Thema,
aber ich möchte es trotzdem an dieser Stelle erwähnt ha-
ben .
Insgesamt denke ich, dass die derzeitige Rechtslage
umfangreich ist und viele Schutzmechanismen hat . Sie
stellt ein ausgewogenes Konstrukt dar . Schaue ich mir
die Anträge an, die heute zu diskutieren sind, so möchte
ich dazu sagen, dass sie entweder nicht nötig – ich erläu-
tere das gleich näher – oder vielleicht etwas unverhält-
nismäßig sind .
Ich komme zu dem Beispiel, dass Mitglieder in Wahl-
vorständen und Beschäftigte, die erstmals die Wahl ei-
nes Betriebsrats einleiten wollen, dem Schutz des § 119
Betriebsverfassungsgesetz unterstellt werden sollen .
Hier geht es um die Ahndung von Straftaten gegen Be-
triebsverfassungsorgane und ihre Mitglieder . Nach mei-
ner Auffassung haben wir an dieser Stelle eine Regelung,
wenn wir § 20 Betriebsverfassungsgesetz mit § 119 Be-
triebsverfassungsgesetz in Verbindung bringen .
Eine weitere Forderung ist, befristet Beschäftigte, die
in einen Betriebsrat gewählt werden, dem umfassenden
Schutz des § 78a Betriebsverfassungsgesetz zu unter-
stellen . Das hätte zur Konsequenz, dass aus einem be-
fristeten Arbeitsverhältnis im Ergebnis ein unbefristetes
Arbeitsverhältnis werden würde . Das allerdings verstößt
gegen § 78 Satz 2 Betriebsverfassungsgesetz – für die
Zuhörer mag das alles jetzt sehr juristisch sein, aber ich
bin nun einmal Jurist –, in dem geregelt ist, dass Be-
triebsratsmitglieder weder benachteiligt, aber auch nicht
bevorteilt werden dürfen . Wenn jemand, der befristet be-
schäftigt ist, in den Betriebsrat gewählt wird und dann
ein unbefristetes Arbeitsverhältnis bekommt, ist das eine
Bevorteilung dieser Person, was zumindest nach dieser
Norm nicht zulässig ist .
Dann müsste man konsequenterweise hingehen und
diese Norm auch abschaffen, aber das fordern Sie hier
nicht .
Deswegen ist der Antrag an dieser Stelle etwas unschlüs-
sig .
Dabei sei auch erwähnt, dass man, wenn man eine solche
Forderung stellt, konsequent sein muss und keine Rosi-
nenpickerei betreiben sollte .
Darüber hinaus werden weitere Kündigungsschutz-
rechte verlangt . Ich habe eben erwähnt, dass der Kündi-
gungsschutz für Betriebsräte eigentlich schon umfassend
ist .
Außerdem wird eine Meldepflicht bei Verstößen gefor-
dert. Da soll eine entsprechende Einrichtung geschaffen
werden, bei der sie dann gemeldet werden sollen . In die-
sem Zusammenhang erlaube ich mir den Hinweis, dass
sämtliche Verstöße, die im Ergebnis festgestellt werden,
natürlich auch gerichtlich festgestellt werden müssen .
– Doch. – Die Verhandlungen sind öffentlich. Deswegen
hat jeder im Ergebnis Zugang zu den Entscheidungen,
sodass ich denke, dass eine Meldepflicht an dieser Stelle
nicht nötig ist . – Daher lehnen wir die Anträge ab .
Abschließend möchte ich vielleicht noch folgende An-
merkung machen: Auch wir von der Unionsfraktion sind
der Auffassung, dass es sehr wünschenswert ist, wenn
wir eine hohe Zahl von Betriebsräten haben . Das haben
wir auch nie in Abrede gestellt . Aber es muss im Ergeb-
nis auch die Entscheidung der Mitarbeiterschaft eines
Unternehmens sein, ob sie es machen will oder nicht .
Ich möchte in diesem Zusammenhang einige Zitate
aus der letzten Debatte nennen . Da wurde zum Beispiel
gesagt – ich zitiere –: „Nur mitbestimmte Arbeit ist gute
Arbeit .“ Ich persönlich würde das nicht unterschreiben,
weil man damit der Freiheit der Mitarbeiterschaft bei der
Entscheidung darüber, ob man einen Betriebsrat gründet,
doch etwas widerspricht . Darüber hinaus wurde in der
letzten Sitzung – es wurde heute nicht erwähnt, aber ich
erwähne es trotzdem – „eine kämpferische Mitbestim-
mung in den Betrieben“ gefordert . Da muss ich sagen:
Das sind Formulierungen, die eher auf Konfrontation
ausgerichtet sind und so ein bisschen zum Klassenkampf
aufrufen. Ich finde, in solch einer Diskussion und bei
solch einem sensiblen Thema, vor allen Dingen bei solch
einem erfolgreichen Modell sollten wir bei der Wortwahl
doch etwas behutsamer vorgehen .
Im Ergebnis darf ich feststellen, dass wir zurzeit Re-
kordzahlen am Arbeitsmarkt haben, Rekordbeschäftig-
tenzahlen haben, geringe Arbeitslosenzahlen haben . Dies
ist maßgeblich auf das hier in Rede stehende Modell zu-
rückzuführen . Deswegen sollten wir es bei der derzeiti-
gen Rechtslage belassen .
Herzlichen Dank .
Wilfried Oellers
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620586
(C)
(D)
Das Wort erhält nun die Kollegin Müller-Gemmeke
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolle-
ginnen und Kollegen! Alle Fraktionen hier betonen im-
mer wieder die wichtige Funktion von Betriebsräten;
wir haben es gerade beim Kollegen Rützel gehört . In
der Beschlussempfehlung spricht die Union von einem
„Standortvorteil für die deutsche Wirtschaft“, es sei
„grundsätzlich sinnvoll“, Betriebsräte zu stärken . Der
Kollege Paschke von der SPD hat bei der ersten Lesung
sogar analog zu unserem Antrag gesagt: „Ja, mehr Be-
triebsrätinnen und Betriebsräte braucht das Land!“ Das
hört sich alles gut an; aber ich kann diese Sonntagsreden
einfach nicht mehr hören . Das Motto „Gut, dass wir mal
darüber geredet haben“ ist zu wenig . Was fehlt, ist kon-
kretes Handeln .
Die Fakten sind doch wirklich bekannt: Die weißen
Flecken bei der Mitbestimmung sind groß . Die Arbeit
von Betriebsräten und Betriebsratswahlen werden behin-
dert; Kollege Oellers, darum geht es . Die Mitbestimmung
wird sogar in Teilen der Wirtschaft, wie in den USA, sys-
tematisch bekämpft . Es besteht also Handlungsbedarf;
denn dieser Trend muss gestoppt werden .
Drei Problemfelder sind mir ein besonderes Anliegen:
Erstens. Die schwierigste Phase ist ja, wenn sich die
Beschäftigten auf den Weg machen, einen Betriebsrat zu
gründen . Sie sind dann besonders von Benachteiligun-
gen und auch Kündigungen bedroht . Deshalb wollen
wir, dass diese aktiven Beschäftigten einen besonderen
Schutz bekommen . Wenn Arbeitgeber Betriebsräte ver-
hindern wollen, dann müssen wir ganz eindeutig auf der
Seite der Beschäftigten stehen .
Zweitens . In Betrieben mit einem hohen Anteil an Be-
fristungen ist eine kontinuierliche Betriebsratsarbeit ex-
trem schwierig, aber gerade dort ist ein gut aufgestellter
Betriebsrat bitter nötig . Deshalb wollen wir, dass auch
befristet angestellte Betriebsräte einen Schutz erhalten
analog zu § 78a Betriebsverfassungsgesetz . Herr Oellers,
wenn das bei Auszubildenden funktioniert, dann geht das
auch bei Befristungen; denn die Betriebsratsarbeit lebt
von Kontinuität .
Drittens . Wir hören immer wieder von Kündigungen,
von Abmahnungen, Schikanen und Drohungen, wenn
Betriebsräte in Betrieben nicht erwünscht sind . Das al-
les sind Straftaten nach § 119 Betriebsverfassungsgesetz,
und doch haben diese Arbeitgeber in der Regel nichts
zu befürchten . Da läuft etwas gewaltig schief . Dagegen
muss etwas getan werden . Es darf keine rechtsfreien
Räume geben; denn die Mitbestimmung ist gelebte De-
mokratie, und das sollten Sie endlich ernst nehmen .
Sehr geehrte Regierungsfraktionen, die großen He-
rausforderungen, die Globalisierung und jetzt auch die
Digitalisierung, zu meistern, das schaffen die Unterneh-
men nur gemeinsam mit engagierten Belegschaften . Die
Mitbestimmung schafft dafür die Voraussetzung; denn
nur so entsteht Augenhöhe zwischen Beschäftigten und
den Arbeitgebern .
Die Vorteile der betrieblichen Mitbestimmung sind
bekannt, und doch wird die Akzeptanz brüchig . Deshalb
brauchen die Beschäftigten Unterstützung . Sie brauchen
auch Rückendeckung, damit sie sich auch zukünftig en-
gagieren und damit sie sich auch trauen, einen neuen
Betriebsrat zu gründen, vor allem wenn die Arbeitgeber
die Mitbestimmung verhindern wollen . Notwendig ist
ein klares Bekenntnis, dass Betriebsräte erwünscht sind .
Deshalb muss die Mitbestimmung gestärkt werden .
Heute wird über zwei Anträge abgestimmt . Der An-
trag der Linken – das ist bekannt – geht uns an manchen
Stellen zu weit, und deshalb werden wir uns enthalten .
Wir Grünen haben bewusst moderate und umsetzbare
Vorschläge vorgelegt . Es ist zwar nachvollziehbar, dass
Sie, die Regierungsfraktionen, einen grünen Antrag ab-
lehnen – das ist schon klar –, aber Sie hatten seit der
ersten Lesung fast zwei Jahre Zeit, selber etwas auf den
Tisch zu legen, und bis heute ist nichts passiert . Und ver-
weisen Sie in diesem Zusammenhang nicht immer nur
auf den Koalitionsvertrag .
Denn dort steht ganz klar – ich zitiere –: Die Mitbestim-
mung ist „ein hohes Gut“ . Sie könnten jetzt ganz spontan
gemeinsam die Mitbestimmung stärken . Gute Ideen lie-
gen ja jetzt auf dem Tisch .
Gerade in der heutigen Zeit müssen die Beschäftigten
beteiligt werden . Wenn sie sich einmischen und mitre-
den können, wenn sie ihre Arbeitswelt aktiv mitgestalten
können, wenn ihre Anliegen gehört werden und wenn sie
sich gut durch Betriebsräte vertreten fühlen, dann ent-
steht ein Gefühl von Wertschätzung, und das stärkt auch
den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft .
Notwendig ist nicht weniger, sondern mehr Demokra-
tie, und das gilt auch für die Arbeitswelt . Machen Sie sich
endlich auf den Weg!
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20587
(C)
(D)
Vielen Dank .
Ich möchte das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung zur Ermittlung von Regelbedarfen sowie zur
Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialge-
setzbuch bekannt geben: abgegebene Stimmen 540 . Mit
Ja haben gestimmt 440, mit Nein haben gestimmt 99,
Enthaltungen 1 . Damit ist der Gesetzentwurf angenom-
men .
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 542;
davon
ja: 442
nein: 99
enthalten: 1
Ja
CDU/CSU
Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Artur Auernhammer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. André Berghegger
Dr . Christoph Bergner
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr . Maria Böhmer
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr . Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr . Ralf Brauksiepe
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Iris Eberl
Jutta Eckenbach
Hermann Färber
Uwe Feiler
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Axel E . Fischer
Dr . Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr . Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich
Michael Frieser
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr . Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Josef Göppel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Dr . Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Olav Gutting
Christian Haase
Rainer Hajek
Dr . Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr . Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich
Mark Helfrich
Uda Heller
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Dr . Heribert Hirte
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Alexander Hoffmann
Thorsten Hoffmann
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr . Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M . Huber
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Erich Irlstorfer
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Dr . Franz Josef Jung
Xaver Jung
Dr . Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr . Stefan Kaufmann
Ronja Kemmer
Roderich Kiesewetter
Dr . Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Hartmut Koschyk
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr . Roy Kühne
Uwe Lagosky
Dr . Dr . h . c . Karl A . Lamers
Andreas G . Lämmel
Dr . Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Dr . Silke Launert
Paul Lehrieder
Dr . Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Dr . Andreas Lenz
Dr . Ursula von der Leyen
Antje Lezius
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Dr . Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr . Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Dr . Thomas de Maizière
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Stephan Mayer
Reiner Meier
Dr . Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr . h . c . Hans Michelbach
Dr . Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Volker Mosblech
Elisabeth Motschmann
Carsten Müller
Stefan Müller
Dr. Philipp Murmann
Dr . Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Julia Obermeier
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Dr . Tim Ostermann
Beate Müller-Gemmeke
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620588
(C)
(D)
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Eckhardt Rehberg
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr . Heinz Riesenhuber
Iris Ripsam
Johannes Röring
Kathrin Rösel
Dr . Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr . Wolfgang Schäuble
Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Christian Schmidt
Gabriele Schmidt
Patrick Schnieder
Nadine Schön
Dr . Ole Schröder
Dr . Kristina Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Frhr . von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Stritzl
Michael Stübgen
Dr . Sabine Sütterlin-Waack
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Hans-Peter Uhl
Dr . Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel
Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Dr . Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Karl-Heinz Wange
Nina Warken
Kai Wegner
Dr . h . c . Albert Weiler
Marcus Weinberg
Dr . Anja Weisgerber
Peter Weiß
Sabine Weiss
Ingo Wellenreuther
Marian Wendt
Waldemar Westermayer
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-
Becker
Oliver Wittke
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Dr . Matthias Zimmer
Gudrun Zollner
SPD
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Bettina Bähr-Losse
Dr . Katarina Barley
Doris Barnett
Klaus Barthel
Dr . Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding
Burkhard Blienert
Willi Brase
Dr . Karl-Heinz Brunner
Dr . h . c . Edelgard Bulmahn
Dr . Lars Castellucci
Jürgen Coße
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr . Daniela De Ridder
Dr . Karamba Diaby
Sabine Dittmar
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier
Dr . h . c . Gernot Erler
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr . Johannes Fechner
Dr . Fritz Felgentreu
Dr . Ute Finckh-Krämer
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr . Edgar Franke
Ulrich Freese
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Angelika Glöckner
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Michael Groß
Uli Grötsch
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Michael Hartmann
Dirk Heidenblut
Marcus Held
Dr . Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Thomas Hitschler
Matthias Ilgen
Christina Jantz-Herrmann
Frank Junge
Josip Juratovic
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Cansel Kiziltepe
Arno Klare
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Anette Kramme
Dr . Hans-Ulrich Krüger
Helga Kühn-Mengel
Christine Lambrecht
Christian Lange
Dr . Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Kirsten Lühmann
Dr . Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Dr . Matthias Miersch
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
Bettina Müller
Michelle Müntefering
Dr . Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Ulli Nissen
Thomas Oppermann
Mahmut Özdemir
Aydan Özoğuz
Markus Paschke
Christian Petry
Jeannine Pflugradt
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Achim Post
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr . Sascha Raabe
Dr . Simone Raatz
Martin Rabanus
Stefan Rebmann
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20589
(C)
(D)
Gerold Reichenbach
Dr . Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Petra Rode-Bosse
Dennis Rohde
Dr . Martin Rosemann
René Röspel
Dr . Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth
Susann Rüthrich
Bernd Rützel
Sarah Ryglewski
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr . Hans-Joachim
Schabedoth
Dr . Nina Scheer
Marianne Schieder
Udo Schiefner
Dr . Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt
Matthias Schmidt
Dagmar Schmidt
Carsten Schneider
Ursula Schulte
Swen Schulz
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Andreas Schwarz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Rainer Spiering
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Dr . Karin Thissen
Carsten Träger
Dirk Vöpel
Gabi Weber
Bernd Westphal
Andrea Wicklein
Dirk Wiese
Waltraud Wolff
Gülistan Yüksel
Stefan Zierke
Dr . Jens Zimmermann
Manfred Zöllmer
Nein
DIE LINKE
Dr . Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W . Birkwald
Heidrun Bluhm
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr . Diether Dehm
Nicole Gohlke
Dr . Gregor Gysi
Dr. André Hahn
Heike Hänsel
Dr . Rosemarie Hein
Inge Höger
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Ulla Jelpke
Kerstin Kassner
Katja Kipping
Jan Korte
Jutta Krellmann
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Stefan Liebich
Dr . Gesine Lötzsch
Birgit Menz
Niema Movassat
Norbert Müller
Dr . Alexander S . Neu
Thomas Nord
Petra Pau
Harald Petzold
Richard Pitterle
Martina Renner
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Frank Tempel
Dr . Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Harald Weinberg
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Jörn Wunderlich
Hubertus Zdebel
Pia Zimmermann
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Luise Amtsberg
Annalena Baerbock
Volker Beck
Dr . Franziska Brantner
Agnieszka Brugger
Ekin Deligöz
Katharina Dröge
Harald Ebner
Dr . Thomas Gambke
Matthias Gastel
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bärbel Höhn
Dieter Janecek
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Stephan Kühn
Christian Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Monika Lazar
Steffi Lemke
Dr . Tobias Lindner
Nicole Maisch
Peter Meiwald
Irene Mihalic
Beate Müller-Gemmeke
Özcan Mutlu
Dr . Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Corinna Rüffer
Manuel Sarrazin
Ulle Schauws
Dr . Gerhard Schick
Dr . Wolfgang Strengmann-
Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr . Harald Terpe
Markus Tressel
Dr . Julia Verlinden
Doris Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Enthalten
SPD
Rüdiger Veit
Abgeordnete, die sich wegen gesetzlichen Mutterschutzes für ihre Abwesenheit entschuldigt haben, sind in der Liste der
entschuldigten Abgeordneten aufgeführt .
Jetzt erhält der Kollege Markus Paschke das Wort für
die SPD-Fraktion.
– Tragen Sie das vor, was Sie für richtig halten, und nicht,
was Ihnen jetzt durch Zurufe angedient wird .
Ich habe ja mittlerweile gelernt, dass man sich durch
Zwischenrufe nicht aus dem Konzept bringen lässt . Da-
mit meine Kolleginnen und Kollegen von den Grünen
und den Linken das vielleicht doch noch begreifen, will
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620590
(C)
(D)
ich damit anfangen, kurz zu erklären, wie eine Koalition
funktioniert:
Man schließt am Beginn einer Legislaturperiode einen
Vertrag . Darin ist geregelt, was man zusammen regeln
will. Ich finde, wir haben viele gute Sachen in den Koali-
tionsvertrag hineinverhandelt,
leider nichts zum Thema Mitbestimmung .
Aber – und das erwarte ich auch nach der nächsten Wahl
von der Koalition, die sich dann bilden wird – man hat
einen Vertrag abgeschlossen, und der ist verlässlich und
wird von allen Seiten eingehalten . Das hat auch etwas
mit Seriosität zu tun .
Vor zwei Tagen hat Bundesministerin Andrea Nahles
das Weißbuch „Arbeiten 4 .0“ vorgestellt . Darin heißt es:
Sozialpartnerschaft, Mitbestimmung und demo-
kratische Teilhabe bei der Gestaltung von Arbeits-
bedingungen sind ein Kernelement der deutschen
sozialen Marktwirtschaft, Stabilitätsanker in Krisen
und Erfolgsfaktor auch im internationalen Wettbe-
werb .
Bei der Veranstaltung wurde deutlich, dass die Arbeit der
Zukunft gar nicht ohne Mitbestimmung geht . Mit Be-
triebsrat gibt es nämlich immer einen Interessenausgleich
zum Vorteil des Unternehmens und der Beschäftigten .
Auch deshalb finde ich, dass die Anträge der Opposi-
tion in die richtige Richtung gehen .
Sie haben recht: Die Zahl der Unternehmen mit Betriebs-
rat ist rückläufig; die Behinderung von Betriebsratsarbeit
bis hin zum Betriebsratsbashing nimmt zu . Das ist eine
Entwicklung, die mich mit Sorge erfüllt, wo wir politisch
gegensteuern müssen; denn das bedeutet, dass immer
weniger Beschäftigte Mitspracherechte im Unternehmen
haben. Ich finde, das ist schlichtweg nicht zukunftsfähig.
Die Veränderung der Arbeitswelt von heute und mor-
gen braucht mehr Mitbestimmung, nicht weniger . Wenn
wir mehr Flexibilität wollen, dann kann das nicht zu-
lasten einer Seite, zulasten der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer, gehen, sondern dann braucht man einen
gerechten Ausgleich .
Dazu braucht es eine starke Stimme – und diese starke
Stimme sind die Betriebsräte und die Gewerkschaften –;
denn die Aufgaben werden nicht weniger, sondern mehr
und vielfältiger . Wir brauchen in Zukunft Lösungen für
Fragen der Digitalisierung der Arbeitswelt,
des Arbeitnehmerdatenschutzes und der Arbeitszeit, um
nur einige wenige Beispiele zu nennen . All diese Fragen
können nicht einseitig geregelt werden . Sie machen es
unumgänglich, dass die unterschiedlichen Interessen be-
rücksichtigt werden: flexible Produktion oder Dienstleis-
tung und Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder die
Möglichkeit zum Ausfüllen eines Ehrenamtes .
Hier haben wir als Gesetzgeber zwei Möglichkeiten –
das als Anregung zum Nachdenken für unseren Koaliti-
onspartner –:
Die eine Möglichkeit ist: Man sorgt auf gesetzlicher Ebe-
ne für einen Interessenausgleich . Dann wird man sehr
enge Regelungen fassen müssen, was entweder für die
Flexibilität oder für den Arbeitsschutz nicht gut ist . Bei-
des finde ich nicht besonders klug; im Zweifel muss aber
das Schutzbedürfnis der Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer Vorrang haben . Die andere Möglichkeit ist: Wir
schaffen einen flexiblen gesetzlichen Rahmen, der durch
Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen an die Bedürf-
nisse der Branche oder des Betriebes angepasst werden
kann .
Dazu brauchen wir aber mehr Mitbestimmung, mehr
Mitsprache im Betrieb, mehr Betriebsräte, mehr Rechte
der Betriebsräte .
Kluge Unternehmer werden begreifen, dass bei solchen
Rahmenbedingungen Betriebsräte und Gewerkschaften
Problemlöser sind und nicht Problemmacher.
Zu den genannten Herausforderungen habe ich in den
vorliegenden Anträgen keine ausreichenden Vorschläge
gesehen .
Deswegen werden wir den Anträgen heute nicht zustim-
men .
Markus Paschke
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20591
(C)
(D)
Vielen Dank .
Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Martin
Pätzold für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Die Debatte heute zeigt, dass es gut ist, dass
es Anträge der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen
gibt .
So können wir an dieser Stelle über betriebliche Mitbe-
stimmung, über betriebliche Interessensvertretung disku-
tieren und uns noch einmal vergewissern, wer eigentlich
die Grundlage dafür gelegt hat,
dass solche Werte in der sozialen Marktwirtschaft nach
1949 eine bedeutende und entscheidende Rolle gespielt
haben . Die Wurzeln dieser Überzeugung stammen aus
der katholischen Soziallehre .
Unterschiedliche Interessen werden ausgeglichen . Es
gibt die Säule der Solidarität – diese Säule ist bei Ihnen
vermeintlich besonders stark ausgeprägt –, die Säule der
Menschenwürde, der Personalität, aber auch die Säule
der Subsidiarität und der Eigenverantwortung . Wenn es
um betriebliche Mitbestimmung und Betriebsräte geht,
dann geht es auch immer um Eigenverantwortung und
Subsidiarität .
Dieses Thema ist uns wichtig . Es geht auch darum,
die soziale Marktwirtschaft ständig weiterzuentwickeln
und unsere Wettbewerbsfähigkeit im globalen Wettbe-
werb zu erhalten und – am besten natürlich – auszubau-
en. In einer modernen Welt, in der – Herr Paschke hat es
angesprochen – die Digitalisierung, die Arbeitswelt 4 .0,
das Berufsleben, die Berufsfelder und die Art und Wei-
se, wie gearbeitet wird, komplett verändern wird, wird
es auch darum gehen, moderne Formen abzubilden, nicht
nur durch rechtliche Gegebenheiten, sondern auch durch
gesellschaftliche Diskussionen .
So sind die Einzelfälle, die hier genannt wurden
– nicht immer nur Einzelfälle; das ist richtig –,
differenziert zu bewerten. Letztendlich ist es Auftrag für
den Gesetzgeber, festzustellen, ob er handeln muss oder
nicht . Mein Kollege Wilfried Oellers hat ja deutlich ge-
macht, welche Vorlagen Sie machen und welche Initia-
tiven Sie in Ihren Anträgen formulieren . Wir hatten die
Möglichkeit, fast zwei Jahre darüber zu diskutieren . Es
gab auch eine Anhörung zu diesem Thema . Wenn man
sich noch einmal in die Protokolle einarbeitet und sich
damit beschäftigt, dann wird auch dort sichtbar, dass es
eben nicht nur eine Auffassung dazu gab, sondern sich
durchaus ein differenziertes Bild gezeigt hat.
Sie von Bündnis 90/Die Grünen schreiben in Ihrem
Antrag, dass wir durch unsere Form der Mitbestimmung
sehr erfolgreich durch die Wirtschafts- und Finanzkrise
gekommen sind .
Wir erleben auf der anderen Seite die Entwicklung, dass
die Zahl der Betriebsräte abnimmt. In circa 40 Prozent
der Unternehmen im Westen gibt es einen; im Osten ist
die Zahl deutlich niedriger . Man muss auch hier wieder
festhalten: In Unternehmen, in denen es einen Betriebsrat
gibt, gibt es nicht unbedingt weniger Probleme als in Un-
ternehmen, in denen es keinen gibt . Aber wenn in einem
Unternehmen Probleme entstehen, kann ein Betriebsrat
natürlich auch für die Arbeitnehmer sehr hilfreich sein,
um die unterschiedlichen Interessen vernünftig auszu-
gleichen .
Das, was wir in der Diskussion hier, aber auch in den
Ausschusssitzungen und in der Anhörung bisher an Ar-
gumenten gehört haben, hat dazu geführt, dass bei uns
die Überzeugung entstanden ist, dass wir beim Interes-
sensausgleich nicht handeln müssen,
sondern dass sich die Mitbestimmung in der Form, wie
sie bisher gegeben ist, bewährt hat .
Es gibt im Antrag der Linken einige Punkte, die wir
sehr deutlich ablehnen: das vereinfachte Wahlverfahren,
das Sie beschrieben haben, die Ausweitung von Strafgel-
dern – Wilfried Oellers hat das schon angesprochen; es ist
ein grundsätzlicher Reflex bei Ihnen, immer dann Strafen
erhöhen zu wollen, wenn Fehlverhalten vorliegt – und
auch die Ausweitung des Kündigungsschutzes . Das führt
dazu, dass wir Ihrem Antrag nicht zustimmen können .
Ich komme zum Antrag von Bündnis 90/Die Grünen .
Sie listen sieben Punkte auf. Ich möchte exemplarisch
auf Punkt Nummer 4 eingehen, bei dem es darum geht,
wer die zu schützenden Personen sind. Bei diesem Punkt
können wir nicht mit Ihnen gehen, genauso wenig wie
bei Punkt 7, mit dem Sie die Frage der Behinderung und
Verhinderung von Betriebsratswahlen regeln wollen .
So ist am Ende unsere Überzeugung, dass sich die
Mitbestimmung in der jetzigen Form bewährt hat, dass
wir den Anträgen der Opposition nicht zustimmen kön-
nen und dass wir uns weiter dafür einsetzen werden, dass
wir einen starken Arbeitsmarkt haben, weil wir damit die
größten gesellschaftlichen Wirkungen erzielen können .
Markus Paschke
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620592
(C)
(D)
Vielen Dank .
Ich schließe die Aussprache .
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Arbeit und Soziales auf der Drucksache 18/7595 .
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion Die Linke mit dem Titel „Die Wahl von Betriebsräten
erleichtern und die betriebliche Interessenvertretung si-
cherstellen“ . Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung
zu? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit
ist die Beschlussempfehlung bei Enthaltung von Bünd-
nis 90/Die Grünen angenommen .
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ableh-
nung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
mit dem Titel „Mehr Betriebsrätinnen und Betriebsräte
braucht das Land“ . Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthält sich je-
mand? – Auch diese Beschlussempfehlung ist mit Mehr-
heit angenommen .
Ich rufe Tagesordnungspunkt 32 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte am NATO-geführten Ein-
satz Resolute Support für die Ausbildung, Be-
ratung und Unterstützung der afghanischen
nationalen Verteidigungs- und Sicherheits-
kräfte in Afghanistan
Drucksache 18/10347
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Widerspruch
ist nicht erkennbar . Also verfahren wir so .
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Bundesministerin der Verteidigung, Ursula von der
Leyen .
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der
Verteidigung:
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Am Abend des 10 . November hat uns die
Nachricht von einem schweren Anschlag auf das Kon-
sulat in Masar-i-Scharif ereilt . Wir haben stundenlang
gebangt, gehofft, dass nicht das Schlimmste eintritt. Gott
sei Dank konnte verhindert werden, dass es Opfer un-
ter dem Personal des Konsulates gibt, aber wir betrauern
gemeinsam mit den Afghanen sechs afghanische Sicher-
heitskräfte, die ihr Leben lassen mussten . Unsere Gedan-
ken sind heute Abend bei ihren Familien . Wir wünschen
den vielen Verwundeten, die es durch diesen Anschlag
gegeben hat, Genesung und gute Besserung auch von
dieser Stelle .
Dass der schwere Anschlag im Endeffekt so glimpflich
ausgegangen ist, haben wir vor allen Dingen zu verdan-
ken – dafür möchte ich unseren hohen Respekt und Dank
aussprechen – den Beamtinnen und Beamten der Bun-
despolizei vor Ort, den afghanischen Sicherheitskräften,
den Soldatinnen und Soldaten, die aus Camp Marmal
zu Hilfe geeilt sind, Soldatinnen und Soldaten der Bun-
deswehr, aber ganz voran auch ihren Kameradinnen und
Kameraden aus Georgien, aus Lettland und aus Estland .
Ohne sie wäre es nicht so glimpflich ausgegangen. Sie
verdienen unseren Dank dafür .
Dieser Anschlag, der sehr gezielt war, der sehr geplant
war, zeigt aber auch, wie fragil und volatil die Sicher-
heitslage in Afghanistan nach wie vor ist .
Das zu Ende gehende Jahr, das Jahr 2016, ist ein
schwieriges Jahr für die Regierung gewesen . Es war ein
sehr schwieriges Jahr für die afghanischen Sicherheits-
kräfte . Man muss in der Bilanz sagen: Die afghanischen
Sicherheitskräfte haben aus den Ereignissen des Jah-
res 2015 ihre Lehren gezogen . Sie sind besser geworden .
Sie haben nach wie vor sehr hohe Verluste – das muss
man an dieser Stelle auch erwähnen –, doch sie kämpfen,
sie agieren aktiver, erfolgreicher, als das im vergangenen
Jahr der Fall gewesen ist .
Es ist den Taliban zum Beispiel nicht gelungen, ihr
Ziel zu erreichen, eine der Provinzhauptstädte zu er-
obern . Den afghanischen Sicherheitskräften ist es ge-
lungen, diese Angriffe abzuwehren, so auch den erneu-
ten Angriff auf Kunduz-Stadt im Oktober 2016, und so
sind die afghanischen Sicherheitskräfte zumindest in der
Lage, eine strategische Pattsituation mehr oder minder
zu halten . Aber es gibt noch viel zu tun, insbesondere mit
Blick auf das Thema Ausbildung . Wir haben deshalb im
Frühjahr dieses Jahres unseren Ansatz für Ausbildung,
Beratung und Unterstützung weiter angepasst .
In allererster Linie allerdings bedarf es politischer Re-
formen seitens der afghanischen Regierung . Wir erwar-
ten mehr Aktivität . Die Regierung muss politisch enger
zusammenstehen . Insbesondere müssen Staatspräsident
Ghani und der CEO Abdullah Abdullah gemeinsam in
dieselbe Richtung arbeiten . Wir erwarten, dass die Re-
gierung echte Reformen anstößt und sie auch gegen Wi-
derstände durchsetzt . Wir haben Erwartungen an die af-
ghanische Regierung, und diese finden zurzeit zu wenig
Widerhall . Hier muss sich in erster Linie etwas ändern;
Dr. Martin Pätzold
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20593
(C)
(D)
denn eines ist uns allen in diesem Hohen Hause klar: Kei-
ne noch so gute militärische Ausbildung, kein noch so
fundierter Rat, keine noch so umsichtige Unterstützung
können die unverzichtbare Rolle einer Regierung erset-
zen . Die Regierung muss aktiver werden, zum Beispiel
mit Blick auf die Besetzung vakanter Ministerposten . Sie
muss Motor für Reformen sein; damit lenke ich den Blick
auf die längst überfällige Parlamentswahl. Nur wenn die
Regierung aktiv ist, kann das geschehen, was unverzicht-
bar notwendig ist, damit die militärischen Erfolge auf
Dauer stabilisiert werden: der wirtschaftliche Aufbau des
Landes und damit die Schaffung einer Perspektive für die
Menschen, die in diesem Land leben .
Die Staats- und Regierungschefs der NATO-Länder
haben sich im Juli dieses Jahres in Warschau darauf ge-
einigt, den Aufbau Afghanistans weiterhin zu unterstüt-
zen . Die NATO hat ihre Einsatzrahmenbedingungen und
Abläufe angepasst . Es ging darum, wie man die afgha-
nischen Partner im Einzelfall durch Aufklärung, durch
Lufttransport, durch Verwundetentransport besser unter-
stützen kann . Das jetzt vorliegende Mandat nimmt diese
Konkretisierungen der NATO durch textliche Klarstel-
lungen auf, wird aber ansonsten vollständig inhaltsgleich
fortgeschrieben . Das heißt, Niveau und Aufgaben der
Bundeswehr bleiben ebenso unverändert wie die Ober-
grenze von 980 Soldatinnen und Soldaten .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt nach wie vor
viel Schatten, viele Probleme in Afghanistan. Es gibt aber
auch Fortschritte, die wir unter dem Berg der Probleme
oft nicht sehen . Ich will ein kleines Beispiel nennen: Es
wurden gerade in etwa der Hälfte des Landes Wahlen
zu den Provincial Councils – gewissermaßen Kommu-
nalwahlen – durchgeführt . Immerhin ist die Hälfte der
Gewählten Frauen . Das wäre unter den Taliban niemals
möglich gewesen . Wenn wir auf unsere eigenen Wahlen
schauen, dann wissen wir, wie schwer es ist, eine Quote
von 50 Prozent für Frauen zu erreichen.
– Sehr gut! Sie haben fast das afghanische Niveau er-
reicht .
Deshalb ist es auch richtig, dass wir unser Engagement
ein weiteres Jahr fortsetzen . Aber wir werden – das muss
uns auch klar sein – durch unser Engagement den Af-
ghanen nur Zeit verschaffen, Zeit, die Probleme anzupa-
cken, Zeit, die erforderlichen Reformen auf allen Ebenen
konsequent zu verfolgen . Sie müssen die hart errungenen
Fortschritte und Erfolge, die es im Land unzweifelhaft
gibt, auf die Dauer selbst sichern können . Genau in die-
sem Sinne ist das Mandat angelegt, für das wir um wohl-
wollende Beratung und dann Zustimmung werben .
Danke schön .
Als Nächste spricht die Kollegin Heike Hänsel für die
Fraktion Die Linke .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
15 Jahre führt die NATO in Afghanistan nun Krieg unter
deutscher Beteiligung . George Bush rief 2001 mit seinen
Bündnispartnern den globalen Krieg gegen den Terror
aus, und Millionen Menschen bezahlten das mit ihrem
Leben, Frau von der Leyen; auch Hundertausende Frau-
en waren unter diesen Toten . Laut einer Studie der Ärz-
teorganisation IPPNW sind allein in Afghanistan min-
destens 220 000 Menschen getötet worden, in Pakistan
80 000; im Irak ist über 1 Million Menschen direkt ge-
tötet worden oder an den Kriegsfolgen gestorben . Dieser
sogenannte Krieg gegen den Terror ist selbst Terror für
Millionen Menschen und hat nur neuen Terror erzeugt,
und dafür sind Sie hier mitverantwortlich .
Die Bilanz Ihres Afghanistan-Feldzuges fällt erschüt-
ternd aus: Die Welt ist nicht sicherer geworden, die An-
schlagsgefahr auch hier in Deutschland ist gestiegen, ge-
schweige denn, dass Afghanistan stabilisiert wurde .
2,7 Millionen Afghaninnen und Afghanen sind ins Aus-
land geflohen, 1,2 Millionen Menschen sind innerhalb
Afghanistans auf der Flucht . Afghanistan zählt weiter-
hin zu den ärmsten Ländern der Erde mit einer der kor-
ruptesten Regierungen der Welt . Die Sicherheitslage im
Land ist besorgniserregend . Die Bundesregierung selbst
bezeichnete 2015 nur 9 von 123 Distrikten als kontrol-
lierbar . Das hat eine Große Anfrage unserer Fraktion er-
geben . Das deutsche Generalkonsulat in Masar-i-Scharif
ist nach einem Taliban-Angriff, wie erwähnt, geschlossen
worden; die Diplomaten wurden abgezogen .
In dieses Land wollen Sie nun bis zu 80 000 Afgha-
ninnen und Afghanen aus der EU abschieben . Was für
eine menschenverachtende Politik!
Was für ein schäbiger Deal mit der korrupten afgha-
nischen Regierung, die im Gegenzug dafür mehr als
13 Milliarden Euro kassiert! Mit dieser Politik betreiben
Sie auch ein Taliban-Aufbauprogramm; denn viele jun-
ge Afghanen, die Sie abschieben wollen, werden in den
Fängen der Taliban und von IS-Milizen landen .
Sie zahlen bis zu 1 000 Dollar monatlich und sind so die
einzige Einnahmequelle . Wir fordern, dass dieses Ab-
schiebeprogramm sofort gestoppt wird . Afghanistan ist
kein sicheres Herkunftsland .
Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620594
(C)
(D)
Investieren Sie dieses Geld lieber in demokratische Kräf-
te und Strukturen, die den Menschen direkt zugutekom-
men . Sie könnten damit sogar alle Milizen auf einmal
wegkaufen und ihnen einen Arbeitsplatz anbieten, statt
weiterhin korrupte Multimillionäre in Kabul zu finanzie-
ren .
Zur Rekrutierung neuer Kämpfer für islamistische
Gruppen tragen maßgeblich auch die US-Drohnenmor-
de in Afghanistan und Pakistan bei, weil sie den Hass
weiter schüren, und hier kommt nun der eigentliche
Skandal . Gestern bestätigte die Bundesregierung auf
Anfrage meines Kollegen Andrej Hunko, dass die Droh-
neneinsätze der USA über die US-Militärbasis Ramstein
hier in Deutschland geplant, überwacht und ausgewertet
werden . Damit ist die Bundesregierung an völkerrechts-
widrigen extralegalen Tötungen beteiligt . Ich nenne das
Beihilfe zum Mord . Schließen Sie Ramstein sofort!
Das verstößt auch gegen das Grundgesetz, und dies muss
strafrechtliche Konsequenzen haben .
Die Drohnenmorde stärken die Taliban und den IS .
Gleichzeitig schicken Sie, Frau von der Leyen, und Ihre
Regierung aber Bundeswehrsoldaten nach Afghanistan,
um junge Afghanen auszubilden, damit sie gegen die Ta-
liban kämpfen. Was für eine perverse Politik!
Die Afghanen sind dabei nur das Kanonenfutter . Allein
zwischen 2013 und 2016 wurden über 19 000 afgha-
nische Soldaten getötet . Wir werden gegen dieses Man-
dat stimmen .
In dieser Woche hatten wir eine junge Afghanin, Selay
Ghaffar, Vorsitzende der Solidaritätspartei, in den Bun-
destag eingeladen . Sie gehört zur jungen Generation, die
genug hat von der NATO-Besatzung und einer korrupten
Drogenregierung . Sie demonstriert mutig mit ihren An-
hängerinnen und Anhängern . Sie vernetzen sich in sozi-
alen Medien und suchen den internationalen Austausch .
Diese jungen Leute brauchen unsere Solidarität und un-
sere Unterstützung .
Sie können aber nicht einmal ohne Gefahr demonstrie-
ren, weil die Regierung, die Sie finanzieren, sie mit allen
Mitteln bekämpft, sodass sie teilweise nur im Untergrund
arbeiten können .
Ziehen Sie die Bundeswehr aus Afghanistan ab! Stär-
ken Sie endlich demokratische Kräfte statt korrupte War-
lords!
Die Friedensgruppen rufen in vielen Städten – unter
anderem auch in Stuttgart – zu Demonstrationen am
10 . Dezember 2016, dem Tag der Menschenrechte, für
ein Menschenrecht auf Frieden auf . Es ist wichtig, ein
Zeichen gegen diese Kriegspolitik zu setzen . Frieden
statt NATO!
Vielen Dank .
Für die Bundesregierung spricht jetzt Staatsminister
Michael Roth .
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Hänsel, Ihre Simplifizierung ist beschä-
mend . Wer von „Feldzug“ spricht, der hat an einer ernst-
haften Debatte kein wirkliches Interesse .
Ich gehe fest davon aus – da spreche ich sicherlich nicht
nur für meine Fraktion –, dass es sich hier keine Frakti-
on einfach macht . Wir überprüfen jedes Mandat kritisch .
Wir sprechen mit den Kolleginnen und Kollegen der in-
ternationalen Gemeinschaft im Rahmen der NATO und
schauen: Was können wir besser machen? Wo können
wir unserer Verantwortung gerecht werden? – Wir wis-
sen doch alle, dass das eine Generationenaufgabe ist . Wir
sind seit 15 Jahren in Afghanistan engagiert,
aber eben nicht nur militärisch . Wir engagieren uns im
Bereich der Entwicklungszusammenarbeit . Wir engagie-
ren uns im Bereich der humanitären Hilfe, im Bereich der
Stabilisierung .
Wer ein solch undifferenziertes Bild von Afghanistan
zeichnet, der handelt verantwortungslos .
Wer so redet, der erkennt nicht an, dass inzwischen Schu-
len gebaut wurden,
dass viele Mädchen wieder eine Schule besuchen kön-
nen, dass es mehr Studierende gibt als jemals zuvor in
der Geschichte, dass die Infrastruktur deutlich verbessert
wurde, dass Krankenhäuser errichtet werden konnten,
dass die Kindersterblichkeit deutlich gesunken ist, dass
Heike Hänsel
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20595
(C)
(D)
Kabul eine Stadt ist, die überhaupt nicht mit den Verhält-
nissen zu vergleichen ist, die wir noch vor 15 Jahren vor-
gefunden haben .
Das muss man bei objektiver Betrachtung doch zumin-
dest einmal zur Kenntnis nehmen .
Keiner zeichnet hier ein einseitiges Bild von Afgha-
nistan. Gerade weil wir um die Defizite wissen, sind wir
bereit, Afghanistan in den kommenden Jahren auf seinem
schwierigen Weg weiterhin zu unterstützen .
Am Ende dieses Weges steht für uns ein klares Ziel: Af-
ghanistan muss sicherer und stabiler werden, damit die
Menschen in ihrer Heimat endlich wieder Hoffnung
schöpfen können, Hoffnung auf ein Leben in Sicherheit,
Hoffnung auf einen Job und ein bisschen Freiheit.
Ich finde es mehr als legitim, dass uns Bürgerinnen
und Bürger in unseren Sprechstunden fragen: Was tut
ihr ganz konkret in Afghanistan? – Die Verlängerung der
NATO-Ausbildungs- und Beratungsmission Resolute
Support ist eben nur ein Baustein, wenn auch ein wich-
tiger . Daneben bringt die Bundesregierung in Afghanis-
tan die gesamte Bandbreite des außenpolitischen Instru-
mentariums zum Einsatz . Insgesamt beläuft sich unsere
finanzielle Unterstützung auf 510 Millionen Euro jähr-
lich, davon 80 Millionen Euro für die Ausbildung und
für die Unterstützung der afghanischen Armee, 70 Mil-
lionen Euro für die Ausbildung und Ertüchtigung der af-
ghanischen Polizei; 250 Millionen Euro werden in die
Entwicklungszusammenarbeit investiert und 110 Millio-
nen Euro in weitere Stabilisierungsprojekte . In keinem
Land, liebe Kolleginnen und Kollegen, engagieren wir
uns stärker .
Im Rahmen dieses Engagements fördert die Bundesre-
gierung unter anderem den Polizeiaufbau in Afghanistan,
berät sie die afghanische Regierung im Flüchtlingsrecht
und unterstützt Binnenvertriebene in Nordafghanistan,
beteiligt sich am Aufbau staatlicher Strukturen und natür-
lich der Infrastruktur; davon habe ich bereits gesprochen .
Wer unser Engagement beim Bau von Schulen, Kranken-
häusern und Straßen einfordert, und zwar zu Recht, kann
sich der Verlängerung von RSM nicht verschließen .
Deutschland ist damit nach den Vereinigten Staaten
der zweitgrößte bilaterale Geldgeber in Afghanistan .
Aber – das ist schon von der Kollegin von der Leyen zum
Ausdruck gebracht worden; ich habe das auch Gesprä-
chen mit vielen Kolleginnen und Kollegen entnommen –
wir stellen Afghanistan mitnichten Blankoschecks aus .
Die Bundesregierung hat die finanzielle Unterstützung
ausdrücklich an ganz strenge Bedingungen geknüpft . Wir
erwarten, dass die afghanische Regierung ihren Teil der
Abmachung einhält, etwa bei der Beachtung von Men-
schenrechten oder bei der Bekämpfung von Korruption .
Auch in Migrationsfragen erwarten wir eine bessere Zu-
sammenarbeit . Das geschieht bisher noch unzureichend .
Wir werden das in Kabul mit Nachdruck weiter einfor-
dern .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Afghanistan bedarf
weiterhin unserer Unterstützung, damit die in den ver-
gangenen Jahren erreichten Fortschritte nicht zurückge-
dreht werden. Wir befinden uns an dem Punkt, an dem
noch nicht einmal klar ist, ob das, was wir mühselig ha-
ben aufbauen und unterstützen können, gesichert werden
kann . Die Menschen in Afghanistan müssen endlich wie-
der eine Perspektive für ein Leben in Frieden, Freiheit
und wirtschaftlicher Sicherheit haben. Diese Perspektive
müssen sie in ihrem eigenen Land sehen .
Dass diese Perspektive derzeit leider nicht überall in
Afghanistan gegeben ist, belegen auch die aktuellen Zah-
len aus Deutschland: Seit Beginn des Jahres 2016 haben
allein in Deutschland mehr als 120 000 Afghaninnen und
Afghanen einen Asylantrag gestellt . Deutschland reagiert
mit großer Hilfsbereitschaft . Die Hälfte der Antragstel-
ler aus Afghanistan hat Anspruch auf internationalen
Schutz . Fakt ist aber auch, dass viele Afghaninnen und
Afghanen ihr Land aus wirtschaftlichen Motiven, aus
Perspektivlosigkeit verlassen. Ich will das Dilemma of-
fen ansprechen: Einerseits versuchen wir seit 15 Jahren,
in Afghanistan Stabilität zu schaffen und das Vertrauen in
die staatlichen Strukturen zu erhöhen . Andererseits kann
aber kein Vertrauen entstehen, wenn immer mehr junge
Menschen das Land verlassen . Diesen Teufelskreis müs-
sen wir durchbrechen, liebe Kolleginnen und Kollegen .
Wir können nur in die Zukunft Afghanistans investieren,
wenn auch das afghanische Volk an diese Zukunft glaubt .
Auch hier engagieren wir uns mit vielen konkreten Pro-
jekten vor Ort . Wir lassen doch niemanden allein .
Bisweilen sind es die kleinen Dinge des Alltags, die
Hoffnung machen. So ist es bewegend, zu sehen, wie
mit der Eröffnung einer einzigen Schule Hunderten von
Kindern und Jugendlichen wieder eine Perspektive ge-
schenkt wird oder wie mit Mikrokrediten Hunderte von
neuen Start-ups entstehen, die den Menschen vor Ort
wieder Arbeit geben . Jede dieser kleinen Erfolgsge-
schichten bringt das Land und die Menschen unserem
gemeinsamen Ziel ein Stück näher: ein Land, das auf
eigenen Füßen steht und das endlich zur Normalität zu-
rückkehren kann .
Ja, es geht um die Stabilisierung und um die Befrie-
dung Afghanistans . Ich gebe zu: Das ist eine Generatio-
nenaufgabe . Aber das ist keine Einbahnstraße . Wir haben
auch die klare Erwartungshaltung, dass die afghanische
Regierung Schritt für Schritt wieder die Verantwortung
für Stabilität und Sicherheit im eigenen Land übernimmt .
Die Bundesverteidigungsministerin hat eben dargestellt,
wo die Defizite liegen. Es gibt durchaus auch Erfolge,
aber viel viel zu wenig . Wir können damit nicht zufrieden
sein .
Seit dem Ende der ISAF-Mission 2014 tragen die af-
ghanischen Sicherheitskräfte die alleinige Verantwor-
tung für die Sicherheit in ihrem Land . Die afghanischen
Streitkräfte hatten es vor allem durch den Wegfall der
Luftnahunterstützung schwer und mussten hohe Verluste
Staatsminister Michael Roth
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620596
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beklagen . Militante Gruppen, insbesondere die Taliban,
liefern sich an vielen Orten immer wieder Gefechte mit
den staatlichen Sicherheitskräften oder begehen Anschlä-
ge . Aber wir sollten auch anerkennen: Insgesamt hat die
afghanische Armee bisher besser als erwartet standgehal-
ten . Den Taliban ist es trotz mehrfacher erbitterter Versu-
che nicht gelungen, auch nur eine einzige Provinzhaupt-
stadt dauerhaft einzunehmen .
Dennoch: Wie angespannt die Sicherheitslage in Af-
ghanistan nach wie vor ist, hat uns auch der Anschlag
auf das deutsche Generalkonsulat in Masar-i-Scharif vor
wenigen Tagen gezeigt . Dies hat alle erschüttert . Alle
haben sich die Frage gestellt: Können wir einfach so
weitermachen? Müssen wir das Mandat im Lichte dieses
Anschlags noch einmal kritisch überprüfen? – Ich finde,
wir haben das verantwortungsvoll getan . Ich rate jedem
von Ihnen, wenn einmal die Gelegenheit besteht, mit un-
seren Kolleginnen und Kollegen im Generalkonsulat zu
sprechen . Da kann einem nur himmelangst werden, wenn
man sich einmal vor Augen führt, was die Menschen dort
erlebt haben, nicht zu sprechen auch von den vielen un-
schuldigen afghanischen Opfern .
Die Gewalt, die auch noch heute von den Taliban in
Afghanistan ausgeht, und das Leid der Bevölkerung kön-
nen rein militärisch nicht beendet werden . Frau Hänsel,
das behauptet doch auch überhaupt niemand . Der Weg
zu einem friedlichen Afghanistan kann letztlich nur über
einen innerafghanischen Friedensprozess führen,
an dem alle gesellschaftlichen Gruppen teilhaben, die für
eine politische Lösung bereit sind .
Der Abschluss eines Friedensabkommens mit der
Hisb-i-Islami von Gulbuddin Hekmatjar zeigt, dass ein
Friedensabschluss möglich ist . Die Regierung wird nun
beweisen müssen, dass sie in der Lage ist, die ehemali-
gen Kämpfer der Hisb-i-Islami einzubinden und so ein
positives Beispiel für weitere Abkommen zu setzen . Die
internationale Gemeinschaft unterstützt diesen Prozess.
Auch aufseiten der Taliban mehren sich Stimmen, die
diesen Weg befürworten . Wie umstritten war das noch
vor Jahren, als es die Forderung gab, mit den Taliban zu
sprechen! Man tut das nun . Jeder versucht im Rahmen
seiner Verantwortlichkeit, etwas Konkretes zu leisten,
sodass wir hier zu dauerhaften Friedensschlüssen kom-
men. Am Ende eines solchen Prozesses müssen sich die
Afghanen auf ein Ende der Gewalt einigen, alle Verbin-
dungen zum internationalen Terrorismus kappen und sich
zur Einhaltung der afghanischen Verfassung verpflichten.
Ein solcher Friedensprozess wird im besten Fall noch
Jahre dauern . Entscheidend wird sein, dass die Staaten
der gesamten Region an einem Strang ziehen . Auch hier-
für setzen wir uns ein . Deutschland hat beispielsweise
den Vorsitz der Internationalen Afghanistan-Kontakt-
gruppe inne . Auch hier übernehmen wir ganz konkret
Verantwortung .
Der Mandatsantrag regelt die weitere Beteiligung
bewaffneter deutscher Streitkräfte an Resolute Support,
und zwar gemeinsam mit unseren Partnern. Das Man-
dat bleibt im Grundsatz unverändert . Resolute Support
wird auch 2017 kein Kampfeinsatz sein . An dieser Stel-
le möchte ich nicht nur den Soldatinnen und Soldaten,
sondern auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
unserer Auslandsvertretungen sowie den Polizistinnen
und Polizisten in Afghanistan danken. Ihr Einsatz unter
schwierigsten Bedingungen verdient unseren größten
Respekt . Jeder von uns, der sich nach schwieriger innerer
Abwägung dazu entscheiden kann, dieser Mission zuzu-
stimmen, stärkt das Vertrauen in unsere Sicherheit und in
unsere Sicherheitskräfte, die in Afghanistan verantwort-
lich zeichnen und sich nach Kräften im Interesse von
Sicherheit und Stabilität bemühen . Wir sollten sie dabei
nicht alleine lassen . Deshalb freue ich mich über jeden
Einzelnen und jede Einzelne von Ihnen, der bzw . die die-
ser Mission und diesem Mandat zuzustimmen vermag .
Vielen Dank .
Nächste Rednerin ist die Kollegin Agnieszka Brugger,
Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir alle haben trotz der Meinungsunterschie-
de, die es zwischen uns gibt, gehofft, dass die Gewalt
nach so vielen Jahren des Leids in Afghanistan endlich
ein Ende findet. Die Lage ist zurzeit so düster wie schon
lange nicht mehr . In den letzten 15 Jahren haben weder
der ISAF-Einsatz mit all seinen unterschiedlichen Pha-
sen, mit Luftbombardierung, Offensiven, Antiterrormaß-
nahmen und schwerem Gerät, noch die Ausbildungsmis-
sion, die dem nachgefolgt ist und über deren Fortsetzung
wir heute beraten, die angestrebten Ziele erreicht .
Es ist notwendig, dass Sie von der Bundesregierung
und der Koalition sich ein paar Tatsachen stellen, ihnen
ins Auge sehen und ein paar Fragen beantworten . Wel-
ches sind Ihre Kriterien für ein Ende, einen Erfolg bzw .
einen Exit bei diesem Ausbildungseinsatz, der einmal auf
zwei Jahre angelegt war, nun aber viel länger laufen soll
und dessen Schwerpunkte von reiner Ausbildung Rich-
tung Unterstützung und Begleitung verschoben werden?
Außer Hinhalteparolen hört man nicht besonders viel .
Was hier fehlt, ist ein realistisches Konzept . Wie kann
denn die Ausbildung von Sicherheitskräften überhaupt
gelingen, wenn eine Regierung durch Zerrissenheit und
Klientelpolitik einen Großteil des Vertrauens in der Be-
völkerung verspielt hat? Wenn es keine gute politische
Führung gibt, dann kann auch die Ausbildung von Si-
cherheitskräften keinen Erfolg haben . Frau Ministerin,
Sie selbst haben das gerade angesprochen . Aber ich hatte
in den letzten Monaten den Eindruck, dass man immer,
wenn man nachgefragt hat, wie die Bundesregierung
zum Beispiel darauf reagiert, dass es über Monate hin-
weg keinen Verteidigungsminister in Afghanistan gab,
nur ein Schulterzucken geerntet hat . Wie reagieren Sie
darauf, dass es trotz langjähriger intensiver Ausbildungs-
bemühungen immer wieder Hinweise – und zwar nicht
allzu wenige – auf Korruption, Desertion und Gewalt in-
Staatsminister Michael Roth
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20597
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nerhalb der afghanischen Sicherheitskräfte gibt oder dass
es immer wieder zu gravierenden militärischen Fehlent-
scheidungen kommt? Was ist Ihre Antwort darauf, dass
nach wie vor die schlimmsten Menschenrechtsverletzer
und Warlords die Bevölkerung drangsalieren und unter-
drücken? Hier kann doch nicht das Prinzip gelten: Der
Feind unseres Feindes, der Taliban, ist unser Freund .
All das sind doch riesige Probleme und ist eine riesige
Hürde für eine friedliche Zukunft in Afghanistan; denn
das beschert den Taliban Zulauf . Aber bei allen Fragen
bleibt die Bundesregierung Antworten schuldig . Es gibt
große Leerstellen . Stattdessen legen Sie Jahr für Jahr ein
Mandat vor und vermitteln uns den Eindruck: Nur noch
ein bisschen länger und nur noch ein bisschen mehr, dann
wird es endlich besser! – Das ist sehr dürftig, und, ehrlich
gesagt, mir fehlt da der Glaube .
Sicherlich hat das mit Ignoranz zu tun; aber ich glau-
be, es hat auch mit einer gewissen Rat- und Hilflosigkeit
zu tun. Ich sage ganz ehrlich: Diese Rat- und Hilflosig-
keit spüre ich auch selbst als jemand, der, wie viele mei-
ner grünen Kolleginnen und Kollegen, gegen die Man-
date gestimmt hat . Niemand hat den Masterplan, wie
man Frieden, Stabilität und Sicherheit in den nächsten
Jahren in Afghanistan mit Sicherheit schaffen kann. Aber
aus meiner Sicht gibt es drei Schlussfolgerungen, die
man ziehen kann, wenn man trotz der deprimierenden
Lage im Land die Menschen nicht alleine lassen will und
wenn man möchte, dass das langjährige, auch durchaus
schwierige und umstrittene Engagement nicht vergebens
sein soll .
Erstens ist eine ehrliche und kritische Bilanz dieser
Militäreinsätze mehr als überfällig . Die Bundesregierung
darf sich hier nicht weiter wegducken . Nicht nur wir Grü-
ne fordern das seit Jahren; das haben auch andere Kol-
leginnen und Kollegen immer wieder eingefordert . Aber
dann haben wir vor kurzem aus der Presse erfahren, dass
im März 2015 ein Bericht im Verteidigungsministerium
geschrieben wurde – Nachbetrachtung Afghanistan-Ein-
satz –, der unter Verschluss gehalten wurde . Ich muss sa-
gen: Die Debatte muss hier im Parlament geführt werden.
Wir müssen uns damit beschäftigen, wenn man aus Feh-
lern für die Zukunft lernen will . Sie können Ergebnisse
nicht unter den Teppich kehren, nur weil sie Ihnen nicht
genehm sind .
Dazu gehört auch die Frage, was man mit einem solchen
Einsatz realistisch überhaupt erreichen kann . Ich denke,
es ist für das zukünftige Engagement extrem wichtig,
sich damit auseinanderzusetzen .
Zweitens . Ja, es ist nicht alles schlecht in Afghanistan .
Deutschland hat in den Bereichen Wiederaufbau, Ent-
wicklungszusammenarbeit oder auch Bildung durchaus
viel geleistet . Das muss weitergehen, und das muss ge-
stärkt werden; denn das ist das, was den Menschen in Af-
ghanistan neue Hoffnung und Zukunftsperspektiven gibt.
Bei meiner dritten Schlussfolgerung sind wir Grüne
ganz klar in Opposition zur Bundesregierung . Sie wi-
dersprechen sich an dieser Stelle wirklich massiv selbst .
Eine halbe Million neuer Binnenvertriebener ist gerade
von den Vereinten Nationen in Afghanistan registriert
worden . Das zeigt die Dramatik der Lage . Einerseits er-
klären Sie uns hier, dass es so schwierig und gefährlich
in Afghanistan ist und man deshalb den Militäreinsatz
verlängern muss . Andererseits sprechen Sie von siche-
ren Zonen, wollen Abschiebungen und Rückführungen
verstärken und verfolgen obendrein die Strategie, dass
es nur dann, wenn Afghanistan mehr Flüchtlinge zurück-
nimmt, in Zukunft Entwicklungszusammenarbeit gibt .
Meine Damen und Herren, das passt vorne und hinten
nicht zusammen . Das ist zynisch und herzlos . So lässt
man die Menschen in Afghanistan nämlich wirklich al-
lein .
Vielen Dank .
Der Kollege Jürgen Hardt spricht jetzt für die CDU/
CSU .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
gehen mit dem Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr und
der Entscheidung über dieses Mandat in das 16 . Jahr .
Deswegen sind die Fragen völlig berechtigt: Was hat die-
ser Einsatz bisher gebracht? Wie weit haben wir uns den
Zielen angenähert, die wir formuliert haben? Wohin wird
dieser Einsatz führen? Wann können wir ihn beenden?
Wir haben im Zusammenhang mit unserem Einsatz
in Afghanistan eine ganze Reihe von Erfahrungen ge-
macht, die meines Erachtens gut aufbereitet worden sind
und die in die RSM-Mission eingeflossen sind. Wir ha-
ben vor zwei Jahren entschieden, dass wir nicht mehr an
Kampfhandlungen in Afghanistan teilnehmen und dass
wir uns auf Beratung, Ausbildung und Unterstützung der
afghanischen Streitkräfte konzentrieren . Das konnten wir
deshalb tun, weil wir es in den Jahren zuvor tatsächlich
geschafft haben, sowohl bei der Polizei als auch bei der
afghanischen Armee einen Ausbildungs- und Ausrüs-
tungsstand zu erreichen, der es den afghanischen Streit-
kräften erlaubt, die Verantwortung Stück für Stück selbst
zu übernehmen .
Blicken wir auf das zurückliegende Jahr zurück und
vergleichen wir es mit früheren Monaten . Blicken Sie
zum Beispiel auf den neuerlichen Versuch der Taliban,
die Stadt Kunduz im Norden von Afghanistan, im Ver-
antwortungsbereich der Bundeswehr im Rahmen des al-
ten ISAF-Mandats, einzunehmen. Dieser Angriff konnte,
anders als noch wenige Monate zuvor, erfolgreich zu-
rückgeschlagen werden; außer ein paar Handybildern der
Taliban war nichts von einer Besetzung dieser Stadt zu
verspüren . Den einheimischen Kräften ist es gelungen,
die Sicherheit und Ordnung weitestgehend wiederher-
zustellen . Das zeigt, dass wir gut vorankommen, wenn-
gleich wir natürlich noch nicht am Ziel sind .
Agnieszka Brugger
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620598
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Wir haben alle das Interview des Kommandeurs des
deutschen Verbandes gelesen: Die Bevölkerung wünscht
sich dieses Engagement der deutschen Bundeswehr und
dankt dafür. Wir werden mit offenen Armen empfangen,
eben auch, weil die Bundeswehr nicht nur in kaki Uni-
form und mit der Waffe dort steht, sondern weil die Bun-
deswehr eben auch zivile Hilfe möglich macht . Was sich
im Land an Infrastruktur entwickelt und an Bildungs-
möglichkeiten offenbart – darüber hat die Ministerin ge-
sprochen –, ist ganz beachtlich .
Wenn wir auf die konkreten Defizite dieses Einsatzes
blicken, müssen wir natürlich auch nüchtern feststellen:
Die Zahl der getöteten Zivilisten in Afghanistan in den
ersten drei Quartalen dieses Jahres ist im Vergleich zu
den ersten drei Quartalen des letzten Jahres leider nicht
zurückgegangen . Es sind jeweils rund 2 500 Zivilisten
getötet worden . Die Terrorgefahr ist tatsächlich überall
präsent, wie wir am Generalkonsulat in Masar schmerz-
lich erleben mussten . Ich schließe mich ausdrücklich
dem Dank der Ministerin an .
Wir Obleute haben alle stündlich verfolgt, wie sich
die Situation in Masar entwickelt hat, und wir haben den
Eindruck, dass die Bundeswehr und ihre verbündeten
Streitkräfte da sehr umfassend und sehr gut reagiert ha-
ben . Leider hat es Opfer unter der Zivilbevölkerung und
unter den einheimischen Sicherheitskräften gegeben, die
natürlich in Zukunft unter allen Umständen verhindert
werden müssen .
Es gibt natürlich ein Defizit an Good Governance in der
Hauptstadt . Die Regierung mit der Doppelspitze funktio-
niert nur höchst unvollkommen – ein echter Hemmschuh
für eine schnellere und bessere Entwicklung . Wir haben
Pakistan, das nach wie vor ein Rückzugsort für die Tali-
ban und terroristische Kräfte ist. Der pakistanische Pre-
mierminister muss aus unserer Sicht erst beweisen, dass
er ein „terrific guy“ ist. Wir sehen ihn nicht als wirklichen
Erfolgsfaktor in der Region an, sondern wir mahnen die
pakistanische Regierung an, auch mehr gegen den Terro-
rismus im eigenen Land zu machen .
Ich bin der Meinung, dass wir uns natürlich mit Blick
auf die vielen, insbesondere jungen Afghanen, die gegen-
wärtig außerhalb Afghanistans leben, die Frage stellen
müssen: Was können wir tun, um diese jungen Menschen
zu bewegen, in ihr Heimatland zurückzukehren und dort
am Aufbau des Landes mitzuwirken? Es macht ja kei-
nen Sinn, wenn die ganzen Jungen und im Zweifel auch
die besser Ausgebildeten, zum Beispiel die, die Englisch
beherrschen, dann in anderen Ländern, zum Beispiel in
Deutschland, wo es 250 000 Afghanen gibt, leben . Wenn
wir von denen sprechen, die abgeschoben oder zurückge-
führt werden können und müssen, dann sprechen wir nur
von einem kleinen Teil . Ich glaube aber, dass es unter den
anderen auch viele gibt, die bei entsprechenden Anreizen
bereit und in der Lage sind, den Aufbau ihres Landes zu
fördern und zu betreiben . Da würde ich mir wünschen,
dass wir da noch mehr Fantasie und Kreativität entwi-
ckeln, dass mehr von diesen Menschen auch tatsächlich
ihr eigenes Land mit aufbauen .
Wir werden in die Beratung dieses Antrags mit gro-
ßer Sorgfalt einsteigen . Wir werden in den Ausschüssen
darüber reden, aber ich habe keinen Zweifel daran, dass
die CDU/CSU-Bundestagsfraktion am Ende der Verlän-
gerung des RSM-Mandats auch zustimmen wird .
Herzlichen Dank .
Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der
Kollege Florian Hahn für die CDU/CSU .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mehr als 15 Jahre sind wir mittlerweile in Afghanistan .
Diese 15 Jahre, die für uns wie eine Ewigkeit wirken, sind
für ein Land, das seit der sowjetischen Invasion 1979 in
einem zermürbenden Zustand aus Krieg und Gewalt ver-
sinkt, nicht genug .
Klar ist: Afghanistan braucht noch mehr Zeit . Für uns
heißt das: Wir brauchen einen langen Atem, die soge-
nannte strategische Geduld, um das Land weiter zu stabi-
lisieren, erreichte Fortschritte zu sichern und zu verhin-
dern, dass Afghanistan noch einmal zu einem sicheren
Hafen für islamistischen Terror wird .
Dazu ist es entscheidend, der Situation im Land am
Hindukusch mit genügend Pragmatismus zu begegnen.
Wir dürfen bei der Analyse der Gefährdungslage keine
Augenwischerei betreiben, sondern müssen gerade auch
gegenüber den Soldatinnen und Soldaten klar und ehrlich
die Realität beschreiben . Das Glas ist weder halb voll
noch halb leer .
Was heißt das? Der Angriff auf das deutsche Konsulat
in Masar stellt für uns natürlich ein dickes Ausrufezei-
chen dar . Eines wird damit deutlich: Die Taliban werden
auch weiterhin versuchen, mit gezielten Anschlägen den
Einsatzwillen der afghanischen Sicherheitskräfte und der
internationalen Gemeinschaft zu brechen . Diese Strate-
gie darf nicht aufgehen .
2015 war für die Taliban das erfolgreichste Jahr seit
der westlichen Militärintervention 2001 . Trotz interner
Machtkämpfe stellen sie auch in diesem Jahr für mehr
als die Hälfte der rund 34 Provinzen des Landes eine
ernsthafte Bedrohung dar. Trotzdem: Über 68 Prozent
der Bevölkerung stehen unter dem Schutz der Regierung .
Keine Stadt ist in diesem Jahr an die Taliban gefallen .
Die afghanischen Sicherheitskräfte haben mit den rund
320 000 Männern 90 Prozent ihrer Sollstärke erreicht.
Ein Großteil ist weiterhin mangelhaft ausgebildet . Es
fehlt an Führungsfähigkeiten . 2015 haben sie fast ein
Drittel ihrer Stärke durch Tod, durch Verwundung, durch
Desertion verloren . Ein solcher Verlust bewegt sich in
einer Größenordnung, die eine Armee kaum verkraften
kann .
Und doch: Der Ausbau der afghanischen Luftwaffe
geht voran . Eine eigene Luftnahunterstützung kann häu-
figer selbstständig geleistet werden. Auch haben die af-
ghanischen Spezialkräfte mittlerweile ein professionelles
Niveau erreicht . Aber Vetternwirtschaft, ethnische Auf-
Jürgen Hardt
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20599
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splitterung in Fraktionen und Korruption sind im Militär
und in der Polizei weiterhin verbreitet. Aber auch hier
gibt es einige positive Zeichen: Präsident Ghani hat ge-
meinsam mit Abdullah Abdullah mehr als 70 ineffiziente
Militäroffiziere entlassen. Diese Strukturreformen müs-
sen weitergehen und dürfen nicht, wie in diesem Jahr,
wieder nachlassen .
Sicher ist: Militärisch allein ist der Konflikt nicht lös-
bar. Es muss daher auch eines offen ausgesprochen wer-
den: Unser Engagement ist noch lange notwendig . An die
Taliban gerichtet, heißt das, sie können uns auch nicht
aussitzen .
In den Kategorien von „Sieg“ oder „Niederlage“
sind langfristige Stabilisierungsmissionen nicht zu
fassen . . . . Die internationale Gemeinschaft aber darf
„nicht siegen“ deshalb nicht als Scheitern interpre-
tieren .
So lautet eine Bewertung des deutschen Engagements
durch den Wehrbeauftragten, Hans-Peter Bartels, den
ehemaligen General Klaus Wittmann und den Vorsitzen-
den des BundeswehrVerbandes, Oberstleutnant André
Wüstner .
Wichtig ist den drei Analysten vor allem eins: Wir
müssen aus Afghanistan lernen . Das heißt, wir müssen
die ressortübergreifende Zusammenarbeit weiter verbes-
sern, sprich: die interdisziplinäre Führungsstruktur in
aktuellen und künftigen Einsätzen noch stärker harmo-
nisieren. Gerade in asymmetrischen Konflikten müssen
wir daran arbeiten, mit genügend regionaler Flexibilität
auf Lageentwicklungen zu reagieren .
Entscheidend ist aber auch, dass die Einheitsregierung
unter Präsident Ghani in Afghanistan in Zukunft noch
stärker zu ihren Reformbemühungen steht . Frau Bundes-
ministerin hat das ja bereits sehr richtig und sehr ausführ-
lich ausgeführt . Die politischen Akteure müssen ihren
Anteil übernehmen, um Regierungshandeln, Frauenrech-
te, Wirtschaftskraft in Afghanistan zu verbessern und
damit die Unterstützung der Bevölkerung zu vergrößern .
Willkür und Unrecht sind die gefährlichsten Brandbe-
schleuniger für radikales Gedankengut und erfolgreiche
Rekrutierungshelfer der Taliban . Die Botschaft der Af-
ghanistan-Konferenz in Brüssel Anfang Oktober dieses
Jahres war daher sehr deutlich: Die internationale Unter-
stützung ist an klare Fortschritte bei der Umsetzung von
Reformen geknüpft .
Heute konkurriert Afghanistan mehr denn je um Res-
sourcen und Aufmerksamkeit mit anderen Konfliktgebie-
ten . Umso wichtiger ist es, dass sich die Afghanen nicht
in die Zeit nach dem sowjetischen Abzug 1989 zurück-
versetzt fühlen, in der das Land in Vergessenheit geriet .
Mit dem fortgesetzten Mandat zeigen wir sehr deutlich,
dass wir Afghanistan in der schwierigen Übergangsphase
nicht im Stich lassen .
„Geduld bedeutet, dass man immer weitblickend das
Ziel im Auge behält“, so ein berühmter afghanischer
Denker . Daran sollten wir uns halten und die entspre-
chende Geduld weiter aufbringen .
Herzlichen Dank .
Damit schließe ich die Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/10347 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Erhebt sich dagegen
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall . Dann ist die Über-
weisung somit beschlossen .
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Recht und Verbrau-
cherschutz zu dem Antrag der Ab-
geordneten Katja Keul, Luise Amtsberg, Volker
Beck , weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gesetzliche Grundlage für Angehörigen-
schmerzensgeld schaffen
Drucksachen 18/5099, 18/10076
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Widerspruch
dagegen erhebt sich nicht . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Dr. Johannes Fechner für die SPD das
Wort .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren auf den Tribü-
nen! Das Angehörigenschmerzensgeld kommt endlich .
Gestern ging nach langen und intensiven Diskussionen
der Referentenentwurf in die Ressortabstimmung . Damit
können wir noch in dieser Legislaturperiode eine Rechts-
grundlage beschließen, damit die Hinterbliebenen einen
eigenen Anspruch auf Schmerzensgeld erhalten, wenn
sie einen Angehörigen verloren haben .
Vor meiner Wahl in den Bundestag habe ich als
Rechtsanwalt Eltern vertreten, die durch einen tragi-
schen Verkehrsunfall ihr kleines Kind verloren hatten,
was unermessliches Leid über die Familie gebracht hat .
Natürlich können wir dieses große seelische Leid Hin-
terbliebener durch den Verlust nahestehender Menschen
niemals mit Geld ausgleichen . Aber zumindest ein Stück
weit können wir das Leid von Hinterbliebenen durch eine
Geldzahlung lindern .
Dafür ist im BGB eine eigene Anspruchsgrundlage für
Hinterbliebene erforderlich . Nach heutiger Rechtslage
haben Angehörige nur dann einen Anspruch, wenn die
hohen Anforderungen des BGH hierfür erfüllt sind . Der
BGH fordert eine über das Maß der normalen Trauer hi-
nausgehende seelische Beeinträchtigung, und das ist im
Einzelfall immer nur sehr schwer nachweisbar .
Florian Hahn
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620600
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Es war mir persönlich – ich habe Ihnen den entspre-
chenden Fall geschildert –, aber auch der SPD deshalb
ein großes Anliegen, dass wir für die Angehörigen und
Hinterbliebenen eine klare Rechtsgrundlage für ihre ei-
genen Ansprüche schaffen.
Wir wollen deshalb in einem neuen Absatz 3 des § 844
BGB Personen einen Entschädigungsanspruch gegen den
Schädiger gewähren, die einen nahestehenden – nicht
notwendigerweise verwandten – Menschen durch eine
Straftat oder einen Unfall verloren haben . Auch Mitglie-
der von Patchworkfamilien und unverheiratete Partner
sind so erfasst. Denn ich finde, auch ein unverheirateter
Hinterbliebener kann einem Verstorbenen so nahegestan-
den sein, dass wir ihm oder ihr zum Ausgleich ihres bzw .
seines Leides einen eigenen Anspruch gewähren sollten .
Was die Höhe angeht, so haben wir Koalitionsfrak-
tionen uns dafür entschieden, dies im Einzelfall der
Rechtsprechung zu überlassen, allerdings mit dem klaren
Hinweis auf die Rechtsprechung in Deutschland und Eu-
ropa . Es wurden hier Zahlungen von bis zu 25 000 Euro
zugesprochen . Aus meiner Sicht könnte sich diese Recht-
sprechung durchaus dahin gehend entwickeln, dass auch
noch höhere Beträge zugesprochen werden .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht zuletzt die
Germanwings-Katastrophe hat uns gezeigt, dass Hin-
terbliebene eine klare Rechtsgrundlage und einen eige-
nen Rechtsanspruch auf Entschädigungszahlungen ha-
ben müssen . Es darf nicht sein, dass Angehörige in der
schweren Zeit der Trauer in ein unwürdiges Geschacher
um ihre Entschädigungszahlungen gegen den Schädiger
oder dessen Versicherung eintreten müssen . Das müssen
wir verhindern .
Den Grünenantrag, über den wir heute diskutieren und
abstimmen, will ich ausdrücklich loben; die Forderungen
in diesem Antrag sind berechtigt . Aber das Bundesjus-
tizministerium hat jetzt ein entsprechendes Gesetzge-
bungsverfahren gestartet; der Schmerzensgeldanspruch
im BGB sowie in weiteren Gesetzen und die Gefähr-
dungshaftung werden kommen . Weil also den berechtig-
ten Anliegen des Grünenantrags nachgekommen wird,
müssen wir diesen Antrag nicht mehr verabschieden . Die
Aufforderung an die Bundesregierung, tätig zu werden,
ist schlicht nicht mehr nötig .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Angehörige brau-
chen eine klare Rechtsgrundlage für ihre Ansprüche .
Lassen Sie uns diese hier möglichst rasch beschließen .
Vielen Dank .
Nächster Redner ist der Kollege Harald Petzold, Frak-
tion Die Linke .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! Der
Kollege Fechner hat es angesprochen: Nach dem Absturz
der Germanwings-Passagiermaschine im März 2015 ha-
ben die Fluggesellschaften Germanwings und Lufthansa
den Hinterbliebenen der Opfer eine finanzielle Über-
brückungshilfe von jeweils bis zu 50 000 Euro gezahlt .
Vorausgegangen waren sehr schmerzhafte – ich will es
trotzdem einmal so nennen – Verhandlungen, weil die
Opfer eben keinen Rechtsanspruch auf ein Angehörigen-
schmerzensgeld hatten – und das, obwohl Sie sich in Ih-
rem Koalitionsvertrag eigentlich dazu verpflichtet haben,
Folgendes zu regeln – ich zitiere –:
Menschen, die einen nahen Angehörigen durch Ver-
schulden eines Dritten verloren haben, räumen wir
als Zeichen der Anerkennung ihres seelischen Leids
einen eigenständigen Schmerzensgeldanspruch ein,
der sich in das deutsche System des Schadensersatz-
rechts einfügt .
Weil nichts passiert war, hat die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen – das hatten Sie damals so begründet – in
der 124 . Sitzung unseres Bundestages den Antrag ein-
gebracht, den wir heute erneut behandeln und der die
Bundesregierung auffordert, einen eigenen gesetzlichen
Schmerzensgeldanspruch für Hinterbliebene zu schaffen.
Dazu sollen entsprechende Paragrafen im Bürgerlichen
Gesetzbuch geändert werden . Im Falle der Gefährdungs-
haftung soll der gesetzliche Schadensersatzanspruch um
ein Schmerzensgeld für Hinterbliebene erweitert werden .
Im Opferentschädigungsgesetz soll ergänzt werden, dass
Hinterbliebene im Fall der Zahlungsunfähigkeit des Ver-
ursachers einen Anspruch gegen den Staat geltend ma-
chen können .
In diesem Antrag wird letztlich nur das gefordert, was
Sie im Koalitionsvertrag festgeschrieben haben . Deswe-
gen ist es unverständlich, wieso bis zum heutigen Tag bis
auf Ankündigungen nichts passiert ist .
Nachdem sich der Justizminister als Ankündigungs-
minister genügend profiliert hat, entwickeln Sie sich,
Herr Kollege Fechner, muss ich ganz ehrlich sagen, in
der SPD-Bundestagsfraktion zum Ankündigungsabge-
ordneten vom Dienst .
In jeder Sitzung des Ausschusses, in der von Ihnen die
Vertagung oder Absetzung oder Nichtbehandlung dieses
Antrags beantragt worden ist, ist immer wieder angekün-
Dr. Johannes Fechner
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20601
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digt worden: Wir machen das, weil wir selbst an einer
Lösung arbeiten . Wir arbeiten selbst daran .
Heute kündigen Sie wieder nur an und sagen: Der Refe-
rentenentwurf ist jetzt fertig .
Damit können die Opfer und die Hinterbliebenen nichts
anfangen . Davon können sie sich nichts kaufen . Deswe-
gen wird es Zeit, dass Sie endlich liefern .
Ich kann Sie nur auffordern, alle die Dinge nachzu-
lesen und zu berücksichtigen, die mein Kollege Jörn
Wunderlich in der ersten Lesung vorgetragen hat; denn
die Problemlage ist längst klar. Ich will noch einmal aus-
drücklich darauf hinweisen, dass es darum gehen muss,
eine Regelung zu treffen, nach der dieses Angehörigen-
schmerzensgeld nicht auf andere Leistungen angerechnet
wird; sonst haben wir eine neue Ungerechtigkeit .
Ich fordere Sie auf, noch in dieser Legislaturperiode –
es sind noch zehn Monate bis zur nächsten Wahl – etwas
vorzulegen, das tatsächlich beschlossen werden kann . Ich
kann nicht nachvollziehen, wieso Sie hier sagen: „Der
Antrag der Grünen ist gut“, dann aber nicht die Größe
besitzen, ihn wenigstens zu behandeln und hier eine Zu-
stimmung dazu herbeizuführen .
Es passierte ja auch nicht mehr, als dass die Bundesre-
gierung aufgefordert wird, endlich zu liefern . Das wird
höchste Zeit .
Vielen Dank, meine Damen und Herren .
Der Kollege Dr . Hendrik Hoppenstedt spricht jetzt für
die CDU/CSU .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor über
einem Jahr, am 24 . September 2015, haben wir über den
Grünenantrag hier schon einmal beraten . Jetzt ist es wie-
der so weit .
In dem Antrag zitieren Sie aus dem Koalitionsvertrag:
Menschen, die einen nahen Angehörigen durch Ver-
schulden eines Dritten verloren haben, räumen wir
als Zeichen der Anerkennung ihres seelischen Leids
einen eigenständigen Schmerzensgeldanspruch ein,
der sich in das deutsche System des Schadensersatz-
rechts einfügt .
Dazu darf ich erneut feststellen: Ich begrüße, wenn
die Opposition sich mit unserem Koalitionsvertrag aus-
einandersetzt, und wenn sie ihn auch noch inhaltlich
unterstützt, umso schöner . Das Abschreiben aus dem
Koalitionsvertrag ist möglicherweise keine intellektuel-
le Höchstleistung, für unser Land möglicherweise aber
immer noch besser als die Verwirklichung eigener Ideen .
Normalerweise werden Ihre Anträge von der Koaliti-
on stets aus guten Gründen zurückgewiesen .
Das werden wir auch dieses Mal tun müssen, dieses Mal
mit etwas schwererem Herzen . Aber wir glauben, dass
die Ergänzung des Opferentschädigungsgesetzes inhalt-
lich zu weitgehend ist .
Allerdings haben Sie recht, dass es nicht angehen
kann, dass wir nach drei Jahren immer noch nicht die
erste Lesung eines Gesetzentwurfs dazu hier im Plenum
haben .
Der Grund dafür ist relativ einfach: Bundesminister
Heiko Maas hat uns tatsächlich erst am letzten Donners-
tag einen ersten Referentenentwurf übermittelt .
Ich könnte jetzt auf eine Vielzahl von Briefen und Ge-
sprächen mit dem BMJV verweisen, in denen ich und an-
dere versucht haben, das Ministerium ein Stück weit zur
Eile zu treiben . Das hat leider alles wenig genutzt .
Wahrscheinlich hätte ich mich heute hierhingestellt
und hätte irgendetwas Freundliches, etwas Entschuldi-
gendes oder etwas Relativierendes über das Ministerium
gesagt,
wenn die SPD-Bundestagsfraktion nicht am letzten
Samstag eine Pressemitteilung herausgegeben hätte, aus
der ich kurz zitieren darf:
Die Koalitionsfraktionen haben sich in den vergan-
genen Tagen endlich auf eine gesetzliche Regelung
zum Hinterbliebenengeld geeinigt . Damit kann der
Bundestag noch in dieser Legislaturperiode eine
Rechtsgrundlage beschließen,
Harald Petzold
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620602
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mit der das seelische Leid Hinterbliebener durch
den Verlust nahestehender Menschen ausgeglichen
werden kann .
In Absatz 4 heißt es:
Hinterbliebene dürfen nicht mit geringen Summen
abgespeist werden . Wir hätten deshalb gern in der
Gesetzesbegründung einen Korridor von 30 000 bis
60 000 Euro benannt . Dieses wollte die Union nicht .
Immerhin wird nun aber auf unseren Vorschlag hin
in der Gesetzesbegründung als Orientierung auf Ur-
teile verwiesen, in denen bis zu 25 000 Euro zuge-
sprochen wurden .
Meine Damen und Herren, dazu gestatten Sie mir
zwei Bemerkungen .
Bemerkung eins . Sie erwecken den Eindruck, dass die
Koalitionsfraktionen monatelang über diese Eckpunkte
gestritten hätten .
Das ist erkennbar nicht der Fall . Wir hatten zwei The-
men, die uns beschäftigt haben, nämlich der Kreis der
Anspruchsberechtigten zum einen und zum anderen die
Anspruchshöhe . Beides haben wir in einem 30-minüti-
gen Gespräch in Form eines Kompromisses beigelegt .
Deswegen noch einmal: Für die Verzögerung ursächlich
ist die Priorisierung im Hause Maas. Dort wird als Aller-
erstes das aus dem Koalitionsvertrag abgearbeitet, was
die SPD hineinverhandelt hat.
Dann wird sich um die Dinge gekümmert, die im Zwei-
felsfall gar nicht – Frau Künast, hören Sie doch kurz
zu! – im Koalitionsvertrag stehen, wie zum Beispiel die
Reform des Mordparagrafen . Dann erst kommen unsere
Belange . Da in diesem Fall das Gesetzesvorhaben auch
von der CSU kommt, ist es natürlich ein besonderes
Schmuddelkind .
Zweite Bemerkung: die Sache mit der Anspruchshö-
he . Das Ministerium war zwar unendlich langsam, aber
wenigstens kann es lesen .
Im Koalitionsvertrag steht, dass sich der Anspruch in
das deutsche System des Schadenersatzrechtes einfügen
muss . Wenn der schlimmere Schockschaden mit circa bis
zu 15 000 Euro entschädigt wird, dann kann der Hinter-
bliebenenschmerz schwerlich 60 000 Euro nach sich zie-
hen, Herr Fechner. Das trieft vor Populismus, jedenfalls
meines Erachtens . Das scheinen selbst die Grünen so zu
sehen; denn im Antrag heißt es:
Die bislang üblicherweise angewandten Schmer-
zensgeldtabellen haben sich bewährt .
Wer das ändern will, soll das offen so sagen. Er be-
kommt dann nämlich amerikanische Schadensersatzver-
hältnisse, die jedenfalls ich nicht will, weil sie auch für
die Versichertengemeinschaft riesige Mehrkosten nach
sich ziehen würden .
Deswegen, meine Damen und Herren von der SPD,
glaube ich, war es vielleicht nicht die beste Idee, diese
Pressemitteilung zu schreiben. Wenn Sie doch eine Pres-
semitteilung schreiben möchten, dann rate ich Ihnen zum
Schluss, zwei Dinge dort hineinzuschreiben:
Punkt eins. „Die SPD-Bundestagsfraktion bedauert,
dass der zuständige Minister drei Jahre lang gebraucht
hat, um einmal einen Referentenentwurf zu schreiben .“
Punkt zwei. „Die SPD-Bundestagsfraktion entschul-
digt sich bei den Hunderten von Menschen in unserem
Land, die möglicherweise in den letzten zwei Jahren ei-
nen nahen Angehörigen verloren haben durch Verschul-
den oder Tötung durch einen Dritten,
weil sie es nicht geschafft hat, einen entsprechenden Ge-
setzesentwurf rechtzeitig vorzulegen .“
Hier möchte ich sagen: Das ist ausschließlich ein
SPD-Thema. Deswegen würde ich mich freuen, wenn
Sie zukünftig dafür Sorge tragen, dass Ihre Pressemittei-
lungen der Realität entsprechen .
Danke schön .
Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Keul, Bünd-
nis 90/Die Grünen .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ist es nicht schön, dass wir alle
wunderbar für das Angehörigenschmerzensgeld sind?
Dass Sie jetzt in der Debatte über irgendetwas herziehen,
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20603
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um unseren Antrag abzulehnen, ist nicht neu, nicht über-
raschend und auch nicht ungewöhnlich .
Aber ungewöhnlich ist durchaus die hartnäckige Untätig-
keit des Justizministeriums .
Ich rufe noch einmal in Erinnerung: Nach dem Ab-
sturz der Germanwings-Maschine am 24 . März 2015
wurde noch einmal offenbar, dass im deutschen Recht
immer noch kein Schadensersatzanspruch für den Ver-
lust eines nahen Angehörigen besteht . Wir haben diesen
Anlass genutzt, uns noch einmal über eine konkrete ge-
setzliche Lösung Gedanken zu machen . Am 2 . Juni 2015
hat meine Fraktion den heute zur Abstimmung stehenden
Antrag auf Vorlage eines entsprechenden Gesetzes be-
schlossen und in den Bundestag eingebracht . Drei Mo-
nate später, im September 2015, fand die erste Lesung
statt, und da kündigten Sie schon an, es sei ja alles schon
so gut wie eingetütet .
Positiv überrascht war ich in der Debatte, dass wir so-
gar bei den Einzelheiten dieses Vorhabens tatsächlich zu
den gleichen sinnvollen Ergebnissen gekommen waren,
nämlich Einschränkung auf die Todesfälle, aber Anwen-
dung auch auf die Gefährdungshaftung . Wenn wir schon
einmal unabhängig zueinander zu dem gleichen Ergebnis
kommen, ist das ja erst einmal positiv .
Vonseiten der SPD hörte ich, der Gesetzentwurf solle
noch vor Weihnachten – ich betone: Weihnachten 2015 –
sicher vorliegen . In der Dezemberausgabe der Richterzei-
tung konnte ich dann einen Artikel des Kollegen Fechner
lesen . Da hieß es:
Das Angehörigenschmerzensgeld gehört für mich
persönlich zu den wichtigsten rechtspolitischen Vor-
haben in dieser Legislaturperiode .
Aha, dachte ich, das macht Hoffnung.
Am 16 . Dezember haben wir im Rechtsausschuss auf
unseren Antrag hin beschlossen, eine Expertenanhörung
durchzuführen . Das wäre ja auch gerade im Hinblick auf
die angeblichen Arbeiten im Ministerium durchaus sinn-
voll gewesen . Stattdessen wurde aber dann die Termi-
nierung der Anhörung immer wieder abgesetzt, mal mit
der Begründung, man habe keine Zeit, und mal mit dem
Hinweis, der Gesetzentwurf aus dem Ministerium würde
ja jeden Moment vorliegen . Nach zehn Sitzungswochen
haben wir dann einen Bericht nach § 62 der Geschäfts-
ordnung angefordert, der aber weder Sie noch das Minis-
terium in irgendeiner Weise beeindruckt hat .
Nachdem Sie jetzt fast ein Jahr lang unser Minder-
heitenrecht auf Durchführung einer Anhörung boykot-
tiert haben, geht die Legislatur langsam, aber sicher dem
Ende entgegen . Und jeder weiß: Was bis Weihnachten
nicht durch ist, wird auch nichts mehr .
Ich habe den Antrag auf Expertenanhörung jetzt aufgege-
ben, damit wir wenigstens diese zweite Lesung unseres
Antrages hier heute noch durchführen können . Als ich
Anfang der Woche dann die erwähnte PM las, machte
ich mir schon Sorgen, und ich dachte, wir müssten den
Tagesordnungspunkt zurückziehen, weil jetzt etwas vor-
liegt . Aber siehe da: In der Kabinettssitzung gestern stand
es nicht auf der Tagesordnung, und als ich heute auf die
Tagesordnung der nächsten Sitzungswoche schaute – das
ist übrigens die letzte Sitzungswoche vor Weihnachten –,
war auch da vom Schmerzensgeld nichts zu sehen .
Wenn Ihnen das Schmerzensgeld wirklich so wichtig
ist, dann bringen Sie Ihr eigenes Ministerium jetzt auf
Trab und stimmen Sie unserem Antrag zu .
Das Thema wird ja nicht erst beim nächsten Flugzeug-
absturz relevant . Jeden Tag sterben Menschen bei Ver-
kehrsunfällen oder werden Opfer einer Gewalttat . Ich
vermag den Angehörigen nicht zu erklären, warum zwar
der Schmerz bei Verlust eines Körperteils bezifferbar ist,
aber nicht der Schmerz bei Verlust eines Kindes .
Wir haben gute Erfahrungen damit gemacht, dass wir
die Bemessung des Schmerzensgeldes in Deutschland in
das Ermessen des Gerichts stellen; denn jeder Fall ist in-
dividuell unterschiedlich . Wir sollten es als Gesetzgeber
dabei belassen, keine Zahlen in das Gesetz zu schreiben .
Die Ergänzung der Paragrafen – wir hatten vorgeschla-
gen, § 253 BGB zu ergänzen – kann ja nicht so komplex
sein, dass das Ministerium dafür zwei Jahre braucht .
Wenn ich einmal vergleiche, wie schnell Sie die In-
teressen der Deutschen Bank beim Insolvenzrecht, beim
sogenannten Liquidationsnetting,
über das wir heute Nacht noch reden werden, gesichert
und in Gesetzesform gegossen haben, dann komme ich
zu dem Schluss, dass Sie diese kleine, aber wichtige Än-
derung des BGB im Schadensrecht dreimal hätten fertig
machen können .
Tun Sie also bei der Abstimmung, was Sie meinen tun
zu müssen . Meine Fraktion wird jedenfalls heute für ein
Angehörigenschmerzensgeld stimmen .
Vielen Dank .
Für die SPD spricht jetzt der Kollege Dr. Matthias
Bartke .
Katja Keul
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wurde
bereits gesagt: Im März 2015 hat der Kopilot Andreas
Lubitz sein Flugzeug absichtlich gegen die Felsen
der französischen Alpen gesteuert . Die Folgen dieses
schrecklichen Absturzes sind uns allen bekannt . Unter
dem Eindruck dieser Katastrophe haben Sie, liebe Bünd-
nisgrüne, den vorliegenden Antrag im vergangenen Jahr
vorgelegt .
Meine Damen und Herren, wir, die Koalition, ha-
ben bereits im Koalitionsvertrag einen eigenständigen
Schmerzensgeldanspruch für Angehörige vereinbart;
Sie haben eben durchaus zutreffend darauf hingewiesen.
Der Absturz des Flugzeugs war für uns also eine Bestäti-
gung unseres eigenen Handlungsauftrages . Anlass waren
aber vor allem die Einzelschicksale, die keine mediale
Aufmerksamkeit bekommen .
Immer wieder kommen Menschen durch eine Straftat
oder einen fremdverschuldeten Unfall ums Leben . Wird
ein Kind auf seinem Fahrrad von einem Auto überfahren,
bekommen die Eltern Schadensersatz für das Fahrrad
und für die Beerdigung . Ihr jahrzehntelanges seelisches
Leid nimmt das bürgerliche Recht nicht zur Kenntnis .
Es ist aber die Trauer, die eine tiefe Kerbe schlägt . Hin-
terbliebenen steht zwar jetzt schon Schadensersatz für
seelisches Leid zu; das ist aber nur dann der Fall, wenn
sie eine schwere seelische Erschütterung über normale
Trauer hinaus nachweisen können . Man spricht dann von
einem sogenannten Schockschaden . Die einfache Trau-
er ist entschädigungslos; sie wird als hinzunehmendes
Schicksal angesehen . Das wollen wir so nicht länger ste-
hen lassen .
Ich bin daher sehr froh, dass wir uns in der Regie-
rungskoalition endlich auf eine gesetzliche Regelung zur
Einführung eines Hinterbliebenengeldes geeinigt haben .
Der Verlust eines geliebten Menschen kann niemals
mit Geld aufgewogen werden . Diesem Anspruch muss
ein Schmerzensgeld aber auch nicht genügen . Mit der
geplanten Einführung eines Hinterbliebenengeldes wird
das seelische Leid der Angehörigen anerkannt, und wir
bekunden unsere Solidarität .
Ausschlaggebend für den seelischen Schmerz ist
nicht der Verwandtschaftsgrad, sondern das Nähever-
hältnis . Deswegen ist es nur folgerichtig, dass all jene
Anspruch auf die Entschädigungszahlung haben sollen,
die in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis
zum Getöteten standen . Erfasst sind damit zum Beispiel
Patchworkfamilien oder unverheiratete Partner.
Lieber Herr Hoppenstedt,
das, was Sie eben gesagt haben, war zum Teil peinlich
und zum Teil unterste Schublade . Wir Sozialdemokraten
sollen uns bei Opfern entschuldigen, weil wir das Gesetz
nicht schnell genug gemacht haben? Herr Hoppenstedt,
ich kann Ihnen nur anraten, bei den nächsten Koalitions-
verhandlungen mit den Grünen Ihre Koalitionsaufträ-
ge mit einer Zeitleiste zu versehen, aus der hervorgeht,
wann Sie was abhandeln wollen .
Liebe Grüne, Ihre Kritik ist im Wesentlichen die ge-
wesen, dass die Koalitionsfraktionen ihren Koalitions-
vertrag nicht schnell genug abarbeiten. Ich finde das
ehrlicherweise eine bemerkenswerte Oppositionsarbeit,
dass Sie der Regierung vorwerfen, nicht schnell genug
die eigenen Vorhaben abzuarbeiten . Ich habe mir Oppo-
sitionsarbeit immer etwas anders vorgestellt. Ich finde es
aber super, dass Sie uns so bei unserer Arbeit unterstüt-
zen, und danke Ihnen .
Vielen Dank .
Zum Abschluss dieser Aussprache hat der Kollege
Alexander Hoffmann für die CDU/CSU das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen
und Kollegen! Der Rechtsstaat hat zwei Wege, wie er auf
eine Körperverletzung oder auf die Tötung eines Men-
schen reagiert .
Da ist zum einen die strafrechtliche Seite . Hier steht
die Strafe – die Freiheitsstrafe auf Bewährung, die Geld-
strafe – im Mittelpunkt, und es geht um Schuld, Sühne,
ja Vergeltung . Der Staat erhebt hier seinen Strafanspruch,
und dieser Strafanspruch schützt letztendlich das Rechts-
gut Leben, die körperliche Unversehrtheit . Ich will ins
Gespräch bringen, dass bereits diese Seite für das Opfer
bzw . die Hinterbliebenen unglaublich wichtig ist; denn
diese strafrechtliche Abwicklung – so will ich es einmal
nennen – zeigt dem Opfer, den Hinterbliebenen: Ihr seid
nicht allein . Sie signalisiert: Der Täter steht außerhalb
des rechtsstaatlichen Systems und nicht das Opfer . Sie
vermittelt auch Sicherheit, weil die Hinterbliebenen mer-
ken: Der Rechtsstaat springt mir zur Seite .
Es gibt aber auch eine zweite Seite, und zwar die zi-
vilrechtliche Seite; das ist heute schon angeklungen . Da
geht es zunächst um die sehr banal klingende Frage: In-
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wieweit kann der Schmerz, das Leid, das ein Mensch
durch den Verlust eines anderen Menschen oder durch
eine Körperverletzung erleidet, monetär aufgewogen
werden? Ich denke, wir wissen alle, dass es Konstella-
tionen gibt, in denen das Leid nie mit Geld aufzuwiegen
sein wird. Materielle Schäden sind gut zu beziffern, aber
bei immateriellen Schäden ist das so gut wie unmöglich .
Und dennoch ist es so, dass auch diese zweite Seite für
das Opfer, für die Hinterbliebenen unglaublich wichtig
ist; denn sie hat Ausgleichs- und Genugtuungsfunkti-
on . Und gerade weil diese Seite, liebe Kolleginnen und
Kollegen, für das Opfer bzw . die Hinterbliebenen von
erheblicher Bedeutung ist, darf es den Rechtsstaat nicht
kaltlassen, dass wir hier eine Regelungslücke haben, ich
möchte sagen: einen blinden Fleck .
Der bayerische Justizminister Winfried Bausback
hat diesen blinden Fleck vor einigen Jahren sehr gut be-
schrieben . Er hat gesagt: Wenn Eltern ihr Kind durch ei-
nen Unfall verlieren – das Kind wird auf dem Fahrrad
sitzend auf dem Schulweg von einem Auto angefahren –,
dann hat der Rechtsstaat nur unbefriedigende Antworten .
Denn er antwortet: Wir können euch sehr wohl materi-
ellen Ersatz für das zerstörte Fahrrad geben, aber es ist
nicht vorgesehen, dass auch nur ansatzweise ein Ersatz
für das Leid und für den Schmerz geleistet wird, den
ihr durch den Verlust eures Kindes erlitten habt . – Da
wird das Problem offensichtlich. Das deutsche Zivil-
recht kennt kein Schmerzensgeld für nahe Angehörige .
Auch die Rechtsprechung über die Schockschäden, die
sehr dezidiert und differenziert ist, hilft – das ist heute
schon angeklungen – in dem Moment nicht weiter; denn
sie fordert dramatische Auswirkungen von einigem Ge-
wicht und von einiger Dauer . Die bloße Trauer, der bloße
Schmerz, so tragisch das klingt, genügt nicht .
Das war der Grund, warum die CSU im Jahr 2013 da-
rauf gedrungen hat, dass dieser Punkt unmittelbar im Ko-
alitionsvertrag Berücksichtigung findet.
Da sich dann – das muss man so offen ansprechen – im
Justizministerium über Jahre hinweg nichts getan hat,
war ich sehr dankbar, als das bayerische Justizministe-
rium Anfang 2015, im Januar, einen eigenen Gesetzent-
wurf vorgelegt hat, um diese Problematik sachgerecht
abzubilden .
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich
will in einer gewissen großkoalitionären Verbundenheit
zumindest so viel sagen:
Ich war in der heutigen Debatte schon etwas amüsiert,
dass Sie tatsächlich den Versuch unternommen haben,
sich als Fahnenträger, ja sogar als Erfinder des Angehöri-
genschmerzensgeldes feiern zu lassen, und das, nachdem
Sie drei Jahre lang nichts unternommen haben,
nachdem Ihr Minister auf diesem Feld drei Jahre lang
nichts unternommen hat . Deswegen würde ich vorschla-
gen:
Weniger feiern lassen, weniger reden; wir sollten bei die-
sem Thema endlich einfach einmal machen .
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit .
Damit schließe ich die Aussprache .
Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz zu dem
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem
Titel „Gesetzliche Grundlage für Angehörigenschmer-
zensgeld schaffen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10076, den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 18/5099 abzulehnen . Wer für diese Beschluss-
empfehlung des Ausschusses stimmt, den bitte ich um
ein Handzeichen . – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen von Bünd-
nis 90/Die Grünen und der Linken angenommen .
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Seefischereigeset-
zes
Drucksache 18/9466
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
Drucksache 18/10496
Über den Gesetzentwurf werden wir später namentlich
abstimmen . Ich weise darauf hin, dass zur Annahme des
Gesetzentwurfs nach Artikel 87 Absatz 3 unserer Ver-
fassung die absolute Mehrheit, das heißt 315 Stimmen,
erforderlich ist . Das ist die sogenannte Kanzlermehrheit .
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Widerspruch
dagegen erhebt sich nicht . Dann ist das so beschlossen .
Alexander Hoffmann
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620606
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Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin das Wort der Kollegin Ingrid Pahlmann.
Liebe Frau Kollegin, Sie nutzen Ihren heutigen Ge-
burtstag für diese Rede . Sie feiern Ihren Geburtstag hier
im Hohen Hause . Ich möchte Ihnen für dieses außeror-
dentlich hohe Maß an Pflichterfüllung danken, vor allem
aber zu Ihrem Geburtstag herzlich im Namen der Kolle-
ginnen und Kollegen gratulieren .
Recht herzlichen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsi-
dent! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Wir beraten
heute den Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung
des Seefischereigesetzes. Mir ist bewusst, dass Fische-
reithemen nicht bei allen Kollegen ganz oben auf der
Agenda stehen . Daher möchte ich mit einigen grundle-
genden Anmerkungen beginnen .
Das Seefischereigesetz ist die Grundlage im deutschen
Recht für den gewerbsmäßigen Fischfang auf See . Au-
ßerdem regelt es Aufgaben und Zuständigkeiten bei der
behördlichen Überwachung der Seefischerei.
Kernanliegen des Seefischereigesetzes ist es, die
Fischbestände zu schützen . Daher sieht die Gemeinsame
Fischereipolitik der EU ein geregeltes Bewirtschaftungs-
system vor, das die Reproduktionsfähigkeit der Bestände
langfristig sichert, die Fangmöglichkeiten gerecht auf-
teilt, insgesamt den Erhalt von Meeresressourcen garan-
tiert und damit natürlich auch den Fischern einen wirt-
schaftlich ausreichenden Ertrag sichert .
Die Fischer werden auf verschiedenste Weise kontrol-
liert und überwacht . Sie sind über ein Satellitensystem
jederzeit zu orten . Sie müssen die Quoten der einzelnen
Fischarten einhalten, jeden Hol ins Logbuch eintragen
und aufgrund des Rückwurfverbotes auch alle Beifänge
in den Häfen anlanden . Darüber hinaus gibt es Modell-
versuche mit einer Kameraüberwachung an Bord, um
jegliche Manipulation auszuschließen . Die Erfassung der
Daten und die strikte Kontrolle spielen also eine große
Rolle .
Mit der Änderung des Seefischereigesetzes, über die
wir hier heute diskutieren, werden einzelne Vorschriften
im deutschen Recht an das geltende Fischereirecht der
EU angepasst. Viele Passagen im Gesetz waren absolut
unstrittig . Strittig war allerdings in den letzten Wochen
das Ansinnen der Bundesregierung, das BMEL zu er-
mächtigen, die seewärtige Fischereiaufsicht auf den Zoll
und die Bundespolizei auszuweiten . Sie könnten dann
neben der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernäh-
rung, der BLE, auch wieder Aufgaben in der Fischerei-
aufsicht wahrnehmen, wie sie das bis 2011 auch getan
haben .
Darüber, wie sinnvoll nun diese Zusammenführung
von verschiedenen Kontrollinstanzen ist, welche Vortei-
le, aber vor allem auch welche Nachteile sich dadurch für
unsere Fischer ergeben, haben wir in den letzten Wochen
viel diskutiert .
Es ist sicherlich sinnvoll, die gute Zusammenarbeit der
drei schiffsführenden Ressorts BMF, BMI und BMEL
zu stärken und die enge Zusammenarbeit der BLE und
der Zollverwaltung im Maritimen Sicherheitszentrum in
Cuxhaven zu vertiefen . Andererseits befürchten aber nun
vor allem die Fischer ausufernde zusätzliche Kontrollen .
Wir haben diese Sorge sehr ernst genommen und ha-
ben in den Verhandlungen mehrfach darüber debattiert .
So ging es hauptsächlich um die Frage: Sind der Zoll und
die Bundespolizei bei diesen dezidiert fischereirechtli-
chen Fragen in der Lage, die vielschichtigen und komple-
xen Kontrollen an Bord versiert durchzuführen? Es geht
um die Beurteilung von Fischarten, von Fischmengen,
von Fischgrößen, von Netzarten, von Maschengrößen
und vielem mehr . Ich muss sagen: Auf diese Frage haben
mein Kollege Saathoff und ich keine zufriedenstellende
Antwort bekommen .
Andererseits ist diese Kompetenzverteilung auf Zoll
und Bundespolizei keine neue Errungenschaft . Seit den
90er-Jahren gab es bereits eine Rechtsgrundlage für eine
solche Tätigkeit . Sie wurde auch ausgeübt . Wohl ver-
sehentlich wurde dieser Passus dann im Jahre 2011 im
Rahmen der letzten Änderung des Seefischereigesetzes
gestrichen . Seitdem wurden vom Zoll mangels tragfä-
higer Rechtsgrundlage keine Fischereivollkontrollen
mehr vorgenommen . Im Jahr 2014 haben dann BMEL
und BMF aufgrund einer Verordnung vereinbart, dass
die Zollverwaltung bis zur Verabschiedung eines neuen
Gesetzes, also bis zum heutigen Tag, wieder Kontrollen
durchführen kann. Um diese Praxis nun auf eine ordentli-
che Rechtsgrundlage zurückzuführen, soll die Streichung
von 2011 rückgängig gemacht werden .
Das war ein absolut kurzer Abriss der durchaus hitzig
geführten Diskussion . Ich habe es mir selbst nicht leicht
gemacht, den viel diskutierten § 2 Absatz 7 des Seefi-
schereigesetzes, um den es hier geht, wieder im Gesetz
zu verankern . Aber ich möchte an dieser Stelle eines ganz
deutlich machen: Nach allen Restriktionen, die den Fi-
schern vor allem in letzter Zeit auferlegt wurden – ich
denke an die extreme Absenkung der Dorschfangquoten
in der Ostsee –, können wir uns keine weitere Verzöge-
rung der Verabschiedung des Gesetzentwurfs erlauben .
Denn wenn wir noch weiter debattieren, geht es nicht
mehr nur um den Unmut unserer Fischer über zusätzliche
Kontrollen, sondern schlichtweg um ihre Existenz .
Können wir den Gesetzentwurf heute nicht verab-
schieden, werden die Gelder aus dem Europäischen Mee-
res- und Fischereifonds nicht ausgezahlt, die an die Er-
füllung der Gesetzesvorhaben gebunden sind . Wir sollten
Vizepräsident Johannes Singhammer
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20607
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also nicht länger die nötigen EU-Zahlungen blockieren .
Mein Plädoyer, bevor wir gleich über die Änderungen ab-
stimmen, ist hoffentlich deutlich geworden: Es darf keine
unnötige Verlängerung der Diskussion geben . Vielmehr
müssen wir diesen Gesetzentwurf heute verabschieden .
Denn damit bringen wir das Geld für die Fischer auf den
Weg . Ich kann Sie nur eindringlich darum bitten: Stim-
men Sie dem vorgelegten Gesetzentwurf zu!
Ich danke Ihnen .
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt die Kollegin
Birgit Menz .
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Gäste! Die Meere und Ozeane
unseres Planeten sind Heimat für unzählige Tiere und
Pflanzen und ernähren Millionen von Menschen in allen
Teilen der Erde . Klimawandel, Umweltverschmutzung
und Überfischung stellen das Ökosystem Meer vor noch
nie dagewesene Herausforderungen . Die intensive Be-
wirtschaftung der Gewässer der letzten Jahre trägt un-
weigerlich dazu bei, dass nicht nur die Ernährungssicher-
heit vieler Menschen auf dem Spiel steht, sondern ganze
Ökosysteme zu kollabieren drohen .
Mit dem Dritten Gesetz zur Änderung des Seefische-
reigesetzes soll dem Ziel der Gemeinsamen Fischereipo-
litik der Europäischen Union, die Fischpopulationen zu
stabilisieren und eine nachhaltige Bewirtschaftung der
Meere zu erreichen, Rechnung getragen werden . Dabei
spielt die Kontrolle einer Anlandungsverpflichtung eine
wichtige Rolle; denn pro Jahr landen unter anderem
durch umweltgefährdende Fangmethoden viele Millio-
nen Tonnen Meereslebewesen unbeabsichtigt – sprich:
zusätzlich – in den Netzen, der sogenannte Beifang .
Dass dieser vor 2015 einfach über Bord geworfen wer-
den durfte, führte zu einer riesigen Verschwendung von
Meereslebewesen aus rein wirtschaftlichen Gründen;
denn die meisten der zurückgeworfenen Fische überleb-
ten diese Strapaze nicht . Mit dem Rückwurfverbot schob
die EU dieser verschwenderischen Praxis endlich einen
Riegel vor .
Entsprechend der Anlandungsverpflichtung muss nun
der gesamte Fang an Bord verbleiben und auf die Quoten
angerechnet werden. Die Mitgliedstaaten sind verpflich-
tet, die Einhaltung des Rückwurfverbotes sicherzustellen
und die detaillierten Dokumentationen aller Fangreisen
zu kontrollieren . Im Rahmen einer Bewertung werden
dabei verschiedene Kriterien wie der Schadenswert, die
wirtschaftliche Lage der Täterin und der Täter oder Aus-
maß oder Wiederholung des Verstoßes berücksichtigt .
Aus dem Gesetzentwurf geht nicht hervor, dass ab
2017 auch ein strengerer Maßstab für die Bewertung des
Anlandungsgebots in Kraft tritt . Zwar ist geregelt, wel-
ches Bußgeld zu verhängen oder welches Strafverfahren
im Falle eines schweren Verstoßes einzuleiten ist, jedoch
ist nicht erklärt, worin dieser schwere Verstoß besteht .
Im Sinne der Transparenz sollten die inhaltlichen
Kriterien für die Bewertung von Verstößen aufgeführt
werden, um Klarheit für die Fischerinnen und Fischer zu
schaffen.
Auch die im Gesetz vorgesehene Ermächtigung des
Landwirtschaftsministeriums, die Überwachung und
die Fischereiaufsicht auf die Behörden der Zollverwal-
tung und der Bundespolizei zu übertragen, ist zumindest
kritisch zu hinterfragen . Zwar sind solche Amtshilfen in
vielen Bereichen üblich,
jedoch sehen wir hier derzeit das Problem, ob überhaupt
ausreichende personelle und technische Ressourcen vor-
handen sind, die eine effektive und verlässliche Kontrol-
le garantieren und nicht zur Überlastung der zuständigen
Beamten und Beamtinnen führen .
Neben der ökologischen Entwicklung muss die aktu-
elle sowie die zukünftige Fischereipolitik sozial gerecht
ausgestaltet werden .
Vor allem kleine und mittlere Betriebe sehen durch Fang-
quoten und Schonzeiten ihre Existenz bedroht .
Um die maritime Umwelt ebenso wie die Existenz der
Küstenfischerei zu schützen, braucht es ein vernünftiges,
existenzsicherndes Modell, welches ein Fortbestehen
dieses Berufsstandes garantiert .
Um Fischpopulationen zu stabilisieren und eine nachhal-
tige Bewirtschaftung der Meere zu erreichen, kann ein
konsequentes Umsetzen des Rückwurfverbotes jedoch
nur der Anfang sein . Die Linke fordert deshalb, die Fang-
quoten streng nach den wissenschaftlichen Erkenntnis-
sen festzulegen, gänzlich auf Grund- und Schleppnetze
zu verzichten und alternative Fangmethoden, die den
sogenannten Beifang vermeiden und die Meeresumwelt
schonen, zu fördern .
Danke .
Nächster Redner ist der Kollege Johann Saathoff,
SPD.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Worum geht es bei dieser Änderung des Seefi-
schereigesetzes? Im Kern geht es um die Umsetzung von
Ingrid Pahlmann
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620608
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zahlreichen Bestimmungen des EU-Rechtes . Zum Bei-
spiel geht es darum, Sanktionierungen bei Fehlverhalten
zu regeln, und zwar nicht nur bei Fehlverhalten von Fi-
schern, sondern auch bei Fehlverhalten von Inhabern von
Fischereilizenzen, also den Fischereibetrieben . Es geht
darum, die Zuständigkeit für Fragen jeglicher Art hin-
sichtlich Fangerlaubnissen auf das Verwaltungsgericht
Hamburg zu übertragen, damit Rechtsklarheit besteht . Es
geht darum, dass Kapitäne Auskunftsrechte hinsichtlich
möglicher Strafpunkte erhalten . Das ist da genauso wie
mit Flensburg . Dafür müssen sie das Recht haben, die
Auskunft zu bekommen .
Man kann das alles mittragen, liebe Kolleginnen und
Kollegen, das will ich an dieser Stelle sagen . Wichtig ist,
dass das Gesetz zügig – also noch in diesem Jahr – ver-
abschiedet wird; denn die Konformität mit EU-Recht ist
die Voraussetzung für die Auszahlung von Fördermitteln
aus dem Europäischen Meeres- und Fischereifonds, dem
EMFF .
Der EMFF ist für die Fischerei besonders jetzt von
enormer Bedeutung . Das liegt an den Stilllegeprämien,
die sonst nicht möglich wären . Was ist das eigentlich?
Fischer verpflichten sich freiwillig, nicht rauszufahren
und damit die Bestände zu schonen . Dabei verdienen sie
natürlich kein Geld, und damit sie Geld verdienen, be-
kommen sie eine Entschädigung aus EMFF-Mitteln . Wir
haben ein aktuelles Problem – wir haben miteinander da-
rüber gesprochen –, müssen wir 2017 doch eine starke
Kürzung der Fangquote – von weit über 50 Prozent –
beim Ostseedorsch hinnehmen, weil unter anderem der
Nachwuchs des Ostseedorsches 2015 komplett ausge-
fallen ist . Die Gründe dafür können vielfältig sein, sie
sind auf jeden Fall nicht bei den Fischern zu suchen . Die
Fischerei ist auf die Stilllegeprämie mindestens so lange
angewiesen, bis die Dorschquote wieder auskömmlich
ist .
Ohne EMFF, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die
Nachhaltigkeit der Fischerei gefährdet . Wer nachhaltige
Fischerei will, muss auch sicherstellen, dass die Fische-
rei selber eine nachhaltige Grundlage hat . Allerdings gibt
es einen deutlichen Webfehler im Gesetz – das will ich
an dieser Stelle noch einmal ausführen –, nämlich die
Übertragung von Aufgaben der Fischereiaufsicht von
der BLE auf die Bundespolizei bzw . den Zoll . „Laat de
Kaat man lopen, Melk gifft de doch neet!“, sagt man in
Ostfriesland, wenn ein eigentlich Unzuständiger sich für
zuständig erklärt . Ich habe die Handreichung der BLE
einmal mitgebracht . Das ist übrigens nur das Kerncur-
riculum, dazu gibt es noch weitere Dinge, doppelseitig
bedruckt, in Englisch – lauter Fachchinesisch und lauter
Fachlatein .
Der Zoll soll zum Beispiel Fangkontrollen durchfüh-
ren . Er muss also in der Lage sein, den Rundnasengrena-
dier vom Schwarzen Degenfisch zu unterscheiden. Fragt
mich, wer von uns das kann! Es gibt Vorschriften hin-
sichtlich der Beifänge, hinsichtlich der Fangmethoden,
Netzgröße, Netzform, Maschenweite, Maschenform und,
und, und . Viel Spaß, Kolleginnen und Kollegen, kann ich
da nur sagen .
Diese Kontrollen sollen für Zoll und Bundespolizei
möglich werden in einer Zeit der Diskussion über Kame-
ras an Bord, in einer Zeit, wo man mittels AIS-Daten von
der Badewanne aus sehen kann, wo sich die Fischerei-
fahrzeuge gerade befinden, mit Vessel-Monitoring-Sys-
temen, in einer Zeit, wo die Fangdaten je Hol in das Log-
buch einzutragen sind, und einer Zeit, in der wir gerade
dabei sind, neue Schiffe für die BLE bauen zu wollen.
Wofür eigentlich, wenn der Zoll das alles kann?
Warum gibt es das nicht eigentlich auch umgekehrt?
Das heißt, die BLE kontrolliert neben den Belangen der
Fischereiaufsicht mit, ob eventuell Zigaretten geschmug-
gelt worden sind .
Ich glaube, das ist dann viel einfacher .
Ein Argument für die Kompetenzübertragung auf
Zoll und Bundespolizei war, dass es diese Grundlage
früher bereits gegeben habe und dies nur aus Versehen
herausgefallen sei . Es war aber auch in der Vergangen-
heit nicht sinnvoll . Es gab 1 100 Sichtkontrollen in fünf
Jahren . Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sichtkontrolle
heißt, am Schiff vorbeifahren und gucken, ob eine Flagge
gehisst ist, ob sozusagen die Kennzeichnung dran ist –
mehr nicht . Keine wesentlichen fachlichen Kontrollen
hat es gegeben . Es gab früher nur den Anschein besserer
Kontrollen .
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Kon-
trollkompetenzen der BLE werden nicht eingeschränkt . –
Faktisch wird es aber keine besseren weiteren Kontrol-
len durch Zoll und Bundespolizei geben können, wie die
Vergangenheit gezeigt hat . Also ist der Sinn, ein Gefühl
von mehr und besseren Kontrollen zu vermitteln – quasi
Potemkin’sche Kontrollen, wenn man so will.
Es wird der Anschein von mehr Kontrollen für die Bür-
gerinnen und Bürger und von mehr Kontrollen für die
Fischer erweckt . Als neues Argument kommt hinzu, dass
dadurch die Erhöhung der Achtsamkeit der Fischer ein-
trete . Fischerei wird über die gefährliche Tätigkeit – und
glauben Sie mir, ich kenne Menschen, die auf See geblie-
ben sind – hinaus zur gefahrengeneigten Tätigkeit . Man
muss nicht nur aufpassen, nicht unterzugehen, sondern
auch aufpassen, nicht bestraft zu werden . Zollkontrollen,
liebe Kolleginnen und Kollegen, sind an Land – im land-
wirtschaftlichen Sektor – schon enorm schwierig . Mir
leuchtet einfach nicht ein, warum das auf See einfacher
sein soll .
Johann Saathoff
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20609
(C)
(D)
Wenn es um zusätzliche Aufgaben für den Zoll gehen
soll, dann hätte ich eine Idee, nämlich den illegalen Wel-
penhandel .
Ich finde, das wäre als Aufgabe für den Zoll angebracht;
da muss etwas gemacht werden . Das ist nicht kompli-
ziert, und hier besteht dringender Handlungsbedarf .
Die betroffenen Bundesländer haben für sich ein An-
hörungsrecht bei der Umsetzung der Kompetenzen für
den Zoll eingefordert . Grundsätzlich – das kann man
daraus lesen – sehen die Bundesländer das aus, wie ich
gerade dargelegt habe, nachvollziehbaren Gründen also
ebenfalls kritisch . Da gibt es eine Gelegenheit, noch
einmal über das Ganze nachzudenken; denn nicht jede
Ermächtigung muss auch unbedingt umgesetzt werden .
Wenn das dann doch gemacht wird, dann sagt mir mein
Gefühl, dass das Seefischereigesetz noch weitere Ände-
rungen erfahren wird . Dann wird diese Kompetenzrege-
lung immer wieder diskutiert werden müssen . Ich freue
mich schon auf die entsprechenden Erfahrungsberichte
darüber, wie ineffektiv diese Kontrolle tatsächlich statt-
gefunden hat .
Wer sich um illegale Fischerei kümmert, der sollte
sich nicht auf Nord- und Ostsee kaprizieren, sondern
lieber im südostasiatischen Raum suchen . Dort gibt es
Schiffe, die über ein Jahr lang nicht nach Hause kommen.
Dort gibt es Sklaverei und Menschenhandel . Dort gibt
es Trash-Fishing; da wird alles rausgefischt, durch die
Wurstmühle gedreht und anschließend als Shrimpsfutter
verkauft. Dort liegen die wirklichen Probleme. An diesen
Problemen können weder BLE noch Zoll oder Bundes-
polizei etwas ändern, aber wir sollten intensiv darüber
diskutieren .
Trotzdem bekommen Sie, da die Fischer dringend
unsere Unterstützung brauchen und die EMFF-Mittel
ausgezahlt werden müssen, unsere Zustimmung . Frau
Pahlmann, Ihnen danke ich noch einmal ganz herzlich
auch für Ihre Worte gerade . Es war eine konstruktive Dis-
kussion, die wir miteinander geführt haben . Dafür herz-
lichen Dank!
Bevor ich gleich dem Kollegen Friedrich Ostendorff
für Bündnis 90/Die Grünen das Wort erteile, möchte ich
bitten, die ganz unaufschiebbaren Gespräche außerhalb
des Plenarsaals fortzusetzen, damit wir dem Kollegen
zuhören können. – Herr Kollege Ostendorff, jetzt haben
Sie das Wort .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute sollen wir die novellierte Fassung des Seefische-
reigesetzes beschließen . Es regelt die Ausübung der See-
fischerei im Hinblick auf den Schutz und die Überwa-
chung unserer Fischbestände und damit den Erhalt der
biologischen Meeresschätze .
Grundsätzlich verfolgt die europäische Fischereipoli-
tik das Ziel, eine Nutzung lebender aquatischer Ressour-
cen unter nachhaltigen wirtschaftlichen, ökologischen
und sozialen Bedingungen zu sichern . Mit dieser Ge-
setzesänderung werden Regelungen des Seefischereige-
setzes an das novellierte EU-Recht angepasst und inner-
staatliche Zuständigkeiten geändert, um die seewärtige
Fischereiaufsicht auf den Zoll oder die Bundespolizei
zu übertragen . Dadurch wird der Zollverwaltung oder
der Bundespolizei ganz oder teilweise die Kontrolle der
Fischerei auf See jenseits der um 3 Seemeilen seewärts
erweiterten Basislinie bis zur Landesgrenze der Bundes-
republik Deutschland übertragen .
Sie merken, ich stutze da immer etwas . Als bodenge-
bundener Flachländer ist das für mich sehr fremd, aber
wir haben uns da durchgekämpft .
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, Sie spüren alle bei diesen wenigen Anmerkun-
gen, was hier an Bürokratievereinfachung gewirkt hat .
Das ist sicherlich ein Paradebeispiel von Bürokratiever-
einfachung der allerfeinsten Art .
Wie sich im Ausschuss herausgestellt hat und wie wir
heute Abend bei meinem Vorredner gerade wieder erlebt
haben, haben Sie, meine Kolleginnen und Kollegen der
Großen Koalition, uns einen Gesetzentwurf vorgelegt,
von dem zumindest die SPD nicht überzeugt ist.
Wundersame Dinge passieren: Sie legen etwas vor,
sind aber dagegen; trotzdem stimmen Sie dafür . Ich fra-
ge mich, welcher Wähler oder welche Wählerin diesen
Wirrwarr noch nachvollziehen kann .
Wir haben einen Abstimmungswirrwarr und einen
Kompetenz- und Kontrollwirrwarr, die ihresgleichen
suchen . Warum soll es eigentlich zwei Zuständigkeiten
für ein und dieselbe Sache geben? Warum soll die Bun-
desanstalt für Landwirtschaft und Ernährung bis zu die-
ser Basislinie plus 3 Seemeilen seewärts zuständig sein,
und dahinter sind dann der Zoll und die Bundespolizei
zuständig? Wie das funktioniert, soll man einmal den
Bürgern erklären . Ich frage mich, welches Flaggenmeer
wir demnächst haben, was die Basislinie ist, ob die bei
Ebbe oder Flut gemessen wird und ob wir uns über die
Basislinie überhaupt einig werden . Das wird noch sehr
interessant .
Johann Saathoff
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620610
(C)
(D)
Damit die Kontrolle nicht vorher kentern geht, wie Fischer
sagen – das heißt auf Deutsch: zusammenbricht –, sollte
das Gesetz unbedingt nochmals überarbeitet werden .
Wir Grüne hoffen, dass diesem Gesetz in der prak-
tischen Umsetzung nicht der Wind aus den Segeln ge-
nommen wird und unsere Fischbestände im Sinne der
Empfehlungen des Parlamentarischen Beirates für nach-
haltige Entwicklung auch nachhaltig erhalten bleiben .
Herr Minister, setzen Sie endlich die Empfehlungen des
Internationalen Rates für Meeresforschung für die zu-
künftigen Generationen um .
Das heute vorliegende, novellierte Seefischereigesetz
wird zum Beispiel den Dorschbeständen in der westli-
chen Ostsee wenig nutzen – auch das habe ich bei der Ar-
beit gelernt, nämlich dass es die westliche und die östli-
che Ostsee gibt –: Der Westdorsch durfte zwei Jahrzehnte
lang, von den Kontrollen geduldet, überfischt werden.
Im Oktober dieses Jahres hätten Sie, Herr Minister, die
Chance gehabt, zur nachhaltigen Fischfangpolitik in der
Ostsee zurückzukehren . Aber auch diese Chance haben
Sie in den Wind geschrieben .
Was die See genommen, gibt sie nie zurück – so sagt
ein Fischersprichwort . Statt den Vorgaben des Internatio-
nalen Rates zu folgen und eine Kürzung der Westdorsch-
fangquote um 87 Prozent zu unterstützen, haben Sie,
Herr Minister Schmidt, sich auf EU-Ebene dafür stark-
gemacht, die Fangquote in der westlichen Ostsee nur um
56 Prozent und in der östlichen Ostsee um 25 Prozent
abzusenken .
Die EU-Fischereiminister haben leider beschlossen, dass
die wissenschaftliche Vorgabe um 63 Prozent überschrit-
ten werden darf . All das ist legal .
Wer Fischern helfen will, meine Damen und Herren,
muss dafür sorgen, dass ihnen auch zukünftig noch etwas
ins Netz geht .
Der Nordseeplan ist momentan in der Erarbeitung . Wir
Grüne hoffen, dass Sie die Fehler des Ostseeplanes nicht
wiederholen . Sorgen Sie dafür, dass unsere Fischerinnen
und Fischer endlich verlässliche Planungsgrundlagen ha-
ben und wissen, wie es morgen und übermorgen für sie
weitergeht .
Abschließende Rednerin zu diesem Tagesordnungs-
punkt ist die Kollegin Kordula Kovac für die CDU/CSU .
Ich darf alle Kolleginnen und Kollegen, die weiterhin
Wichtiges zu besprechen haben, daran erinnern: Es ist
nicht völlig ausgeschlossen, dass auch jemand von uns
einmal am Ende einer solchen Aussprache kurz vor einer
namentlichen Abstimmung das Wort erteilt bekommt .
Ich bitte deshalb, entsprechend aufmerksam zu sein .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren oben auf der
Tribüne! Meine Vorrednerinnen und Vorredner haben ei-
gentlich schon alles gesagt .
Jetzt liegt es an mir, alles zusammenzufassen und auf den
Punkt zu bringen. Ich mache es daher kurz: Mit dem jetzt
vorliegenden Gesetzentwurf bringen wir im Wesentli-
chen das deutsche Recht mit dem geltenden Fischerei-
recht der EU in Einklang und passen es an die Praxis
an . Wichtig ist es mir, an dieser Stelle festzuhalten: Die
Regelungen gehen nicht über unmittelbar geltendes EU-
Recht hinaus .
So kontrovers wir hier auch debattieren mögen: Ei-
gentlich ist das Gesetz in weiten Teilen völlig unumstrit-
ten. Meine Kollegin Ingrid Pahlmann – ich möchte dir
auch von dieser Stelle heute noch einmal zum Geburtstag
gratulieren, liebe Ingrid;
vielleicht klatschen die Kollegen, die eben geklatscht ha-
ben, jetzt noch einmal –
hat es bereits dargestellt. Das Seefischereigesetz dient
neben der Regelung der Seefischerei vor allem der Um-
setzung von Bestimmungen der Gemeinsamen Fischerei-
politik der EU .
Mit der GFP wird die Ausübung der Seefischerei im
Hinblick auf Schutz der Bestände und Erhalt der biolo-
gischen Vielfalt, Überwachung und Strukturpolitik der
Fischwirtschaft geregelt . Durch diese länderübergreifen-
de gemeinsame Politik wird gewährleistet, dass Überfi-
schung verhindert bzw . gemindert wird . Der Nachhal-
tigkeitsgedanke, den Carl von Carlowitz für den Wald
formuliert hat, gilt auch für unsere Meere und Gewässer:
Es darf der Natur nur so viel entnommen werden, wie
auch wieder nachwachsen kann, in diesem Fall: nach-
kommen kann .
Darüber hinaus regelt das Seefischereigesetz auch
die Aufgaben und Zuständigkeiten bei der behördlichen
Überwachung der Seefischerei; denn selbst die besten
Regeln nützen nichts, wenn ihre Einhaltung nicht kon-
trolliert wird . Genau hierüber streiten wir uns nun heute,
nicht um die Kontrolle per se, sondern darüber, wer sie
durchführen soll .
Meine Damen und Herren, mit dem heute zu beschlie-
ßenden Gesetz werden, wie bereits von den Kolleginnen
Friedrich Ostendorff
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20611
(C)
(D)
und Kollegen gesagt, im Wesentlichen folgende Dinge
geregelt:
Erstens . Das Verwaltungsgericht Hamburg ist von nun
an zuständig für sämtliche Streitigkeiten, die Fanger-
laubnisse betreffen. Das ist ein, wie ich finde, gelungenes
Beispiel für Kompetenzbündelung .
Zweitens . Mit der Ausdehnung auf eine der drei zu-
letzt erteilten Fangerlaubnisse wird der BLE mehr Zeit
eingeräumt, festzustellen, ob eine Fangerlaubnis wegen
erheblicher Überschreitung oder Missbrauchs einer frü-
heren Erlaubnis zu versagen ist . Bessere Kontrolle also –
sehr schön!
Drittens . Ab sofort kann das BMEL die Kompetenz
zur Überwachung und Unterstützung der Seefischerei
der Zollverwaltung oder der Bundespolizei ganz oder
teilweise übertragen . Damit wird die bisherige Kontroll-
zuständigkeit der BLE auf zwei weitere Behörden aus-
geweitet .
Jetzt kann man natürlich den Zeigefinger heben.
„Kompetenzwirrwarr“ und „Webfehler“ sind ja auch
wirklich schöne Worte. Und aus Prinzip dagegen zu sein,
ist ein beliebter Sport der Linken und der Grünen, auch
von dir, lieber Kollege .
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen wir doch
bitte die Kirche im Dorf . Es ist ja nicht so, als würden wir
hier völlig neues Terrain betreten . Dass sich BMEL, BMI
und BMF die Zuständigkeiten bei der Kontrolle der Fi-
scherei teilen, ist absolut nichts Neues . Die Zusammenar-
beit zwischen der Bundesanstalt für Landwirtschaft und
Ernährung, der Bundespolizei und dem Zoll in diesem
Bereich ist bereits seit Jahrzehnten gängige Praxis. Letzt-
endlich wird diese Praxis durch das heute zu beschlie-
ßende Gesetz nur gesetzlich verankert . Dass manche da-
raus einen Staatsakt machen wollen, halte ich für völlig
überzogen .
Ja, vielleicht kann man über die Kompetenz von Zoll
und Bundespolizei im Hinblick auf das nötige Detailwis-
sen streiten . Ja, es mag mehr Kontrollen insgesamt für die
Fischer geben . Aber, meine Damen und Herren, es gibt
eben auch Geld; und darum geht es heute letztendlich .
Wer jetzt weiterhin seine Befindlichkeiten, bezogen auf
die Kompetenzübertragung, hochhalten will, tut dies auf
dem Rücken der Fischerinnen und Fischer . Das schnelle
Verabschieden des Gesetzes ist geboten, damit die Mittel
des Europäischen Meeres- und Fischereifonds EMFF an
unsere Fischer ausgezahlt werden können .
Der EMFF hilft den Fischern unter anderem bei der
Umstellung auf die nachhaltige Fischerei . Und das, liebe
Freundinnen und Freunde hier im Plenum, eine nachhal-
tige Fischerei, ist doch unser aller Ziel . Lassen Sie da-
her doch bitte bei der Abwägung Augenmaß walten, und
stellen Sie sich die Frage, ob Ihre Bedenken gegen diese
Kompetenzübertragung es wirklich rechtfertigen, gegen
das Gesetz zu stimmen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Fischerei in
Deutschland ist ein traditioneller Bestandteil von Wirt-
schaft und Kultur, sowohl an der Küste als auch im Bin-
nenland . Helfen Sie mit, dass das auch so bleibt! Stim-
men Sie dem Gesetzentwurf zu!
Danke schön .
Damit schließe ich die Aussprache .
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung
des Seefischereigesetzes. Der Ausschuss für Ernährung
und Landwirtschaft empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 18/10496, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf Drucksache 18/9466 in der
Ausschussfassung anzunehmen .
Ich bitte Sie, noch an Ihren Plätzen zu bleiben, weil
wir jetzt bei der zweiten Lesung sind und es erkennbar
sein soll, wer für welche Entscheidung verantwortlich
zeichnet .
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen . – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen von CDU/CSU und SPD bei Enthaltung der
Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen ange-
nommen worden .
Jetzt kommen wir zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung . Nach Artikel 87 Absatz 3 des
Grundgesetzes ist zur Annahme des Gesetzentwurfs die
absolute Mehrheit – das sind derzeit 315 Stimmen – er-
forderlich . Wir stimmen nun über diesen Gesetzentwurf
namentlich ab . Ich bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.
Sind alle Abstimmungsurnen besetzt? – Ich bitte um
Bestätigung durch Handzeichen, ob alle Abstimmungs-
urnen besetzt sind. – Ja, alles klar. Dann eröffne ich jetzt
die Schlussabstimmung über den Gesetzentwurf .
Sind noch Kolleginnen oder Kollegen hier im Saal,
die ihre Stimmkarte abgeben möchten, aber das bisher
noch nicht geschafft haben? Ich bitte, mir das kundzu-
tun . – Das ist jetzt erkennbar nicht mehr der Fall . Dann
schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführe-
rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-
nen . Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später
bekannt gegeben .1)
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Wolfgang Gehrcke, Andrej Hunko,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
1) Ergebnis Seite 20614 C
Kordula Kovac
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620612
(C)
(D)
Türkei-Politik neu ausrichten
Drucksache 18/10472
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Widerspruch
gibt es keinen . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Sevim Dağdelen.
Verehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Her-
ren! Die letzten Monate haben uns eindringlich gezeigt,
dass wir eine radikale Wende in der Türkei-Politik der
Bundesregierung brauchen . Es kann nicht sein, dass der
türkische Staatspräsident Erdogan immer mehr Leute
verhaften, entlassen und, ja, auch foltern lässt . Aber das
Einzige, was der Bundesregierung und vor allem Bun-
deskanzlerin Merkel dazu einfällt, ist es, sich besorgt,
ja bestenfalls alarmiert zu zeigen . Dass diese zur Schau
gestellte Besorgnis irgendetwas bewirkt, glauben immer
weniger Menschen auch in unserem Land .
In Umfragen wie der von Infratest dimap im August
fordern 88 Prozent der Befragten Konsequenzen in der
Türkei-Politik angesichts der verheerenden Entwicklun-
gen in der Türkei .
Wie die Linke wollen diese 88 Prozent kein Weiter-so in
der Politik gegenüber der Türkei.
Sie haben, wie wir eben auch, kein Verständnis dafür,
dass die Bundesregierung außer warmen Worten prak-
tisch nichts unternimmt, um das unterdrückerische isla-
mistische Regime in Ankara zur Freilassung von Akade-
mikern, von Journalisten, von Parteivorsitzenden sowie
von mittlerweile über 2 000 inhaftierten Mitgliedern der
prokurdischen HDP zu bewegen.
Die HDP-Vorsitzenden Demirtas und Yüksekdag sind
in akuter, großer Gefahr, auch weil die türkischen Behör-
den durch die gemeinsame Unterbringung mit Al-Qai-
da-Mitgliedern im Hochsicherheitsgefängnis von Edirne
auf einen Lynchmord spekulieren . Meine Damen und
Herren, unternehmen Sie endlich etwas für die Freilas-
sung von Demirtas und Yüksekdag!
Jetzt stöhnen Sie schon wieder: Ja, was kann man
denn schon machen? Ich möchte Ihnen wirklich einige
Ideen hier mitgeben, was man konkret machen kann .
Beenden Sie die Waffenlieferungen an die Türkei!
Es ist doch wirklich ein Verbrechen, dass die Türkei im
ersten Halbjahr 2016 von Platz 25 auf Platz 8 der Bestim-
mungsländer deutscher Rüstungsexporte aufgerückt ist,
meine Damen und Herren .
Frieren Sie die EU-Beitrittsgespräche ein! Und stop-
pen Sie endlich auch die EU-Beitrittshilfen wie die Vor-
beitrittshilfen!
Ich frage mich auch: Was versprechen Sie sich denn da-
von, jährlich an eine Diktatur wie die Türkei 630 Milli-
onen Euro an Vorbeitrittshilfen zu bezahlen und damit
sozusagen 20 Prozent der aus deutschen Steuergeldern an
die EU gezahlten Beiträge an eine Diktatur zu überwei-
sen? Ist es, weil Sie denken, die Türkei sei ein unsinkba-
rer Flugzeugträger und deshalb brauchten Sie sie? Oder
ist es, weil Sie meinen, die Türkei würde uns dann die
Flüchtlinge vom Hals halten?
Nicht zuletzt fordern wir auch: Stoppen Sie die ge-
plante Erweiterung der Zollunion mit der Türkei! Denn
auf der einen Seite zu suggerieren, dass Sie Skepsis be-
züglich der EU-Beitrittsgespräche haben, auf der anderen
Seite aber durch die Hintertür die Zollunion zu erweitern
und damit dieses Regime zu unterstützen, das nenne ich
wirklich ein Täuschungsmanöver . Deshalb müssen Sie
damit aufhören .
Es geht aber nicht nur um die Menschen in der Türkei,
meine Damen und Herren, es geht auch um die Sicher-
heit der Menschen hier in Deutschland . Es wird immer
deutlicher: Durch Ihre Partnerschaft mit Erdogan haben
Sie mit dazu beigetragen, dass sich Mordkommandos der
türkischen Geheimdienste hier in Deutschland unbehel-
ligt bewegen können. Presseberichten zufolge tummeln
sich über 6 000 Agenten Erdogans hier in Deutschland .
Ich finde, das darf so nicht weitergehen.
Wir als Linke fordern die Ausweisung dieser 6 000 Agen-
ten aus Deutschland . Hören Sie auf, mit Erdogans Diens-
ten zusammenzuarbeiten! Die Bundesregierung steht
hier in der Verantwortung, die Menschen in Deutschland
vor den Agenten und Schergen des türkischen Geheim-
dienstes zu schützen .
Sorgen Sie endlich für eine Wende in der Türkei-Poli-
tik! Wir sind es leid – wie die Mehrheit der Bevölkerung
in Deutschland . Es darf kein Weiter-so mit der Türkei
geben . Zeigen Sie endlich konkrete Solidarität mit den
Verfolgten in der Türkei, indem Sie Ihre Kumpanei mit
Erdogan beenden! Jetzt, meine Damen und Herren, ist
die Zeit der Worte vorbei . Sie müssen jetzt als Regierung
endlich handeln .
Vielen Dank .
Vizepräsident Johannes Singhammer
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20613
(C)
(D)
Für die CDU/CSU spricht der Kollege Dr . Andreas
Nick .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sowohl Außenminister Steinmeier als auch Staatsminis-
terin Böhmer, meine Berichterstatterkollegin Michelle
Müntefering und ich waren in den letzten Wochen zu
Gesprächen in Ankara . Über die durchaus schwierigen
Eindrücke und Erfahrungen habe ich vor kurzem hier
eingehend berichtet . Das will ich nicht noch einmal wie-
derholen .
Für unsere Politik gegenüber der Türkei gilt: Wir
haben eine klare Ausrichtung, orientiert an den grund-
sätzlichen Werten und langfristigen Interessen unseres
Landes, und wir reagieren angemessen auf aktuelle Ent-
wicklungen und Herausforderungen in der Türkei . Für
uns sind die deutsch-türkischen Beziehungen aber auch
zu wichtig, um sie als Instrument der innenpolitischen
Auseinandersetzung zu missbrauchen – nicht in der Tür-
kei und schon gar nicht hier in Deutschland .
Beides kann man vom vorliegenden Antrag der Links-
partei nicht sagen, und deshalb werden wir ihn selbstver-
ständlich ablehnen .
Zwei unabänderliche Konstanten sind grundlegend
für unsere Beziehungen zur Türkei. Die Türkei befindet
sich in einer exponierten geostrategischen Lage . Und ob
es uns gefällt oder nicht: Kein einziges Problem dieser
Region ist ohne oder gar gegen die Türkei leichter zu lö-
sen als mit ihr . Was auch immer sich sonst verändert – die
Geografie bleibt. In einer in dieser Woche vorgestellten
Umfrage der Körber-Stiftung wurden von den Befragten
in Deutschland mit 21 Prozent der Nennungen die Bezie-
hungen zur Türkei auf Rang drei der wichtigsten außen-
politischen Herausforderungen Deutschlands eingestuft,
noch vor – durchaus erstaunlich – den Beziehungen zu
Russland .
Mit kaum einem anderen Land ist Deutschland gesell-
schaftlich enger verflochten als mit der Türkei. Angesicht
von fast 4 Millionen Menschen türkischer Herkunft, die
in unserem Land zu Hause sind, ist es eben noch nicht
einmal theoretisch eine denkbare Option, sich diesem
Land gegenüber in irgendeiner Weise nicht zu verhalten
oder sich gar komplett von ihm abzuwenden .
Umgekehrt sollten wir aber auch nicht der Versuchung
erliegen, unsere Möglichkeiten zur Einwirkung auf die
türkische Innenpolitik zu überschätzen . Die Versuchung
für einige auch in diesem Hause ist offenbar gelegentlich
groß, innenpolitische Auseinandersetzungen der Türkei
hier austragen zu wollen .
Aber ich sage deutlich: Der Deutsche Bundestag ist dafür
nicht der geeignete Platz,
im Übrigen auch nicht die Straßen und Plätze in Deutsch-
land .
– Hallo!
– Haben Sie jetzt eigentlich das Wort, Frau Dağdelen?
Oder wie sieht das aus, Herr Präsident?
Herr Kollege, Sie haben das Wort .
Danke .
Und das bleibt auch bei Ihnen .
Im Verhältnis der Türkei zur Europäischen Union ist
eines aber völlig klar:
– Wer schreit, hat unrecht, Frau Dağdelen! – Grundlage
für den Beitrittsprozess sind die Kopenhagener Kriterien .
Ich zitiere:
Als Voraussetzung für die Mitgliedschaft muss der
Beitrittskandidat eine institutionelle Stabilität als
Garantie für demokratische und rechtsstaatliche
Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte so-
wie die Achtung und den Schutz von Minderheiten
verwirklicht haben …
An diesen Kriterien muss sich auch die Türkei messen
lassen . Dabei gibt es keinen Rabatt und keine Kompro-
misse . Leider führt derzeit kein Weg an der Feststellung
vorbei, dass die Türkei davon heute weiter entfernt ist als
zu jedem anderen Zeitpunkt seit Beginn des Beitrittspro-
zesses .
Es war eben nicht unproblematisch, die Beziehungen
zur Türkei alleine auf die Fragen des Beitrittsprozesses
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620614
(C)
(D)
und der Vollmitgliedschaft zu reduzieren, wie dies die
rot-grüne Bundesregierung seinerzeit getan hat, und al-
ternative Modelle wie das Konzept und der Begriff der
Privilegierten Partnerschaft von vornherein in Misskredit
zu bringen .
Als Union müssen wir unsere Position in dieser Frage je-
denfalls nicht korrigieren . Der beschränkte Blick auf das
nicht absehbare Ende eines ergebnisoffenen Prozesses in
10, 15 oder 20 Jahren hat auf beiden Seiten lange Zeit zu
sehr den Blick darauf verstellt, das zum jeweiligen Zeit-
punkt Mögliche und Notwendige zur Verbesserung der
Zusammenarbeit umzusetzen .
Es wäre aber umgekehrt heute ebenso ein Fehler, gerade
jetzt den Dialog mit der Türkei unsererseits abzubrechen .
Diesen Gefallen sollten wir denen in der Türkei gerade
nicht tun, die sich von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
und von der Perspektive einer nach Westen orientierten
Türkei abwenden wollen . Die Entscheidung über den wei-
teren Weg aber muss die Türkei selbst treffen.
Es ist doch gerade die türkische Zivilgesellschaft, die
uns eindringlich auffordert, die Tür für eine möglichst
enge Anbindung an Europa nicht zuzuschlagen . Und wir
haben ein vitales Interesse an einer prosperierenden Tür-
kei mit einer stabilen Demokratie und einer lebendigen
Zivilgesellschaft . Dies entspricht nicht nur unseren stra-
tegischen Interessen, sondern ebenso den grundlegenden
Werten, denen deutsche Außenpolitik verpflichtet ist und
bleibt .
Vielen Dank .
Bevor ich gleich dem Kollegen Sarrazin das Wort
erteile, gebe ich das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Än-
derung des Seefischereigesetzes bekannt: abgegebene
Stimmen 529 . Mit Ja haben gestimmt 434, Neinstimmen
gab es keine, Enthaltungen 95 . Der Gesetzentwurf hat
damit die erforderliche Mehrheit erreicht .
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 529;
davon
ja: 434
nein: 0
enthalten: 95
Ja
CDU/CSU
Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Artur Auernhammer
Thomas Bareiß
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. André Berghegger
Dr . Christoph Bergner
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr . Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr . Ralf Brauksiepe
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Iris Eberl
Jutta Eckenbach
Hermann Färber
Uwe Feiler
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Axel E . Fischer
Dr . Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr . Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich
Michael Frieser
Dr . Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr . Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Josef Göppel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Dr . Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Olav Gutting
Christian Haase
Florian Hahn
Rainer Hajek
Dr . Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr . Stefan Heck
Dr . Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich
Mark Helfrich
Uda Heller
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Dr . Heribert Hirte
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Alexander Hoffmann
Thorsten Hoffmann
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr . Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M . Huber
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Erich Irlstorfer
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Dr . Franz Josef Jung
Xaver Jung
Dr . Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Ronja Kemmer
Roderich Kiesewetter
Dr . Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Andreas Nick
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20615
(C)
(D)
Markus Koob
Carsten Körber
Hartmut Koschyk
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr . Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr . Roy Kühne
Uwe Lagosky
Dr . Dr . h . c . Karl A . Lamers
Andreas G . Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Dr . Silke Launert
Paul Lehrieder
Dr . Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Dr . Andreas Lenz
Dr . Ursula von der Leyen
Antje Lezius
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Dr . Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr . Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Dr . Thomas de Maizière
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Stephan Mayer
Reiner Meier
Dr . Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr . h . c . Hans Michelbach
Dr . Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Volker Mosblech
Elisabeth Motschmann
Stefan Müller
Dr. Philipp Murmann
Dr . Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr . Georg Nüßlein
Julia Obermeier
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Dr . Tim Ostermann
Ingrid Pahlmann
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Eckhardt Rehberg
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr . Heinz Riesenhuber
Iris Ripsam
Johannes Röring
Kathrin Rösel
Dr . Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer
Karl Schiewerling
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Christian Schmidt
Gabriele Schmidt
Patrick Schnieder
Nadine Schön
Dr . Ole Schröder
Dr . Kristina Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Frhr . von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Stritzl
Michael Stübgen
Dr . Sabine Sütterlin-Waack
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Hans-Peter Uhl
Dr . Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel
Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Dr . Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Karl-Heinz Wange
Nina Warken
Dr . h . c . Albert Weiler
Marcus Weinberg
Dr . Anja Weisgerber
Peter Weiß
Sabine Weiss
Ingo Wellenreuther
Marian Wendt
Waldemar Westermayer
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-
Becker
Oliver Wittke
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Dr . Matthias Zimmer
Gudrun Zollner
SPD
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Bettina Bähr-Losse
Dr . Katarina Barley
Doris Barnett
Klaus Barthel
Dr . Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding
Burkhard Blienert
Willi Brase
Dr . Karl-Heinz Brunner
Dr . h . c . Edelgard Bulmahn
Dr . Lars Castellucci
Jürgen Coße
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr . Daniela De Ridder
Sabine Dittmar
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier
Dr . h . c . Gernot Erler
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr . Johannes Fechner
Dr . Fritz Felgentreu
Dr . Ute Finckh-Krämer
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr . Edgar Franke
Ulrich Freese
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Angelika Glöckner
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Michael Groß
Uli Grötsch
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Michael Hartmann
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil
Wolfgang Hellmich
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Thomas Hitschler
Matthias Ilgen
Christina Jantz-Herrmann
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620616
(C)
(D)
Frank Junge
Josip Juratovic
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Cansel Kiziltepe
Arno Klare
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Anette Kramme
Dr . Hans-Ulrich Krüger
Christine Lambrecht
Christian Lange
Dr . Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Dr . Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Dr . Matthias Miersch
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
Bettina Müller
Michelle Müntefering
Dr . Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Ulli Nissen
Mahmut Özdemir
Aydan Özoğuz
Markus Paschke
Christian Petry
Jeannine Pflugradt
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Achim Post
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr . Sascha Raabe
Dr . Simone Raatz
Martin Rabanus
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr . Carola Reimann
Andreas Rimkus
Petra Rode-Bosse
Dennis Rohde
Dr . Martin Rosemann
René Röspel
Dr . Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth
Susann Rüthrich
Bernd Rützel
Sarah Ryglewski
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr . Hans-Joachim
Schabedoth
Axel Schäfer
Dr . Nina Scheer
Marianne Schieder
Udo Schiefner
Dr . Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt
Matthias Schmidt
Dagmar Schmidt
Carsten Schneider
Ursula Schulte
Swen Schulz
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Andreas Schwarz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Rainer Spiering
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Dr . Karin Thissen
Carsten Träger
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dirk Vöpel
Gabi Weber
Bernd Westphal
Andrea Wicklein
Dirk Wiese
Waltraud Wolff
Gülistan Yüksel
Stefan Zierke
Dr . Jens Zimmermann
Manfred Zöllmer
Enthalten
DIE LINKE
Dr . Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W . Birkwald
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr . Diether Dehm
Dr. André Hahn
Heike Hänsel
Dr . Rosemarie Hein
Inge Höger
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Ulla Jelpke
Kerstin Kassner
Jan Korte
Jutta Krellmann
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Stefan Liebich
Dr . Gesine Lötzsch
Birgit Menz
Niema Movassat
Norbert Müller
Dr . Alexander S . Neu
Thomas Nord
Petra Pau
Harald Petzold
Richard Pitterle
Martina Renner
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Frank Tempel
Dr . Axel Troost
Kathrin Vogler
Harald Weinberg
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Jörn Wunderlich
Hubertus Zdebel
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Annalena Baerbock
Dr . Franziska Brantner
Agnieszka Brugger
Ekin Deligöz
Katharina Dröge
Harald Ebner
Dr . Thomas Gambke
Matthias Gastel
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bärbel Höhn
Dieter Janecek
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Stephan Kühn
Christian Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Monika Lazar
Steffi Lemke
Dr . Tobias Lindner
Peter Meiwald
Irene Mihalic
Beate Müller-Gemmeke
Özcan Mutlu
Dr . Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Cem Özdemir
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth
Corinna Rüffer
Manuel Sarrazin
Ulle Schauws
Dr . Gerhard Schick
Dr . Wolfgang Strengmann-
Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr . Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Dr . Julia Verlinden
Doris Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Dr . Valerie Wilms
Abgeordnete, die sich wegen gesetzlichen Mutterschutzes für ihre Abwesenheit entschuldigt haben, sind in der Liste der
entschuldigten Abgeordneten aufgeführt .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20617
(C)
(D)
Jetzt, Herr Kollege Manuel Sarrazin, haben Sie das
Wort für Bündnis 90/Die Grünen .
Vielen Dank, Herr Präsident. – Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Herr Nick, Sie haben jetzt schon eine Vor-
lage gegeben:
Wenn Rot-Grün daran schuld ist, dass Herr Erdogan ein
Präsidialsystem errichten möchte, weil wir damals zu
lieb waren, dann kann man sich fragen, warum Sie den
größten Teil Ihrer Rede in ausgezeichneter Diplomatie
gegenüber der türkischen Regierung bestritten haben .
Tragen nicht vielmehr Sie zu dem bei, was Sie beklagen?
Oder muss man sich nicht vielleicht sogar die Frage stel-
len, ob nicht der Koalitionsvertrag, den Sie geschlossen
haben und der wortwörtlich die Schlussfolgerung des
Rats von 2005 zu Fragen der Mitgliedschaft der Türkei
in der EU enthält, schuld daran ist, dass Herr Erdogan
ein Präsidialsystem errichten möchte? Da hinterfragen
Sie Ihre Ausführungen doch einmal . Das ist doch Ge-
schichtsklitterung .
Wenn ich einmal meine Meinung zur Geschichte sa-
gen darf: Hätten wir die Zeit des proeuropäischen En-
thusiasmus in den türkisch-europäischen Beziehungen
genutzt, um hinter dem Rücken der türkischen Politiker
mit Druck aus der türkischen Zivilgesellschaft mehr Re-
formen zustande zu bringen, dann wäre es für Erdogan
jetzt vielleicht schwieriger, das gesamte rechtsstaatliche
System umzukrempeln .
Aber das ist ja egal; denn das, was wir in der Türkei
erleben, ist ein Machtkampf, der auf das Schärfste ge-
führt wird .
Ich denke, dass man klar sagen kann, dass Herr Erdogan
offenkundig noch nicht überzeugt ist, diesen Machtkampf
absolut gewonnen zu haben . Selbst wenn Herr Erdogan
jetzt den Gesetzentwurf ins Parlament einbringt und
wenn dieser Gesetzentwurf verabschiedet wird, ist auch
ihm klar, dass die Türkei keine so monolithische Gesell-
schaft ist, dass es keine Opposition gibt und man einfach
durchregieren kann . Deswegen schlägt dieses System
um sich. Und in der Folge des Putschversuchs wird nicht
nur gegen die als Putschisten vermuteten Kräfte, sondern
gegen alle ihm Probleme machenden Kräfte sehr rabiat
vorgegangen . Ich denke in der Tat, es ist richtig – das
sollten alle Fraktionen in diesem Haus unterschreiben –,
dass wir diese klare Analyse vor dem Hintergrund der
aktuellen Lage nicht in den Schatten stellen . Das erwarte
ich auch von der Bundesregierung .
Gleichzeitig muss ich sagen, was mich leitet . Wir hat-
ten vor einigen Wochen Can Dündar zu Gast in unserer
Fraktionssitzung . Das ist sehr eindrucksvoll gewesen . Er
hat uns dazu aufgefordert, die Menschen, die in der Tür-
kei für ihre demokratischen Rechte kämpfen, nicht im
Stich zu lassen .
Wenn man sich daran ausrichtet, dann zeigt sich doch,
dass es wahrscheinlich der falsche Weg ist, wenn wir der
Türkei den Rücken zukehren, wenn wir sozusagen den
Stecker herausziehen,
was die Chancen für einen EU-Beitritt der Türkei angeht .
Der falsche Weg ist dann auch, die Vorbeitrittshilfen ein-
fach komplett zu streichen .
Dies schadet vor allem denen, die überhaupt noch demo-
kratische Kräfte in der Türkei finanzieren können. Viel
cleverer wäre es vielmehr, dieses Geld gezielt einzuset-
zen, indem wir sagen: „An der Stelle zahlen wir nicht
mehr; an der anderen Stelle zahlen wir weiterhin“, um so
einzelne Fortschritte oder die Verhinderung von Rück-
schritten in der Türkei über die Verwebungen, die es zwi-
schen der Türkei und der Europäischen Union noch gibt,
zu erreichen .
Das, was ich bei der Linkspartei an dieser Stelle nicht
verstehe, ist Folgendes: Ich saß vor einigen Wochen
mit dem Kollegen Neu, der im Moment als Schriftfüh-
rer links hinter mir sitzt, auf einem Podium zum Thema
„Putin ist super“. Die deutsche Wirtschaft und Herr Neu
waren der Meinung, dass Putin ganz klasse ist; eingela-
den hatte Herr Clement .
Mit ihm habt ihr jetzt ja nichts mehr zu tun; daher kann
ich es hier ja sagen .
Herr Neu hat also die deutsche Wirtschaft dazu aufge-
rufen, nach Russland zu gehen und dort zu investieren;
denn nur das könne die Demokratie in Russland voran-
bringen .
Jetzt behauptet die Linksfraktion hier, die Türkei wer-
de zu einer Diktatur, und beantragt deswegen, sofort
die Zollunion mit der Türkei zu beenden, weil man die
Vizepräsident Johannes Singhammer
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620618
(C)
(D)
wirtschaftlichen Beziehungen mit ihr beenden müsse .
Entscheidet euch doch einmal: Wollt ihr jetzt Wandel
durch Handel, oder wollt ihr, dass wir mit der Türkei
wirtschaftlich nichts mehr zu tun haben? Beides geht ja
nun wirklich nicht .
Wir haben vorhin die Meldung vernommen, dass Herr
Akinci und Herr Anastasiades gerade beim Mittagessen
zusammensitzen. Ich hoffe, dass wir mit Blick auf die ak-
tuellen Beziehungen zur Türkei auch immer daran den-
ken, dass wir vielleicht noch in diesem oder im nächsten
Jahr eine Einigung in der Zypern-Frage erreichen kön-
nen .
Ich hoffe, uns in diesem Hohen Hause trägt die ge-
meinsame Auffassung, dass wir uns aus Fragen der Tür-
kei-Politik nicht einfach heraushalten, dass wir nicht ein-
fach schweigen angesichts dortiger Entwicklungen, die
wir mit großer Besorgnis sehen, und dass wir gerade ge-
genüber den progressiven Kräften in der Türkei klarma-
chen, dass wir keine Isolation wollen . Deswegen: Nicht
trotz, sondern gerade wegen der Entwicklungen in der
Türkei ist der Dialog zwischen der EU und der Türkei
weiter notwendig .
Es ist richtig: Im Moment liegen die Beziehungen
bzw . die Verhandlungen faktisch auf Eis . Die braucht
man gar nicht mehr einzufrieren . Aber von sich aus jetzt
den Stecker zu ziehen und die Verhandlungen abzubre-
chen, halte ich für falsch .
Danke sehr .
Einen schönen Abend, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, und vielen Dank, Manuel Sarrazin . – Nächste Red-
nerin ist Dr. Dorothee Schlegel für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Die Türkei-Politik der EU
steckt tatsächlich in einem Dilemma . Alles besser zu wis-
sen, so wie es die Linke mit ihrem Antrag „Türkei-Politik
neu ausrichten“ vorgibt, ist für die Opposition leicht und
vielleicht auch ihre Aufgabe . Wir kennen unser Ziel –
mein Kollege Sarrazin hat gerade schon einiges vorge-
legt –: Wir wollen eine europäische Bindung der Türkei .
Wir wollen eine friedliche Türkei, in der Demokratie,
Freiheit und Rechtsstaatlichkeit herrschen . Da sind wir
uns hier bestimmt alle einig .
Ich verwahre mich gegen den Vorwurf der Linken,
dass die bisherige Strategie der Bundesregierung und der
EU zu einer Verschlechterung der Menschenrechtslage in
der Türkei geführt habe .
Liebe Linke, Provokation ist keine gute Außenpolitik.
Das sehen auch Delegationen von türkischen Studieren-
den, oppositionelle Parlamentarier und NGO-Vertreter
so, mit denen ich in den letzten Wochen Gespräche ge-
führt habe .
Aber wir müssen uns ehrlich fragen: Welche wirksa-
men Mittel haben wir tatsächlich? Angesichts der Ver-
folgung und Inhaftierung von politisch Andersdenkenden
und der Massenentlassungen durch die türkische Regie-
rung befürworte ich die Entscheidung des EU-Parla-
ments, die Beitrittsgespräche temporär einzufrieren – als
Signal an die türkische Regierung und das türkische Par-
lament, zum demokratischen Prozess zurückzukehren.
Unsere Normen und Werte sind nämlich nicht verhan-
delbar . Wir akzeptieren weder Menschenrechts- noch
Rechtsstaatsverletzungen .
Die Türkei entfernt sich von Demokratie, Rechtsstaat-
lichkeit und Laizismus, und die Gesellschaft lebt in ei-
nem angespannten Zustand. Seit dem Putsch hat auch die
Gewalt gegenüber Frauen drastisch zugenommen . Das
Vorgehen gegen Minderheiten, gegen die kurdische Be-
völkerung und gegen Andersdenkende sowie das Infrage-
stellen von Ländergrenzen verurteilen wir aufs Schärfste .
Die Türkei ist kein sicherer Herkunftsstaat . Diese Ein-
schätzung des EU-Unterstützungsbüros für Asylfragen
der EU-Kommission teile ich .
Meine Damen und Herren, die letzten zwei Fort-
schrittsberichte der EU-Kommission zur Bewertung der
Beitrittsgespräche waren sehr kritisch . Dennoch wollen
wir als SPD-Fraktion und als Europäer den Dialog fort-
setzen . Ich bin gegen einen grundsätzlichen Verhand-
lungsstopp . Der würde vor allem die gemäßigten Kräfte
in der Türkei hart treffen. Ich zitiere hierzu die Spre-
cherin der größten Oppositionspartei, CHP, Selin Sayek
Böke, die sagte:
Europa sollte verstehen, dass die Türkei mehr als
ein Einzelner ist . Die Türkei ist größer als Erdogan .
Beitrittskapitel zu öffnen oder Verhandlungen zu den
bisherigen Kapiteln weiterzuführen, waren und sind die
Möglichkeit, miteinander im Dialog zu bleiben – mit den
richtigen Gesprächspartnern und einer echten Gesprächs-
bereitschaft .
Manuel Sarrazin
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20619
(C)
(D)
Ich denke, es gibt auch Leute, mit denen man vernünftig
sprechen kann .
Natürlich sind die Verhandlungen – ohne Wenn und
Aber – sofort zu beenden, sollte die Türkei die Todesstra-
fe wieder einführen .
Welche Möglichkeiten haben wir? Auch kleine
Schritte setzen Zeichen, zum Beispiel das Projekt der
Philipp-Schwartz-Initiative, das weiter finanziell un-
terfüttert wird . Mit diesem vom Auswärtigen Amt und
von der Alexander-von-Humboldt-Stiftung geförder-
ten Programm erhalten gefährdete Wissenschaftler ein
Stipendium für 24 Monate an deutschen Universitäten .
Oder: 104 Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundes-
tag, darunter auch ich, haben Patenschaften für inhaf-
tierte Abgeordnete übernommen . Oder: Was die Bundes-
wehrsoldaten am NATO-Stützpunkt Incirlik angeht: Alle
Abgeordneten müssen das Recht haben, sich vor Ort ein
Bild zu machen . Derzeit prüft die Bundesregierung alter-
native Standorte wie etwa Kuwait .
Die Linke fordert ein Einfrieren der Vorbeitrittshilfen,
die auch für die Förderschwerpunkte Demokratie, Zi-
vilgesellschaft und Rechtsstaatlichkeit vorgesehen sind .
Doch um sie zu stoppen, müsste zunächst der Beitritts-
prozess beendet werden . Davon sind wir weit entfernt .
Trotz der aktuell belasteten Beziehungen gibt es von
türkischer Seite ein intensives Bemühen, mit der EU zu
sprechen .
Nach wie vor ist die EU der größte Handelspartner der
Türkei . Wirtschaftssanktionen würden auch die Bevölke-
rung und die Gegner des Regierungskurses treffen. Einen
Handelskrieg wollen wir daher nicht .
Kolleginnen und Kollegen, wie also weiter in der Zu-
kunft? Wir müssen mit einer europäischen Stimme spre-
chen – und das viel deutlicher . Das ist allerdings nicht
einfach . Wir müssen noch klarer sagen: „Terrorismus de-
finieren wir anders!“, auch im Hinblick auf die Erfüllung
der Kriterien zur Visaliberalisierung .
Wir fordern: Der Ausnahmezustand muss beendet
werden . Wir fordern weiterhin die Freilassung der inhaf-
tierten HDP-Politiker und -Bürgermeister. Wir müssen
alle unsere Wege nutzen, die Opposition im Land stärker
zusammenzubringen, und wieder mehr mit der kurdi-
schen Bevölkerung in Kontakt treten . Völkerverständi-
gende Möglichkeiten sind zum Beispiel weitere Städte-
partnerschaften, die Zusammenarbeit unter NGOs und
die Pflege türkisch-deutscher oder europäischer Nach-
bar- und Freundschaften .
Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, gerade in
schwierigen Zeiten – Manuel Sarrazin hat es auch ge-
sagt – braucht es mehr denn je den Dialog .
Herzlichen Dank .
Vielen Dank, Dorothee Schlegel . – Das Wort zu einer
Kurzintervention hat der Kollege Dr . Neu . – Ich muss
erklären: Diese bezieht sich nicht auf den Redebeitrag
von Frau Schlegel, sondern auf den von Herrn Sarrazin .
Herr Dr . Neu konnte das als Schriftführer vorhin schlecht
von hier oben vom Präsidium aus machen; das schickt
sich nicht . Deswegen sind Sie sicher damit einverstan-
den, dass wir jetzt gedanklich zurückgehen und er sich
jetzt auf den Kollegen Sarrazin bezieht .
Vielen Dank, dass Sie mir die Möglichkeit geben, zu
reagieren . – Kollege Sarrazin, es muss Sie ja schwer ge-
troffen haben, dass Sie an diesem Tag mit Ihren kruden
antirussischen Thesen derart baden gegangen sind, wie
Sie baden gegangen sind .
Die dortigen Wirtschaftsvertreter haben in der Tat für
eine wirtschaftliche Kooperation mit Russland gewor-
ben . Dafür habe ich mein Verständnis geäußert – im Ge-
gensatz zu Ihnen, der Sie nach wie vor eine sehr stark
antirussische Position vertreten. Es ist traurig, dass die
Menschen in diesem Land, seien sie aus Wirtschaft oder
Politik, die eine Verständigung mit Russland, dem größ-
ten europäischen Nachbarstaat, suchen, als prorussisch
diffamiert werden. Das zeigt aber, wo Sie angekommen
sind .
Danke .
Jetzt hat der Kollege Sarrazin seinerseits das Wort,
wenn er will .
Lieber Herr Neu, als ich die Beteiligung an dieser Ver-
anstaltung zugesagt habe, wusste ich, dass ich mit meiner
inhaltlichen Position zur Politik Russlands in der Ukrai-
ne keinen großen Anklang finden würde, weil die anwe-
senden Wirtschaftsvertreter dort vor allem auf die Profite
ihrer Großkonzerne gucken
und nicht so sehr auf das, was die Menschen in der Ukra-
ine und in Russland wirklich interessiert . Deswegen habe
ich mich an der Stelle für eine linke Position entschieden.
Ein, zwei Leute haben mir trotzdem applaudiert .
Ich glaube, deswegen, weil ich ein Freund Russlands bin:
Ja ljublju Rossiju, Kollege Neu .
Danke sehr .
Dr. Dorothee Schlegel
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620620
(C)
(D)
Jetzt kommen wir zum Thema Türkei zurück . Der
nächste Redner ist Alexander Radwan für die CDU/
CSU-Fraktion .
– Überwiegend hat jetzt der Kollege Radwan das Wort .
Sind Sie damit einverstanden? – Gut .
Gleich fangen sie an, sich zu raufen .
– Sie haben Angst, wenn ich mitmache .
Frau Präsidentin! Wir haben jetzt eine Debatte zum
Thema Türkei mit der Überschrift „Ändern Sie die Zu-
stände in der Türkei, und zwar sofort und unmittelbar“ .
So kommen mir Ihr Antrag und Ihre Argumentation vor .
Ich finde es sehr bemerkenswert, wenn ich aus den ver-
schiedenen Fraktionen die Wortbeiträge zum Thema Tür-
kei erlebe . Ich kann mich noch gut an Zeiten erinnern, in
denen wir von der CSU kritisiert wurden, weil wir mit
Blick auf die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei im-
mer gesagt haben: Vorsicht! Ist das der richtige Weg?
– Genau . Wenn die Türkei heute unter diesen Umständen
dabei wäre, dann wäre es sicherlich einfacher innerhalb
der EU und mit der Türkei . Das ist ein interessanter An-
satz . Erst mit Enthusiasmus rein und jetzt mit Enthusias-
mus verdammen: Das ist nicht die Politik, die uns bezo-
gen auf die Türkei weiterhilft .
– Habe ich . Ich habe ihn sogar mehrfach gelesen . Ich
habe Ihrer Argumentation aber nur schwer folgen kön-
nen .
Ziel muss es sein, dass wir – hier haben wir Konsens –
unsere Werte gegenüber der Türkei deutlich machen . Wir
können in der Türkei keine Innenpolitik machen . Um-
gekehrt probiert es Erdogan in Deutschland; Erdogan
versucht, hier Innenpolitik zu machen . Gleichzeitig wol-
len wir auch bei all dem, was wir dort erreichen wollen,
keine weitere Destabilisierung . Wir müssen auch darüber
nachdenken, in welche Richtung sich die Türkei weiter-
entwickelt. Darum lassen Sie mich drei Punkte aus Ihrem
Antrag herausgreifen .
Was das Thema Beitritt anbelangt, kann ich Ihnen
klipp und klar sagen: Aus meiner Sicht war es schon lan-
ge notwendig, dass wir zum Realismus übergehen, dass
wir ganz klar die Frage stellen – das betrifft ein Land wie
die Türkei, aber auch andere Länder –: Ist eine Beitritts-
perspektive wirklich real und ehrlich? Oder sind wir heu-
te möglicherweise an einem Punkt angelangt, wo wir in
unserem Land und in der Türkei noch über das Ja oder
Nein diskutieren, obwohl jeder weiß, dass es eigentlich
nicht erreichbar ist?
Darum lassen Sie uns endlich einmal gemeinsam de-
battieren und – in den europäischen Verträgen ist dies
angelegt – über eine konstruktive Nachbarschaftspolitik
reden . Das wäre möglicherweise ein Modell für die Tür-
kei, das es zu entwickeln gilt und mit dem es dann eine
Perspektive für das Land gibt. Jeder weiß im Zusammen-
hang mit der Frage „Beitritt – ja oder nein?“: Das, was
wir hier debattieren, ist nicht mehr das Thema . Wir regen
uns hier über Sachen auf, bei denen jeder weiß: Der Kas
is bissn .
Das zweite Thema ist das Flüchtlingsabkommen . Das
Flüchtlingsabkommen ist auch im ureigenen Interesse
der Türkei . Dass die Türkei mit Unterstützung der Eu-
ropäischen Union nicht durch weitere Flüchtlingsströme
destabilisiert wird, ist in unserem Interesse .
– Nein, das ist im Interesse der Türkei, und das ist auch in
unserem Interesse, vielleicht nicht in Ihrem Interesse . Es
ist aber im Interesse der Regierung, die Destabilisierung
der Türkei nicht weiter vorantreiben zu lassen .
– Jetzt bin ich gerade beim Flüchtlingsabkommen, Frau
Dağdelen, dazu haben Sie auch etwas in Ihrem Antrag
geschrieben .
Hätten Sie weniger geschrieben, wäre ich auf den einen
oder anderen Punkt schneller gekommen.
Es ist also im Interesse der Türkei . Gleichzeitig müs-
sen wir aber auch in Deutschland ganz klar das Signal
an Erdogan senden – hier müssen wir unsere Hausaufga-
ben in Europa machen –, dass schlicht und ergreifend die
Außengrenzen der Europäischen Union zur Türkei durch
Frontex geschützt werden . Das ist eine weitere zusätzli-
che Maßnahme, die wir hier ergreifen müssen .
Am meisten hat mich dann das Thema „Zoll und Wirt-
schaft“ gewundert . Die Gruppierungen, die Sie in der
Türkei ansprechen, die noch ein Stück weit eine westli-
che Orientierung haben und die noch durch Handel eine
Perspektive haben, wollen Sie sozusagen an die Kandare
nehmen . Was passiert dann in dem Land, das wirtschaft-
lich so eng mit Europa verwoben ist? Wollen wir dann
durch ein Kappen der Wirtschaftsbeziehungen, durch
ein Absinken der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit in
diesem Land weitere Instabilität, weitere Radikalisierung
produzieren? Sollen die Ärmsten der Armen ein schlech-
tes Leben haben und dann noch dem jeweiligen Ratten-
fänger zum Opfer fallen? Nein, hier, im wirtschaftlichen
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20621
(C)
(D)
Bereich, muss Europa, müssen wir als Europäische Uni-
on verantwortungsvoll weiter zusammenarbeiten .
Meine Vorrednerin Frau Dr . Schlegel hat den Satz zi-
tiert: „Die Türkei ist größer als Erdogan .“ Das ist völlig
richtig . Neben dem Umgang mit Erdogan gibt es andere
Themen; wir müssen bereits heute eine Politik anlegen,
die der Türkei eine Perspektive für die Zeit nach Erdogan
bietet . Das ist heute unsere Aufgabe .
Deswegen lehnen wir Ihren Antrag ab; denn Ihr An-
trag würde die Situation in der Türkei nur noch ver-
schlimmern, anstatt sie zu verbessern .
Besten Dank und einen schönen Abend .
Vielen Dank, Alexander Radwan . – Damit schließe
ich die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/10472 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sie sind sicher damit
einverstanden . – Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und
Energie zu der Verordnung der
Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Tele-
kommunikation, Post und Eisenbahnen
Verordnung zur Förderung der Transpa-
renz auf dem Telekommunikationsmarkt
Drucksachen 18/8804, 18/8934 Nr. 2, 18/10508
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor .
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden . – Ihr
Einverständnis ist vorhanden .1)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Energie zu der Verordnung der
Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommuni-
kation, Post und Eisenbahnen zur Förderung der Transpa-
renz auf dem Telekommunikationsmarkt . Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 18/10508, der Verordnung auf Drucksache 18/8804
zuzustimmen . Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die
Beschlussempfehlung ist knapp angenommen . Zuge-
stimmt hat die CDU/CSU, dagegen waren die Grünen .
Die Linken wussten nicht, worum es geht, und die SPD
hat sich mit etwas anderem beschäftigt .
1) Anlage 4
Abstimmung über den Entschließungsantrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/10525 .
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschlie-
ßungsantrag ist abgelehnt . Zugestimmt haben Bünd-
nis 90/Die Grünen, dagegen CDU/CSU und SPD, und
enthalten hat sich die Linke .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Recht und Verbrau-
cherschutz zu dem Antrag der
Abgeordneten Tom Koenigs, Omid Nouripour,
Luise Amtsberg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Keine Straflosigkeit bei Kriegsverbrechen –
Völkerstrafprozesse in Deutschland voran-
bringen
Drucksachen 18/6341, 18/10296
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Völkerstrafgesetzbuches
Drucksache 18/8621
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
Drucksache 18/10509
Auch hier gehen die Reden zu Protokoll. 2)
Tagesordnungspunkt 16 a . Wir kommen zur Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Ver-
braucherschutz zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Keine Straflosigkeit bei Kriegs-
verbrechen – Völkerstrafprozesse in Deutschland voran-
bringen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 18/10296, den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/6341
abzulehnen . Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine .
Die Beschlussempfehlung ist angenommen . Zugestimmt
haben CDU/CSU und SPD, dagegen waren Bündnis 90/
Die Grünen und die Linke .
Tagesordnungspunkt 16 b . Abstimmung über den
von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf
zur Änderung des Völkerstrafgesetzbuches . Der Aus-
schuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10509,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksa-
che 18/8621 in der Ausschussfassung anzunehmen . Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen . – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenom-
men. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD. Die Grü-
nen haben sich enthalten, und die Linken waren dagegen .
2) Anlage 5
Alexander Radwan
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620622
(C)
(D)
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erheben . –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist angenommen . Zugestimmt haben CDU/CSU
und SPD, dagegen waren die Linken, und Enthaltungen
kommen von Bündnis 90/Die Grünen .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b auf:
a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Umsetzung der Änderungen
der EU-Amtshilferichtlinie und von weite-
ren Maßnahmen gegen Gewinnkürzungen
und -verlagerungen
Drucksachen 18/9536, 18/9956, 18/10102
Nr. 17
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz-
ausschusses
Drucksache 18/10506
Drucksache 18/10507
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr . Thomas
Gambke, Kerstin Andreae, Britta Haßelmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mit Transparenz Steuervermeidung mul-
tinationaler Unternehmen eindämmen –
Country-by-Country-Reporting einführen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr . Thomas
Gambke, Kerstin Andreae, Britta Haßelmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Steuerschlupflöcher schließen – Gewinn-
verlagerung durch Lizenzzahlungen ein-
schränken
Drucksachen 18/2617, 18/9043, 18/10506
Auch hier gehen die Reden zu Protokoll.1)
Tagesordnungspunkt 17 a . Zum Gesetzentwurf der
Bundesregierung liegt ein Änderungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor .
Dann kommen wir jetzt zur Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur
Umsetzung der Änderungen der EU-Amtshilferichtlinie
und von weiteren Maßnahmen gegen Gewinnkürzungen
und -verlagerungen. Der Finanzausschuss empfiehlt un-
ter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 18/10506, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksachen 18/9536 und 18/9956 in der Ausschuss-
fassung anzunehmen . Hierzu liegt ein Änderungsan-
1) Anlage 6
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-
che 18/10527 vor, über den wir zuerst abstimmen . Wer
stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Der Änderungsantrag ist abgelehnt . Zu-
gestimmt hat Bündnis 90/Die Grünen, dagegen waren
CDU/CSU und SPD, und enthalten hat sich die Linke.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, jetzt um das
Handzeichen . – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD,
enthalten haben sich Linke und Bündnis 90/Die Grünen .
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist angenommen . Zugestimmt haben CDU/CSU
und SPD, dagegengestimmt hat niemand, enthalten ha-
ben sich Bündnis 90/Die Grünen und die Linke .
Tagesordnungspunkt 17 b . Wir setzen die Abstim-
mung zu der Beschlussempfehlung des Finanzausschus-
ses auf Drucksache 18/10506 fort . Der Ausschuss emp-
fiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung
die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 18/2617 mit dem Titel „Mit
Transparenz Steuervermeidung multinationaler Unter-
nehmen eindämmen – Country-by-Country-Reporting
einführen“ . Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine .
Die Beschlussempfehlung ist angenommen . Zugestimmt
haben CDU/CSU und SPD, dagegengestimmt haben
Bündnis 90/Die Grünen und die Linken .
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/9043 mit dem Titel „Steuerschlupflöcher
schließen – Gewinnverlagerung durch Lizenzzahlungen
einschränken“ . Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die
Beschlussempfehlung ist angenommen . CDU/CSU und
SPD haben dafür gestimmt, dagegen waren Bündnis 90/
Die Grünen, und enthalten hat sich die Linke .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Gohlke, Dr . Rosemarie Hein, Sigrid Hupach,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Inklusive Bildung für alle – Ausbau inklusiver
Hochschulen fördern
Drucksache 18/9127
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Die Reden gehen zu Protokoll.2)
2) Anlage7
Vizepräsidentin Claudia Roth
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20623
(C)
(D)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/9127 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . – Sie sind einverstan-
den . Dann ist die Überweisung so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung der Vorschriften zur Vergabe
von Wegenutzungsrechten zur leitungsgebun-
denen Energieversorgung
Drucksache 18/8184
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Energie
Drucksache 18/10503
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden .1)
Wir kommen zur Abstimmung . Der Ausschuss für
Wirtschaft und Energie empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 18/10503, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/8184 in der
Ausschussfassung anzunehmen . Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen . – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung angenommen . Zugestimmt haben CDU/CSU
und SPD, dagegengestimmt haben Bündnis 90/Die Grü-
nen und die Linke .
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erhe-
ben . – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist angenommen . Zugestimmt haben CDU/
CSU und SPD, dagegengestimmt haben Linke und Grü-
ne .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Regelung von Ansprüchen auslän-
discher Personen in der Grundsicherung für
Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozi-
algesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem
Zwölften Buch Sozialgesetzbuch
Drucksache 18/10211
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Soziales
Drucksache 18/10518
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor .
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre eini-
ges, aber keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlos-
sen .
1) Anlage 8
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der Par-
lamentarischen Staatssekretärin Anette Kramme für die
Bundesregierung .
A
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und
Kolleginnen! Dass Menschen aus anderen Mitgliedstaa-
ten der Europäischen Union zu uns kommen und hier
arbeiten können, das ist eine große und wichtige Errun-
genschaft der europäischen Einigung . Europa ist Gott sei
Dank mehr als eine Freihandelszone . Nicht nur für Ka-
pital und Handel gilt Freizügigkeit, auch die Bürger der
Europäischen Union können sich in allen Mitgliedstaaten
der Europäischen Union frei bewegen .
Meine Damen und Herren, es besteht nach euro-
päischem Recht ein Zusammenhang zwischen dem
Freizügigkeitsrecht von Erwerbstätigen und ihren Fa-
milienangehörigen einerseits und Ansprüchen auf Sozial-
leistungen andererseits . Diesem Willen des europäischen
Gesetzgebers folgt die gesetzliche Klarstellung, die wir
hier und heute beraten .
Deutschland profitiert von der Arbeitnehmerfreizügig-
keit . Das tun auch die anderen Staaten der Europäischen
Union, vor allen Dingen aber die Menschen innerhalb
von Europa; das will ich ausdrücklich festhalten . Aber es
kann natürlich niemand die Augen davor verschließen,
dass es große Unterschiede innerhalb der Europäischen
Union gibt, was Lebensstandard, was Löhne und was
Sozialleistungen angeht . Und ja, es gibt Armut innerhalb
der Europäischen Union . Armutsmigration nimmt nicht
nur insgesamt auf der Welt zu, auch in Europa wächst
der Druck . Doch – das will ich hier noch einmal bekräf-
tigen – Anreize für Arbeitsmigration sind an dieser Stelle
keine Lösung .
Armut bekämpfen – das können wir nur gemeinsam in
der Europäischen Union . Dabei sollte es unser Ziel sein,
dass die jeweiligen Systeme der sozialen Sicherung in
den Mitgliedstaaten leistungsfähiger werden .
Wir brauchen eine Aufwärtskonvergenz der sozialen Ver-
hältnisse in der Europäischen Union mit höheren Löhnen
und besserem sozialen Schutz in allen EU-Mitgliedstaa-
ten .
Es geht nicht, dass wir die Abhängigkeit der Sozial-
leistungsansprüche von Erwerbstätigkeit einfach auflö-
sen. Es geht auch nicht, dass wir diesen Personen An-
sprüche nach dem Sozialgesetzbuch XII zulasten der
Kommunen gewähren . Genau das ist aber die Konse-
quenz der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes
vom letzten Jahr, die das vorliegende Gesetz veranlasst
hat . Deshalb ist eine Reaktion des Bundesgesetzgebers
notwendig . Darum debattieren wir heute über den vorlie-
genden Gesetzentwurf .
Vizepräsidentin Claudia Roth
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620624
(C)
(D)
Konkret geht es dabei um Folgendes: Einerseits wird
klargestellt, dass Personen ohne Aufenthaltsrecht aus
der Freizügigkeitsrichtlinie keine Leistungen nach dem
SGB II oder dem SGB XII enthalten . Zum anderen ent-
hält der Gesetzentwurf eine Neuerung: Erstmals wird
gesetzlich fixiert, wann von einer Verfestigung des tat-
sächlichen Aufenthalts auszugehen ist und wir aus ver-
fassungsrechtlichen Gründen Leistungen gewähren . Das
ist nach fünf Jahren der Fall .
Wir wollen, dass die Kommunen in der Lage sind, Zu-
sammenhalt zu sichern und zu stärken . Wir wollen sozi-
alen Fortschritt innerhalb der Europäischen Union . Wir
wollen, dass nicht Armut, sondern Arbeit die Menschen
in Europa zusammenführt . Dafür kämpfen wir .
In diesem Sinne herzlichen Dank .
Vielen herzlichen Dank, Anette Kramme . – Nächste
Rednerin: Sabine Zimmermann für die Linke .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Während bei der Förderung von Unternehmen
alle Hebel in Bewegung gesetzt werden und nichts zu
teuer ist, soll die soziale Absicherung von EU-Bürge-
rinnen und -Bürgern auf der Strecke bleiben . Wir sagen:
Das Grundrecht auf Sicherung des Existenzminimums
muss für alle Menschen in Deutschland gelten .
– Das habe ich nicht gesagt, Kollege Zimmer .
Mobilität in Europa muss sozial abgesichert werden .
Das Streichen der sozialen Absicherung für EU-Bürge-
rinnen und -Bürger widerspricht grundsätzlich dem euro-
päischen Gedanken . Daran krankt die EU aber schon seit
Anbeginn . Im Mittelpunkt stehen die wirtschaftlichen In-
teressen, denen sich die Menschen unterzuordnen haben .
Das Soziale bleibt auf der Strecke . Dagegen wenden wir
uns hier .
Namenhafte Juristen haben den Gesetzentwurf der
Bundesregierung in Grund und Boden gestampft .
– Ich sage es Ihnen gleich, Kollege Zimmer . – Deren
Gutachten sind mehr als eindeutig: Ihr Gesetzentwurf ist
verfassungswidrig .
Das Grundrecht auf ein Existenzminimum steht allen
Menschen in Deutschland zu, ob nun mit deutscher oder
ausländischer Staatsangehörigkeit. So stellt Professor
Dr . Berlit in seiner Stellungnahme fest:
Mit nationalem Verfassungsrecht ist der Entwurf auf
der Grundlage der derzeitigen Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts mit dem Grundrecht auf
ein menschenwürdiges Existenzminimum . . . unver-
einbar .
Noch deutlicher formuliert es die Neue Richterverei-
nigung:
Die Abschaffung von Sozialleistungen an besonders
schwache Mitmenschen untergräbt die deutsche
Rechts- und Verfassungsordnung . Schwerer Scha-
den droht dem Arbeits- und Sozialrecht . Die Rege-
lung schafft eine Gruppe moderner Sklaven, die alle
Arbeitsbedingungen und jedes Lohnniveau akzep-
tieren müssen, um hier zu überleben .
– Das sagt die Neue Richtervereinigung . Ich zitiere hier .
Ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen .
Dies erhöht den Druck auf diejenigen, die zur Zeit
regulären Beschäftigungen im untersten Qualifika-
tions- und Einkommensbereich nachgehen . . . . Bis-
her galt, dass jeder Mensch unabhängig von seiner
Herkunft dasselbe Recht auf ein Leben in Würde in
sich trägt . Die Neuregelung ersetzt dieses tragende
Prinzip durch sozialrechtliche Apartheid.
Die Folgen für die deutsche Gesellschaft sind un-
absehbar .
Ich sage: Dieses Gesetz fügt sich in die unsoziale Politik
dieser Bundesregierung ein .
Dabei müsste es die Bundesregierung doch eigentlich
besser wissen . Gerade Rumänen und Bulgaren wird oft
unterstellt, sie kämen hierher, um Sozialleistungen abzu-
greifen . Die Erwerbsquote dieser beiden Gruppen liegt
aber bei über 80 Prozent, sodass dieser Vorwurf unhalt-
bar ist .
Wir wollen ein Europa für die Menschen . Dazu ge-
hört auch die soziale Absicherung . Die Bundesregierung
hat mit ihrer unsozialen Politik und mit ihren Spardik-
Parl. Staatssekretärin Anette Kramme
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20625
(C)
(D)
taten schon genug Schaden in Europa angerichtet und
für einen dramatischen Vertrauensverlust der EU bei den
Menschen gesorgt . Dieser Irrweg muss endlich beendet
werden .
Danke schön .
Vielen Dank, Sabine Zimmermann . – Nächster Red-
ner: Dr. Martin Pätzold für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Ich glaube, mit dem Gesetz heute leisten
wir einen wichtigen Beitrag für die Akzeptanz der Euro-
päischen Union. Das Parlament hat sich mit diesem Ge-
setzesvorschlag sehr schnell und in pragmatischer Weise
auseinandergesetzt .
Vor genau drei Wochen haben wir ihn hier das erste Mal
debattiert . Am Montag fand die Anhörung statt . Sie hat
ein sehr differenziertes Bild gezeichnet. Es gab Sach-
verständige, Frau Zimmermann, die durchaus einen
Hintergrund hatten, der eher bei Ihnen war, die den Ge-
setzentwurf als nicht verfassungsgemäß und nicht euro-
parechtskonform bezeichnet haben .
Dann gab es aber auch Sachverständige – das gehört
zur kompletten Wahrheit dazu –, wie ein Dr . Groth und
Herr Dollinger, zwei ehrenwerte Persönlichkeiten,
die gesagt haben: Das Gesetz ist verfassungsgemäß, es ist
europarechtskonform . – Deshalb bringen wir das auf den
Weg, und es ist auch gut so, dass wir das so tun .
Wir verfolgen damit drei Ziele . Das erste ist: Wir
wollen unser Sozialsystem vor Missbrauch schützen . Es
geht darum, dass wir die Kommunen entlasten, die der-
zeit keine Rechtssicherheit haben und auf die gerade in
Ballungsgebieten hohe Kosten zukämen . Auch der Bund,
insbesondere mein Kollege Jens Spahn, freut sich darü-
ber, dass er Ausgaben in Zukunft klarer planen kann .
Zweitens regeln wir damit, dass der Grundsatz „For-
dern und Fördern“ gilt . Nach fünf Jahren Aufenthalt hier
gibt es einen Leistungsanspruch . Dies entspricht dem
Grundsatz „Fordern und Fördern“ . Das ist eine wichtige
und klare Regelung, mit der wir Transparenz und Sicher-
heit schaffen. Sie schreiben in Ihrem Entschließungs-
antrag ja auch, durch die Gerichtsurteile seien wir dazu
verpflichtet.
Wir schaffen sie anders, als Sie sich das vorstellen, aber
aus unserer Sicht absolut nachvollziehbar .
Drittens . Mit diesem Gesetz haben wir für die aufsto-
ckenden Leistungen noch keine abschließende „glückli-
che“ Regelung, weil wir sie vermutlich noch nicht eu-
roparechtskonform hinbekommen haben . Deswegen hat
mein Kollege Matthias Zimmer den Sprecher für Ange-
legenheiten der Europäischen Union, Michael Stübgen,
immer wieder darauf hingewiesen, dass wir natürlich
auch darüber diskutieren müssen, wie es uns gelingt,
über die aufstockenden Leistungen bei sehr geringfügi-
ger Beschäftigung oder Selbstständigkeit weiter in den
Genuss von Sozialleistungen zu kommen . Wir müssen
gucken, ob wir das im nationalen Recht vernünftig lösen
können . Das ist eine Herausforderung, die wir aus dieser
Gesetzgebung mitnehmen müssen .
Im Großen und Ganzen zeigt sich, dass wir die Punkte
aus der Anhörung pragmatisch, sehr schnell und zielstre-
big in den Gesetzestext aufgenommen haben und damit
das Gesetzgebungsverfahren heute abschließen können .
Die Sachverständigen, beispielsweise der BDA, aber
auch der Agentur für Arbeit, haben deutlich gemacht,
dass die Freizügigkeit, der positive Weg nach Deutsch-
land, damit nicht eingeschränkt wird . Der Vorschlag, den
wir heute unterbreiten, ist sehr ausgewogen . Vielleicht
entscheidet sich die Opposition ja doch, mitzustimmen .
Das wäre ein guter Beitrag dazu, die Europäische Union
ein Stück sozialer und gerechter zu machen .
Vielen Dank .
Vielen Dank, Dr. Pätzold. – Nächster Redner:
Dr . Wolfgang Strengmann-Kuhn für Bündnis 90/Die
Grünen .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben ja heute schon über das Grundrecht auf Ge-
währung eines menschenwürdigen Existenzminimums
debattiert . In der am Montag durchgeführten Anhörung
sind erhebliche Zweifel geäußert worden, ob dieser Ge-
setzentwurf diesem Grundrecht entspricht, und zwar von-
seiten der Diakonie, des Deutschen Paritätischen Wohl-
fahrtsverbandes, des Deutschen Gewerkschaftsbundes,
Sabine Zimmermann
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620626
(C)
(D)
in den Expertisen des Deutschen Anwaltsvereins, vonsei-
ten der Neuen Richtervereinigung . Auch die von Ihnen
eben genannten Experten sagten, dass das hart an der
Grenze sei und man das auch anders beurteilen könne .
Zumindest wurden Zweifel geäußert – ganz besonders
von Herrn Dollinger, aber auch von Herrn Groth, der sag-
te: Das geht zumindest an die Grenze dessen, was verfas-
sungsmäßig möglich ist . – Es gab am Montag einen ein-
zigen Sachverständigen, der sagte: Die Härtefallregelung
reicht, damit es verfassungskonform ist .
Eigentlich hätten Sie den Gesetzentwurf nach der Exper-
tenanhörung am Montag zurückziehen müssen .
Das Grundrecht auf Gewährung eines menschen-
würdigen Existenzminimums war auch die Ursache des
schon angesprochenen Urteils des Bundessozialgerichts .
Die Lösung, die dort gefunden wurde, finden wir auch
problematisch, weil das Bundessozialgericht gesagt hat,
dass die Menschen Leistungen nach dem SGB XII be-
kommen müssten . Erwerbsfähige gehören dort erstens
nicht hin, und die Kommunen müssten es zweitens be-
zahlen. Auch das haben wir kritisiert und finden es falsch.
Was an Ihrem Gesetzentwurf neben dieser verfas-
sungsrechtlichen Frage auch problematisch ist: Er löst
überhaupt kein Problem. Was ein Ausschluss von Sozial-
leistungen bedeutet, kann man vor Ort beobachten, zum
Beispiel bei mir zu Hause in Frankfurt oder in Offenbach,
aber auch, wenn man in den Tiergarten – nicht weit von
hier – geht . Am Mittwoch, glaube ich, beschrieb Die Welt
die dortigen Zustände in einem Artikel . Die Menschen
leben unter menschenunwürdigen Umständen, wenn sie
keine Sozialleistungen bekommen . Es droht Ausbeutung .
Von irgendetwas müssen die Menschen leben – nach
Ihrer Vorstellung ja fünf Jahre lang –, ehe sie Sozial-
leistungen beziehen können . Die Folgen kann man vor
Ort beobachten: Schwarzarbeit, Prostitution, kriminelle
Aktivitäten sind die Folge, und das Ganze schürt Aus-
länderfeindlichkeit und führt zu sozialen Problemen, die
letztlich die Kommunen ausbaden müssen . Deswegen ist
der Gesetzentwurf auch für die Kommunen maximal eine
Scheinlösung .
Wir haben heute noch einen Entschließungsantrag
vorgelegt, in dem wir eine Alternative darstellen, die
rechtssicher ist, den sozialen Maßstäben genügt und auch
europapolitisch das richtige Signal sendet . Wir sagen
nämlich, dass wir die Menschen, die nach Deutschland
kommen, die aktiv nach Arbeit suchen, die eine Chance
auf dem Arbeitsmarkt haben – Kollegin Zimmermann
hat schon gesagt, dass gerade die Bulgaren und Rumänen
eine sehr hohe Erwerbstätigenquote haben, sehr fleißig
sind –, unterstützen müssen . Sie brauchen Unterstützung
bei den aktiven Arbeitsmarktmaßnahmen . Und nach drei
Monaten bedarf es auch einer finanzieller Unterstüt-
zung – sonst funktioniert die Integration in den Arbeits-
markt nicht –, damit die Menschen, die aktiv nach Arbeit
suchen, eine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben . Sie
brauchen unsere Unterstützung .
Umgekehrt sagen wir – gerade kam der Zwischenruf
„Anreizsysteme“ –, dass wir Menschen, die keine Chan-
ce auf dem Arbeitsmarkt haben, die nicht aktiv nach Ar-
beit suchen – in dem Fall würde eigentlich auch das Frei-
zügigkeitsrecht entfallen –, die Leistung auch verweigern
können . Auch das muss man der Wahrheit halber dazusa-
gen, um deutlich zu machen: Das Recht auf Freizügigkeit
ist für Menschen gedacht, die aktiv nach Arbeit suchen,
die eine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben .
Gleichzeitig muss man auf europäischer Ebene viel
mehr machen, als die Bundesregierung tut . Die Ziele, die
Frau Kramme eben nannte, teilen wir, aber die praktische
Politik der Bundesregierung geht nicht oder zumindest
viel zu wenig in diese Richtung . Wir brauchen kein Ge-
setz, das verfassungsrechtlich problematisch ist, die In-
tegration erschwert, sozialpolitische Probleme nicht löst,
sondern sogar welche schafft und europapolitisch das
falsche Signal sendet . Deswegen werden wir den Gesetz-
entwurf ablehnen .
Vielen Dank .
Vielen Dank, Wolfgang Strengmann-Kuhn . – Nächste
Rednerin: Dagmar Schmidt für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zu Beginn der Debatte waren wenigstens noch
vier Personen auf den Rängen; jetzt ist leider niemand
mehr da .
Sehr geehrte Damen und Herren, die Idee der europä-
ischen Freizügigkeit ist die Idee, in jedem europäischen
Land arbeiten und für seinen Lebensunterhalt sorgen zu
können . Es ist nicht die Idee, einfach irgendwo in jedem
europäischen Land wohnen zu können . Ich glaube, dass
wir an diesem Kern auch nicht rütteln sollten .
Die Rechte, die aus dieser Arbeit entstehen, sind – und
das ist viel wert – für jeden in Europa, der Arbeit ge-
funden hat, dieselben . Wer in Deutschland eine Arbeit
aufgenommen hat und seine Sozialabgaben zahlt, hat
daraus die gleichen Rechte wie die Deutschen . Dieser
Zugang zu Sozialleistungen ist sehr niedrigschwellig .
Schon nach einem Jahr Arbeit hat man Zugang zu allen
Leistungen nach dem SGB II . Wer weniger als ein Jahr
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20627
(C)
(D)
hier gearbeitet hat, hat Anspruch auf ein halbes Jahr Un-
terstützung, um neue Arbeit zu finden. Das alles ist sehr
niedrigschwellig .
Auch der Vorschlag der Grünen löst das Problem, über
das wir ganz am Anfang gesprochen haben und aus dem
das resultiert, was wir heute diskutieren, nicht . Ich habe
zwar große Sympathien dafür; denn wer arbeiten will,
gehört nicht in den Geltungsbereich des SGB XII, son-
dern des SGB II . Aber wenn am Ende des Tages doch
keine Arbeit gefunden wurde, dann bleibt es auch nach
dem Lösungsvorschlag der Grünen bei dem Problem:
Die Betroffenen bekommen zwar keine Leistungen, sind
aber nach wie vor in unserem Land, und die sozialen Pro-
bleme verlagern sich auf die Städte und Kommunen .
Deswegen sind, glaube ich, vor allem drei Dinge not-
wendig . Wir brauchen erstens ein intensiveres Engage-
ment, um die soziale Integration in Europa voranzutrei-
ben . Wir brauchen europäische Mindeststandards, und
wir brauchen – das meine ich sehr ernst – einen kompro-
misslosen Schutz von Minderheiten .
Wir brauchen zweitens – ich bin froh, dass auch die
Sachverständigen in der Anhörung bestätigt haben, dass
der Gesetzentwurf, den wir vorgelegt haben, eine sehr
breite Härtefallregelung beinhaltet – eine Härtefallre-
gelung, die die Probleme löst, die zum Beispiel dadurch
entstehen – das sind leider keine Einzelfälle –, dass Men-
schen, die hier arbeiten, ihren Lohn nicht ausbezahlt be-
kommen und ihre Rechte einklagen müssen . Auch in der
Zeit, in der sie hier sind, um ihre Rechte einzuklagen,
brauchen sie Unterstützung .
Es gibt auch Frauen, die mit ihren Familien hierher-
gekommen sind, deren Mann sich aber von ihnen trennt
und woanders Arbeit findet. Oft hat die Familie dann aber
schon hier Wurzeln geschlagen, und die Kinder gehen bei
uns zur Schule . Auch für diese Fälle brauchen wir Re-
gelungen, vor allem für die Kinder, die hier leben, ihre
Ausbildung hier begonnen haben und ihre Heimatländer
teilweise gar nicht oder kaum kennen . Für alle die müs-
sen wir eine Härtefallregelung finden.
Drittens brauchen wir – und das haben wir mit dem
Staatssekretärsausschuss und im Nachgang dazu schon
gemacht – eine Stärkung der Kommunen . Die Kommu-
nen brauchen mehr Geld, um in den sozialen Brennpunk-
ten und da, wo es nötig ist, Hilfe und Unterstützung leis-
ten zu können .
Wir brauchen die Öffnung der Integrationskurse. Auch
das haben wir damals schon beschlossen . Alle wissen,
dass wir schon dabei sind und dass es in dieser Situation,
in der wir auch die Integration der Flüchtlinge bewälti-
gen müssen, nicht so einfach ist, das alles so schnell zur
Verfügung zu stellen, wie es nötig ist . Aber auch daran
arbeiten wir .
Die Freizügigkeit in Europa ist eines der größten Ge-
schenke, die wir bekommen haben . Wenn uns Mitte des
letzten Jahrhunderts jemand gesagt hätte, dass man heute
frei durch Europa reisen und überall arbeiten kann, dann
hätten wir das wahrscheinlich nicht geglaubt . Unsere
nächste große Aufgabe ist es, –
Das machen wir aber nächstes Mal .
– den sozialen Zusammenhalt in Europa zu stärken .
Glück auf!
Es ist nett, dass die Kollegen der CDU/CSU mitstop-
pen . Das freut mich sehr .
Das tun Sie jetzt bitte bei Herrn Zech auch . – Der nächs-
te Redner ist der Kollege Tobias Zech für die CDU/
CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Uns liegt
heute ein Gesetz vor, das ein klares Bekenntnis zu Euro-
pa ist, ein klares Bekenntnis zur Freizügigkeit und ein
klares Bekenntnis zur Europäischen Gemeinschaft und
somit zu europäischen Werten .
Wer behauptet, mit diesem Gesetz würde die Freizü-
gigkeit eingeschränkt, hat nicht verstanden, wofür die
Europäische Union steht und welche Freizügigkeit wir
gewähren . Wir gewähren nämlich Arbeitnehmerfreizü-
gigkeit und nicht die Freizügigkeit, sich das beste Sozial-
system in Europa auszusuchen .
Das wollen wir nicht . Wir wollen die Freizügigkeit der
Arbeitnehmer . Diese schützen wir mit diesem Gesetz .
Man könnte sogar sagen, Frau Zimmermann und Herr
Strengmann-Kuhn: Wer sich gegen dieses Gesetz stellt,
stellt sich gegen die europäische Freizügigkeit
Dagmar Schmidt
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620628
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und vor allem gegen die Akzeptanz dieser Freizügigkeit .
Auch auf sie müssen wir Wert legen .
In einer Zeit, in der die Europäische Union umstritten
ist, in der wir nach dem Brexit und nach Diskussionen
über Zuständigkeiten und über unsere Grenzen auch da-
rüber debattieren müssen, wie wir Europa weiterentwi-
ckeln, dürfen wir nicht noch mehr Kritik provozieren
und nicht noch mehr Ängste vor der Europäischen Uni-
on schüren, sondern wir brauchen gute Ideen, wie wir
Zuwanderung in Europa gestalten . Aber wir regeln die
Arbeitnehmerfreizügigkeit und verhindern gleichzeitig
den Missbrauch von Sozialsystemen . Das Gesetz ist ein
Schutz unserer Sozialsysteme und somit auch ein Schutz
der Freizügigkeit in Europa .
Mit diesem Gesetz vereinheitlichen wir darüber hi-
naus die divergierende Rechtsprechung in unserem Land .
Dieses Gesetz gibt der Justiz eine Handreichung, damit
deutschlandweit die gleichen Urteile gesprochen werden .
Wir stellen mit diesem Gesetz auch klar, dass Menschen,
die allein zum Zwecke der Arbeitsuche nach Deutschland
kommen, keine Unterstützung bekommen . Wir wollen
nicht, dass sich jemand in Europa aussuchen kann, wo er
Sozialhilfe bezieht . Wir möchten es den guten Arbeitneh-
mern in ganz Europa ermöglichen, sich ihren Arbeitsort
oder den Sitz ihrer Firma auszusuchen . Das machen wir
mit diesem Gesetz .
Was wir nicht machen – diesen Vorwurf habe ich
schon ein paarmal gehört –: Es ist kein Aushungern von
Bevölkerungsgruppen, in keiner Weise .
Es ist ein gutes Gesetz für Deutschland, aber auch ein
gutes Gesetz für die Freizügigkeit . Diejenigen, die ernst-
haft auf Arbeitsuche sind bzw . die schon auf dem Ar-
beitsmarkt angekommen sind, werden natürlich weiter
unterstützt .
– Nein, die schließen wir eben nicht aus .
Es gibt Überbrückungsleistungen . Es gibt sehr weitrei-
chende Härtefallregelungen – Dagmar Schmidt hat das
schon dargestellt – mit einem großen Ermessensspiel-
raum. Herr Strengmann-Kuhn, für die Personen, die
jetzt schon Arbeitnehmer oder selbstständig sind und die
aufgrund von § 2 des Freizügigkeitsgesetzes zu Einreise
und Aufenthalt berechtigt sind, machen wir mit diesem
Gesetz keine einzige Einschränkung . Das gilt es zu un-
terstreichen .
Auch die Verfestigung des Aufenthalts nach fünf Jahren
im Land bietet eine bessere Perspektive. Der ordnungs-
politische Rahmen, den wir hier setzen, ist gleichzeitig
im Sinne von Freizügigkeit, im Sinne von Europarecht
und sozialer Gerechtigkeit .
Ich kann Ihnen nur eines sagen: Dieses Gesetz ist der
Tatsache geschuldet, dass wir uns als CSU 2014 in Kreuth
das Thema Freizügigkeit von Arbeitnehmern in Europa
im Zusammenhang mit dem Missbrauch von Sozialleis-
tungen auf die Fahne geschrieben haben . Dafür sind wir
hier von vielen Seiten beschimpft worden . Heute wird
unser Vorschlag Realität . Wir CSUler sind es gewohnt,
dass unsere Vorschläge aufgrund der intellektuellen Tiefe
ein paar Monate brauchen, um hier anzukommen .
Aber ich kann Ihnen sagen: Wir Bayern sind leidensfä-
hig .
Wir geben allen die Zeit, über unsere guten Vorschläge
länger nachzudenken .
Deswegen bin ich froh, dass wir heute ein gutes Gesetz
vorliegen haben, das natürlich verfassungsgemäß ist, das
nicht gegen EU-Recht verstößt, und dass die Vorschläge,
die wir als CSU vor zwei Jahren in Kreuth gemacht ha-
ben, heute zum Gesetz werden .
Ich kann nur um Zustimmung bitten .
Herzlichen Dank .
Vielen Dank, Herr Kollege Tobias Zech . Auch ich
musste lachen, weil ich weiß, was Sie meinen, wenn Sie
über Bayern reden .
Ich schließe die Aussprache .
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der
Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten
Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem
Zwölften Buch Sozialgesetzbuch . Der Ausschuss für Ar-
beit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
Tobias Zech
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20629
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lung auf Drucksache 18/10518, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 18/10211 in der Aus-
schussfassung anzunehmen .
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen . –
Wer stimmt dagegen? – Dann gibt es keine Enthaltungen .
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung ange-
nommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, dage-
gen waren die Linken und Bündnis 90/Die Grünen .
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erhe-
ben . – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine .
Der Gesetzentwurf ist angenommen . Zugestimmt haben
CDU/CSU und SPD, dagegengestimmt haben Bünd-
nis 90/Die Grünen und die Linke .
Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-
che 18/10533 ab . Wer stimmt für diesen Entschließungs-
antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Kei-
ne . Der Entschließungsantrag ist abgelehnt . Zugestimmt
hat Bündnis 90/Die Grünen, dagegen waren CDU/CSU,
SPD und die Linke.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Luftsicherheitsge-
setzes
Drucksachen 18/9752, 18/9833
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses
Drucksache 18/10493
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden .1) –
War eigentlich jemals jemand dagegen? Ich will jetzt
aber keine schlafenden Hunde wecken .
Wir kommen zur Abstimmung . Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 18/10493, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksachen 18/9752 und 18/9833 in der Ausschuss-
fassung anzunehmen . Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen,
um das Handzeichen . – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be-
ratung angenommen . Zugestimmt haben CDU/CSU und
SPD, dagegengestimmt hat die Linke, und enthalten hat
sich Bündnis 90/Die Grünen .
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist angenommen . Zugestimmt haben CDU/CSU
1) Anlage 9
und SPD, dagegengestimmt hat die Linke, und enthalten
hat sich Bündnis 90/Die Grünen . Der Gesetzentwurf ist
angenommen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung der Insolvenzordnung
Drucksachen 18/9983, 18/10263, 18/10444
Nr. 1.4
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
Drucksache 18/10470
Der Gesetzentwurf beinhaltet in der Fassung der Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Ver-
braucherschutz auch Änderungen des Gesetzes betref-
fend die Einführung der Zivilprozessordnung .
Ich bitte jetzt die Sozialpolitiker, sich entweder mit
dem Insolvenzrecht bzw . der Insolvenzordnung zu befas-
sen
oder zu gehen .
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre und
sehe keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort
Dr. Karl-Heinz Brunner, SPD-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Wenn Besuchergruppen nach Berlin
kommen und ich erzähle, dass man erst gegen 22 oder
23 Uhr nach Hause kommt, dann glauben die das nicht
ganz . Insofern hätte ich sie heute bei diesem edlen Ta-
gesordnungspunkt zu dem Regierungsentwurf zur Insol-
venzordnung gerne auf den Besucherrängen gehabt . Aber
dies ist leider nicht gelungen .
– Liebe Frau Vorsitzende Künast, das machen wir heute
nicht .
Bevor wir in die inhaltliche Debatte einsteigen, las-
sen Sie uns kurz auf den spannenden Begriff „Liquida-
tionsnetting“ zurückkommen . Ich kann mir gut vorstel-
len, dass nicht jeder hier im Hohen Hause mit diesem
Fachbegriff vertraut ist. Worum geht es eigentlich? Wie
das Wirtschaftslexikon schreibt, werden unter „Netting“
im Finanzwesen alle Methoden zur Vermeidung von
Zahlungs-, Fremdwährungs-, Kredit- oder Liquiditäts-
krisen zwischen zwei Vertragsparteien innerhalb eines
Vizepräsidentin Claudia Roth
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620630
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vertraglich vereinbarten Verrechnungsverfahrens ver-
standen . Liquidationsnetting ist mit die wichtigste Form
des Nettings im Bankwesen . Es handelt sich hierbei
um die einheitliche Beendigung von Geschäften durch
Kündigung und automatische Auflösung aus wichtigem
Grund, einschließlich aus Gründen insolvenzbezogener
Tatbestände . Dies hat zur Folge, dass die sich ergebenden
Ansprüche durch einen Ausgleichsanspruch in Höhe des
Nettomarktwerts des Geschäfts – also die Nettosumme,
die sich aus beiden Ansprüchen ergibt – oder des sich
daraus ergebenden unrealisierten Gewinns oder Verlusts
festgestellt und so die festgestellten Beträge miteinander
saldiert werden . Das Insolvenzrisiko wird auf diese Wei-
se erheblich reduziert .
Nach der ersten Lesung hatten wir eine öffentliche
Anhörung zu diesem Thema . Dabei wurde aus meiner
Sicht festgestellt, dass das Bundesministerium der Justiz
und für Verbraucherschutz hervorragende Arbeit geleis-
tet hat, auch wenn der eine oder andere Sachverständige
wohl die existenzielle Notwendigkeit dieser Maßnahme
noch nicht erkannt hatte . Der Rechtsausschuss sah daher
in seiner Sondersitzung in dieser Woche trotz der geäu-
ßerten Bedenken keine Notwendigkeit, den Gesetzestext
zu ändern; er ist schlicht gut . Bei der abschließenden
Beratung im Ausschuss haben wir beschlossen, dass alle
nötig gewordenen Klarstellungen und Präzisierungen der
gesetzlichen Grundlagen für die Abwicklung von Finanz-
marktkontrakten in der Insolvenz vorgenommen werden .
Die Dringlichkeit des Gesetzes besteht, da die Allge-
meinverfügung der BaFin lediglich bis zum 31 . Dezem-
ber 2016 gilt . Ohne die Entscheidung des Hohen Hauses
über den heutigen Gesetzentwurf droht die Gefahr, die
internationale Wettbewerbsfähigkeit deutscher Kredi-
tinstitute und Marktteilnehmer und damit die Stabilität
unseres deutschen Finanzsystems nicht mehr dauerhaft
schützen zu können .
Daher bedarf es gesetzlicher Regelungen, dieser Klar-
stellung der Insolvenzfestigkeit von Liquidationsnetting-
klauseln . Ich betone ausdrücklich: Mit dem Gesetz wird
nur der ursprünglich gewollte Rechtszustand wiederher-
gestellt, nichts Neues, kein Dammbruch, wie es einer der
Sachverständigen meinte, kein Mehr in § 104 der Insol-
venzordnung, nur Klarstellung .
Es ist absolut richtig, dass sich der Gesetzgeber zü-
gig dieser Frage angenommen hat, da anderenfalls große
Schwierigkeiten im Finanzierungs- und Rücklagensys-
tem aller deutschen Banken hätten auftreten können .
Dies wird – auch mit Blick auf eine mögliche Belastung
des Steuerzahlers – durch das Gesetz vermieden . Dies
zum Netting .
Nun zu dem dem Gesetzentwurf angefügten Omnibus .
Man soll auch über das sprechen, was noch drinsteht,
Artikel 4 EGZPO, der Einfachheit halber Einführungs-
gesetz zur Zivilprozessordnung, hinsichtlich der Wert-
grenzen zur Nichtzulassungsbeschwerde zum Bun-
desgerichtshof . Der Änderungsantrag ist zum jetzigen
Zeitpunkt sinnvoll, die Verlängerung der Geltungsdauer
maßvoll . Ob allerdings die Regelung einer Mindestbe-
schwer in Höhe von 20 000 Euro grundsätzlich die rich-
tige Höhe darstellt, stelle ich persönlich infrage . Gleich-
wohl teile ich die Einschätzung, dass dieser Komplex
insgesamt und grundsätzlich gelöst werden muss, und
das endgültig und nicht allein durch Korrekturen an der
Wertgrenze .
Lassen Sie mich dazu ein Beispiel nennen . Warum soll
einem Waldbesitzer, dessen Wäldchen zum Zeitpunkt der
Klageerhebung 19 000 Euro wert ist, der Rechtsweg ver-
sperrt sein, während demjenigen, dessen Aktienpaket im
Wert von ursprünglich mehr als 20 000 Euro zum Zeit-
punkt des Urteils nur noch 50 Cent wert ist, ein anderes
Rechtsschutzinteresse zugebilligt wird?
An dieser Stelle möchte ich noch einmal betonen, dass
die Geltungsdauer der Wertgrenze für den Weg zum Bun-
desgerichtshof ein letztes Mal verlängert wird .
Denn ich will keine Kapitalisierung der Rechtsmittel,
sondern Recht für alle . Daher darf der Zugang zum Recht
nicht allein an der materiellen Höhe der Auseinanderset-
zung scheitern . Wertgrenzen dürfen schon gar nicht dazu
dienen, Personalengpässe bei den Obergerichten auszu-
gleichen .
Wie gesagt, mit diesem Gesetz machen wir einen rich-
tigen Schritt in Sachen Rechtssicherheit für alle, jedoch
nicht den letzten; denn im Insolvenzrecht ist mit diesem
Gesetzentwurf noch lange nicht alles abgeschlossen .
Konzerninsolvenzrecht, Sicherung von ausbezahlten Ar-
beitslöhnen, eine Reform der Anfechtungsfristen sowie
die Beteiligung von Gewerkschaftsvertretern bei der Sa-
nierung von Unternehmen stehen noch auf der Agenda .
Da haben wir noch einiges zu vereinbaren .
Wir jedenfalls, die Sozialdemokraten, haben dazu
klare Vorstellungen . Wir können diese auch kurzfristig
umsetzen, sodass es heißen kann: Wo Sozialdemokratie
draufsteht, steckt auch Sozialdemokratie drin .
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und Ihnen allen
einen schönen Abend .
Dr. Karl-Heinz Brunner
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20631
(C)
(D)
Vielen Dank, Karl-Heinz Brunner . – Nächster Redner:
Richard Pitterle für die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-
ginnen und Kollegen! Der vorliegende Gesetzentwurf
hat in den Beratungen zu einigen Missverständnissen
geführt. Dafür ist auch die Problembeschreibung der
Verfasser verantwortlich . Dort heißt es irreführend, der
Entwurf sei eine Reaktion auf die Rechtsprechung . Der
Bundesgerichtshof hatte in der Finanzwelt übliche Ver-
träge mit dem Insolvenzrecht für unvereinbar erklärt . Mit
dem Gesetz solle die Abwicklung von Finanzverträgen in
der Insolvenz nach bankenaufsichtsrechtlichen Anforde-
rungen daher klargestellt und präzisiert werden .
Bei der genauen Analyse zeigt sich: Die Regelungen
gehen weit darüber hinaus . Die Änderung erweitert die
Ausnahmevorschriften des § 104 Insolvenzordnung er-
heblich . In Zukunft können auch Warentermingeschäf-
te durch Rahmenverträge zusammengefasst werden .
Schlicht falsch ist die beiläufige Behauptung der Ver-
fasser, dies sei ohnehin geltende Rechtslage . Nicht alle
Verträge über Waren-, Rohstoff- oder Energielieferun-
gen sind Finanzinstrumente . In diesem Bereich mag es
der Wunsch von Lobbyisten sein, das Insolvenzrisiko
zu verringern . Das ist aber der Wunsch aller Gläubiger .
Sachliche Gründe für eine Privilegierung gibt es nicht.
Eine Ausweitung gebieten weder das Unionsrecht noch
bankenaufsichtsrechtliche Anforderungen .
Die Neuregelung präzisiert nichts . Sie stellt auch
nichts klar . Die Rahmenbedingungen für vertragliche
Vereinbarungen zum sogenannten Liquidationsnetting
sind konturlos formuliert . Das erhöht die Rechtsunsi-
cherheit . Das birgt die Gefahr ausufernder Vereinba-
rungen zulasten der Insolvenzmasse . Das gefährdet die
Sanierung der Unternehmen und damit den Erhalt von
Arbeitsplätzen .
Begründet wird dies auch mit dem Schutz des Ver-
tragspartners in der Insolvenz . Liebe Kolleginnen und
Kollegen, diese Heuchelei ist kaum zu ertragen . Sie
verweigern Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern seit
Monaten durch Untätigkeit den Schutz ihres hart erarbei-
teten Lohnes in der Insolvenz .
Sie verweigern sich auch einer generellen Besserstel-
lung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gegen-
über anderen Gläubigern . Geht es jedoch um das große
Finanzkasino und selbstgeschaffene Risiken, steht auf
einmal der Schutz des Vertragspartners im Mittelpunkt
Ihrer Bemühungen .
– Das mögen Sie Klassenkampf nennen; das ist Ihr Pro-
blem .
Wie gewaltig diese Risiken sein müssen, zeigt das
völlig kopflose Agieren der Bundesanstalt für Finanz-
dienstleistungsaufsicht . Die Tinte auf dem Urteil war
kaum trocken, da erließ die BaFin eine Verfügung . Sie
erklärte die Rechtsprechung kurzerhand zum Schutz des
Finanzmarktes für unbeachtlich . Eine Bundesoberbehör-
de versucht, durch Notverordnung in die Zuständigkeit
von Gesetzgebung und Rechtsprechung überzugreifen .
Wenn Herr Schäuble hier wäre, müsste ich ihm sagen,
als Rechts- und Fachaufsicht über die BaFin sollte er
doch vielleicht einen Grundkurs in Staatsorganisations-
recht und zum Thema Gewaltenteilung anbieten .
Pikant daran ist, dass die BaFin auch im Untersu-
chungsausschuss Cum/Ex, aus dem ich gerade komme,
keine gute Figur macht . Sie will als Aufsichtsbehörde
über den Finanzmarkt mehr als zehn Jahre nichts davon
mitbekommen haben, wie Banken und Finanzdienstleis-
ter Milliarden Euro Steuern hinterzogen haben .
Zum Abschluss noch folgende Frage: Was hat die
Nichtzulassungsbeschwerde beim BGH mit dem Li-
quidationsnetting zu tun? Genau: Nichts! Mit Ihrer
nachgeschobenen Änderung missachten Sie erneut die
verfassungsrechtlichen Vorgaben zum Ablauf des Ge-
setzgebungsverfahrens .
Auch inhaltlich ist ein Gesetz, das den Zugang zu Ge-
richt wegen Überlastung erschwert, ein Offenbarungseid
Ihrer Haushalts- und Justizpolitik und eines Rechtsstaa-
tes unwürdig .
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank, Richard Pitterle. – Der Nächste in der
Debatte: Dr . Heribert Hirte für die CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Guten Abend! Herr Kollege, die Aufklärung in Sachen
Finanzkasino war daneben .
Ich kann nur sagen: Was die BaFin gemacht hat, ist rich-
tig . Ich werde das gleich auch erklären . Herr Schäuble
braucht auch keinen Grundkurs in Sachen Staatsorgani-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620632
(C)
(D)
sationsrecht . Auch diese Bemerkung war schlicht dane-
ben .
Wir reden hier über etwas ganz anderes, nämlich über
§ 104 Insolvenzordnung, das Close-out Netting . Der Kol-
lege Brunner hat eben schon deutlich gemacht, worum
es geht . Close-out heißt, dass bei bestimmten Kreditver-
tragstypen der Vertrag beendet wird . Er wird zweitens
genettet, nämlich aufgerechnet, und zwar in der Weise,
dass das Risiko aus verschiedenen Verträgen zusammen-
gefasst wird . Was hier in Rede steht, ist in der Tat ein
Riesenvolumen. Der Kollege Christoph Paulus von der
Berliner Universität hat uns das in der Anhörung sehr
deutlich gemacht: Es geht um ein Gesamtvolumen von
605 Billionen Euro . Davon besteht ein mögliches Insol-
venzrisiko in Höhe von 24 Billionen Euro . Es ist richtig,
dass wir, weil diese Forderungen und Verbindlichkeiten
zusammenhängen, sie dann auf 3,7 Billionen Euro redu-
zieren .
– Kollegin Keul, jetzt fragen wir uns: Warum müssen wir
das Gesetz reformieren? Da muss man noch einmal gu-
cken, wann das Gesetz in der jetzigen Form geschaffen
wurde .
– Sie können gleich darauf erwidern . – Im Jahr 2004
hat nämlich die damalige rot-grüne Koalition die jetzige
Norm geschaffen.
Da gab es dann Nachfragen von der Bayerischen Staats-
regierung . Die hat Ihnen, der rot-grünen Koalition, Fra-
gen gestellt und damit den Eindruck erweckt, dass die
rot-grüne Koalition – so heißt es hier in der Ausschuss-
drucksache aus dem Jahr 2004 mit der Nummer 15/2584 –
„das Großkapital schützen wolle und die kleinen Firmen
zugrunde richte“ . Dann haben wir alle – leider ohne die
Linken, aber das ist nicht so überraschend – zusammen-
gearbeitet und haben gemeinsam mit dem BMJ – wie es
damals noch hieß – diesen „bodenlosen Behauptungen“,
die Sie jetzt bringen, obwohl Sie damals genau das Ge-
genteil gesagt haben, „die Grundlage entzogen“ .
Dann hat Ihr Vorgänger Jerzy Montag, ein guter Mann,
gesagt, die jetzige Fassung diene „dem Schutz des Ban-
kenplatzes Deutschland“ und stelle auch sicher, dass „in
der Insolvenz nicht auf Baumaschinen, nicht auf Forde-
rungen und nicht auf andere Gegenstände“ zurückgegrif-
fen werden könne . „Mit dem Ergebnis des . . . Entwurfs“,
über dessen Korrektur wir jetzt heute beraten, „könne
man sehr zufrieden sein .“
Der Bundesgerichtshof hat sich mit Ihrem Gesetz aus-
einandergesetzt und festgestellt, dass manches von dem,
was Sie damals wollten, nicht funktionierte . Wir kor-
rigieren Ihre Fehler, und Sie sagen jetzt, wir schützten
die Banklobby . Ich halte das für daneben; das muss man
wirklich sagen .
Man kann dann noch einen Schritt weitergehen und
nachfragen. Sie haben das in der Pressemitteilung von
gestern so schön gesagt: Die Großbanken kriegen Privi-
legien gesichert, und deshalb müssten wir eine Sonder-
sitzung abhalten .
– Das ist Ihre Pressemitteilung, die ich hier zitiere. –
Und deshalb lehnen Sie es ab . – Auch das stimmt nicht .
Schauen Sie doch bitte einmal in das Gesetz hinein . Frau
Keul, dazu können Sie gleich etwas sagen . § 340 der In-
solvenzordnung besagt, dass bei solchen Verträgen das
Recht gilt, was vereinbart wurde . Das heißt, man kann
der Regelung entfliehen. Es ist also nicht so, dass die
Banken dann alle sofort pleitegehen . Sie werden die
Verträge ändern, und dann haben wir einen Vertrag nach
englischem Recht, der genau das vorsieht, was wir jetzt
hier vorschlagen . Ich muss schon sagen: Ich halte es für
richtig, dass deutsche Banken auch deutsches Recht nut-
zen können .
Wir stellen noch einen Punkt im Ausschussbericht
klar, der in der Anhörung zweifelhaft war, nämlich dass
Erfüllungsansprüche dann gegengerechnet werden kön-
nen . Das halte ich für wichtig .
Aber ich möchte zu einem weiteren Punkt noch etwas
sagen, zur Streitwertgrenze . Ja, die Überlegung, ob die
Streitwertgrenze und die Fortschreibung der Streitwert-
grenze der richtige Ansatz ist, den Zugang zum Bundes-
gerichtshof zu kontrollieren, ist zweifelhaft . Herr Kol-
lege Brunner hat es eben schon gesagt: Da müssen wir
ein bisschen grundsätzlicher herangehen . Ich habe in der
Ausschusssitzung vorgestern genau das gesagt: Wir sind
für eine solche weiter gehende Lösung offen.
Wir sind hier in Vorlage gegangen . Wir haben gestern
gesagt, dass die Erweiterung des Ansatzes des Kapitalan-
leger-Musterverfahrensgesetzes ein Punkt ist, an dem wir
weitergehen würden und weitergehen können . Das Justiz-
ministerium hat inzwischen nachgezogen. Wir finden das
gut . Darüber können wir reden . Dann können wir erwä-
gen, ob wir zum Beispiel bei identischen Sachverhalten,
die mehrere Personen betreffen, oder bei Streuschäden
eine Regelung treffen, dass der Streitwert, der als Grenze
des Zugangs zum Bundesgerichtshof dient, herabgesetzt
wird . Da gibt es also Reformbedarf . Wir werden darüber
reden . Mit dieser Änderung wird die Zeit überbrückt, bis
die wesentlichen Änderungen kommen werden .
Der letzte Punkt. Natürlich ist das nicht das Ende der
Reformen im Insolvenzrecht . Wir werden das Anfech-
tungsrecht reformieren . Wir warten auf die Vorschläge
und die Antworten der SPD. Wir werden auch das Kon-
zerninsolvenzrecht reformieren .
Vielen Dank .
Dr. Heribert Hirte
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20633
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Vielen Dank, Dr . Hirte . – Nächste Rednerin: Katja
Keul für Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich will gleich einmal ein paar Dinge klarstel-
len:
Zuerst zur Schuldfrage . Die Sondersitzung haben
nicht wir beantragt, sondern Sie, weil Sie die Fristen
nicht eingehalten haben und wir auf die Fristeinhaltung
nicht verzichtet haben .
Zweiter Punkt. Sie ändern hier ein Gesetz, das irgend-
wann einmal unter Rot-Grün, wie Sie sagen, auf den Weg
gebracht worden ist – und nicht umgekehrt .
Außerdem haben Sie aus einem Gesetzgebungsverfahren
von 2004 zitiert . Es war vor der Finanzkrise, also bevor
wir alle wussten, welche Auswirkungen es hat, dass die
Banken alle unterkapitalisiert sind .
Dieses Gesetzgebungsverfahren ist in der Tat ein
Musterbeispiel dafür, wie sich die Interessen der Finanz-
industrie hier ihren Weg bahnen . Im Juni dieses Jahres
entschied der Bundesgerichtshof, dass die Praktiken der
Finanzakteure, also der Banken, die mit Derivaten han-
deln, gegen § 104 Insolvenzordnung verstoßen . Warum?
Weil sie die Forderungen aus diesen Risikogeschäften im
Insolvenzfall so miteinander verrechnen, dass praktisch
keine Insolvenzforderung mehr übrig bleibt . Wir haben
ja gerade gehört: Es geht nicht um 3,50 Euro, sondern
durchaus um Milliarden .
Nach diesem BGH-Urteil legt die Bundesregierung
sofort, also quasi über Nacht, einen Entwurf zur Ände-
rung der Rechtslage vor, damit die Banken weitermachen
können wie bisher, und erweitert die Norm sogar noch
darüber hinaus .
Nicht einmal eine einzige Sekunde haben die Akteure die
Alternative in Betracht gezogen, sich schlicht an das gel-
tende Recht zu halten, als ob die systemische Finanzkri-
se, in der wir uns seit zehn Jahren befinden, nicht deutlich
genug gemacht hätte, dass die Sorglosigkeit dieses Ge-
schäftsbereichs die Ursache des ganzen Elends ist .
In der Gesetzesbegründung steht ganz schamlos, dass
es genau darum geht: den Großbanken zu ersparen, ihre
Eigenkapitalquote zu erhöhen – was sie tun müssten,
wenn das Insolvenzrisiko realistisch abgebildet würde .
Es ist aber gerade notwendig, dass die Eigenkapitalquo-
ten erhöht werden, um zu verhindern, dass wieder nur die
Gewinne bei den Akteuren bleiben, die Verluste aber im
Ernstfall die Allgemeinheit tragen muss .
Das deutsche Insolvenzrecht ist auf Gleichbehandlung
aller Gläubiger ausgerichtet – und das ist auch gut so .
Hier wollen einige wieder einmal gleicher sein als ande-
re, und die Bundesregierung steht gehorsam bereit . Das
ist wirklich befremdlich, wenn man einmal auf der ande-
ren Seite betrachtet, wie lange der deutsche Mittelstand
auf die moderate Reform des Anfechtungsrechtes wartet,
das seit zwei Jahren auf Eis liegt . Für die Finanzindustrie
geht es plötzlich innerhalb von drei Monaten .
Angeblich sollte aus beiden Gesetzen jetzt ein Paket
geschnürt werden . Aber warum steht nun doch wieder
nur das Interesse der Finanzer auf der Tagesordnung und
nicht das des Mittelstandes? Warum sollte die zweite Le-
sung schon wieder zur nächtlichen Stunde zu Protokoll
gegeben werden, obwohl das schon in der ersten Lesung
so gelaufen ist?
Darauf haben wir uns diesmal nicht eingelassen .
Ich kann nur hoffen, dass sich die mediale Öffentlich-
keit hier nicht an der Nase herumführen lässt . Sie argu-
mentieren damit, dass es ja nicht anders geht, weil diese
Regelung doch international überall so gehandhabt wird
und daher der Standort Deutschland leiden oder man ins
englische Recht ausweichen würde . In der Tat, die Fi-
nanzlobby hat ihre Sonderinteressen natürlich nicht nur
hier, sondern weltweit durchsetzen können, und weil sie
dadurch jetzt in den anderen Ländern dieselben Privile-
gien hat, sollen wir damit erpresst werden, dass es eben
nicht anders geht . Das ist das alte Totschlagargument:
Wenn wir es nicht tun, dann tun es die anderen . – Damit
werden wir die systemische Krise niemals in den Griff
kriegen .
Ganz im Gegenteil: Die Auswirkungen dieser Ma-
chenschaften bringen gerade unsere Welt ins Wanken .
Europa fällt auseinander, und ehemals stabile Demokra-
tien stehen im Feuer der Populisten. Als demokratische
Volksvertreter dürfen wir uns nicht länger erpressen las-
sen .
Und was ist eigentlich aus der Finanztransaktionsteu-
er geworden? Wenn die Staaten einmal den Auswüchsen
der Finanzindustrie regulierend Einhalt gebieten wollen,
dann ist es so mühsam, Mitstreiter zu überzeugen . Wenn
aber die Finanzindustrie in einem Land nach dem ande-
ren Privilegien zum Standard machen will, geht das im-
mer ganz schnell . Wir Grüne machen das an genau dieser
Stelle nicht mehr mit . Wir lehnen diesen Gesetzentwurf
ab .
Vielen Dank .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620634
(C)
(D)
Vielen Dank, Katja Keul . – Der letzte Redner in der
Debatte: Alexander Hoffman für die CDU/CSU-Frakti-
on .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kollegin-
nen und Kollegen! Thema ist das Dritte Gesetz zur Ände-
rung der Insolvenzordnung . Ich gebe zu, dass diejenigen,
die dieser Debatte zu dieser Stunde beiwohnen, das nicht
unbedingt als Hauptgewinn begreifen werden – insbe-
sondere dann nicht, wenn sie Ihre Rede gehört haben,
Kollege Pitterle.
Ich habe versucht, ein Fallbeispiel zu finden, das sehr
deutlich macht, worum es im Kern geht . Stellen Sie sich
Folgendes vor: Zwei Banken betreiben regelmäßig Ge-
schäfte miteinander . Eines Tages kauft die Bank A von
der Bank B Wertpapiere im Wert von 1 Million Euro . Sie
bezahlt diese Wertpapiere auch gleich; die Bank B ist
aber schon einige Tage später nicht mehr in der Lage, die
Wertpapiere zu liefern, weil sie insolvent geht .
Dann hat die Bank A eine Forderung in Höhe von
1 Million Euro, die sie im Rahmen des Insolvenzverfah-
rens geltend machen kann und dort zur Tabelle anmeldet .
Das hat – Kollege Pitterle, hören Sie zu! – ein maximales
Ausfallrisiko zur Konsequenz . Liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen und von den Linken – um an
dieser Stelle schon dem ersten Missverständnis entge-
genzuwirken, das Sie heute sehr gerne skizziert haben –,
diese Bank A, die auf dieser 1 Million Euro sitzen bleibt,
kann die Deutsche Bank oder eine andere Großbank
sein, aber das kann letztendlich auch jede Hausbank ei-
nes jeden Bürgers in Deutschland sein . Dann zahlt diese
1 Million Euro am Schluss der Anleger, der Kunde, der
Steuerzahler .
Genau diese Konstellation sollte § 104 der Insolvenz-
ordnung vermeiden . Er hat nämlich folgende Möglich-
keit vorgesehen: Wenn – zurück zu meinem Fall – die
Bank B aufgrund eines anderes Geschäfts eine noch of-
fene Forderung gegen die Bank A hat, sagen wir in Höhe
von 800 000 Euro, dann sollte die Möglichkeit eröffnet
werden, das miteinander zu verrechnen, sodass nur die
Differenz von 200 000 Euro ins Saldo gestellt wird mit
der Folge, dass das maximale Risiko der Bank A am
Ende des Tages 200 000 Euro beträgt . Damit beträgt auch
das Ausfallrisiko der Kunden, der Steuerzahler und der
Anleger dieser Bank A nur 200 000 Euro .
Genau das, liebe Kolleginnen und Kollegen, war das Ziel
von § 104 der Insolvenzordnung .
Das sahen – der Kollege Hirte hat es vorhin angespro-
chen – die Grünen im Übrigen einmal ganz genauso: Im
Jahr 2004 wurde diese Norm formuliert . Aber heute wol-
len Sie davon nichts mehr wissen . Der BGH legt § 104 –
wir haben es gehört – heute anders aus und begreift sol-
che Aufrechnungsvereinbarungen als unwirksam .
Auch deswegen, liebe Kollegin Keul, gilt es, schnell
zu handeln; denn uns läuft ein Stück weit die Zeit davon .
Die zweite Konsequenz, wenn solche Rahmenvereinba-
rungen nicht mehr getroffen werden können, ist nämlich,
dass Banken aufgrund dieses erhöhten Ausfallrisikos
letztendlich Finanzrückstellungen in einer Größenord-
nung machen müssen, wie sie heute einfach nicht mehr
darstellbar ist .
Sie haben vorhin gesagt: Wir haben durch die Finanz-
krise gelernt, und deswegen müssen die Rückstellungen
der Banken ohnehin erhöht werden . – Das ist aber in-
soweit unehrlich, als Sie ganz genau wissen, dass die
Erhöhung der Rückstellungen, über die wir hier reden,
aufgrund des Anstiegs des Ausfallrisikos komplett auf-
gefressen wird .
Es ist wichtig, dass wir zeitnah darauf reagieren, weil
es letztendlich für viele Banken ein Problem darstellen
würde, in dieser kurzen Zeit die Rückstellungen auf die-
ses Maß zu erhöhen . Damit zeigt die Große Koalition,
dass sie handlungsfähig ist . Die Große Koalition zeigt,
dass sie darauf reagieren kann . Ich glaube, das Beispiel
zeigt sehr gut, dass es sich nicht um Geschenke für Groß-
banken handelt .
Deswegen bitte ich um Zustimmung .
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank, Alexander Hoffmann. – Ich schließe die
Aussprache .
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-
rung der Insolvenzordnung . Der Ausschuss für Recht und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/10470, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf den Drucksachen 18/9983 und
18/10263 in der Ausschussfassung anzunehmen . Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung zustimmen wollen, jetzt um ihr Handzeichen . – Wer
stimmt dagegen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Be-
ratung angenommen . Zugestimmt haben die CDU/CSU
und die SPD; dagegen waren Bündnis 90/Die Grünen
und die Linke .
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erhe-
ben . – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Gesetzentwurf ist angenommen . Zugestimmt haben
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20635
(C)
(D)
CDU/CSU und SPD. Dagegengestimmt haben Bünd-
nis 90/Die Grünen und die Linke .
Ich darf Sie bitten, die Essensverteilung ein bisschen
einzuschränken und diese Teile, die wir hier freundli-
cherweise auch bekommen haben, nicht unbedingt als
Wurfgeschosse einzusetzen; sonst lasse ich den Innen-
ausschuss damit befassen .
Wir haben auch Hunger, aber wir müssen erst noch mit
den Kollegen vereinbaren, ab wann hier Bier serviert
wird
und Bratwurst .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
– Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten
Gesetzes zur Änderung des Bundesfernstraßen-
mautgesetzes
Drucksache 18/9440
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
Drucksache 18/10440
– Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/10441
Hierzu liegen zwei Änderungsanträge und ein Ent-
schließungsantrag der Fraktion Die Linke vor .
Die Reden gehen nicht zu Protokoll. Deswegen bitte
ich die Kolleginnen und Kollegen, die gleich debattieren
werden, Platz zu nehmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Dazu gibt es
keinen Widerspruch .
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort für die
Bundesregierung der Parlamentarischen Staatssekretärin
Dorothee Bär .
Ich bitte die Kollegen, jetzt Platz zu nehmen und Frau
Bär zuzuhören . Das gilt für alle, auch für die Kollegen
von ihrer Partei.
D
Vielen herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – So viele
sind von meiner Partei gar nicht da.
– Ich habe die eigene Partei gemeint, natürlich nicht die
Schwesterpartei .
– So viel Unterschied muss sein, Herr Herzog .
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehr-
ten Damen und Herren! Heute ist ein guter Tag, um über
das Vierte Gesetz zur Änderung des Bundesfernstraßen-
mautgesetzes zu sprechen, weil es heute insgesamt ein
guter Mauttag in Deutschland ist .
Deswegen passt es ganz besonders gut, dass wir heute zu
diesem Gesetzentwurf noch sprechen können .
Wie Sie alle wissen, war und ist es unser Ziel, in die-
ser Legislaturperiode die Finanzierung der Bundesfern-
straßen zu verbessern . Sie alle wissen auch, dass wir das
schon in den vergangenen drei Jahren geschafft haben,
und wir werden auch im nächsten Jahr bis zur Bundes-
tagswahl in diesem Bemühen nicht nachlassen .
Uns ist es wichtig, eine moderne, eine sichere, eine
leistungsstarke Verkehrsinfrastruktur in Deutschland zu
gewährleisten. Deswegen treiben wir die Nutzerfinan-
zierung konsequent voran und schaffen so den wesent-
lichen Bestandteil des Investitionshochlaufs . Wir stellen
dadurch auch die Maßnahmen sicher – auch das ist heute
ein wichtiger Schritt –, die sich im Bundesverkehrswege-
plan 2030 befinden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, Sie
behaupten im Ausschuss immer wieder, dass alles, was
zum Vordringlichen Bedarf und zum weiteren Bedarf mit
Planungsrecht im Gesetzentwurf steht, nicht ausfinan-
ziert ist .
Allein durch solche Gesetzesinitiativen stellen wir fest,
dass es möglich ist, dass alles finanziert werden kann,
was wir uns vorgenommen haben . Sie sehen, dass in der
Verkehrspolitik insgesamt eine ganzheitliche Politik be-
trieben wird .
Aufgrund der besonderen Belastung für die Infrastruk-
tur spielt natürlich die Lkw-Maut eine ganz wesentliche
Rolle . Wir haben mit dem Dritten Gesetz zur Änderung
des Bundesfernstraßenmautgesetzes die ersten beiden
Schritte unternommen, haben zum 1 . Juli 2015 die Lkw-
Maut von circa 1 200 Kilometer auf circa 2 300 Kilo-
meter autobahnähnliche Bundesstraßen ausgeweitet und
haben zum 1. Oktober 2015 die Mautpflichtgrenze von
12 Tonnen zulässiges Gesamtgewicht auf 7,5 Tonnen ab-
gesenkt. Auch dadurch schaffen wir mehr Gerechtigkeit.
Vizepräsidentin Claudia Roth
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620636
(C)
(D)
Jetzt stehen wir vor dem nächsten Schritt und machen
mit dem vorliegenden Vierten Gesetz eine Ausweitung
der Lkw-Maut ab Mitte 2018 auf alle circa 40 000 Kilo-
meter Bundesstraßen. Auch damit finanzieren und ver-
bessern wir die Finanzierung der Bundesfernstraßen und
gewährleisten weiterhin eine sichere und vor allem mo-
derne und leistungsstarke Infrastruktur .
Für uns ist die Philosophie – die teilen nicht alle; das
werden wir nachher noch hören –, dass Mobilität ein
Grundbedürfnis der Menschen in unserem Land ist .
Wir machen eine Politik, die für diese Grundbedürfnisse
steht. Wir machen keine Politik, Frau Wilms, die gegen
solche Grundbedürfnisse steht; denn damit stellen Sie
sich zu Recht ins Abseits . Ich bin gespannt auf Ihr Ge-
mäkel, was gleich wieder kommen wird, Frau Kollegin .
Die parlamentarischen Beratungen und die Befassung
des Bundestags haben weitere Anregungen zu dem von
der Bundesregierung im Mai 2016 beschlossenen Gesetz-
entwurf gebracht . Beispielsweise sollen landwirtschaftli-
che Fahrzeuge unter bestimmten Bedingungen von der
Maut befreit werden. Es soll die Möglichkeit geschaffen
werden, die Mautpflicht auch auf bestimmte Strecken
von Landes- und Kommunalstraßen auszuweiten . Ein
ganz besonderes Anliegen von einigen von uns – auch
von mir persönlich; dazu wird der Kollege Jarzombek
sicher nachher noch Stellung nehmen – ist die Bereitstel-
lung von Mautdaten in der Datenbank mCLOUD . Das
ist ein wichtiger und positiver Schritt, weil der umfang-
reiche Datenschatz auch für die Verkehrsforschung von
ganz besonderer Bedeutung ist .
Mit dem Entschließungsantrag wird die Bundesregie-
rung aufgefordert, unterschiedliche Mautsätze für Bun-
desautobahnen und Bundesstraßen möglichst zu vermei-
den . Das ist uns auch wichtig, weil sichergestellt werden
soll, dass weniger zentral gelegene Regionen nicht dop-
pelt bestraft werden . Wir wollen eine Gleichwertigkeit
der Lebensverhältnisse . Wir wollen kein Stadt-Land-Ge-
fälle . Das ist ganz besonders für die ländlichen Regionen
wichtig . Deswegen müssen wir alles daransetzen, um
diese Ungerechtigkeit zu vermeiden .
Ich darf mich ganz herzlich bei allen Kolleginnen und
Kollegen der Regierungsfraktionen bedanken, die im
Verkehrsausschuss mit Augenmaß Leitlinien für die Zu-
kunft geschaffen haben. Ich glaube, wir alle können kon-
statieren – wenn wir es ehrlich meinen, wenn wir nicht
versuchen, das Ganze populistisch schlechtzureden –,
dass wir im Ergebnis heute Abend einen Gesetzentwurf
mit einem Änderungs- und einem Entschließungsantrag
der Koalitionsfraktionen verabschieden, die ein absolut
gelungenes Gesamtpaket darstellen . Wir haben in dieser
Legislaturperiode unsere Ziele bezüglich der Lkw-Maut
erreicht. Aber wir haben auch eine sehr gute Position ge-
schaffen für die nächsten Jahre.
Abschließend ist es mir noch einmal wichtig, zu beto-
nen: Wir wollen mit unserer Verkehrspolitik Mobilität er-
möglichen, nicht Mobilität verhindern . Mobilität braucht
Infrastruktur . Unsere wachsende Wirtschaft braucht In-
frastruktur . Das ist zumindest für diejenigen, die außer-
halb bestimmter ideologischer Kreise sind, eine Binsen-
weisheit .
Vielen Dank .
Vielen Dank, Dorothee Bär . – Nächster Redner:
Herbert Behrens für die Linke .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mühsam, unendlich mühsam war dieser Prozess, um zu
dem Gesetzentwurf zu kommen, den wir heute vorliegen
haben . Es geht um die Ausweitung der Lkw-Maut auf
alle Bundesstraßen . Schon lange wird die Forderung von
verschiedenen Parteien erhoben. Aber das ist auch das
Einzige, was erhoben wird . Bislang wird die Maut nicht
auf allen Bundesstraßen erhoben .
Es könnte eigentlich ein ganz guter Tag sein – das
wurde von Ihnen erwähnt, Frau Bär –, deswegen, weil
er diese Entscheidung nach sich zieht . Mit der Mautaus-
weitung wird endlich ein Wettbewerbsnachteil der Bahn
beim Güterverkehr deutlich verringert; denn die Bahn
muss bekanntlich für jeden gefahrenen Kilometer bezah-
len . Das war bei den Lkw-Gütertransporten bislang nicht
der Fall . Diese Ungleichbehandlung ist einer der Gründe
dafür, dass in den letzten Jahren immer mehr Güter auf
der Straße transportiert wurden und der Güterverkehr
auf der Schiene stagniert . Ich bin sicher, dass wir hier
im Parlament diesen Trend umkehren können, und die
Mautausweitung ist ein erster Schritt in diese Richtung .
Andere müssen noch folgen; das wissen wir, glaube ich .
Dass dieser Weg beschritten werden muss, das wird je-
dem klar sein . Das hat ja die lange Diskussion über die-
ses Thema gezeigt .
Wir wissen: Der massiv wachsende Straßengüterver-
kehr hat negative Folgen für Mensch und Umwelt; das
kann niemand ernsthaft bestreiten . Das müssen wir jetzt
ändern, damit wir auf unserem Weg weiterkommen . Aber
der Teufel steckt bekanntlich im Detail, und diese Details
trüben dann doch die Genugtuung über den hier vorge-
legten Gesetzentwurf .
Es gibt eine lange Liste von Einwänden gegen dieses
Gesetz und gegen die Mautpolitik der Bundesregierung .
Ich will allerdings nur drei ansprechen . Meine Fraktion
hat dies mit Anträgen unterlegt .
Erstens . Wieder einmal konnte sich die Bundesregie-
rung nicht dazu durchringen, auch die Fernbusse in die
Mautpflicht zu übernehmen. Nun hat der Verkehrsminis-
ter nicht versucht, ausländische Busse in die Mautpflicht
aufzunehmen; zum Glück ist er auf diese Idee nicht ge-
kommen . Die Linke dringt weiterhin entschieden darauf,
Parl. Staatssekretärin Dorothee Bär
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20637
(C)
(D)
dass eine Maut für Fernbusse in dieses Gesetz aufgenom-
men wird .
Eine Fernbusmaut ist sinnvoll, fair, gerecht und vor al-
len Dingen längst überfällig. Meine Hoffnung ist, dass
unser vorliegender Änderungsantrag heute eine Mehrheit
finden könnte – das ist ein Hinweis an die Kolleginnen
und Kollegen der SPD –, wenn man sich auf die eigenen
Vorschläge zurückbesinnen würde .
Zweitens . Man hätte mit dem Gesetzentwurf eine
grundsätzliche Schwäche des deutschen Mautgesetzes
beseitigen können, nämlich den Finanzierungskreislauf
Straße . Dieser besagt, dass jeder Euro an Mauteinnah-
men wieder in den Straßenbau zurückfließen soll, und
das ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, wirklich wider-
sinnig, und es ist zynisch .
Seit mehr als einem Jahr sind auch die Klimakosten
des Lkw-Verkehrs Bestandteil der Lkw-Maut . Es kann
nicht angehen, dass der Mautteilsatz für Klimaschäden
des Straßengüterverkehrs dazu verwendet werden soll,
die Grundlage für noch mehr Güterverkehr auf der Straße
zu schaffen. Das ist doch wirklich widersinnig. Güterver-
kehr muss umweltverträglicher werden, und zwar sofort .
Ein dritter ganz wesentlicher Punkt bei der Lkw-Maut
ist die Frage, wie mit dem Mautbetreiber Toll Collect
umgegangen wird . Der Bund hat sich entschieden, nach
Vertragsende im Jahr 2018 beim Mautbetrieb wieder auf
das private Unternehmen zurückzugreifen . Das ist aus
Sicht der Linken völlig falsch .
Wenn uns die Geschichte der Lkw-Maut eines gelehrt
hat, dann das, dass man sich auf eine öffentlich-private
Partnerschaft – und genau darum handelt es sich hier ja –
nicht verlassen kann . Ich rede nicht davon, dass wir uns
seit zehn Jahren bemühen, die 7 Milliarden Euro Maut-
ausfall einzuklagen . Ich rede davon, dass Schluss ge-
macht werden muss mit öffentlich-privaten Partnerschaf-
ten . Wir sind der Meinung: Der Bund muss die Maut in
Eigenregie übernehmen, damit es hier vorangehen kann .
Darum werden wir uns bei der Abstimmung zum Ge-
setzentwurf, den wir im Kern gut finden und dem wir
eigentlich zustimmen wollen, aufgrund der Mängel der
Stimme enthalten . Wir können uns nicht durchringen,
zuzustimmen .
Denn aus einem krummen Antrag wird keine gerade Sa-
che .
Vielen Dank, Herbert Behrens . – Nächster Redner:
Sebastian Hartmann für die SPD-Fraktion.
Meine sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr ge-
ehrten Damen und Herren! Was lange währt, wird end-
lich gut .
Angesichts der Aussagen, die von der Linken kommen,
kann man sagen: Eine Enthaltung der Linken ist schon
fast eine Zustimmung .
Sie haben sich ja richtig viel Mühe geben müssen, um
überhaupt etwas zu finden, was man kritisieren kann.
Nun haben Sie sich für eine kräftige Enthaltung entschie-
den . Das ist ja richtig mutig in der Verkehrspolitik . Dabei
ist Ihr Problem, dass Sie sich nicht einfach hinter den tol-
len Koalitionsvertrag stellen können . Denn wir haben ei-
nes klargemacht: Wir werden in den nächsten vier Jahren
die Bundesmittel für die Verkehrsinfrastruktur substan-
ziell erhöhen . Dies werden wir durch zusätzliche Mittel
aus der Nutzerfinanzierung durch den Lkw ergänzen. Die
bestehende Lkw-Maut wird auf alle Bundesstraßen aus-
geweitet .
Versprochen und gehalten; der Kollege Holmeier bringt
es genau auf den Punkt.
Wir als Große Koalition haben klare Aussagen getroffen,
die wir eins zu eins eingehalten haben . Wir stellen neben
die starke Säule der Steuerfinanzierung eine starke Säule
der Nutzerfinanzierung. Was will man mehr?
Sie haben große Mühe gehabt, Kritikpunkte zu fin-
den . Lassen Sie uns doch einmal auf die positiven Seiten
schauen: Wir werden in dieser Legislaturperiode so viel
in die deutsche Infrastruktur investieren wie noch nie-
mals zuvor . Morgen werden wir in der Debatte über den
Bundesverkehrswegeplan deutlich machen, wo überall
das Geld in die zukünftigen Infrastrukturen fließen wird.
– Sie kritisieren, dass das Geld in Wahlkreisen investiert
wird . Aber, liebe Frau Kollegin, wir alle werden in Wahl-
kreisen gewählt oder nicht gewählt,
Herbert Behrens
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620638
(C)
(D)
und mit diesen Investitionen tun wir etwas für die Infra-
struktur vor Ort . Das kann man doch nicht kritisieren .
Seien Sie froh, dass wir aus den Stauengpässen heraus-
kommen und endlich in eine moderne Infrastruktur in-
vestieren können .
Sie haben sich ja bemüht, bei der Lkw-Maut Kritik-
punkte zu finden. Schauen wir einmal auf die positiven
Punkte:
Wir werden die Maut auf alle Bundesstraßen auswei-
ten . Wenn wir diese Maut auf alle Bundesstraßen aus-
weiten, dann kommen wir damit unserer Verantwortung
nach. Wir werden auch die 8 Prozent der Bundesstraßen,
die in der kommunalen Baulast liegen, einbeziehen und
die Regelung so ausgestalten, dass die Länder ihren An-
teil bekommen und an die Kommunen weiterreichen .
Wir haben als Große Koalition den guten Entwurf der
Bundesregierung als Ausgangspunkt genommen und ihn
noch besser gemacht .
Wir haben Daten zur Verfügung gestellt . Die mCLOUD
ist von der Frau Staatssekretärin angesprochen worden .
Ja, auch mit diesen Daten wird man Verkehre in Zukunft
besser lenken können . Wir wissen, welche Daten bei der
Lkw-Maut generiert werden, und wir stellen sie dem Ver-
kehrssektor zur Verfügung .
Wir haben darüber hinaus das Problem erkannt, dass
durch eine ungleiche Anlastung der Kosten möglicher-
weise Erreichbarkeitsdefizite produziert werden, und
zwar an abgelegenen Orten, die nur durch Bundesstraßen
zu erreichen sind . Auch da haben wir als Große Koalition
sehr deutlich gesagt: Wir wollen durch diese Maut keine
falsche Lenkungswirkung erzeugen . Wir haben klar ge-
sagt: Keine unterschiedlichen Mautteilsätze an der Stelle,
sondern eine gerechte Anlastung .
Oppositionsvertreter mögen kritisieren, das sei nicht
genügend Internalisierung der externen Kosten . Für
alle, die nicht Verkehrspolitikerin oder Verkehrspolitiker
sind – ich sehe davon wenige heute Abend im Plenum –,
müsste ich jetzt sagen: Dabei geht es um die Frage, ob
wir mehr in Sachen Luftschadstoffe und mehr in Sachen
Lärm tun können . An dieser Stelle muss ich in Richtung
der Linken, die immer behaupten, wir müssten mehr ma-
chen, sehr deutlich sagen: Sie müssen in die EU-Richt-
linie schauen, die den Rechtsrahmen eindeutig vorgibt .
Wir würden an der Stelle gerne weiter gehen,
und wir wünschen der Bundesregierung in den Verhand-
lungen mit Brüssel viel Erfolg . Wir wünschen ihr so viel
Erfolg, wie sie in anderen Verhandlungen mit Brüssel
schon hatte, damit die Lkw-Maut mit Blick auf die In-
ternalisierung externer Kosten deutlich stärker ausge-
weitet werden kann, weil man so endlich zu einer echten
Vergleichbarkeit der Verkehrsträger Schiene und Straße
käme . Das ist der Weg, den wir weitergehen werden .
Wir werden an der Stelle nicht aufhören; denn es geht
nicht darum, den einen Verkehrsträger ideologisch gegen
den anderen auszuspielen. Hier kommt der zweite Punkt
hinzu: Wir brauchen Verlässlichkeit . Wir führen auf der
einen Seite, bei den Lkws, eine Ausweitung der Nutzer-
finanzierung herbei, haben auf der anderen Seite, bei den
Fernbussen, aber ein Moratorium für die Ausweitung der
Maut zugesagt und klare Zusagen für diese Legislatur-
periode gegeben . Wenn man in den Antragstext schaut,
stellt man fest, dass es bei dem neuen Wegekostengutach-
ten 2018 bis 2022 auch um die Prüfung der Ausweitung
der Nutzerfinanzierung auf andere Verkehrsträger geht.
Das ist mit dem Gewerbe vereinbart . Daran halten wir
uns. Das ist verlässliche Politik.
Wir sind auch an einem anderen Punkt sehr verläss-
lich: Wir haben dem Gewerbe mit Blick auf die Nutzer-
finanzierung eine Zusage zur Weitergabe der Mauthar-
monisierungsmittel gegeben . Wenn wir feststellen, dass
aufgrund der Richtlinienstruktur möglicherweise nicht
jeder Euro bei den Speditionen ankommt, obwohl wir in
Deutschland das versprochen haben, dann handeln wir
als Große Koalition . Schauen Sie in die Entschließung,
die wir formuliert haben . Wir haben dort sehr deutlich
formuliert: Jeder Euro, den wir dem Gewerbe zugesagt
haben, wird ausgegeben, und wenn die Richtlinie nicht
auskömmlich ist, dann wollen wir sie weiterentwickeln .
Wir haben der Bundesregierung wichtige Hinweise gege-
ben und gesagt, was wir uns vorstellen: neue Fördertatbe-
stände und eine einfachere Richtlinienstruktur, damit wir
dem Ziel – 450 Millionen Euro für die deutschen Spediti-
onen – immer näherkommen . Das ist eine Aussage; daran
werden wir uns messen lassen .
Damit sichern wir Tarifbeschäftigungsverhältnisse in
Deutschland . Das Speditionsgewerbe ist ein gutes Ge-
werbe, das dazu beiträgt, dass im Industriestaat Deutsch-
land auch zukünftig Waren vernünftig transportiert wer-
den können . Wir kommen unserer Verantwortung nach .
Nun wird man es sich als Opposition vielleicht einfach
machen können und sagen: Das hätte alles noch schneller
sein können . Das hätte noch mehr sein können .
– Schauen Sie einmal: Wenn Herr Behrens das wirklich
gedacht hätte, dann hätte er es ja gesagt . Er hat ja lan-
ge gesucht, bis er etwas gefunden hat, das er kritisieren
konnte . Er hat nichts gefunden . Sie können doch zufrie-
den sein .
Sebastian Hartmann
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20639
(C)
(D)
Denken Sie noch einmal einen Moment nach . Ändern Sie
Ihren Entschluss, sich zu enthalten . Stimmen Sie heute
zu . Dann können Sie nachher sagen: Es ist auch mithilfe
der Linken geschehen, was die Große Koalition im Zu-
sammenhang mit der Lkw-Maut an guten Sachen vor-
weggenommen hat .
Ich glaube, dass es ein guter Tag für die Verkehrsin-
frastrukturfinanzierung in Deutschland ist. Wir stellen
neben die starke Säule der Steuerfinanzierung eine starke
Säule der Nutzerfinanzierung. Das ist verantwortungs-
volle Verkehrspolitik .
– Jetzt bricht schon das Plenum zusammen.
Es wird schon randaliert .
Aber auch das werden wir zukünftig finanzieren kön-
nen, meine Damen und Herren . Denn so viel Geld wie
jetzt stand noch nie zur Verfügung .
Daher können wir morgen guten Gewissens den Bundes-
verkehrswegeplan 2030 beschließen . Das Geld ist da .
Herzlichen Dank .
Vielen Dank, lieber Sebastian Hartmann . – Hier gilt
das Verursacherprinzip . Ich sage Ihnen: Das wird teuer .
Nächste Rednerin in der Debatte: Dr . Valerie Wilms
für Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Nach diesem impulsiven Auftritt von Herrn Hartmann
bleibt morgen vielleicht noch ein bisschen Geld übrig,
um das zu reparieren, was dort auf der Koalitionsseite
zerlegt worden ist .
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird durchaus
ein Beitrag geleistet, die längerfristige Erhaltung der Ver-
kehrswege in den nächsten Jahren sicherzustellen . Das
ist heute tatsächlich mal eine gute Nachricht aus Rich-
tung der Bundesregierung .
Sonst finden wir da ja nicht allzu viel Gutes. Durch die
überfällige Ausweitung der Lkw-Maut auf alle Bundes-
straßen bleiben rund 2 Milliarden Euro mehr für den Er-
halt des Gemeingutes Straße . So weit, so gut .
Doch mit dem heutigen Tag gesellt sich trotz allen Ju-
bels über zusätzliche Einnahmen durch die Lkw-Maut,
der hier herrscht, eine schlechte Nachricht für die Finan-
zierung unserer Infrastruktur hinzu . Die Zeitungen titeln
heute, dass die EU-Kommission möglicherweise grünes
Licht für die CSU-Maut gibt .
Manch einer erinnert sich: Das war die bayerische Bier-
tischidee einer Pkw-Maut für Ausländer aus dem letzten
Wahlkampf . Doch die Bedenken sind mit dem Segen
der EU-Kommission noch nicht ausgeräumt . Es stellen
sich weiterhin wichtige Fragen: Wird diese Pkw-Maut
ausländische Fahrzeughalter diskriminieren? Wird kein
deutscher Fahrzeughalter schlechtergestellt?
– Kollege Hartmann, ich bin gespannt, wie sich die SPD
aus diesem Koalitionsvertrag herauswinden wird .
Die Quadratur des Kreises funktioniert nicht . Das
werden auch Sie noch erleben . Es heißt weiterhin: Ihre
Pkw-Maut bleibt Murks. Die Planungen dazu haben das
Ministerium jahrelang für wirklich vernünftige Arbeit
blockiert . So kann man keine Regierungsgeschäfte füh-
ren .
Jetzt kommen wir zur Ausweitung der Lkw-Maut .
Auch dort legen Sie mal wieder eine halbgare Lösung
vor .
Sie haben es verpasst, die innerörtlichen Ausweichver-
kehre ernsthaft zu verhindern . Hier brauchen Sie drin-
gend eine echte Lösung. Die finden wir nicht in Ihrem
Gesetzentwurf . In Ihrem System gibt es nämlich einen
Grundfehler: Sie hören mit der Lkw-Maut nicht vor ge-
schlossenen Ortschaften auf . Sie wollen die Maut auch in
der Ortsdurchfahrt auf Bundesstraßen erheben . Die Maut
wird dann auf den innerörtlichen Bundesstraßen fällig .
Auf Landes- und Gemeindestraßen wird dort keine Maut
erhoben. Das führt zwangsläufig zu Ausweichverkehren.
Das beste Beispiel dafür habe ich Minister Dobrindt –
Frau Bär war leider nicht da – im Fall von Hamburg mit
der Stresemannstraße, einer Bundesstraße, und der para-
llel verlaufenden Reeperbahn gezeigt . Viel Spaß!
Sebastian Hartmann
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620640
(C)
(D)
Ein Konzept, wie Sie dem wirksam begegnen wollen,
fehlt komplett . Das hat auch die Anhörung im Aus-
schuss gezeigt . Sie müssen aufpassen, dass Sie mit Ihrem
Schnellschuss sinnvolle Systeme für eine Nutzermitfi-
nanzierung bei kommunalen Straßen nicht von vornhe-
rein blockieren .
Ein weiterer Aspekt zeigt die Inkonsequenz Ihres
Handelns: Da basteln Sie in der Ausschlussberatung
noch schnell eine Befreiung für landwirtschaftliche Zug-
maschinen im gewerblichen Güterverkehr von der Maut
ein . Ich habe das jetzt einmal ziemlich deutlich zitiert .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Befreiung ist Un-
fug, echter Unfug .
Bereits heute werden landwirtschaftliche Fahrzeuge im
Baustellenverkehr anstelle von Baustellen-Lkws ein-
gesetzt . Fahren Sie einmal durch die Baustellen, Herr
Hartmann, von denen Sie in Nordrhein-Westfalen genug
haben müssten .
Sie schaffen so offenen Auges eine Ungleichbehandlung
zulasten der gewerblichen Transportunternehmen .
Ich bin gespannt, was die in Zukunft dazu sagen werden .
Mein Rat: Verlieren Sie vor lauter sinnloser Planung
um die Pkw-Maut nicht den Blick auf das Gesamtsys-
tem . – Ich habe den Eindruck, das Ministerium will un-
seren Rat sowieso nicht hören .
Die Mautlücke für Fahrzeuge zwischen 3,5 und
7,5 Tonnen muss auch geschlossen werden . Wir müssen
auch die Fernbusse in das System einbeziehen .
Sie müssen jetzt an Ihre Zeit denken .
Werte Frau Präsidentin, die Ausdehnung der Lkw-
Maut auf alle Bundesstraßen ist im Grundsatz richtig .
Da gehen wir durchaus mit allen hier mit . Aber aufgrund
der handwerklichen Fehler, die ich aufgezeigt habe, ist
Schluss mit lustig, und wir werden dem garantiert nicht
zustimmen .
Danke .
Vielen Dank, Dr . Valerie Wilms . Der letzte Redner
in dieser Debatte – ich gehe davon aus: des heutigen
Abends –: Thomas Jarzombek für die CDU/CSU-Frak-
tion .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
das Ende eines Tages, der ein sehr trauriger Tag für uns
ist. Ich schaue auf den Blumenstrauß. Mit Peter Hintze
ist ein Kollege von uns gegangen, der eine Lücke hin-
terlässt, von der ich noch nicht weiß, wie wir sie füllen
wollen . Aber das Leben geht weiter – wie auch immer .
Vielleicht mahnt das, in der Debattenkultur ein bisschen
auf die Werte zu achten, die Peter Hintze vorgelebt hat,
und nicht immer alles zum Klamauk zu machen und nicht
immer zu versuchen, aus kleinen Dingen große Skandale
zu konstruieren .
Das bringt mich jetzt zu der Lkw-Maut, über die wir
heute Abend beraten . Die Maut hat bei ihrer Einführung
2003 leider nicht das Vertrauen der Menschen in den
Staat gestärkt, weil es nicht funktioniert hat und weil da-
für vielleicht das Gleiche gilt wie für so manches andere
große Projekt: Man hat zu viel gewollt, ein zu großes Ge-
rät gebaut und einen zu optimistischen Ansatz gehabt, in
welcher Zeit man das schaffen kann.
Die Lkw-Maut ist aber auch ein Zeichen dafür, dass
man die Probleme lösen kann. Daraus ist ein großer Er-
folg entstanden . Nach der anfänglichen Verzögerung ha-
ben wir seit 2005 ein Mautsystem, das extrem gut ist,
extrem zuverlässig funktioniert, das über alle Zweifel
erhaben ist und das uns jedes Jahr kontinuierlich gute
Einnahmen für unseren Verkehrshaushalt bringt . Sie sind
auch richtig . So schön es ist, Frau Kollegin Wilms von
den Grünen, dass Sie hier über die Pkw-Maut reden – mit
der Lkw-Maut liefern wir den Beitrag dazu, dass unsere
Verkehrsinfrastruktur von denjenigen finanziert wird, die
den Verschleiß verursachen . Denn der Verschleiß auf der
Straße wird im Wesentlichen durch die Lkws verursacht .
Deshalb ist es gerecht, dass diese zur Refinanzierung he-
rangezogen werden .
Wir haben im Jahr 2015 4,4 Milliarden Euro über die
Lkw-Maut eingenommen . Wir erwarten jetzt 4,5 Milli-
arden Euro . Wir haben im letzten Jahr zum 1 . Juli wei-
tere 1 100 Kilometer vierspurige Bundesstraßen für die
Mautpflicht vorgesehen. Wir haben seit dem 1. Oktober
auch die Lkws ab 7,5 Tonnen einbezogen . Was wir jetzt
machen, ist eine Ausweitung auf das gesamte Netz der
Bundesfernstraßen . Das bringt uns weitere 2 Milliarden
Euro pro Jahr .
Das ist ein großer Erfolg . Man kann es sehen . Selbst
in Nordrhein-Westfalen mit den sehr rudimentären Pla-
nungskapazitäten wird jetzt gebaut .
Es ist auf einmal Geld im Haushalt vorhanden . Wäh-
rend wir in der letzten Legislaturperiode jedes Jahr da-
rum gerungen haben, die Investitionslinie von 10 Milli-
Dr. Valerie Wilms
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20641
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arden Euro zu halten, sind wir jetzt bei fast 13 Milliarden
Euro und haben weitere 5 Milliarden Euro für das ganz
neue Breitbandförderprogramm, von dem wir alle in-
zwischen überzeugt sind, dass das nicht das Ende, son-
dern der Anfang ist und dass wir – so schreibt es auch
der Bundesminister in seiner Agenda – Breitbandausbau
weiter finanzieren müssen. Das finde ich sehr richtig.
Wir haben bei der Lkw-Maut etwas Weiteres ge-
schafft, nämlich – was die Bundeskanzlerin hier an ver-
schiedener Stelle schon gesagt hat – den falsch verstan-
denen Datenschutz erfolgreich bekämpft . Neben vielen
anderen Aspekten ist es immer so gewesen, dass wir gute
Daten für die Entwicklung unserer Verkehrsinfrastruktur
aus der Lkw-Maut, von den On-Board-Units, hatten, die
nie genutzt wurden, deren weitere Nutzung per Gesetz
verboten war, weil immer behauptet wurde, es sei mit
dem Datenschutz nicht vereinbar . Da bedanke ich mich
bei den Ministerien, dass sie mit vielen konstruktiven
Gesprächen mit den Datenschutzbehörden, aber auch mit
Anwendern, mit Verkehrsforschern herausgearbeitet ha-
ben, dass diese Daten, wenn man sie anonymisiert, sehr
wohl für Verkehrsforschung und für Verkehrssteuerung
nutzbar sind .
Ich finde es wirklich großartig, dass das Verkehrs-
ministerium als das erste Haus beim Thema Open Data
richtig vorangegangen ist, mit der mCLOUD ein Portal
zur Verfügung gestellt hat, wo Verkehrsdaten, Wetterda-
ten – alles Mögliche – zur Verfügung gestellt werden für
Start-ups, für Hochschulen, für alle, die damit Innovatio-
nen machen wollen . Dass jetzt die Daten der Lkw-Maut
ebenfalls dort hineinkommen, ist ein großer Erfolg von
langer, langer Arbeit und ein Vorbild für alle anderen Pro-
jekte des Bundes; denn diese Koalition hat sich in ihrem
Vertrag darauf verständigt, ein Open-Data-Gesetz noch
in dieser Wahlperiode vorzulegen . Die Bundeskanzlerin
hat an dieser Stelle angekündigt, dass wir das noch tun
werden . Die Eckpunkte sind bereits da, und ich glaube,
dass das, was wir jetzt hier mit den Daten der Lkw-Maut
machen, ein gutes Vorbild für alle anderen Daten ist, die
der Staat hat, mit denen wir eine Menge neuer Arbeits-
plätze schaffen können. Die Konrad-Adenauer-Stiftung
hat eine Studie erstellt, die besagt: 40 000 neue Arbeits-
plätze sind damit möglich . – Das ist eines von vielen
kleinen Beispielen, mit denen man vielleicht nicht Dis-
kussionen am Stammtisch gewinnen kann, die aber dazu
beitragen, dass wir in Deutschland weiter wirtschaftlich
erfolgreich bleiben .
Deshalb freue ich mich, dass unser Paket so gut ist,
dass sogar die Opposition nicht dagegen stimmt . Das ist
doch ein gutes Zeichen für Zusammenhalt und konstruk-
tive Arbeit . Dafür bedanke ich mich und freue mich, dass
wir hier etwas Gutes schaffen.
Vielen Dank, Herr Kollege . – Damit schließe ich die
Aussprache .
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Än-
derung des Bundesfernstraßenmautgesetzes . Der Aus-
schuss für Verkehr und digitale Infrastruktur empfiehlt
unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/10440, den Gesetzentwurf der Bundes-
regierung auf Drucksache 18/9440 in der Ausschussfas-
sung anzunehmen .
Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion
Die Linke vor, über die wir zuerst abstimmen:
Änderungsantrag auf Drucksache 18/10497 . Wer
stimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt da-
gegen? – Wer enthält sich? – Der Änderungsantrag ist
abgelehnt . Zugestimmt hat die Linke, dagegen waren
SPD und CDU/CSU. Enthalten haben sich Bündnis 90/
Die Grünen .
Änderungsantrag auf Drucksache 18/10498 . Wer
stimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen gibt es keine . Der Änderungsantrag
ist abgelehnt . Zugestimmt haben die Linke und Bünd-
nis 90/Die Grünen. Dagegen haben CDU/CSU und SPD
gestimmt .
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, jetzt um das
Handzeichen . – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD.
Dagegengestimmt hat niemand . Enthalten haben sich die
Linke und Bündnis 90/Die Grünen .
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erheben . –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist angenommen . Zugestimmt haben CDU/CSU
und SPD. Dagegengestimmt hat niemand. Enthalten ha-
ben sich die Linke und Bündnis 90/Die Grünen .
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 18/10440 empfiehlt der Ausschuss für
Verkehr und digitale Infrastruktur, eine Entschließung
anzunehmen . Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die
Beschlussempfehlung ist angenommen . Zugestimmt
haben die CDU/CSU und die SPD. Dagegengestimmt
haben Bündnis 90/Die Grünen . Enthalten hat sich die
Linke .
Abstimmung über den Entschließungsantrag der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 18/10499 . Wer stimmt für
diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist abge-
lehnt . Zugestimmt hat die Linke . Dagegengestimmt ha-
ben die CDU/CSU und die SPD, und enthalten hat sich
Bündnis 90/Die Grünen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Neuordnung der Aufgaben der
Thomas Jarzombek
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620642
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Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung
Drucksachen 18/9530, 18/9955, 18/10307 Nr. 1
Beschlussempfehlung und Bericht des Haus-
haltsausschusses
Drucksache 18/10501
Die Reden gehen zu Protokoll.1)
Wir kommen direkt zur Abstimmung . Der Haushalts-
ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/10501, den Gesetzentwurf der Bundes-
regierung auf Drucksachen 18/9530 und 18/9955 in der
Ausschussfassung anzunehmen . Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen . – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Keine . Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung angenommen . Zugestimmt haben die
CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und die SPD. Dage-
gen war die Linke .
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erhe-
ben . – Wer stimmt dagegen? – Dann gibt es keine Ent-
haltungen . Der Gesetzentwurf ist angenommen . Zuge-
stimmt haben die CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen
und die SPD. Dagegen war die Linke.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
– Zweite und dritte Beratung des von den Frak-
tionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zum Erlass und zur
Änderung marktordnungsrechtlicher Vor-
schriften sowie zur Änderung des Einkom-
mensteuergesetzes
Drucksache 18/10237
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
Drucksache 18/10468
– Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/10502
Auch dazu gehen die Reden zu Protokoll.2)
Wir kommen zur Abstimmung . Der Ausschuss für
Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 18/10468, den Ge-
setzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf
Drucksache 18/10237 in der Ausschussfassung anzuneh-
men . Die Fraktion Die Linke hat beantragt, über den Ge-
setzentwurf in der Ausschussfassung getrennt abzustim-
men, und zwar zum einen über Artikel 3 – Änderung des
Einkommensteuergesetzes – und zum anderen über den
Gesetzentwurf im Übrigen .
1) Anlage 10
2) Anlage 11
Wir kommen also zunächst zu Artikel 3 des Gesetz-
entwurfs in der Ausschussfassung . Ich bitte diejenigen,
die Artikel 3 in der Ausschussfassung zustimmen wollen,
um das Handzeichen . – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Keine . Artikel 3 ist angenommen mit Zustim-
mung der CDU/CSU und der SPD bei Gegenstimmen
von der Linken und Bündnis 90/Die Grünen .
Wir kommen nun zu den übrigen Teilen des Gesetz-
entwurfs in der Ausschussfassung . Ich bitte diejenigen,
die zustimmen wollen, um ihr Handzeichen . – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die übrigen Tei-
le des Gesetzentwurfs sind angenommen . Zugestimmt
haben CDU/CSU und SPD. Enthalten haben sich Bünd-
nis 90/Die Grünen und die Linke . Niemand hat dagegen-
gestimmt . Damit sind alle Teile des Gesetzentwurfs in
zweiter Beratung angenommen .
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist angenommen . Zugestimmt haben CDU/CSU
und SPD. Enthalten haben sich die Linken und Bünd-
nis 90/Die Grünen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Energiestatistikge-
setzes
Drucksache 18/10350
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Innenausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Auch dazu gehen die Reden zu Protokoll.3)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/10350 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . – Heute
Abend gibt es sicher keine anderen Vorschläge . Dann ist
die Überweisung so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregie-
rung eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Vorbereitung eines register-
gestützten Zensus einschließlich einer
Gebäude- und Wohnungszählung 2021
Drucksachen 18/10458, 18/10484
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Auch dazu gehen die Reden zu Protokoll.4)
3) Anlage 12
4) Anlage 13
Vizepräsidentin Claudia Roth
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20643
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Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf den Drucksachen 18/10458 und 18/10484 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen . – Es gibt keine weiteren Vorschläge . Dann ist
die Überweisung so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes
zur Änderung des Sprengstoffgesetzes
Drucksache 18/10455
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Auch hierzu sollen die Reden zu Protokoll gegeben
werden . – Sie sind alle damit einverstanden .1)
1) Anlage 14
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 18/10455 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . – Es gibt keine
anderweitigen Vorschläge . Dann ist die Überweisung so
beschlossen .
Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Freitag, den 2 . Dezember 2016, 9 Uhr,
ein .
Die Sitzung ist geschlossen . Ich wünsche Ihnen einen
schönen Restabend . Ich bedanke mich bei meinen beiden
Schriftführerinnen, bei der Kollegin auf der Regierungs-
bank; danke, Frau Bär . Vor allem bedanke ich mich bei
den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Hauses, die
noch so lange gearbeitet haben, und auch bei den Kame-
raleuten . Guten Abend!