Protokoll:
18206

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 18

  • date_rangeSitzungsnummer: 206

  • date_rangeDatum: 1. Dezember 2016

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 10:02 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 23:06 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 18/206 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 206. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 1. Dezember 2016 Inhalt: Würdigung des Vizepräsidenten Peter Hintze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20487 A Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- neten Dr. Heinz Riesenhuber . . . . . . . . . . . . 20488 A Wahl des Herrn Prof. Dr. Rainer Eckert als Mitglied des Wissenschaftlichen Beratungs- gremiums gemäß § 39 a des Stasiunterla- gengesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20488 B Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20488 B Absetzung der Tagesordnungspunkte 19, 35 a und 31 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20489 A Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . . 20489 B Tagesordnungspunkt 3: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) Drucksachen 18/9522, 18/9954, 18/10102 Nr . 16, 18/10523 . . . . . . . . . 20489 C – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/10526 . . . . . . . . . . . . . 20489 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales – zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin Werner, Sigrid Hupach, Matthias W . Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Das Teilha- berecht menschenrechtskonform ge- stalten – zu dem Antrag der Abgeordneten Corinna Rüffer, Kerstin Andreae, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Mit dem Bundesteilhabe- gesetz volle Teilhabe ermöglichen Drucksachen 18/10014, 18/9672, 18/10523 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20489 D Andrea Nahles, Bundesministerin BMAS . . . 20489 D Dr . Dietmar Bartsch (DIE LINKE) . . . . . . . . . 20491 A Karl Schiewerling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 20492 D Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20494 A Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) . . . . . 20494 D Kerstin Tack (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20495 C Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20496 D Katrin Werner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 20498 B Dr . Astrid Freudenstein (CDU/CSU) . . . . . . . 20499 B Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20500 C Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) . . . . . 20501 A Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20502 A Thomas Stritzl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 20502 C Dr. Carola Reimann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 20503 D Uwe Schummer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 20504 C Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20505 A Kerstin Tack (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20506 B Gabriele Schmidt (Ühlingen) (CDU/CSU) . . . 20507 D Jutta Eckenbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 20508 D Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016II Tagesordnungspunkt 4: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Dritten Gesetzes zur Stär- kung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vor- schriften (Drittes Pflegestärkungsge- setz – PSG III) Drucksachen 18/9518, 18/9959, 18/10102 Nr . 19, 18/10510 . . . . . . . . . 20510 B – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/10511 . . . . . . . . . . . . . 20510 B b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit – zu dem Antrag der Abgeordneten Pia Zimmermann, Sabine Zimmermann (Zwickau), Matthias W . Birkwald, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Pflege teilhabeorientiert und wohnortnah gestalten – zu dem Antrag der Abgeordneten Elisabeth Scharfenberg, Kordula Schulz-Asche, Maria Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Pflege vor Ort gestalten – Bessere Bedin- gungen für eine nutzerorientierte Versorgung schaffen Drucksachen 18/8725, 18/9668, 18/10510 20510 C Ingrid Fischbach, Parl. Staatssekretärin BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20510 C Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20512 B Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 20513 C Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20514 D Maria Michalk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 20516 B Pia Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 20518 A Hilde Mattheis (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20519 C Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20520 D Erwin Rüddel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 20521 D Mechthild Rawert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 20523 A Erich Irlstorfer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 20524 C Heike Baehrens (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20525 C Tino Sorge (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 20526 C Tagesordnungspunkt 5: a) Antrag der Abgeordneten Matthias W . Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Zeit für einen Kurswechsel – Rentenniveau deutlich anheben Drucksache 18/10471 . . . . . . . . . . . . . . . . 20528 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias W . Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Rentenniveau anheben – Für eine gute, lebensstan- dardsichernde Rente Drucksachen 18/6878, 18/10517 . . . . . . . . 20528 D Matthias W . Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . 20528 D Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . . 20530 D Matthias W . Birkwald (DIE LINKE) . . . . . 20531 D Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20533 C Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20535 B Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20536 A Stephan Stracke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 20537 B Dr. Martin Rosemann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 20538 C Jana Schimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 20540 A Ralf Kapschack (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20542 A Kerstin Griese (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20543 A Tagesordnungspunkt 35: b) Antrag der Abgeordneten Özcan Mutlu, Tabea Rößner, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Die digitale Welt verstehen und mitgestalten – Lernen und Lehren digitalisieren Drucksache 18/6203 . . . . . . . . . . . . . . . . . 20544 B c) Antrag der Abgeordneten Özcan Mutlu, Kai Gehring, Beate Walter-Rosenheimer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bildungs- einrichtungen fit für die digitale Gesell- schaft und die Zukunft machen Drucksache 18/10474 . . . . . . . . . . . . . . . . 20544 C Zusatztagesordnungspunkt 2: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Drit- ten Gesetzes zur Änderung des Bundes- waldgesetzes Drucksache 18/10456 . . . . . . . . . . . . . . . . 20544 C b) Antrag der Abgeordneten Peter Meiwald, Oliver Krischer, Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Minamata- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 III Konvention zu Quecksilber unverzüg- lich ratifizieren Drucksache 18/7657 . . . . . . . . . . . . . . . . . 20544 D c) Antrag der Abgeordneten Dr . Valerie Wilms, Beate Walter-Rosenheimer, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Nachhaltigkeit im politischen Prozess verankern Drucksache 18/10475 . . . . . . . . . . . . . . . . 20544 D d) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Erster Bericht der Bundesregierung über die Auswirkungen des Contergan- stiftungsgesetzes sowie über die gegebe- nenfalls notwendige Weiterentwicklung dieser Vorschriften Drucksache 18/8780 . . . . . . . . . . . . . . . . . 20544 D Tagesordnungspunkt 36: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einbeziehung der Bundespolizei in den Anwendungsbe- reich des Bundesgebührengesetzes Drucksachen 18/9759, 18/10276 . . . . . . . . 20545 A b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richt- linie 2014/55/EU über die elektronische Rechnungsstellung im öffentlichen Auf- tragswesen Drucksachen 18/9945, 18/10287 . . . . . . . . 20545 B c) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ver- sorgungsrücklagegesetzes und weiterer dienstrechtlicher Vorschriften Drucksachen 18/9532, 18/9834, 18/10512 20545 C d) Zweite Beratung und Schlussabstim- mung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 7. April 2016 zwi- schen der Regierung der Bundesrepu- blik Deutschland und der Regierung der Französischen Republik über den grenzüberschreitenden Einsatz von Luftfahrzeugen zur Ergänzung des Ab- kommens vom 9. Oktober 1997 über die Zusammenarbeit der Polizei- und Zoll- behörden in den Grenzgebieten Drucksachen 18/9988, 18/10492 . . . . . . . . 20546 A e) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Ab- geordneten Annette Groth, Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Freiheit für Mumia Abu-Jamal Drucksachen 18/4722, 18/7349 . . . . . . . . . 20546 B f) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung und Landwirt- schaft zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Antibiotika-Resis- tenzen vermindern – Erfolgreichen Weg bei Antibiotikaminimierung in der Hu- man- und Tiermedizin gemeinsam wei- tergehen Drucksachen 18/9789, 18/10308 . . . . . . . . 20546 B g)–l) Beratung der Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses: Sammelübersich- ten 382, 383, 384, 385, 386 und 387 zu Petitionen Drucksachen 18/10421, 18/10422, 18/10423, 18/10424, 18/10425 und 18/10426 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20546 C Tagesordnungspunkt 6: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Verantwortung in der kerntechnischen Entsorgung Drucksachen 18/10353, 18/10482 . . . . . . . . . 20547 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 3: Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/ CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Verantwortung in der kerntechnischen Entsorgung Drucksache 18/10469 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20547 B Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . 20547 C Hubertus Zdebel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 20548 D Dr . Michael Fuchs (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 20549 C Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20550 D Dr. Nina Scheer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20551 D Dr . Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 20552 D Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20554 A Tagesordnungspunkt 7: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der steuerlichen Verlustverrechnung bei Körperschaften Drucksachen 18/9986, 18/10348, 18/10444 Nr . 1 .7, 18/10495 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20554 C Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016IV – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/10504 . . . . . . . . . . . . . . . . 20554 D Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . 20554 D Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 20556 A Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . . 20557 A Dr . Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20558 C Dr . h . c . Hans Michelbach (CDU/CSU) . . . . . 20559 C Matthias Ilgen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20560 B Dr . Heinz Riesenhuber (CDU/CSU) . . . . . . . . 20561 B Zusatztagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Britta Haßelmann, Luise Amtsberg, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Parteiensponsoring regeln Drucksache 18/10476 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20563 A Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20563 A Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . 20564 B Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20566 A Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . 20566 B Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 20566 C Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 20567 C Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 20568 D Dietmar Nietan (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20569 D Barbara Woltmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 20571 B Tagesordnungspunkt 9: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Dritten Gesetzes zur Än- derung des Asylbewerberleistungs- gesetzes Drucksachen 18/9985, 18/10351, 18/10444 Nr . 1 .9, 18/10521 . . . . . . . . . 20572 B – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/10522 . . . . . . . . . . . . . 20572 C b) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen sowie zur Ände- rung des Zweiten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch Drucksachen 18/9984, 18/10349, 18/10444 Nr . 1 .8, 18/10519 . . . . . . . . . 20572 C – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/10520 . . . . . . . . . . . . . 20572 C c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozi- ales zu dem Antrag der Abgeordne- ten Dr . Wolfgang Strengmann-Kuhn, Kerstin Andreae, Markus Kurth, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Exis- tenzminimum verlässlich absichern, gesellschaftliche Teilhabe ermögli- chen Drucksachen 18/10250, 18/10519 . . . . 20572 D Gabriele Lösekrug-Möller, Parl. Staatssekre- tärin BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20572 D Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 20573 C Jana Schimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 20574 C Dr . Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . 20575 B Daniela Kolbe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20576 C Dr . Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 20577 C Dagmar Schmidt (Wetzlar) (SPD) . . . . . . . . . 20578 D Tobias Zech (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 20580 A Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . 20581 C Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20587 C Tagesordnungspunkt 10: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Arbeit und Soziales – zu dem Antrag der Abgeordneten Jutta Krellmann, Klaus Ernst, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Die Wahl von Betriebsräten erleichtern und die betriebliche Interes- senvertretung sicherstellen – zu dem Antrag der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Katja Keul, Dr . Thomas Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Mehr Betriebsrätinnen und Betriebsräte braucht das Land Drucksachen 18/5327, 18/2750, 18/7595 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20581 D Bernd Rützel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20582 A Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 20583 A Wilfried Oellers (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 20584 A Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20586 A Markus Paschke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20589 D Dr. Martin Pätzold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 20591 A Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 V Tagesordnungspunkt 32: Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streit- kräfte am NATO-geführten Einsatz Reso- lute Support für die Ausbildung, Beratung und Unterstützung der afghanischen natio- nalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte in Afghanistan Drucksache 18/10347 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20592 B Dr . Ursula von der Leyen, Bundesministerin BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20592 B Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 20593 C Michael Roth, Staatsminister AA . . . . . . . . . . 20594 C Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20596 C Jürgen Hardt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 20597 C Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 20598 C Tagesordnungspunkt 12: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Recht und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Keul, Luise Amtsberg, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Gesetzliche Grundlage für Angehörigenschmerzensgeld schaffen Drucksachen 18/5099, 18/10076 . . . . . . . . . . 20599 C Dr. Johannes Fechner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 20599 D Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE) . . . 20600 C Dr . Hendrik Hoppenstedt (CDU/CSU) . . . . . . 20601 B Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20602 D Dr. Matthias Bartke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 20604 A Alexander Hoffmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . 20604 D Tagesordnungspunkt 13: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Seefi- schereigesetzes Drucksachen 18/9466, 18/10496 . . . . . . . . . . 20605 D Ingrid Pahlmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 20606 A Birgit Menz (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 20607 A Johann Saathoff (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20607 D Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20609 B Kordula Kovac (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 20610 C Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . 20611 D Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20614 C Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Wolfgang Gehrcke, Andrej Hunko, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Türkei-Politik neu ausrichten Drucksache 18/10472 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20612 A Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 20612 A Dr . Andreas Nick (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 20613 A Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20617 A Dr. Dorothee Schlegel (SPD) . . . . . . . . . . . . . 20618 B Dr . Alexander S . Neu (DIE LINKE) . . . . . . . . 20619 C Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20619 D Alexander Radwan (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 20620 A Tagesordnungspunkt 15: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Wirtschaft und Energie zu der Verordnung der Bundesnetzagentur für Elek- trizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen: Verordnung zur Förderung der Transparenz auf dem Telekommunika- tionsmarkt (TK-Transparenzverordnung – TKTransparenzV) Drucksachen 18/8804, 18/8934 Nr . 2, 18/10508 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20621 B Tagesordnungspunkt 16: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucher- schutz zu dem Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, Omid Nouripour, Luise Amtsberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Keine Straflosigkeit bei Kriegsverbre- chen – Völkerstrafprozesse in Deutsch- land voranbringen Drucksachen 18/6341, 18/10296 . . . . . . . . 20621 C b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Völker- strafgesetzbuches Drucksachen 18/8621, 18/10509 . . . . . . . . 20621 C Tagesordnungspunkt 17: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Änderungen der EU-Amtshilfe- richtlinie und von weiteren Maßnah- men gegen Gewinnkürzungen und -verlagerungen Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016VI Drucksachen 18/9536, 18/9956, 18/10102 Nr . 17, 18/10506 . . . . . . . . . 20622 A – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/10507 . . . . . . . . . . . . . 20622 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr . Thomas Gambke, Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Mit Transparenz Steuervermeidung multinationaler Unternehmen eindämmen – Coun- try-by-Country-Reporting einführen – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr . Thomas Gambke, Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Steuerschlupflöcher schließen – Gewinnverlagerung durch Lizenzzahlungen einschrän- ken Drucksachen 18/2617, 18/9043, 18/10506 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20622 B Tagesordnungspunkt 18: Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke, Dr . Rosemarie Hein, Sigrid Hupach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Inklusive Bildung für alle – Ausbau inklusi- ver Hochschulen fördern Drucksache 18/9127 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20622 D Tagesordnungspunkt 20: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften zur Vergabe von Wegenutzungsrechten zur leitungsgebundenen Energieversorgung Drucksachen 18/8184, 18/10503 . . . . . . . . . . 20623 A Tagesordnungspunkt 21: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsiche- rung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhil- fe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetz- buch Drucksachen 18/10211, 18/10518 . . . . . . . . . . 20623 B Anette Kramme, Parl. Staatssekretärin BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20623 C Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20624 A Dr. Martin Pätzold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 20625 A Dr . Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . 20625 D Dagmar Schmidt (Wetzlar) (SPD) . . . . . . . . . 20626 D Tobias Zech (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 20627 D Tagesordnungspunkt 22: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Luftsi- cherheitsgesetzes Drucksachen 18/9752, 18/9833, 18/10493 . . . 20629 B Tagesordnungspunkt 23: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung der Insol- venzordnung Drucksachen 18/9983, 18/10263, 18/10444 Nr . 1 .4, 18/10470 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20629 C Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD) . . . . . . . . . . . . 20629 D Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 20631 A Dr . Heribert Hirte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 20631 D Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20633 A Alexander Hoffmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . 20634 A Tagesordnungspunkt 24: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Bundesfernstraßenmautgesetzes Drucksachen 18/9440, 18/10440 . . . . . . . . 20635 A – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/10441 . . . . . . . . . . . . . . . . 20635 B Dorothee Bär, Parl. Staatssekretärin BMVI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20635 B Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 20636 C Sebastian Hartmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 20637 C Dr . Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20639 B Thomas Jarzombek (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 20640 C Tagesordnungspunkt 25: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Auf- gaben der Bundesanstalt für Finanzmarkt- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 VII stabilisierung (FMSA-Neuordnungsgesetz – FMSANeuOG) Drucksachen 18/9530, 18/9955, 18/10307 Nr . 1, 18/10501 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20642 A Tagesordnungspunkt 26: – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Erlass und zur Änderung marktord- nungsrechtlicher Vorschriften sowie zur Änderung des Einkommensteuergeset- zes Drucksachen 18/10237, 18/10468 . . . . . . . 20642 B – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/10502 . . . . . . . . . . . . . . . . 20642 B Tagesordnungspunkt 27: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Energiestatis- tikgesetzes (EnStatG) Drucksache 18/10350 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20642 C Tagesordnungspunkt 28: Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vorbereitung eines registergestützten Zensus einschließlich einer Gebäude- und Wohnungszählung 2021 (Zensusvorberei- tungsgesetz 2021 – ZensVorbG 2021) Drucksachen 18/10458, 18/10484 . . . . . . . . . 20642 D Tagesordnungspunkt 29: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Geset- zes zur Änderung des Sprengstoffgesetzes Drucksache 18/10455 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20643 A Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20643 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . . 20645 A Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordne- ten Corinna Rüffer, Kerstin Andreae, Ekin Deligöz, Katharina Dröge, Harald Ebner, Kai Gehring, Bärbel Höhn, Katja Keul, Sven-Christian Kindler, Maria Klein- Schmeink, Sylvia Kotting-Uhl, Monika Lazar, Dr. Tobias Lindner, Peter Meiwald, Beate Müller-Gemmeke, Lisa Paus, Claudia Roth (Augsburg), Dr . Wolfgang Strengmann- Kuhn, Dr . Julia Verlinden und Beate Walter- Rosenheimer (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN) zu der Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf ei- nes Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behin- derungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) (Tagesordnungspunkt 3 a) . . . . . . . . . . . . . . . . 20645 C Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Ulla Schmidt (Aachen) (SPD) zu der Abstim- mung über den von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften (Drittes Pflegestärkungsgesetz – PSG III) (Tagesordnungspunkt 4 a) . . . . . . . . . . . . . . . . 20646 B Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie (9 . Ausschuss) zu der Verordnung der Bundes- netzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommu- nikation, Post und Eisenbahnen: Verordnung zur Förderung der Transparenz auf dem Tele- kommunikationsmarkt (TK-Transparenzver- ordnung – TKTransparenzV) (Tagesordnungspunkt 15) . . . . . . . . . . . . . . . . 20646 C Hansjörg Durz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 20646 D Klaus Barthel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20648 A Thomas Lutze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 20650 C Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20650 D Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Recht und Verbrau- cherschutz (6 . Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, Omid Nouripour, Luise Amtsberg, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Keine Straflosigkeit bei Kriegsverbrechen – Völkerstrafprozesse in Deutschland voranbringen – des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Völkerstrafgesetzbuches (Tagesordnungspunkt 16 a und b) . . . . . . . . . . 20651 C Dr . Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . . 20651 C Dr . Volker Ullrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 20652 C Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016VIII Dirk Wiese (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20653 B Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 20654 A Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20655 A Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset- zung der Änderungen der EU-Amtshilfe- richtlinie und von weiteren Maßnahmen gegen Gewinnkürzungen und -verlagerun- gen – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr . Thomas Gambke, Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Mit Transparenz Steuervermeidung multinationaler Unternehmen eindämmen – Country-by-Country-Reporting einfüh- ren – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr . Thomas Gambke, Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Steuerschlupflöcher schließen – Ge- winnverlagerung durch Lizenzzahlungen einschränken (Tagesordnungspunkt 17 a und b) . . . . . . . . . . 20656 A Markus Koob (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 20656 B Dr . Mathias Middelberg (CDU/CSU) . . . . . . . 20657 A Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . . 20658 A Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 20660 A Dr . Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20660 C Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole Gohlke, Dr . Rosemarie Hein, Sigrid Hupach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Inklusive Bildung für alle – Ausbau inklusiver Hochschulen fördern (Tagesordnungspunkt 18) . . . . . . . . . . . . . . . . 20662 D Xaver Jung (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 20662 D Uwe Schummer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 20663 C Oliver Kaczmarek (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 20664 C Dr . Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . 20665 C Nicole Gohlke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 20667 A Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20667 C Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften zur Vergabe von Wegenutzungs- rechten zur leitungsgebundenen Energiever- sorgung (Tagesordnungspunkt 20) . . . . . . . . . . . . . . . . 20668 C Ingbert Liebing (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 20668 C Johann Saathoff (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20669 C Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . . 20670 D Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20672 A Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Luftsicherheitsgesetzes (Tagesordnungspunkt 22) . . . . . . . . . . . . . . . . 20672 C Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) . . . . . . 20672 D Peter Wichtel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 20673 C Susanne Mittag (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20674 B Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 20675 C Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20676 C Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Aufgaben der Bundesanstalt für Finanzmarkt- stabilisierung (FMSA-Neuordnungsgesetz – FMSANeuOG) (Tagesordnungspunkt 25) . . . . . . . . . . . . . . . . 20677 A Dr . André Berghegger (CDU/CSU) . . . . . . . . 20677 A Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . 20677 D Dr . Hans-Ulrich Krüger (SPD) . . . . . . . . . . . . 20678 D Roland Claus (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 20680 A Dr . Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20680 D Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Erlass und zur Änderung marktordnungs- rechtlicher Vorschriften sowie zur Änderung des Einkommensteuergesetzes (Tagesordnungspunkt 26) . . . . . . . . . . . . . . . . 20681 B Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 IX Kees de Vries (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 20681 C Dr . Wilhelm Priesmeier (SPD) . . . . . . . . . . . . 20681 D Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 20682 D Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20683 D Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Energiestatistikgesetzes ( EnStatG) (Tagesordnungspunkt 27) . . . . . . . . . . . . . . . . 20684 C Thomas Bareiß (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 20684 C Florian Post (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20685 D Johann Saathoff (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20686 B Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . . 20687 A Dr . Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20687 C Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vorbereitung ei- nes registergestützten Zensus einschließlich einer Gebäude- und Wohnungszählung 2021 (Zensusvorbereitungsgesetz 2021 – ZensVorbG 2021) (Tagesordnungspunkt 28) . . . . . . . . . . . . . . . . 20688 B Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 20688 B Dr . Tim Ostermann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 20688 D Matthias Schmidt (Berlin) (SPD) . . . . . . . . . . 20689 C Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . 20690 B Dr . Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20691 A Anlage 14 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Ände- rung des Sprengstoffgesetzes (Tagesordnungspunkt 29) . . . . . . . . . . . . . . . . 20692 A Oswin Veith (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 20692 A Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 20693 A Martina Renner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 20693 D Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20694 B Dr . Günter Krings, Parl . Staatssekretär BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20694 D (A) (C) (B) (D) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20487 206. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 1. Dezember 2016 Beginn: 10 .02 Uhr
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    Vizepräsidentin Claudia Roth (A) (C) (B) (D) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20645 Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Barthle, Norbert CDU/CSU 01 .12 .2016 Beck (Bremen), Marieluise BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 01 .12 .2016 Bülow, Marco SPD 01 .12 .2016 Dobrindt, Alexander CDU/CSU 01 .12 .2016 Dörner, Katja BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 01 .12 .2016 Ernst, Klaus DIE LINKE 01 .12 .2016 Ernstberger, Petra SPD 01 .12 .2016 Fabritius, Dr . Bernd CDU/CSU 01 .12 .2016 Ferner, Elke SPD 01 .12 .2016 Gehrcke, Wolfgang DIE LINKE 01 .12 .2016 Groth, Annette DIE LINKE 01 .12 .2016 Hendricks, Dr . Barbara SPD 01 .12 .2016 Högl, Dr . Eva SPD 01 .12 .2016 Jung, Andreas CDU/CSU 01 .12 .2016 Kunert, Katrin DIE LINKE 01 .12 .2016 Lerchenfeld, Philipp Graf CDU/CSU 01 .12 .2016 Möhring, Cornelia DIE LINKE 01 .12 .2016 Müller, Dr . Gerd CDU/CSU 01 .12 .2016 Nouripour, Omid BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 01 .12 .2016 Pilger, Detlev SPD 01 .12 .2016 Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 01 .12 .2016 Schlecht, Michael DIE LINKE 01 .12 .2016 Schulze, Dr. Klaus-Peter CDU/CSU 01 .12 .2016 Schwartze, Stefan SPD 01 .12 .2016 Silberhorn, Thomas CDU/CSU 01 .12 .2016 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Strebl, Matthäus CDU/CSU 01 .12 .2016 Tank, Azize DIE LINKE 01 .12 .2016 Thönnes, Franz SPD 01 .12 .2016 Wawzyniak, Halina DIE LINKE 01 .12 .2016 Zeulner, Emmi * CDU/CSU 01 .12 .2016 Zypries, Brigitte SPD 01 .12 .2016 *aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Corinna Rüffer, Kerstin Andreae, Ekin Deligöz, Katharina Dröge, Harald Ebner, Kai Gehring, Bärbel Höhn, Katja Keul, Sven-Christian Kindler, Maria Klein-Schmeink, Sylvia Kotting-Uhl, Monika Lazar, Dr. Tobias Lindner, Peter Meiwald, Beate Müller-Gemmeke, Lisa Paus, Claudia Roth (Augsburg), Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Dr. Julia Verlinden und Beate Walter-Rosenheimer (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zu der Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbst- bestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) (Tagesordnungs- punkt 3 a) Seit bekannt wurde, welche Neuregelungen die Große Koalition mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) treffen möchte, protestierten Menschen mit und ohne Behinde- rungen: Sie haben sich vor dem Reichstag ans Ufer der Spree gekettet, wochenlang vor dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales protestiert, für die erfolgreichs- te ihrer zahlreichen Petitionen mehr als 330 000 Un- terzeichnende gefunden und zu Tausenden im ganzen Land protestiert. Sie haben damit ihren Protest gegen ein Gesetz zum Ausdruck gebracht, das die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen nur in wenigen Bereichen stärkt und mit dem viele behinderte Menschen nicht wie versprochen besser, sondern teils sogar schlechter daste- hen als bisher . Dabei wäre es höchste Zeit für einen weiteren Schritt in diese Richtung . Schon im letzten Jahr hatte der zustän- dige Fachausschuss der Vereinten Nationen ein harsches Urteil zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonven- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620646 (A) (C) (B) (D) tion in Deutschland gefällt: Behinderte Menschen kön- nen in Deutschland ihre Menschenrechte nicht im vollen Umfang wahrnehmen . Die Expertinnen und Experten der Vereinten Nationen sahen erheblichen Handlungsbe- darf und äußerten für einige Bereiche sogar große Sorge . Kritisch sahen sie unter anderem die hohe Zahl der be- hinderten Menschen, die in Wohnheimen lebt und den Mangel an alternativen Wohnmöglichkeiten . Auch die Tatsache, dass behinderte Menschen Teilhabeleistungen selbst mitfinanzieren müssen, hob der Fachausschuss ne- gativ hervor . Auch mit dem Teilhabegesetz bleibt es möglich, dass die Leistungsträger behinderte Menschen zum Wohnen in einem Wohnheim zwingen, indem sie andere Unter- stützungsleistungen verweigern . Es ist zwar anzuerken- nen, dass die Freibeträge für den Einsatz von Einkommen und Vermögen angehoben und Partnerinnen und Partner freigestellt werden . Der Grundsatz, dass behinderte Men- schen selbst für den Ausgleich ihrer gesellschaftlichen Ausgrenzung zahlen müssen, bleibt aber bestehen . Mit der neuen unabhängigen Beratung oder der bun- desweiten Einführung des Budgets für Arbeit sind an einigen Stellen positive Regelungen zu finden. Im Lich- te der Herausforderung, die mit der Umsetzung der Be- hindertenrechtskonvention verbunden ist, wirkt das aber kleinlich . Das Bundesteilhabegesetz ist das wichtigste behinder- tenpolitische Vorhaben, seit vor 15 Jahren mit dem Neun- ten Buch Sozialgesetzbuch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – (SGB IX) von der damaligen rot-grünen Koalition erste Schritte unternommen wur- den, die Rechte behinderter Menschen und ihren An- spruch auf Teilhabe in den Vordergrund zu stellen . Das Teilhabegesetz wird dem selbstgesteckten Anspruch der Koalition, einen entscheidenden Beitrag zur Umsetzung der UN-Behindertenkonvention zu leisten, nicht gerecht . Trotz allem erkennen wir an, dass die Fraktionen von SPD und Union in letzter Minute einige der Forderungen behinderter Menschen und ihrer Verbände aufgenommen haben . Wir sind dankbar für das Engagement und den Elan, den behinderte Menschen und ihre Unterstützer im Ab- wehrkampf gegen einen katastrophalen Entwurf aufge- bracht haben . Das hat zu einigen Verbesserungen am Entwurf geführt . Trotzdem können wir diesem Gesetz- entwurf nicht zustimmen . Wir sehen ihn im Gegenteil als Auftrag, nach der Bundestagswahl mit neuem Schwung die Aufgabe anzugehen, vor die uns die Behinderten- rechtskonvention stellt . Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Ulla Schmidt (Aachen) (SPD) zu der Abstimmung über den von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurf eines Dritten Ge- setzes zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften (Drittes Pflegestärkungsgesetz – PSG III) (Tagesordnungs- punkt 4 a) Heute stehen die Regelungen des Pflegestärkungs- gesetzes III auf der Tagesordnung, die in Verbindung mit dem Bundesteilhabegesetz das größte sozialpoliti- sche Vorhaben der Koalition sind. Im Pflegestärkungs- gesetz III finden sich neben den Regelungen zur kom- munalen Verankerung der Pflege wichtige Regelungen zur Schnittstelle von Eingliederungshilfe und Pflege für Menschen mit Behinderung . Ich habe mich sehr dafür eingesetzt, die Regelung des § 43a SGB XI abzuschaffen oder zumindest auslaufen zu lassen . Völlig inakzeptabel ist die nun beabsichtigte Ausweitung dieser Regelung – auch wenn diese Ausweitung größtenteils zurückgenom- men wurde . Die Abgeltung von individuell erworbenen Pflegever- sicherungsansprüchen über einen Pauschalbetrag ent- spricht nicht mehr der Lebenswirklichkeit in den statio- nären Einrichtungen und sollte beendet werden . Angesichts der weiteren Änderungen im Pflegestär- kungsgesetz III, die den Gleichrang der Pflege beibehal- ten und insoweit eine bedarfsgerechte Versorgung von Menschen mit Behinderung und Pflegebedarf möglich machen, werde ich dem Gesetz dennoch zustimmen . Ich gehe davon aus, dass wir in Zukunft erneut über die Re- gelung des § 43a SGB XI diskutieren werden . Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Ener- gie (9. Ausschuss) zu der Verordnung der Bundes- netzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommuni- kation, Post und Eisenbahnen: Verordnung zur Förderung der Transparenz auf dem Telekommu- nikationsmarkt (TK-Transparenzverordnung – TKTransparenzV) (Tagesordnungspunkt 15) Hansjörg Durz (CDU/CSU): Heute ist ein guter Tag für den Nutzer von Telekommunikationsdiensten in Deutschland . Mit der Verabschiedung der TK-Trans- parenzverordnung geben wir dem Verbraucher endlich ein rechtssicheres Instrumentarium in die Hand, das ihm Transparenz über die von ihm in Anspruch genommene Telekommunikationsleistung bietet . Die heute von uns zu verabschiedende Regelung hat ihren Ursprung in mehreren, in den vergangenen Jahren festgestellten Defiziten: Erstens . Messstudien zur Dienstqualität breitbandi- ger Internetzugänge haben ergeben, dass im Verhältnis von vertraglich vereinbarten Datenübertragungsraten zu tatsächlich gelieferten Datenübertragungsraten über alle Technologien, Produkte und Anbieter zum Teil erhebli- che Diskrepanzen existieren . Einfach ausgedrückt: Beim Kunden kommt weniger an als vertraglich vereinbart . Zweitens . Analysen von Telekommunikationsverträ- gen haben ergeben, dass viele Anbieter dazu gar keine Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20647 (A) (C) (B) (D) oder nur wenig belastbare Aussagen zur realisierbaren Datenübertragungsrate tätigen . Einfach gesagt: Der Kun- de weiß gar nicht, mit welcher Leistung er konkret rech- nen darf . Drittens. kam es in der Vergangenheit häufig zu Ver- braucherbeschwerden insbesondere im Telekommunika- tionsbereich, beispielsweise in Bezug auf Kündigungs- termine und verbrauchte Datenvolumina . Auf diese Missstände nimmt die Verordnung direkt Bezug: Erstens. Die Verordnung sieht die Verpflichtung zur Bereitstellung eines anbieterübergreifend einheitlich gestalteten Produktinformationsblattes vor, und zwar vor Vertragsschluss . Damit sollen Endkunden in die Lage versetzt werden, sich vorab über wesentliche Ver- tragsbestandteile zu informieren. Dies schafft für den Endkunden ein hohes Maß an Übersichtlichkeit und Vergleichbarkeit bereits vor Vertragsschluss. Das Pro- duktinformationsblatt ist – auch auf Wunsch der Ver- braucherschutzverbände – bewusst schlank gehalten und erfasst nur die wesentlichen Vertragsinhalte . Dazu zäh- len der Preis, die Vertragslaufzeit sowie die Angabe der minimalen, der normalerweise zur Verfügung stehenden und der maximalen Datenübertragungsrate . Die Bestand- teile des Musterinformationsblatts, das zukünftig als Grundlage für eine einheitliche Vermittlung gegenüber den Kunden dienen soll, wurde in enger Abstimmung zwischen Bundesnetzagentur und der TK-Branche erar- beitet . Wir haben dabei darauf geachtet, dass die in der Telekommunikationsbranche tätigen Unternehmen nicht über Gebühr belastet werden, ohne das Niveau der Ver- braucherinformation zu verwässern . Die Anbieter dürfen nicht weniger, aber auch nicht mehr in das Produktinfor- mationsblatt schreiben, als es § 1 der TK-Transparenz- verordnung vorgibt. Ziel ist es, eine Informationsüberflu- tung des Verbrauchers zu vermeiden . Zweitens . Durch die Transparenzverordnung wird die Bereitstellung eines Messsystems festgeschrieben, welches es dem Endkunden nach erfolgter Anschluss- schaltung ermöglicht, vertraglich vereinbarte Daten- übertragungsraten auch zu überprüfen . Dabei kann der TK-Anbieter entweder auf das Messangebot der Bundes- netzagentur (www .breitbandmessung .de) zurückgreifen oder ein eigenes implementieren . Die Messergebnisse müssen für den Kunden speicher- bar sein und im Online-Kundencenter hinterlegt werden können . So versetzen wir den Kunden in die Lage, ohne größeren Aufwand Messreihen zu bilden, diese zu doku- mentieren und somit leichter als bisher Leistungsmängel gegenüber seinem Anbieter zu beanstanden . Zudem sind die TK-Anbieter ausdrücklich dazu verpflichtet, ihre Kunden über die Möglichkeit zur Nutzung eines Mess- systems zu informieren . Drittens. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Ver- pflichtung für den Anbieter, zukünftig auf der Monats- rechnung für den Verbraucher relevante Vertragsdaten abzudrucken . Dazu zählt das aktuelle Kündigungsdatum genauso wie im Bereich des Mobilfunks das monatlich verbrauchte Datenvolumen . Das Ende der Mindestvertragslaufzeit war bislang in vielen Fällen für die Endnutzer nur schwer zu ermitteln . Durch die neue Regelung wird eine zuverlässige und für den Verbraucher praktikable Informationsmöglichkeit geschaffen. Die Kenntnis des verbrauchten Datenvolu- mens versetzt den Verbraucher wiederum in die Lage, seinen Vertrag nach seinen Bedürfnissen anzupassen . Viertens . Gleichzeitig legt die Verordnung Bußgel- der fest, die dann erhoben werden, wenn die geforderten Maßnahmen nicht rechtzeitig, vollständig oder zufrie- denstellend umgesetzt werden . Die genannten Elemente erreichen genau das Ziel der Transparenzverordnung, nämlich Transparenz für die Verbraucher zu schaffen. Im parlamentarischen Verfahren drehte sich hingegen vieles um die Frage, ob sektorspezifische Schadenser- satz- oder Kündigungsregelungen für den TK-Bereich durch die Verordnung implementiert werden können . Schon bereits aufgrund einer mangelnden Rechtsgrund- lage durch das TKG ist dies zu verneinen . Dies wurde in der öffentlichen Anhörung mehrfach bestätigt. Aber auch aus rein praktischen Erwägungen scheidet eine derartige Implementierung aus . Vor dem Hintergrund des bereits geltenden Zivilrechts sind Telekommunikationsdienst- verträge als Dauerschuldverhältnisse im BGB geregelt . Damit existieren bereits heute grundsätzlich Schadens- ersatz- und Kündigungsrechte, sofern vertragskonforme Leistungen nicht bereitgestellt werden . Und diese An- sprüche kann der Kunde auf dem Zivilrechtsweg verfol- gen und damit vor ordentlichen Gerichten durchsetzen . Das intendierte Ziel der Transparenzverordnung ist der informierte Verbraucher . Dieser erhält zukünftig transparente, vergleichbare, ausreichende und aktuel- le Informationen auf Basis einer klaren, verständlichen und leicht zugänglichen Form . Das ist der Mehrwert der Transparenzverordnung, den wir durch Produktinforma- tionsblatt, Messtool, Abdruck der Vertragslaufzeit und Kontrolle bei ungewöhnlich hohem Datenverbrauch be- fördern. Wir schaffen dadurch die Voraussetzungen für einen echten Qualitätswettbewerb, bei dem die Kunden wissen, was sie bei den einzelnen Anbietern erhalten und dementsprechend dann auch ihren Anbieter auswählen können . Wettbewerb durch Transparenz! Lassen Sie mich zum Abschluss noch einen Ausblick geben. Seit April 2016 findet europaweit die sogenannte TSM-Verordnung unmittelbare Anwendung, mit der die Bereiche Netzneutralität und Roaming adressiert werden . Gewissermaßen das Herzstück der Verordnung in Sachen Mindestqualität stellt dabei der Artikel 4 der TSM-Ver- ordnung dar . Dieser gibt TK-Anbietern unter anderem vor, in ihren Verträgen klar und verständlich zu erläutern, „wie hoch die minimale, die normalerweise zur Verfü- gung stehende, die maximale und die beworbene Down- load- und Upload-Geschwindigkeit von Internetzugangs- diensten bei Festnetzen oder die geschätzte maximale und die beworbene Download- und Upload-Geschwindigkeit von Internetzugangsdiensten bei Mobilfunknetzen ist und wie sich erhebliche Abweichungen von der jeweiligen beworbenen Download- und Upload-Geschwindigkeit auf die Ausübung der Rechte der Endnutzer . . . auswirken http://www.breitbandmessung.de Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620648 (A) (C) (B) (D) könnten .“ Damit die Bundesnetzagentur etwaige Verstö- ße gegen diese Transparenzvorschriften sanktionieren kann, benötigt sie entsprechende Sanktionsmechanismen wie Buß- und Zwangsgelder . Diese Sanktionsmechanis- men sollen mit dem 3. TKG-Änderungsgesetz geschaffen werden . Der Gesetzentwurf wird, wie Sie wissen, derzeit im Wirtschaftsausschuss beraten . Dieses Grundkonzept der europäischen Verordnung mit Transparenz in Kombination mit Sanktionsmöglich- keiten durch die Bundesnetzagentur, wenn es zu Verstö- ßen kommt, halte ich für überzeugend . Man muss beides in Zusammenhang sehen: die Vorgaben der TSM-Ver- ordnung in Kombination mit der Transparenz durch die Transparenzverordnung . Wenn der Kunde weiß, was ihm zusteht, und er nachprüfen kann, was er bekommt, ist der Weg zu einem echten Qualitätswettbewerb geebnet . Heute geht es um Transparenz. Und diese schaffen wir in einem ersten Schritt durch die Verabschiedung dieser gelungenen Verordnung . Klaus Barthel (SPD): Gleich am Anfang der vorlie- genden Verordnung zur Förderung der Transparenz auf dem Telekommunikationsmarkt (TK-Transparenzver- ordnung) steht unter „Problem und Ziel“ völlig zutref- fend: „Die Bundesnetzagentur hat seit Inkrafttreten der TKG-Novelle im Endkundenmarkt insbesondere unter- sucht, welche Informationen Anbieter zu stationären und mobilen Breitbandanschlüssen geben . Dabei stand das Verhältnis der vertraglich vereinbarten Datenübertra- gungsrate und der tatsächlich gelieferten Datenübertra- gungsrate im Fokus . Eine Messstudie zur Dienstqualität breitbandiger In- ternetzugänge hat ergeben, dass es in dieser Hinsicht über alle Technologien, Produkte und Anbieter hinweg eine deutliche Diskrepanz gibt . Gleichzeitig hat die Stu- die deutlich gemacht, dass Transparenz bei der Leis- tungserbringung einen großen Einfluss auf die Kunden- zufriedenheit hat .“ Das Problem ist also schon lange bekannt und belegt. In seiner Sitzung vom 24 . Juni 2013 hat der Beirat bei der Bundesnetzagentur festgehalten: „Der Beirat stellt fest, dass die Messstudie ‚Diens- tequalität bei Breitbandzugängen‘ und die Auswertung der Vertragsbedingungen eine deutliche Diskrepanz zwischen vermarkteter und tatsächlich erreichter Da- tenübertragungsrate aufzeigen . Der Beirat begrüßt, dass die Bundesnetzagentur einen Eckpunkteentwurf vor- gelegt hat, um die Transparenz im Endkundenmarkt zu fördern . Vorrangiges Ziel muss es dabei sein, dem End- kunden Transparenz darüber zu verschaffen, welche Da- tenübertragungsrate (Mindestbandbreite) mit ihm vom TK-Unternehmen vereinbart wird und wie er in tech- nisch einfacher Form kontrollieren kann, ob diese Rate auch tatsächlich zur Verfügung steht . Zugleich müssen Sanktionsmechanismen für den Fall einer Abweichung entwickelt werden . Insofern bittet der Beirat die Bundes- netzagentur, von ihren Befugnissen nach § 41a Absatz 2 TKG sowie § 43a Absatz 1 Nr . 2 und Absatz 2 Nr . 3 TKG Gebrauch zu machen . Das Bundesministerium für Wirt- schaft und Technologie wird gebeten, zu prüfen, ob die- ses Vorgehen der Bundesnetzagentur durch Erlass einer Verordnung gemäß § 45n TKG unterstützt werden kann .“ Diese Verordnung liegt nun – immerhin drei Jahre später – endlich vor . Schon 2013 war völlig klar: Der Endkunde braucht Transparenz, welche Datenübertragungsrate vertraglich vereinbart wurde und wie er in technisch einfacher Form kontrollieren kann, ob diese Rate auch tatsächlich zur Verfügung steht . Die jetzt vorliegende Verordnung ist ausdrücklich zu begrüßen: Wenn in Zukunft auf jeder Monatsrechnung der Ab- lauf der Mindestvertragslaufzeit erscheint, hilft dies dem Kunden bzw . Endnutzer, den Überblick zu bewahren . Ebenso dient es der Transparenz, wenn der Verbrau- cher bzw . Endnutzer eine transparente Informations- möglichkeit eingeräumt bekommt im Hinblick auf sein bislang verbrauchtes Datenvolumen – auf mindestens tagesaktueller Basis und nach Ende des vereinbarten Ab- rechnungszeitraumes im Wege einer Gegenüberstellung des vertraglich vereinbarten und des tatsächlich ver- brauchten Datenvolumens . Besonders hervorzuheben ist hier aber das Produkt- informationsblatt, das die Anbieter dem Verbraucher bzw . Endnutzer in Zukunft vor Vertragsschluss zur Verfügung stellen müssen . Es muss die wesentlichen Vertragsbestandteile aufzeigen: Vertragslaufzeiten; mi- nimale, normalerweise zur Verfügung stehende und ma- ximale Datenübertragungsrate; Rahmenbedingungen zu einer etwaigen Reduzierung der Datenübertragungsrate („Drosselung“) . Diese Angaben sind auch in den indivi- duellen Verträgen deutlich hervorzuheben . Vor allem die Angaben zur minimalen, normalerweise zur Verfügung stehenden und zur maximalen Datenübertagungsrate sol- len dabei helfen, dass in Zukunft die erheblichen Abwei- chungen zwischen der in der Werbung versprochenen, der vertraglich zugesagten und der tatsächlichen Daten- übertragungsrate ermittelt und nachgewiesen werden können . Dafür ist es unerlässlich, dass der Verbraucher bzw . Endnutzer einen Rechtsanspruch auf Information zur ak- tuellen Datenübertragungsrate seines Mobilfunk- bzw . Festnetzanschlusses erhält – so, wie es die Verordnung vorsieht . Die Anbieter können eine eigene Messung an- bieten oder auf das zukünftige Messtool der Bundesnetz- agentur verweisen . Zur Überprüfbarkeit und Vergleich- barkeit müssen für den Verbraucher bzw . Endnutzer „auf einen Blick“ die vertraglich vereinbarte minimale und maximale Datenübertragungsrate und die tatsächlich ge- messene Datenübertragungsrate dargestellt werden . Die Messergebnisse müssen abgespeichert und online zu- gänglich sein . So kann der Verbraucher ohne größeren Aufwand mehrere Messungen durchführen und seinem Anbieter etwaige Abweichungen zwischen tatsächlicher und vertraglich vereinbarter Datenübertragungsrate mit- teilen . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20649 (A) (C) (B) (D) Das von der Bundesnetzagentur in Zukunft auf der Webseite www .breitbandmessung .de angebotene Mess- tool spielt hier eine ganz zentrale Rolle . Wichtig und gut ist auch, dass die Bundesnetzagentur von der durch die Telekom-Binnenmarkt-Verordnung (TSM-Verord- nung, Telecom Single Market/TSM-VO – Verordnung [EU] 2015/2120) eingeräumten Möglichkeit Gebrauch macht, einen solchen zertifizierten Überwachungs- mechanismus nach Artikel 4 Absatz 4 dieser Verord- nung anzubieten . Auch das Gremium Europäischer Regulierungsstellen für elektronische Kommunikation (GEREK – Body of European Regulators for Electronic Communication/BEREC) erkennt das Messtool als zerti- fizierten Überwachungsmechanismus an. Aber genau hier beginnt das Problem bzw. endet die Transparenz für den Endverbraucher . Denn Artikel 4 Ab- satz 4 der TSM-Verordnung lautet: „Jede erhebliche, kontinuierliche oder regelmäßig wiederkehrende Abweichung bei der Geschwindigkeit oder bei anderen Dienstqualitätsparametern zwischen der tatsächlichen Leistung der Internetzugangsdienste und der vom Anbieter der Internetzugangsdienste ge- mäß Absatz 1 Buchstabe a bis d angegebenen Leistung gilt – sofern die rechtserheblichen Tatsachen durch einen von der nationalen Regulierungsbehörde zertifizierten Überwachungsmechanismus festgestellt wurden – für die Auslösung Bestimmung der Rechtsbehelfe, die dem Verbraucher nach nationalem Recht zustehen, als nicht vertragskonforme Leistung .“ Laut Auffassung der Bundesnetzagentur können die Messungen der Anbieter oder über das Messtool der Bundesnetzagentur Abweichungen bei den Übertra- gungsraten zwar ermitteln . Bei der Frage aber, ob es sich dabei um eine „erhebliche, kontinuierliche oder regelmä- ßig wiederkehrende Abweichung handelt“, die nach der TSM-Verordnung als nicht vertragskonforme Leistung gilt, wird der Verbraucher bisher völlig alleine gelassen und – auf der Grundlage unbestimmter Rechtsbegriffe – den tiefen Niederungen des Leistungsstörungsrechts im BGB und einer erst noch zu entwickelnden Rechtspre- chung überlassen . Nun haben wir unter anderem in der Anhörung zur Transparenzverordnung gelernt, dass dieses Defizit nicht der Transparenzverordnung anzulasten ist . Mangels Ermächtigungsgrundlage können innerhalb der Trans- parenzverordnung keine Mindestqualitäten für Inter- netzugänge festgelegt werden . Ebenso wenig kann die Bundesnetzagentur mangels Rechtsgrundlage im Rah- men der Transparenzverordnung Regelungen zum Scha- densersatz schaffen, Bußgelder vorsehen oder ein Son- derkündigungsrecht bei erheblichen Abweichungen der Datenübertragungsrate . Genau das ist aber der Grund, weshalb die Transpa- renzverordnung heute verabschiedet werden kann und muss . Alles, was sie regelt und regeln kann, bedeutet ei- nen großen Fortschritt für die Kundinnen und Kunden . Die Anbieter können sich darauf einstellen, dass es in Zukunft ein verständliches und übersichtliches Produkt- informationsblatt geben muss, was auf der monatlichen Rechnung stehen muss, dass und wie die Datenübertra- gungsraten gemessen werden können . Alles das kann und soll jetzt auf den Weg gebracht werden . Und das, was aus auch unserer Sicht fehlt, nämlich Klarheit über die Rechtsfolgen bei Abweichung der Datenübertragungsraten, muss und kann nicht hier und heute, sondern allenfalls über die ohnehin anstehende Novellierung des Telekommunikationsgesetzes (TKG) gelöst werden . Aber das TKG steht heute noch nicht zur Debatte . Die Koalition sieht hier noch Beratungsbedarf . Insoweit bietet der Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/10525 ei- nen durchaus richtigen Ansatz – nur leider nicht für die Transparenzverordnung. Auch wir vertreten die Auffas- sung, dass Mindeststandards für die Qualität von Inter- netzugängen festgelegt werden müssen – im Interesse der Verbraucher . Es dürfen nicht erst noch zeitlich und mate- riell aufwendige Rechtsstreite ausgefochten werden müs- sen, bevor klar ist, was eine erhebliche, kontinuierliche oder regelmäßig wiederkehrende Abweichung der Da- tenübertragungsrate ist, die nach der TSM-Verordnung unmittelbar als nicht vertragskonforme Leistung gilt . Es liegt nicht nur nahe, sondern es ist rechtlich geboten, dies in Einklang mit den GEREK-Leitlinien zur Netzneutra- lität (BoR [16] 127) zu tun, die auf der Grundlage von Artikel 55 Absatz 3 TSM-Verordnung und im Interesse einer einheitlichen Anwendung der TSM-Verordnung in der EU herausgegeben wurden . Es bleibt zu klären, wel- che Möglichkeiten dafür im TKG bestehen und wie dies europarechtskonform umgesetzt werden kann . Tatsache ist, dass die Bundesnetzagentur über Arti- kel 5 Absatz 1 Satz 2 TSM-Verordnung ermächtigt ist, „Mindestanforderungen an die Dienstequalität“ vorzu- schreiben . Sie kann Anforderungen an die verschiedenen Geschwindigkeitsarten aufstellen (so zum Beispiel an die minimale, normalerweise verfügbare und maximale Ge- schwindigkeit) . Bisher vertreten Bundesnetzagentur und Bundeswirtschaftsministerium die Auffassung, allenfalls auf der Grundlage der derzeit im ersten Betriebsjahr der Breitbandmessung erhobenen Daten könne sich ein Handlungsbedarf zur Festlegung von Mindestqualitäten ergeben . Dies ignoriert, dass die Erhebungen 2012 und 2013 längst belegt haben, in welch erheblichem Umfang die Datenübertragungsraten über alle Technologien, Pro- dukte und Anbieter hinweg deutlich von den beworbenen und vertraglich zugesagten Raten abweichen . Es gibt kei- nen Grund, diese Daten nicht als Beleg dafür zu nehmen, dass längst Handlungsbedarf besteht . Allein die Vielzahl der Beschwerden von Kundinnen und Kunden und unse- re Alltagserfahrungen reichen längst aus, Handlungsbe- darf festzustellen . Die TSM-Verordnung ist seit November 2015 in Kraft getreten und schreibt vor, dass die nationalen Regulie- rungsbehörden genau überwachen und sicherstellen, dass die Transparenzvorgaben eingehalten werden . Insoweit sind wir mehr als skeptisch, es bei der bloßen Ermächti- gung aus der TSM-Verordnung zu belassen und darauf zu vertrauen, dass die Regulierungsbehörde nach Vorliegen neuerer Daten endlich Handlungsbedarf sieht und dann auch hinreichend konkrete Vorgaben zu den Datenüber- tragungsraten macht . http://www.breitbandmessung.de Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620650 (A) (C) (B) (D) Es kann weder im Interesse der Verbraucher noch der Bundesnetzagentur liegen, dass hier weiter so gro- ße Rechtsunsicherheit über die Frage herrscht, was ist in dem Bereich eine nicht vertragskonforme Leistung ist, wie sie zweifelsfrei festgestellt werden kann und welche Rechtsfolgen sich daraus ergeben . Diese Rechtsunsicher- heit dient allein den Anbietern . Auch im Straßenverkehr ist es nicht unbedingt übliche Verwaltungspraxis, zu- nächst einmal zu ermitteln, wie schnell die Autofahrer auf einer Straße tatsächlich fahren, um dann erst anhand dieser Erhebungen die zulässige Höchstgeschwindigkeit festzulegen . Aber zurück zur Transparenzverordnung: Das Mess- tool der Bundesnetzagentur ist ein richtiger erster Schritt . Es wird zu mehr Transparenz auf dem Markt führen und hoffentlich den Druck auf die Anbieter erhöhen, auch nur solche Übertragungsraten anzubieten, die tatsäch- lich beim Nutzer ankommen . Die Breitbandmessung der Bundesnetzagentur und die beabsichtige Veröffent- lichung von Jahresberichten und statistische Analysen zur Dienstequalität von breitbandigen Internetzugän- gen werden das Ihre dazu beitragen . Aus unserer Sicht muss aber zusätzlich gewährleistet sein, dass der Nutzer schnell und eindeutig erkennen kann, dass und wie er/sie sich bei erheblicher Unterschreitung der Übertragungs- raten ganz praktisch wehren kann . Dabei ist das von der SPD-Fraktion und von Verbraucherorganisationen seit langem geforderte Sonderkündigungsrecht nur ein denk- bares In strument von mehreren . Schon mit Beschluss des Beirates bei der Bundesnetzagentur vom 24 . Juni 2013 wurde die Bundesnetzagentur aufgefordert, Sanktions- mechanismen für den Fall einer Abweichung zu entwi- ckeln . Wir appellieren an die Bundesnetzagentur, möglichst bald den Ergebnisbericht über das erste Betriebsjahr ihrer Breitbandmessung vorzulegen, um auf dieser Grundlage fundiert darüber beraten zu können, ob und welche wei- teren Regelungen im Interesse der Verbraucher ins TKG aufgenommen werden müssen . Damit Netzbetreiber Kunden nicht mehr mit vagen Angeboten locken können, die Internetgeschwindigkeiten von „bis zu …“ verspre- chen. Damit die beworbenen Produkte von den tatsächli- chen nicht weiter derart stark abweichen wie bisher . Die Auswertung brauchen wir noch aus einem ande- ren Grund . Man darf gespannt sein, was die realen Mes- sungen ergeben – mit Blick auf die Breitbandstrategie der Bundesregierung, wonach in einem ersten Schritt bis Ende 2018 allen Haushalten in Deutschland mindestens 50 Mbit/s im Download zur Verfügung stehen sollen . Denn die „Aktuelle Breitbandverfügbarkeit in Deutsch- land (Stand 2016)“, erhoben vom TÜV Rheinland im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr und digi- tale Infrastruktur, besagt zwar, dass für 71,2 Prozent der bundesdeutschen Haushalte Bandbreiten von mindestens 50 Mbit/s im Download verfügbar sind . Allerdings: Die Ergebnisse basieren ausschließlich auf den freiwilligen Datenlieferungen von circa 350 Breitbandanbietern, nicht Kunden . Ein Schelm, wer Böses dabei denkt . Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns heu- te die Transparenzverordnung auf den Weg bringen und möglichst bald über das TKG dafür sorgen, dass das Messtool der Bundesnetzagentur kein stumpfes Schwert bleibt. Wichtig ist uns dabei auch die Perspektive, ausrei- chend Druck auszuüben, um tatsächlich über den Wett- bewerb die Ziele der Breitbandstrategie der Bundesregie- rung vielleicht doch noch zu erreichen . Thomas Lutze (DIE LINKE): Mit der Verordnung für mehr Transparenz in der Telekommunikation bleibt die Bundesregierung einmal mehr hinter dem Möglichen zurück und bedient die Interessen der Telekommunika- tionsunternehmen statt die der Verbraucherinnen und Verbraucher . Zwar folgt die Telekommunikations-Trans- parenzverordnung in einigen Punkten den umfangrei- chen Transparenzvorgaben der Telekommunikation-Bin- nenmarkt-Verordnung, und das begrüßen wir . Dennoch fehlen wichtige Umsetzungsmaßnahmen . Beispielsweise sind nach den europäischen Vorgaben von den Telekom- munikationsanbietern auch Informationen darüber zu leisten, wie sich die von einem Anbieter angewandten Verkehrsmanagementmaßnahmen auf die Qualität des Internetzugangsdienstes, die Privatsphäre der Endnutzer und den Schutz personenbezogener Daten auswirken . Ähnliches gilt für priorisierte Spezialdienste . Hier fehlen die konkretisierenden Bestimmungen in Form verständ- licher Erläuterungen für die Endnutzer, wie sich solch priorisierte Spezialdienste in der Praxis auf ihren Inter- netzugang auswirken können . Neben diesem völligen Fehlen von Transparenzvor- gaben für das Verkehrsmanagement sowie für Spezial- dienste im Internet wurde auch die Chance verpasst, die erstellten Transparenzvorschläge des Gremiums Euro- päischer Regulierungsstellen für elektronische Kommu- nikation, GEREK, für den mobilen Internetzugang auf- zugreifen . Damit die Verbraucherinnen und Verbraucher sich ein realistisches Bild über die geschätzten maxima- len Datenübertragungsraten je nach Ort und Nutzungsbe- dingungen machen können, wurde von dieser Seite vor- geschlagen, sollten die TK-Anbieter in digitalen Karten über die Netzabdeckung und die geschätzten sowie ge- messenen maximalen Datenübertragungsraten informie- ren . Das sind nur einige ausgewählte Kritikpunkte; sie zeigen aber, dass Bundesregierung und Bundesnetzagen- tur es erneut verpasst haben, eine verbraucherfreundliche TK-Politik zu formulieren. Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ein großer Telekommunikationsanbieter bewirbt sein An- gebot mit einer Geschwindigkeit von 16 Mbit/s . Wer wissen will, wie viel der Anbieter davon auch tatsäch- lich liefert, muss das Kleingedruckte lesen . Ich habe das gemacht: Gerade einmal 6 304 Kbit/s . müssen geliefert werden, um den Vertrag zu erfüllen, das sind nicht mal 40 Prozent der 16 Mbit/s. Da sind die Verbraucherinnen und Verbraucher die Gelackmeierten, und das wird auch durch diese Transparenzverordnung nicht geändert! Nur 15,9 Prozent der Nutzer erreichen überhaupt die volle Bandbreite . Das hat der letzte Test der Bundes- netzagentur 2013 ergeben . Die EU hat zuletzt im Okto- ber 2014 eine Qualitätsstudie veröffentlicht. Im europä- ischen Durchschnitt werden gerade einmal 75,9 Prozent der versprochenen Bandbreiten erreicht . Übersetzt heißt Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20651 (A) (C) (B) (D) das: statt 50 Mbit/s nur knapp 38 Mbit/s . Und Deutsch- land lag sogar noch unter diesem Durchschnitt . Die Antwort auf diesen Missstand ist die vorliegen- de Transparenzverordnung . Seit 2014, also nunmehr seit zwei Jahren, ist sie in der Mache . Dafür ist das Ergebnis ganz schön mau . Die Internetanbieter sollen in Zukunft auf einem standardisierten Produktinformationsblatt die maximale Downloadbandbreite, die minimale und die normalerweise verfügbare Surfgeschwindigkeit nennen . Der Berg kreißte und gebar ein Informationsblatt . Glauben Sie wirklich, dass das etwas nützt? Ich habe nichts gegen Transparenz, im Gegenteil . Aber Transpa- renz allein reicht nicht . Transparenz ist kein Ersatz für verbriefte Rechte, auf die man sich berufen kann . Trans- parenz ist kein Ersatz für Mindeststandards, die von allen Marktteilnehmern eingehalten werden müssen . Seit August liegen die Leitlinien von GEREK vor, der Dachorganisation der europäischen Aufsichtsbehörden . Diesen Leitlinien zufolge kann man für die minimale, die maximale und die normalerweise zur Verfügung stehen- de Bandbreite Mindestanforderungen definieren. Genau das schlagen wir in unserem Entschließungsan- trag vor . Wir möchten erreichen, dass die normalerweise zur Verfügung stehende Geschwindigkeit mindestens für 95 Prozent eines Tages zur Verfügung stehen muss, und dass zu keinem Zeitpunkt weniger als 70 Prozent der ver- sprochenen „Bis zu“-Bandbreiten geliefert werden dür- fen . Das wären verbraucherfreundliche Vorgaben, die Sie sich nicht getraut haben . Und das ist noch nicht alles . Bald wird hier die Re- form des Telekommunikationsgesetzes auf der Tagesord- nung stehen . Dann geht es unter anderem darum, welche Sanktionen zur Verfügung stehen, wenn die Anbieter die Mindestqualitätsanforderungen nicht erfüllen . Das euro- päische Recht hat hier kürzlich vielfältige Möglichkeiten geschaffen. Verbraucherinnen und Verbraucher können einen pauschalierten Schadensersatzanspruch bekom- men, wenn die Anbieter dauerhaft nicht die vertraglich vereinbarte Leistung liefern . Denkbar sind auch Bußgel- der, etwa in Höhe eines bestimmten Prozentsatzes vom Jahresumsatz der Unternehmen . All dies setzt aber voraus, dass überhaupt erst einmal die Möglichkeit geschaffen wird, solche Vertragsverstö- ße festzustellen. Solange die Anbieter nicht verpflichtet sind, bestimmte Mindeststandards einzuhalten, kann man natürlich auch keine Sanktionen für Verstöße dage- gen festlegen – und genau das ist das Problem mit dieser Transparenzverordnung! Deshalb appelliere ich an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: Stimmen Sie unserem Antrag zu . Machen Sie nicht nur Transparenzgedöns, sondern geben Sie Min- destqualitätsstandards vor, die nicht unterschritten wer- den dürfen. Schaffen Sie die Grundlage dafür, den Ver- braucherinnen und Verbrauchern durchsetzbare Rechte an die Hand zu geben . Zeigen Sie, dass Sie im Bereich der Telekommunikation nicht nur die Interessen der Un- ternehmen, sondern auch die der Verbraucherinnen und Verbraucher im Blick haben . Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord- neten Tom Koenigs, Omid Nouripour, Luise Amtsberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Keine Straflosigkeit bei Kriegsverbrechen – Völker- strafprozesse in Deutschland voranbringen – des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Völ- kerstrafgesetzbuches (Tagesordnungspunkt 16 a und b) Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Heute finden die zweite und dritte Lesung zum Entwurf des Gesetzes zur Änderung des Völkerstrafgesetzbuches statt . Dieser Ge- setzentwurf dient der Ratifizierung der Vereinbarungen, die auf der Konferenz in Kampala getroffen wurden, und stellt einen großen Schritt zu einer Ächtung von Kriegs- verbrechen dar . Das Verbrechen der Aggression ist ein Straftatbe- stand im Völkerstrafrecht und umfasst eine offenkundige Verletzung der Charta der Vereinten Nationen . Der Ge- setzentwurf dient als Schutz des friedlichen Zusammen- lebens der Völker und gleichzeitig zum Schutz der frei- heitlichen demokratischen Grundordnung, die auch ein Leben in Frieden umfasst . Aus diesem Grund ist es umso wichtiger, diese Werte auch in deutsches Recht einzubau- en, um einen Beitrag zu einer friedlicheren und sicheren Welt zu leisten und Kriegsverbrechen zu bestrafen . Dies markiert einen wichtigen Schritt beim Kampf gegen die Straflosigkeit schwerster Verbrechen, welche die inter- nationale Gemeinschaft als Ganze betreffen, indem es der Ausübung der Gerichtsbarkeit des IStGH über das Verbrechen der Aggression den Weg eröffnet. Die Eini- gung in Kampala ist das Ergebnis eines langwierigen und mühevollen Ringens um einen Kompromiss, an welchem die Bundesrepublik Deutschland wesentlich beteiligt war . Dieser Gesetzentwurf verfolgt diesen Weg weiter . Der vorliegende Gesetzentwurf schlägt mithin eine Möglichkeit vor, mit der es gelingen kann, den Tatbestand des Verbrechens der Aggression in das deutsche Recht zu implementieren . Bislang regelten § 80 StGB – Vorberei- tung eines Angriffskrieges – und § 80a StGB – Aufsta- cheln zum Angriffskrieg – die Strafbarkeitstatbestände im Zusammenhang mit einem Angriffskrieg in Deutsch- land . Diese Vorschriften sollen nun durch einen neuen, eigenständigen Straftatbestand des Verbrechens der Ag- gression, der in das Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) ein- gefügt wird, ergänzt werden . Es wird mithin ein neuer § 13 VStGB „Verbrechen der Aggression“ geschaffen. Die Koalition hat gut gearbeitet, und ich werde im Folgenden einige Änderungen an der vorgeschlagenen Formulierung darstellen . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620652 (A) (C) (B) (D) Im parlamentarischen Verfahren wurden vor allem zwei Punkte diskutiert. Dies ist erstens die Änderung des § 13 Absatz 5 VStGB, welcher sich nun nur noch auf § 13 Absatz 2 VStGB bezieht und nicht mehr auf Ab- satz 1 . Zweitens wird der Wortlaut in § 80a StGB von „Aufstacheln zum Angriffskrieg“ zu „Aufstacheln zum Verbrechen der Aggression“ geändert . In § 13 Absatz 5 VStGB wird nun der minder schwere Fall geregelt . Zwar sind zahlreiche Situationen denkbar, in denen von sehr unterschiedlicher Tatschwere ausge- gangen werden kann . Der vorliegende Gesetzentwurf bezieht sich aber auf den Wortlaut des IStGH-Status . Im IStGH-Statut selbst wird nicht zwischen einer völker- rechtswidrigen Angriffshandlung und dem Verbrechen der Aggression unterschieden . Es wäre somit also auch darstellbar, jede einschlägige Handlung, die unter § 13 VStGB subsumiert werden kann, auch gemäß einem „normalen“ Fall zu bestrafen . Aus diesem Grund bedarf es keiner Sonderregelung zu einem minder schweren Fall . Daraus erschließt sich, dass § 13 Absatz 5 VStGB sich im Änderungsvorschlag nur noch auf Absatz 2 be- zieht und der Bezug auf Absatz 1 komplett wegfällt . Dies ist eine kluge Anpassung des Regierungsentwurfs in den parlamentarischen Beratungen . Durch die vorgeschlagene Streichung des § 80a StGB würden in Zukunft alle Fälle, in denen ein Aufstacheln zum Angriffskrieg vorliegt, unter § 111 StGB geprüft werden müssen . § 111 StGB normiert aber die Strafbar- keit des „Aufforderns“ und nicht des „Aufstachelns“. Es würde mithin Unterschiede bei der Subsumtion geben, und dies könnte dazu führen, dass bisher strafbares Ver- halten „Aufstacheln“ in Zukunft straflos „Auffordern“ würde . Aus diesem Grund wird § 80a beibehalten und lediglich der Wortlaut zu „Aufstacheln zum Verbrechen der Aggression“ geändert . In der bereits angesprochenen Stellungnahme des Bundesministeriums des Innern wird ausgeführt: Durch § 13 Absatz 3 VStGB werden im Einklang mit dem Völ- kerrecht nur Angriffshandlungen erfasst, die einem Staat nach den Regeln des Völkerrechts zugerechnet werden können . Der nationale Gesetzgeber kann im Rahmen seiner Jurisdiktion aber weitergehen, als dies die völ- kerrechtliche Umsetzungspflicht verlangt. Es besteht ein rechtspolitisches Interesse daran, auch nichtstaatliche Akteure – wie zum Beispiel Terrormilizen – in den An- wendungsbereich von § 13 VStGB mit einzubeziehen . Dies gilt zumindest, sofern deren Handlungen mit Ag- gressionshandlungen vergleichbar sind . Rechtstechnisch wäre eine Erweiterung des § 13 VStGB um Handlungen bewaffneter nichtstaatlicher Terrorgruppen, die Anschlä- ge in Deutschland verüben bzw . solche Handlungen pla- nen, denkbar gewesen . Alternativ hätten §§ 129a, b StGB um einen solchen Tatbestand ergänzt werden können . Eine entsprechende Regelung würde allerdings nicht in § 13 VStGB eingefügt . Dies ist auch nachvollziehbar . Vielmehr hätte ich mir gewünscht, dass die §§ 129a, b StGB ergänzt werden . Bei einer Erweiterung des § 13 VStGB auf nichtstaatliche Akteure könnte man nach einem Terroranschlag im Innern zu der Auffassung ge- langen, dass bereits ein Angriffskrieg vorliegt, und die- sen dann dem Staat, von dem die Terroristen kommen, zurechnen . Dies würde zu einer nicht hinnehmbaren völkerrechtlichen Gefahr für den Frieden führen und muss deshalb abgelehnt werden . Eine Verschärfung der §§ 129a, b StGB wäre aber begrüßungswert, um terroris- tische Angriffe gezielter verfolgen zu können. Mitunter sollte in Zukunft auch vor dem Hintergrund hybrider Ge- fahren hierbei nachgedacht werden . Der nun vorliegende Gesetzentwurf enthält viele be- grüßenswerte Regelungen, die einen wichtigen Beitrag zur Schließung der Lücke der völkerrechtlichen Strafbar- keit leisten . Ich würde mich aus diesem Grund freuen, wenn alle Fraktionen diesem Entwurf nun zustimmen könnten . Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Völkermord, Kriegs- verbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und das Verbrechen der Aggression . Für diese schweren Verbrechen wurde mit dem Römischen Statut des In- ternationalen Strafgerichtshofs eine Gerichtsbarkeit für eine Aburteilung geschaffen. Diese Statuten bilden seit Inkrafttreten am 1. Juli 2002 elementare Pfeiler im weltweiten Völkerrecht . Für die Aburteilung der Völker- rechtsverbrechen ist seit 2002 der Internationale Strafge- richtshof berufen . Es ist mit Sorge zu beobachten, dass das Völkerstraf- recht mit dem Internationalen Strafgerichtshof eine Legi- timationskrise zu durchlaufen scheint . Weiterhin lehnen einige wichtige Länder, so zum Beispiel die Vereinigten Staaten von Amerika, den Internationalen Strafgerichts- hof ab . Durch den Abschluss bilateraler Verträge mit Mitgliedsländern des IStGH versuchen die USA, eine Überstellung von US-Staatsangehörigen an den IStGH vorsorglich auszuschließen . Zudem haben Südafrika und Burundi den Austritt aus dem IStGH im Oktober 2016 bekanntgegeben . In Namibia und Kenia gibt es eben- falls Erwägungen zum Austritt . Mit dem Rückzug der Unterschrift Russlands hat sich ein weiteres Land vom Internationalen Strafgerichtshof entfernt . Seien die Hin- tergründe für die Entscheidung zur Abkehr der einzelnen Länder auch noch so tiefgreifend und spezifisch, ist diese Entwicklung eine Tendenz in die falsche Richtung . Entgegen der Tatsache, dass sich die Gerichtsbarkeit nur auf Verbrechen erstreckt, welche nach dem Inkraft- treten des Römischen Statuts begangen wurden, wurde doch in bisher 23 Fällen für Gerechtigkeit und juristische Aufarbeitung gesorgt . Der Internationale Strafgerichts- hof stellt somit eine tragende Säule der internationalen Rechtsprechung dar . Um eine gerechte und einheitliche Grundlage auf in- ternationaler Ebene und im Interesse aller teilnehmenden Staaten zu schaffen, haben sich die Mitgliedstaaten auf der Überprüfungskonferenz in Kampala im Jahr 2010 auf weitere Punkte einigen können. Konnte man sich bisher nicht auf eine Definition des Verbrechens der Aggression einigen, so gelang 2010 eben dies . Auch der Streit über die Rolle des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen bei der Entscheidung, ob ein Akt der Aggression vorliegt, konnte beigelegt werden. So muss nun eine offenkundige Verletzung der Charta der Vereinten Nationen vorliegen . Als konkretes Beispiel wird ein Angriffskrieg genannt. Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20653 (A) (C) (B) (D) Deutschland hat neben 27 anderen Staaten die Änderun- gen ratifiziert. Die Vorbereitung eines Angriffskriegs ist derzeit nach § 80 StGB strafbar und setzt die verfassungsrechtlichen Vorgaben aus Artikel 26 GG um . Mit der Verlagerung in das VStGB verschiebt sich der Charakter der Aggression von einem Staatsschutz- hin zu einem Weltfriedensde- likt . Dies entspricht einer völkerrechtsfreundlichen Um- setzung . Das Verbrechen der Aggression wendet sich als Führungsverbrechen gegen Personen eines Staates, die tatsächlich in der Lage sind, das politische oder militäri- sche Handeln zu kontrollieren und zu lenken . Im Zuge der Verfolgungszuständigkeit gilt dennoch unabdingbar der Grundsatz der Komplementarität . Dies bedeutet, dass der Internationale Strafgerichtshof nur dann aktiv wird und die Strafverfolgung ausübt, wenn die nationalen Behörden und Gerichte hierzu nicht in der Lage sind . Dies wird vor allem in labilen Staaten ohne eine unabhängige Justiz der Fall sein . Wir können mit Stolz sagen, dass wir in Deutschland nicht betroffen sind. Wir haben einen funktionierenden Rechtsstaat mit un- abhängigen Gerichten zur Aburteilung von Völkerrechts- verbrechen . Die Ergebnisse der Konferenz von Kampala finden sich als neuer Straftatbestand des Verbrechens der Aggression im Binnenrecht umgesetzt . Das Völkerstraf- recht erfährt seine Vervollständigung . Der richtige Ort ist das Völkerstrafgesetzbuch. Dort finden sich auch die anderen aufgezählten völkerrechtlichen Kernverbrechen . Damit kommt das Verbrechen der Aggression als schwe- re Völkerstraftat zur Geltung . In diesem Zusammenhang findet sich der erwähnte Straftatbestand der Vorbereitung eines Angriffskrieges nun auch in der Definition des Ver- brechens der Aggression im Völkerstrafgesetzbuch wie- der . Gleichwohl können wir uns glücklich schätzen, dass der bisherige Tatbestand der Vorbereitung eines Angriffs- krieges nur wenig praktische Relevanz hat . Anzeigevor- gänge führten regelmäßig schon zu keiner Einleitung eines Ermittlungsverfahrens . Dies zeigt, dass die Bun- desrepublik Deutschland sich derzeit keinen Gefahren durch solche Straftaten ausgesetzt sieht . Dirk Wiese (SPD): Die schrecklichen Bilder, die uns diese Tage wieder aus der Welt, insbesondere aus Aleppo erreichen, sind an Grausamkeit kaum zu überbieten . Sie laufen täglich über unsere Bildschirme, sie begleiten uns auf dem Handy, in den Nachrichten, in den Zeitungen . So traurig das klingen mag, sie gehören derzeit zu unserem Alltag . Wir dürfen aber trotzdem nicht abstumpfen, die Bilder relativieren oder als gegeben hinnehmen . Denn das Grauen vor Ort ist real . Der Kollege Achim Post hat die Gefühlslage vieler von uns in Bezug auf Syrien auf den Punkt gebracht, als er in einer der vergangenen Aktuellen Stunden davon sprach, dass wir seit Jahr und Tag zwischen Hoffnung und Verzweiflung, zwischen kleinen diplomatischen Fortschritten und Ohnmachtsgefühlen, zwischen Mög- lichkeiten und Misserfolg schwanken . Auch wenn derzeit keine diplomatische Lösung in Sicht ist und die Verhandlungen um einen Frieden derzeit schwerer denn je sind, muss die Weltgemeinschaft aber zusammenstehen und eines klar machen: Wer sein eige- nes Volk tötet, foltert, aushungert und vertreibt, begeht systematische Verbrechen gegen die Menschlichkeit . Wer Frauen und Kinder bombardiert, wer Krieg gegen die eigene Zivilbevölkerung führt, dem gebührt nur eins: ein Platz auf der Anklagebank des Internationalen Straf- gerichtshofs in Den Haag . Für die Weltgemeinschaft muss feststehen, dass solche Taten nicht ungesühnt bleiben dürfen . Wir dürfen nicht zulassen, dass die abscheulichsten Verbrechen ungestraft bleiben . Das Recht darf vor Verbrechen nicht kapitulie- ren, auch wenn diese von historischem Ausmaß sind . Das ist der Grundgedanke, der uns von den Nürnberger Prozessen, dem Ursprung, sozusagen der Stunde null des Völkerstrafrechtes, über die Strafprozesse der Internati- onalen Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda und schließlich durch die Verabschie- dung des Römischen Statuts zu dem Internationale Straf- gerichtshof in Den Haag führte . Ein Grundgedanke, der in diesen Zeiten, in denen das Grauen des Krieges wieder so präsent ist, wichtiger denn je ist und an dem festzuhal- ten unsere oberste Pflicht ist. Deshalb ist es auch an uns, das Instrument des Internationalen Strafgerichtshofs wei- ter zu stärken und der übergeordneten Gerechtigkeit im Sinne von Gustav Radbruch zur rechtsstaatlichen Durch- setzung auf multilateraler Ebene zu verhelfen . Oder um es mit den Worten Willy Brandts zu sagen: „Wo immer schweres Leid über die Menschen gebracht wird, geht es uns alle an . Vergesst nicht: Wer Unrecht lange geschehen lässt, bahnt dem nächsten den Weg .“ Der völkerrechtliche Grundsatz der Komplementarität verlangt, dass die in die Zuständigkeit des IStGH fallen- den Verbrechen auch durch nationale Behörden verfolgt werden können . Dieser Anforderung kommen wir heute nach, indem wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die Beschlüsse der Vertragsstaatenkonferenz von Kam- pala im Jahr 2010 umsetzen . Dadurch kann der IStGH ab dem 1. Januar 2017 völkerrechtswidrige Angriffskriege bestrafen, ein wichtiger Schritt; denn das „Verbrechen der Aggression“ war schon in den Nürnberger Kriegs- verbrecherprozessen nach dem Zweiten Weltkrieg als schwerstes internationales Verbrechen angesehen wor- den, bislang aber leider nicht kodifiziert. Lassen Sie mich kurz ein paar Worte zur Kritik sagen, die gestern im Rechtsausschuss vonseiten der Opposition geäußert wurde . Es ging darum, dass die Strafverfolgung bezüglich des Verbrechens der Aggression nicht dem Weltrechtsprinzip unterstellt wird . Unabhängig davon, dass eine solche Regelung unsere Staatsanwaltschaften überlasten würde, da sie solche Fälle detaillierten Prü- fungsverfahren unterziehen müsste, sind wir uns doch alle einig, dass solche Fälle schon allein wegen ihrer au- ßenpolitischen Dimension vor ein internationales Gericht gehören . Deshalb haben wir uns für diesen Fall auch be- wusst gegen das Weltrechtsprinzip entschieden . Im Üb- rigen hat das auch eine positive Wirkung auf den IStGH . Denn durch den eingeschränkten Geltungsbereich des Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620654 (A) (C) (B) (D) nationalen Strafrechts wird hier die Zuständigkeit und damit die Bedeutung des IStGH gestärkt werden . Sie sehen, mit dem Gesetzentwurf komplementieren wir die Werkzeuge des IStGH . Das ist richtig und wich- tig! Zum Schluss möchte ich noch einmal auf meine Ein- gangssätze zurückkommen . Ich möchte diejenigen, die meinen, sie könnten heute walten und schalten, wie sie wollen, und im rechtsfreien Raum ungestraft Verbrechen begehen, an Artikel 29 des Römischen Statuts des IStGH erinnern, der da lautet: „Die der Gerichtsbarkeit des Ge- richtshofs unterliegenden Verbrechen verjähren nicht .“ Wir haben Zeit . Wir vergessen nicht . Wir werden An- klage erheben . Ulla Jelpke (DIE LINKE): In der heutigen Debatte geht es darum, den Straftatbestand der Aggression im Völkerstrafgesetzbuch zu verankern . Vereinfacht gesagt: Wer einen Angriffskrieg führt, soll angeklagt und bestraft werden . Bislang ist ja im deutschen Strafrecht nur die Vorbe- reitung eines Angriffskrieges, nicht aber seine Führung mit Strafe bedroht . Mit diesem Hinweis hat sich die Bundesanwaltschaft geweigert, Ermittlungen wegen der deutschen Teilhabe am Irakkrieg aufzunehmen: „Nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift ist nur die Vor- bereitung an einem Angriffskrieg und nicht der Angriffs- krieg selbst strafbar“, erklärte die Bundesanwaltschaft damals . Dieser Zustand verlangt natürlich dringend nach einer Korrektur . Nur: Was die Koalition hier vorlegt, ist eine Verschlimmbesserung, der wir unsere Zustimmung versagen . Es sind zwei Punkte, die aus Sicht der Linken beson- ders kritisch sind: zum einen der Verzicht auf das soge- nannte Weltrechtsprinzip, zum anderen die pauschale Herausnahme sogenannter humanitärer Einsätze aus der Strafbarkeit . Zum ersten Punkt: „Weltrechtsprinzip“ meint, dass Straftaten gegen das Völkerrecht, zum Beispiel Geno- zid oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit, überall auf der Welt juristisch verfolgt werden können . Auch die deutsche Justiz darf einen Täter belangen, selbst wenn er nicht Deutscher ist und die Tat nicht in Deutschland begangen hat . Es soll keine sicheren Häfen für Kriegs- verbrecher geben . Von diesem Prinzip weicht die Bundesregierung hier ab: Das Führen und Vorbereiten eines Angriffskrieges soll in Deutschland nur strafbar sein, wenn der Täter ent- weder Deutscher ist oder es sich um einen Angriffskrieg gegen Deutschland handelt . Der Sachverständige Robert Frau hat in der Anhörung zurecht darauf hingewiesen, dass unser Grundgesetz „Handlungen … insbesondere die Führung eines An- griffskrieges“ verbietet, und nicht lediglich „Handlungen von Deutschen“ oder „Angriffskriege durch Deutsche“. Es stellt sich also schon die Frage, warum gerade an die- sem Punkt vom Weltrechtsprinzip abgewichen wird. Die Gesetzesbegründung gibt darauf den Hinweis auf die „außenpolitische Relevanz“ . Im Klartext heißt das: Die Bundesregierung will ihre Verbündeten aus EU und NATO schützen . Denn gerade die USA unternehmen ja ganz gerne mal einen Angriffskrieg – im Falle des Luft- waffenstützpunktes Rammstein auch gerne mal von deut- schem Boden aus . Und die Bundesregierung will verhin- dern, dass hohe US-Militärs oder Politiker deswegen in Deutschland angeklagt werden . Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus, um nichts anderes geht es hier . Der andere Punkt dreht sich um die Frage, was ei- gentlich ein Angriffskrieg bzw. das Verbrechen der Ag- gression ausmacht . Da liefert der Gesetzestext ja eini- ge Hinweise, die wir durchaus unterschreiben würden: Angriffshandlungen seien, heißt es da, eine „gegen die Souveränität, die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete An- wendung von Waffengewalt“. Das Gesetz enthält eine sogenannte Erheblichkeitsschwelle, um nur „offenkun- dige Verletzungen“ des Völkerrechts und nicht kleinere Grenzscharmützel zu treffen. Doch die Art und Weise, wie die Bundesregierung die „Offenkundigkeit“ von Völkerrechtsverletzungen inter- pretiert, geht dabei eindeutig zu weit . Das zeigt sich in der Begründung, in der es heißt: „Rechtlich umstrittene Einsätze, wie im Rahmen humanitärer Interventionen … sollen davon gerade nicht erfasst werden und damit nicht als Aggressionsverbrechen strafbar sein .“ Damit wird eine ganze Kategorie von Kriegen aus dem Geltungsbereich des Gesetzes herausgenommen . Denn es gibt doch heute keinen Krieg mehr, der nicht als humanitäre Intervention verharmlost wird . Noch der ge- meinste Diktator behauptet, mit Bomben und Gewehren Gutes zu tun . Für die westlichen Militärbündnisse gilt das genauso . Nehmen wir nur den Überfall der NATO auf Jugosla- wien im Jahr 1999 . Es gab kein UN-Mandat . Der Krieg war eine gegen die Souveränität und politische Unab- hängigkeit Jugoslawiens gerichtete Anwendung von Waffengewalt, um noch einmal den Gesetzeswortlaut zu zitieren . Die Linke würde es sehr begrüßen, wenn solch ein Verhalten künftig eine Gefängnisstrafe für die verant- wortlichen Politiker nach sich ziehen würde. Nur: Das ist gar nicht beabsichtigt . Denn schon SPD-Kanzler Gerhard Schröder und Grünen-Außen- minister Joseph Fischer haben damals den Etiketten- schwindel vom humanitären Einsatz benutzt, um eine von eiskalten politischen Interessen geleitete bewaffnete Aggression zu legitimieren . Anderes Beispiel: Der Irakkrieg 2003, den der dama- lige US-Präsident Bush mit der verlogenen Behauptung, Saddam Hussein besitze Massenvernichtungswaffen, vom Zaun gebrochen und damit den gesamten Mittleren Osten bis heute in Flammen gesetzt hat . Deutschland leistete Beihilfe mit Überflugrechten für das US-Militär . Obwohl das Bundesverwaltungsgericht diesen Krieg als völkerrechtswidrig bezeichnete, beschö- nigt ihn die Bundesregierung in einer windigen Argu- mentation als lediglich fragwürdig oder umstritten . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20655 (A) (C) (B) (D) Was muss denn noch passieren, bevor die Bundes- regierung einen Krieg als „offenkundigen“ Bruch der UN-Charta bezeichnet? Nehmen wir den Krieg gegen Libyen im Jahr 2011 . Die UN hatte lediglich eine Flugverbotszone beschlos- sen, aber die NATO verübte massive Bombardierungen des Landes, um die Aufständischen zu unterstützen . Auch das wurde mit der Generalfloskel vom „humanitä- ren Einsatz“ verteidigt . Ich fasse zusammen: Die Linke ist unbedingt dafür, das Verbrechen des Angriffskrieges zu ahnden. Wir wür- den diesem Gesetzentwurf sofort zustimmen, wenn es Aussichten dafür gäbe, auch das aggressive Verhalten der NATO-Staaten, inklusive der Bundesrepublik selbst, zum Fall für die Gerichte zu machen . Aber darum geht es hier gar nicht . Denn die Behauptung von Justizminister Heiko Maas, der Gesetzentwurf stelle Angriffskriege „umfassend“ unter Strafe, ist gelogen . Die Bundesregierung will viel- mehr einen pauschalen Freibrief für all jene Kriege, die sie selbst unternimmt, ob im Rahmen der NATO, der EU oder einer anderen Konstellation . Letzten Endes geht es damit um nicht weniger als da- rum, die kriegerische Politik der imperialistischen Staa- ten zu legalisieren . Dem wird sich Die Linke entschieden widersetzen . Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Im Oktober haben Burundi, Südafrika und Gambia ihren Rücktritt vom Römischen Statut verkündet . Erstmals in der Geschichte des Internationalen Strafgerichtsho- fes sind damit drei der 124 Mitgliedstaaten ausgetreten . Auch Russland, welches allerdings nie Mitglied des ICC war, hat seine Zustimmung zum Römischen Statut zurückgezogen . Anders als in manchen Medien kolpor- tiert, bedeutet dies nicht gleich den Anfang vom Ende des Internationalen Strafgerichtshofes . Es muss uns aber eine Mahnung sein, die strukturellen, politischen und rechtlichen Probleme, mit denen sich der Internationale Strafgerichtshof in der Praxis konfrontiert sieht, ernst zu nehmen . Mit Blick auf die drei ständigen Sicherheitsratsmit- glieder USA, Russland und China, die nicht Mitglied des Internationalen Strafgerichtshofes sind, bemerkte Kofi Annan vor einigen Tagen ganz richtig in der Süd- deutschen Zeitung: „Diejenigen, die eine globale Füh- rungsrolle für sich beanspruchen, sollten auch beim ICC beispielhaft vorangehen . Zudem wurde die Qualität der Ermittlungen des Strafgerichtshofs infrage gestellt, wie auch die langwierigen Verhandlungen, die er führt, sowie seine Fähigkeit, Zeugen zu beschützen . Diese Unzuläng- lichkeiten müssen angegangen werden . Sie müssen aber Gründe dafür sein, den Gerichtshof bei seinen Anstren- gungen, sie zu beseitigen, zu unterstützen – und nicht da- für, ihn zu verlassen . Immerhin ist der Gerichtshof eine der bedeutendsten Errungenschaften der internationalen Gemeinschaft seit dem Ende des Kalten Krieges .“ Ja, es ist und bleibt eine große Errungenschaft, dass der Inter- nationale Strafgerichtshof über Täterinnen und Täter von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen richtet . Diese Menschen, die an- deren so viel Leid zugefügt haben, sollen nirgends mehr sicher sein – vor Strafverfolgung . Diesem Zweck dient auch das deutsche Völkerstraf- gesetzbuch . Auch dieses gibt es wie den Internationalen Strafgerichtshof erst seit 2002 . Das Völkerstrafgesetz- buch hat seinen Praxistest bestanden. Das hat der erste Prozess auf seiner Grundlage gezeigt, der letztes Jahr (erstinstanzlich) zu Ende gegangen ist . Doch Völkerstrafprozesse sehen sich nicht nur in- ternational, sondern auch in Deutschland prozessualen Problemen gegenüber. Die adäquate Einbindung von Ne- benklägerinnen und Nebenklägern, die Frage der Anony- misierung von Zeugenaussagen, die Anwendbarkeit des § 244 Absatz 5 Satz 2 Strafprozessordnung und die Er- stellung eines Wortprotokolls sind einige Beispiele . Ein Völkerstrafprozess, bei dem der Tatort oft Tausende von Kilometern entfernt ist, dessen politische und histori- sche Kontexte kompliziert und Sprache und Kultur ganz fremd sind, ist eine komplexe Sache . Da müssen neben den angesprochenen prozessualen Parametern auch die strukturellen Rahmenbedingungen stimmen . Lassen Sie mich ein praktisches Beispiel geben: Im Jahr 2013 hat die Zentralstelle für die Bekämpfung von Kriegsverbrechen und weiteren Straftaten nach dem Völ- kerstrafgesetzbuch (ZBKV) 25 Hinweise auf Straftaten nach dem Völkerstrafgesetzbuch erhalten . Zwei Jahre später waren es 2 149 . Diese enorme Zunahme von Hin- weisen ist natürlich auf die gestiegene Zahl von Geflüch- teten zurückzuführen . Mehr Hinweise bedeuten mehr Be- weismittel und letztlich weniger Straflosigkeit. Sie sind also sehr zu begrüßen . Um all diese Hinweise bearbeiten und die eingeleiteten Ermittlungsverfahren schnell und effektiv durchführen zu können, müssen aber auch die personellen und finanziellen Kapazitäten der ZBKV und des Völkerstrafrechtsreferats beim Generalbundesan- walt aufwachsen. Darüber waren sich in der öffentlichen Anhörung zu unserem Antrag „Keine Straflosigkeit bei Kriegsverbrechen – Völkerstrafprozesse in Deutschland voranbringen“ (Drucksache 18/6341) auch alle Fraktio- nen und Experten einig . Auch unser Vorschlag, eine interdisziplinäre Arbeits- gruppe aus Vertreterinnen und Vertretern der Strafrechts- lehre und -praxis sowie aus der Zivilgesellschaft ein- zusetzen, die sich mit der Lösung der angesprochenen prozessualen Probleme befassen, fand große Zustim- mung. Der Sachverständige Professor Werle gab dem Kind auch gleich einen Namen: „Arbeitsgruppe Völker- strafrechtspraxis“ . Doch so groß die Zustimmung während der Anhö- rung über Fraktionsgrenzen hinweg war, so sehr hat die Union unsere Versuche, einen interfraktionellen Antrag dazu hinzubekommen, verschleppt und letztlich schei- tern lassen – sowohl im Rechts- wie auch im Menschen- rechtsausschuss . Das ist sehr schade, und ich vermute, irgendetwas wird den Kolleginnen und Kollegen von der Koalition auch heute einfallen, um unseren Antrag abzu- lehnen . Gleichzeitig werden wir hier Lamenti über die Austritte aus dem ICC hören . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620656 (A) (C) (B) (D) Doch hier, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben Sie heute die Gelegenheit, ganz konkret etwas für die Lösung der prozessualen und strukturellen Probleme von Völ- kerstrafprozessen in Deutschland zu tun, einen Beitrag für mehr und bessere Völkerstrafprozesse in Deutsch- land zu leisten – das wäre mehr wert als Klagen über den Status quo oder abstrakte Bekenntnisse zum Völkerstraf- recht . Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Än- derungen der EU-Amtshilferichtlinie und von weiteren Maßnahmen gegen Gewinnkürzungen und -verlagerungen – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Thomas Gambke, Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Mit Transparenz Steuervermeidung multinationaler Unternehmen eindämmen – Country-by-Country-Reporting einführen – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Thomas Gambke, Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Steuerschlupflöcher schließen – Ge- winnverlagerung durch Lizenzzahlungen einschränken (Tagesordnungspunkt 17 a und b) Markus Koob (CDU/CSU): Ich will gleich zu Be- ginn anmerken, dass mein Themenbereich – steuerli- cher Familienleistungsausgleich – nur begrenzt was mit Maßnahmen gegen Gewinnkürzungen und -verlagerun- gen zu tun hat . Deswegen werde ich mich nur auf den Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen beziehen, der die Anpassungen beim Kinderfreibetrag, Kindergeld, Arbeitnehmer-Grundfreibetrag und Kinderzuschlag zum Gegenstand hat . Der unbeteiligte Zuhörer wird sich sicherlich fragen, wie das miteinander zusammenhängt? Was hat der Kin- derfreibetrag mit Steuergestaltung multinationaler Un- ternehmen zu tun? Und welche Konsequenzen soll die Pflicht zu Country-by-Country-Reports auf meine Steu- ererklärung als Arbeitnehmer haben? Die Erklärung ist viel einfacher und pragmatischer: Wir haben diesen Änderungsantrag zu den Anpassungen steuerlicher Freibeträge vor allem aus umsetzungsprakti- schen Gründen in dieses Verfahren integriert, damit wir eine rechtzeitige und praxisgerechte Umsetzung ermögli- chen . Denn der Gesetzgeber hat nicht nur für die theore- tische Normierung, sondern auch für die Auswirkungen in der Praxis eine Verantwortung. Wenn uns Wirtschaft, Steuerbehörden aber auch die Arbeitnehmer schon oft erklärt haben, dass rückwirkende und unterjährige An- passungen im Steuerrecht immer einen immensen admi- nistrativen Mehraufwand bedeuten, den man durch vo- rausschauendes Handeln vermeiden sollte, sind wir gut beraten, darauf einzugehen . Daher ist uns daran gelegen, das Verfahren noch in diesem Jahr abzuschließen, damit pünktlich ab dem 1 . Januar 2017 auf einer sicheren Rechtsgrundlage mit den neuen Freibeträgen operiert werden kann – in den Steuerverwaltungen, in den Personalbüros aber auch in den Privathaushalten. Das betrifft schließlich jeden Ar- beitnehmer, der sich um seinen Lohnsteuerfreibetrag im neuen Jahr 2017 kümmern muss und dann bereits pünkt- lich zu Jahresbeginn mehr Netto vom Brutto einplanen kann . In der Sache geht es um die verfassungsrechtlich ge- botene Anhebung der steuerlichen Freibeträge – also sowohl des Grundfreibetrages wie auch des Kinderfrei- betrages – für die Jahre 2017 und 2018 . In zwei Etap- pen möchten wir bis 2018 den Kinderfreibetrag auf 4 788 Euro und den Grundfreibetrag auf 9 000 Euro anheben . Bei den Familien, bei denen sich der Kinder- freibetrag nicht auswirkt, werden wir im selben Verhält- nis das Kindergeld anpassen . Auch der Kinderzuschlag wird um monatlich 10 Euro auf 170 Euro erhöht . Die- ser Kinderzuschlag wird denjenigen Eltern gewährt, die mit ihrem Erwerbseinkommen zwar den eigenen Bedarf nach dem Sozialgesetzbuch II decken können, bei denen dieses Erwerbseinkommen aber nicht ausreicht, um den Bedarf ihrer Kinder hinreichend zu decken . Neben diesen Anpassungen werden wir die kalte Pro- gression abmildern, die von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu Recht als Gerechtigkeitsfrage wahr- genommen wird . Wenn die komplexen Wechselwirkun- gen von Inflation und Lohnerhöhung im Kontext eines progressiven Steuertarifs zu unerwünschten Ergebnissen führen, müssen kluge Gesetzgeber darauf reagieren . Und da an der Klugheit und Schaffenskraft dieser Koalition ja nun wirklich kein Zweifel besteht, ist es gut, dass wir un- sere Steuertarife zugunsten der arbeitenden Bevölkerung für die nächsten beiden Jahre anpassen . Das sind wir den Menschen, die morgens aufstehen, ihrer Beschäftigung nachgehen und damit zum Wohlstand und zur Wohlfahrt unseres Landes beitragen, auch schuldig . Ich sage aber auch klar: Man muss immer das Ganze sehen, und die familienpolitische Gesamtbilanz dieser Wahlperiode kann sich sehen lassen . Erst letzte Woche haben wir beschlossen, den Etat des Familienministeri- ums für das Jahr 2017 mit 9,5 Milliarden Euro auszustat- ten . Das sind zwei Milliarden Euro mehr als zu Beginn der Wahlperiode . Das zeigt auch, welch hohen Stellen- wert die Familien in diesem Land für uns haben . Wir haben hier also ein Paket, das eine Einzelmaß- nahme unter vielen darstellt und das Familien, Arbeit- nehmerinnen und Arbeitnehmern, Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern weitere Milliarden Entlastungen bringt – ab 2018 beträgt die Jahreswirkung der steuerlichen Ent- lastung 6,3 Milliarden Euro . Das tun wir, ohne im Wider- spruch zum übergeordneten Ziel der schwarzen Null zu stehen . Das zeigt einmal mehr, dass eine kluge Finanz- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20657 (A) (C) (B) (D) politik öffentliche Investitionen, Entlastung der Bürger und Augenmaß bei Ausgaben gut miteinander verbinden kann . Dieser Maßnahme können und sollen – wenn es nach meiner Partei geht – auch weitere, notwendige steu- erliche Entlastungen für die Steuerzahlerinnen und Steu- erzahler folgen . Über Letzteres werden wir uns sicherlich im Wahlkampf auseinandersetzen, für heute erbitte ich Ihre Zustimmung zu unserem Änderungsantrag . Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU): Erstens . Es bleibt dabei: Mit der Vereinbarung des internationalen Informationsaustausches von Steuer- und Unternehmens- daten hat die Staatengemeinschaft auf die Beobachtung der vergangenen Jahre reagiert, wonach Großkonzerne wie Facebook, Google und Starbucks durch Ausnutzung unterschiedlicher Steuersysteme ihre Steuerlast auf ein Minimum senken konnten . Verantwortlich für diesen Missstand waren vor allem unzureichende Informati- onen der Steuerbehörden über Auslandssachverhalte . Der Informationsaustausch ist deshalb zentraler Teil des Programmes gegen „Die Aushöhlung von Steuerbemes- sungsgrundlagen und Gewinnverlagerung“ (Base Ero- sion and Profit Shifting – kurz BEPS), das Bundesfinanz- minister Wolfgang Schäuble bereits im Jahr 2012 auf Ebene der G 20 und der OECD mitinitiiert hatte . Aktionspunkt 13 des BEPS-Programmes sieht die Einführung eines verpflichtenden automatischen Infor- mationsaustauschs der Steuerbehörden über länderbezo- gene Berichte von Unternehmen, das sogenannte Coun- try-by-Country Reporting vor . Die Steuerverwaltungen sollen damit Informationen über die globale Aufteilung der Erträge und die entrichteten Steuern sowie über wei- tere Indikatoren der Wirtschaftstätigkeit von international tätigen Unternehmen erhalten . Mit dem heute vorliegen- den Gesetz setzen wir Aktionspunkt 13 und die entspre- chende EU-Richtlinie nun in nationales Recht um . Bezugnehmend auf den hier ebenfalls vorliegenden Antrag der Grünen möchte ich auf einen ganz zentralen Bestandteil des Informationsaustausches eingehen: Die Daten werden nach diesem Gesetz nur den Steu- erbehörden übermittelt und nicht veröffentlicht. Die G 20 und OECD haben dabei aus wohlerwogenen Gründen auf ein öffentliches Country-by-Country Reporting verzich- tet . Auf europäischer Ebene hat die Kommission nun aber einen weiteren Regelungsvorschlag für die Umsetzung des Country-by-Country Reportings vorgelegt, mit dem eine Publizität des Country-by-Country Reportings ge- genüber der allgemeinen Öffentlichkeit erreicht werden soll . Gleiches fordern nun auch die Grünen . Die EU-Kommission hat dafür einen Regelungsweg gewählt, mit dem wohl das für Ertragssteuerfragen not- wendige Einstimmigkeitserfordernis im Rat umgangen werden soll . Die Wahl der Rechtsgrundlage wurde jüngst auch vom juristischen Dienst des Rates bemängelt . Es handelt sich danach um ein steuerliches Vorhaben, bei dem Einstimmigkeit gelten müsste . Die Einflussmöglichkeiten von Deutschland sind da- mit bei den Beratungen erheblich gemindert . Hier ap- pelliere ich ausdrücklich an das Rechtsverständnis des Bundesjustizministers: Das Rügen der Rechtsgrundlage im Rat sollte nicht davon abhängig gemacht werden, wie man politisch zu dem Vorhaben steht . Gegen den Vorschlag der Kommission sprechen aber nicht nur rechtliche Bedenken . Auch politisch ist er un- geeignet zur Erreichung des erklärten Ziels „Herstel- lung von Steuergerechtigkeit“. Ein öffentliches Coun- try-by-Country Reporting in Europa könnte sogar den Erfolg des gesamten BEPS-Projektes gefährden. Bei einem öffentlichen Country-by-Country Reporting gäbe es für Drittstaaten keinen Grund mehr, den europäischen Staaten ihrerseits entsprechende Daten zu übermitteln . Das Pfand, mit dem man die Kooperation anderer Staaten erreichen könnte, würde leichtfertig ohne Gegenleistung aus der Hand gegeben . Ziel des Handelns auf europäi- scher Ebene muss deshalb die inhaltlich gleiche Umset- zung der OECD/G-20-BEPS-Empfehlungen sein. Die öffentliche Berichterstattung dürfte außerdem schützenswerte Interessen der betroffenen Unternehmen verletzen . Im Besonderen ist der Schutz von Geschäfts- geheimnissen nicht hinreichend gewahrt, da durch die Veröffentlichungen Rückschlüsse auf Unternehmens- strukturen und Margen möglich wären . Vor allem die Grünen haben bemängelt, dass interna- tional noch kein effektiver Streitbeilegungsmechanismus ausgehandelt sei. Genau das aber ist das Problem, wenn man jetzt ein öffentliches Country-by-Country Reporting fordert, bei dem es absehbar zu einer noch größeren Zahl an Streitigkeiten zwischen Finanzbehörden kommen wird . Die Unternehmen werden dann absehbar in zahl- reiche Fälle der Doppelbesteuerung laufen, ohne dass wir dafür praktikable und zuverlässige Lösungen hätten . Ich würde eher vorschlagen: Informationen ja, aber wenn wir im Gegenzug auch Informationen bekommen und am besten noch eine gegenseitige Vereinbarung über effiziente Streitbeilegung. Insgesamt würde ein öffentliches Country-by-Country Reporting mehr schaden als nutzen . Zur Durchsetzung des maßgeblichen Ziels, Eindämmung von Steuerver- meidungspraktiken, ist es ausreichend und zielgerichte- ter, nicht wahllos die Öffentlichkeit, sondern die Steuer- verwaltungen derjenigen Staaten, die sich am Austausch beteiligen, zu informieren . Zweitens . Mit dem vorliegenden Gesetz zur Umset- zung der Änderungen der EU-Amtshilferichtlinie führen wir nicht nur das Country-by-Country Reporting ein, sondern es werden auch verschiedene Vorschriften des deutschen Steuerrechts geändert, um diese an aktuelle Entwicklungen anzupassen . Hervorzuheben ist hier die Nachjustierung bei der Wegzugsbesteuerung in § 50i EStG, womit wir die über- schießende Tendenz der Regelung korrigieren . Mit § 4i EStG soll der doppelte Betriebsausgabenab- zug bei Personengesellschaften durch Sonderbetriebs- vermögen vermieden werden . Hier sind wir auf die Forderung des Bundesrates eingegangen . Die Bund-Län- der-Arbeitsgruppe wird aber im Einklang mit dem Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620658 (A) (C) (B) (D) BEPS-Programm weiterhin an einer noch umfassenderen Lösung des Problems hybride Gestaltungen arbeiten. Die Regelung des § 1 AStG haben wir nicht ins Gesetz aufgenommen . Danach sollten ausschließlich die deutschen gesetzlichen Regelungen für die Ausle- gung des Fremdvergleichsmaßstabs nach Artikel 9 des OECD-Musterabkommens maßgeblich sein . Damit ließ der Wortlaut darauf schließen, dass es sich um einen schlichten treaty override handelt . Es bestand die Gefahr, dass bei unseren DBA-Vertragspartnern der Eindruck entsteht, Deutschland wolle sich einseitig vom interna- tionalen Verständnis des Fremdvergleichsgrundsatzes abwenden . Um Doppelbesteuerung zu vermeiden, muss sich der Fremdvergleichsgrundsatz aber nach den jeweils aktuellsten internationalen Vereinbarungen richten . Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Dieser zur Nachtzeit behandelte bzw . abgestimmte Gesetzentwurf beinhaltet drei wichtige steuerpolitische Themenberei- che, von denen jeder ein eigenes Gesetz – zur Tagzeit debattiert und beschlossen – verdient hätte: Bekämpfung von Gewinnkürzungen und Gewinnverla- gerungen Entlastung der Einkommensteuerzahler und insbesonde- re der Familien Ausgleich, ja Überkompensation der kalten Progression Die Umsetzung der Änderungen der EU-Amtshil- ferichtlinie und von weiteren Maßnahmen gegen Ge- winnkürzungen und Gewinnverlagerungen ist eine der wichtigsten steuerpolitischen Maßnahmen dieser Legis- laturperiode. Wir nennen Sie kurz Anti-BEPS-Projekt. Große Konzerne mit Milliardenumsätzen, hohen Gewin- nen und exorbitant dicken Managergehältern zahlen zum Teil lächerlich geringe Steuerbeträge . Endlich gehen wir erneut dagegen vor . Mit der Entlastung der Einkommensteuerzahler und insbesondere der Familien geht es in Richtung soziale Gerechtigkeit . Wir setzen damit den im aktuellen Exis- tenzminimumbericht und im Steuerprogressionsbericht ausgewiesenen Handlungsbedarf um . Auch wenn wir uns mehr hätten vorstellen können – hier helfen wir am unteren Ende der Einkommensskala . Abschließend, schon fast als Nebenbemerkung, wird eine erneute Angleichung der Tarifgrenzen bei der Ein- kommensteuer durchgeführt, um die sogenannte kalte Progression auszugleichen. Das machen wir über die Jahre zwar regelmäßig – mal vorauseilend, wie heute, oder auch nachlaufend –, aber leider wird immer wieder selbst jene kalte Progression angeprangert, deren Wir- kung es nicht gibt – weil bereits kompensiert . Die Bündelung dieser drei Komponenten in ein Ge- setz leuchtet rein fachlich, rein thematisch nicht ein, ist jedoch damit begründet, dass so die Verfahren und Zeit- abläufe einfacher und kürzer werden . Schließlich soll die Umsetzung noch in diesem Jahr erfolgen . In der globalisierten Welt spielen Staatsgrenzen für unternehmerische Aktivitäten eine immer kleiner wer- dende Rolle . Viele Konzerne sind multinational aufge- stellt, Manager denken weltumspannend, einige – wohl- gemerkt nicht alle – springen gedanklich von Steueroase zu Steueroase . Anders ist das bei Steuersystemen, hier spielt das staatliche Hoheitsgebiet natürlich eine Rolle . Steuer- systeme sind auf ihrem Staatsgebiet festgenagelt . Ein schwerwiegendes Problem ergibt sich dann, wenn auch das steuerpolitische Denken in den Staaten auf nationa- ler Ebene verharrt . Durch diese Diskrepanz haben sich multinationale Konzerne Möglichkeiten geschaffen, ihre Gewinne dorthin zu verlagern, wo der Steuersatz nied- rig und die Bemessungsgrundlage kurz ist oder verkürzt werden kann . Im Ergebnis werden viel weniger Steuern verlangt, als Umsatz und Ertrag erwarten ließen . Im Er- gebnis müssen alle anderen Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen mehr Steuern bezahlen, denn die staatliche Infrastruktur ist für alle wichtig . Auf Englisch heißt das Base Erosion und Profit Shif- ting: BEPS. Also Erosion der Bemessungsgrundlage durch Verlagerung des Gewinns . Wie groß das Ausmaß der Gewinnverlagerung ist, zeigen unter anderem die vielen journalistischen Leaks der letzten Jahre . Leak heißt Loch oder Lücke, also die Lücke, durch die uns Daten bekannt werden, die das Ausmaß der Steuerumge- hung deutlich machen . Um dieser Herausforderung zu begegnen, haben die G20-Staaten 2013 die OECD damit beauftragt, konkrete Vorschläge gegen diese Formen der Steuergestaltung zu erarbeiten . Die OECD hat 2015 in Form des sogenann- ten BEPS-Aktionsplans geliefert. Ebenfalls geliefert hat die Europäische Union, indem sie daraus eine passende Amtshilferichtlinie abgeleitet hat . Unsere Aufgabe ist es nun, diese Richtlinie in nationales Recht zu überführen . Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf haben nun auch wir den ersten Teil der Umsetzung geliefert . Um mehr Transparenz bei der europäischen Unter- nehmensbesteuerung zu erreichen, werden drei zentra- le Elemente aus der EU-Amtshilferichtlinie umgesetzt . Zum einen wird eine dreiteilige Verrechnungspreisdoku- mentation eingeführt . Mit Verrechnungspreisen bewerten multinationale Konzerne Geschäftsvorfälle innerhalb der Konzernfamilie . Diese Verrechnungspreise müssen mit dem sogenannten Fremdvergleichsgrundsatz überein- stimmen. Dies bedeutet, dass die Preise vergleichbar mit Marktpreisen sind, die das Unternehmen einem fremden Unternehmen berechnen würde . Keine familieninternen Spezialpreise! Die neugeregelte Dokumentation der Ver- rechnungspreise erlaubt es der Betriebsprüfung, dies bes- ser zu kontrollieren . Weiterhin werden multinational aktive Unternehmen künftig verpflichtet, den Finanzbehörden spezielle län- derbezogene Berichte zu liefern . Dies erfolgt im Rah- men des sogenannten Country-by-Country Reportings . Inhalt dieser Berichte sind unter anderem Angaben zu Umsatzerlösen, bereits gezahlten Ertragssteuern oder dem einbehaltenem Gewinn . Außerdem werden hier alle Betriebsstätten und Tochterunternehmen des Konzerns aufgelistet . Der Konzern muss dabei angeben, in wel- chen steuerlichen Hoheitsgebieten sich diese Einheiten befinden und welche Aktivitäten dort ablaufen. Nach der Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20659 (A) (C) (B) (D) Lieferung der Berichte erfolgt deren automatischer Aus- tausch zwischen den Finanzbehörden der EU-Staaten . Mithilfe dieser Berichte werden die beteiligten Finanz- behörden in die Lage versetzt, Gewinnverlagerung eines Konzerns besser zu erkennen und das daraus resultieren- de Risiko einer Steuerverkürzung besser einzuschätzen . Diese Maßnahme ist das Herzstück des vorliegenden Ge- setzentwurfs . Das nächste Element bildet der automatisierte Aus- tausch sogenannter Tax-Rulings . Hierbei handelt es sich um Steuervorbescheide, die ein Staat einem einzelnen Unternehmen erteilt . Durch die Luxemburg-Leaks wis- sen wir, dass diese Tax-Rulings oftmals Ausnahmere- gelungen vom geltenden Steuerrecht beinhalten, das für die übrigen Unternehmen gilt . Dadurch entsteht eine unzulässige Wettbewerbsverzerrung und somit schädli- cher Steuerwettbewerb zulasten der übrigen Staaten . Das machen deutsche Finanzbehörden nicht . Sie können Un- ternehmen zwar eine verbindliche Auskunft erteilen, die im Englischen ebenfalls mit Tax-Ruling übersetzt wird, jedoch handelt es sich dabei nicht um eine Ausnahme- reglung, die nur für das eine Unternehmen gilt . Andere Unternehmen mit gleichen Voraussetzungen erhalten den gleichen Vorbescheid . Mithilfe des automatischen Aus- tauschs der schädlichen Tax-Rulings, beispielsweise aus Luxemburg, können solche Praktiken künftig offengelegt werden . Die oben beschriebenen Maßnahmen schaffen eine verbesserte Transparenz über die Aktivitäten interna- tional agierender Unternehmen . Das begrüßen wir in der SPD-Fraktion. Gleichzeitig rufen wir aber auch die weiteren Ursachen für Gewinnverlagerungen und Ge- winnkürzungen der Konzerne in Erinnerung: fehlende Abstimmung der nationalen Steuersysteme und unfairen Steuerwettbewerb . Die Folge einer solchen unzureichen- den Abstimmung zwischen den Staaten ist zum Beispiel der doppelte Abzug von Betriebsausgaben bei Personen- gesellschaften . Hier macht der ausländische Gesellschaf- ter Aufwendungen in Deutschland als Sonderbetriebsaus- gaben geltend und zieht diese Aufwendung gleichzeitig im Ausland nochmals als Betriebsausgaben ab . Mit der Einführung des neuen § 4i im Einkommensteuergesetz können wir künftig gegen solche hybriden Gestaltungen vorgehen . Diese Regelung ist ein besonderes Anliegen des Bundesrates gewesen, für das wir uns sehr gern in den Beratungen stark gemacht haben . Ebenfalls wichtig ist ein Fortbestehen des § 50i EStG, der verhindert, dass sich vermögende Steuerpflichtige beim Umzug ins Aus- land der Besteuerung der in ihrem Vermögen enthaltenen stillen Reserven entziehen . Die Regelung wird kritisiert, da sie nicht nur Auslandsfälle, sondern auch Inlandsfälle betrifft, bei denen keine Steuerflucht zu befürchten wäre. Diese überschießende Wirkung wird nunmehr durch eine Beschränkung auf Auslandsfälle korrigiert . In den Bera- tungen haben wir Bedenken geäußert, ob es hier zu ei- ner EU-rechtlich unzulässigen Ungleichbehandlung von EU-Ausländern kommen kann . Das Bundesministerium der Finanzen hat dies verneint . Die Erklärung des Mi- nisteriums ist unserer Meinung nach nicht vollständig, daher müssen wir die Entwicklung bei diesem Aspekt beobachten . Der vorliegende Gesetzentwurf enthält keine Maß- nahmen gegen unfairen Steuerwettbewerb . Wettbewerb an sich ist ein fundamentaler Bestandteil der Marktwirt- schaft . Der Wettbewerb muss aber fair sein . Steuerdum- ping höhlt die Einnahmebasis der Staaten aus . Für die Finanzierung der öffentlichen Güter benötigen Staaten Steuereinnahmen, und diese werden durch einen unfai- ren Steuerwettbewerb auf ein ineffizient niedriges Ni- veau reduziert . Daher ist es unsere Aufgabe, hier voraus- schauend zu handeln und gemeinschaftlich abgestimmte Maßnahmen zur Regulierung von Steuerwettbewerb zu unternehmen . Jeder Kommunalpolitiker kennt die For- mel „Race to the Bottom“ – vor lauter Konkurrenz der Nachbargemeinden um die Ansiedlung von Unterneh- men werden schließlich beide arm . Hier geht es um die gleiche Sache auf internationaler Ebene . Mit den genannten Maßnahmen machen wir einen ers- ten Schritt zur Bekämpfung von Gewinnkürzung und Ge- winnverlagerung durch multinationale Konzerne . Das ist ein Erfolg und gleichzeitig auch ein Beispiel für andere EU-Staaten, ebenfalls die Umsetzung der EU-Amtshilfe- richtlinie anzugehen . Es ist aber klar, dass einem ersten Schritt stets weitere Schritte folgen müssen, damit man das Ziel auch erreicht . Deshalb ist es unsere Aufgabe, in Zukunft weitere Punkte aus dem OECD-Aktionsplan des BEPS-Projektes umzusetzen, um die Transparenz weiter zu vergrößern, eine hinreichende Abstimmung mit den Steuersystemen der anderen EU-Staaten zu erreichen und endlich auch gegen den schädlichen Steuerwettbe- werb vorzugehen . Den letzten Schritt sollten wir mit der Realisierung einer einheitlichen Körperschaftsteuerbe- messungsgrundlage in der europäischen Union vorneh- men . Daran gilt es weiter zu arbeiten . Endlich ein Wort zu den Familien und jenen, die nicht in Konzernstrukturen und Kategorien der Steueroptimie- rung denken: In den Beratungen zu diesem Gesetz wurden auch wichtige Entlastungsmaßnahmen für die Steuerzahler und die Familien auf den Weg gebracht . Wir setzen dabei die aus dem Existenzminimumbericht und dem Steuer- progressionsbericht folgenden Anpassungsbedarfe um . Wir erhöhen den Grundfreibetrag – 2017 um 168 Euro und 2018 um 180 Euro – und den Kinderfreibetrag – 2017 um 108 Euro und 2018 um 72 Euro . Es war für uns selbstverständlich, dass wir auch das Kindergeld entspre- chend anheben, damit auch Familien mit geringen und mittleren Einkommen eine spürbare Entlastung erfah- ren. Ein wichtiges Anliegen war der SPD darüber hinaus eine Erhöhung des Kinderzuschlags – 2017 um 10 Euro . Diese Erhöhung kommt besonders Familien mit kleinen Einkommen zugute . Niemand soll seiner Kinder wegen auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch angewiesen sein . Deshalb wird der Zuschlag erhöht . Damit lassen sich keine Reichtümer schaffen – leider führen hier schon kleine Beträge zu großen Belastungen in den öffentlichen Haushalten –, aber mit diesen Maßnahmen tragen wir so gut wie heute möglich zur Verbesserung der finanziellen Situation von Familien bei . Auch der Gefahr einer Minderung des Realeinkom- mens durch die sogenannte kalte Progression wurde in Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620660 (A) (C) (B) (D) diesem Gesetzentwurf Rechnung getragen . Dafür wird eine Verschiebung der Tarifgrenzen – 2017 um 0,73 Pro- zent und 2018 um 1,65 Prozent – zugunsten der Bürge- rinnen und Bürger vorgenommen . Die genannten Än- derungen des Einkommensteuergesetzes zur Förderung von Familien und zur Verhinderung der Wirkung der sogenannten kalten Progression entlasten die Bürger in den nächsten beiden Jahren insgesamt um immerhin 6,645 Milliarden Euro . Soweit sich hier die Schätzungen bestätigen, wird die kalte Progression – tatsächlich ja eine Folge der Inflati- on – mit diesem Gesetz etwas überkompensiert . Wir stimmen dem Gesetzentwurf zu – gleichwohl ist es sehr ärgerlich, dass wir ein solch wichtiges Gesetz zur Nachtzeit behandeln, keine Debatte führen und die Re- den zu Protokoll geben. Richard Pitterle (DIE LINKE): Im Kampf gegen Steuervermeidung zählt jede Minute und jede noch so kleine Maßnahme . In jeder Minute, in der wir nicht han- deln, nutzen milliardenschwere internationale Konzerne die Schwächen des nationalen und internationalen Steu- errechts aus, um ihre Gewinne zu verschieben und Steu- ern in Milliardenhöhe einzusparen . Daher begrüßen wir den heute zur Verabschiedung stehenden Gesetzentwurf zur EU-Amtshilferichtlinie und zu weiteren Maßnahmen gegen Gewinnkürzungen und Gewinnverlagerungen als richtigen Schritt . Allerdings, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition, sollten Sie sich nicht zu sehr auf die Schultern klopfen . Mit der Note „Eins“ lässt sich der Gesetzentwurf nicht bewerten . Eine hervorragende Leistung haben Sie damit nicht abgeliefert . Sie setzen ohne besonderen Eifer nur das um, was durch interna- tionale Empfehlungen sowie Vereinbarungen und durch europäisches Recht ohnehin vorgegeben ist . Die Wirksamkeit gesetzgeberischer Maßnahmen hängt jedoch nicht vom Gesetz selbst ab. Papier ist ge- duldig, und wo kein Kläger, da kein Richter . Mit der Ver- abschiedung von Gesetzen muss sichergestellt sein, dass die geschriebenen Pflichten auch befolgt werden. Alles andere ist Aktionismus, den wir uns im Kampf gegen Steuervermeidung im wahrsten Sinne des Wortes nicht leisten können! Leider strotzt Ihr Gesetz vor Vollzugsdefiziten, die es zu einem zahnlosen Tiger machen. Sie verpflichten mul- tinationale Unternehmensgruppen mit einem Umsatz von mindestens 750 Millionen Euro zur Übermittlung länder- bezogener Berichte ihrer Geschäftstätigkeit . Und was, wenn nicht?, werden sich die Berater der Konzerne fra- gen . Dann sieht Ihr Gesetz vor, dass eine Geldbuße von 10 000 Euro fällig wird . Aber auch ein Zwangsgeld von 25 000 Euro wird bei einem Konzern wie Apple mit Bar- reserven in Höhe von 200 Milliarden Dollar vermutlich keine nächtliche Sondersitzung des Vorstandes auslösen . Wirksam und abschreckend, wie es die Amtshilferichtli- nie verlangt, ist das jedenfalls nicht . Natürlich lässt sich taktisch auch anders handeln . Sie wollen Informationen? Sie bekommen Informationen! Aber in einem Umfang, der die Suche nach steuerlich relevanten Umständen zur Suche nach der Nadel im Heuhaufen macht. Offenbar glaubt man im Bundesfi- nanzministerium trotz der heillosen Überforderung bei Cum/Ex-Geschäften noch immer daran, bei den perso- nellen und sachlichen Ressourcen auf Augenhöhe mit Finanzberatern zu agieren . Anders lässt sich jedenfalls die lapidare und an Realitätsverweigerung grenzende Anmerkung im Entwurf, die Prüfung der Berichte würde keine messbaren Auswirkungen auf die Verwaltung ha- ben, nicht verstehen . Hätte der Entwurf vielleicht noch ein „Ausreichend“ erzielen können, wird er durch die kurzfristigen Ände- rungsanträge im Finanzausschuss endgültig mangelhaft . Das Sammelsurium an Änderungen im Steuerrecht, die in keinem sachlichen Zusammenhang mit dem Ziel des Entwurfes stehen und für gewöhnlich im eigenständigen Jahressteuergesetz zu finden sind, ist schlicht formell ver- fassungswidrig . Der Finanzausschuss des Bundestages, der diese Änderungen hier zur erstmaligen und zugleich letzten Beratung vorlegt, ist – wie alle Fachausschüsse – für Gesetzesvorhaben nicht initiativberechtigt . Zu diesen Ergänzungen zählt im Übrigen auch die großspurig angekündigte Entlastung von Familien mit Kindern . Jetzt wird es endlich amtlich: Mit der Erhöhung des Kindergeldes um 2 Euro gibt es vielleicht im nächs- ten Sommer die eine oder andere Kugel Eis mehr . Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Seit mehreren Jahren beschäftigten wir uns im Deutschen Bundestag mit der Gewinnverlagerung und Steuervermeidung von grenzüberschreitend tätigen Un- ternehmen . Vor dem Hintergrund nationaler – und teil- weise auch individuell den Unternehmen eingeräumter – steuerlicher Präferenzregime können Unternehmen im Einzelfall ihre Gewinne fast komplett steuerfrei behal- ten . Die EU-Kommission schätzt, dass die europäischen Staaten allein durch die aggressive Steuervermeidung der großen Konzerne insgesamt 50 Milliarden bis 70 Milliar- den Euro jedes Jahr an Steuereinnahmen verlieren . Das hat nicht nur zu einem starken Protest der Bürgerinnen und Bürger geführt, sondern ist darüber hinaus eine Ur- sache für den Widerstand gegen die fortschreitende Glo- balisierung . Umso bedeutsamer war die Initiative vieler Länder im Rahmen der OECD, gemeinsam Empfehlungen zu ent- wickeln, um diese Entwicklung zu stoppen . Diese Emp- fehlungen wurden dann zunächst auf der Ebene der EU beschlossen und sollen jetzt national umgesetzt werden . Im Kampf um einen fairen Wettbewerb, die Verhinde- rung von Steuerdumping und gegen nationalen Egoismus hat diese Initiative eine entscheidende Bedeutung . Deshalb muss zunächst angemerkt werden: Die Be- handlung dieses Themas in einer halben Stunde am späten Abend zeigt, dass die Koalitionsfraktionen offen- sichtlich nicht begriffen haben, wie wichtig ein solches Gesetz ist, um dem wachsenden Misstrauen der Bürge- rinnen und Bürger gegenüber der Globalisierung zu be- gegnen . Denn worauf beruht denn dieses Misstrauen, ja die Ablehnung der Globalisierung? Die Menschen sind Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20661 (A) (C) (B) (D) jeden Tag mit Problemen konfrontiert: Jobunsicherheit, Schwierigkeiten, eine bezahlbare Wohnung zu bekom- men, und Schulen, bei denen das Geld für eine dringende Sanierung fehlt . Und auf der anderen Seite stehen inter- nationale Unternehmen, die offenbar kaum oder gar nicht für die öffentliche Daseinsvorsorge zahlen. Der vorliegende Gesetzentwurf darf nicht als Detailre- gelung sehr komplexer internationaler Steuerregelungen begriffen werden, sondern als ein wesentlicher Baustein, um mehr Gleichmäßigkeit für die Steuerabgaben interna- tionaler Unternehmen herzustellen . Deshalb wäre es so wichtig gewesen, diese politisch so bedeutsame Zielset- zung aufzugreifen und umzusetzen . Das heute zu beschließende sogenannte BEPS-Um- setzungsgesetz wird diesem hehren Anspruch nicht ge- recht . Es wäre so wichtig gewesen, zwei wichtige In- strumente für einen fairen Wettbewerb in das Gesetz mit aufzunehmen: zum einen mit länderbezogenen Offenle- gungspflichten endlich Transparenz über wirtschaftliche Aktivitäten und aggressive Steuervermeidungsaktivitä- ten großer multinationaler Unternehmen herzustellen; denn nur mit Transparenz können Ängste bekämpft wer- den . Zum anderen muss die Bundesregierung aber auch klarmachen, dass sie das Steuerdumping anderer Staaten nicht einfach hinnehmen will . Eine nationale Lizenz- schranke kann Steuerdumping effektiv verhindern. Es ist bitter, dass die progressiven Kräfte vor allem in der SPD sich bei beiden Themen in der Koalition nicht haben durchsetzen können, obwohl die SPD diese Vorschläge der Grünen in der letzten Legislaturperiode mit unterstützt hat. Zu nahe steht man offensichtlich den Industrieverbänden, die bei fehlendem Gespür für das gesellschaftliche und politische Umfeld eine Verhinde- rungsstrategie betreiben, die am Ende in Brexit und nati- onalen Alleingängen enden und damit Wohlstandsverlus- te für Deutschland befürchten lassen . Deutschland muss seiner Führungsverantwortung gerade in der Wirtschafts- und Finanzpolitik gerecht werden und diese auch durch eigene Maßnahmen unterstreichen . Und zu allem Überfluss wurden dem Gesetz ver- schiedenste sonstige Steuerrechtsänderungen angehängt . Dabei hätten auch diese einer sorgfältigen Behandlung bedurft. Wie oft wurde das Thema „kalte Progression“ angesprochen, und wie wichtig wäre es gewesen, über dieses Thema ordentlich und in angemessener Weise eine Debatte im Parlament zu führen. Denn in Zeiten einer fast Null-Inflation stellt sich das Thema „kalte Progres- sion“ nicht, aber es stellt sich das Thema der Entlastung unterer und mittlere Einkommen . Und auch hier versucht sich die Koalition der sorgfältigen Debatte zu entziehen und am späten Abend schnell eine Entscheidung durch- zuwinken . Dieses Verfahren zeigt die Führungsschwäche einer Kanzlerin und einer Koalition, die die notwendigen Maß- nahmen gegenüber den aktuellen Herausforderungen bit- ter vermissen lässt . In der eigentlichen Sache, dem Kampf gegen Gewinnverlagerung und Steuervermeidung, zeigt sich die ganze Unentschlossenheit der Bundesregierung . Lassen Sie mich die beiden Vorschläge, die die Grünen in die Debatte eingebracht haben, nochmals erläutern . Da sind zunächst die länderbezogenen Offenlegungspflich- ten für große multinationale Unternehmen: ein geeigne- tes Instrument, um durch Transparenz über wirtschaftli- che Aktivitäten aggressive Steuervermeidungsaktivitäten zu hemmen . Denn nur wenn für jeden nachvollziehbar ist, wie sich in multinationalen Konzernen die Erträge und gezahlten Steuern auf einzelne Volkswirtschaften verteilen, kann ein öffentlicher Druck entstehen, der dazu führt, dass Steuern auch wirklich dort gezahlt werden, wo Wertschöpfung stattfindet. Ohne ein Mindestmaß an Öffentlichkeit wird sich die Steuerplanung multinatio- naler Unternehmen weiterhin nicht an ethischen, d . h . gemeinwohlorientierten, Maßstäben orientieren, sondern am Shareholder-Value oder auch am nationalen Interes- se einzelner Staaten . Denn ob die Nichtausübung des Anrechnungsverfahrens in den USA oder die doppelte Steuersitzangehörigkeit in Irland („double-irish“) oder die Lizenzbox in den Niederlanden („dutch sandwich“): Es sind vor allem die Egoismen einzelner Staaten, die die Steuergestaltung der international tätigen Unterneh- men erst möglich machen. Dass diese die weit offenen, ja bewusst eingeräumten Schlupflöcher nutzen, kann ihnen gar nicht übel genommen werden . Dies gilt allerdings nicht, und das muss mit aller Klarheit gesagt werden, für Steuerhinterziehung und Steuerbetrug wie zum Beispiel bei den Karussellgeschäften mit Energiezertifikaten oder Cum/Ex-Geschäften . Die Entscheidung der EU-Kommission im August dieses Jahres, die irischen Steuerregelungen, von denen insbesondere Apple profitiert, als unzulässige Beihilfe einzustufen, war ein Zeichen im Kampf gegen den un- zulässigen und schädlichen Steuerwettbewerb von Mit- gliedstaaten . Es war auch ein starkes Signal für den freien Markt: Multinationale Konzerne dürfen steuerlich nicht bessergestellt werden als mittelständische Unternehmen . Mitgliedstaaten, deren steuerrechtliche Regelungen die Gewinnverschiebung von multinationalen Konzernen begünstigen, handeln nicht solidarisch, sondern auf Kos- ten der anderen Mitgliedstaaten . Damit komme ich zu dem zweiten Aktionspunkt, den wir Grünen vorgeschlagen haben . Besonders niedrige Steuersätze zum Beispiel auf Lizenzen können nur als Steuerdumping bezeichnet werden sie haben mit Steu- erwettbewerb in Europa nichts zu tun . Diese niedrigen Steuersätze führen dazu, dass multinationale Konzerne effektiv im Durchschnitt eine geringere Steuerbelastung aufweisen als mittelständische Unternehmen . Diese Wettbewerbsverzerrung zulasten des Mittelstandes führt letztlich dazu, dass Innovation und Marktentwicklung gehemmt werden . Die Einsicht, dass die konzerninterne Verschiebung von Gewinnen mittels Lizenzzahlungen, vor allem in Ländern mit sogenannten Patent-Box-Re- gimen, effektiv nur durch eine nationale Lizenzschran- ke verhindert werden kann, hat sich bei vielen Experten durchgesetzt . Auch hier wäre es so wichtig, dass die Bun- desregierung ein klares Signal setzt, dass sie weiterem Steuerdumping nicht weiter zuschauen will . Es wird deshalb sehr schnell ein zweites BEPS-Umset- zungsgesetz geben müssen . Darin muss dann auch eine Anzeigepflicht für Steuergestaltung stehen. Die Grenze zwischen legaler Steuergestaltung und illegaler Steuer- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620662 (A) (C) (B) (D) hinterziehung muss transparenter werden . Seit Jahren schon fordern wir, die steuerberatende Branche mit einer Anzeigepflicht für steuermindernde Gestaltungen für ihre Kunden zu belegen . Einige andere Staaten haben damit gute Erfahrungen gemacht: Steuergestaltungsangebote gingen deutlich zurück, schwarze Schafe bei Banken und Steuerberatern konnten identifiziert werden, Verwaltung und Politik waren in der Lage, frühzeitig auf Risiken zu reagieren, und Kunden wurden vor windigen Steuerge- staltungsangeboten geschützt . Das dazu jüngst vorgeleg- te Gutachten des Max-Planck-Instituts zeigt, dass eine Anzeigepflicht für Steuergestaltungsmodelle rechtlich auch in Deutschland möglich und ökonomisch sinnvoll ist . Dieses Instrument ist ein scharfes Schwert gegenüber Steuervermeidungsstrategien . Bei der Aggressivität, mit der manche Unternehmen Steuervermeidung betreiben, muss der Gesetzgeber solche Instrumente einsetzen, um Steuervermeidung zu bekämpfen . Die Bundesregierung, die sich dem Thema bisher verweigert hat, muss jetzt schnellstmöglich einen Gesetzentwurf liefern . Auch die von der Koalition kurzfristig wieder abge- setzte Anpassung des deutschen Außensteuerrechts zur Verhinderung von Verrechnungspreisgestaltungen muss dann angegangen werden . Es ist nicht nachvollziehbar, warum bei einer deutlichen Problemanzeige aus dem Kreis der steuerberatenden Branche die Bundesregierung zu dieser Sache noch nicht liefern konnte und eine zu- nächst als wichtig erachtete Präzisierung nicht umgesetzt hat . Notwendig wäre eine rechtliche Handhabe für die Fi- nanzverwaltungen, eine Gewinnberichtigung tatsächlich vornehmen zu können, wenn festgestellt wird, dass eine Transaktionsstruktur allein aus Steuervermeidungsgrün- den gewählt wurde . Bisher ist dies nicht möglich . Recht- lich möglich, so der BFH, ist allenfalls eine Anpassung der Verrechnungspreise . Der Fremdvergleichsgrundsatz ist also Teil des Steu- ervermeidungsproblems . Der Fremdvergleichsgrundsatz in seiner bisherigen, in das nationale Recht transformier- ten Form verhindert es gerade nicht, vertragliche Abre- den mit funktionsarmen verbundenen Unternehmen der Verrechnungspreisermittlung zugrunde zu legen, wo- durch riesige Gewinne willkürlich im Konzern verscho- ben werden können . Dieser legalen Steuergestaltung, die der BEPS-Abschlussbericht eindämmen sollte, wird durch das BEPS-Umsetzungsgesetz kein Riegel vorge- schoben . Um die Finanzverwaltung in die Lage zu ver- setzen, derartigen Steuergestaltungen effektiv entgegen- zuwirken und die erforderliche Besteuerung im Einklang mit tatsächlicher wirtschaftlicher Aktivität zu erreichen, müssen sie von vertraglichen Vereinbarungen abweichen können, wenn diese nicht Ausdruck tatsächlicher wirt- schaftlicher Aktivität sind . Die politische Antwort auf die Herausforderungen der globalisierten Wirtschafts- und Finanzwelt muss eine mutige – und keine verzagte – sein . Ein Wort noch zum Vorhaben der Koalition, die kal- te Progression im Einkommensteuertarif zu korrigieren. Eine Korrektur der sogenannten kalten Progression ist verfassungsrechtlich nicht notwendig . Und man rennt ei- ner Sache hinterher, die aufgrund der aktuellen und der in den kommenden zwei Jahren zu erwartenden Inflations- rate schlicht nicht aktuell ist . Die politischen Prioritäten werden im Gesetzentwurf der Koalition falsch gesetzt, weil durch eine Korrektur der kalten Progression, wie jetzt im Gesetz geregelt, die höheren Einkommen am meisten profitieren. Dabei wäre es so wichtig, gerade die unteren und mittleren Einkom- men zu entlasten . So beträgt die Entlastung der wenigen Steuerpflichtigen, die dem Spitzen- oder Reichensteuer- satz unterliegen, ein Vielfaches der Entlastung unterer Einkommensgruppen . Auch hier hätte eine Lösung auf der Hand gelegen: die stärkere Anhebung des Grundfrei- betrages . Der von uns vorgelegte Änderungsantrag zum Ge- setz sieht aus diesen Gründen vor, das infrage stehende Finanzvolumen von etwa 2,4 Milliarden Euro für eine stärkere Anhebung des Grundfreibetrags zu verwenden . Diese Maßnahme bewirkt, dass Steuerpflichtige mit niedrigen Einkommen im Vergleich zum Gesetzentwurf verstärkt profitieren, aber insgesamt alle Steuerpflichti- gen einheitlich entlastet werden . Denn eine Anhebung des Grundfreibetrags führt dazu, dass die Steuersenkung nicht mit dem Einkommen ansteigt, sondern für alle Ein- kommensgruppen gleich hoch ist . Der regressive Vertei- lungseffekt eines „Tarifs auf Rädern“ wird somit vermie- den . Selten war ich so enttäuscht von einem Gesetzesent- wurf . Wenn wir ihn dennoch nicht ablehnen, sondern uns enthalten, dann deshalb, weil die im Gesetz vorgesehe- nen Anti-BEPS-Maßnahmen in die richtige Richtung weisen, auch wenn sie viel zu kurz gefasst sind . Und weil wir einer steuerlichen Entlastung, auch wenn sie nicht ausgewogen ist, nicht widersprechen wollen . Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie Hein, Sigrid Hupach, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Inklusive Bildung für alle – Ausbau inklusiver Hochschulen fördern (Tagesordnungspunkt 18) Xaver Jung (CDU/CSU): „Und täglich grüßt das Murmeltier“ . – Wieder einmal diskutieren wir einen der Anträge „Inklusive Bildung für alle“ – und mir hat sich immer noch nicht erschlossen, wieso wir vier verschie- dene Anträge diskutieren, wenn doch ein ganzheitliches Konzept gefordert ist; denn Inklusion ist eine gesamt- gesellschaftliche Aufgabe quer durch alle Bildungsbe- reiche . Fließende Übergänge und der Erhalt von Erfah- rungen müssen unsere Ziele sein . Mit vier verschiedenen Anträgen senden Sie also schon allein symbolisch ein völlig falsches Signal . Aber auch inhaltlich zeigt sich, dass Sie die Prozesse einer fortschreitenden inklusiven Bildung nicht richtig erfassen: So wird mit dem vorgelegten Antrag die Bundesregie- rung unter anderem aufgefordert, mit dem Bundesrat und der Kultusministerkonferenz verbindliche Handlungs- empfehlungen und Empfehlungen für personelle Stan- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20663 (A) (C) (B) (D) dards und Garantien zu verfassen . Hier sind die Länder aber schon weiter: Alle haben bereits Aktionspläne zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Bereich Hochschule verabschiedet! In dem Antrag wird zudem gefordert, den Studieren- den mit Beeinträchtigung BAföG über die Regelstudi- enzeit hinaus zu gewährleisten . Auch dies geschieht be- reits! So heißt es in § 15 Absatz 3 des Gesetzes: „Über die Förderungshöchstdauer hinaus wird für eine ange- messene Zeit Ausbildungsförderung geleistet, wenn sie Nummer 5 infolge einer Behinderung … überschritten worden ist .“ Zudem schlagen Sie einen „Inklusionspakt“ vor, der unter anderem ein Investitionsprogramm im Umfang von mindestens 2 Milliarden Euro umfassen soll . Da- bei entlastet der Bund die Länder schon um 1,2 Milliar- den Euro, und zwar jährlich, durch die Übernahme der BAföG-Kosten . Zudem werden wir bis 2023 mit dem Hochschulpakt weitere 20 Milliarden Euro investiert ha- ben . Und ab 2020 kommen noch einmal 3,5 Milliarden Euro für die kommunale Bildungsinfrastruktur finanz- schwacher Kommunen hinzu . Der Bund finanziert somit schon kräftig mit, nun sind endlich die Länder am Zug, das Geld gemäß der Verein- barungen bedarfsgerecht einzusetzen . Ein weiterer Bestandteil des Inklusionspaktes sind Weiterbildungs- und Qualifizierungsprogramme. Auch hier ist der Bund schon aktiv . Auch für uns ist die Frage, wie eine heterogene Schülerschaft am besten gefördert werden kann und wie das wiederum zu vermitteln ist, zentral . So investiert das BMBF einerseits in Forschung in diesem Bereich . Andererseits werden im Rahmen der „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ Projekte gefördert, die inklusive Bildung in der Lehrerbildung an Hochschu- len erforschen und erproben . Diese Förderung an Hoch- schulen ist ein wichtiger Baustein für eine gelingende Inklusion . Grundsätzliche Kompetenzen im Umgang mit einer heterogenen Schülerschaft erlernen die Lehrerinnen und Lehrer zudem in ihrem Studium . Denn im Rahmen der aktualisierten Standards für Lehrerbildung ist ein Basis- modul für alle angehenden Lehrerinnen und Lehrer vor- gesehen . Entsprechend haben alle Bundesländer schon im Januar 2015 angefangen, Maßnahmen der Lehreraus-, -fort- und -weiterbildung zu realisieren . In der letzten Debatte bemerkten Sie, Frau Hein, dass unser System zusätzliche Hürden für Benachteiligte aufbauen würden: so könnten individuelle Situationen nicht berücksichtigt werden, wenn sie in den Sozialge- setzbüchern nicht vorkommen würden . Zudem müssten Hilfeleistungen erst kompliziert beantragt werden . Dies sind Probleme der Umsetzung – denn mit Beratungsstel- len, die individuell auf die Belange der Schülerinnen und Schüler und ihr Umfeld eingehen können, kann viel auf- gefangen werden . Die Studentenwerke haben bereits eine entsprechende Anlaufstelle eingerichtet . Sie zu stärken und angemessen auszustatten, obliegt nun den Ländern . Doch keine Frage: Inklusion oder, allgemeiner, die Beschulung einer heterogenen Schülerschaft ist eine der großen, wenn nicht sogar die größte Herausforderung un- seres Bildungssystems . Doch mit übereilten Forderungen und dem Verkennen erfolgreicher Ansätze kommen wir nicht voran . Inklusion beginnt im Kopf, im Kopf eines jeden, und so müssen wir gesellschaftliche Akzeptanz durch wohlüberlegte Forderungen und zielgerichtete Ansätze schaffen. Eine Überforderung der Beteiligten durch eine sogenannte „kalte Inklusion“ oder übereifriger Reform- wille bei einem historisch gewachsenen, gut funktionie- ren mehrgliedrigen System mit Sonderschulen sind da nicht hilfreich . Uwe Schummer (CDU/CSU): Bildung ist ein we- sentlicher Schlüssel zur Teilhabe am Leben mit all seinen Facetten . Das gilt für Menschen mit und ohne Behinde- rungen gleichermaßen . Wer gut ausgebildet ist, hat bes- sere Chancen auf dem Arbeitsmarkt . Menschen mit Behinderungen sind vielfach gut ausgebildet und teilweise sogar besser qualifiziert als Menschen ohne Schwerbehinderung . Dennoch sind sie häufiger arbeitslos. Gute Bildung und Ausbildung sind wichtig, doch gleichzeitig braucht es aufgeschlosse- ne Arbeitgeber, um diesen Menschen den Einstieg ins Berufsleben zu ermöglichen . Über 30 000 Betriebe be- schäftigen heute keinen einzigen schwerbehinderten Menschen . Neben besseren Bildungschancen brauchen wir gleichzeitig mehr Beschäftigungsmöglichkeiten auf dem ersten Arbeitsmarkt. Das kann Politik alleine nicht stemmen . Die Koalition hat in den vergangen Jahren daran ge- arbeitet, für Menschen mit Behinderungen mehr Optio- nen zur Teilhabe an Bildung, Arbeit zu schaffen. Unser Ziel ist, die geltende UN-Behindertenrechtskonvention prozesshaft weiter umzusetzen . Dazu haben wir die as- sistierte Ausbildung eingeführt, die Inklusionsbetriebe ausgebaut und im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes die Leistungen zur Teilhabe an Bildung klargestellt und erweitert . Als Behindertenbeauftragter meiner Fraktion habe ich mich bei der Kultusministerkonferenz dafür starkgemacht, dass neben Hamburg, Berlin und Bran- denburg weitere Länder die Gebärdensprache als Unter- richtsfach in Regelschulen einführen . Für gehörlose und schwerhörige Menschen würden hemmende Kommuni- kationsbarrieren ausgeräumt werden, wenn immer mehr die Deutsche Gebärdensprache beherrschen . Die Rück- meldung der KMK war positiv . Jetzt müssen weitere Länder nachlegen . Als 2009 die UN-BRK geltendes Recht wurde, hat die Hochschulrektorenkonferenz gleich reagiert und sich dazu verpflichtet, eine „Hochschule für alle“ zu realisie- ren . Damit war ein wichtiges Signal gesetzt . Die Umset- zung ist ein Prozess, der noch viele Jahre in Anspruch nehmen wird . Immer mehr Hochschulen setzten die Verpflichtung zur Inklusion in die Praxis um und schaffen Angebote für Studierende mit Behinderungen oder chronischer Er- krankung. Es gibt an nahezu jeder Uni qualifizierte An- laufstellen, in denen schwerbehinderte Studierende oder Studieninteressierte umfassend beraten und unterstützt Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620664 (A) (C) (B) (D) werden . Die Beauftragten für die Belange behinderter und chronisch kranker Studierender an den Universitä- ten als auch die Studentenwerke und Teile der verfassten Studierendenschaft vertreten die Interessen von Studen- ten mit Beeinträchtigungen . Sie alle arbeiten gemeinsam daran, die Studienbedingungen für Menschen mit Handi- cap zu optimieren . Studierende mit Behinderung können ihr Studium in- dividuell planen und dabei auf „angemessene Vorkehrun- gen“ zurückgreifen: Sie können phasenweise in Teilzeit studieren, sie können Prüfungstermine individuell planen oder besondere Regelungen für Exkursionen sowie Prak- tika verhandeln . Wer mit einer Beeinträchtigung die für sich passende Uni sucht, kann schon heute aus mehreren Hochschulen auswählen . Die Uni Hamburg hat zum Beispiel eine Ser- vicestelle für gehörlose und hörgeschädigte Studierende etabliert, die bei der Organisation des Studiums unter- stützt. Die Uni Potsdam schult ihre Erstsemester-Tutoren zu den Themen Barrierefreiheit und Teilhabemöglichkei- ten von Studierenden mit Behinderung . Denn vor allem innerhalb der Studierendenschaft ist es wichtig, für die Belange behinderter Kommilitonen zu sensibilisieren . Wenn dann im Studienalltag Barrieren auftauchen, lassen sich diese durch gegenseitige Hilfe auch mal unkompli- ziert überwinden . Menschen mit Behinderungen haben heute Anspruch auf individuelle Nachteilsausgleiche während des Studi- ums . Dafür sind verschiedene Kostenträger zuständig, wie BAföG-Ämter, die örtlichen und überörtlichen Sozi- alhilfeträger, die Träger der Grundsicherung für Arbeits- suchende und die Kranken- und Pflegekassen. Ab dem 1 . Januar 2017 tritt das neue Bundesteilhabe- gesetz in Kraft . Erstmals werden dann Hilfen zur Teilha- be an Bildung in der Eingliederungshilfe als eigene Leis- tung festgeschrieben . Damit stellen wir sicher, dass die notwendigen Assistenzleistungen von der Grundschule über die weiterführende Schule bis hin zur Universi- tät für ein Bachelor- und Master-Studium bereitstehen . Auch für die berufliche Weiterbildung wird es künftig Leistungen aus der Eingliederungshilfe geben . Das ist ein enormer Fortschritt gegenüber geltendem Recht . Da- mit werden wir sicherlich mehr Menschen mit Behinde- rungen für die Aufnahme eines Studiums motivieren . Damit sich beruflicher Aufstieg und Leistung auch im Berufsleben lohnen, haben wir mit dem BTHG die Einkommens- und Vermögensfreigrenzen deutlich nach oben gesetzt . Auch Menschen mit Behinderungen mit As- sistenzbedarf müssen von ihrem Lohn gut leben können . Ab 2020 wird daher das Einkommen bis 30 000 Euro frei von Zuzahlungen für Assistenzleistungen sein . Wer mehr verdient, leistet einen prozentualen Eigenbeitrag zu seinen Fachleistungen . Das Vermögen wird von heu- te 2 600 Euro auf bis zu 50 000 Euro anrechnungsfrei bleiben . Hier hat die Union ein klares Zeichen gesetzt: Leistung muss sich lohnen . Der Bund schnürt aktuell ein 5-Milliarden-Paket zur Förderung von Schulen . Bis zum Jahr 2021 sollen bun- desweit alle 40 000 Schulen mit Computern und Internet- zugang ausgerüstet werden . Investitionen in Digitalisie- rung kommen allen Schülern zugute, vor allem Schülern mit Behinderung . Ein Beispiel: Schüler mit feinmotori- schen Einschränkungen können beispielsweise schneller über Tastaturen komplexe Texte verfassen oder Aufga- ben zügiger lösen, als sie es mit dem Stift könnten . Ich bin überzeugt, dass dieses neue Förderprogramm auch die Inklusion in der Bildung massiv voranbringen wird . Wir sind in Deutschland auf einem guten Weg, Lernen und lebenslanges Lernen für alle Menschen zu ermögli- chen. Inklusion ist ein Prozess, von dem alle profitieren müssen . Nur wenn wir eine breite gesellschaftliche Ak- zeptanz für diesen Prozess schaffen, kann er auch gelin- gen . Oliver Kaczmarek (SPD): Auf dem Weg zur inklu- siven Hochschule sind wir einen entscheidenden Schritt weitergekommen . Mit der Verabschiedung des Bun- desteilhabegesetzes heute Morgen wurden nicht nur zahl- reiche Leistungen für chronisch Kranke oder Studieren- de mit Behinderung ausgeweitet, sondern vielmehr die gesamte Logik bei der Inklusionsförderung vom Kopf auf die Füße gestellt . Mit dem neuen Gesetz stehen nicht mehr die Defizite von Menschen im Fokus, die es auf die eine oder andere Weise auszugleichen gälte, sondern die Verantwortung der Gesellschaft, Inklusion durch Teilha- bemöglichkeiten und Barrierefreiheit oder mindestens Barrierearmut sicherzustellen . Dazu wurde nicht nur ein verändertes Teilhabeplanverfahren beschlossen, sondern auch die unabhängige Beratung der Antragstellenden ver- ankert, die mit 60 Millionen Euro gefördert werden wird . Selbstbestimmtheit und Entscheidungsfreiheit stehen da- mit am Anfang der Unterstützungsleistung und nicht an ihrem Ende . Mein Dank gilt der zuständigen Ministerin Andrea Nahles und den Mitarbeiterinnen und Mitarbei- tern im Ministerium sowie den Verhandlungsführern der Koalition, die viel Arbeit und Herzblut in die Erarbeitung des Gesetzes gesteckt haben . Der Verabschiedung des Gesetzes ist ein langer und intensiver Prozess von Debatte und Beteiligung voran- gegangen . Dafür möchte ich mich ausdrücklich bei allen beteiligten Personen, Gruppen und Verbänden bedanken. Im parlamentarischen Verfahren ist es gelungen, zahlrei- che Veränderungen und Verbesserungen aufzunehmen . Auch wenn es in den vergangenen Wochen und Monaten an der einen oder anderen Stelle zu Missverständnissen und Verstimmungen gekommen ist, möchte ich klarstel- len, dass wir im Parlament die Sorgen, Interessen und Verbesserungswünsche stets ernst genommen haben . Ich habe die Hoffnung, dass daraus neues Vertrauen entstan- den ist, das in Zukunft auch zu einer Versachlichung der Debatte beitragen wird . Für die Teilhabe an unserer Gesellschaft ist Bildung seit jeher von größter Bedeutung, unabhängig davon, ob es sich um behinderte oder nicht behinderte Menschen handelt . Deswegen fand schon im ursprünglichen Ge- setzentwurf das Thema Teilhabe an Bildung eine erste Wertschätzung . Erstmals wurden die unterschiedlichen Maßnahmen zusammengeführt und als klarer Anspruch formuliert . Im angesprochenen Dialog und dem parla- mentarischen Verfahren konnten noch zahlreiche Vor- schläge und Ideen aufgenommen werden . So wurde ge- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20665 (A) (C) (B) (D) ändert, dass Leistungen zur Teilhabe an Bildung nicht nur dann gewährt werden, wenn das Teilhabeziel erreicht werden kann . Das heißt beispielsweise im Fall der Hoch- schulen, dass Voraussetzung zum Hochschulstudium ist, ob eine Hochschulzugangsberechtigung vorliegt . Da- mit sind Menschen mit Behinderung an diesem Punkt gleichgestellt . Zusätzlich wurde klargestellt, dass auch der Erwerb der Hochschulzugangsberechtigung durch den Besuch an weiterführenden Schulen im Sinne des Gesetzes förderungsfähig ist . Darüber hinaus muss der Teilhabeplan heilpädagogische und sonstige Maßnahmen enthalten, die den Leistungsberechtigten den Hochschul- besuch ermöglichen oder erleichtern . Wir haben in den Beratungen einen einfacheren Zugang zu Leistungen zur Teilhabe an Bildung durchgesetzt . Durch die Ausweitung von Leistungen machen wir deutlich: Inklusion im Bil- dungssystem ist zentral für uns, um von Anfang an den Weg zu einer inklusiven Gesellschaft zu eröffnen, an der alle teilhaben können . Zentral ist auch die Erprobung des neuen Zugangs zur Eingliederungshilfe . Es stand die Befürchtung im Raum, dass Menschen den Zugang zur Eingliederungshilfe verlieren, wenn die neue Regel „Einschränkung in fünf von neun Lebensbereichen“ angewendet wird . Genau- so wichtig ist aber auch das Versprechen gewesen, dass niemand aus der Förderung fallen soll . Deswegen wird es einen Modellversuch mit umfassender wissenschaft- licher Begleitung und Evaluation geben . Damit die Ver- änderungen absehbar werden, nehmen wir uns bis zum Jahr 2023 Zeit, um über einen neugeregelten Zugang zur Eingliederungshilfe zu entscheiden . Die Umstellung soll sanft und ohne Brüche erfolgen . Bis dahin ist für alle Menschen, die bereits in der Förderung sind, sicherge- stellt, dass sie auch weiter Leistungen erhalten . Dem Ver- sprechen, keine neuen Benachteiligungen durch das Bun- desteilhabegesetz zu schaffen, sind wir treu geblieben! Im Dialog der letzten Monate ist auch klar geworden, wie ein barrierefreies Studium in Zukunft aussehen muss . Erstens gilt es, eine barrierefreie soziale Infrastruktur zu schaffen. Das fängt bei der Beratung von Studierenden mit Behinderung an, geht über Angebote für die Begleitung und reicht bis zur Schaffung barrierefreier Wohnräume. Der Zugang zu Lernmitteln muss so gestaltet sein, dass sie für Studierende mit Behinderungen nutzbar sind . Wo nötig, muss der Umgang mit Hilfsmitteln geschult wer- den . Dazu müssen auch von den Hochschulen Angebote entwickelt werden, die mögliche Nachteile ausgleichen . Nicht zuletzt bietet die Digitalisierung für Studierende mit Behinderung große Chancen . Eine Entkoppelung von Lernen und Präsenz vor Ort schafft gerade für Menschen mit eingeschränkter Mobilität neue Teilhabechancen an hochschulischen Angeboten . Die Hochschulen haben das bereits erkannt . Sie sind aber weiter gefordert, Angebote für inklusive Bildung zu entwickeln . Ich schließe damit, festzustellen: Heute ist ein guter Tag für die Inklusion an unseren Hochschulen . Vor uns liegen große Anstrengungen, um die im Gesetz veranker- ten Verbesserungen Realität werden zu lassen . Es kommt jetzt darauf an, dass wir gemeinsam in den Hochschulen, den Verwaltungen und bei den Trägern die beschlossenen Verbesserungen für eine stärkere Inklusion umsetzen . Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Professor Dr . Hase, Landesbeauftragter für Menschen mit Behin- derung, hat kürzlich zu Beginn einer großen Tagung für die barrierefreie Hochschule in Schleswig-Holstein in seiner Begrüßung darauf hingewiesen, dass er als hör- beeinträchtigter Jurastudent sein Studium gegenüber den Lehrenden an der Universität immer wieder rechtfertigen musste . Heute dagegen ist die Inklusion von Menschen mit Behinderung an den Hochschulen in der UN-Behin- dertenrechtskonvention rechtlich verankert . Damit die- ses international gültige Recht jetzt auch seine praktische Wirksamkeit entfaltet, braucht es mehr Debatten, mehr Initiativen in den Hochschulen, mehr Begleitung durch die Politik und vor allen Dingen mehr ganz konkrete ein- zelne Schritte . Dazu möchte ich positiv festhalten, dass natürlich auch der eingebrachte Antrag der Fraktion Die Linke einen solchen Anstoß für uns im Bundestag setzt, den wir unbedingt aufnehmen sollten, auch wenn wir von der SPD nicht in allen Punkten bei dem umfangreichen Forderungskatalog mit den Linken übereinstimmen müs- sen . Das Thema ist jedenfalls gesetzt . Wir werden es im Bildungsausschuss intensiv vertiefen können . Die detail- lierte Kommentierung und Bewertung der Forderungen der Linken soll deshalb auch der zweiten Lesung dieses Antrags vorbehalten sein . Der Tag der Einbringung die- ses Antrags passt auch; denn die Regierungskoalition hat auf Initiative unserer Bundessozialministerin Andrea Nahles heute ein wirklich wegweisendes Teilhabegesetz verabschieden können, bei dem insbesondere auch die Zugänge zu Bildung durch die ganze Bildungsbiografie hindurch deutlich gefördert werden . Der Kollege Oliver Kaczmarek macht in seinem Beitrag deutlich, was die- ses Teilhabegesetz im Einzelnen bedeutet und positiv in Gang setzt . Dass wir über das Teilhabegesetz hinaus weiterden- ken müssen, wenn wir eine inklusive Hochschule er- reichen wollen, macht insbesondere die Datenerhebung „beeinträchtigt studieren“ deutlich, die im Auftrag des Deutschen Studentenwerks im Sommersemester 2011 mehr als 15 000 Studierende mit studienerschwerenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen um detaillierte Auskunft über ihre beeinträchtigungsbedingten Belange bei Studienwahl, Studiendurchführung und Studienfinan- zierung befragt hat . Achim Meyer auf der Heide, Gene- ralsekretär des Deutschen Studentenwerks, hat auf der Grundlage der Ergebnisse fünf wichtige Handlungsfelder identifiziert, die auch für die weitere hochschulpolitische wie auch allgemeinpolitische Debatte bestimmend sein müssen: Erstens . Es gibt nicht den Studierenden oder die Stu- dierende mit Behinderung . Beeinträchtigungsbedingte Anforderungen an Studium, Hochschule und Studenten- werksangebote müssen deshalb auch sehr unterschied- lich ausfallen und hängen stark von der jeweiligen Art der Beeinträchtigung ab . Das werden viele von uns auch selbst erlebt haben, wenn sie an ihre eigene Studienzeit zurückdenken; denn tatsächlich waren die Belange von Menschen mit Behinderung und Beeinträchtigung die große Unbekannte. Wenn nur 6 Prozent der teilnehmen- den Studierenden an der Befragung angeben, dass ihre Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620666 (A) (C) (B) (D) gesundheitliche Beeinträchtigung auf Anhieb von Dritten wahrnehmbar ist, müssen wir eben Barrierefreiheit neu denken und neu verstehen. Nur 12 Prozent der befrag- ten Studierenden geben an, hauptsächlich aufgrund einer Bewegungs-, Seh- oder Hörbeeinträchtigung im Studium eingeschränkt zu sein . Zwei Drittel der studienrelevan- ten Beeinträchtigungen an den Hochschulen bleiben da- gegen unbemerkt, wenn Studierende nicht selbst darauf hinweisen . Deshalb braucht es eine klare Verankerung des Zie- les Barrierefreiheit in allen Prozessen und Entscheidun- gen der verantwortlichen Akteure an den Hochschulen, und das von vornherein und auch auf höchster Ebene der Hochschulleitungen . Auch die Beauftragten für die Belange von Studierenden mit Behinderung und chro- nischen Krankheiten können dabei eine wichtige Rolle übernehmen . Das setzt eine gesetzliche Verankerung in den Bundesländern voraus; die Arbeit der Beauftragten muss professionalisiert werden . Ohne mehr personelle, finanzielle und zeitliche Ressourcen und nötige Mitwir- kungsrechte wird es nicht gelingen, Barrierefreiheit neu zu erkennen und neu zu denken . Zweitens . Zeitliche und formale Vorgaben der Studi- en- und Prüfungsordnung werden für die Mehrheit der gesundheitlich beeinträchtigten Studierenden zu echten Barrieren . Annähernd zwei Drittel der Befragten haben nach eigenen Angaben Schwierigkeiten zum Beispiel mit der Prüfungsdichte, der starren Abfolge von Modulen oder Anwesenheitspflichten. Zwei von drei der betrof- fenen Studierenden kritisieren, dass ihre Lehrkräfte sich nicht auf ihre spezifischen Belange einstellen können. Nicht nur die Hochschulen, sondern auch wir als poli- tische Gestalter von Fördersystemen wie zum Beispiel beim BAföG oder beim Teilhabegesetz müssen deshalb verinnerlichen, dass Studierende mit Behinderung und chronischen Krankheiten mehr Gestaltungsspielräume bei der Organisation ihres Studiums brauchen . Auch wenn es mühselig sein wird, muss das Recht auf Nach- teilsausgleich zur intensiven Überprüfung von allen Ver- fahrensgrundsätzen führen, damit sie wirklich diskrimi- nierungsfrei gestaltet sind . Drittens . Die gute Absicht und die guten Bedingungen müssen noch lange nicht dazu führen, dass sie auch tat- sächlich in Anspruch genommen werden . Dieses Ergeb- nis aus der Befragung „beeinträchtigt studieren“ hat mich besonders betroffen gemacht. Lediglich ein gutes Drittel der befragten Studierenden hat bisher überhaupt jemals einen Antrag auf Nachteilsausgleich im Studium gestellt, obwohl immerhin 60 Prozent der befragten Studierenden starke oder sehr starke Studienbeeinträchtigungen ange- ben . Die Studierenden wissen nämlich nicht, dass es sol- che Möglichkeiten der Unterstützung gibt, oder sie haben Angst, sich zu outen, und wollen nicht, dass ihre Behin- derung oder ihre chronische Krankheit bekannt wird . Informations-, Beratungs- und Unterstützungsangebote der Hochschulen und Studentenwerke werden deshalb umso wichtiger . Immerhin fördert aktuell auch schon die Bundesregierung eine zentrale Beratungseinrichtung des Deutschen Studentenwerkes für das Beratungswesen und die Unterstützung in den Hochschulen selbst . Hier wird über eine Ausweitung nachzudenken sein, wenn denn wirklich die Bewegung pro Inklusion in den Hochschu- len viel weiter Platz greift, was wir uns ja alle nur wün- schen können . Viertens . Beratung wird dabei vor allen Dingen in Be- zug auf die diskriminierungsfreie Studienfinanzierung notwendig sein . Denn mehr als zwei Drittel der befragten Studierenden haben beeinträchtigungsbedingte Zusatz- kosten, zum Beispiel für Arztbesuche, Psychotherapien, Medikamente etc . Mehr als jeder Siebte von ihnen hat massive Schwierigkeiten, seinen Lebensunterhalt samt diesen besonderen Studienzusatzkosten zu decken . Aber auch hier: Nur rund 2,5 Prozent der befragten Studieren- den nehmen zusätzliche staatliche Sozialleistungen jen- seits des Bundesausbildungsförderungsgesetzes in An- spruch . Wir müssen überlegen, wie die Leistungen noch mehr auf die ganz konkreten Bedürfnisse von Studieren- den mit Behinderung oder einer chronischen Krankheit abgestimmt sein können . Wir müssen aber vor allem auch dafür mit sorgen, dass diese Hilfen auch praktisch angenommen werden können . Fünftens . Deshalb kommt der Generalsekretär des Deutschen Studentenwerkes in dem fünften Punkt seiner Auswertung zu der Situation von Studierenden an einer inklusiven Hochschule zu der für ihn wichtigsten und drängendsten Aufgabe überhaupt, nämlich der Sensibi- lisierung und Qualifizierung aller an Hochschulen und Studentenwerken Tätigen für dieses Thema . „Man ist nicht behindert, sondern man wird behindert“: Das muss auch von uns in der politischen Verantwortung verinner- licht werden . Tatsächlich gibt es hier auch gute Basisansätze in vie- len Bundesländern, an vielen Hochschulen und auch bei den Spitzenverbänden . Mich hat sehr beeindruckt, was zum Beispiel bei der eingangs von mir genannten Tagung zur barrierefreien Hochschule in Schleswig-Holstein an Ideen und auch konkreten Beispielen für dieses Bundes- land zusammengetragen worden ist . Der Staatssekretär fordert dazu auf, barrierefreie Hochschule zu einem Mar- kenzeichen für das Bildungssystem insgesamt zu ma- chen . Die Fachreferentin des Deutschen Studentenwerkes wirbt für den Perspektivwechsel von der individuellen zur institutionellen Verantwortung . Die Beauftragte für Studierende mit Behinderung der Fachhochschule er- munterte die Studierenden: „Kommen Sie und machen Sie sich sichtbar! Kommen Sie in die Beratungsstellen, aber machen Sie sich sichtbar auf dem Campus!“ Das steht beispielhaft für viel Engagement im deut- schen Hochschulsystem, um das Leitbild einer Hoch- schule für alle mehr und mehr Wirklichkeit werden zu lassen . Als Student hat mich sehr das Buch „Sonja“ von Judith Offenbach beeindruckt, in dem das tragische Le- ben einer gelähmten Studentin an der Hamburger Uni- versität nachgezeichnet wird . Dieser nicht spektakuläre, aber sehr detaillierte Bericht über den Alltag einer behin- derten Studentin endet in Tragik und Melancholie . Das ist ganz nüchtern die große Aufgabe, die wir jetzt zusam- men mit neuem Mut angehen können: Diskriminierung, Tragik und Melancholie durch Gleichberechtigung, Teil- habe und Mut zu ersetzen . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20667 (A) (C) (B) (D) Nicole Gohlke (DIE LINKE): Die LINKE hat heu- te einen Antrag vorgelegt mit Vorschlägen, wie wir den Ausbau der Hochschulen im Sinne der Inklusion voran- bringen können . Seit 2009 hat sich Deutschland zur Inklusion ver- pflichtet, seit 2009 ist die UN-Behindertenrechtskonven- tion in Kraft, und das bedeutet nichts weniger, als dass alle Menschen das gleiche Recht auf vollständige gesell- schaftliche Teilhabe haben, dass wir die Verschiedenheit, die Unterschiedlichkeit der Menschen endlich als Reich- tum und nicht als Hemmnis oder Problem begreifen. In der Bildung wie in jedem anderen gesellschaftlichen Bereich muss es einen uneingeschränkten, einen gleich- berechtigten Zugang für alle Menschen geben . Für alle Menschen, also weder die soziale Zugehörigkeit noch der ökonomische Hintergrund, weder individuell ver- schiedene Voraussetzungen noch Handicaps, weder das Geschlecht oder die sexuelle Orientierung noch Religi- on oder Herkunft dürfen ein Hindernis für Partizipation darstellen . Alle meint einfach alle . Für dieses Umdenken ist es wirklich höchste Zeit! An vielen Hochschulen werden Anstrengungen unternommen, um die Barrierefreiheit voranzubringen, mit Rampen und Aufzügen für Roll- stuhlfahrer und Rollstuhlfahrerinnen oder mit barrie- refreien Web-Auftritten . Aber es ist bei diesem Thema genauso wie bei den meisten anderen wichtigen Heraus- forderungen in der Bildung: Eine angemessen schnelle und flächendeckende Umstellung wird nur gelingen, wenn es dafür eine gezielte Unterstützung von Bund und Ländern gibt, und deshalb wirbt die Linke für ein Inves- titionsprogramm für inklusive Bildung, zusammen mit einem Inklusionspakt für die Hochschulen, um nicht nur bauliche Maßnahmen voranzubringen, sondern auch die Lehr- und Lernmittel inklusiv auszurichten, oder um das Betreuungsverhältnis von Studierenden und Lehrenden zu verbessern . Aber statt sich darüber Gedanken zu machen, wie die Bundesregierung helfen kann, Hürden zu beseitigen, baut sie selber neue auf . Das neue Bundesteilhabege- setz, das heute verabschiedet wurde – und zwar gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke –, bedeutet, auch nach den nun vorgenommenen Änderungen, deutliche Verschlechterungen für Studierende mit Beeinträchti- gungen. Fakt ist, dass die Pläne der Bundesregierung das Recht auf freie Berufswahl einschränken werden, und es ist eigentlich unglaublich, dass wir uns heute, statt über die nächsten Schritte in Richtung Inklusion zu reden, uns über die Verhinderung von neuer Diskriminierung unter- halten müssen . Statt das Leben einfacher zu machen für diejenigen, die auf persönliche Assistenz angewiesen sind, schrän- ken sie ihre Rechte im Vergleich mit Studierenden ohne Behinderung ein . Der Erhalt von Eingliederungshilfe für eine schulische oder hochschulische berufliche Weiter- bildung soll an zeitliche und inhaltliche Vorgaben ge- bunden sein, und Leistungen für ein Promotionsstudium werden im Bundeteilhabegesetz nicht einmal aufgeführt . All das sind massive Benachteiligungen für Studieren- de und Nachwuchswissenschaftler und -wissenschaftle- rinnen mit Behinderungen, es ist das Gegenteil von dem, was die UN-Behindertenrechtskonvention will . Und das ist nicht hinzunehmen . Und für die allermeisten Studie- renden mit Beeinträchtigung ist der notwendige finan- zielle Mehrbedarf für das Studium ein echtes Problem. Und es kann doch nicht sein, dass erhöhte Bedarfe we- gen einer Behinderung im BAföG grundsätzlich nicht be- rücksichtigt werden . Dieser Zustand ist unzumutbar für die Betroffenen. Deswegen wollen wir das BAföG zukünftig in eine der Beeinträchtigung angemessene Förderung umwan- deln und über die Regelstudienzeit hinaus zahlen – nur so kann verhindert werden, dass Studierende mit Behin- derung nicht vielleicht zum Studienabbruch gezwungen sind . Die Beseitigung von Barrieren, das ist nicht nur rele- vant für Menschen mit Beeinträchtigungen, sondern für uns alle, weil jede und jeder von uns immer wieder da- rauf angewiesen ist, dass uns Hürden aus dem Weg ge- räumt werden . Dieses Verständnis von Inklusion wollen wir voranbringen . Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Inklusi- on ist ein Menschenrecht . Sie beruht auf der Wertschät- zung menschlicher Vielfalt und der Unterschiedlichkeit von Menschen als das, was sie ist: Normalität . In einer inklusiven Gesellschaft leben alle Menschen als einzig- artig, besonders und gleichberechtigt miteinander, unab- hängig von ihrer Herkunft, Weltanschauung, sexuellen oder geschlechtlichen Identität, ihren Fähigkeiten oder Bedürfnissen . Inklusion bedeutet lebenslange volle, gleichberech- tigte und wirksame Teilhabe aller Menschen . Sie erfor- dert, die gesellschaftlichen Strukturen so zu verändern und zu gestalten, dass sie der Vielfalt der menschlichen Lebenslagen von Anfang an Rechnung tragen und allen Menschen gleichermaßen zugänglich sind . Dies gilt für das gesamte gesellschaftliche Leben: vom Besuch der gemeinsamen Kindertagesstätte, von der Schule, Berufs- oder Hochschule, der Information und Kommunikation bis hin zum Wohnen, Arbeiten, zu der Freizeitgestaltung und Selbstbestimmung bis ins hohe Alter . Seit Jahrzehnten kämpfen Menschen mit Behinderung für ein selbstbestimmtes Leben und gleichberechtigte Teilhabe am sozialen, kulturellen und politischen Leben . Trotzdem leiden sie noch heute unter mangelnder Inklu- sion . Der Leitspruch der Bewegung hat damals wie heute Gültigkeit: „Der Mensch ist nicht behindert, er wird be- hindert!“ Dem Grundanliegen des Antrags „Inklusive Bildung für alle – Ausbau inklusiver Hochschulen fördern“, den die Fraktion Die Linke hier heute vorlegt, können wir zu- stimmen: Inklusive Bildung bedeutet, auch Hochschulen zu „enthindern“ . Die Hochschulrektorenkonferenz hat bereits 2009 in ihrer Empfehlung „Eine Hochschule für Alle“ zentrale Probleme angesprochen, die im Zuge des Ausbaus einer inklusiven Hochschullandschaft gelöst werden müssen: Die Spannbreite reicht von der Studien- orientierung, -beratung und -zulassung über die Gestal- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620668 (A) (C) (B) (D) tung der Lehre und Prüfungen bis zu Fragen der Barrie- refreiheit und Studienfinanzierung. Laut Erhebung des Deutschen Studentenwerks zur Si- tuation von Studierenden mit Behinderung und chroni- scher Krankheit („beeinträchtigt studieren“) erleben noch immer 60 Prozent der Befragten starke bzw. sehr starke beeinträchtigungsbedingte Studienerschwernisse . Auch wenn es an vielen Hochschulen bereits gute individuel- le Lösungen für einzelne Studierende mit Behinderung gibt, ist es noch ein weiter Weg zur flächendeckenden inklusiven Hochschule . Die baulichen, kommunikati- ven, aber auch die finanziellen und rechtlichen Barrieren müssen weg, die bisher Menschen mit Behinderungen zusätzlich den Weg an die Hochschule erschweren . In- klusion zu gestalten, ist eine gemeinsame Aufgabe von Bund und Ländern . Die Verantwortung für die Finanzierung von Maß- nahmen, die behinderten Menschen ein Studium ermög- lichen, ist zwischen Hochschule und Sozialhilfeträger nicht klar genug geregelt. In den Programmen, mit denen Hochschulen der Vielfalt in der Studierendenschaft ge- recht werden und sie fördern wollen, spielen Menschen mit Behinderung noch zu oft eine Nebenrolle . Es gibt bisher kaum Lehrende, die Kenntnisse barrierefreier Hochschuldidaktik haben, obwohl davon nicht nur be- hinderte Studierende profitieren würden. Ein Feld, wo die Regierungsfraktionen auf den letz- ten Drücker ein paar Verbesserungen im Bildungsbereich erkannt haben, ist das Bundesteilhabegesetz . Wir sind der Auffassung: Leistungen zur Teilhabe müssen in je- der Phase allgemeiner, beruflicher und hochschulischer Bildung gewährt werden . Es muss sichergestellt sein, dass Menschen mit Unterstützungsbedarf die vielfältigen Bildungsgänge und -wege gleichberechtigt wahrnehmen können . Dies gilt insbesondere auch für eine freiwillige berufliche Neuorientierung. Trotz dieser kleinen Verbesserungen bringt das Bun- desteilhabegesetz von Union und SPD insgesamt schlech- tere Bedingungen für behinderte Studierende . Künftig gilt der Grundsatz, dass der Staat nur für einen Ausbildungs- gang die behinderungsbedingten Kosten – zum Beispiel Assistenz oder Gebärdendolmetscher – finanziert. Davon soll nur abgewichen werden, wenn zwischen den beiden Ausbildungsgängen ein inhaltlicher Zusammenhang be- steht und höchstens zwei Jahre Abstand liegen. Praktika und Auslandssemester sind nur möglich, wenn sie vorge- schrieben sind . All das ist schlecht – und all das ist vor allem keine Inklusion . Der Antrag der Linksfraktion zur inklusiven Hoch- schule fokussiert auf Menschen mit Behinderung, die an einer öffentlichen Hochschule ihrer Wahl zusammen mit anderen studieren oder promovieren wollen . Gerade in Zeiten wie diesen ist es leider notwendig, deutlich zu sagen, dass weder les-bi-schwul-trans*-Menschen noch Behinderte „Minderheiten“ sind, denen sich irgendwer „zu viel widmen“ könnte . Aus falscher Angst vor lauten Pöblern so zu tun, als seien alle Menschen gleich, nützt nur denen, die sich zum Maßstab machen und zur Mehr- heit erklären, ohne es zu sein . Ein liberaler Verfassungs- staat zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er keine Diskriminierungen zulässt . So ein Staat fällt keine Wert- urteile, wer es „wert“ ist, studieren zu dürfen, oder bei wem es „zu viel des Guten“ ist, weil es halt Steuermittel kostet, eine exklusiv geplante und gebaute Hochschule endlich auch für Blinde, Gehbehinderte oder Autistinnen und Autisten zu öffnen. Wir sind schlauer als früher; denn es gab auch eine Zeit, in der diskutiert wurde, dass Frauen nicht an Schu- len oder Hochschulen dürften, weil man dann dort ja wei- tere Toiletten einbauen müsste . Dieser Gedanke erscheint uns heute absurd; wir haben uns weiterentwickelt . Aber dann müssen wir auch die Konsequenzen daraus ziehen und die öffentlichen Einrichtungen öffnen, die Hinder- nisse wegnehmen und einen neuen Standard setzen, der Inklusion heißt . Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften zur Vergabe von Wegenutzungs- rechten zur leitungsgebundenen Energieversor- gung (Tagesordnungspunkt 20) Ingbert Liebing (CDU/CSU): Heute schließen wir die Beratungen über einen Gesetzentwurf ab, der auf den ersten Blick nur eine Kleinigkeit sein mag, es handelt sich um die Änderung eines einzelnen Paragraphen, § 46 im Energiewirtschaftsgesetz. Aber es ist ein Paragraph mit großer Wirkung, und deshalb ist das Gesetz, das wir heute beschließen, wichtig . Über Jahre hinweg hatten wir massive Rechtsunsi- cherheiten bei Ausschreibungen für Leitungskonzessio- nen in Kommunen gehabt . Rechtsstreitigkeiten vor Ge- richt, viel Ärger, viel Aufwand und hohe Kosten bei allen Beteiligten: bei den Kommunen, die für die Ausschrei- bungen zuständig sind, bei den Altkonzessionären, die ihre Konzessionen in der Ausschreibung verloren haben, und bei den Neukonzessionären, die die Ausschreibun- gen gewonnen haben . Deshalb war es unser Ziel als Ko- alition, in diesem Thema endlich mehr Rechtssicherheit zu schaffen und damit zur Befriedung dieser Konflikte beizutragen . Mehr Rechtssicherheit für alle Beteiligten – das hatten wir uns mit dem Koalitionsvertrag vorgenommen, und das setzen wir jetzt um. Wir schaffen Klarheit für die Kommunen, welche Auskunftsrechte sie bekommen . Das ist für sie wichtig, damit sie ihre Ausschreibung rechts- sicher gestalten können. Wir schaffen Klarheit über den Kaufpreis für die Netze . Wir haben uns verständigt auf den Vorschlag des objektivierten Ertragswerts . Darüber haben wir auch in den Beratungen intensiv diskutiert und den Vorschlag geprüft . Er ist angemessen, weil wir damit der Rechtsprechung Rechnung tragen . Indem wir dies jetzt auch im Gesetz selbst regeln, schaffen wir auch hier Rechtssicherheit und Klarheit . Wir schaffen auch Klarheit, dass Verfahrensmängel zügig gerügt werden müssen . Wir hatten es doch erlebt, Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20669 (A) (C) (B) (D) dass teilweise zwei Jahre nach Abschluss eines Verfah- rens noch der Rechtsweg eingeleitet wurde . Wir setzen jetzt eine enge Frist von wenigen Wochen, innerhalb der eine Vergabe gerügt werden kann . Danach gilt eine Ent- scheidung. Auch das schafft Rechtssicherheit, das schafft Klarheit . Für die Kommunen ist auch wichtig, dass die Konzes- sionsabgabe zwingend fortzuzahlen ist, auch wenn über eine Vergabe noch vor Gericht gestritten wird . Die Kom- munen dürfen nicht die Leidtragenden eines Rechtsstrei- tes zwischen Alt- und Neukonzessionär sein . Intensive Beratungen hatten wir über die Vorschrift, dass die Kommunen neben den Kriterien, die § 1 des Energiewirtschaftsgesetzes als Vergabekriterien aufgibt, auch örtliche Belange als Vergabekriterium einbeziehen können . Ich halte dies für richtig, weil die Kommen so mehr Gestaltungsmöglichkeiten in die Hand bekom- men . Aber wir stellen auch klar, dass damit kommunale Unternehmen selbst nicht bevorzugt werden dürfen . Im Rahmen eines Ausschreibungsverfahrens mit einem dis- kriminierungsfreien Wettbewerb müssen die Auswahl- kriterien so gewählt werden, dass jeder Bewerber diese Kriterien erfüllen kann, der private Bewerber genauso wie der kommunale Bewerber . Das gilt auch für Angelegenheiten der örtlichen Ge- meinschaft . Sie können durch einen kommunalen Bewer- ber genauso wie durch einen privaten Bewerber erfüllt werden . Entscheidend ist, dass wir hier einen diskrimi- nierungsfreien Wettbewerb herbeiführen um die besten Lösungen im Interesse der örtlichen Gemeinschaft . In den Detailberatungen haben wir uns auch mit den Vorschlägen befasst, die der Bundesrat in das Verfahren eingebracht hat . So übernehmen wir einen Vorschlag für eine Übergangsregelung bei laufenden Verfahren . Auch dies dient der Rechtssicherheit und der Klarheit . Wir haben uns darüber hinaus über eine andere wich- tige Änderung verständigt . Der Streitwert für den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zur Überprü- fung von Konzessionsverfahren wird vereinheitlicht und auf höchstens 100 000 Euro begrenzt . Damit soll verhin- dert werden, dass überhöhte Gerichtskosten die beteilig- ten Unternehmen davon abhalten, zügig Rechtsschutz zu suchen . Auch diese Regelung dient der Rechtssicherheit und der Klarheit . Ich will aber auch gerne auf einen Punkt hinweisen, den wir ausdrücklich nicht regeln . Die Vorschläge der Fraktion der Linken für Inhouse-Vergabe und Rekommu- nalisierung haben wir ausdrücklich nicht aufgenommen, und zwar aus gutem Grund, denn es geht hier nicht um das Ziel Rekommunalisierung, sondern um das Ziel Rechts- sicherheit in einem Wettbewerbsverfahren . Wettbewerb um die Netzrechte ist gut, er dient auch den Kommunen, weil sie mit den jetzt rechtssicher festgelegten Kriterien einen Wettbewerb auslösen können, wer am ehesten und wer am besten die Netze in der Gemeinde betreibt . Dies kann ein Stadtwerk sein, aber es kann auch ein privates Unternehmen sein . Wir wollen den Wettbewerb, in dem kommunale Un- ternehmen genauso wie private Unternehmen gewinnen können . Entscheidend ist, dass dieser Wettbewerb fair stattfin- det, und dass der Rechtsrahmen sicher ist . Dafür leisten wir mit dem Gesetz, das wir heute beschließen, einen wichtigen Beitrag, und deshalb ist dieses Gesetz zur Änderung von § 46 Energiewirtschaftsgesetz ein gutes Stück Arbeit der Koalition . Johann Saathoff (SPD): In rund 10 Monaten ist Bundestagswahl, und deshalb hat man nicht mehr viel Zeit, Dinge umzusetzen, die man sich vorgenommen hat . Und – zugegeben – es hat recht lange gedauert, bis wir nun endlich das umsetzen, was wir im Koalitionsvertrag zu den Konzessionsvergabeverfahren vereinbart haben . Das Bundeskabinett hat den Gesetzentwurf immerhin schon im Februar dieses Jahres beschlossen . „Dor fallt keen Boom up de eerste Slag“ würde man da in Ostfries- land sagen, was so viel heißt wie „Erfolg braucht Aus- dauer“ . Aber das Ergebnis kann sich durchaus sehen lassen . Vor allem steht dieses Gesetz im Lichte der Rechts- klarheit für die Kommunen bei der Durchsetzung ihres Rechtes, Energienetze in ihrer Gemeinde wieder in die eigene Hoheit und eigene Verwaltung zu übernehmen . Die bisherige Rechtsunsicherheit war ein großer Hemm- schuh für die Kommunen, die allesamt die originären Konzessionsträger für Energienetze verkörpern . Folg- lich ist das Betreiben von Energienetzen ein Akt der öf- fentlichen Daseinsvorsorge und obliegt zu allererst den Kommunen . Trotzdem sollen Kommunen natürlich auch im Rahmen der Vergabeverfahren zu der Entscheidung gelangen, die Energienetze in private Hände zu geben . Allerdings sollen die Kommunen unserer Meinung nach nicht durch vorhandene Rechtsunsicherheiten dazu ge- zwungen werden . Der Kabinettsbeschluss vom 3 . Februar 2016 sah die Einführung des „objektivierten Ertragswerts” vor, um das Bewertungsverfahren bei Neuvergabe der Konzes- sionen für Verteilnetze anders als bisher zu regeln . Wir haben diesen Wert von Anfang an als den richtigen Wert angesehen . Denn mit dem bislang angewendeten Sachzeitwert wurde das Besitzverhältnis unsachgemäß abgebildet, denn das Netz verbleibt ja, vereinfacht gesprochen, bei der Kommune . In der Vergangenheit war der Netzkauf- preis einer der großen Streitpunkte . Der Altkonzessionär wollte möglichst viel Geld haben, der Neukonzessionär möglichst wenig Geld zahlen – absolut verständlich . Für den Konzessionär kann es aber lediglich darum gehen, welche Einnahmen in den 20 Jahren der Konzes- sion er erzielen kann, und darum, das Netz zu verkaufen . Wir begrüßen also die Klarstellung und sind davon über- zeugt, dass damit ein fairer Interessenausgleich zwischen Alt- und Neukonzessionär gegeben ist . Darüber hinaus ist uns die Neuregelung zum Aus- kunftsanspruch der Kommunen gegenüber dem Altkon- zessionär ein wichtiges Anliegen . Der bisherige Zustand, Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620670 (A) (C) (B) (D) in dem sich der Altkonzessionär weigern konnte, dem Auskunftsersuchen der zu Neuvergabe willigen Kom- mune nachzukommen, macht die Notwendigkeit dieser Regelung deutlich . Dadurch war der Altkonzessionär allein durch die Verweigerung der Auskunft dazu in der Lage, eine Neuvergabe mindestens zu behindern und seine eigenen Chancen im Verfahren deutlich zu erhö- hen . Wettbewerbsgleichheit war das sicher nicht, deshalb ist es gut, dass wir es nun zurechtrücken . Das mag sich zunächst banal anhören, aber die notwendigen Leitungs- längen im Verhältnis beispielsweise zu den Straßenkilo- metern einer Gemeinde können drastisch abweichen . Das ist zum Beispiel in Fehndörfern der Fall, wo die Sied- lungsstruktur üblicherweise so gestaltet ist, dass es in der Mitte einen Kanal gibt und an beiden Seiten des Kanals jeweils eine Straße mit jeweils den Energieversorgungs- leitungen. Fehnorte können also bis zu 100 Prozent mehr Leitungen im Boden vergraben haben (und damit zu ver- walten haben) als zum Beispiel Warftendörfer, die übli- cherweise im Rund angelegt wurden . Da wie beschrieben die Leitungslängen enorm voneinander abweichen kön- nen, je nach Siedlungsstruktur, kann eine Gemeinde die Leitungslängen nicht einfach schätzen, sondern ist darauf angewiesen, dass der Altkonzessionär ihr die notwendi- gen Daten zur Verfügung stellt, damit die Gemeinde in einem fairen Bieterverfahren sich gegebenenfalls an ei- ner Ausschreibung beteiligen kann . Darüber hinaus haben wir eine uneingeschränkte Fort- zahlungspflicht der Konzessionsabgabe eingeführt, denn unwillige Altkonzessionäre konnten bislang nicht nur das Verfahren anfechten und dadurch das Verfahren hinaus- zögern, sie konnten zusätzlich auch den Druck auf die Kommune dadurch erhöhen, dass sie nach einem Jahr die Zahlung der Konzessionsabgabe einstellten . Auch das wird für mehr Rechtssicherheit sorgen, ge- nauso wie das neue Rüge- und Präklusionsregime mit den gestaffelten Rügeobliegenheiten. Diese sehen vor, dass Parteien im Verfahren Rechtsverletzungen bis zu einem bestimmten Zeitpunkt rügen müssen, da der An- spruch auf Abhilfe sonst verfällt . Es ist vorgesehen, dass Verstöße im Rahmen der Aufstellung und Gewichtung von Kriterien innerhalb von 15 Kalendertagen ab Zugang der entsprechenden Mitteilung zu rügen sind . Nach Aus- wahlentscheidung haben unterlegene Parteien 30 Tage Zeit, dagegen ihre Bedenken vorzubringen . Mit dem neuen § 47 wird nun also zur Stärkung von Rechtssicherheit und Vertrauensschutz eine Präklusions- vorschrift im Gesetz verankert. Durch diese Pflicht der beteiligten Unternehmen, auch im laufenden Verfahren aktiv auf die Vermeidung und Ausräumung von Rechts- fehlern hinzuwirken, erhöhen sich die Qualität und die Rechtssicherheit von Vergabeverfahren zum Vorteil aller Beteiligten . Sowohl die Gemeinde als auch ein neuer Netzbetrei- ber profitieren von einer zügig eintretenden Rechtssi- cherheit . Ich bin auch froh, dass wir im parlamentarischen Ver- fahren noch einen weiteren Punkt hinzugefügt haben, der die eben genannten ergänzt . Damit meine ich die Begren- zung des Streitwertes auf 100 000 Euro . Damit befreien wir nämlich vor allem die Kommunen von einem weite- ren Damoklesschwert . Das sind die Punkte, die wir verbessert haben. Ich kann aber auch nicht verhehlen, dass es Punkt gab, wo wir – damit meine ich die Sozialdemokraten – uns noch weitere Regelungen hätten vorstellen können . Wir begrüßen auch die grundsätzliche Absicht des Ge- setzes, dass Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft als zulässiges Kriterium im Rahmen der Auswahlent- scheidung Berücksichtigung finden können. Wir sahen und sehen auch weiterhin bei den Kriterien noch weite- ren Konkretisierungsbedarf, vor allem bei der Auswahl, Gewichtung und Beurteilung dieser Kriterien . Und um eine Fehlgewichtung mit Blick auf die im Koalitions- vertrag genannten Ziele zu vermeiden, war mir wichtig, darauf ausdrücklich hinzuweisen, dass im parlamentari- schen Verfahren beim Zustandekommen dieses Gesetzes sich die Koalition einig ist, dass alle Kriterien gleich ge- wichtet werden und keines der Kriterien bei der Vergabe einen Schwerpunkt darstellt . Zur Klarstellung sollte ursprünglich unserer Meinung nach die Hervorhebung „insbesondere der Versorgungs- sicherheit und der Kosteneffizienz“ gestrichen werden, da ansonsten die in § 1 EnWG ebenfalls genannten Zie- le ohne Grund schlechter gestellt werden könnten . Da- mit konnten wir Sozialdemokraten uns aber leider nicht durchsetzen . Wir konnten nun mal nicht alle unsere Wünsche im Gesetz unterbringen . Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass diese Novelle für mehr Rechtssicherheit sorgen wird . Nichtsdestotrotz werden wir die weitere Rechtspre- chung im Auge behalten und weiteren Nachsteuerungs- bedarf prüfen . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Bundesweit wollen immer mehr Städte und Gemeinden ihre Ener- gienetze wieder selbst betreiben . Der Trend zur Re- kommunalisierung hält in diesem Bereich unverändert an . Die Kommunen stoßen dabei immer wieder auf den Widerstand der Energiekonzerne, die sich die derzeit widersprüchliche und umstrittene Gesetzeslage zunut- ze machen . Rekommunalisierungsvorhaben werden auf diese Weise hintertrieben und verhindert . Insbesondere wurde durch eine 2011 durch einen Handstreich von der damaligen Koalition erfolgte Änderung des Energiewirt- schaftsgesetz (EnWG) die Inhousevergabe an kommuna- le Betriebe auf rechtlich schwankenden Boden gestellt, gleichwohl sie europarechtlich zulässig ist . Sie wissen, die Linke hat in mehreren Anträgen zum Thema gefordert, das zurückzunehmen . Kommunen müssen im Rahmen ihrer grundgesetzlich garantierten Selbstverwaltung eigenständig entscheiden können, ob sie die Versorgungsnetze selbst übernehmen wollen oder ob sie sie die Konzessionen dafür ausschreiben . Daher sollte das Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) so klarge- stellt werden, dass die Kommunen die Netzkonzession im Rahmen einer europarechtlich zulässigen Inhouse- vergabe an ein kommunales Unternehmen auch ohne Ausschreibung vergeben können . Genau dies aber ist mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht passiert . Die Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20671 (A) (C) (B) (D) Bundesregierung schreibt ja selbst im Gesetzentwurf, ich zitiere: Nicht aufgegriffen wird die von kommunaler Seite und zuletzt von der Fraktion DIE LINKE (Bundes- tagsdrucksache 18/3745) vorgebrachte Forderung, von einem vergabeähnlichen Verfahren gänzlich absehen zu können und eine direkte In-House-Ver- gabe von der Gemeinde an ein kommunales Unter- nehmen zuzulassen . Der in § 46 EnWG angelegte „Wettbewerb um das Netz“ ist zwingend aufrecht zu erhalten . Dieser ist kein Selbstzweck, er dient dazu, die in § 1 Absatz 1 EnWG normierten Ziele, die im Interesse des Allgemeinwohls liegen, zu erreichen . In der Anhörung zum Gesetzentwurf Energie und zu unseren Anträgen im Ausschuss für Wirtschaft hat Herr Professor Kupfer, der die Gemeinde Titisee-Neustadt in dieser Sache vor dem Bundesverfassungsgericht vertre- ten hat, eindrücklich argumentiert . Die geltende und nun wohl auch kommende Regelung des Energiewirtschafts- gesetzes stelle einen nicht hinnehmbaren Eingriff in die verfassungsmäßig geschützte kommunale Selbstverwal- tung dar . Nun wird die Koalition jetzt sicherlich argumentie- ren: Tja, die Gemeinde Titisee hat ja mit dem Profes- sor Kupfer im Sommer vor dem Bundesverfassungsge- richt verloren! – Dazu möchte ich sagen, dass sich das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 22 . August mit keinem Satz inhaltlich zu der Kommu- nalverfassungsbeschwerde der Stadt Titisee-Neustadt geäußert hat . Es hat lediglich dargelegt, dass die beklag- ten Entscheidungen des Bundesgerichtshofes vom De- zember 2013 die Praxis der Konzessionsvergabe nicht in einem Ausmaß prägen würden, dass jene mit einer Kom- munalverfassungsbeschwerde angreifbar seien . Die Bundesverfassungsrichter haben sogar ausdrück- lich darauf verwiesen, im Fall der Novellierung des EnWG dieses dann vom Bundesverfassungsgericht über- prüfen zu lassen . Und das wird passieren . Denn im Kern stellt das neu geregelte EnWG mit § 46 Absatz 4 Satz 2 weiterhin das Prinzip „Kosteneffizienz“ höher als jenes Prinzip, nach dem Kommunen Angelegenheiten der ört- lichen Gemeinschaft selbst regeln können . Das wird ja noch einmal mit der Protokollnotiz von CDU/CSU und SPD in der letzten Ausschusssitzung untermauert. Die eingefügten Spielräume, Kriterien für kommunale An- gelegenheiten in die Ausschreibungen mit aufzunehmen, sind nicht das Papier wert, auf dem sie stehen. Ich zitiere: „Insbesondere dürfen die aufgestellten Kriterien kom- munale Bewerber gegenüber sonstigen Bewerbern nicht bevorzugen . Dies gilt auch für die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Sinne der neu geschaffenen Vorschrift .“ Ich wundere mich über Herrn Saathoff, der hier von einem „vernünftigen Kompromiss“ spricht . Gibt es we- nigstens noch jemanden in der SPD, der die Interessen der Kommunen im Blick hat oder die einer zukunftsfä- higen Energiewende? Denn der Ansatz dieser Novelle ist ja nicht nur ein Angriff gegen die kommunale Selbst- verwaltung . Er verkennt auch die besondere Rolle, die Stadtwerke in der Energiewende einnehmen können . Denn die Rekommunalisierung von Energienetzen hat viele Vorteile: Sie erleichtert die Umsetzung örtlicher in- tegrierter Klimaschutzkonzepte und steigert die örtlichen und regionalen Wertschöpfungspotenziale . Von Versor- gungsnetzen in kommunaler Hand würden auch insbe- sondere der dringend notwendige Ausbau von Anlagen zur Kraft-Wärme-Kopplung und ihr systemdienlicher Einsatz profitieren. Denn die Verbindung von Strom- und Wärmemarkt wird gerade auf kommunaler Ebe- ne ein zentrales Element des künftigen Stromsystems . Mit ihr kann flexibel ein Ausgleich zur schwankenden Einspeisung von Ökostrom geschaffen werden. Zudem wird das Verteilnetz zunehmend Träger moderner Kom- munikation zur Steuerung von Erzeugungsanlagen und Nachfrage (Smart Grids) . Ferner ist damit zu rechnen, dass im nächsten Jahrzehnt auch Power-to-Gas-Anlagen Bestandteil des Energiesystems sind, die überschüssigen Ökostrom zu brennbaren Gasen verwandeln . Alles Infra- struktur und Geschäfte, die gut innerhalb eines Gemein- degebiets gemanagt werden können . Dort, wo die Netze in einer Hand liegen, werden folglich erhebliche Syner- gien eintreten . Diese werden sich für die Energiewende wie für die Wirtschaftlichkeit von Klimaschutzmaßnah- men gleichermaßen auszahlen . Die Linke sieht in der Rückeroberung der Netze des- halb einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer inno- vativen Form von Stadtwerk . Wir denken an ein Stadt- werk, das sich neben dem Betrieb des Netzes für den Ausbau der Erneuerbaren engagiert, das die Kraft-Wär- me-Kopplung voran treibt, das Sozialtarife möglich macht und ins Energieeinspargeschäft einsteigt . Dieser Weg könnte aber durch das Verbot der Inhouseverga- be künftig weitgehend verbaut sein – zum Nutzen von Energiekonzernen, die sich gerade neue Geschäftsfelder suchen . Die vielfältigen Möglichkeiten für Verteilnetze in kommunaler Hand und Stadtwerke – das alles will die Koalition offensichtlich verhindern. Dies ist ein Trauer- spiel und steht auch in einem deutlichen Spannungsver- hältnis zur sonstigen Rechtsprechung des Bundesverfas- sungsgerichts . Das hat nämlich mehrfach – grundlegend in der sogenannten Rastede-Entscheidung – ausgeführt, dass das Kostenargument zugunsten einer Beschneidung der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie allenfalls in Fällen eines unverhältnismäßigen Kostenanstiegs in Be- tracht kommen kann, nicht aber ganz pauschal und ganz allgemein, wie es jetzt weiterhin sein soll . Ich bin gespannt, wie das Bundesverfassungsgericht eine neue Klage, nunmehr gegen das novellierte EnWG – etwa über den Weg einer erneuten Kommunalverfas- sungsbeschwerde oder aber auch im Rahmen einer abs- trakten Normenkontrolle – entscheiden wird . Klar ist aber jetzt schon eins: Mit dieser Novelle öffnen Sie den Weg für eine unendliche Serie neuer Gerichts- verfahren . Das Ziel, für die Kommunen mehr Rechtssi- cherheit zu schaffen, haben sie grandios verfehlt. Das ist nicht nur politisch bedenklich, es ist auch stümperhaftes Handwerk . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620672 (A) (C) (B) (D) Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Betrieb von Strom- und Gasnetzen ist aus unserer Sicht kommunale Daseinsvorsorge . Deshalb wollen wir, dass Kommunen eine weitgehende Entscheidungsfreiheit bekommen, wer Netze betreibt . Wenn die Kommune es zum Beispiel mit ihrem Stadtwerk nicht selbst betreiben will, soll es bei der Neuvergabe einen Wettbewerb um das Netz geben . Der Netzbetrieb ist natürliches Monopol, stark reguliert und darüber ist sichergestellt, dass alles effizient läuft. Fast 900 – oft kommunale – Netzbetrei- ber in Deutschland belegen einen effizienten Netzbetrieb. Deshalb haben wir Grüne kein Verständnis, warum Kom- munen mit Gesetz gezwungen werden, eine Vergabeent- scheidung an die allgemeinen und unbestimmten Ziele des Energiewirtschaftsgesetzes zu knüpfen, die sowieso eingehalten werden müssen . Wir haben kein Verständnis, warum in der Gesetzes- novelle nicht die Möglichkeit einer Inhouse-Vergabe geschaffen wird. Das ist in anderen Bereichen mögliche und sinnvolle Praxis. Warum nicht hier? Ich habe bei den vielen Debatten keine wirkliche Be- gründung von Ihnen, liebe Kollegen von Union und SPD, gehört . Es gibt nur eine Erklärung: Sie misstrauen den Kommunen, und das finde ich, ehrlich gesagt, unerhört angesichts der Tatsache, dass Hunderte Kommunen jeden Tag unter Beweis stellen, dass sie Netzbetrieb können . Nun hatten Sie sich in Ihrem Koalitionsvertrag vor- genommen, mehr Rechtssicherheit zu schaffen, wenn Kommunen Netzbetreiber wechseln wollen . Das ist auch bitter nötig, denn Schwarz-Gelb hat 2010 eine katastro- phale Rechtslage geschaffen. Die allermeisten Netzüber- nahmen führen zu jahrelangen Rechtsstreitigkeiten . Die bisherige Formulierung des § 46 EnWG ist ein Arbeits- beschaffungsprogramm für Rechtsanwälte, Berater und Gerichte . Es ist ein Beispiel für richtig miese Gesetzge- bung . Das produziert die absurde Situation einer Vielzahl sich widersprechender Gerichtsurteile und potenziert Rechtsunsicherheit für alle Beteiligten . Eigentlich wollten Sie das Problem gleich zu Beginn der Legislatur lösen . Gebraucht haben Sie, meine Damen und Herren von der Großen Koalition, aber die gesamte Wahlperiode für die lächerliche Neufassung von einein- halb Paragrafen. Das allein ist schon ein Armutszeugnis. Noch schlimmer ist aber das, was herausgekommen ist . Sie lösen die bisherige Rechtsunsicherheit nicht wirklich, sondern schaffen sogar noch neue: Sie führen weitere unbestimmte Rechtsbegriffe ein, wie „Netzwirt- schaftliche Anforderungen“ und „Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft“ – klingt schön, aber jeder ver- steht etwas anderes darunter . Wir konnten uns ja alle im Ausschuss schon ein Bild davon machen, dass die CDU/ CSU etwas völlig anders darunter versteht als die SPD, und in der Anhörung haben die Sachverständigen in aller Klarheit darauf hingewiesen . Die Große Koalition hat nun fast vier Jahre über die- ses Gesetz gebrütet . Und deshalb ist Ihnen klar, was Sie tun . Es ist gewollte Rechtsunsicherheit, und das ist nicht nur ein Armutszeugnis – das ist ein Skandal . Das daraus folgende Arbeitsbeschaffungsprogramm für Berater, Anwälte und Gericht ist noch das geringste Problem. Für diese von Ihnen gewollte Rechtsunsicher- heit kann es nur eine Erklärung geben: Sie wollen Kom- munen dem Risiko jahrelanger Gerichtsauseinander- setzungen aussetzen und so davon abhalten, Netze von Konzernen wie RWE, Eon oder EnBW selbst zu über- nehmen oder an andere zu übertragen . Wahrscheinlich geht es Ihnen darum, was der Präsi- dent der Bundesnetzagentur Homann offen fordert: Er will britische Verhältnisse, also die Zahl der Netzbetrei- ber auf eine Handvoll reduzieren . Und Ihr Gesetz soll Netzübernahmen durch Kommunen verhindern . Da machen wir nicht mit! Diese Gesetzesnovelle ist kommunalfeindlich und läuft Zielen der dezentralen Energiewende zuwider . Sie dient ausschließlich den In- teressen der Energiekonzerne und ihren großen Verteil- netzbetreibern . Wir wollen dagegen die Kommunen stär- ken . In einer Welt, in der die Stromerzeugung aus Wind und Sonne die zentrale Säule bildet und von Millionen Erzeugungsanlagen und Flexibilität bestimmt wird, ist Dezentralität eine Stärke . Das scheinen Sie immer noch verstanden zu haben . Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Luftsicherheitsgesetzes (Tagesord- nungspunkt 22) Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): In zweiter und dritter Lesung beraten wir heute über die Novelle zum Luftsicherheitsgesetz . Mit den darin vorgesehenen Änderungen setzen wir – längst überfällig – europäisches Recht um, verbessern die Sicherheit der zivilen Luftfahrt und schaffen einen rechtssicheren Rahmen für Passagiere und Unternehmen . Dank der zukünftig zur Verfügung ste- henden Instrumente können wir schneller und effizienter auf mögliche Gefährdungslagen im Bereich der Luftfahrt reagieren . Zudem sind mit dem heutigen Beschluss Maß- nahmen vorgesehen, mit denen die Sicherheitskontrollen zusätzlich verbessert werden, etwa im Bereich der siche- ren Lieferketten in der Luftfracht . Auf einige aus meiner Sicht wichtige Punkte möchte ich gerne näher eingehen . Ein wesentlicher Punkt der Gesetzesänderungen be- trifft die schon angesprochene sichere Lieferkette. Ge- nauer gesagt geht es um die in diesem Bereich tätigen Angestellten und zukünftige Veränderungen ihrer Si- cherheitsüberprüfung . In diesem Zusammenhang sahen die Wirtschaftsverbände massive Probleme – gerade in Bezug auf die nötige Flexibilität beim Einsatz von Perso- nal in der zeitkritischen Luftfracht . Aufgrund der bisher fehlenden Umsetzung der relevanten EU-Richtlinie in deutsches Recht wird diese Richtlinie in Deutschland ge- genwärtig direkt angewendet . Danach kann die Überprü- fung von Mitarbeitern im Bereich der sicheren Lieferket- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20673 (A) (C) (B) (D) te – ohne Tätigkeit am Flughafen – im Schnellverfahren durchgeführt werden . Kernelement dieser Schnellüber- prüfung ist eine Selbstauskunft der Arbeitnehmer, ohne dass die Firmen die Möglichkeit haben, die gemachten Angaben genauer zu überprüfen . Diese Option wird zu- künftig gestrichen . Mit den heute zu beschließenden Änderungen wer- den die in der sicheren Lieferkette tätigen Mitarbeiter EU-rechtskonform einer Zuverlässigkeitsüberprüfung unterzogen, die von staatlicher Seite vorgenommen wird . Es dürfte klar sein, dass die bisherige Lösung, die bei Lichte betrachtet nur auf Treu und Glauben beruht, nicht sicher sein kann . Selbst wenn die Firmen, die diese Über- prüfung intern für ihre Mitarbeiter bisher durchgeführt haben, Teil der sicheren Lieferkette und entsprechend zertifiziert sind. Nur eine staatliche Überprüfung, bei der die Möglichkeit besteht, den Hintergrund des Antrag- stellers genauestens zu durchleuchten, bietet die Gewähr dafür, dass nur wirklich zuverlässige Personen in einem sensiblen Bereich der sicheren Lieferkette der Luftfracht tätig sind . Anmerken möchte ich in diesem Zusammenhang noch, dass es Rückmeldungen vonseiten der Sicher- heitsbeauftragten aus den betroffenen Firmen gab, die die bisherige Schnellüberprüfung aus Haftungsgründen ablehnen . Zukünftig wird es also die Zuverlässigkeits- überprüfung analog zu den Beschäftigten an Flughäfen geben . Für einen reibungslosen Übergang zum neuen Überprüfungssystem ist eine Übergangsfrist von zwölf Monaten vorgesehen. Dies findet so auch Zustimmung beim BDI . Auch in einem weiteren Bereich spielt die Zuverläs- sigkeitsüberprüfung eine wichtige Rolle . Nach aktueller Gesetzeslage (§ 7 Absatz 1 Nummer 4 Luftsicherheits- gesetz) müssen sich auch Piloten einer solchen Überprü- fung unterziehen . Daran wird sich auch zukünftig nichts ändern . Zwar hatte der Bundesrat, unterstützt von den Fachverbänden, hier eine Streichung angeregt und dies unter anderem damit begründet, dass diese Überprüfung nicht EU-rechtskonform sei . Dieser Vorstoß ist aber aus Sicherheitsgründen abzulehnen . Aus meiner Sicht wäre es nach den bisherigen Erfahrungen mit internationalem Terrorismus seit dem 11 . September fahrlässig, wenn wir es zuließen, dass sich Interessierte problemlos zu Pilo- ten ausbilden lassen können und dann mit Flugzeugen möglicherweise großen Schaden anrichten . Auch auf EU-Ebene sollte es hier zu einer Änderung der Rechts- lage kommen . Ein weiterer Punkt bei den Beratungen war das Thema Beleihung von privaten Sicherheitskräften . Hier sah der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf in § 5 Absatz 1 eine Ausweitung des Einsatzes – verbunden mit der notwendigen Beleihung – von privaten bewaffne- ten Sicherheitskräfte im Kontrollbereich der Flughäfen vor . Die in der Anhörung zu diesem Gesetz vorgetragene Kritik der Sachverständigen hat die Koalition aufgegrif- fen und diese angedachte Möglichkeit gestrichen . Und schließlich werden mit der vorliegenden Geset- zesnovelle die Zuständigkeiten für die Verhängung von Ein- und Überflugverboten für den deutschen Luftraum zwischen dem Innen- und Verkehrsministerium genauer gefasst . Zusätzlich besteht künftig auch die Möglichkeit gegenüber deutschen Fluggesellschaften, ein Flugverbot für Krisengebiete weltweit zu verhängen . Dies ist unter anderem die Lehre aus dem Abschuss der malaysischen Zivilmaschine MH17 über der Ukraine . Im Ergebnis liegt uns heute ein Gesetzentwurf vor, dem wir aus meiner Sicht guten Gewissens zustimmen können . Wir sollten nun nicht länger zögern und das Ge- setzgebungsvorhaben am heutigen Abend abschließen und EU-Recht umsetzen . Dies ist gerade für die Luftver- kehrswirtschaft wichtig, damit diese endlich Rechtssi- cherheit hat und Sicherheitslücken geschlossen werden . Peter Wichtel (CDU/CSU): Am 29 . September die- ses Jahres wurde das Erste Gesetz zur Änderung des Luftsicherheitsgesetzes mit der ersten Lesung in den Bundestag eingebracht . In den vergangenen Wochen ha- ben wir uns im Verlauf der parlamentarischen Beratun- gen intensiv mit dem Gesetzentwurf auseinandersetzen können, auch im Rahmen einer öffentlichen Anhörung. Mit einem Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen konnten wir den Entwurf des Bundesinnenministeriums an einigen Stellen noch verbessern, sodass wir mit einer Verabschiedung heute einen überaus wichtigen Beitrag dazu leisten, das Sicherheitsniveau im Luftverkehr wei- ter zu erhöhen . Für mich als Verkehrspolitiker ist besonders wichtig, dass nicht nur Flugverbote für Einflüge, Überflüge, Starts oder Frachtbeförderung im Inland verhängt werden kön- nen . Die Bundesregierung erhält mit der Änderung des Luftsicherheitsgesetzes zukünftig auch eine gesetzliche Grundlage für den Erlass von Flugverboten über aus- ländischen Kriegs- oder Krisengebieten . Bisher war es gängige Praxis, dass alleine die Luftfahrtunternehmen und Luftfahrzeugführer darüber entscheiden, welche Flugrouten sie wählen . Der Abschuss des Malaysia-Air- lines-Fluges MH17 im Jahr 2014 hat allerdings verdeut- licht, dass ein Flugzeug über Kriegs- oder Krisengebie- ten auch in großer Höhe abgeschossen werden kann . Mit dem neuen § 26a, welcher der Zuständigkeit halber im Luftverkehrsgesetz ergänzt wird, gibt es zukünftig eine klare Ermächtigungsgrundlage für den Erlass von Flug- verboten für deutsche Luftfahrzeuge über ausländischen Kriegs- oder Krisengebieten . Ein solches Verbot außer- halb des deutschen Hoheitsgebietes kann sowohl den Ein- und Überflug als auch Start oder Landung umfassen. Als ebenso begrüßenswert erachte ich, dass der An- wendungsbereich des Luftsicherheitsgesetzes auf alle Flughäfen und auf alle Luftfahrtunternehmen ausgewei- tet wird. Bisher waren nur Verkehrsflughäfen und Un- ternehmen mit Luftfahrzeugen über 5,7 Tonnen Höchst- gewicht erfasst . Hier gilt es allerdings zu beachten, dass sich durch diese Änderung keine Nachteile, beispielswei- se für das Luftrettungssystem, ergeben dürfen . Wir haben daher bezüglich der Sicherheitsmaßnahmen der Flug- platzbetreiber und der Luftfahrtunternehmen Ausnahme- möglichkeiten im Gesetzentwurf installiert, von welchen die zuständigen Luftsicherheitsbehörden mit Blick auf die einsatzbezogenen Notwendigkeiten von polizeilichen Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620674 (A) (C) (B) (D) Einsätzen sowie Ambulanz-, Notfall- und Rettungsflügen Gebrauch machen können . Ein weiterer wichtiger Bestandteil der Gesetzesän- derung ist die Ausweitung der Zuverlässigkeitsüberprü- fung, mit der insbesondere das Sicherheitsniveau im Bereich der Luftfracht erhöht werden soll . So werden zukünftig auch Arbeitnehmer, für die bisher die soge- nannte beschäftigungsbezogene Überprüfung durch den Arbeitgeber ausgereicht hat, der behördlichen Zuverläs- sigkeitsüberprüfung unterzogen. Diese Änderung betrifft insbesondere das im Bereich der sicheren Lieferkette ein- gesetzte Personal, das beispielsweise bei Versandagen- turen, Speditionen, Logistikanbietern oder integrierten Lager- und Transportdienstleistungsunternehmen im un- mittelbaren Umfeld der Luftfracht arbeitet . Es ist überaus wichtig, diese sensible und störanfällige Transportkette so sicher wie möglich zu gestalten . Dass insbesondere die Erhöhung des Sicherheitsni- veaus im Bereich der Luftfracht mit finanziellen Mehr- ausgaben für die Logistikbranche verbunden sein wird, kann nicht bestritten werden . Das ist vor dem Hinter- grund der Sensibilität des Luftfrachtverkehrs und des Schutzes vor möglichen Innentätern unserer Ansicht nach aber unumgänglich . Darüber hinaus sind die Ver- kehrspolitiker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion nach den Gesprächen mit dem zuständigen Bundesinnenmi- nisterium aber davon überzeugt, dass die Luftfahrtbran- che durch das Änderungsgesetz nicht mit zusätzlichen Kosten belastet wird . Abschließend betrachtet freue ich mich darüber, dass wir nach der gemeinsamen parlamentarischen Beratung mit den beteiligten Arbeitsgruppen und unserem Koali- tionspartner heute einem Gesetzentwurf zustimmen kön- nen, der die Sicherheit des gesamten Luftverkehrs wei- ter spürbar stärken wird . Allen Beteiligten gilt daher ein herzlicher Dank . Susanne Mittag (SPD): Mit der Änderung des Luft- sicherheitsgesetzes, die heute hier zu beschließen ist, vollziehen wir eine europarechtliche Veränderung und erhöhen damit die Sicherheit im Flugverkehr . Der Zweck des Gesetzes ist in § 1 beschrieben . Ich zi- tiere: „Dieses Gesetz dient dem Schutz vor Angriffen auf die Sicherheit des Luftverkehrs, insbesondere von Flug- zeugentführungen, Sabotageakten und terroristischen Anschlägen .“ Das heißt bei den Änderungen konkret, wir verbessern damit künftig besonders die Sicherheit in der sogenann- ten Luftseite, die bislang eher vernachlässigt worden war . Das Gesetz wird viele Millionen Menschen in unse- rem Land betreffen. Mehr als 250 Millionen Passagiere werden in diesem Jahr über deutsche Flughäfen abge- fertigt . Dabei spielt das Thema Sicherheit eine heraus- ragende Rolle, besonders nach den Anschlägen auf die Flughäfen in Brüssel und Istanbul . Die größte Veränderung wird es bei der Sicherheits- überprüfung geben . Durch viele Gespräche und auch Briefe weiß ich, dass diese Regelung für die Beteiligten der sicheren Lieferkette oder auch für die Privat- und Geschäftsfliegerei eine Entscheidung ist, die keine Be- geisterung hervorgerufen hat . In Zukunft reicht die soge- nannte beschäftigungsbezogene Überprüfung nicht mehr aus . Vielmehr muss eine behördliche Zuverlässigkeits- überprüfung eingeholt werden, bevor Mitarbeiter oder auch Piloten von Geschäfts- oder Privatflugzeugen in einem sicherheitssensiblen Bereich arbeiten oder landen können . Diese Regelung ist überfällig, denn die bisherige Pra- xis wird den neuen Sicherheitsanforderungen schon lan- ge nicht mehr gerecht . Bislang war es eher so, dass man sich nur auf die Aussagen eines Bewerbers verlassen hat . Jetzt werden die Sicherheitsbehörden zwingend mit ein- bezogen . Das sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, erstaunlich, warum erst jetzt . Und das nicht nur bei der Einstellung eines Bewerbers in einem Bundesland, sondern auch informell bundeslandübergreifend . Da sind wir den Anregungen des Bundesrates gefolgt, und ich denke, damit erreichen wir erheblich mehr Sicherheit . Natürlich haben wir uns im Beratungsprozess auch mit weiteren Bedenken der Branche auseinandergesetzt: Wir haben eine 12-monatige Übergangszeit verabre- det, bevor alle Beschäftigten die Zuverlässigkeitsüber- prüfung vorweisen müssen . Das gibt sowohl Unter- nehmen und Beschäftigten als auch den Behörden den nötigen zeitlichen Spielraum, um Zuverlässigkeitsüber- prüfungen beantragen und bearbeiten zu können . Auch Krankenhäuser und die Luftrettung hatten Be- denken geäußert, die wir aufgegriffen haben. Deren Sorge war, dass der Betrieb von Hubschrauberlandeplätzen an Krankenhäusern durch zu straffe Sicherungsmaßnahmen gefährdet werden könne . Deshalb haben wir jetzt im Än- derungsantrag festgeschrieben, dass die Luftsicherheits- behörden nach einer Risikoanalyse bei abgegrenzten Be- reichen von Flugplätzen Ausnahmen gestatten können . Dabei soll den einsatz- und betriebsbezogenen Notwen- digkeiten von polizeilichen Flügen sowie von Rettungs- flügen Rechnung getragen werden. Das war allen in der Großen Koalition wichtig, denn wir wollen gerade das hervorragende System der Luftret- tung in Deutschland nicht einschränken oder mit büro- kratischen Hemmnissen unnötig belasten . Für alle, die auf schnelle Hilfe aus der Luft angewie- sen sind, ist das einzige Rettungsmittel der Hubschrau- ber, der in kürzester Zeit vor Ort sein kann und Schwerst- verletzte in weiter entfernte Spezialkliniken fliegen kann. Bei den Verhandlungen haben wir einige Runden zum Thema Luftsicherheitsgebühren gedreht . Der neue § 17a sieht nun ganz klar auch die Gemeinkosten der Rechts- und Fachaufsicht in der Gebühr eingeschlossen . Das war bisher nicht so explizit der Fall . Meinem Kollegen Arno Klare aus dem Verkehrsaus- schuss möchte ich da ganz besonders für seinen Einsatz danken . Da in absehbarer Zeit weder das zuständige Mi- nisterium noch die Bundespolizei absolut gerichtsfest die zur Gebührenerhebung notwendige Aufschlüsselung der anteiligen Kosten vornehmen kann, fehlt es weiterhin an der genauen Zuordnung der übernommenen Aufgaben . Solange es also kein verbessertes Erfassungs- und Un- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20675 (A) (C) (B) (D) terscheidungssystem gibt, werden etwaige Kosten auch nicht in Rechnung gestellt . Damit soll es also in abseh- barer Zeit und unter Bezug auf die mehrfach bestätigten Angaben des Verkehrsministeriums keine Steigerungen der Luftsicherheitsgebühren durch dieses Gesetz geben . Wir werden das Thema weiter begleiten . In den Haushaltsberatungen der vergangenen Woche wurden auch bereits Entlastungen bei den Flugsiche- rungsgebühren beschlossen . Das ist nötig, denn der Wett- bewerbsdruck auf die deutschen Flughäfen ist enorm . Deshalb dürfen wir trotz der gestiegenen Sicherheits- anforderungen die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Luftfahrtbranche nicht aufs Spiel setzten . Hier sind in die Zukunft reichende Planungen erforderlich, die wir von der SPD vorantreiben werden. In der Anhörung zum Luftsicherheitsgesetz hat die Mehrheit der Sachverständigen ebenso wie die SPD kritisiert, dass das Sicherheitspersonal Waffen bei Flug- gastkontrollen tragen solle . Die Bundespolizei ist für die Sicherheit an den Flughäfen zuständig . Sie kann durch Sicherheitsfirmen ergänzt werden, die dann für die Kon- trollen von Personen und Gepäck zuständig sind. Das ist mit dem gesetzlichen Begriff der Beleihung gemeint. Im Gesetz wird nun festgeschrieben, dass die Aus- bildung der Mitarbeiter der Sicherheitsfirmen weiter verbessert werden muss und diese immer wieder an die aktuellen Sicherheitsstandards angepasst wird . Die in diesem Zusammenhang geplante Bewaffnung des Si- cherheitspersonals im Bereich der Personenkontrollen wird nicht zugelassen . Das ist und bleibt hoheitliche po- lizeiliche Aufgabe und darf nicht in die Hände von pri- vaten Anbietern vergeben werden . Das widerspricht dem Grundgesetz und auch jeglicher Sicherheitskonzeption . Damit stellen wir keinesfalls die 20 000 Mitarbeiter der privaten Sicherheitsunternehmen unter Generalver- dacht . Nein, sie leisten gute Arbeit, und das in einem sehr schwierigen Umfeld: Sie sollen möglichst schnell, möglichst gründlich und dabei auch noch ausgesprochen höflich ihren Kontrollaufgaben nachkommen. Und das tun sie auch zum allergrößten Teil . Doch was wir in dem Entwurf der Bundesregierung als SPD nicht akzeptieren konnten, war die Ausweitung der Beleihungsregelungen für Bewaffnete. Das geht mit uns nicht . Diesem Einstieg in die Billigpolizei konnten wir nicht zustimmen . Hoheitliche Aufgaben, die das Ge- waltmonopol des Staates betreffen, dürfen nicht in die Hände von Privaten vergeben werden, vor allem nicht, wenn das Ganze auch noch im öffentlichen Raum wie einem Flughafen stattfinden soll. Ich bin froh, dass wir diesen Punkt gemeinsam mit der Union aus dem Entwurf gestrichen haben . Die Sicherheit des Luftverkehrs ist eben eine komple- xe ganzheitliche Aufgabe, wo wir eventuell Fehlerquel- len frühzeitig erkennen und dann gegensteuern müssen . Terroristische Anschläge, Cyberangriffe oder Amokläufe können nicht ausgeschlossen werden . Sie werden kon- zeptionell in die Sicherheitskonzepte der Polizei aufge- nommen . Wir dürfen dabei auch nicht vergessen, dass sich die Sicherheitsansprüche weiterentwickeln ebenso wie die Gefährdungsaspekte . Es ist ein Sicherheitsbe- reich, der sehr großflächig ist, von dem mit einem Mal sehr viele Menschen gleichzeitig massiv betroffen sein können, von wo sich Gefahrenlagen sehr schnell aus- breiten können – eben durch Flugzeuge – und immer neuartige Bedrohungen entstehen können . Kriminalität und Terror entwickeln sich außerordentlich schnell . Die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden im In- und Ausland ist gut, und sie wird massiv ausgebaut . Das alles sind Gründe, weshalb die Sicherheit unserer Flughäfen ausgeweitet und weiterentwickelt werden, aber in staatli- cher Hand bleiben muss . Ulla Jelpke (DIE LINKE): Angesichts von knapp 220 Millionen Passagieren, die im vorigen Jahr an deut- schen Flughäfen abgefertigt wurden, ist der Bereich der Luftsicherheit in seiner Bedeutung kaum zu überschät- zen . Jeder möchte gesund an seinem Ziel ankommen, und deswegen möchte niemand, dass bei der Sicherheit im Luftverkehr geschludert wird . Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Luftsicherheitsgeset- zes wird diesem Ziel aber nicht gerecht . Um mit einem Punkt zu beginnen, dem wir teilweise zustimmen: Die sogenannte Zuverlässigkeitsprüfung der Mitarbeiter im Flughafenbereich wird ausgeweitet . Das ist insofern zu begrüßen, als keiner wollen kann, dass ter- roristische Strukturen ihre Leute in sensible Sicherheits- bereiche einschleusen . Fragwürdig ist aber schon, dass der Verfassungsschutz an dieser Überprüfung teilhat . Der hat sich ja in der Vergangenheit häufig genug als Unter- stützer terroristischer Organisationen erwiesen . Das größte Manko bei der Ausweitung der Zuver- lässigkeitsprüfungen besteht aus Sicht der Linken aber darin, dass die Rechte der Kontrollierten nicht ebenso ausgeweitet werden . Es ist ja keine Bagatellfrage, ob jemandem das Recht auf einen Arbeitsplatz verweigert wird oder nicht. Wer bei der Prüfung durchfliegt, der muss doch mindestens das Recht haben, dagegen gericht- lich vorzugehen, und dann darf es nicht sein, dass der Geheimdienst einfach mauert und Unterlagen, die angeb- lich eine Sicherheitsgefährdung durch den Betroffenen beweisen sollen, für sich behält . Also: Sicherheitsüber- prüfungen auf der einen Seite müssen einhergehen mit vollem Rechtsschutz auf der anderen Seite . Das verwei- gert die Bundesregierung, so wie sie ja immer einseitig auf Kontrolle und Repression statt auf die Wahrung von Bürgerrechten hinarbeitet . Noch weit bedenklicher ist das Vorhaben, die Privati- sierung von Aufgaben der öffentlichen Sicherheit zu er- weitern . Denn die Bundesregierung will künftig privaten Firmen erlauben, bewaffnete Kräfte einzusetzen, die ge- genüber den Menschen am Flughafen auch Zwangsmaß- nahmen durchführen sollen . Das ist wirklich ein Novum, das in der Anhörung von den Sachverständigen auch mas- siv kritisiert worden ist . Wir kennen das zwar schon, dass bewaffnete Privatfirmen zum Beispiel Atomkraftwerke oder Bundeswehrkasernen bewachen . Aber da kommen sie ja in der Regel nicht mit einem zivilen Publikum in Kontakt, weil das keine öffentlichen Bereiche sind. Ganz anders ist das bei Flughäfen, die selbstverständlich öf- fentliche Anlagen sind, in denen sich, wie erwähnt, Milli- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620676 (A) (C) (B) (D) onen von Menschen im Jahr aufhalten . Und da kann man nicht einfach sagen: Die lassen wir jetzt mal von bewaff- neten Hilfssheriffs bewachen, die ihren Anordnungen zur Not mit Schusswaffen Nachdruck verleihen. Denn hier handelt es sich ganz klar um eine Maßnah- me, zu der nur staatliche Behörden befugt sind, sprich: die Bundespolizei . Die haben schließlich eine lange Ausbil- dung, um zu lernen, mit zivilem Publikum deeskalierend umzugehen. Bei Privaten ist die Ausbildung deutlich we- niger intensiv, deswegen sehen wir in ihrer Bewaffnung eher eine Gefährdung als einen Vorteil für die Sicherheit . Der Gesetzentwurf enthält noch weitere Privatisie- rungsvorhaben. Private Luftfrachtunternehmen sollen künftig von anderen privaten Unternehmen zertifiziert werden . Anstatt das Luftfahrtbundesamt mit dem not- wendigen Personal auszustatten, werden seine Aufgaben privatisiert, und es führt am Ende nur noch Aufsicht über die Zertifizierer, aber nicht mehr über die Frachtunter- nehmen selbst . Da kann man sich leicht denken, was passiert, wenn mal etwas gründlich schiefgeht und es zu ernsthaften Zwischenfällen kommt: Dann werden sich alle Beteilig- ten gegenseitig die Verantwortung zuweisen, und keiner will es am Ende gewesen sein. Denn je mehr Privatun- ternehmen im Sicherheitsbereich agieren, desto weniger ist eine öffentliche Kontrolle gewährleistet bzw. desto größer wird der Koordinationsaufwand . Das ist doch ein himmelschreiender Widerspruch, einerseits Sicherheits- überprüfungen zu verschärfen, um mehr Kontrolle über das Personal an den Flughäfen zu erhalten, und dann an- dererseits immer weiter zu privatisieren und letzten En- des so genau das Gegenteil zu bewirken . Dabei gibt es ja Alternativen . Die hat vor allem die Gewerkschaft der Polizei aufgezeigt, indem sie eine Bündelung aller Sicherheitsaufgaben in einer Hand vor- geschlagen hat. Die GdP regt an, zu diesem Zweck eine Anstalt des öffentlichen Rechts zu gründen. Ob Sicher- heitskontrollen im Vorfeld, im öffentlichen Bereich, bei Passagieren, Fracht oder auf dem Rollfeld – alles wäre in einer Hand . Damit wären die Verantwortlichkeiten klar geregelt . Auch für die Beschäftigten wäre dies von Vor- teil, weil sie dann Angestellte eines öffentlichen Unter- nehmens wären und abhängig von ihrer Ausbildung auch in anderen Bereichen der Luftsicherheit eingesetzt wer- den könnten. Damit ließe sich dem Problem von Priva- ten entgegenwirken, das von hoher Fluktuation, geringer Mitarbeiterbindung, schlechten Arbeitsbedingungen und daraus resultierend leider häufig auch geringer Qualifika- tion und Motivation gekennzeichnet ist . Wer also wirklich mehr Sicherheit im öffentlichen Be- reich will, darf es nicht zu einem Wildwuchs an privaten Sicherheitsfirmen kommen lassen, die sich selbst zertifi- zieren und kontrollieren . Die Sicherheit zu garantieren, ist die wichtigste Aufgabe des Staates . Das heißt nicht, dass jeder Flughafenangestellte, der das Handgepäck kontrolliert, ein Beamter sein muss, aber der Staat muss die Kontrolle über den Sicherheitsbereich behalten und darf sie nicht auslagern . Deshalb bedauert Die Linke, dass dem Vorschlag der GdP nicht gefolgt wurde. Den Gesetzentwurf sehen wir als Verlust an Sicherheit und lehnen ihn deswegen ab . Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Sicherheitsniveau der zivilen Luftfahrt ist das Ergeb- nis des ständigen Zusammenwirkens einer Vielzahl von unterschiedlichen Maßnahmen und Faktoren . Ein gutes oder sehr gutes Sicherheitsniveau zu halten, erfordert da- bei kontinuierliche Bemühungen, relevante Entwicklun- gen möglichst frühzeitig zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren . Das schließt auch uns hier im Bundestag mit ein, und die parlamentarische Befassung mit möglichen oder be- stehenden Sicherheitsproblemen ist daher gerade Aus- druck eines hohen Sicherheitsniveaus und nicht das Ge- genteil . Dass wir den vorliegenden Gesetzentwurf heute in erster Linie vor dem Hintergrund der zahlreichen schwe- ren Vorfälle der letzten Jahre, vor allem aber vor dem Hintergrund der aktuellen Sicherheitslage diskutieren, ist völlig klar . Ich habe aber große Zweifel, ob der vorliegende Ge- setzentwurf allen Anforderungen gerecht wird, die an ihn zu stellen sind . Nicht zuletzt die Expertenanhörung im Innenausschuss hat große Schwächen der vorgeschlage- nen gesetzlichen Regelungen deutlich gemacht, die auch der Änderungsantrag, der uns jetzt vorgelegt wurde, nur teilweise beheben kann . So begrüße ich natürlich, dass die im Gesetzentwurf ursprünglich vorgesehene Möglichkeit, Aufgaben an be- waffnete private Sicherheitskräfte zu übertragen, wieder gestrichen wurde . Dadurch wurde aber nur ein besonders eklatanter Bruch mit der Verfassung abgewendet . Andere verfassungsrechtliche Bedenken bestehen fort . Die im Zusammenhang mit der Übertragung von Aufgaben an private Dienstleister bestehende staatliche Gewährleistungsverantwortung beispielsweise hat zur Folge, dass die Aufsichtsbehörde auch über die notwe- nigen Informations- und Durchsetzungsbefugnisse ver- fügen muss, um die Aufsicht effektiv führen zu können. Klarstellende Regelungen dazu wären daher nicht nur wünschenswert gewesen, sie hätten auch geholfen, für Rechtsklarheit und Rechtssicherheit zu sorgen . Mehr Rechtsklarheit hätten auch Krankenhäuser, Notärzte und die Betreiber von Landeplätzen für Ret- tungshubschrauber verdient, für die nun im Einzelfall geklärt werden muss, welche konkreten Sicherheitsan- forderungen gelten sollen . Eine Einzelfallprüfung steht auch allen Beschäftigten bevor, die nun in das Verfahren der behördlichen Zuver- lässigkeitsprüfung einbezogen werden . Ein Schritt der sicherheitspolitisch begründet ist . Versäumt wurde aber auch hier, die Verfahren so anzupassen, dass gleichzeitig auch die Rechte der Betroffenen geschützt und die gege- benenfalls daraus folgenden Konsequenzen für die Be- rufsausübung angemessen berücksichtigt werden . Dazu hätte am besten das gesamte Verfahren der Zu- verlässigkeitsüberprüfung überarbeitet, jedenfalls aber Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20677 (A) (C) (B) (D) die gerichtliche Überprüfbarkeit verbessert werden müs- sen . Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Aufgaben der Bundesanstalt für Finanzmarkt- stabilisierung (FMSA-Neuordnungsgesetz – FMSA- NeuOG) (Tagesordnungspunkt 25) Dr. André Berghegger (CDU/CSU): Der vorlie- gende Gesetzentwurf weist eine längere Entstehungsge- schichte auf . Am 20 . Juli 2016 hat das Bundeskabinett den Regierungsentwurf beschlossen . Dieser Entwurf ist parallel beim Bundestag und Bundesrat eingebracht wor- den . Der Deutsche Bundestag hat in seiner Sitzung am 22 . September 2016 in erster Lesung darüber beraten . Einen Tag später, am 23 . September 2016, hat der Bun- desrat mehrere Änderungen gegenüber dem Regierungs- entwurf vorgeschlagen . Nach intensiven Diskussionen zwischen Bund und Ländern ist inzwischen eine Verständigung erzielt wor- den . Am 30 . November 2016 haben wir daher im fe- derführenden Haushaltsausschuss entsprechend diverse Änderungen eingebracht und beraten, die diese Verstän- digung mit den Ländern aufgreifen . So können wir am heutigen Tage nun abschließend im Plenum des Deut- schen Bundestages über den Gesetzentwurf in geänderter Fassung beraten . Im Kern geht es bei dem vorliegenden Gesetzentwurf darum, die bislang bestehenden beiden Aufgabenberei- che der Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung (FMSA) ab dem Jahr 2018 neu aufzustellen . Zum einen wird gemäß § 3 des Sanierungs- und Ab- wicklungsgesetzes (SAG) die Aufgabe der Nationalen Abwicklungsbehörde (NAB) auf die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) übertragen . Durch die Integration als eigenständiger Geschäftsbereich wer- den Entscheidungswege in Krisensituationen unter einem Dach zusammengeführt . Dies gewährleistet eine einheit- liche sachgerechte Abwägung und zügige Entscheidun- gen innerhalb der Allfinanzaufsicht. Zum anderen wird der verbleibende Teil der FMSA, der die Verwaltung des Finanzmarktstabilisierungsfonds (FMS) zum Gegenstand hat, in die Finanzagentur inte- griert, die bislang schon die Refinanzierung des Fonds für den Bund umsetzt . Die Aufgaben der FMSA werden auf diese Weise effizient in Strukturen größerer Einheiten überführt. Fi- nanzagentur und BaFin werden durch die gebündelte Sachkunde gestärkt, und den Mitarbeiterinnen und Mit- arbeitern der FMSA eröffnen sich durch die Überführung langfristige Perspektiven. Darüber hinaus enthält der vorliegende Gesetzentwurf weitere wichtige Regelungen . Es handelt sich um ein so- genanntes Mantelgesetz, mit dem auch Aspekte geregelt werden, die nicht mit der FMSA im unmittelbaren Zu- sammenhang stehen. Hierbei will ich zwei Punkte her- vorheben: Erstens übernimmt die BaFin die Aufsicht über die Pflichtversicherung der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL) im Wege der Organleihe für das Bundesministerium der Finanzen . Dadurch können Sy- nergieeffekte mit den sonstigen Aufsichtstätigkeiten der BaFin genutzt werden . Zweitens erfolgt eine Änderung der Vergütungsrege- lungen für Banken zur Umsetzung neuer Leitlinien der Europäischen Bankaufsichtsbehörde EBA . Im parlamentarischen Verfahren haben sich außerdem vor dem Hintergrund der Verständigung mit den Ländern diverse Änderungen gegenüber dem Regierungsentwurf ergeben . So ist als Erstes eine Neuorganisation der parlamen- tarischen Kontrolle des FMS vorgesehen . Das Finanz- marktgremium soll ab 2018 mit dem Bundesschulden- wesengremium zusammengelegt werden . Ferner ist als Zweites eine Anpassung der Umlagesys- tematik der NAB an das BaFin-System geplant . Diese soll bereits für die Endabrechnung der Umlage für 2016 sowie die Vorauszahlung für 2018 gelten . Zudem sind als Drittes in den Änderungsanträgen Anpassungen der im Regierungsentwurf vorgesehenen Konkretisierungen zur Anwendbarkeit der Bundeshaus- haltsordnung auf die bundesrechtlichen Abwicklungsan- stalten enthalten . Als Viertes schaffen wir Optionen für einen Portfo- lioabbau im Wege der Gesamtrechtsnachfolge auch bei bundesrechtlichen Abwicklungsanstalten . Schließlich sind als Fünftes zeitliche Verschiebungen von Änderungen bei der Millionenkreditverordnung so- wie Klarstellungen im Zusammenhang mit der Rückfor- derung von Boni – sogenanntes Clawback – vorgesehen . Als Haushaltspolitiker möchte ich abschließend noch betonen, dass der Gesetzentwurf keine negativen Aus- wirkungen auf die öffentlichen Haushalte haben wird. Im Gegenteil: Die Belastung der Steuerzahler kann voraus- sichtlich sogar um einen dreistelligen Millionenbetrag verringert werden . Denn der FMS wird künftig allein zum Verlustausgleich verpflichtet sein, da der FMS die Refinanzierung der Abwicklungsanstalten übernimmt. Der Gesetzentwurf ist also insgesamt ein weiterer lo- gischer Schritt bei der Bewältigung der Finanzmarktkri- se . Die enthaltenen Regelungen sind sinnvoll und ziel- führend. Die CDU/CSU-Fraktion empfiehlt daher die Zustimmung . Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): Die Finanzkri- se 2008 stellte Politik und Finanzmärkte vor große He- rausforderungen . Es drohten ungeahnte Folgen für die Wirtschaft, für die Unternehmen und entsprechenden Arbeitsplätze sowie für die Spareinlagen und die Alters- vorsorge aller Bürgerinnen und Bürger . Weltweit wurden daher umfassende Maßnahmen zur Stabilisierung und Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620678 (A) (C) (B) (D) zum Erhalt der Funktionsfähigkeit des Finanzsystems ergriffen. Der Bundestag beschloss, in kürzester Zeit 400 Milliarden Euro in Form von Kapitalgarantien und 80 Milliarden Euro als direkte Kapitalhilfen bereitzu- stellen . Dazu wurde der sogenannte Finanzmarktstabili- sierungsfonds eingerichtet . Finanzinstituten wurden die Hilfen aus diesem Fonds zur Verfügung gestellt, aller- dings unter strengen Auflagen und hohen Zinssätzen von bis zu 9 Prozent. Als weitere Folge der Finanzkrise wurden sogenannte Abwicklungsanstalten – oder auch Bad Banks – einge- richtet . In eine Abwicklungsanstalt kann eine Bank, die sich in einer problematischen Situation befindet, neben strukturierten Wertpapieren weitere Risikopositionen, wie beispielsweise ausfallgefährdete Kredite oder auch ganze Geschäftsbereiche, übertragen . Die Bank wird durch die Übertragung ihrer Risikopositionen sofort von Eigenkapitalanforderungen und Abschreibungsdruck entlastet. Damit wird ihr die Möglichkeit eröffnet, ihre kritischen Portfolios geordnet abzuwickeln und sich selbst für die Zukunft mit einem erfolgversprechenden Geschäftsmodell neu auszurichten . Momentan gibt es zwei bundesrechtliche Abwicklungsanstalten: In die „Erste Abwicklungsanstalt“ (EAA) wurden in mehreren Schritten strategisch nicht notwendige Geschäftsberei- che und Risikopositionen der ehemaligen Westdeutschen Landesbank übertragen . Weiterhin gibt es die „FMS Wertmanagement“ (FMS-WM), in der sich ehemalige Vermögenswerte der HRE-Gruppe befinden. Bis heute liegt die Verwaltung und die Überwachung des Finanzmarktstabilisierungsfonds und der beiden bundesrechtlichen Abwicklungsanstalten in der Hand der Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung, kurz FMSA . Die parlamentarische Kontrolle über die Finanz- hilfen des Fonds liegt im Deutschen Bundestag beim Fi- nanzmarktgremium . Als weitere Aufgabe übernahm die FMSA die Erhe- bung einer nationalen Bankenabgabe, die dazu beitragen soll, dass zukünftig nicht der Steuerzahler, sondern die Banken selbst eine finanzielle Basis schaffen, aus denen die Kosten einer möglichen Abwicklung von Banken finanziert werden können. Damit hatte die FMSA auch die Funktion einer nationalen Abwicklungsbehörde für Finanzinstitute inne . Die FMSA hat in den letzten Jahren eine hervorragen- de Arbeit geleistet, die ich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich würdigen möchte . Da jedoch Ende 2015 der Finanzmarktstabilisierungsfonds geschlossen wur- de, bereits etwa 50 bis 70 Prozent der Portfolien bei den Abwicklungsanstalten abgebaut werden konnten und zwischenzeitlich die europäische Bankenunion einge- führt wurde, wurde eine Neuordnung der FMSA not- wendig . Dazu werden künftig deren Aufgaben auf die Finanzagentur des Bundes und auf die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) aufgeteilt . Der Aufgabenbereich Überwachung und Abwicklung wird aus Effizienzgesichtspunkten und auch im Interesse der Personalstabilität an die Finanzagentur des Bundes über- tragen. Die Finanzagentur hatte bisher bereits die Refi- nanzierung des Finanzmarktstabilisierungsfonds über- nommen, sodass dies eine logische Folge ist . Die Aufgaben als nationale Abwicklungsbehörde mit der Zuständigkeit für die Abwicklung der kleinen und mittelgroßen Banken fallen an die BaFin . Dort wird dazu eine eigenständige Organisationseinheit mit einem eige- nen Exekutivdirektor eingerichtet . Diese Organisations- einheit agiert unabhängig von der Aufsichtsfunktion der BaFin . Das FMSA-Neuordnungsgesetz regelt diesen Vor- gang . Der Gesetzentwurf beschreibt hauptsächlich die Aufgabenübertragung der entsprechenden Bereiche . Wir haben im Deutschen Bundestag aber noch einige Än- derungen am Entwurf beschlossen . Künftig wird nicht mehr das Finanzmarktgremium, sondern das sogenann- te Bundesfinanzierungsgremium die parlamentarische Kontrolle über die beiden Abwicklungsanstalten und die verbliebenden Beteiligungen des Bundes übernehmen . Des Weiteren haben wir in einem Umdruck die Mög- lichkeit einer Umwandlung von Abwicklungsanstalten eingebracht . Ausdrücklich sind neben Ausgliederungen auch Abspaltungen von Vermögensteilen möglich . Das entspricht dem praktischen Bedürfnis und den Flexibili- tätsanforderungen der Abwicklungsanstalten, Portfolios im Wege einer Gesamtrechtsnachfolge zu übertragen . Die Abwicklungspraxis vergleichbarer Institutionen im Ausland zeigt einen beschleunigten Risikoabbau . Auf diese Weise sollen erhebliche Kosten- und Zeitersparnis- se gegenüber der Übertragung im Wege der Einzelrechts- nachfolge erreicht werden . Die Vermögensübertragung bietet schließlich eine effiziente und praktische Alterna- tive zu einem normalen Verkaufsvorgang . Sie verbindet die Vorteile der Gesamtrechtsnachfolge, der Entbehrlich- keit einer Gläubigerbeteiligung für Übertragungen und der Möglichkeit, eine andere Gegenleistung als Anteile, namentlich Geld, zu bekommen . Abschließend möchte ich sagen, dass wir mit diesem Gesetz die Verwaltung und Kontrolle der Finanzstabili- sierungshilfen und der Abwicklungsanstalten auf einen guten Weg gebracht und zukunftsfest gemacht haben . Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD): Wie Sie wissen, wurde als Reaktion auf die Finanzkrise im Jahr 2008 der Finanzmarktstabilisierungsfonds errichtet, der über einen Handlungsrahmen von insgesamt 480 Milliarden Euro verfügte . Verwaltet wurde dieser Fonds von der Bundes- anstalt für Finanzmarktstabilisierung (FMSA), die auch die Befugnis erhielt, Abwicklungsanstalten, sogenannte „Bad Banks“, zu gründen . Im Rahmen dieses Modells konnten Risikopositionen sowie zur strategischen Aus- richtung der jeweiligen Bank nicht mehr notwendige Ge- schäftsbereiche übertragen werden . Die FMSA machte von dieser Möglichkeit zweimal Gebrauch . 2009 grün- dete sie die Erste Abwicklungsanstalt (EAA), die in mehreren Schritten in großem Umfang Risikopositionen der West LB übernahm . 2010 wurde darüber hinaus die FMS-Wertmanagement gegründet, die Risikopositionen der HRE-Gruppe übernahmen . Ab dem 1 . Januar 2015 übernahm die FMSA zudem die Funktion der nationa- len Abwicklungsbehörde in Deutschland, um Banken in Schieflagen abwickeln zu können. Seit Beginn des Jah- res 2016 hat der neugeschaffene europäische einheitliche Abwicklungsausschuss (Single Resolution Board) die Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20679 (A) (C) (B) (D) Aufgabe der Abwicklung und Restrukturierung von In- stituten übernommen . Nun ist es so, dass durch Rückzahlungen der Maß- nahmeempfänger sich das Volumen der Stabilisierungs- maßnahmen des Finanzmarktstabilisierungsfonds bis zum Ende des Jahres 2015 sukzessive verringert hat mit der Folge, dass der FMS mit Auslauf des Jahres 2015 für neue Maßnahmen geschlossen und die Abwicklung des Fonds eingeleitet wurde . Die Aufgaben der FMSA be- schränken sich daher nur noch auf die Verwaltung der noch ausstehenden Maßnahmen . Dies umfasst zum einen die Verwaltung der bestehenden Minderheitsbeteiligun- gen des FMS an der Commerzbank und der pbb-Deut- sche Pfandbriefbank sowie der stillen Einlagen bei der Portigon AG und zum anderen die Aufsicht über die Ab- wicklungsanstalten EAA und FMS-Wertmanagement . Dies ist der Grund, warum wir heute in 2 ./3 . Lesung das Gesetz zur Neuordnung der Aufgaben der Bundes- anstalt für Finanzmarktstabilisierung verabschieden wer- den . Mit diesem Gesetz wird es eine Zweiteilung geben . So wird die nationale Abwicklungsbehörde (NAB) in die BaFin eingegliedert . Die restliche FMSA wird infolge der Ende 2015 erfolgten Schließung des FMS für neue Maßnahmen in die Bundesrepublik Deutschland – Fi- nanzagentur GmbH und damit in eine größere Einheit und Infrastruktur integriert . Es ist beabsichtigt, mit der Übertragung der Aufgaben der nationalen Abwicklungsbehörde auf die BaFin zwei Ziele zu verfolgen . So sollen die Einheiten der FMSA, die Aufgaben der nationalen Abwicklungsbehörde wahr- nehmen, unter Beachtung der Vorgaben diverser europäi- scher Richtlinien als neuer Geschäftsbereich in die BaFin eingegliedert werden . Dieser wird von einer(m) eigenen Exekutivdirektorin/Exekutivdirektor geleitet, die oder der auch im Direktorium der BaFin vertreten sein wird . Des Weiteren soll die Effizienz der Aufgabenerledigung dahin gehend gesteigert werden, dass die bestehenden Strukturen und die vorhandene Sachkunde der BaFin als Allfinanzaufsicht auch für die Zwecke der Abwicklung genutzt werden können . Nun ist festzustellen, dass die Aufgaben der Bundes- anstalt für Finanzmarktstabilisierung im Bereich der Ab- wicklungsbehörde sehr schnell gewachsen sind, während auf der anderen Seite die Aufgaben im FMS-Bereich für neue Maßnahmen und Rückführung bestehender Maß- nahmen in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen sind . Da die FMSA ohne den Abwicklungsbereich als kleine Behörde zurückbleiben würde, macht es Sinn, die FMSA in eine größere Einheit zu integrieren . Eine Ein- gliederung dieses Teils in die BaFin kommt dabei nicht infrage, da dies zu Interessenkonflikten zwischen Ban- kenaufsicht und Beteiligungsführung führen würde . Mit der Finanzagentur ist meines Erachtens hier auch der richtige Partner gefunden worden. Diese wird mit der Trägerschaft an der FMSA beliehen, führt deren Aufga- ben nach Maßgabe des vorliegenden Gesetzentwurfes im Zuge der nun eingeleiteten Abwicklung und Auflösung des FMS fort und übernimmt – das erachte ich als be- sonders wichtig – die zuständigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von der FMSA . Damit ist klar: Eine wei- terhin effiziente Arbeit der FMSA wird ermöglicht und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine langfristige Perspektive über ihre inzwischen auf Ablauf angelegten Tätigkeit im Zusammenhang mit der Finanzmarktstabili- sierung und der FMS geboten . In den letzten Wochen haben wir uns intensiv mit den durch den Gesetzentwurf betroffenen Beteiligten aus- einandergesetzt . Vor allem die Ausgestaltung der §§ 8a und 8b des Gesetzes zur Errichtung eines Finanzmarkt- stabilisierungsfonds, welche die bundesrechtlichen Ab- wicklungsanstalten beinhalten, war Gegenstand vieler Diskussionen . Grundsätzlich dienen die Anpassungen im § 8a FMStFG der Rechtssicherheit in Bezug auf die Tätigkeiten der bundesrechtlichen Abwicklungsanstal- ten, insbesondere in Bezug auf die Anwendbarkeit der Bundeshaushaltsordnung . Vor allem § 8a Absatz 6 trägt der speziellen Situation der Abwicklungsanstalten Rech- nung, die einerseits marktnah agieren sollen und anderer- seits öffentlich-rechtliche Anstalten mit einer staatlichen Verlustgarantie sind . In diesem Zusammenhang haben wir uns darauf geeinigt, dass wesentliche Teile der Bun- deshaushaltsordnung nicht auf die Abwicklungsanstalten anwendbar sind . Lediglich die §§ 55 und 109 (diese re- geln die öffentliche Ausschreibung und die Rechnungs- legung) sowie die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit bleiben anwendbar . Das ist auch richtig so, da die Abwicklungsanstalten mit Steuergeldern finanziert werden und die Risiken der Abwicklungsanstalten von der öffentlichen Hand getragen werden. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Vorgaben die Abwicklungsanstalten nicht in ihrem Auftrag beeinträch- tigen, die abzuwickelnden Portfolios verlustmindernd zu veräußern . Der Grundsatz beeinträchtigt auch nicht Risikoentscheidungen auf Grundlage der Business Jud- gement Rule im Rahmen der Portfolioverwaltung. Nach wie vor haben die Abwicklungsanstalten ihre Geschäfte nach kaufmännischen und wirtschaftlichen Grundsätzen zu führen . Dies gewährleistet der § 8a Finanzmarktsta- bilisierungsfondsgesetz (FMStFG) . Des Weiteren ha- ben wir den bundesrechtlichen Abwicklungsanstalten die Möglichkeit eingeräumt, Portfolios im Wege der Gesamtrechtsnachfolge zu übertragen . Auf diese Weise sollen erhebliche Kosten- und Zeitersparnisse gegenüber der Übertragung im Wege der Einzelrechtsnachfolge er- reicht werden . Die Regelung orientiert sich an § 8a Ab- satz 8 des Finanzmarktstabilisierungsfondsgesetzes, der den Abwicklungsanstalten ermöglicht, als übernehmen- der Rechtsträger an einem Spaltungsvorgang beteiligt zu sein . Somit wird richtigerweise den Abwicklungsan- stalten die Möglichkeit eingeräumt, an Ausgliederungen und Abspaltungen im Sinne des Umwandlungsrechts als übertragender Rechtsträger beteiligt zu sein . Dies gilt jedoch nur für Übertragungsmöglichkeiten auf die Aus- gliederung und Abspaltung . Andere Arten der Spaltung werden nicht zugelassen . Lassen Sie mich zum Schluss noch auf eine Regelung hinweisen, die im Rahmen der Neuordnung der Aufgaben der FMSA neu gestaltet wurde . So wird mit diesem Ge- setzentwurf auch die Organisation der Parlamentarischen Kontrolle über den FMS neu geregelt . Die Aufgaben des Gremiums nach § 10a des Finanzmarktstabilisierungsge- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620680 (A) (C) (B) (D) setzes (Finanzmarktgremium) werden weiter abnehmen, da – wie bereits erwähnt – neue Maßnahmen seit 2016 nicht mehr ergriffen werden können und die ausstehen- den Maßnahmen rückläufig sind. Es erscheint daher im Zuge der Tatsache, dass künftig die Finanzagentur für den FMS zuständig sein soll, sinnvoll, dass die Aufga- ben des Finanzmarktgremiums ab dem Jahre 2018 durch das für die Finanzagentur zuständige Bundesfinanzie- rungsgremium wahrgenommen werden . Auf diese Wei- se kann die parlamentarische Kontrolle beider Bereiche künftig aus einer Hand erfolgen, und die Geschäftsfüh- rung der Finanzagentur kann einem Gremium berichten . Das Bundesfinanzgremium besteht aus Mitgliedern des Haushaltsausschusses . Mitglieder des Finanzausschusses können, wie bisher, in das Gremium gewählt werden, so- fern sie stellvertretendes Mitglied im Haushaltsausschuss sind . Alles in allem beschließen wir heute mit dem Gesetz- entwurf eine sinnvolle Reform . Die juristische Konstruk- tion bei der FMSA ist zwar kompliziert, aber plausibel . Mit den beschlossenen Änderungen zum vorliegenden Gesetzentwurf werden wir auch allen Beteiligten gerecht . Roland Claus (DIE LINKE): Ich hatte in meiner Rede zur ersten Lesung des FMSA-Neuordnungsgeset- zes die wesentlichen Kritikpunkte am generellen Zustand der Bankenrettung bereits dezidiert aufgeführt, vor allem die Tatsache, dass der Gesetzentwurf der Bundesregie- rung die Logik von Koalition und Regierung zur staat- lichen Rettung von Banken mit Steuergeldern fortsetzt . Seit Bestehen des Sonderfonds für die Finanzmarkt- stabilisierung und der entsprechenden Bundesanstalt hat dieser Fonds auf Kosten der Steuerzahler 22,6 Milliar- den Euro Verlust angesammelt, nach veröffentlichten Informationen der FMSA . Man muss sich deutlich vor Augen halten, dass die ungelöste Bankenkrise trotz ih- rer Verdrängung aus den Tagesschlagzeilen immer noch eine Bedrohung der europäischen Staaten darstellt, weil das Gewicht der Finanzmärkte auch die Rettungsboje der Staatshaushalte unter Wasser drückt . Beschlossen hatte die Koalition eine Pseudo-Bankenabgabe, die nach oben gedeckelt ist und von der Vorstellung ausgeht, dass die nächste Finanzkrise schwach ausfallen und erst „in ei- nem halben Jahrhundert“ stattfinden wird. Eine solche Annahme ist nicht nur naiv, sondern bedient bewusst die Lobby-Interessen der Finanzbranche zulasten der Steuer- zahlerinnen und Steuerzahler . Außer gegen Euro-Staaten richten Banken und Hedgefonds ihre spekulativen An- griffe auch auf Rohstoffe und Nahrungsmittel. Das Leid der Opfer dieser Spekulationswellen wird von den Ak- teuren in Kauf genommen . Nun hat die Koalition in der Zwischenzeit noch eine Reihe von Änderungsanträgen eingebracht, von denen meine Fraktion zwei für zustimmungsfähig hält: Wir meinen, dass die Anpassung der Bemessungsgrundlage für die Umlage der Nationalen Abwicklungsbehörde, NAB, sinnvoll ist, da auf diese Weise eine Verschiebung von Lasten zuungunsten der kleinen Institute vermie- den wird und Förderbanken weiterhin privilegiert blei- ben . Darüber hinaus stimmen wir auch der Änderung bei landesrechtlichen Abwicklungsanstalten zu, da sie sicherstellt, dass für die landesrechtlichen Abwicklungs- anstalten dieselben Vorgaben für die Rechnungslegung und Bilanzierung gelten wie aktuell und künftig für die bundesrechtlichen . Bei allen weiteren Änderungsanträ- gen wird sich Die Linke enthalten . Im Grundsatz jedoch ist die vorgenommene Finanz- marktstabilisierung nach wie vor der falsche Weg . Schäd- liche Finanzinstrumente und Aktivitäten müssen verbo- ten werden, zum Beispiel Hedgefonds, Schattenbanken, ungedeckte Leerverkäufe und Wertpapiere auf Grundla- ge von Kreditausfallversicherungen ohne eigenen Kredit . Über eine Reregulierung der Finanzmärkte und die Stär- kung der Eigenkapitalanforderungen hinaus müssen spe- kulative Exzesse durch eine Finanztransaktionsteuer und einen „Finanz-TÜV“ eingedämmt werden . Der Banken- sektor muss auf seine Kernfunktionen Zahlungsverkehr, Ersparnisbildung und Finanzierung zurückgeführt und entsprechend geschrumpft werden, damit die Steuerzah- lerinnen und Steuerzahler nicht immer wieder aufs Neue erpresst werden . Diese Umstrukturierungen sind nicht nur politisch geboten, sondern auch verfahrenstechnisch machbar, wie wir uns bei einem Besuch einer Delegation von Abgeordneten über die Arbeitsweise der FMSA in Frankfurt/Main überzeugen konnten . Im Gesetzentwurf zur Neuordnung der FMSA und in den Änderungsanträgen werden nun die vorgesehenen strukturellen Veränderungen kodifiziert. Die parlamen- tarische Begleitung soll in dem ausschließlich geheim tagenden Bundesfinanzierungsgremium erfolgen. Auch dieses Geheimgremium hatte meine Fraktion seit 2008 kritisiert . Die jetzt beabsichtigten Strukturänderungen sind weitgehend nachvollziehbar, aber sie folgen weiterhin der falschen Logik . Die Fraktion Die Linke wird deshalb den Gesetzentwurf ablehnen . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der SoFFin ist nun schon eine Weile für neue Maßnah- men geschlossen, und die Bad Banks schmelzen ihre Portfolios schneller ab als erwartet. Das ist eine gute Nachricht . Und deshalb sind wir heute hier und beschlie- ßen ein Gesetz, welches die aufgrund der Krise gegrün- deten Institutionen neu und effizienter organisieren soll. Die Neuordnung der FMSA und die Eingliederung in größere Strukturen sind, mit deren zunehmend schrump- fenden Aufgaben, sachgerecht . Dies ermöglicht es, die Infrastruktur und Sachkunde dieser Einheiten zu nutzen, und den Mitarbeitern innerhalb der FMSA eröffnen sich langfristige Perspektiven. Durch die Integration der Bad Banks in die Fi- nanzagentur kann deren Refinanzierung nun zu besseren Konditionen erfolgen . Dieses Einsparpotenzial haben wir der Bundesregierung seit 2012 regelmäßig aufgezeigt . Dies wurde aber erst als falsch abgetan . Dann, als die Richtigkeit unserer grünen Argumentation erkannt wur- de, wurde es aus politischen Gründen nicht umgesetzt . Es ist schön, zu sehen, dass gute Vorschläge auch von dieser Bundesregierung irgendwann aufgegriffen werden, wenn auch deutlich zu spät und ohne Beachtung des Copy- rights . Für die Millionen, die seit 2012 aus politischem Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20681 (A) (C) (B) (D) Starrsinn verbrannt wurden, schuldet der Finanzminister dem Steuerzahler allerdings noch eine Erklärung . Mit dem Gesetz geben wir den Abwicklungsanstalten die Möglichkeit, durch Abspaltung und Umwandlung ihre Portfolios schneller und kostengünstiger abzubauen. Die Überwachung der Abwicklungsanstalten und der Be- teiligungen mittelfristig in das Bundesfinanzierungsgre- mium überzuführen und hierfür im Bundestag nicht wei- terhin ein eigenes Gremium zu beschäftigen, ist aufgrund der weniger komplexen Situation effizient. Die Eingliederung der Nationalen Abwicklungsbe- hörde in die BaFin wirft wichtige institutionelle Fragen auf . Besonders wichtig war uns im Beratungsprozess, sicherzustellen, dass die Nationale Abwicklungsbehörde wirklich unabhängig von der Aufsicht agieren kann . An- sonsten besteht die Gefahr, dass es zu einem Interessen- konflikt kommt, deshalb eine nötige Abwicklung zu spät erfolgt und diese somit unnötig verteuert wird . Ob die nötige Unabhängigkeit mit der jetzt gewählten Konstruk- tion gewährleistet ist, bezweifeln wir . Die Nationale Abwicklungsbehörde wird in Zukunft sowohl national als auch im Rahmen des Einheitlichen Abwicklungsmechanismus tätig sein . Hier war es uns be- sonders wichtig, dass keine Situation auftritt, in der we- der eine Kontrolle durch den Deutschen Bundestag noch über das Europäische Parlament erfolgt. Wir haben im Prozess dieses Problem mehrfach thematisiert und wer- den dies auch in der Praxis sehr genau beobachten. Mit dem Gesetz setzt die Bundesregierung einen un- serer Vorschläge um, der dem Steuerzahler Millionen einspart . Wir hätten es gerne gesehen, wenn unsere an- deren Initiativen in diesem Bereich ebenfalls aufgegrif- fen worden wären . Sowohl in den Beratungen zu diesem Gesetz als auch vorher haben wir uns für eine Verbesse- rung in der parlamentarischen und exekutiven Kontrolle bei gestützten Instituten eingesetzt . Angesichts der Höhe der hier bereitgestellten Gelder ist die bisher vorgenom- mene Kontrolle unzureichend . Auch die Regelungen zu den Managergehältern gestützter Banken bleiben unzu- reichend . Bei der Hypo Real Estate wurden die vorge- sehenen Gehaltdeckelungen durch die Gewährung von Luxusrenten umgangen . Wir haben die Bundesregierung bereits 2012 aufgefordert, dem einen Riegel vorzuschie- ben . Dies hätte man im Rahmen dieser Neuordnung um- setzen können . Leider ist dies nicht geschehen . Da aber die Vereinfachung und Verschlankung der Strukturen der Bankenabwicklung sachgerecht, ist stimmen wir dem Gesetz heute zu . Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes zum Erlass und zur Änderung marktord- nungsrechtlicher Vorschriften sowie zur Änderung des Einkommensteuergesetzes (Tagesordnungs- punkt 26) Kees de Vries (CDU/CSU): Das nationale Liqui- ditätshilfeprogramm mit Angebotsdisziplin ist Teil des insgesamt rund 500 Millionen Euro schweren zwei- ten EU-Hilfspakets zur Milchkrise . Damit wurde das EU-Hilfspaket in eine nationale Verordnung umgesetzt . Die geplante Liquiditätshilfe wurde dazu mit einer Men- gendisziplin verknüpft . In Anbetracht der Absicht der EU, die Vorräte aus den Interventionsankäufen auf den Markt zu bringen, und des zu erwartenden Frühjahrsauf- schwungs in der Produktion, ist es eine sinnvolle Maß- nahme, die zur Stabilisierung der Preise beitragen wird. Da in der Land- und Forstwirtschaft die Ertrags- und Erlösschwankungen zwischen einzelnen Wirtschaftsjah- ren wegen der zunehmenden Wetterkapriolen und der Vo- latilität der Märkte besonders stark sind, sieht Artikel 3 des Gesetzes darüber hinaus eine Änderung des Einkom- mensteuergesetzes vor mit dem Ziel, die natur- und sek- torbedingten Schwankungen der Gewinne in land- und forstwirtschaftlichen Betrieben zwischen aufeinanderfol- genden Wirtschaftsjahren steuerlich zu glätten . Durch einen neuen § 34e EStG werden Gewinn- schwankungen in der Land- und Forstwirtschaft rückwir- kend für drei Jahre durch eine individuelle Tarifglättung korrigiert . Diese Regelung soll nach der Einigung der Koalitionsfraktionen auf neun Jahre befristet sein, das heißt in 2014 beginnen und in 2022 enden . Ich gehe da- von aus, dass auch die Kommission dieser Maßnahme zustimmen wird . Durch die von der Koalition vorgeleg- ten Änderungsanträge zum steuerrechtlichen Teil werden die Modalitäten der Glättung – Einkommenssituation im jeweils dritten Jahr eines Betrachtungszeitraums, Mög- lichkeit einer Nachzahlung im Einzelfall – stimmiger . Die Gesetzesänderungen sowie der Verordnungsent- wurf zur Durchführung einer Sonderbeihilfe für Milcher- zeuger und der Beschluss zum Haushalt 2017 sind die Grundlage, um die Liquiditätshilfen mit Angebotsdiszi- plin in Höhe von insgesamt 116 Millionen Euro – 58 Mil- lionen Euro EU-Mittel, zusätzlich dankenswerterweise 58 Millionen Euro vom Bund – in 2017 an die Landwirte auszuzahlen . Die schwierige Marktlage ist trotz derzeit sich erholender Märkte nicht überwunden . Der Saison- aufschwung der Rohmilchlieferung im ersten Halb- jahr 2017 wird zeigen, ob die Preiserholung nachhaltig ist . Unsere Liquiditätshilfe mit Angebotsdisziplin wird dann angebotsdämpfend wirken . Damit dieser Zeitraum mit dem Kalendermonat Feb- ruar 2017 beginnen kann, muss die Ministerverordnung noch im Dezember in Kraft treten . Dazu brauchen wir jetzt eine Änderung des Marktorganisationsgesetzes, und ich bitte um Ihre Zustimmung dafür . Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Die Milchkrise ist noch nicht vorbei, aber es gibt Licht am Horizont . Die Preise legen an den Spotmärkten und in den Supermärk- ten zu, aber die Landwirte verdienen trotzdem noch kein Geld . Bei etwa 7 bis 8 Milliarden Euro Einnahmeverluste seit Beginn der Krise hat jeder Betrieb durchschnittlich gut 112 000 Euro davon zu tragen . Dieses Geld fehlt nun den Betrieben und im ländlichen Raum! Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620682 (A) (C) (B) (D) Die Krise hat viele Betriebe in die Knie gezwungen: Mittlerweile gibt es nur noch knapp 70 000 Milchviehbe- triebe. Das sind gut 5 Prozent weniger als im Vorjahr. Seit 2010 haben wir sogar über 22 000 Betriebe bzw. 24 Pro- zent – trotz Milchquote – verloren . Dies hätte nicht so kommen müssen, wenn rechtzeitig gehandelt worden wäre . Ich nenne nur das Bürgschafts- programm, das ich schon im September 2015 gefordert habe und das nun endlich mit der Verabschiedung des Haushalts kommen wird . Hier hat der Bundeslandwirt- schaftsminister die Krise schlichtweg verschlafen . Auf die Fehler des ersten Entwurfs habe ich bereits bei der Einbringung des Gesetzentwurfes hingewiesen . Diese Fehler mussten dann mit einem Änderungsantrag korri- giert werden . Auch bei dem jetzt vorliegenden Entwurf hat die SPD-Fraktion erhebliche steuerfachliche und verfas- sungsrechtliche Bedenken . Das Einkommensteuerrecht ist sicherlich kein geeignetes Instrument der Krisenprä- vention bei volatilen Märkten . Die Einkommensteuer ist schlichtweg kein effizientes Instrument, um Landwirt- schaftsbetriebe wirksam zu unterstützen . Hier ist die eu- ropäische Agrarpolitik in Gänze gefordert . Die im Einkommensteuergesetz vorgesehene Glät- tung der Gewinne aus land- und forstwirtschaftlichen Einkünften wird sowohl steuerfachlich als auch recht- lich problematisch angesehen . So sind im Gesetzentwurf sämtliche Land- und Forstwirte ohne Beschränkung be- günstigt . Und dies unabhängig davon, ob in den jeweili- gen Teilbereichen des Agrarsektors eine marktbedingte Einkommenskrise wie im Milchsektor vorliegt oder eben nicht . Außerdem ist die Zielgenauigkeit gegenüber den aktuellen Problemen in der Landwirtschaft zweifelhaft. Zudem profitieren aufgrund der Steuerprogressions- kurve überwiegend Betriebe mit höheren Einkommen von der neuen steuerlichen Regelung . In 2015 haben 10 Prozent und in 2014 18 Prozent der Betriebe des Test- betriebsnetzes des BMEL Gewinne von 100 000 Euro ausgewiesen . Ein durchschnittlicher land- und forstwirt- schaftlicher Betrieb kann demnach nur mit einer sehr kleinen Steuererleichterung in der Größenordnung von wenigen Hundert Euro rechnen . Das ist der Mühe nicht wert . Die unterschiedliche Progression bei stark schwan- kenden Einkünften betrifft nicht nur landwirtschaftliche Betriebe, sondern auch andere Einkunftsarten . Gerade das Tourismusgewerbe ist auch witterungsabhängig . In- sofern ist die Frage des Gleichbehandlungsgrundsatzes nicht abschließend geklärt . Dies bestätigt auch ein Gut- achten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages . Auch bin ich der Überzeugung, dass der administra- tive Verwaltungsaufwand seitens der Finanzverwaltung erheblich ist und die ausgewiesenen 5,5 Millionen Euro Mehrkosten nicht ausreichen werden . In Bezug auf die vorgesehene fiktive Steuerberechnung ist die praktische Umsetzung fraglich . Zudem können bestandskräftige Veranlagungen im Bereich der Landwirtschaft über einen langen Zeitraum nicht durchgeführt werden . Wir brauchen eine europäische Lösung und keine nati- onalstaatliche über das Einkommensteuergesetz . Ich bin überzeugt, dass dies nicht die letzte Milchmarktkrise sein wird . Wichtige strukturelle Veränderungen, die der Branche langfristig geholfen hätten, sind nicht auf den Weg ge- bracht worden . Runde Tische und Branchenvereinbarungen lösen das Problem nicht. Landwirte haben ein Recht auf Verträge über Milchmenge, Laufzeit und Preis. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt tragen sie allein das wirtschaftliche Risiko . Niemand sonst . Das war 2009 so . Das ist auch jetzt so . Die Chance für die notwendige Änderung im Wettbe- werbsrecht im § 28 ist leider verstrichen . Die Streichung der Andienpflicht im Agrarmarktstruk- turgesetz, also der garantierten Abnahme der Milch trotz Überproduktion, ist an den grünen und schwarzen Agrar- ministern gescheitert . Auch die Änderung des § 148 der Gemeinsamen Marktordnung zugunsten der Landwirte ist momentan nicht abzusehen, trotz Agrarministerkonferenzbeschluss . Der vorliegende Gesetzentwurf kommt zu spät und ist nichts weiter als weiße Salbe! Bringt nichts, tut nicht weh, und der Bauernverband hat offensichtlich erfolgrei- che Lobbypolitik betrieben! Die Milchmarktkrise wird zum Anlass genommen, um Land- und Forstbetrieben ein Steuergeschenk zu machen . Das ist nicht ausgewogen . Zum Glück haben wir den Freibetrag für Flächenver- äußerungen verhindern können . Dies hätte den Boden- markt nur weiter angeheizt . Letztendlich können wir dem Gesetz nur aus zwei Gründen zustimmen: Erstens. Wir wollen das EU-Programm für die Land- wirte ermöglichen . Dies können wir nur, wenn wir den Änderungen im Steuerrecht zustimmen . Zweitens . Das Bundesjustizministerium sieht der Ge- setzesänderung zwar nicht mit Freud entgegen, kann dem aber noch gerade so zustimmen, da wir als SPD eine Be- fristung der Gewinnglättung bis 2022 eingeführt haben . Damit retten wir letztendlich noch das Gesetz . Letztendlich haben die Länder das letzte Wort, und wir werden dann sehen, wo die Agrar- oder die Finanzminis- ter jeweils das letzte Wort haben werden . Das Ergebnis der Bundesratsverhandlungen ist offen. Ich gehe davon aus, dass zumindest einige Länder den Vermittlungsaus- schuss anrufen werden . Wenn das so kommt, dann greift das Gesetz dieses Jahr nicht mehr . Dies wäre dann das Ergebnis schlechter Arbeit des Bundeslandwirtschafts- ministeriums . Karin Binder (DIE LINKE): Wir alle hier im Hohen Hause wollen den in Not geratenen Milchbetrieben hel- fen . Doch von dem vorliegenden Gesetzentwurf wird die Milch sauer . Die dringend notwendige Unterstüt- zung der Milchbauern wird mit windigen Regelungen Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20683 (A) (C) (B) (D) zur Einkommensteuer gepanscht . Bundesagrarminister Christian Schmidt hat die Bauern – und auch das Par- lament – viel zu lange auf eine gesetzliche Regelung warten lassen . Die Verteilung von Hilfen über Mittel der EU und des Bundes hätte schon lange organisiert werden müssen, wenn man vermeiden will, dass noch mehr Be- triebe aufgeben . Nach der langen Wartezeit müssen wir nun aber auch noch befürchten, dass der Gesetzentwurf der Regierungskoalition von CDU/CSU und SPD nicht verfassungsgemäß ist . Das würde für viele Milchbauern endgültig das Aus bedeuten . Sollte das Gesetz nämlich gekippt werden, weil die Regelungen zur Einkommensteuer unzulässig sind, müssen die Landwirte die Steuerersparnisse aus der Gewinnglättung wieder zurückzahlen . Das möchte ich Ihnen kurz erklären: Der Gesetzentwurf besteht aus mehreren Teilen . In den ersten beiden Artikeln werden die dringend erwar- teten Stützmaßnahmen der Europäischen Union gere- gelt . Aus Mitteln der EU stehen Deutschland 58 Milli- onen Euro für die Unterstützung der Milchbetriebe zur Verfügung, die durch die gleiche Summe vom Bund auf 116 Millionen Euro aufgestockt werden . Der Artikel 3 des Gesetzes hat damit nichts zu tun . Dieser regelt, dass Gewinne über drei Jahre im Durch- schnitt gerechnet der Einkommensbesteuerung zugrunde gelegt werden. Dies soll nach Auffassung der Koalition kleinen Bauern helfen, die in dieser Milchmarktkrise ent- standenen Verluste besser zu verkraften . Begründet wird diese Maßnahme im Gesetzentwurf mit dem globalen Klimawandel, der bei den „Betrieben zunehmend spürbar zu massiven Ernteausfällen und da- raus resultierenden schwankenden Gewinnen“ führen würde . Das ist absurd . Zum einen wird die Möglichkeit zur Gewinnglättung auf neun Jahre begrenzt. Union und SPD gehen offenbar davon aus, dass der Klimawandel danach kein Thema mehr ist . Zum anderen werden einfach die Augen verschlossen vor den tatsächlichen Ursachen . Die Gewinneinbußen der Milchbetriebe sind die Folge eines Überangebotes mit dem damit verbundenen Preis- verfall auf globalisierten und unregulierten Märkten . Letztendlich ist das dem Wegfall der Milchquote inner- halb der EU geschuldet. Der damit verbundene Preisver- fall ist auch eine Folge der kartellartigen Einkaufsmacht der Supermarktketten in Deutschland . Dort haben die Erzeuger landwirtschaftlicher Produkte nichts mehr zu melden. Entweder sie akzeptieren den niedrigen Preis, den Lidl und Co . ihnen noch zugestehen, oder sie wer- den ausgelistet . Das vergiftet das Klima – auf den Agrar- märkten . Das verdirbt die Milch . Deshalb fordert die Linke: Weg von einer einseitigen Exportorientierung, Stärkung regionaler Absatzmärkte und einen nachfrageorientierten Regulierungsmecha- nismus . Landwirtschaftliche Erzeuger brauchen Unter- stützung gegenüber dem Oligopol der deutschen Super- marktketten . Vertragliche Rahmenbedingungen müssen im Sinne der Landwirte neu geregelt und das Kartellrecht erweitert und gestärkt werden . Das wären dauerhafte Hil- fen für eine notleidende Landwirtschaft . Unabhängig davon aber bezweifelt der Wissenschaft- liche Dienst im Bundestag, dass eine Gewinnglättung über drei Jahre für die Einkommensteuerermittlung zulässig ist . Es sei auch nicht gesichert, dass die ge- wünschte Entlastung überhaupt eintritt . Die Experten machen darüber hinaus darauf aufmerksam, dass die Gewinnglättung über die Einkommensteuer nur einem Teil der Milchbetriebe nützt . Genossenschaften, land- wirtschaftliche GmbHs und Kapitalgesellschaften zahlen Körperschaftsteuer und werden daher von der Regelung nicht profitieren. Der zur Begründung herangezogene Klimawandel betrifft jedoch Genossenschaften genauso wie Familienbetriebe . Eine derartige Missachtung des Gleichbehandlungsgrundsatzes wird vom Bundesverfas- sungsgericht nicht hingenommen werden . Am Ende wird die absurde Regelung zur Gewinnglättung das Gesetz zu Fall bringen . Das hat dann zur Folge, dass Bauern auch noch Steuern nachzahlen müssen . Herr Minister Schmidt, werte Regierungskoalition: Erst handeln Sie zu spät und dann auch noch mit solchen handwerklichen Fehlern . Nun müssen wir retten, was noch zu retten ist: Ziehen Sie Artikel 3 des Gesetzentwurfes zurück . Wir können hier heute getrennt darüber abstimmen . Die Kolleginnen und Kollegen der SPD, die als Regierungspartner für die- ses unglückliche Gesetz mitverantwortlich sind, wissen um die Fehler in diesem Gesetz. Ich kann Sie nur auffor- dern, diesem Artikel 3 nicht zuzustimmen . Die Linke fordert schon seit langem: Führen Sie end- lich eine steuerfreie Risikoausgleichsrücklage für alle Betriebe ein . Auch der Bundesrat hat diese Forderung schon aufgestellt . Landwirtschaftliche Betriebe hätten zumindest eine Chance, in Zeiten von massivem Markt- versagen solch schwierige Phasen aus eigenen Kräften besser zu überstehen . Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Es gibt immer wieder Situationen, da wundert man sich über das mögliche Auseinanderfallen von ra- tionaler Erkenntnis und dem daraus folgenden Handeln . Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, eine sol- che Situation in Reinform haben wir am vergangenen Dienstag erlebt, als wir im Sonderagrarausschuss über die steuerliche Gewinnglättung für Landwirtschaftsbe- triebe debattiert haben . Lieber Wilhelm Priesmeier, ich folge voll und ganz deiner Einschätzung . Gegen die steuerliche Gewinnglät- tung liegen nach wie vor schwere verfassungsrechtliche Bedenken vor; hier werden neue steuerliche Sondertat- bestände geschaffen. Eine Ungleichbehandlung einzelner Berufsgruppen wird neu geschaffen. Hier ist also der ver- fassungsgemäße Gleichheitsgrundsatz betroffen. Merkwürdigerweise kommen wir beide, SPD und Grüne, aus dieser gleichen Einschätzung aber zu voll- kommen gegensätzlichen Ergebnissen . Da frage ich mich, wie kann das kommen? Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620684 (A) (C) (B) (D) Wenn ich zu der Erkenntnis komme, ein Instrument, ein Handeln ist falsch – nicht zielführend, verfassungs- rechtlich womöglich sogar gar nicht zu begründen, dann muss ich mich einem solchem politischen Beschluss doch widersetzen und ihn ablehnen . Aber die Sozialde- mokraten haben einen Ruf als Umfaller zu verlieren . Da kann ich nur sagen: Diese Angst ist unbegründet, den Umfallerruf haben Sie in dieser Woche erneut verteidigt und entgegen Ihrer eigenen ablehnenden fachlichen Ein- schätzung der steuerlichen Gewinnglättung zugestimmt . Damit sind sie der Union auf den Leim gegangen . Dieses Missverhältnis zwischen politischer Einschät- zung und politischem Verhalten ist doch bezeichnend . Die Union verspricht den Bäuerinnen und Bauern wieder einmal das Blaue vom Himmel und verkauft die Gewinn- glättung als tatkräftige Hilfe für die notleidenden Milch- betriebe . Es nützt aber nicht den kleinen Milchbetrieben in Not, sondern alleine den großen Ackerbauern . Hier werden die Zuckerbarone quersubventioniert . Wir Grünen haben immer wieder deutlich gemacht, dass wir deutliche Unterstützung für die Milchbetriebe in Not brauchen . Allerdings nicht, indem wir Gelder wahl- los mit der Gießkanne über das Land verteilen, sondern indem wir die Ursachen der Milchmarktkrise angehen . Aber der Wahlkampf naht und die Union erliegt mal wie- der der Gießkannenverlockung . Seit dem Wegfall der Milchquote haben wir Grünen auf die Krise hingewiesen und auf die absehbaren Fol- gen für die Landwirtschaft . Wir haben immer gesagt: Wir müssen die Menge reduzieren . Wir haben Vorschläge vorgelegt, wie auf die Krise reagiert werden kann . Viel zu spät wird jetzt reagiert und mit halbem Ein- satz . Bitter bezahlt für diese späte Reaktion haben die Milchbetriebe . Immerhin, die Milchhilfen, die mit dem heutigen Ge- setz ermöglicht werden, sind an eine sogenannte „Men- gendisziplin“ gebunden. Das ist der Begriff, den Minister Schmidt gerne verwendet . Mit dem Gesetz wird die so- genannte „Milchsteigerungsvermeidungsbeihilfeverord- nung“ kurz „MilchStVerBeihV“ ermöglicht . Wieder so ein Wortungetüm aus dem Hause Schmidt, dass deutlich zeigt, wie kompliziert dort gedacht wird . Nein, Herr Mi- nister Schmidt, noch mal: Mengenreduzierung, schlicht und einfach – nicht Steigerungsvermeidungsirgendwas . Mittlerweile steigen die Preise wieder. Ja, richtig. Aber die Preise sind noch immer nicht kostendeckend, auch wenn Sie steigen . Kollege Kees de Vries spricht zwar schon von fast kostendeckenden Preisen. Ist das ein Erfolg? Und kostendeckend für welche Betriebe? Die Betriebe, von denen Kollege de Vries spricht, sind die 300er-, 600er-, 1 200er-Betriebe . Die können zu sol- chen Preisen – fast – schon produzieren. Das sind die Zu- kunftsbetriebe der Union, das ist das landwirtschaftliche Leitbild der Union . Das sind aber nicht die Betriebe, von denen wir Grünen sprechen . Wir wollen Zukunft für die bäuerlichen Milchbetriebe . Wir wollen die Kuh auf der Weide und wir wollen eine Zukunft, vor allem auch für die Kleinen . Dafür kämpfen wir . Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung einge- brachten Entwurfs eines Energiestatistikgesetzes (EnStatG) (Tagesordnungspunkt 27) Thomas Bareiß (CDU/CSU): Der Energieverbrauch der Industrie ist gesunken . Im Jahr 2015 betrug der Ener- gieverbrauch in der Industrie 4 016 Petajoule und damit 0,7 Prozent weniger als im Vorjahr. Solche Aussagen können wir nur treffen, wenn wir den Zugriff auf verläss- liche Daten und Statistiken haben . Aus diesem Grund beraten wir heute in erster Lesung den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf zum Energiestatistikgesetz . Damit stoßen wir eine wich- tige Novellierung an, die die Grundlage für eine erfolg- reiche Umsetzung der Energiewende in Deutschland schafft und uns dem europäischen Energiebinnenmarkt einen großen Schritt näherbringt . Mit der Novellierung des Energiestatistikgesetzes schaffen wir die Datenbasis für den Aufbau einer mo- dernen Infrastruktur . Mithilfe der Statistiken kann die zunehmend dezentrale und vernetzte Energieversorgung besser gesteuert und analysiert werden . Die validen Da- ten schaffen die Grundlage für die Teilnahme an neuen Märkten . Sie ermöglicht uns, schneller und besser Infor- mationen auszutauschen und Güter sowie Dienstleistun- gen anzubieten . Der starke Zubau an erneuerbaren Energien stellt un- ser Energieversorgungssystem auf nationaler, europäi- scher und internationaler Ebene vor neue Herausforde- rungen . Er ist aber notwendig, um unsere Ziele, nämlich die Reduzierung der Treibhausgasemissionen bis 2050 um 80 bis 95 Prozent, zu erreichen. Dazu gehören eben- falls die Halbierung des Primärenergieverbrauchs, die Reduzierung des Bruttostromverbrauchs und die Steige- rung des Anteils der erneuerbaren Energien auf 80 Pro- zent bis 2050 . Um diese Ziele nicht nur festzuschreiben, sondern auch zu erreichen, brauchen wir verlässliche Daten, um geeignete Szenarien, Wege und Instrumente für unser Energiesystem zu etablieren sowie zu analysieren . Die Datenerhebung für die nationalen und internationalen Berichtspflichten wird aufgrund von veränderten Markt- bedingungen, Informations- und Kommunikationsinf- rastrukturen immer anspruchsvoller . Das Energiestatis- tikgesetz aus dem Jahr 2003 kann diesem Anspruch nur unzureichend gerecht werden . Die Statistiken im aktuellen Energiestatistikgesetz bil- den die aktuellen Entwicklungen auf den Energiemärk- ten, insbesondere den Elektrizitäts- und Gasmärkten, ungenügend ab . Sie beziehen sich auf Wirtschaftsstruk- turen, Definitionen und Erhebungsmerkmale von vor der Liberalisierung der Energiemärkte. Das ist ein Problem. Das ist gefährlich; denn die Statistiken sind unter anderem die Grundlage für den Monitoringprozess zur Umsetzung und Zielerreichung der Energiewende . Gibt es hier ungenügende Datenbasen, kann das negative Aus- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20685 (A) (C) (B) (D) wirkungen auf unsere Energiepolitik haben . Das kostet viel Geld . Denn wir steuern dann dort nach, wo nicht nachgesteuert werden muss, und schaffen Instrumente dort, wo sie nicht nötig sind . Das belastet unsere Indus- trie und unseren Mittelstand . Deshalb passen wir mit dem aktuellen Entwurf zur Novellierung des Energiestatistikgesetzes völlig zu Recht die Merkmale, Begriffe, Zeiträume und Berichts- kreise an die aktuellen Entwicklungen und Gegebenhei- ten an . Das heißt aber nicht, dass bewährte Regelungen und Strukturen ohne Not aufgelöst werden sollen . Das Ziel der Novelle muss es sein, ein Gleichgewicht zwi- schen Kosten und Nutzen herzustellen . Dabei müssen die neuen Regelungen dazu beitragen, dass die Wirtschaft von Meldepflichten bestmöglich entlastet und von Büro- kratie befreit wird . Es muss also ein Gleichgewicht zwischen der Be- lastung der Wirtschaft und dem Nutzen durch die In- formationsqualität hergestellt werden . Der Entwurf des Energiestatistikgesetzes sieht hier eine Reduzierung der einzelnen Berichtspflichten vor und ersetzt diese in an- deren Bereichen, in welchen die Wirtschaft von zusätz- lichen Informationen, beispielsweise bei der Steigerung der Energieeffizienz, profitieren kann. Die Zielsetzung der Novelle ist somit klar: Der Er- füllungsaufwand der Wirtschaft muss minimal gehalten werden, und der „One in, one out“-Grundsatz der Bun- desregierung muss zum Tragen kommen . Insgesamt rechnet das Bundesministerium für Wirtschaft und Ener- gie mit einer Erhöhung des Erfüllungsaufwandes für die Wirtschaft von 2,4 Millionen Euro auf 5,2 Millionen Euro pro Jahr . Zusätzlich wird mit einmaligen Umstel- lungskosten in Höhe von 5,4 Millionen Euro gerechnet . Das ist viel Geld und betrifft insbesondere unsere kleinen und mittelständischen Unternehmen . Ganz überwiegend sind diese Kosten dem EU-Recht geschuldet . Deshalb gilt es für uns umso mehr, zu prüfen, ob es in der aktuellen Novelle noch den einen oder ande- ren Hebel gibt, um Zusatzkosten für unseren Mittelstand und Doppelmeldungen zu verhindern . Deshalb führt der Vorschlag des Bundesrates, länder- spezifische Vollerhebungen nur für gewisse Bereiche durchzuführen, an dieser Stelle in die Irre . Die Länder verursachen damit einseitig mehr Bürokratie, Kosten und Aufwand für die Wirtschaft und die Landesstatistikämter . Hier stehen Kosten und Nutzen im Bezug der Datenerhe- bung grundlegend im Widerspruch . Mit der Novelle des Energiestatistikgesetzes schaffen wir die Voraussetzung, um eine effiziente, stabile und si- chere Energieerzeugung sowie -verteilung sicherzustel- len . Unstrittig ist dabei, dass diese Aufgabe langfristig nur mithilfe valider und korrekter Daten gelöst werden kann; denn in der Summe erhöhen sich die Anforderun- gen an die Mess- und Kommunikationstechnologie so- wie das Datenverarbeitungssystem . Mithilfe der Daten soll eine Überwachung und Optimierung der miteinander verbundenen Komponenten der Energiesysteme ermög- licht werden . Für den Industriestandort Deutschland ist die hohe Stromversorgungsqualität ein entscheidender Stand- ortvorteil . Da schließe ich im Übrigen ganz bewusst auch unsere kleinen und mittelständischen Betriebe mit ein . Ein Blackout würde nicht nur unmittelbar Kosten im mehrstelligen Milliardenbereich auslösen, sondern auch die Attraktivität des Wettbewerbsstandorts gefähr- den . Dies gilt es zu vermeiden . Das hat für die CDU/ CSU-Fraktion oberste Priorität und kann nur verhindert werden, wenn wir wissen, was im System abläuft . Aus diesem Grund schafft der Gesetzesentwurf der Bundes- regierung die Voraussetzung, die rechtliche Anordnung von Statistiken zu vereinfachen, Möglichkeiten zu einer Flexibilisierung der Erhebungsprogramme zu eröffnen sowie Berichtskreise leichter anpassen zu können . Mit der Novellierung des Energiestatistikgesetzes wird der amtlichen Energiestatistik mehr Flexibilität ein- geräumt. Hindernisse, die auf langwierige Prozesse des Gesetzgebungsverfahrens, föderale Aspekte und Budget- beschränkungen zurückzuführen sind, werden mit dem Entwurf der Bundesregierung behoben . Damit kann schneller und besser als bisher auf Verän- derungen auf den Elektrizitäts-, Gas- und Wärmemärkten reagiert werden . Deshalb ist es nur konsequent, dass den zuständigen Fachressorts die Möglichkeit eingeräumt wird, für das Monitoring „Energie der Zukunft“ und aufgrund von inter- bzw. supranationalen Pflichten zum Beispiel Merkmale und Berichtskreise eigenständig fest- zulegen . Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit und Wirtschaft- lichkeit sind das Zieldreieck unserer Energiepolitik . Das wollen wir für unsere Bürger und Wirtschaft gewährleis- ten . Mit der vorliegenden Novelle leisten wir einen wei- teren Beitrag dazu . Mit dem Entwurf des Energiestatistikgesetzes sind wir auf dem richtigen Weg, die Energiewende erfolg- reich anzupacken und die dafür nötigen Daten zur Netz- stabilität, Flexibilität sowie Steuerung im Energiesystem zu gewährleisten . Lassen Sie uns den Weg konsequent gemeinsam weitergehen und die Datengrundlage für ein leistungsfähiges Energiesystem schaffen. Florian Post (SPD): Unsere Aufgabe ist es, die ge- setzlichen Rahmenbedingungen für eine moderne Ener- giepolitik zu schaffen. Ein Baustein dieser Rahmenbe- dingungen, der dieses Vorhaben nicht mehr ausreichend unterstützt, ist das Energiestatistikgesetz, EnStatG . 2003 in Kraft getreten, bildet das Gesetz die nationale Rechts- grundlage für die amtliche Energiestatistik, soweit sie von den jeweiligen statistischen Ämtern der Länder und des Bundes durchgeführt wird . Diese Anordnung wurde jedoch vor der Liberali- sierung der Energiemärkte bestimmt, wodurch nun die enormen Veränderungen der energiewirtschaftlichen Rahmenbedingungen nicht mehr angemessen erfasst werden . Speziell bei der Abbildung der Entwicklungen auf den Elektrizitäts- und Gasmärkten kommt es deshalb zu Problemen. So sind hier, nach dem EnStatG, gewisse statistische Einheiten beispielsweise auskunftspflichtig, die aufgrund von energiewirtschaftlichen Veränderungen Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620686 (A) (C) (B) (D) heute nicht mehr existieren oder über die Unternehmen nicht mehr verfügen . Gleichzeitig ist das gegenwärtige Energiestatistikge- setz auch im Kontext der Energiewende veränderungs- bedürftig . So wurde zwar mit dem Monitoringprozess „Energie der Zukunft“ ein Werkzeug geschaffen, das sowohl den Fortschritt bei der Zielerreichung als auch bei der Umsetzung der Energiewende überprüft . Aller- dings bilden die Grundlage für diesen Monitoringbericht eben die Daten der Energiebilanz für Deutschland, wel- che sich wiederum auf die amtlichen Energiestatistiken, zusätzlichen Verbandsstatistiken und weitere Informati- onen stützt . Wir sind uns, glaube ich, an diesem Punkt einig, dass eine Novellierung des EnStatG deshalb geboten ist, da es dem Datenbedarf einer zeitgemäßen Energiepolitik heute nicht mehr gerecht wird . Der Entwurf, den uns die Bun- desregierung hierzu vorgelegt hat, ist darum zu begrüßen . So erfolgt jene Novellierung der gesetzlichen Grundlage sowohl durch eine Anpassung an die veränderten Markt- gegebenheiten als auch anhand einer Optimierung des notwendigen Bedarfs an Daten zur Erfüllung der natio- nalen und internationalen Berichtspflichten. Die Vorzüge der Novellierung des EnStatG liegen vor allem im hand- festen Bürokratieabbau . Zwar sind unter Beachtung der eingetretenen politi- schen und wirtschaftlichen Herausforderungen notwen- dige Ergänzungen vorzunehmen . Im Großen und Ganzen allerdings können einzelne Berichtspflichten und Erhe- bungselemente deutlich reduziert werden . Zum einen ge- lingt dies über die Nutzung von Verwaltungsdaten gemäß dem novellierten Bundesstatistikgesetz, zum anderen auch über die angestrebte Nutzung von bereits gewon- nenen energiestatistikrelevanten Daten . Dieser deutliche Bürokratieabbau und die daraus resultierende verbesser- te Energiestatistik erscheinen mir besonders deshalb so wichtig, da nicht zuletzt die Wirtschaft hiervon profitie- ren wird . Auf dieser Basis kann das Ziel, ein geeignetes Gleichgewicht zwischen den Belastungen der Wirtschaft und der Datenqualitätsverbesserung für Politik und Ge- sellschaft zu schaffen, mit dem vorliegenden Entwurf erreicht werden . Zusammenfassend ist also festzuhalten, dass wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung eine gute Grundlage für die weiteren Beratungen haben, um das EnStatG als Baustein der energiepolitischen Rah- menbedingungen in einem angebrachten Maß anzupas- sen . Johann Saathoff (SPD): In unserer heutigen De- batte geht es um Statistiken, genauer gesagt um den Regierungsentwurf eines Energiestatistikgesetzes . Das hört sich für die meisten von uns vielleicht zunächst eher trocken an, aber bei genauerer Betrachtung sind wir uns sicher alle schnell einig, welch große Bedeutung Statis- tiken zuteilwird, insbesondere auch im politischen Ent- scheidungsprozess . Das bisherige Energiestatistikgesetz ist 2003 in Kraft getreten . Es regelt, welche Daten auf den nationalen und internationalen Energiemärkten erhoben werden . Damit ist das Energiestatistikgesetz die Rechtsgrundlage für die Arbeit des Statistischen Bundesamtes und der korrespon- dierenden Landesämter . Bei mir in Ostfriesland würde man sagen „All wat gaud woord fangt lütschet an“ . Ganz grundsätzlich geht es bei Statistiken immer da- rum, eine systematische Verbindung zwischen Erfahrun- gen und der Theorie herzustellen . Um diese Verbindung herstellen und vor allem auch die richtigen Schlüsse aus ihr ziehen zu können, müssen allerdings Datengrundlage und Theorie auch zusammenpassen . Beim Energiesta- tistikgesetz ist dieser Grundsatz nun jedoch nicht mehr erfüllt . Das bisherige Gesetz wird dem aktuellen Daten- bedarf schlicht nicht mehr gerecht und wird deshalb nun auch folgerichtig novelliert . Im Jahr 2003 befand sich die Energiewende noch in ihren Kinderschuhen . Seitdem hat sich so einiges getan . Dazu kommen noch weitere energiepolitische Grundsatz- entscheidungen . Allein in dieser Legislaturperiode hat es zwei Novellen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes ge- geben . Dazu haben wir weiter Grundsatzentscheidungen auf den Weg gebracht, wie das Strommarktgesetz und das Gesetz zur Digitalisierung der Energiewende, die wir verabschiedet haben . Es herrschen damit heute deutlich veränderte Rah- menbedingungen auf den Energiemärkten . Insbesondere auf den Elektrizitäts- und Gasmärkten können die aktu- ellen Entwicklungen anhand der alten Datengrundlage nicht abgebildet werden . Den beschriebenen Verände- rungen wird nun im Gesetzentwurf auf unterschiedliche Weisen begegnet, unter anderem durch die Ausdehnung bestimmter Erhebungspflichten oder die Erhöhung von Datenerhebungsintervallen . Die zusätzlich erhobenen Daten werden dann bei- spielsweise für den Monitoringbericht nach § 98 EEG verwendet . In diesem Bericht übermittelt die Bundesre- gierung dem Bundestag jährlich Informationen über das Voranschreiten der Energiewende, unter anderem über den Stand des Ausbaus der erneuerbaren Energien und den Stand der Direktvermarktung von Strom aus erneuer- baren Energien . Es geht also um die Erhebung von Daten, anhand derer überprüft werden kann, inwieweit die Ziele der Energiewende erreicht werden . Damit dienen die Da- ten gleichzeitig und unmittelbar auch als Grundlage für die zukünftigen gesetzgeberischen Entscheidungen . Es ist heute schon klar, dass in den nächsten Jahren weitere grundlegende Neuerungen und Entwicklungen im Energiesektor erfolgen werden . Eines der größten Projekte ist dabei sicherlich die Sektorkopplung. Wich- tig für die Novellierung des Energiestatistikgesetzes ist daher auch, dass wir die notwendige Datengrundlage für ein aussagekräftiges Monitoring in den Teilbereichen der Wärme- und Verkehrsstatistik ermöglichen . Dafür wol- len wir uns im weiteren Verfahren einsetzen . Damit hilft das Energiestatistikgesetz mit der notwen- digen Datenerhebung, den Weg der Energiewende so gut wie möglich zu gestalten . Ich freue mich auf eine kon- struktive Beratung im Ausschuss . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20687 (A) (C) (B) (D) Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Mit Zahlen wird Politik gemacht, auf ihrer Basis werden Entschei- dungen getroffen. Umso wichtiger ist, dass wir verläss- liche Zahlen haben, um die große Transformation im Energiebereich objektiv betrachten und schließlich auch bewerten zu können. Der Monitoring-Prozess „Energie der Zukunft“ besteht aus den jährlich erscheinenden Monitoring-Berichten, alle drei Jahre erscheinenden Fortschrittsberichten zur Energiewende und aus jeweils hierzu veröffentlichten Stellungnahmen einer Experten- kommission, die die Berichte bewertet . Die nationale Energiestatistik bildet für dieses Monitoring die Daten- grundlage . Die heutige Novelle des Energiestatistikgesetzes ist zwar ein Schritt in die richtige Richtung, weil Energie- daten als Grundlage für die Beurteilung der Transfor- mation des Energiemarktes von Bedeutung sind und die Erhebung der aktuellen Entwicklung angepasst wird . Energiedaten sollten verlässlich und aktuell erhoben und veröffentlicht werden. Der Bundesrat hat gefordert, die Erhebung mit Daten der Mineralölwirtschaft zu ergän- zen, was wir unterstützen . Zudem schließen wir uns der Forderung aus der Länderkammer an, die Erhebung von Energiedaten auf die Bereiche Wärme und Verkehr aus- zudehnen . Hier müsste zunächst geprüft werden, welche Daten genau von Belang sind . Die Anforderungen an eine Energiewirtschaft der Zukunft, im Zuge der Sektor- kopplung Stromflüsse auch im Wärme- und im Verkehrs- sektor zu erfassen, ist einleuchtend und geboten, damit eine bessere Planung und Prognose in diesen übergrei- fenden Bereichen der Energiewende möglich ist . Die von der Bundesregierung bevorzugten Schätzmodelle sind kein adäquater Ersatz . In die Energiestatistik sollten im Übrigen auch Erhe- bungen einfließen, die Grundlage für den Netzausbau sind . Die Linke fordert seit Jahren die Netzbetreiber auf, die Parameter für ihre Berechnungsmodelle der Bun- desnetzagentur und der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, damit die Grundlagen der Netzentwicklungsplä- ne transparent gemacht und überprüfbar werden . Dies ist eine Blackbox, denn die Übertragungsnetzbetreiber füh- ren an, dies seien Daten, die dem Betriebsgeheimnis un- terliegen . Damit sind aber die Berechnungen für den an- geblich erforderlichen Netzausbau nicht nachvollziehbar oder plausibel . Diese Datengrundlagen sind aber wichtig, um Einsparpotenziale beim Netzausbau zu ermitteln . Es handelt sich hier nicht um Daten, die von privater Sei- te zurückgehalten werden dürfen, denn das dürfen die Daten bei der Energieerzeugung schließlich auch nicht . Hier kann man sich auch nicht auf ein Betriebsgeheimnis berufen . Es wäre an der Zeit, dass bei einer Novelle des Ener- giestatistikgesetzes auch diese Daten für den Netzaus- bau Berücksichtigung finden. Denn aufgrund fehlender Transparenz im Bereich Netzausbau unterliegen die Übertragungsnetzbetreiber dem Verdacht, das Minimie- rungsgebot bei der Berechnung der Szenarien nicht aus- reichend einzuhalten . Der Gesetzgeber sollte hier endlich für die erforderliche Transparenz sorgen . Des Weiteren braucht es verlässliche Daten zu den tatsächlichen Kosten der Netzinfrastruktur . Immerhin handelt es sich bei den Netzentgelten um einen größeren Posten für die Stromkosten der Verbraucherinnen und Verbraucher als die immer wieder diskutierte EEG-Um- lage. Für die Entscheidungen im Politikbetrieb sowie für die Wahrung der Verbraucherrechte braucht es hier end- lich Datentransparenz . Zwar sind bestimmte Daten der knapp 900 Netzbetreiber bereits veröffentlichungspflich- tig, doch sollten diese auch an zentraler Stelle gesammelt und aufbereitet werden . Die Kosten der Verteilernetze und die Entwicklung der Kosten in den vergangenen Jahren sind nicht wirklich bekannt, obwohl es sich hier eigentlich um einen regulierten Bereich handelt . Bei der Transparenz der Netzdaten bzw ., welche regulierungsbe- zogenen Daten durch die Netzbetreiber und die Regulie- rungsbehörde zu veröffentlichen sind, könnten wir uns ein Beispiel an den Niederlanden oder Norwegen neh- men . Im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher sollte auch hierzulande endlich Transparenz hergestellt werden . Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Novellierung des Energiestatistikgesetzes von 2003 ist richtig . In den letzten 13 Jahren ist energiepolitisch viel passiert . Höchste Zeit also, die Datengrundlagen zu erneuern . Wir brauchen aussagekräftige Statistiken, um zu be- werten, ob energiepolitische Maßnahmen wirken oder nicht . Wir müssen messen, ob wir Energie tatsächlich effizienter produzieren und nutzen sowie ob wir weniger Treibhausgase verursachen . Nur, wenn wir darüber im Bilde sind, können wir ver- lässlich sagen, ob wir auf dem richtigen Weg sind, um die Klimaziele und die weiteren Ziele der Energiewende einzuhalten . Ende des Jahres steht ja auch immer der Monitoring- bericht der Bundesregierung zur Energiewende an – und die Evaluation der von ihr beauftragten Expertenkom- mission . Es ist richtig, dass wir uns in den letzten beiden Jahren jeweils Zeit im Ausschuss genommen haben, da- rüber zu beraten . Denn die Ergebnisse solch eines Monitorings müs- sen unser Maßstab sein, um zu entscheiden, ob wir die richtigen politischen Instrumente in der Energie- und Klimapolitik einsetzen . Diese Woche erst hat der World Energy Outlook der Internationalen Energieagentur wie- der gezeigt: Der Weg hin zu einer Begrenzung der Erd- erwärmung auf 1,5 Grad erfordert eine ambitioniertere Politik. Wir werden unsere Anstrengungen weltweit er- heblich verstärken müssen, um die Paris-Ziele einzuhal- ten . Bis allerspätestens 2040 müssen wir weltweit weitge- hend auf Kohle verzichten; da ist es klug, wenn wir in Deutschland vorangehen . Die Internationale Energieagentur hält außerdem eine vollständige Elektrifizierung des Pkw- und leichten Güterverkehrs sowie eine vollständige Umstellung des Gebäudebestandes auf Nullemissionshäuser für erforder- lich . Um möglichst schnell bei der Treibhausgasredukti- on voranzukommen, müssen wir wissen, wo wir anset- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620688 (A) (C) (B) (D) zen sollten . Leider ist das oft nicht so klar . Besonders im Gebäudebereich fehlen uns gut aufbereitete Daten . Man könnte viel besser planen, wenn man ausreichend Statis- tiken zum Sanierungstand der Gebäude hätte, wenn man besser Bescheid wüsste, wie es um Heizanlagen bestellt ist und welche Anschlussmöglichkeiten es wo für erneu- erbar betriebene Nahwärmenetze gibt . Mit Ihrem Gesetzentwurf weiten Sie von der Bundes- regierung zwar die Statistiken über den Wärmemarkt ein Stück aus . Aber Sie könnten im Wärme- und Verkehrsbe- reich durchaus noch mehr tun . Das hat auch der Bundes- rat in seiner Stellungnahme angemerkt . Ich finde, wir sollten uns hier im Bundestag noch ein- mal genau anschauen, ob uns die Vorschläge der Länder beim Klimaschutz weiterbringen können . Das gilt auch für die Vorschläge zu den Mineralöldaten . Denn das ist immer noch der wichtigste Primärenergieträger in Deutschland . Wenn wir die Dekarbonisierung ernsthaft angehen wollen, muss der Mineralölverbrauch drastisch sinken . Dafür müssen wir übrigens auch endlich aufhö- ren, den Einbau von Ölheizungen durch Steuermittel zu fördern . Vor allem aber brauchen wir endlich auch eine Wende im Verkehrssektor . Wenn die Vorschläge der Länder dazu beitragen kön- nen, energiepolitische Maßnahmen wirkungsvoller zu evaluieren und dann besser gestalten zu können, sollten wir uns dem nicht verschließen . Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vorberei- tung eines registergestützten Zensus einschließ- lich einer Gebäude- und Wohnungszählung 2021 (Zensusvorbereitungsgesetz 2021 – ZensVorbG 2021) (Tagesordnungspunkt 28) Michael Frieser (CDU/CSU): In der vorweihnacht- lichen Zeit möchte ich zunächst daran erinnern, dass die frohe Botschaft damit begann, dass es sich aber zu der Zeit begab, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus aus- ging, dass alle Welt geschätzt würde . Die letzte Zählung, nicht der Welt, aber unseres Lan- des, fand in Form eines registergestützten Modells im Jahr 2011 statt . Nicht auf Geheiß des Kaisers, sondern nach EU-Vorgaben ist die Durchführung von Volks-, Ge- bäude- und Wohnungszählungen alle zehn Jahre vorge- sehen . Denn unsere Demokratie ist auf korrekte Daten ange- wiesen, damit wir die richtigen Entscheidungen treffen können. Politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entscheidungen, Planungen und Investitionen sind ohne verlässliche Daten zur Bevölkerung, zur Erwerbstätigkeit und zur Wohnsituation nicht möglich. Als Demografie- beauftragter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion interes- sieren mich besonders die Auswirkungen des demogra- fischen Wandels auf unsere Bevölkerungsstruktur. Aus den Daten ergeben sich Antworten auf Fragen wie: „Wie viele Altersheime und Kindergärten brauchen wir?“, „Wo besteht Wohnungsmangel?“ oder „Wo müssen wir die Infrastruktur anpassen?“ . Im Hinblick auf die bevor- stehenden Wahlen ist es wichtig, regelmäßig zu prüfen, ob die Bundestagswahlkreise noch die vorgeschriebene Größe haben . Die Datenerhebung soll wie bereits beim Zensus 2011 durch ein registergestütztes Verfahren erfolgen . Wie vom Bundesverfassungsgericht gefordert, ist diese Methode im Vergleich zur traditionellen Vollerhebung kostengüns- tiger und für die Bevölkerung belastungsärmer . Das Ver- fahren für 2021 konnte durch die Ergebnisse von intensi- ven Evaluierungen des letzten Zensus optimiert werden . Es zeigte sich, dass Verwaltungsregister eine geeignete Grundlage für die Durchführung eines Zensus darstellen, jedoch einer gezielten Bereinigung und einer Ergänzung um nicht vorhandene Angaben bedürfen . Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden die rechtlichen Voraussetzungen für die notwendigen und umfangreichen Zensusvorbereitungen geschaffen. Eine vollständige Erfassung der Bevölkerung setzt die Er- mittlung aller existierenden Gebäude mit Wohnraum ein- schließlich aller bewohnten Unterkünfte voraus . Da für die Gebäude- und Wohnungszählung keine geeigneten Verwaltungsdaten zur Verfügung stehen, ist die Durch- führung einer direkten Befragung der Auskunftspflich- tigen notwendig . Um eine gute Qualität der Daten zu gewährleisten, ist zum Beispiel der frühzeitige Aufbau eines anschriftenbezogenen Registers notwendig, das die verschiedenen Teile der Erhebung steuert . Der Gesetzentwurf legt auch die im Register zu spei- chernden Inhalte fest und regelt die erforderlichen Daten- übermittlungen durch die relevanten Verwaltungsstellen . Des Weiteren regelt das Gesetz die Verantwortlichkeit des Statistischen Bundesamtes für die IT-Entwicklung und die IT-Infrastruktur in Zusammenarbeit mit dem Infor- mationstechnikzentrum Bund . Auch wenn der Bundesrat sich für eine dezentrale IT-Aufgabenwahrnehmung ein- gesetzt hat, ist die Beibehaltung einer zentralen IT-Struk- tur aus Datenschutz-, Effizienz- und Kostengründen vorzuziehen . Weitere Vorschläge des Bundesrates zur Vereinfachung des Verfahrens wurden aufgegriffen. Der Bundesrat unterstützt grundsätzlich das Ziel des Gesetzentwurfes, die Grundlagen der Volkszählung 2021 als gemeinsames Bund-Länder-Großprojekt zu schaffen. Damit die umfangreichen organisatorischen und tech- nischen Vorbereitungen des Zensus 2021 rechtzeitig be- ginnen können, ist der vorliegenden Gesetzentwurf un- erlässlich . Dr. Tim Ostermann (CDU/CSU): Heute beschäfti- gen wir uns in erster Lesung mit dem Gesetz zur Vor- bereitung des nächsten Zensus in 2021 . Auch für dieses Gesetz gilt, was ich in zurückliegenden Plenardebatten bereits mehrfach ausgeführt habe: Die Vorhaltung von Statistiken ist für einen modernen Staat unverzichtbar . Nur auf der Grundlage von guten Statistiken lässt sich gute Politik machen, die sowohl die gesellschaftlichen Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20689 (A) (C) (B) (D) Entwicklungen als auch die Lebensumstände der Men- schen adäquat berücksichtigt . Für den Zensus kommt noch eine finanzielle Dimen- sion hinzu, denn dieser überprüft die tatsächliche Anzahl an Bürgern in den Kommunen zu einem bestimmten Stichtag . Hier geht es nämlich nicht nur um die Frage, wie sich die Mobilität der Bürger auf die Struktur unse- res Staates auswirkt . Für die Kommunen entscheidet die Zahl der dort lebenden Bürger über die Höhe der Finanz- zuweisungen, die sie etwa von den Ländern erhalten . Man sieht: Beim Zensus geht es auch ums Geld . Die Bundesregierung will nun mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die Durchführung des nächsten Zensus in 2021 vorbereiten. Aus meiner Sicht finden sich in dem Entwurf eine Reihe von vernünftigen Ansätzen, um die Durchführung effizienter und effektiver zu gestalten. So soll bei diesem Zensus der Betrieb der IT beim Statistischen Bundesamt gebündelt werden, um aufge- tretenen Synergieverlusten bei der vormals erforderli- chen Koordinierung zwischen mehreren Rechenzentren entgegenzutreten . Weiterhin soll auf die Abfrage von Daten der Bundesagentur für Arbeit verzichtet werden, denn hier hat der Nutzen die entstandenen Kosten nicht rechtfertigen können. Daneben finden sich noch weite- re Änderungen und Vorbereitungen technischer Art, die ich an dieser Stelle nicht im Detail wiedergeben möchte . Gegebenenfalls werden wir uns nun im weiteren Gesetz- gebungsverfahren und in der Beratung im Ausschuss mit weiteren Einzelheiten beschäftigen . Insgesamt meine ich jedoch, dass die Bundesregierung hier einen ordentlichen Gesetzentwurf zur Vorbereitung des nächsten Zensus vorgelegt hat . Trotzdem möchte ich mir an dieser Stelle den Hinweis erlauben, dass man aus meiner Sicht einmal grundsätz- lich über die Konzeption des Zensus nachdenken sollte . Damit möchte ich auch einen Vorschlag des Normenkon- trollrates aufgreifen, der sich in der Stellungnahme zum Gesetzentwurf findet. Wir müssen unbedingt über die Einrichtung eines bundesweiten Zentralregisters nach- denken . Es kann nicht der Anspruch einer modernen und auf digitale Weiterentwicklung bedachten Verwaltung sein, die Melderegister der einzelnen Kommunen zu- sammenzuziehen und anschließend mit Stichproben und statistischen Anpassungen zu bereinigen . Angesichts der technischen Möglichkeiten, die uns heute zur Verfügung stehen, steht der dabei zu betreibende Aufwand außer Verhältnis . Wenn man dies darüber hinaus mit einer entsprechen- den Erfassung von Wohnungs- und Gebäudeinforma- tionen kombiniert, dann würden wir nicht nur ein sehr aktuelles und ständig bereinigtes Register der Bürger in Deutschland erhalten . Ich bin mir sicher: Die Nutzungs- möglichkeiten von solchen statistischen Daten würden sehr schnell die Kosten einer Umstellung wettmachen . Dass dies funktionieren kann, haben uns wieder ein- mal Österreich und die Schweiz vorgemacht . Dort wur- den solche Nationalregister mit relativ wenig Aufwand und mit hohen Datenschutzstandards versehen umge- setzt . Ich meine, dass auch wir uns in Deutschland einen solchen Schritt überlegen sollten . Ansonsten werden wir auch 2021 einen Zensus erleben, bei dem eine Vielzahl an einzelnen Datensätzen aus allen Kommunen Deutsch- lands mit aufwendigen Überprüfungen und Stichproben für die Statistik nutzbar gemacht werden müssen . Nun wünsche ich uns jedoch erst einmal eine kon- struktive Befassung mit dem vorliegenden Gesetzent- wurf . Matthias Schmidt (Berlin) (SPD): Fragt man heute junge Leute, ob sie schon mal etwas von einem „Zensus“ gehört haben, erntet man mitunter fragende Blicke . Im Zeitalter der Digitalisierung erscheint der Begriff ei- nes „registergestützten Zensus“ unmodern und staubig . Doch dieser Eindruck ist nicht richtig . Das Statistische Bundesamt bedient sich lange erprobter und weiterent- wickelter moderner Verfahren, und das möchte ich heute darstellen . Worüber sprechen wir heute? Wir sprechen über eine Erhebung, die in Deutsch- land gemeinhin unter dem Begriff der „Volkszählung“ bekannt ist . 2011 fand diese Volkszählung unter dem Namen „Zensus 2011“ erstmals gemeinsam in allen EU-Mitgliedstaaten statt . Stichtag war der Europatag am 9 . Mai 2011 . Deutschland war hierzu europarechtlich verpflichtet. Vorausgegangen war diesem „Zensus 2011“ ein Vorbereitungsgesetz, ähnlich, wie es uns heute vor- liegt. Was hier geregelt wird, betrifft vor allen Dingen das methodische und zeitliche Verfahren . Wichtig ist, dass das Verfahren, anders als die ganz frühen Volkszählungen „registergestützt“ stattfindet. Das heißt, die Menschen werden nicht mehr nur an der Haus- tür befragt, sondern es wird auf bereits vorhandene Daten zurückgegriffen. Die befinden sich in Registern verschie- dener Behörden, so zum Beispiel der Meldeämter . Das belastet die Bürgerinnen und Bürger in einem weitaus ge- ringeren Umfang . Direkte Haushaltsbefragungen werden nur noch stichprobenartig und ergänzend vorgenommen . So war es 2011, und so soll auch 2021 verfahren werden . Der Zensus gliedert sich grob gesprochen in eine Volks-, Gebäude- und Wohnungszählung . Bei der Gebäude- und Wohnungszählung kann dabei jedoch nicht auf Verwal- tungsdaten zurückgegriffen werden, womit hier direkte Befragungen wie auch 2011 notwendig sein werden . Ge- genüber 2011 soll es 2021 jedoch einige Verfahrensver- besserungen geben, die wir heute in erster Lesung mit dem vorliegenden Vorbereitungsgesetz anberaten . „So früh?“, mag man sich da fragen . Doch dafür gibt es gewichtige Gründe: Einen Zensus vorzubereiten, nimmt viel Zeit in An- spruch . Es müssen die technischen und organisatorischen Vorbereitungen getroffen werden, um einen reibungs- losen Ablauf zu sichern . Die methodische Vorbereitung und die Koordination liegen dabei nun in den Händen des Statistischen Bundesamtes, wo bereits jetzt die Vor- bereitungen für den Zensus 2021 laufen . Insbesondere der IT-Betrieb und die IT-Entwicklung liegen im Verant- wortungsbereich der dort vorhandenen Experten . Um ein gutes Ergebnis beim Zensus zu erreichen, muss die gesamte Bevölkerung erfasst sein. Ein flächen- deckendes Verzeichnis von Wohnräumen ist jedoch bis- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620690 (A) (C) (B) (D) lang nicht vorhanden . Das Anschriftenregister nach dem Bundesstatistikgesetz kann eine Datengrundlage für die Vorbereitung und Durchführung des Zensus 2021 bilden . Doch das reicht nicht . Die hier vorhandenen Angaben sind weder aktuell noch vollzählig . Daher muss zur Vorberei- tung des Zensus ein neuer, aktueller und vollständiger Anschriftenbestand aus weiteren Quellen zusammenge- tragen und aufgebaut werden . Hier soll ein Steuerungs- register ins Leben gerufen werden, das vom Statistischen Bundesamt erstellt und geführt wird . Die Länder werden bei dem Aufbau und der Pflege des Registers beteiligt. So müssen die Meldebehörden der Länder unter anderem die Daten des Melderegisters an das Hauptregister beim Statistischen Bundesamt liefern . Dieses Steuerungsre- gister besteht aus mehreren Teilen . Zum einen aus den Anschriften aller einzubeziehender Gebäude mit Wohn- raum und aller bewohnten Unterkünfte . Hierzu gehören auch geografische Koordinaten und sogenannte „geo- referenzierte Adressdaten“, die eine kleinräumige Aus- wertung der Daten möglich machen . Die Daten hierfür liefern Vermessungsbehörden, wie das Bundesamt für Kartografie und Geodäsie. Hinzu kommen Steuerungs- und Klassifizierungsmerkmale, worunter unter anderem Stichprobenkennzeichen, gebäude- und wohnungsbezo- gen Angaben sowie Sonderbereichskennzeichen zählen . Zu den Sonderbereichen gehören zum Beispiel Justiz- vollzugsanstalten . Hier kommen besondere Verfahren zum Zuge, da sie sich von „normalen“ Wohngebäuden unterscheiden . So kann nachvollzogen werden, dass in Justizvollzugsanstalten die Fluktuation der Menschen, die hier vorübergehend wohnen, hoch ist . Daher werden die Erhebungen hier über die Einrichtungsleitungen voll- zogen . Die statistischen Landesämter und das Statistische Bundesamt arbeiten bei der Erstellung des Zentralregis- ters somit eng zusammen, wobei die Hoheit des Verfah- rens beim Statistischen Bundesamt konzentriert ist . Das betrifft den IT-Betrieb und IT-Entwicklung und auch die Datenverwaltung für das Steuerungsregister . Damit ver- bunden ist Konfliktstoff, zu dem sich die Länder und der Normenkontrollrat auch bereits geäußert haben . Es herrscht zu dem heute vorliegenden Gesetzesvor- haben somit noch Bedarf zu eingehender Beratung . Die- se Zeit wollen wir uns nehmen und werden den Gesetz- entwurf, wie es üblich ist, in verschiedene Ausschüsse überweisen . Hier werden wir uns mit der Kritik der Län- der und den Anregungen des Normenkontrollrats ausei- nandersetzen . Ich freue mich auf die Beratung mit Ihnen zu diesem wichtigen Thema . Jan Korte (DIE LINKE): Heute behandeln wir mit dem Zensusvorbereitungsgesetz 2021 ein Gesetzesvor- haben der Bundesregierung von einiger Tragweite . Denn etwa 10 Prozent aller in Deutschland ansässigen Perso- nen sollen im Rahmen des Zensus 2021 zur Beantwor- tung umfangreicher Fragebögen gezwungen werden . Bei Nichtbefolgung werden die Behörden, wie beim letzten Zensus 2011, mit Buß- und Zwangsgeldern von 300 bis zu 5000 Euro drohen . Darüber hinaus werden zahlreiche sensible persönliche Daten aus diversen an- deren Datensammlungen ohne die Einwilligung oder Be- nachrichtigung der Betroffenen zusammengeführt. Auch für 2021 – und dann alle zehn Jahre erneut – schreibt die EU-Richtlinie 763/2008 vor, umfassende Daten über die Bevölkerung und Wohnsituation vorzule- gen . Es war noch die vorangegangene Große Koalition, die mit ihrem Zensusgesetz 2009 allerdings weit über diese europäische Vorgabe hinausging und ähnlich wie beim Vorratsdatenspeicherungsgesetz die Gelegenheit nutzte, um möglichst viele Daten der Bürgerinnen und Bürger zu sammeln und zu speichern . Die beiden Säulen des Zensus – Registerzusammen- führung und „Stichproben“-Erhebung von immerhin 10 Prozent der Bevölkerung – bilden mit den Daten der 18 Millionen Wohnungs- und Hauseigentümer und der Erfassung der Bewohner sensibler Sonderbereiche (Justizvollzugsanstalten, psychiatrische Einrichtungen, Krankenhäuser, Behindertenwohnheime und Notunter- künfte für Wohnungslose, aber auch Kasernen und Stu- dentenwohnheime) die Informations- oder Datenbasis des Projekts, die zentral gespeichert wird. Schon beim letzten Zensus vor fünf Jahren kritisierte meine Fraktion eine derart teure und aufwendige Volks- zählung, die angesichts ausreichender Daten bei den Meldeämtern heutzutage nicht nötig ist . Immerhin kalku- lieren Sie diesmal bereits zu Beginn mit circa 331,7 Mil- lionen Euro . Beim letzten Mal gingen Sie im Gesetz- entwurf zum ZensVorbG 2011 vom 30 . Mai 2007 mit 176 Millionen Euro nur von knapp der Hälfte aus . Am Ende kostete der Zensus 2011 nach Ihren Angaben dann allerdings insgesamt 667,4 Millionen Euro . Entweder sind Sie jetzt ein wenig vorsichtiger mit Ihren Prognosen geworden, oder wir müssen, wenn man den „normalen“ Fehlerquotienten Ihrer Berechnungen zugrunde legt, mit Gesamtkosten von 1,26 Milliarden Euro rechnen . Das erscheint mir dann doch selbst für Ihre Verhältnis- se und angesichts der Einsparungen in vielen wichtigen Bereichen sowie des völlig zweifelhaften Nutzens der Volkszählung reichlich übertrieben und verantwortungs- los zu sein. Denn dass die Planungssicherheit, mit der Sie ja argumentieren, nach dem Zensus mitnichten so gut sein wird wie angenommen, zeigen doch in aller Deut- lichkeit die zahlreichen anhängigen Verfassungsklagen von rund 350 Kommunen sowie den Ländern Berlin und Hamburg aufgrund gravierender Mängel beim damals zugrundeliegenden Anschriftenregister und der verwen- deten Software . Die noch immer vor dem Bundesverfas- sungsgericht anhängigen Klagen sind übrigens „schuld“ daran, dass die Löschung fast aller, hochsensibler und personenbezogener Datensätze aus dem Zensus 2011 noch immer nicht erfolgt ist, obwohl sie laut ZensG 2011 eigentlich schon vor Jahren hätte erfolgen müssen . Vielleicht haben Sie ja wie ich den sehr aufschlussrei- chen Artikel „Wo die Karteileichen wohnen” auf Spie- gel Online vom 11 . Oktober 2016 lesen können . Wenn nicht, empfehle ich Ihnen das ganz dringend . Denn die Recherchen der Journalisten ergeben nicht nur ein ziem- lich gutes Bild von etlichen der Probleme und Mängel des letzten Zensus; sie zeigen auch, dass die aufgetre- tenen Verzerrungen kein Einzelfall waren, sondern quer Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20691 (A) (C) (B) (D) durch die Republik auftraten und so stark waren, dass die Zensusergebnisse nicht taugten, um auf ihrer Basis bis zum nächsten Zensus 2021 jährlich die Bevölkerungs- zahlen fortzuschreiben . Inzwischen habe deshalb das Sta- tistische Bundesamt unter anderem die Altersverteilung des Zensus komplett neuberechnet . Um ein ausgewoge- nes Geschlechterverhältnis hinzubekommen, benutzte es dazu die Zahlen aus den kommunalen Melderegistern . Es korrigierte den Zensus also mit genau den Daten, die angeblich so schlecht sind, dass sie eigentlich durch den Zensus korrigiert werden mussten . Das versteht doch kein Mensch . Ich finde es jedenfalls schon ziemlich erstaunlich, dass Sie nun meinen, ein tragfähiges und sicheres Konzept für den Zensus 2021 zu haben, obwohl es bis heute keine Evaluation des Zensus 2011 gegeben hat . Leider be- schleicht mich der Verdacht, dass hier wieder einmal et- was eiligst durchgezogen werden soll, ohne ausreichend durchdacht worden zu sein . Diese und etliche andere der genannten Fragen wollen wir im nun folgenden Gesetzgebungsverfahren geklärt wissen . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Das Wissen darüber, wohin sich unsere Gesell- schaft entwickelt, auf solide empirische Daten zu stützen, ist ein Grundpfeiler eines rational agierenden demokrati- schen Staatswesens . Wir haben es nun alle drei Monate, zuletzt im Verfahren um den Mikrozensus, vorgetragen: Gegen die Arbeit der Statistikbehörden ist im Ansatz nichts einzuwenden . Ihre Arbeit ist vielmehr bedeutsam, grundlegend und verdienstvoll für die Unterstützung al- ler an Entscheidungsprozessen beteiligten öffentlichen Stellen . Auch der Bundestag verlässt sich auf dieses Wis- sen, um rationale gesetzgeberische Entscheidungen zu treffen. Worüber wir aber in einer konstruktiven Auseinander- setzung bleiben sollten, dazu halten uns das Grundgesetz und seine umfänglichen Vorgaben zum Schutz der Privat- heit der Bürgerinnen und Bürger an, das sind die Mittel und Wege, mit denen wir an die Informationen und Daten herankommen . Unsere Bedenken wegen des Kontextes der ständigen Ausweitung des Mikrozensus hatten wir bereits mehr- fach zum Ausdruck gebracht . Dieser wurde allerdings stets auch damit legitimiert, dass er die häufige Wieder- kehr großer Volkszählungen womöglich ersparen kön- ne . Das ist ersichtlich nicht mehr der Fall . Nach dem Zensus 2011 arbeiten wir nun bereits am Zensus 2021, ein Rhythmus von zehn Jahren scheint Usus zu werden . Gerade die Debatte um den Zensus 2011 hat gezeigt: Nicht mehr das Ob-überhaupt, wie zu Zeiten der Volks- zählung, sondern Umfang und Details der Ausführung führen zu Kontroversen . Das ist weiterhin alles andere als selbstverständlich, wenn die gesamte Bevölkerung durch staatliche Stellen flächendeckend erfasst und ka- talogisiert wird . Es kann auch in Zukunft nur funktio- nieren, wenn das amtliche Statistikwesen weiterhin ein so hohes Vertrauen in der Bevölkerung genießt wie das unsrige . Interessanterweise waren es dann letztlich nicht Da- tenschutzfragen, sondern die politische Auseinanderset- zung über die Auszählungsergebnisse kommunaler Ein- wohnerzahlen, die zum großen Streit führte . Angelastet wird dieser damalige, freilich auch fiskalischen Interes- sen geschuldete Konflikt der komplexen Zusammenar- beit zwischen Landesstatistikbehörden und Bund . Die Bundesregierung reagiert nun mit einer wesent- lichen Zentralisierung der IT-Verfahren beim Bund . Zentrale Datenhaltungen sollen die bisherigen Koordi- nierungsprobleme von vornherein ausschließen . Dieser Schritt scheint die neue Linie der Bundesregierung zu sein, die sich auch in der geplanten Grundgesetzände- rung zur Absicherung eines Datenportals des Bundes und der Länder abzeichnet . Ob es sich hier um einen sachgerechten Schritt in der Weiterentwicklung des E-Government handelt, können wir hier nur andiskutieren . Um es gleich vorneweg zu sagen: Es lassen sich gute Argumente sowohl für die eine als auch die andere Seite finden. Uns ist es wichtig, zu betonen, dass über die Fragen der verfassungsmäßigen Aufteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Län- dern hinaus auch in der Verfassungsrechtsprechung ge- wichtige Gründe gegen zentralisierte Datenbestände zu finden sind, wenn diese personenbeziehbare Daten bein- halten . Dazu etwa hat das Bundesverfassungsgericht der da- maligen Bundesregierung im Vorratsdatenspeicherungs- urteil ins Stammbuch geschrieben, dass lediglich die dezentrale Vorhaltung der gehorteten Vorratsdaten bei den privaten Betreibern verhindere, dass das zugrunde liegende Gesetz bereits an mangelnder Datensicherheit scheitere . Zu groß sind die Risiken des Gehacktwerdens im Zeitalter des ständigen, online längst tobenden digi- talen Krieges, welches wir wohl bereits betreten haben . Aus den Anfängen der Datenschutzbewegung kennen wir den von Professor Simitis geprägten Begriff der informa- tionellen Gewaltenteilung, der auch aus grundlegenden überindividuellen Risikoerwägungen unter anderem de- mokratiepolitischer Art von zentralen Datenbeständen abgeraten hat . Andererseits kennen wir die Argumente der Befür- worter zentraler Datenhaltungen, wonach die Sicherung hoher Datensicherheitsstandards oftmals in zentralisier- ten Umfeldern besser, weil einheitlicher und effizienter gewährleistet werden kann . Zudem drohten im Kontext von Projekten, bei denen es gerade auf die ständige Über- mittlung großer Datenmengen ankommt, Risiken des Missbrauchs auf der Strecke, also bei der Übermittlung . Der Deutsche Bundestag muss zu all diesen Fragen noch zwingend ein angemessenes geeignetes Verfahren der sachverständigen Befassung finden. Wir begrüßen, dass einige der von den Ländern mit Blick auf die Datenqualität angeregten Erweiterungen der Datenerhebungen, insbesondere beim Merkmalsum- fang auf Klarnamen und deren Speicherung für mehrere Jahre, als auch die Anregungen zum Verstoß gegen das sogenannte Rückspieleverbot, wenn auch aus teils ande- ren Motiven als den unsrigen, von der Bundesregierung zurückgewiesen werden . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620692 (A) (C) (B) (D) Darüber hinausgehend zweifeln wir an der Notwen- digkeit der vorgesehenen Begehungen im Rahmen der Gebäuderegisterstatistik und halten diese im Übrigen für ebenso verfahrensfremd wie andere mit dieser Begrün- dung von der Bundesregierung abgelehnte Vorschläge . Zusammenfassend mahnen wir die Große Koalition an dieser Stelle noch einmal zur zwingend gebotenen Sorgfalt. Als Parlament werden wir uns sehr eingehend mit diesem und anderen anstehenden IT-Großvorhaben beschäftigen müssen . Das regen wir hiermit noch einmal an . Die Erfahrungen bei beinahe allen IT-Vorhaben, die unter den letzten Regierungen auf die Schiene gesetzt wurden, sollten uns mahnen, diesmal mehr Sorgfalt an den Tag zu legen, damit die Verhältnismäßigkeit ge- wahrt, höchste Sicherheitsstandards implementiert und Vertrauen als Grundvoraussetzung entstehen kann . Das würde ich mir wünschen, und das sollte unser aller – ge- meinsames – Ziel sein . Anlage 14 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung einge- brachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Än- derung des Sprengstoffgesetzes (Tagesordnungs- punkt 29) Oswin Veith (CDU/CSU): Zu dieser späten Stunde sprengen wir mal die Debatte mit dem Fünften Gesetz zur Änderung des Sprengstoffgesetzes in Deutschland. Insbesondere in den Tagen um Silvester spielt das heute besprochene Gesetz in der Praxis eine große Rolle. Denn wer, wann und wo Feuerwerkskörper oder – um- gangssprachlich Silvesterböller – verkaufen darf und wie diese Feuerwerkskörper beschaffen sein müssen, regeln das Sprengstoffgesetz und die dazugehörige Verordnung. Diese Regelungen sind sinnvoll und wichtig, denn sie tragen zur Sicherheit der Anwender bei . Bei Feuerwerkskörpern handelt es sich dem Gesetz nach um pyrotechnische Gegenstände und Stoffe. Dass von diesen erhebliche Gefahren ausgehen können, sehen wir jedes Jahr wieder, wenn die Notaufnahmen zahlrei- che Verletzungen aufgrund unsachgemäßen Umgangs mit Silvesterböllern zu verzeichnen haben . Als langjäh- riger Krankenhausdezernent meines Wahlkreises kenne ich die vollen Notaufnahmen aus unseren fünf Kliniken von meinen jährlichen Neujahrsbesuchen nur zu gut . Bundesweite Statistiken über Böllerverletzungen an Sil- vester gibt es leider nicht . Aber eine durchschnittliche Silvesternacht in einem Großstadt-Krankenhaus kann man sich ungefähr so vorstellen: 60 Verletzungen, bei denen es sich um abgetrennte Finger oder Fingerglieder handelt, und fünf bis zehn schwere Verletzungen, wie zum Beispiel eine zerstörte Hand . Die Silvesternacht ist die Hochsaison für Handchirurgen . Dabei birgt nicht nur der unsachgemäße Umgang mit so genannten China-Böllern, an denen vor allem Jugend- liche in der Silvesternacht ihre Freude haben, Gefahren . Regelmäßig kommt es auch zu Verbrennungen und Ver- letzungen, weil illegale oder selbstgebaute Silvesterböl- ler abgebrannt werden . Bei illegalen Feuerwerkskörpern handelt es sich in der Regel um Feuerwerkskörper, die mehr Sprengstoff enthalten, als erlaubt ist oder in de- nen Blitzknallsprengstoff verwendet wurde, der stärker reagiert und in Deutschland verboten ist . Ein weiteres Problem ergibt sich, wenn die Zusammensetzung des Sprengstoffes nicht offiziell überprüft wurde. Automatisch denkt jeder beim Thema illegale Feuer- werkskörper an Pyrotechnik aus Osteuropa – aber auch die Feuerwerkskörper aus der Schweiz, Österreich oder Italien haben eine erhebliche Sprengwirkung und sind bei uns ohne Zertifizierung nicht genehmigt. In vielen europäischen Ländern ist die Einfuhr von il- legalen Feuerwerkskörpern ein Problem. Der Schmuggel von Silvesterböllern greift jedes Jahr kurz vor dem Jah- reswechsel um sich, und alle Länder sind betroffen. Um den Schutz vor illegalen Feuerwerkskörpern zu er- höhen und auch den legalen Verkauf von Feuerwerkskör- pern sicherer zu gestalten, müssen wir das Sprengstoff- gesetz an europarechtliche Vorgaben anpassen . Natürlich ist das Schutzniveau in Deutschland, wenn es um Explo- sionsstoffe und alle damit in Verbindung stehenden ande- ren Stoffe geht, bereits jetzt sehr hoch. Dennoch müssen wir unsere Gesetze regelmäßig anpassen, um das Schutz- niveau zu halten . Kern des vorliegenden Gesetzentwurfes ist eine Neu- fassung des Sprengstoffrechts. Wie auch schon in den vor- herigen Gesetzesänderungen passen wir unser nationales Recht an neuere europäische gesetzliche Vorgaben den EU-Richtlinien an . Nachdem die Richtlinie 2007/23/ EG über das Inverkehrbringen pyrotechnischer Gegenstände durch die Richtlinie 2013/29/EU zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung pyrotechnischer Gegenstände abgelöst worden ist, müssen wir nun die Bestimmungen unseres nationalen Rechts zur Konformitätsbewertung sowie zur Marktüberwachung neu fassen und konkretisieren . Zur unionsrechtlichen Harmonisierung der Bestimmungen im Bereich des Sprengstoffrechtes zählt dabei unter an- derem auch die Errichtung eines Systems zur Rückver- folgbarkeit von pyrotechnischen Gegenständen . Weiterhin setzen wir die Durchführungsrichtli- nie 2014/58/EU über die Errichtung eines Systems zur Rückverfolgbarkeit von pyrotechnischen Gegenständen um . Im Zuge dessen führen wir eine Registrierungs- nummer für pyrotechnische Gegenstände ein . Mit der Registrierungsnummer wird sichergestellt und für jeden kenntlich gemacht, dass der pyrotechnische Gegenstand überprüft wurde . Er gilt damit und bei korrekter Anwen- dung als unbedenklich . Für Hersteller, deren Bevollmächtigte, Importeure und Händler, ordnen wir bislang bestehende Pflichten im Rahmen der Produktverantwortung eindeutig zu. Vorteil dieser eindeutigen Zuordnung ist ein höheres Maß an Rechtssicherheit, denn jeder Akteur kann jetzt detailliert an einer Stelle erkennen, welche Pflichten er im Zusam- menhang mit der Bereitstellung von Explosionsstoffen und pyrotechnischen Gegenständen am Markt hat . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20693 (A) (C) (B) (D) Diese Maßnahmen führen zu einem verbesserten Ver- braucherschutz innerhalb Europas und Deutschlands . Neben den Anpassungen im Sprengstoffgesetz be- reinigen wir die dazugehörige Erste Verordnung zum Sprengstoffgesetz. Über Jahrzehnte hinweg haben sich Regelungen zu Freistellungen von gesetzlichen Anfor- derungen oder zusätzlichen Bestimmungen zum Um- gang mit explosionsgefährlichen Stoffen entwickelt und bewährt . Waren diese Regelungen bislang in der Ersten Verordnung zum Sprengstoffgesetz geregelt, führen wir diese nun ins Sprengstoffgesetz über. Mit all diesen Neuerungen vollziehen wir einen wei- teren Schritt zu einem immer stärker europarechtlich beeinflussten Sprengstoffgesetz. Da der europäischen Markt in Bezug auf Feuerwerkskörper stark verwoben ist, ist dies auch richtig und wichtig . Ich werbe daher auch wegen des zu erwartenden Si- cherheitsgewinns für eine breite Zustimmung zum Ge- setzentwurf . Gabriele Fograscher (SPD): Das Gesetz über ex- plosionsgefährliche Stoffe, kurz Sprengstoffgesetz, re- gelt den Umgang, den Verkehr und die Einfuhr von und mit explosionsgefährlichen Stoffen. Im Jahr 2009 haben wir mit dem Vierten Gesetz zur Änderung des Sprengstoffgesetzes umfangreiche Ände- rungen am Sprengstoffrecht vorgenommen. Das Gesetz diente damals dazu, die Richtlinie 2007/23/EG des Eu- ropäischen Parlaments und des Rates vom Mai 2007 über das Inverkehrbringen pyrotechnischer Gegenstän- de und die Richtlinie 2008/43/EG der Kommission vom April 2008 zur Kennzeichnung und Nachverfolgung von Explosivstoffen für zivile Zwecke gemäß der Richtli- nie 93/15/EWG umzusetzen . Inzwischen liegt die Richtlinie 2013/29/EU des Eu- ropäischen Parlaments und des Rates vom Juni 2013 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitglied- staaten über die Bereitstellung pyrotechnischer Gegen- stände auf dem Markt vor . Diese löst die Richtlinie von 2007 ab . Ebenso ersetzt die neue Richtlinie 2014/28/EU die Richtlinie 93/15/EWG . Diese regelt die Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Be- reitstellung auf dem Markt und Kontrolle von Explosiv- stoffen für zivile Zwecke neu. Die Umsetzung der beiden neuen Richtlinien vollzie- hen wir mit diesem Gesetz . Zusätzlich wird die Durchführungsrichtlinie 2014/58/ EU vom April 2014 über die Errichtung eines Systems zur Rückverfolgbarkeit von pyrotechnischen Gegenstän- den in das Gesetz integriert . Mit der Durchführungsricht- linie werden eine Registrierungsnummer für pyrotechni- sche Gegenstände und das Führen eines Verzeichnisses durch den Hersteller eingeführt . Damit kann künftig je- der Wirtschaftsakteur genau erkennen, welche Pflichten er bei der Bereitstellung von Explosivstoffen und pyro- technischen Gegenständen im Binnenmarkt hat . Zusätzlich werden weitere Anpassungen vorgenom- men, so zum Beispiel die Aktualisierung der Rechts- grundlage für die Arbeit von im Rahmen der Konformi- tätsbewertungen tätigen benannten Stellen . Zudem werden viele Regelungen, die in der ers- ten Sprengstoffverordnung getroffen wurden, in das Sprengstoffgesetz überführt. Diese Maßnahmen sind zum einen zwingend umzu- setzen. Hinzu kommt, dass das Sprengstoffrecht immer mehr durch europäische Regelungen beeinflusst wird und eine Neuordnung der Vorschriften sinnvoll erscheint . In der Polizeilichen Kriminalstatistik werden Strafta- ten gegen das Sprengstoffgesetz aufgeführt. Auch wenn die Zahl von 2014 zu 2015 leicht zurückgegangen ist, so liegt sie immer noch weit über 5 000 . Leider sind darunter nicht nur Bagatelltaten . Erwäh- nen möchte ich hier nur die Sprengstoffanschläge in Dresden in diesem Jahr vor der Einheitsfeier und zahl- reiche Sprengstoffanschläge auf Asylbewerberheime in Deutschland . Deshalb halte ich es für absolut richtig, dass es in die- sem Bereich eine weitere Harmonisierung innerhalb des europäischen Binnenmarktes gibt . Besonders begrüße ich, dass mit diesem Gesetz ein System zur Rückverfolgbarkeit von pyrotechnischen Ge- genständen umgesetzt werden soll, mit der eine Regis- trierungsnummer für pyrotechnische Gegenstände einge- führt wird . Es bleibt zu hoffen, dass es potenziellen Attentätern so erschwert wird, an explosive und pyrotechnische Gegen- stände zu kommen, um erheblichen Schaden anzurichten oder Menschen zu verletzten oder gar zu töten . Martina Renner (DIE LINKE): Um auch in Sachen Pyrotechnik, Feuerwerk und Sprengstoffen den euro- päischen Binnenmarkt zu verwirklichen, existieren eu- ropäische Richtlinien unter anderem über den Verkauf von Pyrotechnik, über die Harmonisierung der Rechts- vorschriften zum Umgang mit Sprengstoffen oder zur Einführung einer Registrierungsnummer für Pyrotech- nik . All diese Richtlinien sind schon 2014 überarbeitet worden, sodass ihre Umsetzung in nationales Recht über- fällig war . Begrüßenswert ist, dass die Bundesregierung nicht nur endlich diese Harmonisierung auf den Weg bringt, sondern zugleich durch die Übernahme von Rege- lungen aus der bisher geltenden Sprengstoffverordnung herauslöst und in das Gesetz selbst einfließen lässt. Aus rechtspolitischer Sicht ist insbesondere die zen- trale Zusammenführung aller relevanten Regelungen zu Explosivstoffen im Sprengstoffgesetz zu begrü- ßen . Insbesondere die Übernahmen aus der bisherigen Sprengstoffverordnung sind ein Gebot der Klarheit. Ob damit aber der Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfas- sungsgerichts genüge getan wird, also alle wesentlichen Regelungen gesetzgeberisch zu verfügen und nicht auf den Verordnungsweg zu delegieren, oder ob man hier über das Ziel hinausgeschossen ist, sollen die Juristen bewerten . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620694 (A) (C) (B) (D) Denn es stellt sich schon die Frage, ob es wirklich nötig ist, jedes einzelne Institut, das zum Umgang mit bestimmten Explosivstoffen befugt ist, im Gesetz zu nor- mieren . Änderungen bei der Aufgabenzuweisung müssen so auf dem langwierigen Weg der Gesetzesänderung ge- löst werden . Doch sei es drum: Solche gesetzgeberische Akribie, die ausnahmsweise einmal nicht von verfas- sungsgerichtlicher Rechtsprechung getrieben ist, würden wir uns vom Bundesministerium des Innern öfter und nicht nur in diesem wichtigen, nur scheinbar nebensäch- lichen Bereich wünschen . Kritikwürdig sind aus Sicht der Fraktion Die Linke die Verschärfungen der strafrechtlichen Nebenbestim- mungen . Bislang schon ist das Abbrennen von „illega- lem“, also nicht zugelassenem Feuerwerk eine Straftat . Das unerlaubte Abbrennen von „legalem“ Feuerwerk galt hingegen nur als Ordnungswidrigkeit . Da nun einige Feuerwerksstoffe aus dem militärischen Bereich, die eine ähnliche Wirkung wie Sprengstoff haben, unter die lega- len Explosivstoffe fallen, soll nun beides gleich als Straf- tat behandelt werden . Das leuchtet wegen der militärisch genutzten Pyrotechnik und den Großfeuerwerken auch ein, dass da nicht eigentlich Gleiches entweder ernsthaft bestraft bzw . nur mit einem Bußgeld belegt wird . Dennoch drängt sich die Frage auf, ob hier nicht doch eine genauere Differenzierung angezeigt ist, statt dass nun Dinge strafwürdig werden, die eben doch noch eher als Ordnungswidrigkeit zu bewerten sind . Darüber wird im weiteren Gesetzgebungsverfahren noch zu reden sein . Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit dem vorliegenden Entwurf zur Änderung des Sprengstoffgesetzes kommt die Bundesregierung zwei wichtigen Forderungen nach: die Umsetzung der ein- schlägigen europäischen Richtlinien in nationales Recht und die Gleichstellung von Lebenspartnerschaften und Ehen im Sprengstoffgesetz. Beides ist wichtig und bei- des bleibt Stückwerk. Den Regelungsbetroffenen – aber auch der öffentlichen Sicherheit in diesem Land – wäre mit einem größeren Wurf besser gedient . Dazu wäre es jedoch nötig gewesen, weitere Regelungen in den Blick zu nehmen und Initiativen zu bündeln, statt jede für sich allein im Rahmen der engst möglichen fachlichen Zu- ständigkeit zu behandeln . Dann wäre Ihnen vielleicht auch gelungen, was für die Sicherheit von zentraler Bedeutung, für das Gleich- stellungsrecht aber auch eine sehr berechtigte Forderung ist, nämlich dass die Rechtsetzung die Rechtsanwendung entscheidend erleichtert und den beteiligten Akteuren eine klare Orientierung bietet . Im Bereich der Sicher- heitspolitik droht ein Rechtssetzungsakt anderenfalls in der Praxis sogar das genaue Gegenteil zu bewirken. Übersichtlichkeit ist daher kein Selbstzweck, sondern wesentlich für einen beabsichtigten Sicherheitsgewinn . Hier wäre mehr möglich gewesen . Ich erinnere nur daran, dass wichtige Ausgangsstoffe für besonders gefährliche Explosivstoffe, die unter das Sprengstoffgesetz fallen, nur als Übergangslösung bis 2018 weiter durch die auch erst vor Wochen geänderte Chemikalien-Verbots-Verordnung reglementiert bleiben sollen . Da frage ich mich schon, ob es nicht sinnvoll gewesen wäre, diese Initiativen zu bündeln und so die Übersichtlichkeit und die Rechtsanwendung zu erleich- tern . Schließlich stellt die freie Verfügbarkeit dieser Aus- gangsstoffe eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar, wie schon allein die Zahl der Anschläge beweist, die in den letzten Jahren mit TATP begangen wurden . Insbesondere im Bereich rechts motivierter Taten werden auch immer wieder Sprengstoffe in erheblichen Mengen sichergestellt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit aus Fundmunition stammen . Die entsprechenden Straf- tatbestände im Gesetz über die Kontrolle von Kriegswaf- fen müssen daher sehr ernst genommen werden . Auch hier geht es um Informationen, die für die Rechtsanwen- dung entscheidend sind . Hier gibt es, jedenfalls was das Regelungsziel angeht, Parallelen. Ebenso kommt auch der Kennzeichnung von Pyro- technik nach dem hier vorliegenden Gesetz für die Ver- hütung schwerer Straftaten erhebliche Bedeutung zu . Dazu muss das System allerdings auch für die Anwender verständlich sein . Das gilt für die Abnehmer, die in die Lage versetzt werden sollen, legale und illegale Pyro- technik zu unterscheiden . Das gilt aber auch für die Si- cherheitsbehörden, die gegebenenfalls auch den Beweis zu führen haben, dass jemand, der mit illegaler Pyrotech- nik erwischt wurde, auch erkennen konnte, dass es sich dabei nicht um legale Angebote gehandelt hat . Und diese Unterscheidung ist auch wichtig, um entschieden gegen den Handel mit illegaler Pyrotechnik vorzugehen. Auch die Verfügbarkeit illegaler Pyrotechnik bedroht die öffentliche Sicherheit. Es ist nur Monate her, dass wir wieder erleben mussten, wie illegale Pyrotechnik für An- schläge und andere Straftaten verwendet wurde . Ich er- innere nur an die Rechtsterroristen, die solche Sprengla- dungen gegen Flüchtlingsheime und die dort lebenden Bewohnerinnen und Bewohner eingesetzt haben . Daher erscheint es mir dringend geboten, dass wir das nun laufende Gesetzgebungsverfahren nutzen, sorgfäl- tig zu prüfen, ob im Bereich der explosionsgefährlichen Stoffe gesetzgeberisch alle nötigen Voraussetzungen ge- schaffen wurden, damit Unglücksfälle und Anschläge verhindert werden und die Sicherheitsbehörden ihre Auf- gaben in diesem Bereich erfüllen können . Dr. Günter Krings, Parl . Staatssekretär beim Bun- desminister des Innern: Heute beraten wir in erster Le- sung den vom Bundesministerium des Innern vorgeleg- ten Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Sprengstoffgesetzes. Ziel und Zweck des Gesetzentwurfs ist es, mehrere europäische Richtlinien umzusetzen, die sich mit dem Inverkehrbringen von pyrotechnischen Ge- genständen und Explosivstoffen für zivile Zwecke auf dem Gemeinschaftsmarkt befassen . Ergänzt wird diese Gesetzesnovelle durch die Zweite Verordnung zur Ände- rung der Ersten Verordnung zum Sprengstoffgesetz. Das mag zunächst einmal unspektakulär klingen, aber: Die Anpassung an die europäischen Vorgaben und die da- mit verbundenen Konkretisierungen im Sprengstoffrecht sind für die in diesem Wirtschaftsbereich tätigen Unter- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20695 (A) (C) (B) (D) nehmen und die für den Vollzug zuständigen Behörden der Länder von großer praktischer Bedeutung . Der schon bisher bestehende Grundsatz des Spreng- stoffrechts ist, dass Explosivstoffe und pyrotechnische Gegenstände nur dann auf dem Markt bereitgestellt wer- den dürfen, wenn der Hersteller einen sogenannten Kon- formitätsnachweis erbracht hat und die Produkte mit ei- ner CE-Kennzeichnung versehen sind . Die Zuständigkeit für die Durchführung des EU-Konformitätsverfahrens, eine Baumusterprüfung für Explosivstoffe und Pyro- technik, liegt in den Mitgliedstaaten bei den sogenann- ten benannten Stellen . In Deutschland ist dies die Bun- desanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM) . Daran wird sich auch künftig nichts ändern . Die neuen europäischen Vorgaben machen es allerdings erforder- lich, die Bestimmungen des nationalen Rechts zur Kon- formitätsbewertung sowie zur Marktüberwachung durch die zuständigen Stellen der Länder im Detail weiter zu konkretisieren . Der Gesetzentwurf verfolgt aber noch ein weiteres Ziel . Um die Verständlichkeit des Rechtstextes und die Anwendung der Bestimmungen in der Praxis zu er- leichtern, werden die schon jetzt bestehenden Pflichten der auf dem Markt tätigen Wirtschaftsakteure – also der Hersteller, Importeure und Händler von pyrotechnischen Gegenständen und Explosivstoffen – nun eindeutig zu- geordnet . Jeder Wirtschaftsakteur kann also künftig ein- fach und detailliert an einer Stelle des geltenden Rechts erkennen, welche Pflichten er im Zusammenhang mit der Bereitstellung von Explosivstoffen und pyrotechnischen Gegenständen am Gemeinschaftsmarkt zu erfüllen hat . Damit dient der Gesetzentwurf nicht nur unser aller Si- cherheit, sondern reduziert auch die Risiken für die un- terschiedlichen Wirtschaftsakteure . Ich bitte Sie daher, den Gesetzentwurf zu unterstützen . Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de 206. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 3 Bundesteilhabegesetz TOP 4 Drittes Pflegestärkungsgesetz TOP 5 Rentenniveau TOP 35, ZP 2 Überweisungen im vereinfachten Verfahren TOP 36 Abschließende Beratungen ohne Aussprache TOP 6, ZP 3 Verantwortung der kerntechnischen Entsorgung TOP 7 Steuerliche Verlustverrechnung bei Körperschaften ZP 4 Parteiensponsoring TOP 9 Ermittlung von Regelbedarfen TOP 10 Betriebliche Interessenvertretung TOP 32 Bundeswehreinsatz in Afghanistan TOP 12 Angehörigenschmerzensgeld TOP 13 Änderung des Seefischereigesetzes TOP 14 Türkei-Politik TOP 15 Telekommunikationsmarkt-Transparenzverordnung TOP 16 Völkerstrafprozesse in Deutschland TOP 17 Maßnahmen gegen Gewinnkürzung und -verlagerung TOP 18 Ausbau inklusiver Hochschulen TOP 20 Wegenutzungsrechte zur Energieversorgung TOP 21 Grundsicherung für arbeitsuchende Ausländer TOP 22 Änderung des Luftsicherheitsgesetzes TOP 23 Änderung der Insolvenzordnung TOP 24 Änderung des Bundesfernstraßenmautgesetzes TOP 25 Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung TOP 26 Marktordnungsrechtliche Vorschriften TOP 27 Energiestatistikgesetz TOP 28 Zensusvorbereitungsgesetz 2021 TOP 29 Änderung des Sprengstoffgesetzes Anlagen Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3 Anlage 4 Anlage 5 Anlage 6 Anlage 7 Anlage 8 Anlage 9 Anlage 10 Anlage 11 Anlage 12 Anlage 13 Anlage 14
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1820600000

Die Sitzung ist eröffnet. Bleiben Sie bitte von Ihren

Plätzen erhoben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste! Am
vergangenen Samstag ist nach langer, schwerer Krank-
heit unser Kollege und Vizepräsident Peter Hintze
gestorben . Mit ihm verlieren wir einen der erfahrensten
und angesehensten Politiker, der unser Land über drei
Jahrzehnte mitgestaltet hat, einen Parlamentarier mit
Leib und Seele – und viele von uns einen einfühlsamen
Zuhörer, klugen Ratgeber und guten Freund . „Eine still
prägende Gestalt der Republik“, hat man ihn in einem
Nachruf genannt . Es hätte ihm gefallen, und es ist nicht
übertrieben .

Geboren in Bad Honnef, wurde Peter Hintze nach dem
Studium der Theologie zunächst Pfarrer in Königswin-
ter; einer größeren Öffentlichkeit wurde er bereits in den
1980er-Jahren bekannt, als der damalige Bundesminister
für Jugend und Familie, Heiner Geißler, ihn zum Bundes-
beauftragten für den Zivildienst berief .

Peter Hintze bekleidete in seiner politischen Laufbahn
zahlreiche Ämter in Partei, Regierung und Parlament,
unter anderem als Parlamentarischer Staatssekretär im
Bundesministerium für Familie und Jugend, später acht
Jahre im Bundeswirtschaftsministerium, dazu auch als
Koordinator der Bundesregierung für Luft- und Raum-
fahrt .

Diesem Haus gehörte er über ein Vierteljahrhundert
an; 1990 wurde er erstmals in den Bundestag gewählt –
in das erste gesamtdeutsche Parlament. In seiner ersten
Rede zur damaligen Hauptstadtdebatte beschwor er den
weiteren Bau Europas als vorrangige Aufgabe . Dies
blieb eines seiner zentralen Anliegen, das er später auch
als langjähriger Vizepräsident der Europäischen Volks-
partei und der Christlich Demokratischen Internationale
nachhaltig vertrat . Es ist schön, dass dieses europäische
Engagement heute Morgen auch in der Anwesenheit des
Präsidenten der Assemblée nationale, Claude Bartolone,
zum Ausdruck kommt und gewürdigt wird .

Die Wahl Peter Hintzes zum Vizepräsidenten des Bun-
destages zu Beginn dieser Legislaturperiode war Aus-

druck der hohen Wertschätzung, die er unter Kolleginnen
und Kollegen über die Fraktionsgrenzen hinweg genoss .

Seine bemerkenswerten Fähigkeiten, ausgleichend zu
wirken und Brücken zwischen unterschiedlichen Auffas-
sungen und Interessen zu bauen, wurden nun einer brei-
teren Öffentlichkeit bewusst, in der viele ihn vor allem
als Generalsekretär der CDU in den 1990er-Jahren in
Erinnerung hatten – ein eher polarisierendes Amt, in dem
er auch zuzuspitzen wusste und durchaus gerne die Kon-
troverse gesucht hat: mal mit und mal ohne rote Socken .

Peter Hintze war ein Mann mit Überzeugungen, der
das offene Wort ebenso pflegte wie seinen rheinländi-
schen Humor mit der Begabung zur Selbstironie . Wich-
tigster Maßstab seiner politischen Arbeit war – in seinen
eigenen Worten – die Freiheit des Menschen, verstanden
als Autonomie der Person. „Die Selbstbestimmung ist
der Kern der Menschenwürde“, betonte er immer wie-
der . Darauf pochte er vor allem in seinen stark beach-
teten Redebeiträgen zu den großen ethischen Debatten
innerhalb wie außerhalb des Parlaments über Grundsatz-
fragen, die den Beginn und das Ende des Lebens betref-
fen . Hier meldete er sich als theologisch versierter und
religiös geprägter, aber liberal argumentierender Mensch
regelmäßig zu Wort, zuletzt und unvergessen zu den an-
gemessenen rechtlichen Rahmenbedingungen der Ster-
bebegleitung .

Peter Hintze hatte eine ausgeprägte Liebe zum Leben.
Und wie nur wenige andere Politiker hat er sich inten-
siv mit dem Sterben beschäftigt . Dass die Antworten
bei dieser existenziellen Frage zwischen Leben und Tod
unterschiedlich ausfallen können, gehörte für ihn „zur
evangelischen Freiheit“ . Streitbar war er, der gläubige
Christ, eben auch in seinem Glauben und im Umgang
mit seiner Kirche . „Zwei zentrale Gebote tragen unsere
Werteordnung“, rief er uns im vergangenen Jahr in die-
ser denkwürdigen Debatte in Erinnerung: „das Gebot der
Menschenwürde und das Gebot der Nächstenliebe“ .

Auch wenn er so aus seinem christlichen Grundver-
ständnis heraus argumentierte, stellte er – abweichend
von der Haltung der Kirchen – aus seiner Sicht klar – Zi-
tat –: „Leiden im Sterben ist sinnlos!“ Auch als er selbst
längst sterbenskrank war, hat er dieses Schicksal mit

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620488


(A) (C)



(B) (D)


bewundernswerter Haltung ertragen, wie all diejenigen
berichten können, die bis zuletzt, bis in die letzten Wo-
chen und Tage hinein, mit ihm Kontakt hatten: ohne jede
erkennbare Verbitterung .

Freundschaft, Loyalität und Treue bedeuteten Peter
Hintze viel – in der Politik genauso wie im richtigen
Leben . Das zeichnete ihn als Mensch aus . Und das wird
vielen von uns ebenso in Erinnerung bleiben wie die Le-
bensleistung eines Politikers, der seinem Land gedient
hat und dabei stets mit Nachdruck auch für die europä-
ische Idee und die notwendige Zusammenarbeit einge-
treten ist .

Der Politiker wie der Mensch Peter Hintze wird uns
fehlen . Wir trauern mit der Familie und wünschen sei-
ner Frau, seinem Sohn und allen Angehörigen in dieser
schweren Zeit Kraft und Trost .

Ich danke Ihnen .


(Die Anwesenden nehmen Platz)


Bevor wir in die Tagesordnung unserer heutigen Ple-
narsitzung eintreten, möchte ich dem Kollegen Heinz
Riesenhuber zu seinem heutigen 81 . Geburtstag gratu-
lieren


(Beifall)


und alles Gute für ein Lebensjahr wünschen, das sich von
vielen anderen, die ihm vorausgegangen sind, deutlich
unterscheiden wird und bei dem wir uns an den Gedan-
ken gewöhnen müssen, dass deutscher Parlamentarismus
irgendwann auch ohne Heinz Riesenhuber stattfinden
muss .


(Zurufe von der CDU/CSU und der SPD: Oh!)


– Das hört sich fast an wie ein Antrag auf Verfassungs-
änderung, der aber noch der Schriftform und förmlicher
Verfahren bedürfte .

Dann müssen wir noch ein Mitglied des wissenschaft-
lichen Beratungsgremiums gemäß § 39a des Stasi-Un-
terlagen-Gesetzes wählen. Die SPD-Fraktion schlägt
vor, für den ausgeschiedenen Professor Dr. Klaus-
Dietmar Henke für den Rest der Amtszeit Herrn Pro-
fessor Dr. Rainer Eckert als Mitglied des Beratungs-
gremiums zu berufen . Stimmen Sie dem zu? – Das ist
offensichtlich der Fall. Damit ist Herr Professor Eckert
als Mitglied des wissenschaftlichen Beratungsgremiums
gewählt .

Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die Tages-
ordnung um die in der Zusatzpunkteliste aufgeführten
Punkte zu erweitern:

ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:

Aktuelle Lage in Aleppo und Syrien


(siehe 205 . Sitzung)


ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren


(Ergänzung zu TOP 35)


a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Bundeswaldgesetzes

Drucksache 18/10456
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Meiwald, Oliver Krischer, Annalena Baerbock,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Minamata-Konvention zu Quecksilber unver-
züglich ratifizieren

Drucksache 18/7657
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Energie

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr . Valerie Wilms, Beate Walter-Rosenheimer,
Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Nachhaltigkeit im politischen Prozess veran-
kern

Drucksache 18/10475
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur

d) Unterrichtung durch die Bundesregierung

Erster Bericht der Bundesregierung über die
Auswirkungen des Conterganstiftungsgeset-
zes sowie über die gegebenenfalls notwendige
Weiterentwicklung dieser Vorschriften

Drucksache 18/8780
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss

ZP 3 Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/
CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neu-
ordnung der Verantwortung in der kerntech-
nischen Entsorgung

Drucksache 18/10469
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit

Präsident Dr. Norbert Lammert

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20489


(A) (C)



(B) (D)


Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO

ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Britta
Haßelmann, Luise Amtsberg, Volker Beck

(Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Parteiensponsoring regeln

Drucksache 18/10476

Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratun-
gen, soweit erforderlich, abgewichen werden .

Die Tagesordnungspunkte 19 – hier geht es um die ab-
schließende Beratung des Entwurfes eines Gesetzes zur
verbesserten Durchsetzung des Anspruchs der Urheber
und ausübenden Künstler auf angemessene Vergütung –
und 35 a – auch hier eine erste Beratung des Gesetzent-
wurfs zur Neuordnung der Aufbewahrung von Notariats-
unterlagen – werden abgesetzt .

Des Weiteren soll auch der Tagesordnungspunkt 31
abgesetzt werden – hier geht es um Beschlussempfeh-
lungen zum Thema Bahnpolitik – und stattdessen der
Tagesordnungspunkt 8 – hier geht es um einen Antrag
mit dem Titel „Familien stärken – Kinder fördern“ – mit
einer Debattendauer von nunmehr 77 Minuten aufgeru-
fen werden .

Die Tagesordnungspunkte 11 – hier geht es um den
NATO-Beitritt Montenegros – und 32 – hier geht es um
die Fortsetzung des Bundeswehreinsatzes in Afghanis-
tan – tauschen unter Beibehaltung der dafür vorgesehe-
nen Debattenzeiten ihre Plätze.

Schließlich mache ich Sie noch auf eine nachträg-
liche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatz-
punkteliste aufmerksam, die Sie sicherlich längst regis-
triert und hoffentlich auch längst gebilligt haben:

Der am 10 . November 2016 (199 . Sitzung) überwie-
sene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem

(10 . Ausschuss)


Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Neunten Geset-
zes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbe-
werbsbeschränkungen

Drucksache 18/10207
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss Digitale Agenda

Der guten Ordnung halber frage ich, ob jemand Ein-
wände hat . – Das ist nicht der Fall . Dann ist das so be-
schlossen .

Dann kommen wir jetzt zu unseren Tagesordnungs-
punkten 3 a und 3 b:

a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und

Selbstbestimmung von Menschen mit

(Bundesteilhabegesetz – BTHG)


Drucksachen 18/9522, 18/9954, 18/10102
Nr. 16

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-

(11 . Ausschuss)


Drucksache 18/10523


(8 . Ausschuss)


Drucksache 18/10526

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11 . Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin
Werner, Sigrid Hupach, Matthias W . Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Das Teilhaberecht menschenrechtskonform
gestalten

– zu dem Antrag der Abgeordneten Corinna
Rüffer, Kerstin Andreae, Markus Kurth, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Mit dem Bundesteilhabegesetz volle Teilha-
be ermöglichen

Drucksachen 18/10014, 18/9672, 18/10523

Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein
Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen vor .

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 77 Minuten vorgesehen . – Einwände sind
nicht erkennbar . Dann verfahren wir so .

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Bundesministerin Andrea Nahles .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und So-
ziales:

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Weniger behindern, mehr möglich machen:
Das ist der Kern des Bundesteilhabegesetzes . Dieses
neue Sozialgesetzbuch IX steht damit in einer Reihe
wichtiger politischer Wegmarken auf dem Weg zu einer
inklusiven Gesellschaft .

Begonnen haben wir in Deutschland diesen Weg vor
mehr als 20 Jahren . 1994 haben wir das Verbot der Be-
nachteiligung von Behinderten in unserer Verfassung
festgeschrieben . 2001 ist das SGB IX in Kraft getreten .
Seit 2009 gilt die UN-Behindertenrechtskonvention auch
bei uns . Heute gehen wir auf diesem Weg den nächsten
Schritt . Das ist ein großer, ein mutiger Schritt; denn es ist
nichts Geringeres als ein Systemwechsel . Wir führen die

Präsident Dr. Norbert Lammert

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620490


(A) (C)



(B) (D)


Eingliederungshilfe aus der Sozialhilfe heraus und brin-
gen sie – gesetzestechnisch – an die richtige Stelle als
Leistungsrecht in das SGB IX . Auf unserem Weg haben
wir viel erlebt: Zweifel, Kritik, gezielte Desinformation,
auch Enttäuschung und Zorn, ebenso jedoch Zuspruch
und Ermunterung. Ein anspruchsvoller politischer Pro-
zess ist daraus geworden . Nun liegt das neue SGB IX vor
uns. Es ist im Prozess noch einmal besser geworden. Wir
haben noch einmal zusätzliche Finanzmittel erstritten .
Darüber freue ich mich sehr .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Lassen Sie mich an drei Punkten verdeutlichen, was
das Bundesteilhabegesetz ist und was wir erreicht haben:

Erstens . Wir vereinfachen die Verwaltung für die Bür-
gerinnen und Bürger: ein Leistungsantrag, wo bisher vie-
le nötig waren . Die Leistungen werden aus einer Hand
erbracht . Entscheidend ist die Unterstützung für die Men-
schen mit Behinderung und nicht etwa, was der einzelne
Träger dem anderen zu sagen hat . Das müssen diese nun
untereinander klären, aber nicht mehr auf dem Rücken
der Betroffenen. Das ist wirklich ein großer Fortschritt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der zweite wichtige Punkt ist: Bei der Eingliederungs-
hilfe werden Einkommen und Vermögen von Ehe- und
Lebenspartnern künftig nicht mehr herangezogen . Die-
se lebensfremde Regelung wurde von vielen schlicht als
Heiratshindernis empfunden. Das schaffen wir nun ab.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Auch die Freigrenzen für eigenes Einkommen und Ver-
mögen werden um ein Vielfaches angehoben, damit es
sich lohnt, eine Arbeit aufzunehmen . Der Schonbetrag
für Vermögen in der Sozialhilfe wird ebenfalls erhöht .
Das ist ein wichtiges Ergebnis, das die Bundestagsfrakti-
onen in den Verhandlungen noch erzielen konnten .

Die dritte wichtige Verbesserung sind neue Chancen
auf Arbeit vor allem auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt .
Wir wollen mit dem Budget für Arbeit Arbeitgeber dafür
gewinnen, sich für Menschen mit Behinderung zu ent-
scheiden . Das tun noch immer zu wenige . 39 000 Un-
ternehmen in Deutschland beschäftigen niemanden mit
Behinderung . Das darf nicht so bleiben . Wir gehen nun
den Weg mit dem Budget für Arbeit . Einige Bundeslän-
der wie mein Heimatland Rheinland-Pfalz haben das
schon ausprobiert. Es besteht aber für die Betroffenen
die Möglichkeit, in die Werkstatt zurückzukehren, wenn
es auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht klappt . Wir
machen daraus keine ideologische Frage. Wir schaffen
vielmehr eine praktische Regelung, die den Betroffenen
helfen soll, den notwendigen Mut aufzubringen, um den
angeblichen Schonbereich der Werkstätten zu verlassen .


(Beifall bei der SPD)


Das sind nur drei Meilensteine auf dem Weg hin zu
einer inklusiven Gesellschaft . Ein großes Thema in der
Debatte war auch die Schnittstelle zwischen Eingliede-
rungshilfe und Pflege. Da möchte ich mich bei den Kol-

legen aus dem Gesundheitsbereich bedanken, insbeson-
dere bei Minister Gröhe; denn hierzu mussten wir viele
Sachen miteinander klären . Hierzu haben auch die Län-
der im Bundesrat einen guten Vorschlag eingebracht . Für
Menschen mit Behinderung sollte die Hilfe zur Pflege
über die Eingliederungshilfe erbracht werden . Wir nen-
nen das Lebenslagenansatz . Ich freue mich, dass das so
gelungen ist .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich bin froh, dass die Verhandlungen diese Lösung
erbracht haben . Es war nicht immer einfach, aus den
vielschichtigen und – das muss ich ehrlich zugeben –
teilweise völlig gegensätzlichen Interessenlagen eini-
gungsfähige Positionen zu entwickeln. Wir haben uns
dafür sehr viel Zeit genommen . Über ein Jahr bevor das
Gesetz überhaupt auf den Weg kam, haben wir einen Di-
alog mit allen Beteiligten, mit Kommunen und Ländern,
geführt und Interessen abgeglichen . Es ist wichtig, dass
wir an dieser Stelle sagen, dass es auch Interessenkon-
flikte gibt und dass diese ein Stück weit bleiben werden.
Dass wir in Zukunft auf dem Weg, den wir heute mit ei-
nem guten Fundament versehen, noch viele Baustellen
haben werden, ist klar . Aber das schmälert nicht den gro-
ßen Fortschritt, den wir heute auf den Weg bringen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich möchte mich bei allen bedanken, auch bei den Kri-
tikern, die sich in sehr deutlicher Form zu Wort gemeldet
haben . Ich möchte an dieser Stelle sagen: Ich sehe das als
Fortschritt an . Früher war Behinderung etwas – ich habe
eine behinderte Tante –, das versteckt wurde . Die Fami-
lie hat sich dafür mehr oder weniger geschämt . Da war
eine ganz andere Haltung. Wir und die Betroffenen selber
haben uns langsam aus dieser Haltung herausgearbeitet .
Wenn die Betroffenen sich heute laut in diesen Prozess
einbringen, dann ist das doch gut . Das ist genau das, was
wir wollen . Ich habe mich gelegentlich darüber geärgert,
wie ich mich auch über andere ärgere . Jetzt sind wir aber
auch da ein Stück weit in der ganz normalen Auseinan-
dersetzung, und das ist auch richtig so .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ein solches Gesetz, das wir über Jahre erarbeitet
haben, macht man nicht allein . Ich möchte ausdrück-
lich meinem Haus, Abteilung V, danken und besonders
Gabriele Lösekrug-Möller, meiner Parlamentarischen
Staatssekretärin, die die Begabung hat, die mir manch-
mal abgeht, nämlich ausgleichend zu wirken . In diesem
Sinne vielen Dank .


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Auch die Beteiligungskultur in diesem Gesetzge-
bungsverfahren, dieser intensive Dialog, ist etwas Be-
sonderes und, wie ich finde, Vorbildliches, was wir auch
in anderen Gesetzgebungsverfahren gebrauchen können .
Das wird auch weitergehen .

Bundesministerin Andrea Nahles

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20491


(A) (C)



(B) (D)


Die neuen Regelungen der Eingliederungshilfe wer-
den erst am 1 . Januar 2020 in Kraft treten . Die Rege-
lungen zum leistungsberechtigten Personenkreis, die
zu vielen Sorgen geführt haben, führen wir erst ab dem
1 . Januar 2023 ein . Bis dahin wollen wir miteinander er-
proben und gemeinsam lernen . Ich bin mir sicher, dass
sich viele der jetzigen Ängste auf der Strecke, so hoffe
ich, positiv auflösen werden. Da bin ich ganz zuversicht-
lich . Aber diese Zeit nehmen wir uns; denn wir wollen
die Leute mitnehmen . Wir wollen den Menschen die
Ängste nehmen . Deshalb haben wir eine längere Einlei-
tungsphase bei diesem Gesetz .

Wenn wir feststellen, dass es noch besser geht, dann
müssen wir das eben machen. So geht gute Politik, lie-
be Kolleginnen und Kollegen, so kommen wir weiter bei
der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderun-
gen . Denn das ist es, was unser Herzensanliegen ist . Das
ist heute mit einem neuen Gesetz auf einem guten Weg .

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820600100

Vielen Dank . – Für die Fraktion Die Linke hat jetzt der

Kollege Dr . Dietmar Bartsch das Wort .


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1820600200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Zuschauerinnen und Zuschauer, die Sie sich die Debatte
jetzt bei Phoenix live anschauen! Frau Nahles, Sie ha-
ben eben dargelegt, welche historischen Etappen es beim
Bundesteilhabegesetz gab . In besonderer Weise war
natürlich die UN-Behindertenrechtskonvention ein Ein-
schnitt, weil diese die Schaffung eines modernen Teilha-
berechts für Menschen mit Behinderungen verlangt . Die-
se Konvention – daran will ich erinnern – ist seit 2009
geltendes Recht in Deutschland . Die Herstellung von
gleichberechtigter Teilhabe am beruflichen, wirtschaftli-
chen, sozialen und politischen Leben der Gesellschaft ist
eine menschenrechtliche Verpflichtung.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie haben sich in Ihrem Koalitionsvertrag das Ziel
gesetzt, ein modernes Teilhabegesetz zu schaffen, das
aus dem derzeitigen Fürsorgesystem herausführt und
den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention ent-
spricht . Wir hatten an Ihrem Koalitionsvertrag extrem
viel zu kritisieren, an dieser Stelle aber ausdrücklich
nichts; denn das ist ein hoher Anspruch . Das ist sehr ver-
nünftig, und wir als Linke hatten die Hoffnung gehabt,
dass Sie diesen Anspruch umsetzen .

Ich will auch klar und deutlich sagen: Ja, es gibt in
dem Gesetz Verbesserungen . Es ist gut, dass Sie eine
unabhängige Teilhabeberatung und einen Anspruch auf
Assistenz für Eltern von Kindern mit Behinderungen ein-
führen . Es ist gut, dass Sie das Entgelt in Werkstätten für
behinderte Menschen erhöhen . Ja, es ist gut, dass Sie die
Schwerbehindertenvertretungen und die Werkstatträte

stärken und Frauenbeauftragte in Werkstätten einführen .
Es ist auch gut, dass das Budget für Arbeit endlich fest-
geschrieben wird . Das alles ist gut .

Aber, Frau Nahles, Sie haben eben davon gesprochen,
dass das ein großer Schritt ist und dass es ein paar Bau-
stellen gibt . Es gibt Großbaustellen bei dem, was Sie vor-
legen .


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Gesetz verdient den Namen Bundesteilhabegesetz
nicht, weil die uneingeschränkte und gleiche gesell-
schaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen
eben nicht erreicht wird . Von einer Herauslösung aus
dem Fürsorgesystem kann nicht die Rede sein, das wäre
aber der Kern eines solchen Gesetzes .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Unterhaltspflicht von Eltern für volljährige Kin-
der, die Leistungen aus der Eingliederungshilfe beziehen,
soll erhalten bleiben . Sie ändern nichts an der Möglich-
keit, Betroffene in Heime zu zwingen, wenn die Kosten
für die Unterstützung zu Hause zu hoch sind . Sie schaf-
fen die Möglichkeit, Menschen zu zwingen, ihre Assis-
tenz mit anderen zu teilen, und verhindern damit eine
selbstbestimmte gesellschaftliche Teilhabe .


(Dr. Carola Reimann [SPD]: Das stimmt doch nicht! Das ist alles nicht wahr!)


Auch in Zukunft wird das Einkommen und Vermögen
von Menschen angerechnet, wenn sie Teilhabeleistungen
erhalten, auch wenn hier Verbesserungen erreicht wur-
den . Auch in Zukunft werden nicht alle Menschen, die
Unterstützung brauchen, diese auch bekommen . Auch in
Zukunft wird es keine deutliche Verbesserung für Men-
schen mit Behinderung auf dem allgemeinen Arbeits-
markt geben .

Sie schränken die Rechte von Menschen mit Behin-
derung ein, und zwar aus Kostengründen, weil Sie Kos-
ten sparen wollen . Dieses ganze Gesetz diskutieren Sie
immer unter dem Substantiv „Kostendeckelung“ . Damit
sparen Sie substanziell an Menschenrechten . Das ist der
Kern .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Kerstin Griese [SPD]: Es gibt doch mehr Geld! – Katja Mast [SPD]: 800 Millionen Euro mehr pro Jahr!)


– Da helfen auch die 800 Millionen Euro nichts, die Sie
jetzt mehr ausgeben wollen, mit denen Sie sich rühmen .
Dieses Geld verschwindet zum großen Teil im System .


(Kerstin Griese [SPD]: Das stimmt doch gar nicht! – Zuruf von der SPD: Experte Dietmar Bartsch redet! – Kerstin Tack [SPD]: Ahnungslos!)


Aber anstatt die Kritik der Betroffenen – darüber ha-
ben wir eben geredet – wirklich ernst zu nehmen und sie
zu nutzen, haben Sie sie doch lange ignoriert . Sie haben

Bundesministerin Andrea Nahles

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620492


(A) (C)



(B) (D)


ja sogar unterstellt, dass sich die Betroffenen von der Op-
position instrumentalisieren lassen .


(Kerstin Tack [SPD]: Wer hat Ihnen denn das erzählt?)


Danke für das Kompliment an Linke und Grüne . Aber
trauen Sie uns wirklich zu, massenhaft Leute bei Wind,
Wetter und Eiseskälte auf die Straße zu bringen, sie zu
veranlassen, sich 22 Stunden anzuketten oder in die
Spree zu springen? Das kriegen Grüne und Linke wirk-
lich nicht hin .

Nein, das Problem ist: Die Menschen gehen auf die
Straße, weil sie sich betrogen fühlen,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


weil Sie ihre Rechte beschneiden, weil Sie zu wenig zu-
hören . Das ist der Kern .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Letztlich ist es doch so, dass Sie prioritär aus Kosten-
gründen entscheiden . Das hat eben nichts mit Menschen-
rechten, nichts mit Selbstbestimmung und letztlich auch
nichts mit der Umsetzung der UN-Behindertenrechts-
konvention zu tun .


(Dr. Carola Reimann [SPD]: Frechheit!)


Mit den eingebrachten Änderungsanträgen zum Ge-
setz, die wir heute auch diskutieren, haben die Regie-
rungsfraktionen Union und SPD einige der Härten des
Gesetzes abgemildert, und sie haben große Scherben, die
Frau Nahles hinterlassen hat, jetzt eingesammelt . Es wa-
ren ja Gott sei Dank die Regierungsfraktionen, die hier
noch Veränderungen erzielt haben . – Und Sie haben da-
mit letztlich dem enormen Druck der Proteste von Be-
troffenen nachgegeben. Das ist doch der Kern: Außerpar-
lamentarisches Engagement lohnt sich, das kann man an
den Veränderungen sehen .


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/ CSU: Das gehört doch zur Demokratie dazu! Das ist doch normal! Für Sie vielleicht nicht!)


Ich kann nur feststellen, dass es selten Gesetze gege-
ben hat, zu denen es so viele Briefe und Stellungnahmen
gab . Es ist eben kein Zufall, dass sowohl ich als Frakti-
onsvorsitzender als auch meine Kollegin Katrin Göring-
Eckardt dazu reden werden . Es ist eben ein Thema, das
viele, die hier auch zusehen, bewegt .


(Dr. Martin Rosemann [SPD]: Dann sollten Sie aber etwas davon verstehen, wenn Sie hier reden! – Katja Mast [SPD]: Lassen Sie mal Ihren Ministerpräsidenten hier reden!)


Große Verbesserungen für die jetzige Situation von
Betroffenen haben aber auch die Regierungsparteien
leider nicht geschaffen. Sie leisten es sich, die Teilhabe
und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung
zu beschneiden, einfach weil es Ihnen zu teuer ist – und
das in einem der reichsten Länder der Erde . Was sollen

andere Länder, die sich auch an die Konvention zu halten
haben, darüber denken?

Was die Kosten betrifft, möchte ich festhalten, dass
das letztlich eine Milchmädchenrechnung ist . Denken
Sie doch auch einmal an die Kosten, die entstehen, wenn
immer mehr Menschen aufgrund von Isolation und Aus-
grenzung depressiv und psychisch krank werden .

Sie haben im Übrigen auch einen Schaden für die De-
mokratie angerichtet .


(Katja Mast [SPD]: Unverschämtheit!)


Frau Nahles, warum sollte nach dem Gesetz der eine oder
andere noch glauben, dass hier Vertrauen da ist? Das ha-
ben Sie letztlich gründlich vermasselt .


(Beifall bei der LINKEN – Katja Mast [SPD]: Herr Bartsch, Sie haben überhaupt nicht das Gesetz gelesen!)


Eines ist festzustellen: Sie haben Ihren Koalitions-
vertrag nicht realisiert . Das ist der Kern . Der Anspruch
des Koalitionsvertrages wird mit diesem Gesetz nicht
realisiert . Setzen Sie den um! Es muss Weiteres folgen,
und zwar möglichst schnell . Eigentlich müssten Sie das
Gesetz überarbeiten, damit es wirklich der UN-Behin-
dertenrechtskonvention entspricht . Eigentlich sollten Sie
das in dieser Legislatur machen . Wenn nicht, müssen wir
das in der nächsten angehen .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820600300

Vielen Dank . – Jetzt hat der Kollege Karl Schiewerling

für die CDU/CSU-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Karl Schiewerling (CDU):
Rede ID: ID1820600400

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in zwei-
ter und dritter Lesung das Bundesteilhabegesetz . Um es
deutlich zu sagen: Damit setzt die Große Koalition ein
weiteres wichtiges sozialpolitisches Versprechen aus
ihrem Koalitionsvertrag um . Wir modernisieren im Sin-
ne der Betroffenen die Behindertenpolitik, ermöglichen
gesellschaftliche Teilhabe und Selbstbestimmung von
Menschen mit Behinderung und setzen die UN-Behin-
dertenrechtskonvention weiter um .

Bevor ich im Detail auf den Gesetzentwurf und die
Änderungen eingehe, die sich im parlamentarischen
Verfahren ergeben haben, möchte ich die Möglichkeit
nutzen, um auf einige grundsätzliche Dinge in der Be-
hindertenpolitik hinzuweisen . Es ist guter parlamenta-
rischer Brauch über alle Parteigrenzen hinweg, dass die
Debatten über die Behindertenpolitik nicht dazu genutzt
werden, Lebenssituationen zu skandalisieren .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Dr. Dietmar Bartsch

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20493


(A) (C)



(B) (D)


Vielmehr sollten die Gemeinsamkeiten betont werden:
Alle in diesem Haus – alle – wollen, dass Menschen mit
Behinderung gleichberechtigter Teil unserer Gesellschaft
sind .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Seit 2009 bin ich Sprecher der Union für Arbeits-
markt- und Sozialpolitik . Selten habe ich erlebt, dass ein
Gesetzgebungsverfahren derart intensiv durch Zuschrif-
ten, Anrufe, Stellungnahmen und kritische Äußerungen
begleitet wurde . Ich halte dies für ein gutes Zeichen,
zeigt es doch, mit welchem Selbstverständnis sich Men-
schen mit Behinderung für ihre Interessen einsetzen und
sie gegenüber der Politik vertreten.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das zeigt auch, wie schlecht das Gesetz gemacht ist!)


Im parlamentarischen Verfahren konnten viele, aber
nicht alle Forderungen voll umgesetzt werden . Es war
unsere Aufgabe als Politik, die divergierenden Interessen
zum Ausgleich zu bringen und sie zu einem Gesetz zu-
sammenzuführen . Dies war mühsam; ich bin aber sicher,
dass wir auf dem richtigen Weg sind . Das Bundesteilha-
begesetz wird nicht das letzte Gesetz sein . Wir werden
auch in Zukunft weiter Stück für Stück wie bei den ande-
ren Solzialgesetzbüchern auch an Verbesserungen für die
Menschen arbeiten .

Mein Dank gilt ausdrücklich der Parlamentarischen
Staatssekretärin Frau Lösekrug-Möller für die von der
Ministerin bereits gewürdigte moderierende, ausglei-
chende und auf eine gemeinsame Zielrichtung hin aus-
gerichtete Arbeit .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Mein Dank gilt auch allen Mitarbeiterinnen und Mitar-
beitern des Bundesarbeitsministeriums, ausdrücklich
auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Fraktio-
nen sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den
Abgeordnetenbüros .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Meine Damen und Herren, wer ist eigentlich von
den zu beschließenden Neuregelungen betroffen? In
Deutschland leben etwa 7,5 Millionen Menschen mit Be-
hinderungen; 700 000 beziehen Eingliederungshilfe . Die
Lebenssituation der Menschen ist höchst unterschiedlich;
es ist keine homogene Gruppe . Die Menschen sind unter-
schiedlich betroffen, und sie alle hatten ihre Erwartungen
an dieses Gesetz .

Mit dem Bundesteilhabegesetz führen wir die Ein-
gliederungshilfe aus dem Fürsorgesystem der Sozialhilfe
heraus und integrieren sie in das Neunte Buch Sozial-
gesetzbuch . Damit gehen Verbesserungen für die knapp
700 000 Leistungsberechtigten einher . Entgegen vielen
Befürchtungen wird der Zugang zur Eingliederungshil-
fe nicht eingeschränkt . Zur Wahrheit gehört aber auch,
dass er nicht ausgeweitet werden soll . Es bleibt daher zu-
nächst bei der geltenden Rechtslage .

Bis 2023 werden neue Zugangskriterien konkretisiert .
Hierauf haben wir uns in der Koalition verständigt . Zu-

dem wird es deutliche Verbesserungen bei der Anrech-
nung von Einkommen und Vermögen für diejenigen
geben, die arbeiten . Ab 2020 wird das Einkommen bis
30 000 Euro frei sein . Wer mehr verdient, leistet einen
Eigenbeitrag zu seinen Fachleistungen . Das Vermögen
wird bis zu 50 000 Euro anrechnungsfrei bleiben . Damit
ist ein wichtiges Anliegen der Union umgesetzt:


(Kerstin Tack [SPD]: Und auch der SPD!)


Wir wollten nämlich, dass dieses Mitanrechnen des Ein-
kommens des Partners beendet wird; denn es war fak-
tisch ein Heiratsverbot .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Mit dem Gesetz eröffnen wir den Leistungsberech-
tigten mehr Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt . Wer
aus der Werkstatt auf den ersten Arbeitsmarkt wechseln
möchte, kann zukünftig bundesweit vom Budget für Ar-
beit profitieren. Dabei erhalten Arbeitgeber unbefristet
einen Lohnkostenzuschuss von bis zu 75 Prozent. Für
die rund 300 000 Beschäftigten in den Werkstätten ver-
doppeln wir das Arbeitsförderungsgeld auf zukünftig
52 Euro . Zudem wird der Vermögensfreibetrag für Men-
schen, die nicht erwerbsfähig sind und Leistungen der So-
zialhilfe beziehen, von derzeit 2 600 Euro auf 5 000 Euro
angehoben. Hiervon profitieren zum Beispiel Bezieher
der Blindenhilfe, aber auch alle anderen Bezieher von
Sozialhilfe . Mein Dank gilt an dieser Stelle ausdrücklich
dem Bundesfinanzminister und den Haushaltspolitikern,
die uns in diesem Anliegen mit zusätzlichem Geld unter-
stützt haben; sonst wäre das nicht möglich gewesen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, wir haben auch die Situa-
tion von Schwerbehinderten in Betrieben im Blick . Wir
werden die Anhörungsrechte und damit auch die Rolle
der Schwerbehindertenvertreter insgesamt stärken .

Neben der Teilhabe am Arbeitsleben hat das selbst-
bestimmte Wohnen von Menschen mit Behinderungen
im parlamentarischen Verfahren eine wichtige Rolle
gespielt . Wir haben die vorgetragenen Sorgen und die
Wünsche mit Blick auf ihre Rechte sehr ernst genom-
men . Im Rahmen der Angemessenheit und Zumutbarkeit
soll jeder entscheiden können, wie bzw . mit wem er leben
möchte . Die entsprechenden Regelungen haben wir deut-
lich geschärft . Es war der Union wichtig, dass außerhalb
stationärer Einrichtungen den Wünschen der Betroffenen
bei der gemeinsamen Inanspruchnahme von Assistenz-
leistungen besondere Bedeutung beigemessen wird .


(Zuruf der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Gemeint sind solche Assistenzleistungen, die die unmit-
telbare Privatsphäre der Berechtigten betreffen.

Meine Damen und Herren, ich danke an dieser Stelle
auch dem Bundesgesundheitsminister sehr herzlich . Er
hat bei der sehr komplizierten Frage der Verbindung von
Eingliederungshilfe und neuem Pflegestärkungsgesetz
mit dem neuen Pflegebegriff sehr konstruktiv mitgewirkt.
Ohne ihn wäre dieses Gesetz nicht möglich gewesen .

Karl Schiewerling

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620494


(A) (C)



(B) (D)


In einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zei-
tung hat der Autor das Bundesteilhabegesetz mit der
Elbphilharmonie in Hamburg verglichen. Beide Projekte
seien wesentlich teurer als zunächst geplant .


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unverschämtheit!)


Ich empfinde dies – anders, als es der Autor gemeint hat –
als Kompliment . Ja, die zusätzlichen Leistungen kosten
Geld – keine Frage . Aber wir tun das für die Menschen
mit Behinderungen und für die Betroffenen. Die Elbphil-
harmonie ist bereits jetzt, kurz nach der Fertigstellung,
zu einem Wahrzeichen Hamburgs mit Strahlkraft über
Deutschland hinaus geworden . Im Sinne der Betrof-
fenen wäre ich froh, wenn sie in ein paar Jahren, wenn
das Gesetz richtig greift, ähnlich positiv über das Gesetz
sprechen würden . Am Ende zählt das Ergebnis, und da
können wir sehr zufrieden sein .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820600500

Vielen Dank . – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-

nen spricht jetzt Katrin Göring-Eckardt .


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was war die Aufgabe? Die Aufgabe war die Umsetzung
der Behindertenrechtskonvention . Und dabei verhält es
sich ungefähr so, als ob die Aufgabe gewesen wäre, ein
Haus zu bauen, und am Ende ist es nur eine Garage ge-
worden. Aber alle loben sich dafür, dass sie das geschafft
haben .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Behindertenrechtskonvention wird erst noch um-
gesetzt werden müssen . Frau Nahles, bei vielen behinder-
ten Menschen war mit diesem Gesetzentwurf die Erwar-
tung verbunden, dass sich in ihrem Leben im Sinne der
Behindertenrechtskonvention wirklich etwas verbessert .
Diese Erwartung haben Sie übrigens auch geschürt und
vorangetrieben, weil Sie so viele beteiligt haben . Umso
größer war dann die Enttäuschung, dass genau das nicht
gelungen ist, sondern höchstens kleine Schritte in diese
Richtung gegangen worden sind,


(Katja Mast [SPD]: Also Beteiligung ist schlecht?)


kleine Schritte in Richtung Teilhabe, die für uns alle ganz
selbstverständlich ist, die wir alle ganz selbstverständlich
in Anspruch nehmen . Meine Damen und Herren, dieses
Gesetz sagt noch nichts aus über mehr Autonomie, sagt
noch nichts aus über mehr Selbstbestimmung und sagt
noch nichts aus über ein freieres Leben . Deswegen ist es
höchstens ein erster Schritt .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Was Sie ursprünglich als Vorschlag der Bundesregie-
rung präsentiert haben, war sogar das Gegenteil . Um ih-
rem Protest Ausdruck zu verleihen, sind Menschen mit
Behinderungen in die Spree gesprungen . Sie haben vor
dem Brandenburger Tor und anderswo protestiert und
demonstriert . Warum? Weil ihnen das Leben mit Ihrem
ursprünglichen Entwurf nicht leichter, sondern schwerer
gemacht worden wäre – frei nach dem Motto: Wir wissen
schon, was gut für euch ist . – Das ist aber genau das Ge-
genteil von Selbstbestimmung .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Leben im Heim gegen den Willen der Gehandicapten,
das Poolen von Leistungen, die Absage an Teilhabe in
der Freizeit – das alles waren feste Bestandteile Ihres
Entwurfes, den Sie als Verbesserung feiern wollten . Ich
kann es nicht verstehen, und ich werde es nicht verste-
hen, wie Sie mit dieser Haltung an dieses Gesetz heran-
gehen konnten .


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820600600

Frau Kollegin Göring-Eckhardt, darf ich Sie kurz un-

terbrechen? – Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kol-
legin Wolff?


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr gern .


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820600700

Bitte schön, Frau Kollegin Wolff.


Waltraud Wolff (SPD):
Rede ID: ID1820600800

Vielen Dank, Frau Kollegin Göring-Eckardt . – Sind

Sie bereit, anzuerkennen – und damit Ihre Aussage zu-
rückzunehmen –, dass wir mit dem Gesetzentwurf etwas
für die betroffenen Menschen getan haben? Es ist so, wie
die Frau Ministerin gesagt hat: Schon ein Jahr nachdem
diese Koalition ins Arbeiten kam, haben wir einen ganz
breiten Beteiligungsprozess


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben nichts eingehalten!)


mit Betroffenen, Verbänden, Kommunen,


(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann fragen Sie mal die Betroffenen!)


mit allen begonnen, das heißt miteinander und nicht
übereinander geredet .

Lassen Sie mich die Anmerkung noch machen: Ich
kann überhaupt nicht verstehen, dass die Opposition sich
hier an irgendwelchen ursprünglichen Referentenentwür-
fen abarbeitet,


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, nein!)


Karl Schiewerling

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20495


(A) (C)



(B) (D)


anstatt anzuerkennen, dass Parlament und Ministerium
hier in einzigartiger Weise zusammengearbeitet haben .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Zuruf des Abg . Markus Kurth [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Wolff, nein, ich habe mich nicht an Referenten-
entwürfen abgearbeitet, sondern ich habe mich gerade
abgearbeitet, wenn Sie das so ausdrücken wollen, an dem
Gesetzentwurf, den die Bundesregierung, Ihre Bundesre-
gierung, hier eingebracht hat .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf der Abg. Katja Mast [SPD])


In diesem Gesetzentwurf, Frau Wolff, steht alles das, was
ich gerade gesagt habe .


(Dr. Martin Rosemann [SPD]: 68 Änderungsanträge! – Katja Mast [SPD]: Selbst Ihre Fraktion hat den Änderungsanträgen zugestimmt!)


Ein Punkt ärgert mich wirklich. Ich kann es nicht
verstehen, wieso Sozialdemokraten Menschen zwingen
wollen, im Heim zu wohnen . Ich kann das nicht verste-
hen, weil „selbstbestimmt“ anders aussieht .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Kerstin Tack [SPD]: Wie kommen Sie denn darauf? – Katja Mast [SPD]: Unverschämtheit! – Dr. Martin Rosemann [SPD]: Das nehmen Sie jetzt zurück!)


– Ich bin noch nicht fertig . – Ich will ausdrücklich et-
was anerkennen . Ich habe das gerade auch getan . Wenn
Sie zugehört hätten und nicht so selbstgerecht gewesen
wären,


(Dr. Martin Rosemann [SPD]: Selbstgerecht sind Sie!)


dann wäre Ihnen das klar geworden . Ich wollte Ihren Be-
teiligungsprozess ausdrücklich anerkennen . Der Beteili-
gungsprozess war lang, und er war ausführlich . Ich fand
es gut, dass Sie ihn gemacht haben . Es war ausdrücklich
gut . Die Frage ist nur: Was ist dabei eigentlich heraus-
gekommen? Die Menschen, die nach diesem Beteili-
gungsprozess demonstriert haben, haben doch deswegen
demonstriert, weil sie darüber enttäuscht gewesen sind,
dass keine der vernünftigen Forderungen, die sie in all
diesen Runden, in all diesen Gesprächen auf die Tages-
ordnung gebracht haben, auch umgesetzt worden ist .


(Katja Mast [SPD]: Keine Antwort auf ihre Frage!)


Beteiligung ist doch nicht eine Beschäftigungsveranstal-
tung, sondern Beteiligung heißt, dass wirklich etwas da-
bei herauskommt, Frau Wolff, und genau darum geht es
doch .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820600900

Frau Kollegin Göring-Eckardt, Sie sind so gut in

Fahrt: Gestatten Sie auch noch eine Zwischenfrage der
Kollegin Kerstin Tack?


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aber gern .


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820601000

Bitte schön .


Kerstin Tack (SPD):
Rede ID: ID1820601100

Frau Kollegin, Sie haben sich über – angebliche –

Zwangsmaßnahmen geäußert, die Sie aus dem Gesetz
herausgelesen haben . Würden Sie uns bitte im Detail
erläutern, was Sie mit „Zwangsmaßnahmen“ meinen?
Würden Sie auch erläutern, was das aus Ihrer Sicht – als
Veränderung gegenüber dem heute geltenden Gesetz –
auslösen soll? Würden Sie das bitte noch einmal im De-
tail erklären? Was meinen Sie, wenn Sie von „Zwangs-
maßnahmen“ reden? Bitte sagen Sie uns, wie aus Ihrer
Sicht die heutige Praxis ist und wo die Verschärfung ist,
die der Gesetzgeber vornimmt .


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich hätte das in meiner Rede noch gesagt, aber so spa-
re ich ein bisschen Redezeit; das ist auch gut .

Worum geht es denn? – Ich wäre noch zu den Verbes-
serungen gekommen . Das mache ich gern noch .


(Zurufe von der SPD: Ah! – Katja Mast [SPD]: Jetzt haben Sie mehr Redezeit dafür!)


– Jetzt habe ich mehr Redezeit . Das ist doch super . Ge-
nau . – Es geht darum, dass Leistungen gepoolt werden
müssen, dass man sich mit anderen absprechen muss,


(Kerstin Tack [SPD]: Muss man nicht!)


dass man nicht selber entscheiden kann, welche Leistun-
gen man in Anspruch nimmt, und es geht um die Tatsa-
che – das sage ich noch einmal ausdrücklich –, dass Sie
dafür sorgen wollen, dass es immer einen Kostenvorbe-
halt beim Umzug ins Heim gibt . Das ist so geblieben .

Ich will Ihnen einen Fall erzählen . Eine Frau, die uns
geschrieben hat, Marita, mit 18 Jahren querschnittsge-
lähmt, wurde sehr lange – das ist übrigens etwas ganz Ty-
pisches – von ihrer Mutter betreut . Dann konnte die Mut-
ter diese Betreuung nicht mehr leisten . Daraufhin hat sich
Marita überlegt: Wie mache ich es jetzt, dass ich weiter
am Leben teilhaben kann? – Was hat sie gemacht? Sie
ist in eine andere Stadt gezogen, dorthin, wo sie Freunde
hat, wo sie Bekannte hat, wo sie andere Verwandte hat .
Dort konnte sie eine ganze Weile weiter am Leben teil-
haben . Was passierte dann? Dann kam der Kostenträger
und hat gesagt: Es wäre zwar jetzt subjektiv hart für sie,


(Katja Mast [SPD]: Altes Recht!)


Waltraud Wolff (Wolmirstedt)


Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620496


(A) (C)



(B) (D)


aber bedauerlicherweise müsse man ihr jetzt sagen, dass
die Kosten nicht mehr tragbar sind und dass sie deswe-
gen bitte schön in ein Heim zieht .


(Katja Mast [SPD]: Können Sie sagen, was sich mit dem Recht ändert, das wir jetzt schaffen?)


Deswegen sage ich Ihnen: Genau das ist altes Recht . Ge-
nau das verändern Sie mit diesem Gesetz nicht .


(Kerstin Tack [SPD]: Das ist leider falsch! – Katja Mast [SPD]: Sie haben keine Ahnung von Änderungsanträgen!)


Deswegen bedauere ich es besonders, dass es nicht ge-
lungen ist, diese Verbesserung hinzubekommen, meine
Damen und Herren .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Insofern sage ich Ihnen: Hier sind wir noch lange nicht
bei einer echten Umsetzung der Behindertenrechtskon-
vention .

Aber ich will jetzt gerne über die Verbesserungen re-
den; darauf warten Sie ja schon . Ich bin sehr froh, dass
es in dem Prozess gelungen ist – unter Beteiligung der
Länder, auch unserer Beteiligung –, dass zum Beispiel
Menschen mit Sinnesbehinderungen jetzt wieder Leis-
tungen erhalten können . Das muss man sich einmal
vorstellen: Menschen, die zum Beispiel blind oder taub
sind, konnten nach Ihrem ursprünglichen Vorschlag die
Leistungen nicht mehr bekommen . Das ist immer noch
nicht gut. Julia Probst, die vielleicht besser bekannt ist
als „@EinAugenschmaus“, hat heute Morgen gesagt: In
Zukunft entscheidet eine Sachbearbeiterin darüber, ob
ich teilhaben kann. – Liebe Julia Probst, Sie haben es auf
den Punkt gebracht. Ich sage in Gebärdensprache: Danke
für diese klare Aussage .

Die Verbesserungen, die wir in diesem Prozess hin-
bekommen haben, haben auch damit zu tun, dass es da
draußen eine engagierte Community gibt, dass es Leu-
te gibt, die nicht aufgehört haben, uns vorzuleben, was
für sie Selbstbestimmung bedeutet . Die Initiative „Nicht
mein Gesetz“ oder Raul Krauthausens Heimexperiment
können Sie sich einmal anschauen . Er hat sich einmal
einweisen lassen und war, undercover, fünf Tage in ei-
nem Pflegeheim. Da gibt es keine Intimsphäre mehr.
Da kann man als selbstbestimmter erwachsener Mensch
nicht sagen: Ich will essen, wenn ich essen kann . Des-
wegen sage ich Ihnen: Wir sind bei der Umsetzung der
Behindertenrechtskonvention noch lange nicht da, wo
wir hin müssen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Selbstbestimmung sieht anders aus .

Ich will noch einen Punkt hinzufügen, den Sie ja er-
lebt haben, nämlich das bürgerschaftliche Engagement .


(Beifall der Abg . Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ihr Beteiligungsprozess hat gezeigt, dass viele Menschen
mit Handicap bereit sind, sich in die Gesellschaft ein-

zubringen, und zwar nicht nur, wenn es, wie in diesem
Fall, um ihre eigenen Interessen geht . Nach Ihrem Ge-
setz werden sie zukünftig eben genau dafür keine Unter-
stützung und Assistenz bekommen, sondern sie müssen
Freunde und Verwandte fragen . Jetzt stellen wir uns das
einmal in unserem Alltag vor . Wenn ich mich ehrenamt-
lich zum Beispiel im Fußballverein engagieren will, dann
muss ich immer jemanden finden, der mich hinfährt. Das
macht man mit Kindern – ganz aufopferungsvoll – eine
ganze Weile . Aber natürlich werden Menschen mit Be-
hinderungen das nicht dauernd von ihren Freunden und
Bekannten einfordern können . Es ist falsch, es ist grund-
falsch für die Demokratie, dass wir sagen: Diese Gruppe
ist uns nicht so wichtig . Die wollen wir aus dem bürger-
schaftlichen Engagement ausschließen .


(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Wer sagt das denn?)


Auch deswegen sage ich Ihnen: Dieses Gesetz ist ein An-
fang . Mehr nicht .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Unsere Vorstellungen bleiben anders . Trotzdem bin
ich über die Verbesserungen froh . Das will ich ausdrück-
lich sagen . Ich danke Ihnen als Koalitionsfraktionen da-
für, dass Sie diese Beratungen ernsthaft weitergeführt
und den Gesetzentwurf verändert haben .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deswegen sage ich Ihnen auch: Wir haben es ge-
schafft, deutliche substanzielle Verbesserungen hinzube-
kommen . Deswegen werden wir in den Bundesländern,
in denen wir die Möglichkeit dazu haben, alle Spielräume
dieses Gesetzes ausschöpfen . Das wird so sein . Aber wir
werden vor allem die weitere Umsetzung und Durchset-
zung der Behindertenrechtskonvention in unserem Land
weiter auf die Tagesordnung setzen . Die Menschen, die
selbstverständlich Teilhabe verdient haben, haben unser
Engagement verdient . Sie haben verdient, dass wir ihnen
sagen: Ihr seid selbstbestimmt, nicht wir wissen, was gut
für euch ist . Sie haben verdient, dass sie selbstverständ-
lich gleichberechtigter Teil dieser Gesellschaft sind .

Vielen Dank .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820601200

Vielen Dank. – Nächste Rednerin für die SPD-Frakti-

on ist die Kollegin Katja Mast .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Katja Mast (SPD):
Rede ID: ID1820601300

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Heute werden wir mit dem Bundesteilhabegesetz die
größte Sozialreform seit Inkrafttreten des SGB IX vor
15 Jahren verabschieden .

Ich will zu meiner Vorrednerin, Frau Göring-Eckardt,
zwei Dinge sagen. Erstens finde ich es unredlich, wenn
Sie den Hauptteil Ihrer Redezeit darauf verwenden, wie

Katrin Göring-Eckardt

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20497


(A) (C)



(B) (D)


das bestehende Gesetz die Dinge regelt, und nicht darauf
eingehen, was wir an Verbesserungen auf den Weg brin-
gen oder was für ein Gesetz wir heute überhaupt verab-
schieden .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Zweitens will ich Ihren Ministerpräsidenten aus Ba-
den-Württemberg zitieren, der eine Politik der Beteili-
gung macht


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)


und der immer wieder Wert darauf legt, dass es eine „Po-
litik des Gehörtwerdens“, aber nicht des Erhörtwerdens
ist .


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht, dass man gar nichts macht, Frau Mast!)


Und Sie suggerieren: Wenn man mit Menschen spricht,
übernimmt man automatisch ihre Interessen . – Das ist
falsch; das tut der Demokratie nicht gut, und das tut uns
allen hier nicht gut .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Das Bundesteilhabegesetz ist ein kompliziertes Ge-
setz; es ist kein einfaches Gesetz. Und, ja, es betrifft das
Leben vieler Menschen mit Behinderung und ihrer Fami-
lien . Wir machen ihr Leben besser . Wir sorgen für einen
Perspektivwechsel, weg vom Fürsorgesystem der Sozi-
alhilfe, hin zum Teilhabesystem mit Nachsorgeausgleich
im SGB IX . Das wollen wir als Koalition gemeinsam .


(Beifall bei der SPD)


Ich will etwas zu Dietmar Bartsch sagen, der hier
als Fraktionsvorsitzender geredet hat, aber leider gehen
musste, was ich wirklich bedauere . Wer austeilt, muss
auch bis zum Schluss zuhören . Nur dann nimmt man die
Menschen mit Behinderung ernst .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich will sagen: Dieses Gesetz ist kein Spargesetz . Wir
nehmen 800 Millionen Euro Jahr für Jahr in die Hand,
um das Leben der Menschen mit Behinderung und ihrer
Familien zu verbessern .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Ute Bertram [CDU/CSU])


Da verschwindet, anders als Dietmar Bartsch suggeriert
hat, kein Euro im System, sondern wir sorgen für echte
Verbesserungen .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Ich möchte gern anhand dreier Punkte diese Verbesse-
rungen darstellen:

Erstens . Wir führen das Budget für Arbeit ein; Andrea
Nahles hat dazu alles ausgeführt . Das hilft den Menschen

in den Werkstätten beim Schritt in den ersten Arbeits-
markt .


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: 300 000 in den Werkstätten! 300 000!)


Sie können in den Schutz zurückkehren, wenn es nicht
klappt .

Zweitens . Teilhabe an Bildung ist mir besonders wich-
tig, weil sie Aufstieg bedeutet, auch für die Menschen
mit Behinderung . Wir regeln künftig den Übergang auf
die weiterführende Schule, wir regeln, dass nach dem
Bachelor der Masterstudiengang folgen kann, und wir
regeln berufliche Weiterbildungen für Menschen mit Be-
hinderung . In Zeiten der Digitalisierung ist das nicht tri-
vial, Kolleginnen und Kollegen .


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Tino Sorge [CDU/CSU])


Drittens . Dadurch, dass mehr vom Einkommen und
Vermögen behalten werden kann, aber vor allen Dingen,
weil das Partnereinkommen nicht mehr bei den Leistun-
gen angerechnet werden kann,


(Beifall bei der SPD)


können Menschen mit Behinderung ohne Zwang heira-
ten, und das ist gut für sie .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Bernd Rützel [SPD]: Jawohl, genau! Sehr gut!)


Ich will noch einmal betonen: Niemand will mit die-
sem Gesetz Leistungseinschränkungen oder -ausdehnun-
gen erreichen – niemand in diesem Haus, niemand in der
Koalition . Wir haben gemeinsam beschlossen, auf die
große Kritik einzugehen: Die einen, diejenigen, die die
Eingliederungshilfe bezahlen müssen, sagten, das Gesetz
führe zu einer Leistungsausdehnung; die anderen, die
Menschen mit Behinderung, sagten, es handele sich um
eine Leistungseinschränkung . Deshalb haben wir gesagt:
Wir nehmen den § 99 noch einmal mutig in die Hand und
werden dafür sorgen, dass die neuen Zugangskriterien
bei der Eingliederungshilfe nach einer Überprüfung erst
2023 in Kraft treten, und diese neuen Zugangskriterien
müssen noch einmal durch Bundestag und Bundesrat . –
Auch das war den Bundesländern wichtig . Ich glaube,
es ist ein wichtiges Zeichen für alle Beteiligten, dass wir
beim Zugang zur Eingliederungshilfe – gut Ding will
Weile haben – Ruhe hineinbringen .


(Beifall bei der SPD)


Zum Schluss kommend, will ich sagen: Ich finde es
gut, dass sich die Menschen mit Behinderung im Prozess
zum Bundesteilhabegesetz zu Beteiligten und Akteuren
in der Politik weiterentwickelt haben. Es war gut, dass
wir gespürt haben, sie wollen bestimmte Dinge nicht; es
war gut, dass sie ihre Interessen vertreten haben . Sie sind
mitten in der Gesellschaft; da gehören sie hin . Aber es ist
auch gut, dass wir mit unseren Änderungsanträgen doku-
mentieren: Parlamentarismus, Demokratie und Födera-
lismus funktionieren. Wir nehmen nicht nur die Punkte
der Menschen mit Behinderung auf, sondern auch all das,
was wir von den Experten in den Anhörungen im Prozess
gemeinsam gelernt haben . Ich will sagen: Es war ein gu-

Katja Mast

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620498


(A) (C)



(B) (D)


ter Prozess zwischen den Koalitionsfraktionen, in dem
es gelungen ist, zehn Monate vor einer Bundestagswahl
68 substanzielle Änderungsanträge zusammen hinzube-
kommen . Das ist nicht trivial, das ist eine Riesenleistung
in unserer Demokratie .


(Thomas Oppermann [SPD]: Ja! Finde ich auch!)


Ich bin allen Beteiligten, allen Abgeordneten, Andrea
Nahles und Gabriele Lösekrug-Möller dankbar für die-
sen hervorragenden Prozess. Ich will auch sagen: Ich bin
den Bundesländern dankbar dafür, dass sie den Prozess
gut begleitet haben . Das brauchen wir .


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820601400

Und ich wäre jetzt dankbar, wenn Sie zum Schluss

kommen, Frau Kollegin Mast .


Katja Mast (SPD):
Rede ID: ID1820601500

Vielen Dank . – Denn die Menschen mit Behinderung

gehören mitten in unsere Gesellschaft . Dieses Gesetz
verbessert ihr Leben substanziell . Dieses Gesetz ist nicht
nur ein Meilenstein . Mit diesem Gesetz legen wir viele
Meilensteine in Richtung Teilhabe mitten in der Gesell-
schaft .


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820601600

Frau Kollegin!


Katja Mast (SPD):
Rede ID: ID1820601700

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820601800

Nächste Rednerin ist Katrin Werner, Fraktion Die Lin-

ke .


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Werner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1820601900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Da-

men und Herren! Vielleicht vorab, Frau Mast: Dietmar
Bartsch hat geredet – und ich bin ihm dankbar dafür –,
und auch die Fraktionsvorsitzende der Grünen hat ge-
redet . Sie haben so noch einmal die Wichtigkeit dieser
Debatte betont .


(Kerstin Tack [SPD]: So wichtig ist es ihm gerade! So wichtig ist es ihm!)


– Er hat sich persönlich entschuldigt . Er musste zu einem
Treffen mit dem Netzwerk Kinderarmut. Das ist auch ein
wichtiges Thema .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Kommen wir zur Debatte . Die Verbesserungen im Ge-
setz wurden von beiden Oppositionsfraktionen erwähnt .
Sie legen in einem Großteil Ihrer jetzigen Redebeiträgen

wie wahrscheinlich auch in Ihren zukünftigen Redebei-
trägen das Augenmerk auf diese Verbesserungen, näm-
lich auf die 68 Änderungsanträge, durch die der schlechte
Entwurf aus dem Ministerium Nahles verbessert wurde .
Dazu sage ich: Die Verbesserungen wurden aufgrund des
Protestes von betroffenen Menschen mit Behinderungen,
von Verbänden und Organisationen angegangen . Ich
möchte den Menschen, die sich eingesetzt haben, ganz
klar Danke sagen; der Protest wurde ja erwähnt.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich, damit Sie es verstehen, einfach et-
was zum Kern der Debatte sagen . Sie haben versprochen,
ein Bundesteilhabegesetz auf den Tisch zu legen, das im
Lichte der UN-Behindertenrechtskonvention geschrie-
ben wird . Aber die Grundvoraussetzung dafür wäre, dass
man sich erst einmal mit dem Begriff „Behinderung“
auseinandersetzt. Aber dieser Begriff aus der UN-Behin-
dertenrechtskonvention ist nicht vollumfänglich über-
nommen worden . Ich kann Ihnen dazu eine Lektüre emp-
fehlen, und zwar die Stellungnahme der Monitoringstelle
vom Deutschen Institut für Menschenrechte, in der ganz
klar kritisiert wird, dass Sie eben nicht den kompletten
Begriff übernehmen. Bei ihnen fehlen die Worte „volle“
und „wirksame“ Teilhabe . Die sind aber entscheidend .
Wenn Sie den Begriff komplett übernehmen würden,
dann würden Sie in § 104 – es gab hierzu einen entspre-
chenden Änderungsantrag – nicht immer noch von „Zu-
mutbarkeit“ und von „prüfen“ reden . Da geht es nämlich
genau um die Wahlfreiheit, um die Angst, ins Heim abge-
schoben zu werden, und die gibt es heute schon .

Herr Schiewerling, auf der Pressekonferenz am Mon-
tag wussten Sie noch nicht von dem Fall aus Freiburg .
Es ist momentan nicht nur ein Mensch in Freiburg davon
betroffen, in ein Heim abgeschoben zu werden, sondern
es sind mehr als zehn Personen, die sich regelmäßig tref-
fen . Sie sind aktuell von der Abschiebung in ein Heim
betroffen, weil laut Amt die Übernahme der Kosten für
das Wohnen zu Hause nicht zumutbar ist .

Ein Mann soll im Februar abgeschoben werden, und
dieser Mensch fängt an, zu hungern . Er selber sagt: Er
wird sich zu Tode hungern, wenn er ins Heim gehen
muss . Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ändern Sie
so etwas nicht . Wenn Sie es geändert hätten, dann gäbe es
ein Vetorecht. Die SPD hätte für dieses Vetorecht kämp-
fen müssen .


(Kerstin Tack [SPD]: Leute!)


Aber es gibt keine Änderung, und genau darum haben die
Menschen Angst .

Zu einem weiteren Änderungsantrag .


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820602000

Frau Kollegin Werner, ich stoppe gerade Ihre Rede-

zeit . Gestatten Sie, dass die Kollegin Tack Sie etwas
fragt?


Katrin Werner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1820602100

Frau Tack hat noch ihren Redebeitrag .

Katja Mast

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20499


(A) (C)



(B) (D)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820602200

Gut, dann sind Sie weiter dran . – Bitte schön .


Katrin Werner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1820602300

Sie hätten bei den Assistenzleistungen, wo es um das

Selbstbestimmte geht, weitere Änderungen vornehmen
sollen . Sie nehmen das Zwangspooling zwar an ein oder
zwei Stellen heraus, und zwar im sozialen, im persönli-
chen, im privaten Bereich – dabei geht es darum, dass
man mit Freunden weggehen kann – und im Bereich der
kompletten persönlichen Lebensplanung; Sie können
aber weiter zwangspoolen im kulturellen und hauswirt-
schaftlichen Bereich . Was ist der kulturelle Bereich? Ist
das der Theaterbesuch? Ist das der Kinobesuch? Was ist
das? Wer stellt das gegenüber? Das Amt entscheidet . –
Und was sind hauswirtschaftliche Tätigkeiten? Dabei
geht es um genau das, was im persönlichen Umfeld ge-
währleistet werden muss . In diesen Bereichen gibt es
weiter Einschränkungen . Diese Einschränkungen sind,
ganz ehrlich gesagt, Blödsinn .

Übermorgen ist der Internationale Tag der Menschen
mit Behinderung . Ich hätte mir gewünscht – das wäre ein
Geschenk gewesen –, dass Sie die Menschenrechte um-
gesetzt hätten, dass Sie Artikel 19 der UN-Behinderten-
rechtskonvention umgesetzt hätten . Mit dieser Vorlage
tun Sie genau das aber nicht .

Herr Schiewerling, die CDU war einmal ganz mutig,
und zwar 1973, als die sie forderte, die Leistungen „un-
abhängig von Einkommens- und Vermögensverhältnis-
sen der Betroffenen und ihrer Familien zu gewähren“.
Wenn Sie das in diese Vorlage geschrieben hätten, wären
Sie mutig gewesen .


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg . Dr . Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Insofern bleibe ich bei dem Schlusssatz meiner letzten
Rede .

Danke .


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820602400

Vielen Dank . – Nächste Rednerin ist die Kollegin

Dr . Astrid Freudenstein für die CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Astrid Freudenstein (CSU):
Rede ID: ID1820602500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Meine Damen! Meine Herren! Jetzt ist er also fertig, der
Entwurf des Bundesteilhabegesetzes . Er hat für heftige
Diskussionen gesorgt und sorgt offenbar immer noch
dafür . Er hat für manchen Ärger gesorgt, für viel Brief-
verkehr, für viel Arbeit . Er hat einen ziemlich sperrigen
und nicht besonders eleganten Namen, aber das ist bei
Gesetzen ja öfter so . Er ist kompliziert und sehr umfang-
reich . Aber jetzt steht er zur Verabschiedung an, und ich

sage aus voller Überzeugung: Das Bundesteilhabegesetz
ist ein gutes Gesetz .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich finde interessant, was in den vergangenen Mona-
ten deutlich geworden ist . Frau Kollegin Göring-Eckardt,
weil Sie einiges angeprangert haben, möchte ich ein paar
Beispiele nennen, die den Unterschied zwischen Ihren
Reden und Ihrem Handeln zeigen: Im Bundesrat hat der
Freistaat Bayern einen Antrag gestellt, Assistenzleistun-
gen generell von der Zustimmung des Betroffenen ab-
hängig zu machen . Der Antrag wurde abgelehnt mit den
Stimmen von sieben Ländern . In sechs dieser sieben Län-
der regieren die Grünen mit .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Katja Mast [SPD]: Hört! Hört!)


Der Freistaat Bayern hat im Bundesrat einen Antrag ge-
stellt, einen zeitlichen Horizont für die völlige Freistel-
lung von Einkommen und Vermögen zu erstellen . Der
Antrag wurde mit den Stimmen von sieben Bundeslän-
dern abgelehnt . In sechs dieser sieben Bundesländer re-
gieren die Grünen mit .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe von der CDU/CSU: Aha!)


So viel zu Ihrem Handeln, zu Ihrem Tun . Ihre konstruk-
tiven Beiträge im Gesetzgebungsverfahren zu diesem
Bundesteilhabegesetz waren überschaubar .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Aber viele haben sehr konstruktiv mitgewirkt . Bei
denen möchte ich mich heute als Berichterstatterin der
Unionsfraktion ausdrücklich bedanken . Ich möchte mich
bedanken bei allen Kollegen und Mitarbeitern aus dem
Bundestag, aus meiner Landesgruppe, aus der Unions-
fraktion und aus der SPD. Ich möchte mich beim Bun-
desministerium für Arbeit und Soziales bedanken: Das
war ein wahrer Kraftakt! Ich möchte mich bei den vielen
Verbänden bedanken, die sich konstruktiv in dieses Ver-
fahren eingebracht haben, und bei vielen einzelnen Be-
troffenen, die uns rückgemeldet haben, wo es hakt.

Ich habe schon bei der Einbringung des Gesetzent-
wurfs meine Bedenken zum Ausdruck gebracht . Die
68 Änderungsanträge, die wir erarbeitet haben, begegnen
nicht nur meinen Bedenken, sondern auch vielen Be-
fürchtungen und Ängsten von Betroffenen. Da war zum
einen die viel diskutierte Fünf-aus-neun-Regelung . Sie
hat große Ängste ausgelöst, dass manche Menschen kei-
nen Zugang zur Eingliederungshilfe mehr erhalten . Ich
habe schon bei der Einbringung des Gesetzentwurfs ge-
sagt: Auch in Zukunft muss jeder, der Eingliederungshil-
fe braucht, diese Eingliederungshilfe auch bekommen . –
Das wird auch der Fall sein . Wir haben die umstrittene
Fünf-aus-neun- oder Drei-aus-neun-Regelung aus dem
Gesetzentwurf genommen – das war auch mir persönlich
ein wichtiges Anliegen –, nicht, weil wir wissen, dass sie
garantiert nicht funktioniert, sondern weil das Misstrauen
so groß war . Wir bleiben jetzt erst einmal bei der alten
Definition und lassen eine neue Definition erarbeiten.
Dafür haben wir Zeit bis 2023 . Das ist gut so .

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620500


(A) (C)



(B) (D)


Wir haben bei der Schnittstelle zwischen Eingliede-
rungshilfe und Hilfe zur Pflege nachjustiert. Das ist ein
zweiter ganz wichtiger Punkt. Viele Menschen hatten
Angst, in Zukunft nur noch Pflegeleistungen zu bekom-
men . Das war ausdrücklich nicht die Absicht des Ge-
setzgebers . Wir bleiben bei der heutigen Regelung des
Gleichrangs . Das ist gesetzgeberisch etwas unbefriedi-
gend, weil wir die Probleme im Bereich der Schnittstelle
nicht lösen, aber wir kommen damit einer Kernforderung
der Verbände nach .

Wir haben uns Gedanken über den Pflegekostendeckel
in § 43a SGB XI gemacht . Wir stellen sicher, dass es kei-
ne Ausweitung auf ambulante Wohnformen geben wird .
Wir halten also den Status quo . Es wird aber Aufgabe des
neuen Parlaments sein, sich darüber Gedanken zu ma-
chen, ob dieser Paragraf heute noch seine Berechtigung
hat . Ich persönlich meine, er hat es nicht . Die Schnittstel-
le der Eingliederungshilfe zur Hilfe zur Pflege haben wir
behandelt und einen Vorschlag aus dem Bundesrat auf-
gegriffen: das Lebenslagenmodell. Kommt also die Hilfe
zur Pflege mit der Eingliederungshilfe zusammen, dann
profitieren die Menschen, bei denen die Behinderung bis
zur Regelaltersgrenze eintritt, von den neuen Anrech-
nungsmodalitäten . Das ist ein guter Fortschritt .

Ich hatte bereits in der ersten Lesung hinsichtlich der
Anrechnung von Einkommen und Vermögen betont, wie
sehr all jene von diesem Gesetz profitieren, die trotz
Behinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt ganz ordent-
lich verdienen . Diese Verbesserungen sind sehr groß .
Mir persönlich war es immer ein Anliegen, dass dieje-
nigen profitieren, die in Werkstätten beschäftigt sind,
die nicht komplett für sich selbst sorgen können . Das
halte ich für einen der größten Erfolge dieses Gesetzes .
Wir verdoppeln das Arbeitsförderungsgeld für die rund
300 000 Werkstattbeschäftigten in Deutschland, und wir
verdoppeln den Schonbetrag für Empfänger von Grund-
sicherung nach dem SGB XII .

Wir haben beim Wunsch- und Wahlrecht nachjustiert .
Wenn es um sehr private Bereiche geht, dürfen Leistun-
gen nur noch mit der Zustimmung des Betroffenen ge-
poolt werden . Wer außerhalb stationärer Einrichtungen
wohnen will, der wird in seinen Rechten maßgeblich
gestärkt . Der CSU und auch mir persönlich war es ein
Bedürfnis, dass die besonders Schutzbedürftigen auch
künftig über einen Barbetrag verfügen . Das wird mit die-
sem Gesetz sichergestellt .

Ich meine, dass dieser Gesetzgebungsprozess manche
in die Wirklichkeit zurückgeholt hat . Manche hatten sich
ja zu Beginn der Debatte eine Revolution auf die Fahnen
geschrieben . Heftig wurde aus der Opposition gegen die
Sonderwelten der Werkstätten gewettert . Mitunter wurde
deren Abschaffung gefordert. Solche Kritik gab es auch
von den Grünen . Ich bin froh, dass sich die Erkenntnis
durchgesetzt hat, dass man Menschen mit Ideologien
nicht helfen kann, dass Inklusion keine Revolution, son-
dern ein Prozess ist und dass es immer auch Menschen
gibt und geben wird, die Schutzräume brauchen und un-
serer Fürsorge bedürfen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben mit dem Bundesteilhabegesetz ein gutes
Gesetz geschaffen, weil es der Individualität der Men-
schen gerecht wird, weil es denen mehr Selbstbestim-
mung gibt, die mehr Selbstbestimmung brauchen, und
weil es denen Schutz gewährt, die Schutz brauchen . Ich
würde mir wünschen, dass diejenigen, die in den vergan-
genen Monaten nicht konstruktiv diskutiert und protes-
tiert haben, sondern all ihre Energie darauf verwandt ha-
ben, Angst und Aggression zu schüren – ich spreche Sie
von den Linken hier ausdrücklich an –,


(Zurufe von der SPD: Grüne auch!)


diesen Schaden wieder in Ordnung bringen . Ich würde
mir wünschen, dass die Einrichtungen und Sozialverwal-
tungen manche Beharrungstendenzen überwinden und
dieses Gesetz beherzt aufgreifen und umsetzen . Ich wür-
de mir wünschen, dass die Politik den Weg weitergeht,
jeden Menschen mit oder ohne Behinderung den Platz
finden zu lassen, den er für sich finden will.

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820602600

Vielen Dank . – Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt

Corinna Rüffer das Wort.


Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820602700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrter Herr Schiewerling, ich muss
kurz auf das eingehen, was Sie ganz am Anfang Ihrer
Rede gesagt haben . Sie haben gesagt, man solle die Le-
benssituation von Menschen nicht skandalisieren . Dazu
sage ich Ihnen erstens: Dieses Parlament ist keine kri-
tikfreie Zone . Zweitens muss ich sagen: Wenn Lebens-
situationen ein Skandal sind, dann muss man das auch
in diesem Parlament benennen dürfen; denn sonst haben
wir grundsätzlich ein Problem.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Ich möchte Ihnen sagen, was behinderte Menschen zu
diesem Gesetz und zu diesem Beratungsprozess zu sagen
haben – sie können leider nicht persönlich an diesem Pult
reden; deshalb möchte ich das übernehmen –:

Wenn ich geahnt hätte, dass wir primär Verschlech-
terungen unserer Lebenssituation zu erwarten ha-
ben, dass auch in Zeiten einer gültigen UN-Behin-
dertenrechtskonvention unsere Menschenwürde mit
Füßen getreten wird, hätte ich meine Lebenszeit
sinnvoller investiert .

Das sagt Frau Dr . Arnade von der Interessenvertretung
Selbstbestimmt Leben in Deutschland .

Ich muss Ihnen sagen: Ich fühle mich heute so ein
bisschen wie in einem Paralleluniversum. Wir reden
seit vielen Jahren darüber, die UN-Behindertenrechts-
konvention umzusetzen . Die Vereinten Nationen haben
uns Empfehlungen mit auf den Weg gegeben . Darin
steht ganz deutlich, was wir zu tun haben . Behinderte
Menschen und ihre Verbände haben auch immer wie-

Dr. Astrid Freudenstein

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20501


(A) (C)



(B) (D)


der klargemacht, an welchen Stellen der Schuh drückt,
wo sie kämpfen müssen, wo Dinge nicht klappen, wo
etwas schiefläuft. Und heute stimmen wir hier über ei-
nen Gesetzentwurf ab, der wesentliche Probleme behin-
derter Menschen immer noch nicht berücksichtigt . Wir
stimmen über einen Gesetzentwurf ab, mit dem Sie das
Vertrauen behinderter Menschen in den letzten Monaten
nachhaltig verspielt haben, und das in einer Zeit – das
ist das besonders Schlimme an der Sache –, in der das
Misstrauen gegenüber der Politik so groß ist wie lange
nicht mehr .


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820602800

Frau Kollegin Rüffer, darf ich Sie einmal unterbre-

chen? – Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Wolff?


Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820602900

Ja, gerne .


Waltraud Wolff (SPD):
Rede ID: ID1820603000

Ich bedanke mich ganz herzlich für die Möglichkeit,

eine Zwischenfrage zu stellen. – Frau Kollegin Rüffer,
können Sie uns vielleicht erklären, an welchen Stellen
sich das Leben der von Ihnen geschilderten Personen
durch unsere Gesetzgebung jetzt entscheidend ver-
schlechtert?


Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820603100

Frau Wolff, das wollte ich im Verlauf meiner Rede

darlegen . Das werde ich auch gleich tun . Was ich an die-
ser Stelle aber ganz deutlich machen möchte, ist, dass
sich das, was ich gesagt habe, auf den Entwurf bezieht,
den Ihre Regierung vorgelegt hat .


(Lachen bei Abgeordneten der SPD – Katja Mast [SPD]: Ach nee! Es geht gar nicht um das Gesetz! – Weitere Zurufe von der SPD)


Das ist ja ganz wichtig. In Ihren Reden – Frau Wolff,
ganz ruhig! – kommt es immer so rüber, als würde dieses
Gesetz – –


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820603200

Jetzt hat erst einmal die Kollegin Rüffer das Wort. –

Bitte .


Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820603300

Das ist total nett . Ich denke, wer eine Frage stellt,

möchte bestimmt auch die Antwort hören .


(Dr. Martin Rosemann [SPD]: Sie beantworten die Frage gar nicht!)


In Ihren Reden hört es sich so an, als sei das, was Sie
hier vorlegen, eine Verbesserung gegenüber dem, was
gültige Rechtslage ist .


(Stephan Stracke [CDU/CSU]: Das ist es aber auch! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Es ist offensichtlich keine Verschlechterung!)


Das ist leider mitnichten so . Anfang der Woche, zwei
Tage vor Verabschiedung dieses Gesetzes, haben Sie
68 Änderungsanträge vorgelegt . Was sagt uns das, Frau
Wolff? Das sagt uns, dass Sie einen schlechten Gesetz-
entwurf vorgelegt haben und last-minute-mäßig an den
ganz schlimmen Stellen Nachbesserungen vornehmen
mussten .


(Zurufe von der CDU/CSU)


An der Schnittstelle zur Hilfe zur Pflege


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


wäre es zu Verschlechterungen gekommen . Bei der An-
rechnung von Einkommen und Vermögen wäre es zu Un-
gerechtigkeiten gekommen . Die Leute hatten zu Recht
Angst, ihren Lebensabend nicht in ihrer gewohnten Um-
gebung verbringen zu können, sondern ins Heim abge-
schoben zu werden . – Sie können sich doch heute nicht
hierhinstellen und so tun, als wären Sie stolz auf das Ge-
setz, das wir heute zu verabschieden haben .


(Katja Mast [SPD]: Doch! Das sind wir!)


Das, was an Verbesserungen drinsteht, bezieht sich auf
den Gesetzentwurf und nicht auf die gültige Rechtslage .


(Widerspruch bei der SPD)


Wir stimmen heute im Wesentlichen über einen Ge-
setzentwurf ab, der keine Verbesserung der Lebenssitua-
tion der Menschen mit Behinderung bringt .


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Keine Antwort!)


Wir stimmen über einen Gesetzentwurf ab, dessen
schlimmste Verschlechterungen, schlimmste Grausam-
keiten sie herausgenommen haben; dafür bin ich Ihnen
wirklich dankbar .


(Zurufe von der SPD: Oh!)


Dass Sie hier vollmundig so tun, als könnten Sie sich
stolz auf die Schulter klopfen, finde ich unmöglich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Katja Mast [SPD]: Mal gucken, wie sich die Länder mit Ihrer Beteiligung im Bundesrat verhalten!)


Ich habe das Gesetz gelesen und vorgetragen, was die
Menschen mit Behinderung zu diesem Gesetz zu sagen
haben .


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820603400

Frau Kollegin Rüffer, es gibt noch eine Zwischenfrage

des Kollegen Weiß .


Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820603500

Ja, sehr gern .


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820603600

Bitte schön .


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Aber bitte antworten!)


Corinna Rüffer

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620502


(A) (C)



(B) (D)



Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820603700

Das mache ich doch immer, Frau Wolff.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD – Dr. Martin Rosemann [SPD]: Die Frage ist völlig unbeantwortet!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820603800

Wie geantwortet wird, entscheiden immer noch dieje-

nigen, die gefragt werden .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Jetzt Ihre Frage, bitte schön .


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1820603900

Frau Kollegin Rüffer, ich habe eine ganz einfache Fra-

ge. Man kann Ihre Rede ja später im Protokoll nachlesen;
aber vielleicht wäre es gut, in dieser Diskussion doch
einmal festzuhalten, ob ich es vorhin richtig verstanden
habe, dass Sie festgestellt haben, dass der heute aufgrund
der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit
und Soziales zu verabschiedende Entwurf eines Bun-
desteilhabegesetzes zu einer Verbesserung der Rechtsla-
ge gegenüber den bestehenden rechtlichen Regelungen
der Eingliederungshilfe führt . Ist das richtig?


Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820604000

Nein . Wenn ich mir den Gesetzentwurf im Detail an-

schaue und entsprechend abwäge, dann muss ich sagen,
dass dieser Gesetzentwurf keine Verbesserung gegenüber
der gültigen Rechtslage ist .


(Katja Mast [SPD]: Dann stimmen die Grünen im Bundesrat also nicht zu!)


Die positiven Punkte sind ja genannt worden; das ha-
ben wir auch immer anerkannt . Ich denke zum Beispiel
daran, dass endlich das Budget für Arbeit bundesweit
eingeführt werden kann .


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das ist doch eine Verbesserung!)


Ich kann Ihnen als Rheinland-Pfälzerin sagen: Wir haben
das seit vielen Jahren . Die bundesweite Ausdehnung ist
ein wichtiger Punkt. Im Vergleich zu dem, was ansonsten
in diesem Gesetzentwurf mit Bezug auf die Lebenswirk-
lichkeit der Menschen steht, muss man aber sagen, dass
man dafür keinen solchen Aufwand wie jetzt mit dem
Bundesteilhabegesetz hätte betreiben müssen . Das hätte
man auch einfacher machen können, und dann hätte man
auch nicht die Wut und die Angst der Menschen auf sich
gelenkt .

Ich bin froh – das sage ich noch einmal –, dass Ver-
schlechterungen gegenüber der heute geltenden Rechtsla-
ge zum Teil zurückgenommen worden sind, zum Beispiel
bei der Schnittstelle zwischen der Eingliederungshilfe
und der Hilfe zur Pflege.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: „Zum Beispiel“!)


Ich bin froh, dass wir auch beim Wunsch- und Wahlrecht
noch Kleinigkeiten verbessern konnten . Ich bin auch
ganz froh darüber, dass wir die unsinnige Fünf-von-
neun-Regelung endlich vom Tisch haben – zumindest bis
2023 . Das ist aber doch nichts, worauf man stolz sein
kann, sondern etwas, wofür man sich als Bundesregie-
rung, die alle Möglichkeiten hätte, gute Gesetzentwürfe
vorzulegen, eigentlich schämen müsste .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ihre Rede passt nicht zusammen!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820604100

Frau Kollegin Rüffer, der Kollege Stritzl würde auch

noch gerne eine Frage stellen, wenn Sie sie zulassen .


Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820604200

Ja, gerne .


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820604300

Das ist aber die letzte Zwischenfrage, die der Kollegin

Rüffer gestellt wird. Danach kann sie Ihre Rede zu Ende
führen . – Bitte schön, Herr Kollege Stritzl .


Thomas Stritzl (CDU):
Rede ID: ID1820604400

Frau Kollegin, Ihre Fraktionsvorsitzende hat vorhin

von begrüßenswerten Verbesserungen in diesem Gesetz-
entwurf gesprochen . Dazu haben Sie applaudiert . Kön-
nen Sie mir sagen, wozu Sie applaudiert haben?


Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820604500

Na ja, einen Punkt habe ich genannt. Es gibt durchaus

noch andere Punkte, wie die unabhängige Beratung.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Aha!)


Sie wird aber auch nur begrenzt eingeführt . Zum Budget
für Arbeit


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist schon die zweite Verbesserung!)


muss man sagen, dass die Ausstattung, die wir in Rhein-
land-Pfalz kennen, deutlich besser ist als die nach bun-
desgesetzlichen Regelung .

Ich will zugestehen, dass in diesem Gesetzentwurf
natürlich auch Verbesserungen stehen . Es wäre ja auch
schlimm, wenn auf 400 Seiten keine Verbesserungen
stünden .


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Na, wenn man Sie so reden hört! – Katja Mast [SPD]: Verschlechterung von geltendem Recht, das war Ihre These!)


Man muss aber sagen, dass Sie damit natürlich weit hin-
ter den Erwartungen zurückbleiben, und das sollten Sie
einfach einmal zur Kenntnis nehmen .


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20503


(A) (C)



(B) (D)


Wir freuen uns darüber – das will ich noch einmal sa-
gen –, dass die Grausamkeiten in dem Gesetzentwurf,
den Ihre Regierung verabschieden wollte, zu einem we-
sentlichen Teil zurückgenommen worden sind .


(Katja Mast [SPD]: Ihre These ist Verschlechterung gegenüber geltendem Recht!)


Aber ich finde es wirklich unglaublich, dass Sie hier so
tun, als hätten Sie einen Meilenstein geschaffen oder wä-
ren auf dem Weg dahin . Das stimmt nicht .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Katrin Göring-Eckardt hat gerade gesagt: Wir ste-
hen bestenfalls am Anfang eines Prozesses. Nicht mehr
und nicht weniger ist richtig und hier gesagt worden .


(Dr. Martin Rosemann [SPD]: Ihre Rede ist unglaublich!)


Sie müssen es schon einmal aushalten, für einen Gesetz-
entwurf kritisiert zu werden, gegen den Menschen mit
Behinderungen seit Monaten Protest laufen. Sie glauben
doch nicht, dass sie das ohne Grund tun . Es gibt also kei-
nen Grund, sich hier auf die Schulter zu klopfen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Sie biegen sich hier hin und her!)


Von den Kritikpunkten sind hier schon einige ange-
sprochen worden . Mit diesem Gesetz verhindern Sie
zum Beispiel nicht, dass zukünftig Menschen in Heime
gezwungen werden. Das findet heute statt, und das fin-
det auch zukünftig statt . Wenn die Leute die Kraft ha-
ben, vor Gericht zu gehen, dann werden diese schlechten
Entscheidungen zukünftig wahrscheinlich auch wieder
revidiert. Sie schaffen hier null Verbesserungen. Es wird
zukünftig so sein, dass Menschen darum kämpfen müs-
sen, zu Hause wohnen zu können, wozu sie eigentlich ein
Recht haben .

Teilweise verschlechtern Sie die Situation der Men-
schen auch; das muss man eben sagen . Zum Zwangspoo-
len und zur Assistenz im Ehrenamt wurde schon einiges
gesagt. Ich möchte Nancy Poser vom Forum behinderter
Juristinnen und Juristen zitieren, welches schon 2012 ei-
nen Entwurf für ein Bundesteilhabegesetz vorgelegt hat .
Mit Bezug auf das Zwangspoolen sagt sie:

Damit wird erstmals durch dieses Gesetz ein im-
menser Eingriff in die Selbstbestimmung behinder-
ter Menschen möglich gemacht und legitimiert .

Aus ihrer Sicht fallen vor diesem Hintergrund auch die
positiven Veränderungen nicht ins Gewicht; das bestätigt
meine These . Sie erklärt:

Ganz ehrlich – wem bringen die neugeschaffenen
finanziellen Vorteile etwas, wenn dafür die Freiheit
genommen wird?

So Nancy Poser vom Forum behinderter Juristinnen und
Juristen, eine renommierte Richterin .

So sehr ich Ihnen für die Verbesserungen dankbar
bin – das habe ich jetzt mehrfach betont –: Das, was Sie

hier vorlegen, ist kein Bundesteilhabegesetz . Wir sind am
Anfang und nicht am Ende des Prozesses.

Ich möchte am Schluss auf eine Personengruppe zu
sprechen kommen, die hier noch nicht angesprochen
worden ist: die Menschen mit Behinderungen, die einen
besonders hohen Unterstützungsbedarf haben, die Men-
schen, die nach wie vor aus Werkstätten ausgeschlossen
werden, für die es kaum Angebote gibt, die Menschen,
deren Angehörige jeden Tag immer wieder kämpfen
müssen, um die notwendige Unterstützung zu organi-
sieren, die sie brauchen, die Menschen, die ihr ganzes
Leben lang subtil und auch offen signalisiert bekommen,
dass sie in dieser Gesellschaft nicht erwünscht sind, dass
sie Kosten verursachen . Für diese Menschen – das ver-
stehe ich beileibe nicht – tun Sie mit diesem Gesetz gar
nichts . Das ist einfach ein Armutszeugnis .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie reden seit drei Jahren davon, ein modernes Teil-
haberecht schaffen zu wollen. Ich sage Ihnen heute: Wir
sind ganz am Anfang dieses Prozesses und haben noch
viel Weg vor uns . Es gibt keinen Grund, liebe Große Ko-
alition, sich mit stolzgeschwellter Brust auf die Schulter
zu klopfen .


(Kerstin Tack [SPD]: Du immer mit deinem Stolz! Außer dir hat hier noch niemand „stolz“ gesagt!)


Den Eindruck vermitteln Sie . Dazu gibt es überhaupt kei-
nen Anlass . Es liegt viel Arbeit vor uns . Meine Fraktion
und ich sind dabei, wenn es darum geht, dieses Gesetz
in den Ländern umzusetzen und es in den nächsten Jah-
ren besser zu machen, damit Menschen mit Behinderung
wirklich etwas davon haben .

Vielen Dank .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820604600

Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die

Kollegin Carola Reimann .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Carola Reimann (SPD):
Rede ID: ID1820604700

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Eine Gesellschaft, die behinderte Menschen aller
Art nicht als natürlichen Teil ihrer selbst zu achten
und zu behandeln weiß, spricht sich selbst das Ur-
teil .

Diese Worte sind ein Zitat unseres dritten Bundesprä-
sidenten, Gustav Heinemann, aus dem Jahr 1969 . Es
stammt aus einer Zeit, in der Familien ihre behinderten
Kinder nicht selten vor der Öffentlichkeit versteckt ha-
ben, in der es als Schande angesehen wurde, nicht so zu
sein wie andere, „normale“ . Es stammt aus einer Zeit, als
die Gesellschaft sich in vielen Bereichen aufgemacht hat,
ihr Leben neu zu gestalten . Erinnern wir uns: Erst seit

Corinna Rüffer

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620504


(A) (C)



(B) (D)


1977 dürfen Frauen in Deutschland gleichberechtigt am
gesellschaftlichen Leben teilhaben .

Die Gesellschaft zu verändern, dauert . Wir als Gesetz-
geber können wichtige Rahmen setzen . Das Bundesteil-
habegesetz ist so ein wichtiger Rahmen . Es wird von uns
allen einen neuen Blick auf Menschen mit Behinderun-
gen verlangen: weg davon, zu schauen, was das behin-
derte Kind des Nachbarn alles nicht kann, hin dazu, zu
sehen, was dieses Kind doch alles kann, welche Stärken
und Fähigkeiten es hat, und hin dazu, zu erkennen, was
wir tun können, damit es besser teilhaben kann .

Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Bun-
desteilhabegesetz muss gelebt werden . Dazu braucht es
bei allen Beteiligten größtmögliche Akzeptanz . Daher
war das umfangreiche Beteiligungsverfahren der Betrof-
fenen im Vorfeld der Gesetzgebung ebenso notwendig
wie vorbildlich .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Dadurch ist für alle erstmalig offenkundig und auch
nachzulesen, welche Herausforderungen noch vor uns
liegen, bis eine inklusive Gesellschaft erreicht ist .

Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mich an die-
ser Stelle bei unserer Parlamentarischen Staatssekretärin
Gabriele Lösekrug-Möller ganz herzlich bedanken .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Sie ist die gute Seele dieses Gesetzes . Gabriele, ohne
dein Engagement, deine Beharrlichkeit und deine kluge,
vermittelnde Art wären wir jetzt nicht an diesem Wende-
punkt der Behindertenpolitik .

Ich habe vorhin von einem neuen Blick gesprochen .
Dieser neue Blick hat auch die umfangreichen Verhand-
lungen mit der Union geprägt . Das lösungsorientierte
Klima dieser Gespräche war bemerkenswert . Ich denke,
jedem von uns war bewusst, dass jetzt der entscheiden-
de Schritt gelingen muss . Das ist sicherlich dem Betei-
ligungsverfahren und den beharrlichen Hinweisen der
Betroffenenverbände darauf zu verdanken, wo noch eine
Nachsteuerung nötig war .

Kollegin Rüffer, es ist immer gut, mehr zu wollen.
Aber es ist schäbig, das Erreichte schlechtzureden .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Den Ländern, in denen Sie mitregieren und Mitverant-
wortung tragen, muss das wie ein Schlag ins Gesicht er-
scheinen .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wir hatten versprochen, dass der Zugang zur Einglie-
derungshilfe nicht eingeschränkt wird . Das haben wir
gehalten und werden wir halten . Der jetzt vorgesehene
Weg ist beispiellos . Es wird 2017 eine wissenschaftliche
Untersuchung geben . Mit dem Bericht über die Ergeb-
nisse wird sich der Deutsche Bundestag 2018 wieder be-
fassen . Auf dieser Basis werden in allen Bundesländern
Modellvorhaben umgesetzt . Die Ergebnisse werden dann
wieder dem Bundestag und dem Bundesrat vorgelegt, um

dann noch vor 2023 eine abschließende Entscheidung zu
treffen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich habe
es schon in der ersten Lesung gesagt: Auch beim Bun-
desteilhabegesetz gilt das Struck’sche Gesetz . Die jetzt
vorgelegten Änderungsvorschläge belegen dies in aller
Deutlichkeit . Wir haben mit der Regierung sehr substan-
zielle Änderungen vorgenommen . Diese werden dazu
beitragen, dass sich das Parlament auch in den nächsten
beiden Wahlperioden intensiv mit der Verwirklichung
von Teilhabe für behinderte Menschen auseinanderset-
zen wird . Der heutige Tag ist damit nur ein weiterer,
wenn auch ein sehr wichtiger Tag auf dem Weg in Rich-
tung Inklusion .

Danke schön .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820604800

Vielen Dank . – Nächster Redner für die CDU/

CSU-Fraktion ist der Kollege Uwe Schummer .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Uwe Schummer (CDU):
Rede ID: ID1820604900

Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren!

Kollegin Rüffer, vor mehr als einem Jahr haben Sie im
Ausschuss gewarnt, es gebe starke politische Kräfte,
nicht nur im Bund, sondern auch in den Ländern, die
verhindern wollen, dass das Bundesteilhabegesetz über-
haupt parlamentarisch beraten wird . Ich kann Ihnen heu-
te sagen: Es gibt starke politische Kräfte, auch hier im
Bund, die dafür gesorgt haben, dass dieser Entwurf zum
Bundesteilhabegesetz heute beraten und beschlossen
wird .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Das zeigt, dass wir bereit sind, das, was wir miteinander
vereinbart haben, auch durchzusetzen .

Sie haben gesagt, dass es so viel Protest gegen den
Regierungsentwurf gegeben hat und die Abgeordneten
der Koalition mit 68 Änderungsanträgen darauf reagiert
haben, das sei ein Skandal und ein Zeichen dafür, dass
irgendwas schiefgelaufen ist .


(Zuruf von der SPD: Parlamentarismus!)


Das ist für mich ein merkwürdiges Demokratieverständ-
nis. Deshalb sind wir doch im Parlament: damit wir als
Abgeordnete die Regierung kontrollieren und unsere Po-
sitionen mit einbringen .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820605000

Kollege Schummer, darf ich kurz unterbrechen? Die

Kollegin Rüffer würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Lassen Sie sie zu?


Uwe Schummer (CDU):
Rede ID: ID1820605100

Ja .

Dr. Carola Reimann

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20505


(A) (C)



(B) (D)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820605200

Okay .


Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820605300

Herr Kollege Schummer, vielen Dank . – Ich frage

mich, ob Sie mich vielleicht missverstanden haben . Ich
habe gesagt, dass die 68 Änderungsanträge ein Beleg da-
für sind, dass der Entwurf Ihrer Regierung so schlecht
gewesen ist .


Uwe Schummer (CDU):
Rede ID: ID1820605400

Sie haben vorhin gesagt, dass der Protest, der zu die-

sen 68 Änderungsanträgen geführt hat, mit denen wir im
Parlament – als Volksvertreter im Deutschen Bundes-
tag – darauf reagieren, ein Zeichen dafür war, dass das
Verfahren nicht in Ordnung war . Beides gehört zusam-
men: Wir transportieren das, was wir vor Ort und auf
Veranstaltungen erfahren, ins Parlament, und das führt
zu Änderungsanträgen . Das ist gelebte Demokratie . Ich
hoffe, darin sind wir uns einig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Nun zu einem anderen Thema, das für mich schwer
nachvollziehbar war . Wir wollen von der negativen me-
dizinischen Diagnose wegkommen – „wesentlich be-
hindert“ und dann in die Eingliederungshilfe – und die
Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention mit der
neuen Begrifflichkeit umsetzen, wonach Behinderung
durch das, was in den Menschen angelegt ist, und in
Wechselwirkung mit anderen Menschen und dem Le-
bensumfeld entsteht . Das bedeutet, dass wir gemäß der
UN-Behindertenrechtskonvention neun Lebensberei-
che wie Mobilität, Kommunikation, Wissen und Lernen
definieren. Das finde ich nach wie vor richtig. Aber für
mich und viele andere war fachlich nicht nachvollzieh-
bar, warum ein Rechtsanspruch auf Eingliederungshilfe
erst dann gegeben ist, wenn in fünf von neun Lebens-
bereichen eine erhebliche Teilhabebeschränkung besteht .
Uns war nicht klar, ob diese Zahl fünf gewürfelt war, ob
sie in goldenen Lettern am Firmament stand oder ob sie
eine nächtliche Erscheinung war . Die mathematische Er-
klärung lautete: Es sind mehr als 50 Prozent. – Das ist
aber keine fachliche Erklärung . Deshalb haben wir den
Zugang verändert . Wir werden das in den Bundesländern
und den Regionen wissenschaftlich aufarbeiten und dann
2022/23 im Lichte der Erkenntnisse darüber entscheiden .
Aber das Umsteuern hin zu einem anderen Zugang im
Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention ist nach wie
vor unser Ziel .

Entscheidend war, dass wir den Schutz der privaten
Wohnform weiter konkretisiert haben . Bislang ist es ein
Problem, dass Menschen in Heime abgeschoben werden.
Es gibt einen Verschiebebahnhof, der dafür sorgt, dass
Menschen aus Behinderteneinrichtungen in Pflegeein-
richtungen abgeschoben werden . Das wollen wir verän-
dern .


(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann tun Sie es doch!)


Deshalb haben wir – auch in den Änderungsanträgen –
das persönliche Wohnumfeld und die Intimsphäre auf be-

sondere Weise im Gesetz geschützt, und zwar stärker, als
es heute real der Fall ist .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht, Herr Schummer!)


Wer diesen Gesetzentwurf ablehnt, der lehnt auch ab,
dass wir endlich – ergänzend zu den Beratungsstrukturen
in den Ländern – eine unabhängige, vom Bund finanzier-
te Beratungsstruktur schaffen. Wie Sie wissen, gibt es
manche Bundesländer, in denen sich die Beratungsstruk-
turen gut entwickeln . Es gibt aber auch Bundesländer,
in denen so gut wie keine Beratungsstruktur vorhanden
ist . In solchen Ländern ist die Fahrt in die nächste Stadt
unumgänglich . Deshalb ist es wichtig, dass mit Bundes-
mitteln in Höhe von 58 Millionen bis 60 Millionen Euro
jährlich flächendeckend eine ergänzende und unabhän-
gige Beratungsstruktur für die Betroffenen und ihre An-
gehörigen geschaffen wird. Arbeit prägt den Menschen.
Wir brauchen die Förderwerkstätten weiterhin . Aber wir
wollen sie öffnen und durchlässiger gestalten. Wir wollen
die Beschäftigten durch verbesserte Einkommens- und
Vermögensbildungsmöglichkeiten stärker beteiligen .
Wir wollen bundesweit ein Budget für Arbeit etablieren,
damit der Gang auf den ersten Arbeitsmarkt stärker un-
terstützt und organisiert werden kann .

Wir haben derzeit eine starke Kostendynamik in
der Eingliederungshilfe zu verzeichnen . 13 000 bis
15 000 Werkstattplätze für psychisch behinderte Ar-
beitnehmer vom ersten Arbeitsmarkt müssen geschaffen
werden . Allein das verursacht Kosten in Höhe von rund
200 Millionen Euro in der Eingliederungshilfe . Wir wol-
len, dass die Betroffenen durch Integrationsfirmen und
virtuelle Werkstätten möglichst nah am ersten Arbeits-
markt verbleiben können und dort intelligente Arbeits-
systeme bekommen, die ihrer Produktivität zugutekom-
men .

Wir müssen die Kostendynamik dort bekämpfen, wo
sie stattfindet, und zwar durch die Stärkung der Schwer-
behindertenvertretungen in Betrieben und Verwaltungen .
Das sind die sozialen Faktoren. Die Betreffenden wissen,
wie man ein Gesundheitsmanagement bei chronischen
Erkrankungen organisiert und wie man Frühwarnsyste-
me gegen Burn-out und psychisch-seelische Erkrankun-
gen schaffen kann. Sie sorgen dafür, dass in Betrieben
und Verwaltungen mit Beratung und Unterstützung bei
Anträgen, Krankheiten und Integrationsnotwendigkeiten
Inklusionsabteilungen geschaffen werden, die wissen,
wie damit umzugehen ist . Es ist wichtig, dass wir den
Betreffenden mehr Freiräume im Bundesteilhabegesetz
zugestehen, sodass sie von bürokratischen Lasten ent-
bunden werden . Sie werden dabei durch eine Aufwertung
ihrer Stellvertreter und eine Stärkung der Qualifikations-
maßnahmen ergänzend unterstützt. Wir schaffen zudem
den Einstieg in eine Wirksamkeitsklausel . Bevor sich ein
Betrieb oder eine Verwaltung von einem schwerbehin-
derten Arbeitnehmer trennt, sollen die Möglichkeiten der
Weiterbeschäftigung geprüft werden .

Die zweite Kostendynamik resultiert daraus, dass
mittlerweile 43 Prozent aller Frühverrentungen aufgrund

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620506


(A) (C)



(B) (D)


von psychischen Erkrankungen erfolgen . Das heißt, es
sind nicht mehr die kaputten Knochen oder Herz-Kreis-
lauf-Erkrankungen, sondern psychische Erkrankungen,
die für 43 Prozent der Frühverrentungen verantwortlich
sind. Unser Schlüssel, dieses Problem anzugehen, ist die
Stärkung der Schwerbehindertenvertretungen in den Be-
trieben und der Verwaltung .

Wer sagt, dieses Gesetz sei nicht sein Gesetz, der
verhindert, dass bei der Anrechnung von Vermögen bei
70 000 Menschen, die Erwerbsarbeit leisten, massive
Verbesserungen stattfinden. Die Vermögensgrenze wird
von derzeit 2 600 Euro auf 50 000 Euro angehoben wird .
Das ist die Perspektive bis 2020. Wichtig ist, dass die
Ehepartnerinnen und Ehepartner von der Mitfinanzie-
rung befreit werden und für die 300 000 Menschen in den
Werkstätten das Arbeitsfördergeld verstärkt wird . Auch
deren Recht auf ein Sparbuch wird gestärkt . Wer sagt,
dass das nicht sein Gesetz sei, der gibt den Menschen, die
betroffen sind, kein Brot, sondern Steine.

Deshalb ist es so wichtig, dass wir dieses Gesetz heute
verabschieden und einen Prozess starten. Wir sind nicht
am Ende, sondern wir haben jetzt einen wichtigen Pro-
zess mit dem Teilhabegesetz gestartet . Dadurch werden
Türen geöffnet, und die Räume werden weiter ausgestal-
tet . Das Gesetz zeugt von einer lebendigen Demokratie –
es gab vielfältige Aktionen im Parlament und außerhalb
des Parlaments – und von selbstbewussten Abgeordne-
ten . Es zeigt, dass die Teilhabe behinderter Menschen
in allen Facetten des Lebens unumkehrbar von heute an
vorangeht .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820605500

Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die

Kollegin Kerstin Tack .


(Beifall bei der SPD)



Kerstin Tack (SPD):
Rede ID: ID1820605600

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte
auf einige der hier gemachten Aussagen gerne einge-
hen . Der Kollege Bartsch, der nicht mehr hier ist, weil er
schon andere Aufgaben wahrnimmt – das hätte man auch
anders machen können; aber so ist es –,


(Dr. Sahra Wagenknecht [DIE LINKE]: Unglaublich!)


war der Meinung, dass in diesem Gesetz die Finanzen
nicht hinreichend berücksichtigt würden . Wer sich hier-
hinstellt und das macht, der haut den Kommunen und den
Ländern richtig einen vor den Latz .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Vielleicht hat er es nicht gewusst, vielleicht woll-
te er, dass es so kommt . Das wissen wir nicht; denn er
ist nicht mehr da . Danach können wir ihn nicht fragen .
Die Eingliederungsleistungen zahlen nicht wir, sondern
die Kommunen und die Länder . Wer sagt, dass da nicht
ordentlich Geld investiert würde, bezieht seine eigenen
Kommunen und auch sein Land massiv in die Kritik ein .

Ich hoffe, dass er noch hört, dass er sich an dieser Stelle
ein bisschen verrannt hat, wenn er das zum Thema macht .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Frau Kollegin Werner, von Ihnen hätte ich erwartet,
dass Sie ein bisschen tiefer in der Materie sind . Wenn
Sie sich hierhinstellen und einen aktuellen Fall der Leis-
tungsgewährung in einer Stadt in Baden-Württemberg
mit dem Hinweis auf ein Gesetz, das in drei Jahren in
Kraft tritt, schildern, dann haben Sie sich, finde ich, mas-
siv verrannt .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Die heutige Praxis der Leistungsgewährung ist über-
all komplett unterschiedlich . Das macht uns allergrößte
Sorge . Deshalb machen wir in unserem Gesetz bundes-
einheitliche Kriterien für genau diese Bedarfsermittlung .
Wir stärken die Rechte . Endlich werden wir es hinbe-
kommen, dass wir im Gesamtplanverfahren die Betrof-
fenen an den Tisch holen . Wir stärken ihre Beratung,
und sie können ihre Vertrauenspersonen zur Beratung
mitnehmen . Das wird die neue Gewährungspraxis sein,
wenn wir in drei Jahren dieses Gesetz haben . Aber zu
meinen, man könnte mit einem heutigen Fall mit Verweis
auf ein Gesetz, das in drei Jahren in Kraft tritt, argumen-
tieren, ist nicht in Ordnung .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Frau Kollegin Rüffer und Frau Göring-Eckardt, es ist
wirklich nicht in Ordnung, wenn man sich hierhinstellt
und sagt: Ich verwende meine Redezeit darauf, über ei-
nen Entwurf zu reden, und rede nicht über das, was heute
eigentlich zur Abstimmung steht . Wenn das das Ziel Ihrer
Rede ist, dann will ich sehr deutlich sagen: Das ist eine
Missachtung der Parlamentarierinnen und Parlamentari-
er,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Peinlich! Jetzt dürfen wir nicht einmal mehr über Entwürfe reden!)


die sich in den letzten Wochen hier sehr massiv genau da-
mit beschäftigt haben . Wenn jemand sagt, ich rede über
etwas, was heute gar nicht zur Abstimmung steht, finde
ich, dass das nicht redlich ist .

Frau Kollegin Rüffer, wenn Sie sagen, da seien Ver-
schlechterungen in dem Gesetz für die betroffenen Men-
schen: Was für eine Verantwortungslosigkeit werfen Sie
denn den Grünen in den Ländern vor, die genau diese
angeblich großen Verschlechterungen in zwei Wochen
hier mit auf den Weg bringen werden?


(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Grünen in den Ländern haben doch dafür gekämpft, dass die Verbesserungen im Gesetz drinstehen!)


Deshalb finde ich, dass das nicht in Ordnung ist.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Uwe Schummer

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20507


(A) (C)



(B) (D)


Sie sagen, Ihre Kolleginnen und Kollegen in den Län-
dern hätten eine große Verantwortungslosigkeit an den
Tag gelegt, weil sie Ihnen an dieser Stelle nicht folgen .


(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, ich habe gesagt, die Grünen in den Ländern haben dafür gesorgt, dass diese Probleme an manchen Stellen gelöst worden sind!)


Da muss man sich sehr genau überlegen, wie man hier
an diesem Redepult agiert und wie man es gerade nicht
tut . Ich glaube, da haben Sie Ihren Kollegen in den Län-
dern heute keinen guten Dienst erwiesen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Für uns ist ganz entscheidend, dass wir das Selbstbe-
stimmungsrecht der Menschen stärken, und das in der
Tat nicht nur bei dem Einkommen und Vermögen – das
ist hier schon ganz viel gesagt worden –, sondern gera-
de auch mit der Erhöhung des Vermögensfreibetrages in
der Grundsicherung. Das betrifft nicht nur Menschen mit
Behinderung, sondern das betrifft jeden in Deutschland,
unabhängig von der Frage, ob er eine Behinderung hat
oder nicht . Das sind 2 Millionen Menschen in Deutsch-
land. Für diese Personengruppen werden wir den Frei-
betrag von heute 2 600 Euro auf 5 000 Euro erhöhen .
Das ist eine echte sozialpolitische Leistung, von der über
das Bundesteilhabegesetz auch andere profitieren, auch
wenn sie keine Beeinträchtigung haben . Wir halten das
für eine richtig wichtige Maßnahme .


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU])


Zu der Schwerbehindertenvertretung hat Kollege
Schummer schon erläutert, was jetzt alles im Gesetz steht .
Aber ich will auch sehr deutlich sagen: Für die SPD ist
die Stärkung der Schwerbehindertenvertretung ein rich-
tig wichtiges Anliegen . Es bleibt auch ein Anliegen in der
nächsten Legislatur, die Stärkung weiter voranzutreiben .
Mit der heute erreichten Unwirksamkeit der Kündigun-
gen sind wir noch nicht hinreichend einverstanden . Wir
wollen mehr .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir glauben auch, dass dieses Gesetz ein erster wich-
tiger Schritt auf dem Weg zur weiteren Umsetzung der
UN-Behindertenrechtskonvention ist . Aber es müssen
weitere Schritte folgen .


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach ja? Interessant!)


Wir wollen ganz selbstverständlich, dass wir bei der
Einkommens- und Vermögensanrechnung zu einer vol-
len Freistellung kommen .


(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann machen Sie es! Warum haben Sie es nicht gemacht?)


Deshalb muss es an dieser Stelle weitergehen .

Wir möchten den inklusiven Arbeitsmarkt weiter stär-
ken, die Rolle der Werkstätten in diesem System noch
einmal deutlicher unter die Lupe nehmen und ihnen auch
künftig eine Rolle zuweisen .

Wir möchten – ich glaube, es war Frau Reimann, die
das auch im Bereich der Schnittstelle zur Pflege gesagt
hat –, dass auch Menschen mit Behinderung, die in voll-
stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe leben,
die Beiträge an die Pflegeversicherung gezahlt haben,
die heute aber die einzige Gruppe in Deutschland sind,
die keine Leistungen der Versicherungen bekommen, alle
Leistungen der Pflegeversicherung erhalten, wie sie auch
Menschen außerhalb von vollstationären Einrichtungen
bekommen . Das wird noch eine Aufgabe der nächsten
Legislatur sein, das tatsächlich auf den Weg zu bringen,
und die entsprechenden Mittel für die Pflegeversicherung
zu kompensieren .


(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum stand denn da drin, dass Sie die ausweiten wollen?)


In diesem Sinne freue ich mich, dass wir hier heute
den ersten großen Schritt gehen . Weitere werden folgen .

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820605700

Vielen Dank . – Jetzt hat die Kollegin Gabriele

Schmidt, CDU/CSU-Fraktion, das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Gabriele Schmidt (CDU):
Rede ID: ID1820605800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Zuhörer und Zuseher im Bundestag! Das Bun-
desteilhabegesetz ist für mich mit das wichtigste sozial-
politische Vorhaben dieser Legislaturperiode . Jeder von
uns wünscht sich ein selbstbestimmtes und erfülltes Le-
ben . Mit der Reform der Eingliederungshilfe werden wir
dazu beitragen, dass dies endlich auch für Menschen mit
Behinderung gelingt . Das Gesetz wird ihre Lebenssitua-
tion in vielen Bereichen deutlich verbessern, egal wie oft
das hier bestritten wird .

Das Gesetzgebungsverfahren – dazu zählen auch die
Vorarbeit und die Beteiligung Betroffener in der Arbeits-
gruppe „Bundesteilhabegesetz“ und die Mitwirkung von
Kommunen, Ländern, Verbänden – war gekennzeichnet
von Transparenz und Mitbestimmung . Alle hatten und
haben das gemeinsame Ziel, Teilhabe und Selbstbestim-
mung von Menschen mit Behinderungen weiter zu stär-
ken .

Dass die Regierung zugehört und entsprechend gehan-
delt hat, sieht man an den vielen Änderungen und Ver-
besserungen, die über die Monate Eingang in das vorlie-
gende Gesetz gefunden haben . Das geschah zum größten
Teil in enger Abstimmung mit den Verbänden und den
Betroffenen. Es handelte sich um einen Prozess, und die-
ser Prozess wird fortgeführt. Einzelne Regelungen wer-
den evaluiert und da, wo nötig, nachgebessert .

Kerstin Tack

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620508


(A) (C)



(B) (D)


Nachbesserung gibt es beim Zugang zur Eingliede-
rungshilfe . Die zu Recht kritisierte Fünf-aus-neun-Rege-
lung wurde gestrichen – Kollegin Dr . Freudenstein hat
das im Detail erklärt –; ein ganz wichtiger Punkt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Verbesserungen gibt es auch für Werkstattbeschäftigte
mit der Verdoppelung des Arbeitsförderungsgeldes . Da-
von profitieren viele geistig behinderte Menschen, und
der Bund und die Länder stellen nochmals 125 Millionen
Euro bereit . Es handelt sich um eine Gruppe von Men-
schen, die unseren besonderen Schutz brauchen, den wir
ihnen gewähren wollen .

Gerade war wieder die Rede von der Schnittstelle
zwischen Eingliederungshilfe, Pflegeversicherung und
Hilfe zur Pflege. Auch hier wurde nachjustiert. Was für
mich persönlich sehr wichtig ist – nicht nur für Frau Tack
und die SPD –, ist die Stärkung des Schwerbehinderten-
rechts . Ab 100 schwerbehinderten Menschen in einem
Unternehmen wird die Vertrauensperson für die Arbeit
freigestellt . Dass die Kündigung eines Schwerbehinder-
ten ohne die Beteiligung der Vertretung unwirksam ist,
war wirklich überfällig; auch das steht jetzt im Gesetz .

Ich habe in Gesprächen mit der Schwerbehinderten-
vertretung des Landratsamtes Waldshut, immerhin der
größte Arbeitgeber in meiner Region, gehört, dass die
Kollegen dort insbesondere mehr Zeit für ihre Arbeit
brauchen . Sie brauchen mehr personelle Unterstützung
und auch mehr und breitere Weiterbildungen . Genau die-
sen Wünschen tragen wir mit dem Gesetz Rechnung .

Da leider gerade Frauen mit Beeinträchtigungen, die
in Einrichtungen der Behindertenhilfe arbeiten oder le-
ben, besonders häufig Opfer von Gewalt sind, gibt es
künftig in jeder Werkstatt eine Frauenbeauftragte . Insge-
samt werden die Rechte und damit die Mitbestimmung
der Vertreter der Beschäftigten in Werkstätten für behin-
derte Menschen in den Werkstatträten gestärkt .

Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass mit der Reform
mehr Übergänge in Arbeit geschaffen werden sollen.
Mit dem Budget für Arbeit werden bestehende Beschäf-
tigungsangebote sinnvoll ergänzt, und das Recht auf
Rückkehr in die Werkstatt bleibt dabei unangetastet . Ge-
nau damit wird an dieser Stelle das Wunsch- und Wahl-
recht der Menschen mit Behinderung gestärkt . Von den
rund 15 000 Neuzugängen in den Werkstätten sind fast
13 000 Menschen mit psychischen Behinderungen . Sie
fühlen sich in diesen Werkstätten oft fehlplatziert . Für sie
kann das Budget für Arbeit eine gute Möglichkeit sein,
wieder auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen .

Damit chronische Erkrankungen nicht erst entstehen
und die Erwerbsfähigkeit erhalten bleibt, sollen Präven-
tivmaßnahmen ergriffen werden. Damit sind wir wieder
bei den Schwerbehindertenvertretungen, denen eine
Schlüsselrolle in diesem Bereich zukommt . Die Träger
von Rehamaßnahmen werden verpflichtet, drohende Be-
hinderungen frühzeitig zu erkennen und gezielt zu han-
deln .

Jeder von uns hat leidvolle Erfahrungen mit dem
Dschungel an Vorschriften, Gesetzen und entsprechen-

den Formularen . Wir wollen dem entgegenwirken mit
dem Teilhabeplanverfahren und der „Hilfe wie aus einer
Hand“, von der wir ja auch schon gehört haben . Das ist
definitiv eine deutliche Verbesserung gegenüber der jet-
zigen Situation . Das gilt auch dafür, dass in Beratungs-
stellen gezielt mehr Menschen mit Behinderung tätig
sein sollen .

Die weitere zentrale Änderung ist die Anhebung von
Einkommens- und Vermögensfreigrenzen bei der Ein-
gliederungshilfe . Menschen, die ihr Geld selbst verdie-
nen, sollen auch etwas davon haben . Ein ganz wichtiges
Anliegen der Union ist dabei die Abschaffung der Heran-
ziehung von Ehe- und Lebenspartnern .

Sie sehen also: Es sind grundlegende Reformen, die
wir gemeinsam anstoßen . Die eigentliche Kraftanstren-
gung, die Umsetzung, liegt aber noch vor uns . Gemein-
sam mit Ländern, Kommunen und den Betroffenen sowie
deren Vertretern wird es uns gelingen, diese gemeinsame
Kraftanstrengung auch zum Erfolg zu führen . Das ist
meine Überzeugung .

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820605900

Vielen Dank . – Die letzte Rednerin zum diesem Ta-

gesordnungspunkt ist die Kollegin Jutta Eckenbach,
CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Jutta Eckenbach (CDU):
Rede ID: ID1820606000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer wie

ich seit über 20 Jahren mit Menschen mit Behinderungen
zu tun hat – das habe ich auch im Landschaftsverband
Rheinland seit vielen Jahren – und heute Morgen die ers-
te Rede von Herrn Bartsch gehört hat, der kann nur sa-
gen: Wir müssen ein verdammt gutes Gesetz auf den Weg
gebracht haben, dass sich die Opposition heute hier mit
so populistischen Argumentationen aus der Mottenkiste
hinstellt . Verdammt noch mal, wir waren gut mit unse-
rem Gesetz – ich bin sehr damit zufrieden – und werden
es heute auf den Weg bringen .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Frau Göring-Eckardt, auch Sie habe ich nicht verstan-
den: Gerade die Koalitionsfraktionen haben doch viele
Gespräche mit den Menschen, mit den Betroffenen ge-
führt; ich denke, da spreche ich auch für meine Kolle-
ginnen und Kollegen der SPD. Es ist nicht so, dass wir
nicht mit den Betroffenen gesprochen hätten. Und dieje-
nigen, mit denen wir im Vorfeld gesprochen haben, ha-
ben uns vielfach aufgezeigt, wo die Schwachstellen sind .
Wir haben dann diese Hinweise aufgenommen . Dieses
umfangreiche Paket an Änderungen haben wir heute
Morgen eingebracht . Ich glaube, das zeigt, dass die Koa-
litionsfraktionen gewissenhaft, ernsthaft und sehr zielge-
richtet mit diesem Gesetzgebungsverfahren umgegangen
sind . Uns an dieser Stelle quasi menschenunwürdiges
Verhalten vorzuwerfen, ist, finde ich, eine schiere Un-

Gabriele Schmidt (Ühlingen)


Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20509


(A) (C)



(B) (D)


verschämtheit . Das sage ich Ihnen ganz ehrlich . Das hat
mich schon sehr aufgeregt .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich will noch einmal auf die Gespräche zu sprechen
kommen, die ich geführt habe, und möchte mich dafür
bei den Menschen, bei vielen Verbänden, bei Firmen, bei
Einrichtungen und bei den Behinderten selbst bedanken .

Was mich ein bisschen schockiert hat – lassen Sie
mich das an dieser Stelle auch sagen –, ist, mit wie vie-
len Falschinformationen wir bei diesem Gesetzgebungs-
verfahren zu tun hatten und wie viel Verunsicherung wir
auch unter die Menschen gebracht haben . Das schadet
der Demokratie . Was wollten wir? Wollten wir die Men-
schen einfach nur auf die Palme bringen, oder wollten
wir mit ihnen reden und gemeinsam etwas nach vorne
bringen?


(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat sie denn auf die Palme gebracht?)


Ich glaube, das ist uns doch sehr gut gelungen . Es ist
richtig, dass wir einen Paradigmenwechsel vornehmen.
Das sehe ich als mit das Wichtigste bei diesem Gesetz
an . Wir gehen dieses Mal von den Stärken der Menschen
aus, und nicht von ihren Schwachstellen, Frau Rüffer.
Wir nehmen die Stärken ernst . Wer insbesondere mit
den Landschaftsverbänden in Nordrhein-Westfalen bei
diesem Thema zu tun hat, der weiß, dass das dort seit
vielen Jahren in diese Richtung geht . Dort haben wir mit
Werkstätten sehr gute Erfahrungen gemacht; wir haben
auch schwerstbehinderte Menschen in Werkstätten unter-
gebracht und tun ganz viel für psychisch erkrankte Men-
schen .

Aber das ist nicht in ganz Deutschland so . Insofern ist
es richtig, dass wir hier im Bundestag die Rahmenbedin-
gungen festlegen, die von den Ländern und den Kommu-
nen ausgefüllt werden können . Ich bin sehr darauf ge-
spannt, wie diese Umsetzung in den Ländern letztendlich
erfolgt . Darauf warte ich; denn es ist noch einiges zu tun
in Deutschland . Die Rahmenbedingungen sind von uns
im Deutschen Bundestag festgelegt . Das kann man nur
weiterhin begrüßen .

Ich möchte gerne noch auf einen Bereich eingehen,
der mir auch wichtig war, der aber gar nicht so sehr im
Fokus gestanden hat. Wenn Sie mit den betroffenen Men-
schen, die in Werkstätten arbeiten, gesprochen haben,
haben Sie erfahren, dass es ihnen immer darum ging:
Warum bekommen eigentlich andere Menschen mit Be-
hinderungen Freibeträge, können mehr Geld behalten?
Wir bekommen nichts . – Das war eine große Diskussion .

Wir haben es geschafft – da bin ich der Politik und der
Koalition wirklich ausgesprochen dankbar –, nach fast
fünf Jahren auch die Mittel für Menschen in Werkstätten
deutlich zu erhöhen – es hätte vielleicht noch ein biss-
chen mehr sein können, aber wir arbeiten daran –; auch
die Freibeträge wurden erhöht, um fast 100 Prozent. Ich
denke, das wird immer ein wenig vergessen und geht
unter . Aber für die Menschen in Werkstätten ist das ein
wichtiger Beweis der Wertschätzung . Deswegen danke
ich hier wirklich noch einmal der Koalition .

Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas sagen, das
bisher noch gar nicht zur Sprache gekommen ist . Ich
möchte es gern in leichter Sprache zusammenfassen:

Erstens . Die Eingliederungshilfe ist auch heute schon
sehr gut .

Zweitens . Das neue Gesetz bringt viele Verbesserun-
gen .

Drittens. Wenn wir das neue Gesetz in den Papierkorb
geworfen hätten, würde es auch die guten Vorschläge
nicht geben .

Viertens . Die schlechteren Ideen haben wir verbessert
und korrigiert .

Fünftens . Das Gesetz ist also gut für Menschen mit
Behinderungen .

Sechstens . Wenn etwas trotzdem nicht gut funktionie-
ren wird, werden wir es später verbessern .

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820606100

Vielen Dank . – Damit sind wir am Ende dieser Debat-

te angekommen .

Wir kommen zur Abstimmung über Tagesordnungs-
punkt 3 a . Es geht um den von der Bundesregierung ein-
gebrachten Gesetzentwurf zur Stärkung der Teilhabe und
Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen .

Zu dieser Abstimmung liegen zahlreiche Erklärungen
nach § 31 Absatz 1 unserer Geschäftsordnung vor .1)

Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 18/10523, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf den Drucksachen 18/9522 und 18/9954 in der Aus-
schussfassung anzunehmen . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wol-
len, um das Handzeichen . – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ge-
gen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen .

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist damit in dritter Lesung mit dem gleichen
Stimmenverhältnis angenommen .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD auf Drucksache 18/10528. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen

1) Anlage 2

Jutta Eckenbach

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620510


(A) (C)



(B) (D)


von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke angenommen .

Vielen Dank für die Debatte . Wir sehen, wir haben
heute alle möglichen Abstimmungsverhältnisse . Die De-
batte war lebhaft, aber notwendig .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir setzen jetzt die Abstimmungen über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und So-
ziales fort .

Tagesordnungspunkt 3 b . Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und So-
ziales auf Drucksache 18/10523 . Der Ausschuss emp-
fiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung
die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/10014 mit dem Titel „Das Teilhaberecht
menschenrechtskonform gestalten“ . Wer stimmt für die-
se Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Opposition angenommen .

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchsta-
be c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 18/9672 mit dem Titel „Mit dem Bundesteilha-
begesetz volle Teilhabe ermöglichen“ . Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Opposition angenommen .

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b auf:

a) – Zweite und dritte Beratung des von der
Bundesregierung eingebrachten Ent-
wurfs eines Dritten Gesetzes zur Stär-
kung der pflegerischen Versorgung und
zur Änderung weiterer Vorschriften

(Drittes Pflegestärkungsgesetz – PSG III)


Drucksachen 18/9518, 18/9959, 18/10102
Nr. 19

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Gesundheit (14 . Ausschuss)


Drucksache 18/10510


(8 . Ausschuss)


Drucksache 18/10511

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(14 . Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Pia
Zimmermann, Sabine Zimmermann

(Zwickau), Matthias W . Birkwald, weiterer

Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Pflege teilhabeorientiert und wohnortnah
gestalten

– zu dem Antrag der Abgeordneten Elisabeth
Scharfenberg, Kordula Schulz-Asche, Maria

Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Pflege vor Ort gestalten – Bessere Bedin-
gungen für eine nutzerorientierte Versor-
gung schaffen

Drucksachen 18/8725, 18/9668, 18/10510

Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen vor .

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 77 Minuten vorgesehen . – Ich sehe kei-
nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .

Ich bitte Sie, die Plätze einzunehmen; denn dann
könnte ich die Aussprache eröffnen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bun-
desregierung hat die Parlamentarische Staatssekretärin
Ingrid Fischbach . – Bitte schön .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


I
Ingrid Fischbach (CDU):
Rede ID: ID1820606200


Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube,
wir haben heute etwas geschafft, was uns zu Beginn der
Legislaturperiode sicherlich niemand zugetraut hätte .


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Richtig!)


Wir haben heute das zum Abschluss gebracht, was wirk-
lich den Namen „Reform“ verdient. Wir haben eine Pfle-
gereform auf den Weg gebracht, die mit dem Pflegestär-
kungsgesetz I, dem Pflegestärkungsgesetz II und heute
mit dem Pflegestärkungsgesetz III in drei Stufen endlich
das umsetzt, was sich all die, die Pflege benötigen, und
diejenigen, die pflegen – sowohl hauptamtlich als auch
ehrenamtlich –, gewünscht haben, was sie brauchen, was
sie benötigen . Deswegen können wir stolz darauf sein,
dieses Gesetz heute zum Abschluss zu bringen .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir haben mit dem Pflegestärkungsgesetz I einen
Bereich in Angriff genommen, der – schauen wir uns
die Zahlen an – der wichtigste ist: die Pflege zu Hause,
ambulant vor stationär. Wir haben mit dem PSG I alles
getan, um denjenigen, die zu Hause pflegen oder die ge-
pflegt werden, Verbesserungen zu bringen. Wir haben die
Anzahl der Betreuungskräfte für die stationären Einrich-
tungen deutlich erhöht . Auch das ist angekommen . Das
sagen alle, die damit zu tun haben . Wir haben endlich das
gemacht, was wir immer wollten, nämlich Flexibilität in
der Angebotsvielfalt. Das heißt, Pflege ist individuell,
und deswegen muss auch die Angebotsannahme indivi-
duell sein. Das haben wir mit dem PSG I geschafft.

Mit dem PSG II ist etwas verabschiedet worden, was
zehn Jahre diskutiert wurde, wovon auch niemand glaub-
te, dass wir es zu Ende bringen, nämlich endlich den neu-
en Pflegebedürftigkeitsbegriff einzuführen. Heute in ei-
nem Monat wird es so weit sein . Ab 1 . Januar 2017 ist die

Vizepräsidentin Ulla Schmidt

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20511


(A) (C)



(B) (D)


Leistung unabhängig davon, ob jemand eine körperliche
oder eine geistige oder eine psychische Beeinträchtigung
hat. Das spielt keine Rolle mehr. Alle Pflegebedürftigen
werden dann Zugriff auf die Pflegeleistungen haben, un-
abhängig von der Art ihrer Beeinträchtigung . Ich glaube,
das ist ein guter, wichtiger Schritt und eine große Hilfe
für die Menschen, die zu Hause demenziell Erkrankte ha-
ben und pflegen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, der Sechste Pflegebericht,
der Mitte Dezember im Kabinett verabschiedet wird, wird
zeigen, dass die Maßnahmen, die wir mit dem PSG I auf
den Weg gebracht haben, gut angenommen werden . Aber
wir wissen auch: Das PSG II und auch das PSG I können
sich nur voll entfalten, wenn die Maßnahmen, die wir be-
schlossen haben, vor Ort umgesetzt werden . Deswegen
ist es wichtig – aller guten Dinge sind drei –, dass wir
heute mit dem Pflegestärkungsgesetz III die Orte in den
Blick nehmen, die wichtig sind, nämlich die Kommunen,
das heißt die Situation in den Stadtteilen, in den Fami-
lien, in den WGs, dort, wo die Pflege stattfindet. Dazu
brauchen wir die Kommunen vor Ort . Deswegen ist es
gut, dass wir das heute mit dem PSG III zum Abschluss
bringen .

Meine Damen und Herren, Pflege muss passgenau und
individuell gestaltet sein, aber sie braucht dafür ein gut
gestaltetes Umfeld, damit die Möglichkeiten dann auch
in Anspruch genommen werden können . Sie braucht en-
gagierte Dienste, Einrichtungen, Menschen, die helfen .
Sie braucht aber auch kommunal Verantwortliche, die
sich dieses Themas annehmen und sagen: Wir wollen,
dass die Menschen in unserer Stadt das bestmögliche An-
gebot bekommen . – Es gibt viele Angebote . Sie müssen
besser koordiniert werden; es muss kooperiert werden .
Dazu brauchen wir die Kommunen . Sie müssen dafür
da sein, gute, starke Ideen, die die Beteiligten haben, zu
vernetzen, sodass alle Beteiligten, vor allen Dingen die-
jenigen, die gepflegt werden müssen, die bestmöglichen
Angebote bekommen .

Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Stärkung der
Rolle der Kommunen in der Pflege hat lange getagt. Sie
hat sich mit vielen Themen auseinandergesetzt, etwa mit
der Sicherstellung der Versorgung, mit niederschwelli-
gen Angeboten – das ist ganz wichtig, auch wenn es da-
rum geht, kurzfristig kleine Entlastungen für diejenigen,
die pflegen, anzubieten – sowie mit der Beratung; das ist
ein ganz wichtiges Stichwort; denn ich glaube, vielen ist
noch gar nicht bewusst, welche Möglichkeiten sie haben .
Aber auch Stichworte wie altersgerechtes Wohnen sowie
Ehrenamt und Selbsthilfe waren in der Bund-Länder-Ar-
beitsgruppe ein Thema .

Aus diesen fünf Themenfeldern sind über 60 Emp-
fehlungen entstanden, die umgesetzt werden und auch
umgesetzt werden müssen . Wir erweitern jetzt mit dem
PSG III – das ist unser Ziel, und das bringen wir jetzt auf
den Weg – die Handlungsfelder der Kommunen, indem
wir zum Beispiel die Pflegekassen zur Beteiligung an re-
gionalen Pflegekonferenzen verpflichten. Es ist wichtig,
dass sie wirklich zusammenarbeiten . Wir ermöglichen

den Kommunen aber auch, sich an der Bereitstellung
niederschwelliger Angebote zu beteiligen, und geben
ihnen die Möglichkeit, diese zu verbessern . Das ist ein
ganz wichtiger Punkt. Wir geben den Kommunen nun die
Möglichkeit, stärker die Initiative zu ergreifen und neue
Pflegestützpunkte zu errichten. Im Rahmen von 60 Mo-
dellvorhaben haben sie die Möglichkeit, das anzugehen
und auszuprobieren, was nötig ist, nämlich die Beratung
aus einer Hand. Ich glaube, das ist etwas, was die Pfle-
gebedürftigen und die Familien brauchen: Beratung aus
einer Hand .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, wir brauchen nieder-
schwellige Angebote . Dazu müssen wir sowohl das Eh-
renamt als auch – das ist genauso wichtig – die Selbsthil-
fe vor Ort stärken . Auch diese Möglichkeiten bietet das
PSG III. Auch bei den altersgerechten Wohnmöglichkei-
ten müssen wir neue Wege gehen, entsprechende Ange-
bote fördern und ausbauen, sodass sie individuell nutzbar
sind .

Pflegebedürftige, die finanziell bedürftig sind, sollen
ebenfalls von der Einführung des neuen Pflegebedürf-
tigkeitsbegriffs profitieren und sich darauf verlassen
können, dass sie sicher und zuverlässig die Hilfe und
Unterstützung bekommen, die notwendig ist . Wir lösen
damit einmal mehr unser Versprechen ein, dass niemand
alleingelassen wird, der Pflege braucht. Es ist wichtig,
dass die Gemeinschaft zusammensteht und wir die Men-
schen nicht alleinlassen, sie keine Sorgen und Angst ha-
ben müssen .

Diejenigen, die gepflegt werden, und diejenigen, die
pflegen, brauchen aber auch eine ehrliche Pflege. Das
heißt, Vertrauen spielt eine ganz große Rolle . Deswegen
habe ich schon bei der Einführung in dieses Gesetz deut-
lich gemacht: Es gibt wenige schwarze Schafe, die die
Leute – ich sage es mal so – wirklich abzocken . Das kann
es nicht sein. Deswegen bringen wir mit dem PSG III
Verbesserungen bei den Kontrollen auf den Weg, damit
die Missstände, die aufgetreten sind und aufgezeigt wur-
den, nicht wieder auftreten können . Ich glaube, auch das
ist ein ganz wichtiger Punkt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff, liebe Kol-
leginnen und Kollegen, werden pflegerische Betreuungs-
leistungen zukünftig Regelleistungen der Pflegeversi-
cherung . Das ist eine Erweiterung, die notwendig ist . Es
war dadurch aber auch nötig, dass wir das Verhältnis von
Eingliederungshilfe und Pflegeversicherung im PSG III
regeln . Wir brauchen gute Regelungen zum Verhältnis
der beiden Systeme .

Und wir sind auch lernfähig: Wir haben den Gesetzent-
wurf anders eingebracht, als er heute vorliegt . Ich nenne
das Stichwort der Gleichrangigkeit der beiden Leistungs-
systeme . Es hat sich im Rahmen der Beratungen ergeben,
dass wir bei der Gleichrangigkeit beider Leistungssyste-
me im häuslichen Umfeld bleiben . Gleichzeitig schärfen
wir aber auch die Verpflichtung zur Zusammenarbeit der

Parl. Staatssekretärin Ingrid Fischbach

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620512


(A) (C)



(B) (D)


Leistungsträger, wenn Menschen auf Leistungen beider
Systeme angewiesen sind . Die Menschen sollen nicht
leiden . Sie müssen das bekommen, was sie brauchen . Sie
müssen nicht den Zank und Streit beider Systeme ausba-
den . Das muss im Vorfeld geklärt werden, und das haben
wir mit diesem Gesetz auch auf den Weg gebracht .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Meine Damen und Herren, Norbert Blüm hat vor
21 Jahren, als er die Pflegeversicherung eingeführt hat,
gesagt: Auch bei der Pflegebedürftigkeit lassen wir euch
nicht alleine. Er hat recht gehabt. Mit unseren Pflegestär-
kungsgesetzen – mit dem heutigen schließen wir die Rei-
he ab – zeigen wir den Menschen, dass wir verstanden
haben, was wir tun müssen . Diese Reform war mehr als
überfällig . Sie ist ein guter und wichtiger Schritt .

Ich möchte mich am Ende meiner Rede bei den vie-
len Kollegen bedanken, die tatkräftig bei der Erarbeitung
dieses Gesetzes mitgeholfen haben . Wir haben eine gro-
ße Anzahl von Berichterstattergesprächen geführt . Des-
wegen gilt zunächst mein Dank den Berichterstattern
Mechthild Rawert, Erwin Rüddel und Erich Irlstorfer,
die immer wieder mitgeholfen haben, aber auch den
Sprecherinnen Hilde Mattheis und Maria Michalk . Die
stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Karl Lauterbach
und Georg Nüßlein haben am Ende auch noch einmal
mitgeholfen, das Ganze auf den Weg zu bringen . Aber
das Ganze geht natürlich nur, wenn wir gute Mitarbei-
terinnen und Mitarbeiter haben . An Sie in den Büros ein
herzliches Dankeschön dafür, aber auch an das Haus; ich
habe Frau Kraushaar, Leiterin der Abteilung 4, hier sit-
zen sehen . Allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein
ganz herzliches Dankeschön für die Unterstützung und
natürlich auch meinem Kollegen Staatssekretär Karl-Jo-
sef Laumann . Es wurde Tag und Nacht gearbeitet, am
Schluss sogar an Wochenenden, an Samstagen und Sonn-
tagen . Ich sage: Es hat sich gelohnt . Dieses Gesetz ist es
wert, dass wir es verkünden und leben lassen . Die Men-
schen haben es verdient .

Ich danke für die gute Zusammenarbeit und hoffe auf
eine gute Wirkung unserer Gesetze .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1820606300

Sabine Zimmermann hat als nächste Rednerin das

Wort für die Fraktion Die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Sabine Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1820606400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Sie überkleben erneut die Probleme der Pfle-
geversicherung mit Pflästerchen, statt endlich die struk-
turellen Ursachen zu beseitigen . Das hat schon bei den
Vorgängergesetzen nicht funktioniert, und das wird auch
dieses Mal nicht funktionieren .


(Beifall bei der LINKEN)


Die zentralen Probleme gehen Sie nicht an.

Unverändert wird nur ein Teil der Pflegekosten über-
nommen und nicht die Gesamtkosten, die den pflegebe-
dürftigen Menschen tatsächlich entstehen. Pflegebedürf-
tig zu werden, bedeutet heute ein hohes Armutsrisiko .
Eigenanteile für die Pflege können leicht Hunderte Euro
pro Monat ausmachen . Wer kann sich das alles leisten?
400 000 Menschen brauchen schon jetzt die Hilfe zur
Pflege, die sogenannte Sozialhilfe.

Auch für die Beschäftigten in der Pflege tun Sie
nichts. In einem Pflegeheim in Saarbrücken arbeitet Uwe
seit zehn Jahren als Altenpfleger. Er sagt mir: Durch die
bisherigen gesetzlichen Veränderungen hat sich seine Ar-
beitssituation nicht verbessert . Er betreut auf zwei Eta-
gen 40 Bewohnerinnen und Bewohner, davon 20 in der
Grundversorgung, und das umfasst alles: von der Kör-
perpflege über die Ernährung bis hin zu den nicht medizi-
nischen, pflegerischen Tätigkeiten. Für die anderen 20 ist
er nur – ich sage: „nur“ – für die Medikation und die Ver-
bände usw. zuständig. Das ist Pflege im Minutentakt und
im Dauerlauf, sagt Uwe . Leider seien bei diesem Stress
Pflegefehler zum Alltag geworden. 2 000 Euro netto ver-
dient er mit allen Zulagen im Schichtsystem, und er ist
noch einer der Besserverdienenden im Haus .

Und da wundern Sie sich, meine Damen und Herren,
wenn immer weniger junge Menschen Pflegeberufe er-
lernen wollen?


(Mechthild Rawert [SPD]: Unseren Änderungsantrag lesen, bitte!)


Im angesprochenen Heim konnte keiner der Ausbil-
dungsplätze besetzt werden . Dieser Beruf bedeutet hohe
psychische Belastungen, erhöhte Burn-out-Raten, psy-
chosomatische Erkrankungen und Rückenbeschwerden .
Viele Altenpflegerinnen und -pfleger steigen deshalb ir-
gendwann aus, zu viele während oder unmittelbar nach
der Ausbildung, und daran wird Ihr Gesetz nichts ändern .

Die Linke sagt: Je mehr qualifizierte und gut bezahlte
Pflegekräfte, umso besser für die Pflege.


(Beifall bei der LINKEN – Mechthild Rawert [SPD]: Richtig! Deswegen geben wir ja auch mehr Geld!)


Allein aus Kostengründen scheuen Sie aber davor zu-
rück, gewisse Standards festzulegen .


(Mechthild Rawert [SPD]: Das ist eindeutig falsch!)


Die Linke fordert: Pflegeberufe müssen aufgewertet wer-
den, und das sofort .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das heißt konkret: bessere Löhne und weniger Arbeits-
belastung .

Die Linke fordert ein Ende des Wettbewerbs- und Pri-
vatisierungswahns .


(Mechthild Rawert [SPD]: Auch Änderungsantrag!)


Parl. Staatssekretärin Ingrid Fischbach

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20513


(A) (C)



(B) (D)


Auch jemand mit wenig Geld hat ein Recht auf eine gute
Pflege im Alter.


(Beifall bei der LINKEN – Mechthild Rawert [SPD]: Richtig!)


Pflege ist eine Aufgabe der öffentlichen Daseinsvorsorge
und gehört deshalb ohne Wenn und Aber in die öffentli-
che Hand .


(Beifall bei der LINKEN)


Geben Sie den Kommunen endlich das Geld dafür .

Wir brauchen eine Pflegevollversicherung, die alle
Kosten der Pflege abdeckt. Zuzahlungen sind und blei-
ben unsozial .


(Beifall bei der LINKEN)


Zuzahlungen ließen sich vermeiden, wenn endlich alle
in dieselbe Versicherung einzahlen würden . Da sind wir
doch gar nicht so weit weg voneinander, liebe Kollegin .


(Mechthild Rawert [SPD]: Nein, wir wollen alle die Bürgerversicherung! – Gegenruf der Abg. Maria Michalk [CDU/CSU]: Aber die löst nicht das, was sie sagt!)


– Die wollen wir nicht alle; aber wir wollen sie .


(Tino Sorge [CDU/CSU], an die Abg. Mechthild Rawert [SPD] gewandt: Was haben Sie denn heute gefrühstückt? – Gegenruf der Abg. Mechthild Rawert [SPD]: Sie hat keiner gefragt! – Gegenruf des Abg . Tino Sorge [CDU/CSU]: Was Falsches gefrühstückt, was?)


Wir wollen, dass der Chefarzt und die Krankenschwester,
die Abgeordneten und unsere Kolleginnen und Kollegen
Saaldienerinnen und Saaldiener in eine Versicherung ein-
zahlen . Das gehört sich einfach so .


(Beifall bei der LINKEN)


Die private und die gesetzliche Pflegeversicherung
gehören zusammengeführt zu einer solidarischen Pfle-
geversicherung . Es darf nicht sein, dass die privaten
Versicherungen die Besserverdiener, die Jungen, die Ge-
sunden einsammeln und die Solidargemeinschaft alle Ri-
siken trägt. – Zumindest auf dem Papier, liebe Kollegin
Rawert, haben wir ja die gleiche Meinung . – Aber statt
solidarisch die Kosten der Pflege auf alle in der Gesell-
schaft zu übertragen, legen Sie heute wieder einen Ge-
setzentwurf vor, mit dem keines der zentralen Probleme
in der Pflege wirklich angegangen wird. Es bleibt dabei:
Eine andere Pflegepolitik geht nur mit der Linken.

Danke schön .


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1820606500

Als nächster Redner hat Dr . Karl Lauterbach für die

SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Rede ID: ID1820606600

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Zunächst einmal: Wir haben in dieser Legislatur-
periode in den Bereichen Gesundheit und Rente nach
meiner Rechnung bereits 18 Gesetze beschlossen, davon
3 im Bereich Pflege.

In der Pflege haben wir wichtige Verbesserungen er-
reichen können, auf die wir aus meiner Sicht stolz sein
können . Ich danke allen, die teilgenommen haben, und
will kurz in Erinnerung rufen, was wir gemacht haben,
sodass man das Gesamtbild sieht:

Wir haben mit dem Pflegestärkungsgesetz I die Zahl
der Betreuungskräfte in den Pflegeeinrichtungen deut-
lich erhöht . Ohne Betreuungskräfte kann man selbst bei
bester Pflege in einer Pflegeeinrichtung traurig und allein
sein . Das gilt insbesondere für diejenigen, die keine An-
verwandten haben . Das heißt, den Wert der Betreuungs-
kräfte, die sich um die Betroffenen kümmern, die mit
ihnen mal einen kleinen Spaziergang im Park machen
oder schlicht und ergreifend mal ein Spiel mit ihnen spie-
len, darf man nicht unterschätzen . Wir haben zwischen
25 000 und 30 000 zusätzliche Stellen für Betreuungs-
kräfte geschaffen. Das war aus meiner Sicht eine wichti-
ge Initiative zur Vermenschlichung der Pflege.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zum Zweiten. Mit dem Pflegestärkungsgesetz II
haben wir den massiven systematischen Nachteil von
Menschen mit psychischen Erkrankungen oder mit Ein-
schränkungen hinsichtlich der Art und Weise, wie sie die
Umwelt wahrnehmen, beseitigt . Wir hätten ohne diese
Maßnahme, ohne die Einführung der neuen Pflegegrade
in Zukunft eine massive Zweiklassenversorgung bekom-
men, nicht mit Blick auf den Unterschied zwischen privat
und gesetzlich Versicherten, den Sie, Frau Kollegin, zu
Recht beklagen, sondern wir hätten massive Unterschie-
de zwischen denjenigen, die diese Einschränkungen ha-
ben, und denjenigen, die sie nicht haben .

Wenn ich diejenigen, die diese Einschränkungen ha-
ben, und diejenigen, die sie nicht haben, in dieselbe Pfle-
gestufe einteile und für die Pflege das gleiche Geld gebe,
statt unterschiedliche Pflegegrade zu wählen, dann bringt
die Versorgung von Menschen mit einer psychischen Er-
krankung – das sind diejenigen, die hohe Kosten verur-
sachen – für die Einrichtungen ein Verlustrisiko mit sich,
weil ihre Versorgung mit dem gleichen Beitrag abgedeckt
wird wie die Versorgung der Menschen ohne psychische
Erkrankung. Wir hätten in der Pflege eine Zweiklassen-
medizin gehabt, einen Unterschied zwischen denjenigen,
die eingeschränkt sind, und denjenigen, die nicht einge-
schränkt sind . Das konnten wir abwenden, indem wir bei
den Pflegegraden genau diese Unterscheidung getroffen
haben .

Das war aus meiner Sicht eine wichtige Initiative, um
mit einem Problem umzugehen, das sich jetzt anbahnt.
Denn wir stellen fest, dass bei den Menschen, die jetzt
neu pflegebedürftig sind, 80 Prozent eine kognitive Ein-
schränkung im Sinne einer Vorstufe der Demenz oder be-
reits eine Demenz haben . Das war nicht abgebildet . Von

Sabine Zimmermann (Zwickau)


Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620514


(A) (C)



(B) (D)


daher war das auch aus meiner Sicht ein wesentlicher
Erfolg, ein wichtiger Schritt nach vorne .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben in der Pflege Planungsprobleme. Diese Pla-
nungsprobleme werden an Bedeutung gewinnen . Denn
es gelingt uns seit 2011 nicht mehr, die notwendigen
Pflegekräfte zu gewinnen, die wir benötigen. Wir könn-
ten sie sogar bezahlen . Seit 2011 haben wir einen sich
aufbauenden Bedarf . Es gibt immer mehr Stellen, die wir
besetzen wollen, aber nicht besetzen können . Uns feh-
len die Pflegekräfte, und zwar bereits seit einigen Jahren.
Langfristig gibt es weniger Betreuung durch Angehörige .
Bisher werden zwei Drittel der zu Pflegenden zu Hause
betreut. Das könnte ein riesiges Problem werden.

Darum brauchen wir nicht nur eine Stärkung der Fi-
nanzierungsbasis der Pflegeversicherung, wie wir sie in
dieser Legislaturperiode in den entsprechenden drei Ge-
setzen beschlossen haben – insgesamt 6 Milliarden Euro
mehr für die Pflegeversicherung; das ist ein Aufwuchs
von 23 Prozent in einer Legislaturperiode –, sondern
wir brauchen auch bessere Arbeitsbedingungen . Diese
besseren Arbeitsbedingungen können wir nur erreichen,
wenn nach Tarif bezahlt wird . Wir haben bereits erreicht,
dass die tarifliche Bezahlung von Pflegekräften bei der
Wirtschaftlichkeitsprüfung nicht gegen die Einrichtung
verwendet werden kann . Das Gleiche konnte auch schon
bei kirchlichen Trägerschaften erreicht werden . Wir ha-
ben dies jetzt zusätzlich für diejenigen erreicht, die gar
nicht tariflich gebunden sind. Das sind in den neuen Bun-
desländern zwei Drittel der Beschäftigten . Zwei Drittel
der Beschäftigten werden nicht nach Tarif bezahlt . Wir
konnten jetzt erreichen, dass eine Bezahlung bis zum Ta-
rif nicht genutzt werden kann, um einer Einrichtung Un-
wirtschaftlichkeit vorzuwerfen . Das halte ich für einen
großen Schritt nach vorne .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich weiß, dass das dem einen oder anderen in der Uni-
onsfraktion nicht so leicht gefallen ist . Sie haben es trotz-
dem mitgetragen . Dafür möchte ich mich an dieser Stelle
noch einmal ausdrücklich bedanken .


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Herr Fuchs ist jetzt nicht da! – Erwin Rüddel [CDU/CSU]: Wir haben es erfunden!)


Die Kommunen müssen bei der Planung der Pflege
stärker berücksichtigt werden. Das ist mein letzter Punkt;
ich bitte noch einmal kurz um Ihre Aufmerksamkeit . Wir
wissen, in den skandinavischen Ländern haben die Kom-
munen eine viel aktivere Rolle bei der Pflegeplanung.
Wenn jetzt hier in Deutschland Pflegedienste dichtma-
chen, weil die Wirtschaftlichkeit nicht mehr gegeben ist,
weil der Bedarf nicht gedeckt werden kann, dann gibt
es keine kommunale Planung für die Pflege. Wir haben
diese kommunale Planung nicht nur finanziell gestärkt
und möglich gemacht, sondern wir haben auch die Kos-
tenträger, also die Pflegekassen, und die Einrichtungen
verpflichtet, an den Planungsgesprächen teilzunehmen
und die Ergebnisse bei den Verhandlungen zu den ent-

sprechenden Pflegeverträgen zu berücksichtigen. Das ist
für denjenigen, der damit nicht jeden Tag beschäftigt ist,
eine technische Kleinigkeit .


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1820606700

Herr Kollege, mit dieser technischen Kleinigkeit müs-

sen Sie jetzt zum Schluss kommen .


Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Rede ID: ID1820606800

Frau Präsidentin – Ich bestreite, dass es eine techni-

sche Kleinigkeit ist .


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1820606900

Sie haben es gesagt .


Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Rede ID: ID1820607000

Ich komme zum Abschluss . – Das war ja gerade mein

Punkt. Es handelt sich nicht um eine technische Kleinig-
keit, sondern es handelt sich um eine wesentliche Stär-
kung der Kommunen bei der Pflegeplanung und bei der
zukünftigen Bedarfsdeckung .

Ich danke für die Geduld und auch für die Aufmerk-
samkeit .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1820607100

Nachdem wir es jetzt noch einmal erläutert bekom-

men haben – die Ironie hinsichtlich der technischen Klei-
nigkeit hat, glaube ich, jeder verstanden –, kommen wir
zur nächsten Rednerin . Elisabeth Scharfenberg hat das
Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
legen! Sehr geehrte Damen und Herren! Bevor ich jetzt
über das PSG III spreche, möchte ich ganz kurz auf ei-
nige Wordings meines Kollegen Lauterbauch eingehen .
Herr Professor Lauterbach, Sie haben sich hierhingestellt
und gesagt: Ohne Betreuungskräfte kann das Leben in
einem Pflegeheim ganz schön einsam sein. Die Betreu-
ungskräfte haben die Pflege vermenschlicht. – Machen
Sie sich einmal deutlich, was Sie jeder Pflegefachkraft in
diesem Land hier mit auf den Weg geben . Vergessen Sie
bitte nicht die Situation, mit der die Pflege jeden Tag vor
Ort kämpft,


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Das stimmt doch nicht!)


zum Beispiel mit der Minutenpflege, mit dem Gerenne
usw . Das gehört goutiert . Wir sollten nicht die einzelnen
Kräfte in den Einrichtungen gegeneinander ausspielen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Dr. Karl Lauterbach

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20515


(A) (C)



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Es braucht eine Teamleistung, damit die Pflege funktio-
niert. Die Pflegekräfte gehen jeden Tag über ihre persön-
lichen Grenzen hinaus, damit der Laden läuft .


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Vorsätzlich missverstanden! – Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Absichtlich missverstanden!)


Zum PSG III. Sie beschließen heute ein sehr mutloses
Gesetz .


(Gabriele Schmidt [Ühlingen] [CDU/CSU]: Oh nein!)


Welche Rolle die Kommunen in der pflegerischen Ver-
sorgung spielen sollen, ist doch eine der zentralen pfle-
gepolitischen Zukunftsfragen . Das Gesetz gibt einfach
keine Antwort darauf .


(Gabriele Schmidt [Ühlingen] [CDU/CSU]: Das ist doch nicht wahr!)


In den Kommunen leben die Menschen . Dort wer-
den sie versorgt . Dort haben sie ihre Nachbarn und ihre
Freunde und meist auch ihre Familie . Die lokalen Ge-
gebenheiten sind überall anders . Deswegen müssen wir
Spielräume vor Ort schaffen, damit auch in einer Ge-
meinde in Mecklenburg-Vorpommern die Selbsthilfe, die
Kasse, die Leistungserbringer, die Sozialhilfeträger usw .
nach diesen Gegebenheiten entscheiden können, welche
Versorgung sie vor Ort brauchen .


(Mechthild Rawert [SPD]: Das steht so im Gesetz!)


Das können ganz andere Notwendigkeiten sein als bei-
spielsweise für eine Gemeinde im nördlichen Rheinland
oder bei mir zu Hause in Oberfranken . Mit anderen Wor-
ten: Wir müssen das starre System der Pflegeversiche-
rung auflockern.

Als wir vor drei Jahren den Koalitionsvertrag dieser
Regierung gelesen haben, haben wir uns durchaus ge-
freut. Wir fanden es gut, dass Union und SPD die Kom-
munen im Bereich Pflege stärken wollten. Wir haben
Ihnen aber auch schon damals gesagt, dass Ihre Koali-
tionsvereinbarung zur Pflege zwar sehr ambitioniert da-
herkommt, dass sie aber auch merkwürdig konzeptions-
los bleibt . Schon damals wurde nicht deutlich, in welche
Richtung Sie die pflegerische Versorgung entwickeln
möchten . Das zeigt sich eben auch heute . Sie stellen uns
keine Idee der Pflege in der Zukunft vor, und Sie tasten
wesentliche Stellschrauben der pflegerischen Versorgung
einfach nicht an .

Die Rolle der Kommunen ist eine solche Stellschrau-
be. Noch einmal: Es geht darum, wie wir die pflegerische
Versorgung wieder näher an die Menschen bringen kön-
nen . Das können wir nur in und das können wir nur mit
den Kommunen schaffen. Diese Chance verspielen Sie
heute .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Mechthild Rawert [SPD]: Keine Kritik an der Bund-Länder-Kommission!)


Letztlich erschöpft sich die sogenannte Stärkung der
Kommunen in bis zu 60 Modellvorhaben zur kommuna-
len Pflegeberatung. Beratung ist enorm wichtig, aber die

Modellkommunen erhalten keine Möglichkeiten zur Ge-
staltung der pflegerischen Versorgung an sich, zur Pfle-
geplanung und zur Erprobung von Case- und Care-Ma-
nagement-Ansätzen .

Dann noch eine ganz besondere Volte, die Sie hier dre-
hen . Von diesen wenigen Modellkommunen dürfen die
Hälfte zwingend keine Vorerfahrungen mit Pflegebera-
tung haben . Ein gewisser Anteil ist sicherlich sinnvoll .
Aber die Hälfte? Ich denke, damit ist heute schon klar,
dass die Modelle in der Gesamtbetrachtung am Ende
nicht erfolgreich sein werden .

Das ist eine reine Alibiveranstaltung . Die Koalition –
so scheint es – will gar nicht, dass es funktioniert .


(Mechthild Rawert [SPD]: Ei, ei, ei!)


Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, Sie waren in den letzten Jahren zweifellos flei-
ßig . Das ist für Sie wieder die Möglichkeit, einen Zwi-
schenapplaus zu geben .


(Beifall des Abg . Helmut Heiderich [CDU/ CSU] – Mechthild Rawert [SPD]: Sekundärtugenden haben wir schon immer geliebt!)


Die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbe-
griffs und die deutliche Ausdehnung der finanziellen Mit-
tel der Pflegeversicherung waren absolut überfällig. Aber
Sie dürfen sich darauf nicht ausruhen . Insgesamt bleibt
es eine Pflegepolitik des Weiter-so, und davon ganz viel.
Aber auch mit viel Geld kann man nicht zukleistern, dass
eine zukunftsorientierte Pflege eine Orientierung braucht.
Sie haben und bieten diese Orientierung einfach nicht .

Darüber darf auch der neue Pflegebedürftigkeitsbe-
griff nicht hinwegtäuschen. Welche Art von Pflege, wel-
che Form von Leistungen die Menschen damit in Zukunft
bekommen, ist doch völlig offen. Das ist doch aber eine
der entscheidenden Fragen .

Auch Ihre großzügige Ausgabenpolitik ist absolut auf
Sand gebaut . Es sind doch übrigens alles Versicherten-
gelder, über die wir hier sprechen .


(Mechthild Rawert [SPD]: Genau!)


Im aktuellen Pflegereport der Barmer GEK wird schon
für das nächste Jahr ein Defizit der Pflegeversicherung
befürchtet .

Diese schwere Hypothek hinterlassen Sie der nächs-
ten Bundesregierung, weil diese Große Koalition wieder
keine grundlegende Finanzierungsreform vorgelegt hat .


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Diese grundlegende Finanzierungsreform muss natürlich
lauten: Bürgerversicherung . Das wissen Sie; das wissen
wir ganz genau . Daran wird kein Weg vorbeiführen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Stattdessen haben wir Ihren völlig sinnlosen Pflegevor-
sorgefonds an der Backe – so sinnlos wie ein Kropf –,


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Was?)


Elisabeth Scharfenberg

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620516


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einen Fonds, der nur Geld bindet .


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Ach nein! Und das sagen Sie hier öffentlich?)


Das ist reine Symbolpolitik; dabei brauchen wir in der
momentanen Situation etwas ganz anderes .

Auch gegen den dramatischen Personalmangel in der
Pflege haben Sie kaum etwas getan. Die Entwicklung
eines Personalbemessungsverfahrens haben Sie zwar
beschlossen, aber schön bis ins Jahr 2020 verschoben .
Und von einer Einführung ist schon gar nicht die Rede .
Ich frage mich, ob Sie persönlich gar keine Schreiben der
Pflegekräfte erhalten, ob Sie keine Wasserstandsmeldun-
gen der pflegenden Angehörigen erhalten.


(Mechthild Rawert [SPD]: Doch! Die wollen alle eine generalistische Pflegereform haben!)


– Die Pflegekräfte sind da ganz anders unterwegs. Lie-
be Mechthild Rawert, ich glaube, du unterhältst dich mit
den Funktionären,


(Hilde Mattheis [SPD]: Ausgerechnet Frau Scharfenberg! – Maria Michalk [CDU/CSU]: Ach, jetzt reicht es aber!)


die ganz anders unterwegs sind als die Pflegekräfte vor
Ort,


(Mechthild Rawert [SPD]: Das Gute ist, ich schaffe beides: Basis und Funktionäre!)


die letztendlich die Arbeit bewältigen müssen und auch
eine ordentliche Unterstützung in der Pflege brauchen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ohne ausreichend und gut qualifiziertes Personal wird
keine Ihrer Reformen greifen, und das ist ein Drama .


(Hilde Mattheis [SPD]: Sie sind das Drama hier!)


Das Personal ist der Dreh- und Angelpunkt, und da haben
Sie absolut versagt .

Vielen Dank .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1820607200

Als nächste Rednerin hat Maria Michalk von der

CDU/CSU-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Maria Michalk (CDU):
Rede ID: ID1820607300

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine lieben Kol-

leginnen und Kollegen! Verehrte Damen und Herren!
Manchmal finde ich es schon ein bisschen komisch, dass
wir Menschen immer nur das laut sagen, was nicht funk-

tioniert, was nicht geht, was wir noch haben müssen, wo
es Probleme gibt.


(Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich höre von Ihnen zu unseren Anträgen auch nichts anderes!)


Warum demotivieren Sie sich denn selber so?

Heute ist der Tag, an dem wir darüber reden, was wir
für die Pflegebedürftigen, ihre Angehörigen und die Pfle-
gekräfte in einem dreistufigen Pflegereformkonzept um-
gesetzt haben. Und das ist ein guter Tag für die Pflege,
meine sehr verehrten Damen und Herren .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Worum geht es hier eigentlich? Jeder Mensch hat
Sorge, dass er pflegebedürftig wird; das ist unabhängig
vom Alter . Das kann durch die Geburt, durch einen Un-
fall in der Kindheit oder in der Jugend, durch eine schwe-
re Krankheit – unabhängig vom Alter – kommen, es kann
aber auch im Alter passieren . Alle wünschen sich, dass
sie nicht pflegebedürftig werden, aber Pflegebedürftig-
keit gab es schon immer . Früher, im Familienverbund,
in den Drei-Generationen-Familien, hat man sich gegen-
seitig geholfen, und diesen Grundgedanken enthält heute
die Pflegeversicherung.

Als wir vor gut 20 Jahren, 1995, die gesetzliche Pfle-
geversicherung etabliert haben – damals noch im Was-
serwerk in Bonn –, wussten wir, dass hier ein enormer
Bedarf auf uns zukommt und dass vieles nicht im ersten
Schritt geregelt werden kann . 20 Jahre lang wurde im
Zusammenhang mit der Pflegeversicherung vieles auf-
gebaut .

Liebe Frau Zimmermann, ich kann Ihnen nur empfeh-
len, mit Leuten, die schon vor 30 Jahren pflegebedürftig
waren und heute vielleicht Gott sei Dank noch leben, da-
rüber zu reden, wie die Pflegeheime zu DDR-Zeiten aus-
sahen . Wenn Sie hier behaupten, da sei nichts geschehen:
Das ist eine Lüge und entspricht nicht der Wirklichkeit .
Entschuldigung, aber das musste einmal gesagt werden .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Es geht doch um heute und nicht um vor 30 Jahren! – Gegenruf des Abg . Tino Sorge [CDU/CSU])


In diesen Jahren ist infrastrukturell vieles aufge-
baut worden . Ich denke zum Beispiel an die Erhöhung
der Zahl der Pflegefachkräfte in ganz unterschiedlicher
Form . Auch heute gibt es noch private Institute, die mit
Schulgeld Pflegekräfte ausbilden. Das und vieles mehr
hat sich im Laufe der Zeit entwickelt,


(Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Es geht doch um heute!)


und es ist immer besser geworden . Aber wir haben na-
türlich erkannt, dass durch die Veränderungen in der
Gesellschaft an vielen Stellen Korrekturen – wir sagen
dazu: Reformen – notwendig sind . Diese haben wir im
Koalitionsvertrag vereinbart – hier waren wir uns einig –,
und jetzt haben wir sie in drei Schritten konsequent um-
gesetzt .

Elisabeth Scharfenberg

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20517


(A) (C)



(B) (D)


Im Ersten Pflegestärkungsgesetz, das im Januar letz-
ten Jahres in Kraft getreten ist, haben wir sehr viele ein-
zelne Maßnahmen etabliert; sie sind von unserer Staats-
sekretärin heute schon genannt worden . Dafür haben wir
einen Zusatzbeitrag von 0,3 Prozentpunkten ins Gesetz
geschrieben . Ich will hier noch einmal feststellen, dass
mich kein einziger Brief mit einem Protest erreicht hat,
dass der Beitrag in der Pflegeversicherung erhöht wurde.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf der Abg. Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Akzeptanz für diese Aufgabe ist nämlich in der Ge-
sellschaft enorm angestiegen. Das ist ein Prozess, und
darüber können wir uns freuen . Wir sind hier aber noch
nicht am Ende des Tages .

Wir haben dann entschieden, dass von diesen 0,3 Pro-
zentpunkten Beitragssatzerhöhung 0,1 Prozentpunkte in
eine Rücklage fließen und somit dazu beitragen, bis zum
Jahr 2033 einen Vorsorgefonds aufzubauen .


(Zuruf des Abg . Harald Weinberg [DIE LINKE])


Damit betreiben wir Vorsorge . Auch in diesem Bereich
gilt, in guten Zeiten für schlechte Zeiten vorzusorgen;
das macht man zu Hause genauso . Wir machen das ver-
antwortungsvoll in einem solidarischen System . Das ist
sinnvoll, um mit der steigenden Zahl an Pflegebedürfti-
gen in späteren Jahren – das ist heute schon zu erken-
nen – besser umgehen zu können . Das ist eine vernünfti-
ge Maßnahme gewesen .

Ich möchte Ihnen auch in Erinnerung rufen, dass die
Umstellung im PSG II von drei Pflegestufen auf fünf
Pflegegrade, um den Bedürfnissen der Menschen besser
gerecht zu werden, ein richtiger Schritt war. Wir befinden
uns im Dezember 2016 . Dieses Jahr war das sogenannte
Vorbereitungsjahr . Ich will mich an dieser Stelle wirklich
bei allen Fachleuten und Fachkräften in den einzelnen
Einrichtungen bis runter zu denen, die in der Pflegeversi-
cherung und in den Koordinierungskreisen arbeiten, be-
danken, dass sie die Umstellungsprozesse in diesem Jahr
auf den Weg gebracht haben . Dadurch können wir pünkt-
lich am 1 . Januar 2017 sagen: Niemand wird schlechter-
gestellt . Dafür an alle ein herzliches Dankeschön .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das ist für die beteiligten Menschen und die Verwaltung
eine enorme Arbeit gewesen .

Im Pflegestärkungsgesetz III geht es um die Klar-
stellung der Schnittstellen zwischen – technisch ge-
sagt – dem SGB XII, also der Hilfe zur Pflege, und dem
eigentlichen Pflegegesetz. Damit wollen wir verhindern,
dass in Zukunft Menschen von Pontius zu Pilatus ge-
schickt werden, dass es zu weiteren Verschiebebahnhö-
fen kommt oder gar weitere Koordinierungskreise mit
entsprechenden Bezeichnungen etabliert werden . Das ist
also für alle sinnvoll .

Mit diesem Gesetz geben wir den Kommunen den
Schlüssel in die Hand, um ihre Angebote vor Ort besser
zu vernetzen, auch wenn es hier und da einen Bürger-

meister gibt – das ist Gott sei Dank nicht flächendeckend
so –, der gar nicht weiß, was in der Pflege in seinem
Zuständigkeitsbereich passiert . Die Kommunen können
so jedenfalls besser koordinieren und beraten und auch
die aufsuchende häusliche Beratung durchführen . Diese
Aufwendungen bekommen sie zwar von der Pflegeversi-
cherung ersetzt; trotzdem bleibt es bei der kommunalen
Selbstverwaltung . Auch das muss man an dieser Stelle
erwähnen. Ich empfinde das als eine richtige Maßnahme,
die dabei helfen wird, das Geschehen vor Ort besser zu
koordinieren, und zwar um die Menschen dabei zu unter-
stützen, möglichst lange in ihrer häuslichen Umgebung
bleiben zu können . Wenn das nicht mehr geht, werden sie
sofort Unterstützung bekommen, um den Platz in einem
Heim zu erhalten, den sie brauchen .

Für unvorhergesehene Situationen haben wir schon
im PSG I eine Freistellung von der Arbeit für maximal
zehn Tage eingeführt, damit man die Pflege für seine Lie-
ben organisieren kann . Auch diese von uns beschlosse-
ne Maßnahme ist wichtig und richtig und muss genutzt
werden . Dass dieses niedrigschwellige Angebot bisher so
schlecht angenommen worden ist – in diesem Sommer
gab es gerade einmal, wenn ich das richtig sehe, bundes-
weit knapp 500 Anträge –, liege, so habe ich erst gedacht,
an einer Fehlinformation .


(Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, es nützt nichts! Deshalb wird es nicht angenommen!)


Aber nein, es ist so: Dieses Instrument ist einfach noch
nicht bekannt genug .


(Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn es den Menschen nützen würde, würden sie es annehmen!)


Deshalb sind die koordinierenden Kreise vor Ort wichtig,
um alle niedrigschwelligen Angebote bei den Leuten be-
kannt zu machen .

Ich möchte zum Schluss darauf hinweisen – diesen
Punkt hat auch der Kollege Lauterbach angesprochen –,
dass sich die Entlohnung der schweren Arbeit der Pfle-
gekräfte in den Pflegesätzen widerspiegeln muss. Das
darf natürlich nicht dazu führen, dass der Träger jahre-
lang ein Minus erwirtschaftet; denn dann müsste er ja
Insolvenz anmelden . Wir haben deshalb extra im Än-
derungsantrag festgeklopft, dass die Entlohnung unter
betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten erfolgen muss .
Ich kann von daher nur an alle Verhandler – das sind
die Pflegekassen und die Krankenkassen, aber auch die
kommunale Seite – appellieren, dass sie mit diesem In-
strument vernünftig umgehen; denn sonst wird es eine
Wanderungsbewegung der Pflegekräfte zugunsten der
Ballungsgebiete oder der Länder geben, die mehr zahlen
können, zulasten der ländlich strukturierten Regionen .
Das wollten wir auf keinen Fall .


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1820607400

Frau Kollegin, auch Sie müssen zum Schluss kom-

men .

Maria Michalk

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620518


(A) (C)



(B) (D)



Maria Michalk (CDU):
Rede ID: ID1820607500

Deshalb ist das ein gutes Gesetz .

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1820607600

Pia Zimmermann hat als nächste Rednerin das Wort

für die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Pia Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1820607700

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Ich bin sehr froh, dass es massive Kritik
von den Verbänden und von Betroffenen zu diesem Ge-
setzentwurf gegeben hat .


(Hilde Mattheis [SPD]: Das glaube ich aufs Wort! – Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Dafür haben Sie ja gesorgt!)


Denn dadurch ist es nach der ersten Lesung des Gesetz-
entwurfs tatsächlich noch einmal zu einer Entwicklung
gekommen .


(Beifall bei der LINKEN – Maria Michalk [CDU/CSU]: Dann können Sie ja zustimmen!)


Wir begrüßen, dass die Eingliederungshilfe für Men-
schen mit Behinderung und Pflegebedarf nun weiterhin
gewährt werden soll . So kann wenigstens ein Teil der
Betroffenen in gewissem Maße über ihre Versorgung be-
stimmen und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen .
Aber – auch das will ich noch einmal ganz deutlich sa-
gen – es handelt sich eben nur um einen Teil der Men-
schen; es gilt nicht für alle . Weil die Finanzierung der
Pflege bei Ihnen vorne und hinten knarrt und Sie sich
ohne Not vehement gegen die solidarische Bürgerinnen-
und Bürgerversicherung stemmen, wird Ihnen auch keine
menschenwürdige und individuelle Pflege, Assistenz und
Versorgung für alle gelingen .

Ihr Gesamtprojekt mit den drei Pflegestärkungsgeset-
zen geht in die falsche Richtung,


(Mechthild Rawert [SPD]: Eijeijei!)


und es bleibt dabei: Gute Pflege ist weiterhin vom Geld-
beutel abhängig . Das ist mit uns nicht zu machen .


(Beifall bei der LINKEN)


Auf der Internetseite des Ministeriums für Gesundheit
kann man lesen – ich zitiere –:

Mit den Pflegestärkungsgesetzen hat ein Umdenken
in der Pflege begonnen. Mehr Leistungen für Pfle-
gebedürftige, mehr Entlastung und Sicherheit für
pflegende Angehörige und mehr Zeit für Pflegekräf-
te – die Neuerungen kommen im Alltag an .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Erich Irlstorfer [CDU/CSU]: Jawohl! Gut erkannt!)


Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, können wir ja jetzt
einmal unter die Lupe nehmen .

Punkt eins: mehr Leistungen für Pflegebedürftige. Es
wird mehr Leistungen für Menschen mit Pflegebedarf ge-
ben, aber – ich sagte es schon – eben nicht für alle . Denn
gerade diejenigen, die ohnehin schon am wenigsten ha-
ben, machen Sie zum Gegenstand Ihrer Sparpolitik . Fast
400 000 Menschen sind auf Hilfe zur Pflege angewiesen.
Sie können die finanziellen Belastungen aus der Pflege-
versicherung nicht mit ihrem eigenen Einkommen be-
gleichen . Und wir wissen alle: Dank Ihrer Rentenpolitik
werden es immer mehr werden .


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja! Ein Skandal!)


Das Pflegestärkungsgesetz III benachteiligt diese Men-
schen . Sie erhalten nicht dieselben Leistungen wie an-
dere Menschen mit Pflegebedarf, die keine Sozialhilfe
beziehen müssen . Das, meine Damen und Herren, sind
unhaltbare Zustände .


(Beifall bei der LINKEN)


Punkt zwei: mehr Entlastung und Sicherheit für pfle-
gende Angehörige. Menschen, die Hilfe zur Pflege be-
ziehen, sollen zu Hause möglichst von Angehörigen oder
Nahestehenden gepflegt werden. Das Wörtchen „sollen“
im Gesetzentwurf hat man Ihnen abgetrotzt, Herr Minis-
ter. Sie wollten sogar eine Pflicht zur Familienpflege, da-
mit die Kommunen Sozialausgaben sparen können . Jetzt
ist zumindest der alte Gesetzeszustand wiederhergestellt .
Welch seltsame Pflegestärkung!


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, zu Hause pflegen vor al-
lem Frauen aus der Familie, Freundinnen und Nachba-
rinnen. Doch sie können fachlich qualifizierte Pflege
nicht ersetzen . Sie werden zusätzlich gebraucht: neben
der Fachpflege, begleitend, unterstützend und betreuend.
Die Pflege ist aber kein „Kann doch jeder“-Beruf. Sorge-
arbeit darf nicht abgewertet werden . Und Sie nennen das
Entlastung und Sicherheit für pflegende Angehörige! Tut
mir leid, auch da können wir nicht mitgehen .


(Beifall bei der LINKEN – Mechthild Rawert [SPD]: Das ist jetzt ein bisschen nebulös!)


Punkt drei: mehr Zeit für Pflegekräfte. Das ist die
Gruppe der Beteiligten in der Pflege, für die Sie am we-
nigsten tun. Sie setzen den Pflegebedürftigkeitsbegriff in
Kraft und wollen 2020 beginnen, sich über das Ausmaß
des dafür nötigen Personals Gedanken zu machen. Das
kann doch nicht Ihr Ernst sein .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich frage Sie: Haben Sie denn wirklich keinen blassen
Schimmer, unter welch immensem Druck das Pflegeper-
sonal schon jetzt steht?


(Mechthild Rawert [SPD]: Doch!)


Pflege im Minutentakt, keine Zeit für Gespräche, keine
verlässlichen Dienstpläne und, und, und .

Meine Damen und Herren, das Pflegestärkungsge-
setz III schließt viele Menschen aus, die bisher anspruchs-
berechtigt waren . Das sind vor allen Dingen Nichtversi-

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20519


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cherte, Geflüchtete und alle, die die Mindestpunktzahl in
der Begutachtung nicht erreichen .

Durch das Pflegestärkungsgesetz III bleiben auch
Menschen mit Behinderungen benachteiligt, wenn sie
Pflege brauchen.


(Mechthild Rawert [SPD]: Das ist gleichrangig!)


Gerade diese Menschen sind allzu oft auf Sozialhilfe an-
gewiesen . Wir wollen, dass alle Menschen mit Behinde-
rung umfassende Eingliederungshilfe erhalten, damit sie
am Leben teilhaben können .


(Mechthild Rawert [SPD]: Kriegen sie!)


Meine Damen und Herren, Menschen mit Behinderung
müssen ihren Anspruch auf Eingliederungshilfe behal-
ten, auch wenn sie Hilfe zur Pflege bekommen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Mechthild Rawert [SPD]: Genau das steht im Gesetz! – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Lesen bildet, Frau Kollegin!)


Außerdem werden Menschen mit demenzieller Er-
krankung, die auf Hilfe zur Pflege angewiesen sind, ab
Januar 2017 schlechter eingestuft als Menschen mit der-
selben Beeinträchtigung außerhalb der Sozialhilfe .


(Hilde Mattheis [SPD]: Das stimmt nicht! – Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Das ist nicht wahr! Das stimmt ja gar nicht!)


Diese weitere Ungerechtigkeit müssen Sie den Menschen
erklären . Unsere Zustimmung erhalten Sie dafür nicht .


(Beifall bei der LINKEN – Dr . Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Die brauchen wir auch nicht!)


Auch eine Stärkung der Kommunen sieht anders aus,
meine Damen und Herren . Wenn Kommunen wirklich
entscheiden und gestalten sollen, brauchen sie mehr als
nur Beratungsstellen, die Sie in 16 Modellkommunen
einrichten .


(Mechthild Rawert [SPD]: 60, wenn überhaupt!)


– Ja, 60 Modellkommunen von über 11 000 . – Das ist
doch eher lächerlich . Die Kommunen benötigen Geld
und Entscheidungsgremien für eine altersgerechte Infra-
struktur, für Barrierefreiheit und für alternative Wohnan-
gebote. Und Sie brauchen mehr finanzielle Unterstützung
und nicht immer mehr Aufgaben .


(Beifall bei der LINKEN – Dr . Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Wie viel Geld wollen die denn noch?)


All das berücksichtigen Sie in Ihrem Gesetz nicht .
Am Ende bleibt: Sozialhilfebezieherinnen und Sozialhil-
febezieher werden mit diesem Gesetz diskriminiert . Die
Kommunen können Pflege nicht wirklich gestalten.

Meine Damen und Herren, trotz Ihrer Änderungen,
die zum Teil ja gut sind, können wir diesem Gesetzent-
wurf nicht zustimmen; denn meine Fraktion steht dafür,
dass jeder und jede selbst entscheiden kann, wo er bzw .

sie gepflegt wird, von wem er oder sie gepflegt wird und
in welchem Umfeld er bzw. sie gepflegt wird.


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Können sie doch!)


Sie verpassen mit diesem Gesetz erneut die Chance, ei-
nen Paradigmenwechsel durchzuführen, der der Pflege
guttun würde. Gute Pflege für alle wird es aber nur ge-
ben, wenn die Pflegeversicherung auch alle Leistungen
bezahlt, wenn gut ausgebildete Fachkräfte gut verdienen
und gut arbeiten können . Das geht nur, wenn alle ohne
Wenn und Aber in die Pflegeversicherung einzahlen.

Vielen Dank, meine Damen und Herren .


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1820607800

Als nächste Rednerin hat Hilde Mattheis das Wort für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Hilde Mattheis (SPD):
Rede ID: ID1820607900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Nicht immer ist eine Behauptung besser als ein Beweis .


(Zuruf von der CDU/CSU: Nie!)


Damit kommt man einfach nicht durch . Man sollte dieses
Gesetz wirklich lesen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Tino Sorge [CDU/CSU]: Beweisen ist immer besser als behaupten!)


Wir haben in dieser Legislaturperiode Baustein um
Baustein für bessere Pflege gesetzt.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Evidenz prüfen wir hinterher, nicht vorher! Die ist nur behauptet!)


Wir haben Leistungsverbesserungen gemacht . Wir haben
die Angehörigen entlastet. Wir haben viel für das Pflege-
fachpersonal getan .


(Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Aber nicht die zentralen Probleme gelöst!)


Jetzt kommt ein Baustein für die Pflegeinfrastruktur. Es
sollen noch weitere Bausteine folgen . Sie könnten uns
dabei unterstützen, zum Beispiel bei dem Thema genera-
listische Ausbildung .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Übrigens wollen das nur wenige nicht . Die meisten wol-
len das. Diese kommen zu uns und sagen: Hoffentlich
bekommt ihr das noch in dieser Legislaturperiode hin .


(Harald Weinberg [DIE LINKE], in Richtung CDU/CSU zeigend: Die, die es nicht wollen, sitzen dahinten!)


Wir wollen natürlich auch einen Mindestpersonal-
schlüssel für die Alteneinrichtungen und für die ambu-
lante Pflege. Aber das fällt nicht vom Himmel. Wenn Sie

Pia Zimmermann

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620520


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sagen, bis 2020 geschehe nichts, dann entgegne ich Ih-
nen: Wenn wir das bis übernächstes Jahr auf den Weg ge-
bracht hätten, dann hätte es garantiert geheißen, dass wir
uns nicht genug Zeit gelassen hätten, das auf den Weg zu
bringen . Was also die fachlich-sachliche Ausgestaltung
anbelangt, kann ich nur raten, sich auf den Text zu kon-
zentrieren, der hier vorliegt .


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, Papier ist geduldig!)


Das will ich jetzt gerne tun . Erstens geht es um die
Einbeziehung der kommunalen Ebene und der Landes-
ebene. Als zweiten wichtigen Punkt – ich bin froh, dass
wir heute hintereinander über beide Gesetzentwürfe de-
battieren: erst über den Entwurf eines Bundesteilhabege-
setzes und nun über den PSG-III-Entwurf –, machen wir
jetzt alles im Pflegebereich, um die Schnittstellenproble-
matik mit dem Bundesteilhabegesetz bei der Überleitung
in die Hilfe zur Pflege zu lösen. Diese beiden Bausteine
beschäftigen uns heute .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Länder sollen wesentlich stärker in die Pflicht ge-
nommen werden . Deswegen haben wir gesagt: Ja, auch
das geht nicht ohne den Austausch mit den Ländern . – Es
gibt ein Bund-Länder-Eckpunktepapier, an dessen Er-
arbeitung auch die Landesminister der Grünen beteiligt
waren . Ich fand das gut; denn das ist die Grundlage des-
sen, was wir jetzt hier tun .

Die Länder und die Kommunen haben uns gesagt:
Nein, macht es bitte nicht überall, sondern zuerst als Mo-
dellprojekt . Lasst uns erst einmal in 60 Kommunen mo-
dellhaft das erproben, was wir alle wollen, nämlich eine
ordentliche Vor-Ort-Infrastruktur . – Diese können wir in
Berlin nämlich gar nicht vernünftig berechnen oder aus-
gestalten, weil es eben um Angebote vor Ort geht . Und
diese sind in jeder Kommune anders auszugestalten . Das
also soll jetzt in 60 Kommunen erprobt werden, und dazu
sollen Gelder bereitgestellt werden, damit diese niedrig-
schwelligen Angebote wirklich auch organisiert und fi-
nanziert werden können .

Auf Landesebene sollen sich bitte schön die Pflege-
kassen in den Landesausschüssen einbringen und die
Empfehlungen in die Kommunen mitnehmen . So wird
doch ein Schuh daraus . Wir auferlegen eben den Kom-
munen nicht etwas, was sie nicht leisten können, sondern
wir betreiben vielmehr auf der Basis der Empfehlungen
auf Landes- und Kommunalebene mit Geldern aus der
Pflegeversicherung den Aufbau der Pflegeinfrastruktur.
Und dies soll in 60 Modellkommunen geleistet werden .

Natürlich wollen wir, dass die Pflege vor Ort gestärkt
wird . Das ist die Intention . Wir wollen sozialräumliche
Arbeit unterstützen . Das geht nur dann, wenn wir alle
mitnehmen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich möchte noch auf das Thema Pflegebedürftigkeits-
begriff eingehen, auf die Übertragbarkeit in den Punkt
„Hilfe zur Pflege“ im SGB XII. Das ist nicht banal. Da

sind auch die Kommunen unsere Verhandlungspartner .
Sie haben Angst, dass sich die Finanzströme verschie-
ben . Sie haben Angst, dass sie eine zusätzliche Belastung
erfahren werden . Ich kann das nachvollziehen . Aber wir
brauchen eine Lösung für die Menschen . Darum geht es .

Diese Lösung haben wir hinbekommen . Wir haben
gesagt: Wir wollen die Gleichrangigkeit von Pflege,
Teilhabe und Eingliederung weiterhin erhalten . Das ist
ein wesentlicher Punkt. Wir haben ja mit der Reform
des Pflegebedürftigkeitsbegriffs und der Ausweitung der
Leistungsansprüche erreicht, dass auch Teilhabe in den
Bereich der Pflege einwirkt. Dadurch gibt es natürlich
Überlappungen . Deswegen muss man diese Schnittstel-
lenproblematik lösen . Das haben wir gemacht . Es ist, wie
das schon heute Morgen auch beim Bundesteilhabege-
setz herausgestrichen worden ist, eine Leistung des Par-
laments, mit vielen Änderungsanträgen da nachjustiert
zu haben .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Uns geht es um die Menschen, egal ob sie pflegebe-
dürftig oder Menschen mit Handicap sind . Uns geht es
um die, die Pflegeleistungen erbringen, egal ob sie es
im Ehrenamt oder als Beruf machen . Uns geht es da-
rum, dass wir die Teilhabe verbessern und ermöglichen .
Mit dem PSG III und weiteren Gesetzen, die wir auf der
Agenda haben, kommen wir dem Schritt für Schritt ein
Stück näher . Darum geht es . Dafür bitten wir um Unter-
stützung .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1820608000

Als nächste Rednerin spricht Kordula Schulz-Asche

für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Jeder
Mensch, der pflegebedürftig wird, hat zu diesem Zeit-
punkt seine eigene, ganz persönliche Lebenssituation:
Hat man einen Partner oder Freunde, die einem helfen
oder einen pflegen können? Wohnen die Kinder in der
Nähe, oder hat man überhaupt Kinder? Hat man eine
Wohnung im dritten Stock ohne Fahrstuhl, oder wohnt
man in einer Erdgeschosswohnung, die gut zugänglich
ist? Ist man noch sehr selbstständig, oder hat man bereits
einen hohen Pflegebedarf oder eine beginnende Demenz?
Und deshalb braucht jeder Mensch, der pflegebedürftig
wird, eine ganz persönliche Beratung und Hilfe, um den
nächsten Lebensabschnitt selbstbestimmt und entspre-
chend den eigenen Wünschen zu gestalten .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Hilde Mattheis

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20521


(A) (C)



(B) (D)


Das, meine Damen und Herren, ist für mich der Maßstab,
an dem sich jede Pflegereform messen lassen muss.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Eines kann ich Ihnen gleich sagen: Das sogenannte
Pflegestärkungsgesetz III wird diesen Ansprüchen bei
weitem nicht gerecht .


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Das stimmt nicht!)


Wir fragen doch: Was braucht es für individuelle Bera-
tung und Unterstützung? Mit Sicherheit keinen Pflege-
stützpunkt weit weg vom Wohnort, betrieben von den
Krankenkassen, die selber für die Leistungen zuständig
sind . Diese schwarz-gelbe Schnapsidee ist gescheitert;


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Schwarz-gelbe Schnapsidee?)


denn sie geht an den Interessen der Menschen vorbei .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Nein, wir brauchen endlich eine individuelle Beratung
und Begleitung am Wohnort


(Hilde Mattheis [SPD]: Ja, genau!)


für diejenigen, die zu Hause leben können und möchten,
für ihre pflegenden Angehörigen oder bei der Suche nach
passenden Pflegediensten oder geeigneten Wohnformen.
Und wir brauchen eine Planung für diese am Bedarf aus-
gerichteten Angebote vor Ort, Vernetzung, Qualifizie-
rung und Förderung bis hin zur ehrenamtlichen Nachbar-
schaftshilfe .

Wer macht das eigentlich irgendwie schon, manche
schon sehr gut, und andere noch ein bisschen in den Kin-
derschuhen steckend? Meine Damen und Herren, das
sind die Kommunen . Sie sind zuständig für die Altenhilfe
und für die soziale Teilhabe im Stadtteil . Sie könnten viel
mehr tun für die Prävention von Pflegebedürftigkeit. Sie
könnten natürlich wohnortnah unabhängige Pflegestütz-
punkte betreiben. Sie könnten auch die Pflegeplanung
lokal befördern und die vorhandenen Akteure besser ver-
netzen .


(Tino Sorge [CDU/CSU]: Das, was im Gesetz steht!)


Diese Konzepte lediglich mit 60 Kommunen zu probie-
ren – 60 von rund 11 000 –, ist kein Konzept der flächen-
deckenden Versorgung .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es kann doch nicht sein, dass es ein Zufall ist, ob man
im Alter selbstbestimmt versorgt wird und wie man sich
beraten lassen kann . Das können wir so nicht hinnehmen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie haben in Ihrem Gesetz noch zwei andere Punkte,
die ich extra ansprechen möchte, weil mir nicht klar ist,
warum Sie diese Ungerechtigkeiten für Menschen, die

ohne eigene Schuld unzureichende Leistungen erhalten,
nicht beseitigt haben . Eine Gruppe sind die behinderten
Menschen mit Pflegebedarf, die in einer stationären Ein-
richtung der Behindertenhilfe nach § 43a SGB XI unter-
gebracht sind . Warum bekommen die nicht endlich einen
Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung? Das
würde die Kommunen entlasten und dort Investitionen
in eine bessere wohnortnahe Pflegeplanung erleichtern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Eine relativ kleine Gruppe, die ich auch ansprechen
möchte, sind die Menschen, die trotz allgemeiner Ver-
sicherungspflicht nicht ausreichend versichert sind und
nur Hilfe zur Pflege erhalten, obwohl sie stationär unter-
gebracht sind: Das sind Suchtkranke, das sind aber auch
ältere jüdische Menschen aus der ehemaligen Sowjet-
union, die unzureichende Vorversicherungszeiten haben .
Ich verstehe nicht, warum man für diese Menschen nicht
Pflegeleistungen vorsehen kann, und ich glaube, die Be-
troffenen sicher auch nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deswegen, meine Damen und Herren, mein Fazit: Sie
sind groß im Eigenlob, aber in Wirklichkeit fehlt Ihnen
die Fantasie und der Mut, die Herausforderungen des de-
mografischen Wandels durch eine umfassende finanzier-
bare Reform der Pflege anzunehmen, bei der der Mensch
nicht nur in Worten, sondern endlich auch in Taten im
Mittelpunkt steht .

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1820608100

Als nächster Redner hat Erwin Rüddel für die CDU/

CSU-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Erwin Rüddel (CDU):
Rede ID: ID1820608200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Mit dem heute zur Verabschiedung anste-
henden Dritten Pflegestärkungsgesetz setzen wir den
Schlussstein einer großen Pflegereform, die größte Re-
form, die es in der Pflegeversicherung in den letzten
21 Jahren gegeben hat .

Wir haben Wort gehalten: Das, was wir im Koalitions-
vertrag geschrieben haben, setzen wir eins zu eins um .
Wir schaffen mehr Qualität, mehr Geld und mehr Betreu-
ung für gute Pflege in unserem Land.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg . Dagmar Ziegler [SPD])


Zum jetzt vorliegenden PSG-III-Entwurf gehören zentral
die Stärkung der örtlichen Pflegeinfrastruktur und der
Ausbau der Pflegeberatung. Wir wollen mehr Qualität
durch gute Beratung ins System bringen. Schon im PSG I
haben wir die niederschwelligen Leistungen ausgewei-
tet. Jetzt, im PSG III, schaffen wir es über die Stärkung
der Kommunen, dass neben niederschwelligen Angebote
auch flächendeckend entsprechende Strukturen aufge-
baut werden können .

Kordula Schulz-Asche

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620522


(A) (C)



(B) (D)


Es geht hier um Vernetzung: Wir verzahnen die am-
bulante und die stationäre, die medizinische und die pfle-
gerische Versorgung miteinander . Kommunen können
künftig selbst Beratungsleistungen anbieten und die Ein-
richtung weiterer Pflegestützpunkte auf den Weg brin-
gen . In 60 Kommunen können modellhaft neue Formen
der Beratung erprobt werden . Wir werden sehen, welche
konkreten Verbesserungen für die Pflegebedürftigen und
deren Angehörige sich daraus ableiten, und wir werden
dann die Verbesserungen flächendeckend auf den Weg
bringen . Unser Ziel ist eine lückenlose, wohnortnahe und
effektive Versorgung, maßgeschneidert für die jeweiligen
individuellen Bedürfnisse .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das PSG III bedeutet auch mehr Geld für Pflegekräfte.
Schon im PSG I haben wir verankert, dass die Kassen bei
tarifgebundenen Einrichtungen die Tarife nicht als un-
wirtschaftlich einstufen können . Das Gleiche setzen wir
jetzt um für die Einrichtungen, die nicht tarifgebunden
sind . Ich möchte an dieser Stelle ganz herzlich dem Be-
auftragten der Bundesregierung für die Belange der Pati-
entinnen und Patienten sowie Bevollmächtigten für Pfle-
ge, Karl-Josef Laumann, für seine Beharrlichkeit danken .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich glaube, diese Verbesserungen hätten wir im Parla-
ment nicht umsetzen können, wenn hier nicht Menschen
gewesen wären, die sich diesem Ziel verschrieben haben .
Ich denke, es ist gut so, dass Pflege jetzt besser bezahlt
wird .

Ein Wort zum Thema Abrechnungsbetrug . Qualitäts-
kontrollen dürfen künftig nicht mehr zum Schaden der
Pflegeversicherung verhindert werden. Die Kassen erhal-
ten das Recht auf systematische Prüfung auch im Bereich
der häuslichen Krankenpflege. Der Medizinische Dienst
wird künftig regelmäßig die Qualität und die Abrech-
nungen von Leistungserbringern kontrollieren; denn die
Beitragsgelder der Versicherten müssen dort ankommen,
wo sie hingehören, und die Pflegebedürftigen und ihre
Familien müssen vor betrügerischen Pflegediensten ge-
schützt werden .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das PSG III setzt den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff
auch im Recht der Hilfe zur Pflege in der Sozialhilfe um.
Dadurch entstehen neue Schnittstellen zwischen Pflege-
versicherung und Eingliederungshilfe .

Aus meiner Sicht ist entscheidend – wir haben die
damit verbundenen Probleme gelöst – die Beibehaltung
der Gleichrangigkeit der Leistungen von Pflegeversi-
cherung und Eingliederungshilfe . Entscheidend ist, dass
niemand schlechtergestellt wird als zuvor und dass es
keine Verschiebungen zulasten der sozialen Pflegeversi-
cherung gibt. Es hat keinen Sinn, die Pflegeversicherung
mit Mehrausgaben zu belasten, ohne dass sich die Leis-
tungen für Menschen mit Behinderung verbessern . Die
kommunalen Haushalte dürfen sich zudem nicht zulas-
ten der Pflegeversicherung ihrer Aufgaben aus der Ein-

gliederungshilfe entledigen; denn die Beitragsgelder der
Versicherten dienen einzig und allein einer guten Pflege.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die drei Pflegestärkungsgesetze werden mit einer gan-
zen Reihe flankierender Maßnahmen abgerundet, und
damit wird die Pflegeversicherung einer grundlegenden
Erneuerung zugeführt . Ich denke hier an den Bürokra-
tieabbau. Ich denke hier an die Neugestaltung des Pfle-
ge-TÜVs . Ich denke hier auch an die Regelungen, die wir
zur Verbesserung der Medikamentensicherheit geschaf-
fen haben, an das E-Health-Gesetz mit dem Medikations-
plan, an das Palliativ- und Hospizgesetz.

Im Zentrum der Bemühungen steht für uns immer
mehr Qualität in der Pflege. Das gilt ausdrücklich auch
für das kommende Gesetz zur Stärkung der Heil- und
Hilfsmittelversorgung . Damit werden wir für Ausschrei-
bungen auf der Basis eines aktualisierten Heilmittelver-
zeichnisses sorgen, und wir werden sicherstellen, dass es
künftig nicht nur um eine gute Qualität der Produkte ge-
hen wird, sondern auch um eine fachkundige begleitende
Beratung und um einen anständigen Service . Ordentliche
Qualität ohne Zuzahlung soll künftig Standard sein .

Gestatten Sie mir noch einen Ausblick; denn es gibt
in Sachen Pflege auch über diese Legislaturperiode hi-
naus Handlungsbedarf . Wir müssen uns künftig darauf
konzentrieren, dass die Arbeitsbedingungen in der Pflege
attraktiver werden . Da gibt es ein weites Feld für Erleich-
terungen und verbesserte Rahmenbedingungen . Ich nen-
ne nur einige Stichworte: Digitalisierung in der Pflege,
technische Assistenz, Smart Home, Einbindung in die
Gematik, besserer Datenaustausch zwischen Kranken-
haus, Pflege, Arzt und Apotheke.

Intelligente Dokumentation und Prozesssteuerung
sind geeignet, den Personaleinsatz trotz absehbarem
Fachkräftemangel zu optimieren und damit zu einer
guten Versorgung beizutragen . Das ist ganz besonders
wichtig; denn die Pflegekräfte brauchen mehr Zeit für
Zuwendung . Mit einem Wort: Wir müssen die Rahmen-
bedingungen für den Beruf der Pflegekraft so gestalten,
dass er attraktiv bleibt und die Pflegekräfte ihm bis zur
Rente treu bleiben .

Zum Abschluss danke ich allen, die an diesem Gesetz-
gebungsverfahren beteiligt waren . Mein ganz besonderer
Dank für diesen Quantensprung, den wir geschafft haben,
geht an unsere Staatssekretärin Ingrid Fischbach . Bei
dieser Gelegenheit möchte ich aber auch Frau Kraushaar
ganz besonders erwähnen und ihr meinen Dank für diese
großartige Leistung aussprechen,


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


dieses Gesetz mit auf den Weg gebracht zu haben .

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820608300

Vielen Dank, Herr Kollege Rüddel . – Schönen guten

Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir kommen zur

Erwin Rüddel

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20523


(A) (C)



(B) (D)


nächsten Rednerin: Mechthild Rawert für die SPD-Frak-
tion .


(Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn passiert, Mechthild?)


Brauchen Sie einen Stuhl?


Mechthild Rawert (SPD):
Rede ID: ID1820608400

Nein, mir geht es gut. Danke. – Frau Präsidentin!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Pflegestärkungs-
gesetz ist für uns – das ist heute schon mehrmals zu
Recht gesagt worden – der Abschluss einer wirklich
sehr erfolgreichen Pflegereform in dieser Legislaturpe-
riode . Wir widmen uns damit der Zukunft von uns allen .
Daran sollten wir häufiger denken. Denn bereits heute
wird jeder zweite Mann im Laufe seines Lebens pflege-
bedürftig, und bei den Frauen sind es sogar annähernd
drei von vier – jeweils mit steigender Tendenz . Wir alle
kennen die großen Trends der Zukunft . Deswegen ist es
notwendig, mögliche Versorgungslücken für die Zukunft
zu schließen. Dazu leisten wir mit den Pflegestärkungs-
gesetzen Wesentliches .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Die Gewährleistung einer qualitativ hochwertigen
Pflegeinfrastruktur hat aus meiner Sicht die gleiche ge-
sellschaftspolitische Bedeutung wie die ausreichende
bundesweite Versorgung mit Kitaplätzen oder die Ge-
währleistung von Bildungsgerechtigkeit unter anderem
durch Schule – unabhängig von Herkunft, Wohnort, Ge-
schlecht, Behinderung oder finanziellem Vermögen.


(Beifall der Abg. Hilde Mattheis [SPD])


Der Zugang zu individuell bedarfsgerechter Pflege ist
Teil sozialer Gerechtigkeit . Deshalb engagieren wir uns
auch so stark in diesem Politik- und Lebensfeld.

Das PSG III ist ein gutes, wichtiges und politisch
komplexes Gesetz . Im Mittelpunkt stehen die zahlrei-
chen Interessen und Bedürfnisse der pflegebedürftigen
Menschen mit und ohne Behinderungen in ihrer ganzen
Vielfalt . Gemeinsam ist allen der Wunsch nach Selbstbe-
stimmung und Teilhabe. Das PSG III ist ein gutes Gesetz,
weil wir damit den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff ab
dem 1 . Januar 2017 für alle umsetzen – auch in der Hilfe
zur Pflege in der Sozialhilfe.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


– Danke .

Es ist ein wichtiges, gutes und auch wegweisendes Ge-
setz, weil wir damit die Pflege weiterentwickeln und die
Rolle der Kommunen in der Pflege stärken. Wir beziehen
hierbei die besonderen Kompetenzen der Kommunen
in der Pflege mit ein: in die Planung der Infrastruktur,
bei der Entwicklung der Sozialräume vor Ort und in die
Planung sowie Steuerung der Pflegeberatungsstrukturen.
Pflege gehört zur kommunalen Daseinsvorsorge. Und
mit dem PSG III tragen wir zu diesem Verständnis und
zu dieser Verantwortungsübernahme – ich gebe durchaus

zu: auch das ist noch ein Lernprozess für manche Kom-
mune – wesentlich bei .


(Beifall bei der SPD)


Das PSG III ist ein politisch komplexes Gesetz. Er-
gänzend zum Bundesteilhabegesetz haben wir die
Schnittstellen zwischen Pflegeversicherung und Einglie-
derungshilfe, zwischen Pflegeversicherung und Hilfe
zur Pflege im SGB XII geregelt. Berücksichtigt wurden
die Interessen der Menschen und die keineswegs immer
übereinstimmenden Interessen der Kostenträger: der Pfle-
gekassen, der Sozialhilfe- und Eingliederungshilfeträger .
Und auch alle Bundesländer mussten mit ins Boot; denn
dieses Bundesgesetz ist aufgrund seiner Finanzauswir-
kungen auf die Länder und Kommunen zustimmungsbe-
dürftig . Ohne die Zustimmung des Bundesrates würde es
am 1 . Januar 2017 nicht in Kraft treten .

Daher lassen Sie mich eines herausstellen: Unabhän-
gig davon, wie die einzelnen Fraktionen aus Regierung
und Opposition gleich über dieses Pflegestärkungsge-
setz III abstimmen werden: Alle tragenden Parteien –
CDU, CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und auch die
Linken – haben an unterschiedlichen Stellen Ja gesagt .
Somit kann ich sagen: Wir alle tragen die Neuerungen
des PSG III mit. Das finde ich natürlich super – im In-
teresse von Selbstbestimmung und Teilhabe vieler Men-
schen .


(Beifall bei der SPD)


Beim PSG III gilt das altbekannte Struck’sche Gesetz:
Kein Gesetz kommt aus dem Parlament so heraus, wie es
eingebracht worden ist .


(Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wäre auch schlimm!)


Wir hatten auch viele gute Grundlagen . Es hat die
Bund-Länder-Kommission gegeben . Vor allen Dingen
hatten wir viel Unterstützung und viele Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter . Daher an dieser Stelle mein Dank an die
beiden Ministerien, an die politischen Verantwortungs-
träger, an alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sowie
selbstverständlich auch an unsere eigenen Teams; denn
die waren wirklich alle sehr kompetent und einsatzbereit .

Das PSG III hat viele positive Punkte. Über die Kom-
munen ist schon viel gesagt worden . Ich denke, es ist nun
wirklich möglich, dass Bürgerinnen und Bürger mehr
über ihre Rechte und Leistungsansprüche erfahren . Ei-
nes ist klar: Es nützt das beste Gesetz nichts, wenn die
Bürgerin oder der Bürger nichts von den dynamischen
Leistungsrechten weiß . Daher: Bitte wenden Sie alle sich
an ihre Pflegestützpunkte.

Mit dem PSG III implementieren wir viele Quali-
tätsverbesserungen . Es gibt neue Qualitätsinstrumente .
Damit verbessern wir kurz- und mittelfristig die Versor-
gungssituation . Vieles wird wissenschaftlich untersucht
und evaluiert .

Wir stopfen auch Schlupflöcher. Pflegedienstleister
können sich einer Prüfung hinsichtlich einer verlässli-
chen Versorgung der Pflegebedürftigen nicht mehr ent-
ziehen, und das ist auch gut so . Transparenz ist gut; so
manches Mal ist aber Kontrolle noch besser . Nach der

Vizepräsidentin Claudia Roth

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620524


(A) (C)



(B) (D)


Aufdeckung von Betrugsfällen bei Pflegediensten kann
zukünftig außerdem die häusliche Krankenpflege stärker
kontrolliert werden .

Eines finde ich auch noch besonders toll – Herr
Rüddel, Sie hatten es angesprochen –: Bis dato war es
so, dass in tarifgebundenen Unternehmen die Beschäf-
tigten mehr Geld erhalten konnten . Darauf waren wir zu
Recht stolz . Leider ist der allergrößte Teil der privatwirt-
schaftlich geführten Pflegeunternehmen davon bis jetzt
ausgeschlossen gewesen . Das hat zu vielen Streiks in den
Unternehmen geführt . Jetzt kann man den Beschäftigten
sagen: Informieren Sie Ihren Arbeitgeber! Machen Sie
im Zweifelsfall auch Druck!


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820608500

Frau Kollegin .


(Tino Sorge [CDU/CSU]: Jetzt macht die Präsidentin Druck wegen der Redezeit!)



Mechthild Rawert (SPD):
Rede ID: ID1820608600

Bis zur Höhe von Tariflöhnen darf niemand Ihnen sa-

gen: Ihr Entgelt darf nicht steigen . – Auch hier sorgen wir
endlich dafür, dass gute Arbeit auch gut entlohnt wird .
Wir alle sagen: Arbeit in der Pflege darf nicht zur Billig-
arbeit verkommen .


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820608700

Ich darf Sie daran erinnern, dass Sie die Redezeit bei

weitem überschritten haben .


(Erwin Rüddel [CDU/CSU]: Das war auch schon ein gutes Schlusswort!)



Mechthild Rawert (SPD):
Rede ID: ID1820608800

Ja. – Pflege ist auch kein Feld für vielfach unfreiwilli-

ge Teilzeitarbeit .

Mit anderen Worten: Wir haben Großes geleistet . Wir
werden weiterhin Großes leisten . Wenn wir jetzt noch
die Pflegeberufereform unter Dach und Fach bekommen,
dann gebe ich sogar noch einen aus .

Danke .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820608900

Daran werden wir Sie erinnern . Und jetzt erst mal gute

Besserung!


(Mechthild Rawert [SPD]: Danke!)


Jetzt ist Zeit für Applaus . Normalerweise wird an die-
ser Stelle geklatscht .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Alle waren anscheinend so beeindruckt, weil Sie einen
ausgeben wollen . So einfach ist das .

Der nächste Redner: Erich Irlstorfer für die CDU/
CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Erich Irlstorfer (CSU):
Rede ID: ID1820609000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich wollte meine Rede eigentlich ganz anders beginnen,
aber, verehrte Kollegin Schulz-Asche, Sie fordern mich
förmlich heraus, erst auf Ihre Rede einzugehen . Sie ha-
ben gesagt: Kreativität und Mut haben bei den Pflegestär-
kungsgesetzen gefehlt . – Ich kann Ihnen nur sagen, dass
dieser positive Einschnitt in die Pflege, den wir in dieser
Legislatur geschafft haben, immer von dem Gedanken
geprägt war: Wie entwickelt sich Deutschland? Wie ist
die demografische Situation? Hier waren sehr wohl viel
Kreativität, Mut und ein hohes Maß an Fachlichkeit in
Kombination mit Menschlichkeit immer mit dabei . Ich
möchte uns hier nicht loben, aber ich denke, dass wir da-
bei erfolgreich waren .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Pflege-
stärkungsgesetze in dieser Legislatur bringen spürba-
re Verbesserungen für die Menschen in unserem Land .
Wenn wir in die Pflegeeinrichtungen gehen und mit den
Pflegekräften und vor allem mit den zu pflegenden Per-
sonen und ihren Angehörigen sprechen, dann erhalten
wir ausgesprochen viel Zustimmung . Selbst diejenigen,
die von den hohen Beiträgen zur Pflegeversicherung
betroffen sind, also Beitragszahlerinnen und Beitrags-
zahler, egal ob Arbeitgeber oder Arbeitnehmer, haben
sich mit Kritik zurückgehalten, weil sie wissen, dass das
Geld richtig angelegt ist und dass das Geld auch dort an-
kommt, wo wir es dringend benötigen . Denn – das muss
man an dieser Stelle auch einmal sagen – diese Bundes-
regierung hat sich entschieden, dass sie nicht nur in Stra-
ßen, Schienen und Gebäude investiert, sondern dass sie
in Menschen investiert. Das ist die Melodie unserer Poli-
tik, meine sehr geehrten Damen und Herren .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg . Mechthild Rawert [SPD])


Aufgrund dieser im Allgemeinen doch positiven Situ-
ation, auch in der Szene, kann ich über eine Ablehnung
des Gesetzentwurfes wirklich nur den Kopf schütteln .
Meine Damen und Herren, mir ist schon bewusst, dass
die Opposition in einem politischen System eine beson-
dere Rolle als Kontrollorgan hat, welches auch einmal
lautstark Kritik übt und vielleicht einmal über das Ziel
hinausschießen darf . Aber ein gewisser Bezug zur Rea-
lität, meine sehr geehrten Damen und Herren – das geht
vor allem auch an die Linke –, wäre auf jeden Fall auch
einmal angebracht .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg . Dagmar Ziegler [SPD] – Maria Michalk [CDU/CSU]: Das ist wahr!)


Dass durch dieses Gesetz sogar Verschlechterungen
für Menschen mit Pflegebedarf oder gar mit Behinderung
zu konstatieren wären, war von Ihnen teilweise zu hören .
Ich kann nur sagen: Das ist einfach falsch . Durch dieses
Gesetz, meine sehr geehrten Damen und Herren, werden

Mechthild Rawert

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20525


(A) (C)



(B) (D)


viele Menschen bessergestellt und niemand soll und wird
schlechtergestellt werden .

Da wir mit dem Pflegestärkungsgesetz viel am offenen
System operiert haben, war es nicht einfach, das sicher-
zustellen . Es ist aber mit Übergangsregeln und Regeln
zum Bestandsschutz gelungen . Anders als Sie sagen,
droht auch nicht, dass die Träger der Pflegeversicherung
und der Eingliederungshilfe auf dem Rücken der Betrof-
fenen darüber in Konflikt geraten, wer für die Leistungen
zuständig ist . Ich bitte Sie wirklich: Verunsichern Sie
nicht laufend die Leute in unserem Land mit Ihren Aus-
sagen! Diese Debatte, die wir hier teilweise führen, ist
wirklich schändlich .


(Widerspruch bei der LINKEN – Harald Weinberg [DIE LINKE]: Quatsch!)


Ich möchte auch sagen: Das Thema Bürgerversiche-
rung wird immer wieder in die Debatte eingestreut, egal
von welcher Seite . Dabei wird mit sympathischen For-
mulierungen wie „Bürgerversicherung“ und „Solidarität“
jongliert .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Mechthild Rawert [SPD]: Das finde ich auch gut!)


Aber wissen Sie, was mir fehlt? Sie sind nicht in der
Lage, den Vorteil zu benennen, die systematische Ver-
besserung .


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Keine Zweiklassenmedizin!)


Wo ist denn der Vorteil, meine sehr geehrten Damen und
Herren? Dazu haben wir bisher wenig gehört .


(Katrin Werner [DIE LINKE]: Da haben Sie ja wohl nicht zugehört!)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, da Pflegeleis-
tungen und Leistungen der Eingliederungshilfe zusam-
menfallen, sind jetzt die Beteiligten verpflichtet – diese
Verpflichtungsregelung ist neu –, sich mit Zustimmung
des Betroffenen über Modalitäten der Übernahme und
Durchführung der Leistungen sowie der Erstattung zu
einigen . Dies ist ein großer Fortschritt im Interesse der
Pflegebedürftigen; denn sie müssen sich nicht mit der Bü-
rokratie auseinandersetzen – diese Abstimmung läuft im
Hintergrund ab . Auch das gehört zur Wahrheit . Jetzt ist
es folgendermaßen geregelt: Die eine Stelle übernimmt
die Leistung, die andere den Teil der Kosten, der von ihr
zu tragen ist . Für diesen Bereich der Schnittstellenprob-
lematik haben wir also in diesem Gesetz eine klare und
gute Regelung gefunden .

Das gilt auch für andere große Fragen: Vorrang,
Gleichrang – es wurde erwähnt . In meiner Rede zum
PSG III im September hatte ich erwähnt, dass von Be-
troffenen und ihren Verbänden die Befürchtung geäußert
wurde, im Verbund mit dem Bundesteilhabegesetz könne
es an den Schnittstellen zu Nachteilen für pflegebedürfti-
ge Behinderte kommen . Meine sehr geehrten Damen und
Herren, ich glaube, es ist uns allen gelungen, dass wir
diese geäußerten Bedenken ausräumen konnten, weil wir
die Menschen ernst genommen haben . Es ist, glaube ich,
eine Stärke unseres Parlaments, dass wir hier kritikfähig

waren und die entsprechenden Punkte eingebracht haben.
Deshalb ist es ein gutes Gesetz, und deshalb werden wir
heute auch zustimmen .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820609100

Vielen Dank, Erich Irlstorfer . – Nächste Rednerin für

die SPD-Fraktion: Heike Baehrens.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Heike Baehrens (SPD):
Rede ID: ID1820609200

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das PSG III hat im
Rahmen der parlamentarischen Beratungen den richtigen
Schliff bekommen. In Anknüpfung an die Debatte heute
Morgen möchte ich sagen: Es zeugt von guter demokrati-
scher Kultur, wenn ein ordentlicher Gesetzentwurf nach
intensiven Debatten, Gesprächen mit Betroffenen und
Experten weiter verbessert wird .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Denn auf diesem Weg konnte erreicht werden, was wir
heute beschließen: dass die Leistungen der Eingliede-
rungshilfe für Menschen mit Behinderung im Verhältnis
zur Pflegeversicherung auch zukünftig nicht nachrangig
sind . Erst diese notwendige Klarstellung hat es möglich
gemacht, dass wir heute Morgen die größte sozialpoli-
tische Reform dieser Legislaturperiode tatsächlich be-
schließen konnten: das Bundesteilhabegesetz .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Menschen mit Behinderungen haben sowohl einen
Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung als
auch auf Leistungen zur gleichberechtigten Teilhabe am
Leben in der Gesellschaft . Darüber, wer dies zu bezah-
len hat, müssen sich die Kostenträger verständigen . Dazu
werden die Pflegekassen nun am neugeschaffenen Teil-
habe- und Gesamtplanverfahren der Eingliederungshilfe
beratend beteiligt . Der bisher bestehende Gleichrang der
Leistungen der Pflege und der Eingliederungshilfe bleibt
also bestehen . Gleichzeitig – das ist ganz wichtig – wer-
den die Mitwirkungsrechte von Menschen mit Behin-
derungen hinsichtlich dieser Verfahrensschritte deutlich
gestärkt . Das ist eine wichtige Errungenschaft, die vor al-
lem der Beharrlichkeit unserer Fraktion zu verdanken ist .


(Beifall bei der SPD)


Leider sind die Regelungen zur Abgrenzung der am-
bulant betreuten Wohngemeinschaften gegenüber statio-
nären Wohnangeboten im PSG III recht kompliziert gere-
gelt worden . Dennoch bin ich zuversichtlich, dass damit
sichergestellt wird, dass auch zukünftig alle Menschen
mit Behinderung, die ambulant betreut wohnen möchten,
auch weiterhin die vollen Leistungen der Pflegeversiche-
rung erhalten, selbst dann, wenn sie einen hohen Pfle-

Erich Irlstorfer

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620526


(A) (C)



(B) (D)


ge- und Betreuungsbedarf haben . Denn „ambulant vor
stationär“ steht allen Menschen zu .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Von der Opposition war heute Morgen und auch jetzt
zu hören, dass es mit diesem Gesetz nicht gelungen sei,
die Kommunen nachhaltig in ihrer Beratungskompetenz
zu stärken; dafür hätte mehr Geld eingesetzt werden müs-
sen, so die Opposition . – Wie kommen Sie eigentlich da-
rauf, dass die Pflegeversicherung die Kommunen in die
Lage versetzen muss, Pflegeberatung leisten zu können?
Schon längst vor Einführung der Pflegeversicherung
hatten Kommunen und Landkreise die Aufgabe, für das
Vor- und Umfeld der Pflege zu sorgen. Ja, sie haben noch
immer im Rahmen der öffentlichen Daseinsvorsorge den
verbindlichen Auftrag, sich um die alten Menschen vor
Ort zu kümmern und sie in allen Lebenslagen bei Fragen
rund um die Versorgung zu beraten und zu unterstützen;
der Auftrag ist in § 71 SGB XII im Rahmen der Altenhil-
fe verankert . Diese Verantwortung haben sie .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Eine solche Beratung muss oft lange vor einem fest-
gestellten Pflegebedarf ansetzen – nur dann ist sie wir-
kungsvoll –, und sie muss selbstverständlich als gesamt-
gesellschaftliche Aufgabe aus Steuermitteln finanziert
werden .

Es gibt durchaus Gemeinden und Landkreise, die
diese Aufgaben vorbildlich wahrnehmen – das weiß ich
auch aus meinem eigenen Wahlkreis –, weil sie nahe dran
sind an dem, was ihre Bürgerinnen und Bürger brauchen,
wenn sie älter werden oder krank sind . Aber es gibt auch
viele Kommunen und Landkreise, die sich seit der Ein-
führung der Pflegeversicherung vor mehr als 20 Jahren
vornehm zurückgelehnt haben, um abzuwarten, was nun
alles von den Pflegekassen und von Pflegedienstleistern
übernommen wird,


(Hilde Mattheis [SPD]: Genau!)


und dies, obwohl gerade die Kommunen und Landkreise
mit der Einführung der Pflegeversicherung in erhebli-
chem Umfang bei den Sozialhilfekosten, also der Hilfe
zur Pflege, entlastet wurden.

Darum sage ich: Die Kommunen und Landkreise sind
im Rahmen der öffentlichen Daseinsvorsorge dazu ver-
pflichtet, dass sie nicht nur mithilfe dessen, was wir heute
im PSG III regeln, sondern auch aus eigenem Antrieb,
aus eigener Verantwortung heraus wieder mehr tun im
Bereich der Altenhilfe und dies auch finanzieren. Das
sind sie ihren Bürgerinnen und Bürgern schuldig . Auch
dafür werden wir die Kommunen zukünftig um 5 Milli-
arden Euro jährlich entlasten .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich komme zum Schluss . Bund, Länder und Gemein-
den haben gemeinsam für ein würdevolles Altern und für
gute Rahmenbedingungen in der Pflege zu sorgen. Mit
dem heutigen dritten Baustein der umfassenden Pflegere-
form leisten wir, aber eben auch alle Beitragszahlerinnen

und Beitragszahler der Pflegeversicherung, dazu einen
wichtigen Beitrag .

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820609300

Vielen Dank, Heike Baehrens . – Und der letzte Redner

in dieser Debatte: Tino Sorge für die CDU/CSU-Frakti-
on .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg . Mechthild Rawert [SPD])



Tino Sorge (CDU):
Rede ID: ID1820609400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tri-
bünen! Wir haben den ganzen Vormittag über Gesetze
debattiert, die mit Fürsorge zu tun haben . Mir ist heute
Morgen leider aufgefallen – das ist von einigen Kollegen
schon angesprochen worden –, dass wir nie gesagt ha-
ben, was wir gut gemacht haben bzw . die Opposition hat
immer nur gesagt: Na ja, ganz schlecht war es nicht, aber
wir greifen uns nur die schlechten Sachen heraus . – Das
fand ich, ehrlich gesagt, ein bisschen schade .

Wir hatten gestern die Anhörung zum Heil- und
Hilfsmittelversorgungsgesetz, wir haben heute das Bun-
desteilhabegesetz verabschiedet, und wir werden jetzt
gleich das Pflegestärkungsgesetz III verabschieden. In-
sofern können wir sagen, dass wir gerade im Gesund-
heitsbereich in dieser Legislatur viele Verbesserungen
auf den Weg gebracht haben . Und es geht nicht darum,
dass wir uns auf die Schulter klopfen – wie hier einige
immer meinen – und sagen, wie toll wir sind, sondern es
geht einfach darum, zu sagen: Es gibt Verbesserungen;
und diese Verbesserungen wollen wir benennen .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Helmut Heiderich [CDU/CSU]: 16 neue Gesetze!)


Gerade kam ein Zwischenruf von unserem Haushäl-
ter, und Haushälter schauen sich die Zahlen immer sehr
genau an . In Bezug auf den Bereich Gesundheit kann
man sagen – das muss man sich einmal vorstellen –: Wir
haben in dieser Legislatur 16 Gesetze und damit Verbes-
serungen in diesem Bereich auf den Weg gebracht . Das
kann man doch nicht einfach so vom Tisch wischen . Man
darf nicht immer nur sagen: Das ist schlecht, wir reden
nicht darüber .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, werden wir doch
einmal konkret . Es ist schon angesprochen worden: Wir
reden über Teilhabe, und wir reden über Verbesserungen
für die Menschen gerade im Bereich der Pflege. Wenn
wir zu den Menschen auf den Tribünen schauen, dann
sehen wir ein Abbild unserer Gesellschaft . Wir sind eine
Gesellschaft, die immer älter wird, die gesünder älter
wird, aber dann im höheren Alter auch multimorbider .


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Da sind auch junge Leute!)


Heike Baehrens

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20527


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Gleichzeitig gibt es die jüngere Generation – auch die
sehr junge Generation sehe ich da oben –, und gerade für
den Bereich der Pflege ist es immer wichtig, darauf hin-
zuweisen: Es betrifft nicht nur die Alten, es betrifft nicht
nur betagte Menschen, sondern das Thema kann jeden
betreffen, junge Menschen genauso wie alte Menschen.
Deshalb ist Pflege ein gesamtgesellschaftlicher Auftrag,
und das müssen wir klarer benennen .


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Warum klatscht da Ihre Fraktion nicht?)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu der Frage, was
wir mit diesem Gesetz verbessern, ist schon viel gesagt
worden. Als Schlussredner hat man das Privileg, auf ein-
zelne Dinge eingehen zu können, die besonders wichtig
sind . Ich will die Verbesserungen an einem Beispiel fest-
machen:

Eine 80-jährige Frau, verwitwet, zwei Kinder . Die
Kinder sind, wie das heute üblich ist, nicht vor Ort, kön-
nen sich nicht um die Mutter kümmern . Sie sind relativ
selten bei der Mutter, einmal im Quartal . – Es ist ganz
wichtig, dass wir dieser Frau und all diesen Menschen
konkrete Angebote unterbreiten . Künftig können sie –
das ist eine Verbesserung, die aus diesem Gesetz folgt –
in ihrer Gemeinde, also vor Ort, bei vertrauten Personen,
ohne langen Anfahrtsweg und ohne Stress Beratung
erhalten, sich informieren . Wir verbessern die regional
verankerte Beratung über individuelle Ansprüche und
Hilfemöglichkeiten .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das ist eine ganz konkrete Ausformung des Schwer-
punkts, den wir hier immer ansprechen . Wir reden von
einer besseren Versorgung im ländlichen Raum, von ei-
ner strukturellen Stärkung des ländlichen Raums . Genau
darum geht es an dieser Stelle: Wir stärken die Rolle der
Kommunen bei der Pflege; wir stärken die Kommunen in
ihren begrenzten Gestaltungsmöglichkeiten . Wir geben
den Kommunen nicht nur die Möglichkeit, flexibler zu
agieren, sondern wir nehmen auch eine Menge Geld in
die Hand .

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, dieses Pro-
blem betrifft nicht nur einzelne Regionen. Ich komme aus
dem wunderschönen Bundesland Sachsen-Anhalt . Mein
Wahlkreis beinhaltet neben der Landeshauptstadt auch
viel ländlichen Raum . Daher weiß ich, wie wichtig es ist,
dass die Länder und die Kommunen gerade im ländli-
chen Raum noch viel mehr niedrigschwellige Angebo-
te unterbreiten können; das ist hier schon angesprochen
worden . Dabei geht es manchmal um relativ triviale Din-
ge wie die Einrichtung mit Mobiliar, aber auch um die
Ausstattung mit Personal.


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Umbaumaßnahmen!)


Wir wissen ja alle, dass wir mehr Personal brauchen.
Jetzt kann man zwar sagen: „Wir brauchen mehr, mehr,
mehr . . .“, man kann aber auch einmal sagen: „Da hat es
Verbesserungen gegeben“; und diese Verbesserungen

sind, objektiv betrachtet, Fakt . Das sollten Sie von der
Opposition auch mal so benennen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg . Mechthild Rawert [SPD])


Vor dem Hintergrund der demografischen Entwick-
lung bei gleichzeitig knapper werdenden Mitteln sor-
gen wir mit diesem Gesetz dafür, dass die Mittel bes-
ser ausgeschöpft werden können . Die Finanzmittel der
Kommunen sind immer knapp . Es gibt Länder, die ihre
Mittel nicht ausschöpfen, und Länder, die einen höheren
Mittelbedarf haben . Wir sagen jetzt ganz konkret: Wenn
die Mittel nicht ausgeschöpft werden können, besteht die
Möglichkeit, sie zu verschieben . Das heißt, die Mittel
verfallen nicht. Dadurch können sie effizienter eingesetzt
werden . Das ist ein tatsächlicher Mehrwert . Dabei geht
es, wenn man so will, auch um die Solidarität zwischen
den Ländern .

Vielleicht noch ein Wort zum Abrechnungsmiss-
brauch, weil wir auch über diese Thematik gesprochen
haben. Wir haben mit dem PSG III bessere Möglichkeiten
zur Ahndung von Abrechnungsmissbrauch – hier gab es
ja Auswüchse – geschaffen. Es kann jetzt besser geprüft
werden . Ich möchte hier aber ganz klar sagen, dass wir
nicht eine ganze Branche pauschal unter Verdacht stellen
dürfen . Die schwarzen Schafe, die es in diesem Bereich
gibt, können wir – das zumindest ist der Anspruch dieses
Gesetzes – zukünftig besser herausfiltern. Wir müssen
aber sagen, dass das Gros der Branche eine ordentliche
Arbeit erbringt, sich aufopfert und gute Qualität anbietet .
Diesen Punkt möchte ich heute ganz besonders betonen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Da wir uns in der Adventszeit befinden, möchte ich
meine Rede etwas besinnlich schließen .


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ein Gedicht!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820609500

So viel Zeit hat er nicht .


Tino Sorge (CDU):
Rede ID: ID1820609600

Die Präsidentin sagt, ich habe nicht mehr genug Zeit

für ein Gedicht . Sonst hätte ich gerne eins vorgetragen,
Herr Kollege Wunderlich .

Ich möchte nicht nur dem Ministerium, insbeson-
dere Karl-Josef Laumann, Ingrid Fischbach und Frau
Kraushaar – sie ist ja auch erwähnt worden –, danken,
sondern ich möchte auch denjenigen danken, die ihre Ar-
beit im Hintergrund erledigt haben, also all denjenigen,
denen heute noch nicht gedankt worden ist .

Ich wünsche Ihnen und uns allen eine schöne Ad-
ventszeit und eine schöne Weihnachtszeit. Ich hoffe, dass
wir alle, Frau Kollegin Rawert, gesund ins neue Jahr
kommen .

Tino Sorge

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620528


(A) (C)



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Herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820609700

Vielen Dank, Herr Kollege Sorge . Vor der Weih-

nachtszeit haben wir aber noch eine Sitzungswoche . Da-
rauf will ich hinweisen .


(Beifall des Abg . Matthias W . Birkwald [DIE LINKE])


Wir sind in der Adventszeit; ja, da gebe ich Ihnen recht .

Ich schließe die Aussprache .

Tagesordnungspunkt 4 a . Wir kommen zur Abstim-
mung über den von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der pflegerischen
Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften .

Mir liegt eine schriftliche Erklärung von Ulla Schmidt
nach § 31 der Geschäftsordnung vor .1)

Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 18/10510, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf den Drucksachen 18/9518 und 18/9959 in der Aus-
schussfassung anzunehmen . Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, jetzt um ihr Handzeichen . – Wer stimmt dage-
gen? – Enthält sich jemand? – Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung angenommen . Zugestimmt
haben CDU/CSU und SPD. Dagegen waren Bündnis 90/
Die Grünen und die Linke .

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist angenommen bei Zustimmung von CDU/
CSU und SPD und bei Ablehnung von Bündnis 90/Die
Grünen und der Linken .

Abstimmung über den Entschließungsantrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/10530 .
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschlie-
ßungsantrag ist abgelehnt . Zugestimmt hat Bündnis 90/
Die Grünen. Dagegen waren CDU/CSU und SPD. Ent-
halten hat sich die Linke .

Tagesordnungspunkt 4 b . Wir setzen die Abstimmun-
gen zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für
Gesundheit auf Drucksache 18/10510 jetzt fort .

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/8725 mit dem
Titel „Pflege teilhabeorientiert und wohnortnah gestal-
ten“ . Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen . Zugestimmt haben CDU/CSU,

1) Anlage 3

SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Dagegen war die Lin-
ke . Enthalten hat sich niemand . Damit ist die Beschluss-
empfehlung angenommen .

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
18/9668 mit dem Titel „Pflege vor Ort gestalten – Bes-
sere Bedingungen für eine nutzerorientierte Versorgung
schaffen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen . Zugestimmt haben
CDU/CSU und SPD. Dagegen war Bündnis 90/Die Grü-
nen . Enthalten hat sich die Linke .

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias

W . Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau),
Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Zeit für einen Kurswechsel – Rentenniveau
deutlich anheben
Drucksache 18/10471
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11 . Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-

ten Matthias W . Birkwald, Sabine Zimmermann

(Zwickau), Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter

und der Fraktion DIE LINKE
Rentenniveau anheben – Für eine gute, le-
bensstandardsichernde Rente
Drucksachen 18/6878, 18/10517

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind
für die Aussprache 60 Minuten vorgesehen . – Ich höre
keinen Widerspruch . Ich sehe auch keinen Widerstand .
Dann ist das so beschlossen .

Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort Matthias
W . Birkwald für die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1820609800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Ich sehe Finanzstaatssekretär Spahn auf der Re-
gierungsbank sitzen . Deswegen will ich zunächst einmal
die Gelegenheit nutzen, noch einmal darauf hinzuweisen,
dass wir eines in diesem Land auf gar keinen Fall ma-
chen dürfen: Kinderarmut und Altersarmut gegeneinan-
der ausspielen . Wir müssen beides bekämpfen .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Dagmar Schmidt [Wetzlar] [SPD])


Deswegen will ich kurz sagen: Nach den Kriterien
der Europäischen Union haben wir derzeit 2,5 Millionen
arme Kinder in diesem Land und über 2,85 Millionen
arme Menschen, die ihren 65 . Geburtstag bereits hinter

Tino Sorge

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20529


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(B) (D)


sich gebracht haben . Liebe Koalition, hören Sie bitte da-
mit auf, zu behaupten, es gebe keine Altersarmut, es gebe
nur viel Kinderarmut . Es gibt beides, und wir müssen ge-
gen beides etwas tun .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, 1957 hat Konrad Adenauer
unser heutiges System der gesetzlichen Rente eingeführt .
Sein Ziel war es, dass Menschen nach ihrem Arbeitsle-
ben in den wohlverdienten Ruhestand gehen können,
ohne auf allzu viel im Alter verzichten zu müssen . Das
nennt man Lebensstandardsicherung . Alle Experten sind
sich einig: Dafür brauchen wir ein Rentenniveau von
53 Prozent.


(Beifall bei der LINKEN – Kerstin Griese [SPD]: Alle Experten?)


– Alle Experten und Expertinnen! – Bis zur Jahrtausend-
wende hielten sich Union und SPD auch an dieses Ver-
sprechen. Dann kamen Gerhard Schröder, SPD, Joschka
Fischer, Grüne, Walter Riester, SPD, und die Union und
die FDP haben zugestimmt, das Rentenniveau zu senken.

Jetzt sage ich Ihnen einmal, was die Absenkung des
Rentenniveaus bewirkt hat . Im Jahr 2000 bekamen lang-
jährig Versicherte, also Menschen, die immerhin 35 Jah-
re lang Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung
eingezahlt hatten, wenn sie in die Rente gingen, noch
1 021 Euro auf ihr Konto überwiesen . Im Jahr 2015 wa-
ren das nur noch 848 Euro. Wenn Sie sämtliche Preisstei-
gerungen einrechnen, stellen Sie fest, eine solche Rente
hätte im Jahr 2015 eigentlich 1 340 Euro betragen müs-
sen. Das bedeutet: Die Rentenreformen von SPD, Grü-
nen, CDU/CSU und FDP kosten langjährig Versicherte
jeden Monat 492 Euro. Ich finde, das ist skandalös.


(Beifall bei der LINKEN – Sven Volmering [CDU/CSU]: Das ist die eine Seite der Bilanz!)


Das ist das verheerende Ergebnis einer falschen Ar-
beits- und Arbeitsmarktpolitik und einer falschen Ren-
tenpolitik. Diese falsche Politik muss dringend gestoppt
werden, meine Damen und Herren .


(Beifall bei der LINKEN)


Einer der wichtigsten Gründe von vielen für diese
Entwicklung ist das sinkende Rentenniveau . Vereinfacht
gesagt ist das Rentenniveau das Verhältnis einer ver-
fügbaren Standardrente zu einem verfügbaren Durch-
schnittseinkommen . Es hat also nichts mit dem letzten
Gehalt im Erwerbsleben zu tun .


(Beifall der Abg. Katja Mast [SPD])


Das Rentenniveau ist aber die wichtigste Stellschraube
für die Menschen, die bereits heute in Rente sind, und
für diejenigen, die künftig in Rente gehen werden . Wenn
nämlich das Rentenniveau sinkt, werden die Rentne-
rinnen und Rentner noch mehr als bisher von der Ein-
kommensentwicklung der arbeitenden Menschen abge-
koppelt . Man könnte auch sagen: Ihnen wird ein Stück

Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand verwehrt . Das,
meine Damen und Herren, darf nicht sein .


(Beifall bei der LINKEN)


Im April dieses Jahres hatte CSU-Chef Horst Seehofer
erkannt, dass etwas falsch läuft . Er forderte höhere Al-
tersbezüge für alle und die Rückabwicklung der Ries-
ter-Rente . Er behauptete sogar kühn, dass die 2001
beschlossene Kürzung des Rentenniveaus dazu führen
werde, „dass etwa die Hälfte der Bevölkerung in der
Sozialhilfe landen würde“. Dies betreffe besonders Frau-
en, die oft weniger verdienten als Männer und die ihre
Berufstätigkeit zugunsten der Familie unterbrächen . Bei
der Reform müsse der gesetzliche Anteil an der Rente
im Zentrum der Überlegungen stehen . Nicht einmal die
Hälfte der Bevölkerung sorge privat fürs Alter vor . Er
sagte wörtlich: „Die Riester-Rente ist gescheitert .“ Recht
hat er!


(Beifall bei der LINKEN – Kerstin Griese [SPD]: Herr Seehofer und die Linke!)


– Sie können heute in der Süddeutschen Zeitung nachle-
sen, Kollegin Griese, wie recht er damit hat und wie rich-
tig das ist . In der Süddeutschen Zeitung finden Sie heute
ein vernichtendes Urteil zu der ganzen Riester-Reform .

Ich komme auch zur SPD. Sie hat nämlich mit ihrem
Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel ins gleiche Horn ge-
stoßen . Sigmar Gabriel sagte:

Das Niveau der gesetzlichen Rente darf nicht weiter
sinken, sondern muss auf dem jetzigen Niveau sta-
bilisiert werden .

Was aber kam nach dem Koalitionsgipfel genau heute
vor einer Woche in Sachen Rentenniveau nach wochen-
langen geheimnisvollen Ankündigungen der Arbeitsmi-
nisterin von zwei Haltelinien heraus? Gar nichts! Null!
Niente! Nitschewo! Nada! Zero! – Sigmar Gabriel und
Horst Seehofer, zwei der Parteichefs von Schwarz-
Schwarz-Rosa, haben sie voll auflaufen lassen. Das ist
doch die Wahrheit!

Zu den Ostrentnerinnen und -rentnern sagen Staats-
sekretär Jens Spahn und sein Chef, Finanzminister
Schäuble: Mir gäbet nix . – Bei allem Respekt vor
Frau Ministerin Nahles: Man könnte auch sagen: Herr
Schäuble und Herr Spahn ziehen die Frau Arbeitsminis-
terin Nahles am Nasenring durchs Kanzleramt . So ist es
doch!


(Beifall bei der LINKEN)


Ja, ich weiß: Bei der EM-Rente hat es Verbesserungen
bei der Zurechnungszeit gegeben . Dazu muss man aber
wissen: von 2018 bis 2024 . Für die heutigen Erwerbs-
minderungsrentnerinnen und -rentner, deren Renten viel
zu niedrig sind, tun Sie alle rein gar nichts . Das ist die
Wahrheit .


(Beifall bei der LINKEN – Dr . Martin Rosemann [SPD]: Da haben wir doch schon etwas getan!)


Sie lassen sie im Regen stehen .

Matthias W. Birkwald

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620530


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(B) (D)


Zu den Ostrenten . Jemand, der 1990, beim Fall der
Mauer, in Rente ging, muss jetzt 100 Jahre alt werden,
um noch „gleiche Rente für gleiche Lebensleistung“ zu
erleben . Meine Damen und Herren von der Koalition, ich
sage Ihnen: Das ist null Leistung .


(Beifall bei der LINKEN)


Das Rentenniveau darf jetzt auch in Zukunft weiter
sinken . CSU-Chef Seehofer hat nur eine große Klappe
gehabt . Die Koalition lässt Alte und Junge im Regen ste-
hen . Ich sage: Das ist ein Armutszeugnis .


(Dr. Martin Rosemann [SPD]: Nicht die Koalition! Die CSU!)


Jetzt sind alle enttäuscht . Sogar Ministerin Nahles ist von
den Beschlüssen des Koalitionsgipfels enttäuscht . Die
Rentnerinnen und Rentner sind enttäuscht . Ministerin
Nahles konnte der CDU nicht einmal abringen, dass das
Rentenniveau wenigstens stabil bei den heutigen 48 Pro-
zent bleibt .

Frau Nahles, ich sage: Im Interesse der vielen Milli-
onen Menschen, die bereits heute Rente beziehen oder
einmal eine beziehen wollen, hätte ich Ihnen hier einen
Erfolg gegönnt . Stattdessen sagen Sie in der FAZ:

Ich würde ungern über das Rentenniveau streiten
im Wahlkampf . Das führt zu einem reinen Überbie-
tungswettbewerb und wird zu teuer . Das kann sich
nur die Linkspartei leisten, die sich einen feuchten
Kehricht darum kümmert, was es kostet .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)


– Klatschen Sie nicht zu früh . – Das sagt die Richtige!
Sie will nämlich noch einmal zusätzliche 60 Millionen
Euro in den Riester-Unsinn investieren .

Nein, genau deshalb sind unsere beiden Anträge rich-
tig und wichtig . Wir müssen das Rentenniveau wieder
auf 53 Prozent anheben; denn dann hätten wir die Pro-
bleme mit dem absinkenden Niveau nicht mehr, und die
Menschen könnten auch im Alter ihren Lebensstandard
halten. Das ist auch finanzierbar.

Ein Rentenniveau von 53 Prozent brächte der Stan-
dardrentnerin oder dem Eckrentner von heute 127 Euro
mehr netto und dem von 2030 314 Euro, und das ist
auch finanzierbar. Ich kann es nicht mehr hören, dass
die Beiträge in den Himmel wachsen, durch die Decke
gehen oder explodieren . Jemand, der heute durchschnitt-
lich verdient – 3 022 Euro brutto im Monat –, müsste
nur 33 Euro mehr in die gesetzliche Rentenversicherung
zahlen – und der Arbeitgeber auch . Dann würden wir das
Rentenniveau erreichen .


(Dr. Martin Rosemann [SPD]: Ja, heute! – Katja Mast [SPD]: Und 2045?)


– Ich habe mit Ihrem Zuruf gerechnet . Die Bundesre-
gierung geht von einem durchschnittlichen Bruttoein-
kommen von 4 423 Euro im Jahre 2029 aus . Dann kann
man dadurch, dass man 99 Euro mehr pro Monat in die
gesetzliche Rentenversicherung einzahlt, ein lebensstan-
dardsicherndes Rentenniveau sichern .

Jetzt kommt der Clou: Dann brauchen wir die Ries-
ter-Beiträge nicht mehr . Sie muten den Menschen zu,
mindestens 4 Prozent ihres Einkommens für Riester ein-
zuzahlen . Das heißt, die Menschen hätten heute jeden
Monat 75 Euro mehr in der Tasche – 108 Euro weniger
für Riester, 33 Euro mehr in die gesetzliche Rentenver-
sicherung –, und im Jahr 2029 wären es noch 65 Euro
mehr . Ich sage Ihnen: Ein anständiges Rentenniveau ist
finanzierbar.


(Beifall bei der LINKEN)


Diese Berechnung wird auch von der Ministerin in
ihrem schönen Rentenversicherungskonzept bestätigt .
Schauen Sie auf Seite 26! Da werden alle Zahlen belegt .


(Sven Volmering [CDU/CSU]: Das ist Quatsch mit Soße, echt!)


Im Jahr 2000 musste man 24 Jahre arbeiten, um bei
einem Rentenniveau von 53 Prozent eine Rente in Höhe
der Sozialhilfe bzw . der Grundsicherung im Alter zu be-
kommen . Aktuell sind das aber schon 29 Jahre und 9 Mo-
nate, und wenn es so weitergeht, dann werden wir dies in
Zukunft selbst bei einem Rentenniveau von 46 Prozent
erst nach 33 Jahren erreichen .

Ich komme zum Schluss .


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820609900

Ja, bitte .


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)



Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1820610000

Hören Sie auf Norbert Blüm . Er war 16 Jahre Arbeits-

minister und hat gesagt – Zitat –:

Die Rente muss höher sein als die Grundsicherung,
sonst verliert das System seine Legitimation . Ein
Niveau von 46 Prozent wird dafür nicht reichen.

Recht hat er .

Man kann eine gute Rente finanzieren. Schauen Sie
nach Österreich . Darüber reden wir aber ein anderes Mal .

Ich sage: Herzlichen Dank .


(Beifall bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820610100

Vielen Dank, Matthias W . Birkwald . Meine Bemer-

kung vorhin bezog sich auf das Überziehen der Redezeit .
Ich bin nämlich ganz objektiv. – Nächster Redner: Peter
Weiß für die CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg . Dagmar Ziegler [SPD])



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1820610200

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Gestern hat das Bundeskabinett den Rentenversiche-
rungsbericht 2016 beschlossen . Es ist etwas geschehen,
was in den Voraussagen der letzten Jahre nicht enthalten
war und was völlig dem widerspricht, was die Linke vor-

Matthias W. Birkwald

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20531


(A) (C)



(B) (D)


trägt, dass es nämlich einen tiefen Absturz des Rentenni-
veaus geben werde: Das Rentenniveau ist in diesem Jahr
gestiegen . Das Rentenniveau wird voraussichtlich auch
im kommenden Jahr steigen, und es wird über mehrere
Jahre auf einem hohen Niveau bleiben .

Warum widerspricht diese Nachricht allem was bisher
gesagt wurde? Weil die gute wirtschaftliche Entwicklung
in Deutschland und vor allem die zunehmende Anzahl
sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnis-
se – jeden Monat mehr als im Vormonat – dazu führen,
dass nicht nur genügend Geld in die Rentenversicherung
fließt, sondern dass das Rentenniveau sogar steigt. Das
ist die eigentliche positive Nachricht, die allem wider-
spricht, was die Linken hier vortragen . Mit einer guten
wirtschaftlichen Entwicklung – das ist das Entschei-
dende – und mit mehr sozialversicherungspflichtiger
Beschäftigung wird die Rente stabilisiert . Das ist das
Kernanliegen . Dafür stehen wir, die Große Koalition mit
Angela Merkel .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg . Dagmar Ziegler [SPD])


Wir wollen durch gutes Wirtschaften und durch gute Be-
schäftigungspolitik auch in Zukunft für eine sichere Ren-
te in Deutschland sorgen .

Ein weiterer Punkt. Wenn man unbedingt schon jetzt
eine rentenpolitische Bilanz der Großen Koalition, meh-
rere Monate vor der Bundestagswahl, ziehen will, dann
muss man feststellen, dass wir mit dem Rentenpaket zu
Beginn dieser Legislaturperiode


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Rentenkasse geschwächt haben!)


zum ersten Mal seit 30 Jahren im Deutschen Bundestag
konkret finanziell spürbare Verbesserungen für die Rent-
nerinnen und Rentner in Deutschland geschaffen haben.
Diese Große Koalition hat das hinbekommen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Da waren wir nicht knauserig, sondern wir haben zum
Leidwesen mancher mehr Geld bereitgestellt, zuallererst
mit der Mütterrente . Sie beschert uns zwar 6,7 Milliarden
Euro zusätzliche Ausgaben im Jahr,


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja, aus der Rentenkasse, aus Steuergeldern finanziert! – Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Absolut richtige Entscheidung!)


bedeutet aber für die Mütter, die Kinder großgezogen
haben, eine großartige, zusätzliche Hilfe, wenn sie Rent-
nerinnen sind .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, nun kann
man, so wie es der Kollege Birkwald gemacht hat, erzäh-
len: Wenn ich mehr in die Rente einzahle, ist mehr in der
Rentenkasse . Dann erwerbe ich als Beitragszahler einen

Anspruch auf eine höhere künftige Rente . – Gut, das ist
das System der Rentenversicherung,


(Beifall des Abg . Harald Weinberg [DIE LINKE])


wie es mit der dynamischen Rente 1957 von Konrad
Adenauer zu Recht eingeführt worden ist und wie es
auch weiter Bestand haben soll . Aber Herr Birkwald und
auch andere der Linken beantworten uns nie die Frage,
wie denn diese Zusage eingehalten wird, dass jeder von
uns und von Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren, die
Sie zuhören, dann, wenn er mehr in die Rentenkasse ein-
zahlt, hinterher, wenn er in Rente geht, auch tatsächlich
mehr bekommt, dass also die junge Generation diesen
Rentenanspruch einlösen wird . Das ist doch die entschei-
dende Frage .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Widerspruch bei der LINKEN)


Es war übrigens Norbert Blüm, der sich als erster
Arbeits- und Sozialminister in Deutschland durch Pro-
gnos in einem Gutachten hat ausrechnen lassen, was es
bedeuten würde, wenn am Rentenrecht gar nichts geän-
dert würde, und was es darüber hinaus bedeuten würde,
wenn die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gingen,
die Jahrgänge, die also jetzt noch im Arbeitsleben sind,
während nach ihnen relativ wenig junge Menschen ins
Arbeitsleben eintreten werden . Dabei kamen Rentenver-
sicherungsbeiträge von deutlich über 30 Prozent heraus.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Haben Sie schon einmal etwas von Produktivitätsentwicklung gehört?)


Sie müssen sich das vorstellen: Der Rentenversiche-
rungsbeitrag steigt auf 30 Prozent, ein hoher Krankenver-
sicherungsbeitrag, ein hoher Pflegeversicherungsbeitrag
und – mit einem steigenden Rentenversicherungsbeitrag
steigt auch der Zuschuss aus Steuern – hohe Steuern . Was
werden die jungen Leute, die eines Tages dank linker
Politik vor diesem Ergebnis stehen, sagen? Sie werden
sagen: Entschuldigung, bei dieser Steuer- und Abgaben-
belastung lohnt sich Arbeiten schlichtweg nicht mehr .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . Dr. Martin Rosemann [SPD])



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820610300

Herr Kollege Weiß, erlauben Sie eine Frage oder Be-

merkung von Herrn Matthias W . Birkwald?


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1820610400

Ja . Er muss ja seine Redezeit verlängern . Bitte sehr .


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820610500

Das ist jetzt aber Ihre Redezeit . – Also, Herr Birkwald,

bitte .


Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1820610600

Vielen Dank, Frau Präsidentin, dass Sie das klarge-

stellt haben . Das verlängert die Redezeit von Herrn Weiß .

Peter Weiß (Emmendingen)


Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620532


(A) (C)



(B) (D)


Herr Weiß, ich hätte mich nicht gemeldet, wenn Sie
nicht gerade sozusagen nach der Zwischenfrage gegiert
hätten . Ich will Ihnen einmal Folgendes erläutern: In Ih-
ren Beiträgen kommen die Begriffe Wirtschaftswachs-
tum und Produktivitätsfortschritt niemals vor.

Jetzt machen wir das einmal ganz konkret; denn
ich ahnte schon, dass Sie so etwas sagen würden . Im
Jahr 1960 betrug der Durchschnittsverdienst umgerech-
net 260 Euro . Damals hatten wir einen Beitragssatz von
insgesamt 14 Prozent, also je 7 Prozent für Arbeitnehmer
und Arbeitgeber . Der Beitrag zur Rentenversicherung
betrug 18,20 Euro . Wenn man die von dem damaligen
Gehalt abzieht, blieben 241,80 Euro übrig .

Jetzt machen wir zwei Schritte: 2016 sind bei einem
Gehalt von 3 022 Euro brutto und einem Beitragssatz von
9,35 Prozent 283 Euro als Beitrag zu zahlen. Übrig blei-
ben 2 739 Euro .

Jetzt gehen wir ins Jahr 2030 . Dann wird das Durch-
schnittseinkommen 4 502 Euro betragen . Wenn man
dann einen Beitragssatz von 29 Prozent paritätisch finan-
ziert, bleiben 3 849 Euro übrig .

Anders ausgedrückt: Der Kuchen wächst, und selbst
wenn die Beitragssätze steigen, bleibt hinterher für die
Beschäftigten wesentlich mehr übrig . Für die Finanzie-
rung brauchen wir nur die Rückkehr zur Parität, dass sich
die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber endlich wieder
vollständig paritätisch an der Finanzierung der Alterssi-
cherung beteiligen .


(Beifall bei der LINKEN – Sven Volmering [CDU/CSU]: Das ist Quatsch!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820610700

Herr Weiß, bitte .


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1820610800

Herr Kollege Birkwald, Norbert Blüm, seine Nach-

folger und auch diejenigen, die den Rentenversiche-
rungsbericht erstellen, haben all das, was Sie vortra-
gen – Produktivitätssteigerungen, Wirtschaftswachstum
und Zuwanderung nach Deutschland –, bereits mit ein-
gepreist . Deswegen, Entschuldigung, stimmen Ihre Bei-
spiele alle nicht . Dass auch die Lebenserhaltungskosten
steigen usw . usf ., kommt bei Ihnen gar nicht vor .


(Albert Stegemann [CDU/CSU]: Genau!)


Es ist doch selbstverständlich: Jeder Arbeitnehmer
heute und genauso in 10, 20 oder 30 Jahren wird die Fra-
ge „Ist das, was ich als Lohn verdiene, ausreichend?“ da-
nach beantworten, was ihm nach Abzug der Steuern und
Sozialversicherungsbeiträge übrig bleibt . So wie mich
heute junge Leute fragen, die gerade einen neuen Job an-
getreten haben, ob es richtig ist, dass sie auf jeden Euro,
den sie mehr verdienen, so hohe zusätzliche Steuern und
Abgaben zahlen, werden auch die jungen Leute in 10, 20
oder 30 Jahren dieselbe Frage stellen . Auf diese Frage
können Sie aber keine Antwort geben .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Habe ich ja gerade gemacht! Darauf gehen Sie ja nicht ein!)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, richtig ist,
dass 2001 unter rot-grüner Verantwortung – es war nicht
unter der Verantwortung der CDU/CSU – eine Gesetzes-
reform beschlossen worden ist, die schlichtweg so aus-
sieht, dass sie den jungen Leuten eine Garantie gibt, was
die Höhe des Beitrags anbelangt . Bis 2030 darf der Bei-
trag nicht über 22 Prozent steigen. Wenn man das einhal-
ten will, ist es logisch – das ist einfache Mathematik –,
dass das Rentenniveau ein bisschen niedriger ist .

Der Fehler von 2001 ist, dass man nur bis 2030 ge-
rechnet hat . Deswegen möchte ich betonen: Auch aus
meiner Sicht ist es dringend notwendig, dass wir als Ge-
setzgeber auf die Zukunft hin eine klare Festlegung tref-
fen, welches Mindestrentenniveau erreicht werden muss
und wo der Höchstbeitrag liegt, der eines Tages für die
Rente gezahlt werden soll . Denn die junge Generation
fragt zu Recht: Lohnt es sich für mich, noch in dieses
System einzuzahlen?


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Bei Ihrer Politik nicht!)


Deswegen werden wir nicht umhinkommen, gemein-
sam eine solche Festlegung zu treffen. Aber in einer Si-
tuation wie zurzeit, in der wir es mit einem steigenden
Rentenniveau zu tun haben, ist es verrückt, die Menschen
schalu zu machen . Zum anderen haben wir die Zeit, um
in Ruhe eine solche Gesetzgebung hinzubekommen, die
ich für notwendig halte .

Wir brauchen Mindestsicherungsziele in der Renten-
versicherung, sowohl was das Niveau als auch was den
Beitrag anbelangt, aber wir können froh sein, dass wir
in einer Zeit leben, in der dank starker Wirtschaft und
Beschäftigung das Rentenniveau in Deutschland steigt .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Mit der Reform von 2001 war zudem die Vorstellung
verbunden, dass das, was die Bürgerinnen und Bürger in
Deutschland durchaus schon gemacht haben, künftig fest
zum Gesamtversorgungsniveau der Rentnerinnen und
Rentner gehören muss, nämlich eine Zusatzrente, die
nicht umlagefinanziert ist, sondern die jeder für die Zu-
kunft anspart . Das versteht die Linke übrigens überhaupt
nicht bzw. will es nicht verstehen. Aber über 85 Prozent
aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer betreiben –
so kann man es dem Altersvorsorgebericht der Bundes-
regierung entnehmen, der gestern verabschiedet wurde –
zusätzliche Altersvorsorge .


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Aber nicht, weil sie wollen!)


Das ist auch vernünftig . Das Unvernünftigste ist, unseren
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die das Richtige
tun, das auszureden . Das Gegenteil ist richtig . Sie soll-
ten darin bestärkt werden, zusätzliche Altersvorsorge zu
betreiben .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sagen Sie mal, was bei Riester Matthias W. Birkwald Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20533 rauskommt! Das trauen Sie sich nicht! So wenig ist das!)


(A) (C)


(B) (D)


Wir als Große Koalition werden in dieser Legisla-
turperiode etwas umsetzen, was wir uns vorgenommen
haben, nämlich das Betriebsrentenstärkungsgesetz, über
dessen Entwurf am 14 . Dezember im Bundeskabinett be-
raten werden soll . Dieses Gesetz enthält etwas, was eine
echte Revolution des deutschen Sozialrechts darstellt .
Bisher sagen gerade viele Geringverdiener: Warum soll
ich mir ein zusätzliches Sparvermögen abknapsen und
anlegen, wenn am Schluss alles verrechnet wird und
dann weg ist, weil ich auf Grundsicherung im Alter an-
gewiesen bin . – Damit haben die Geringverdiener recht .
Deswegen werden wir in der Grundsicherung eine Revo-
lution vornehmen .


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Eine Revolution, Herr Weiß?! – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Er hat das böse Wort gesagt!)


Künftig werden mindestens 100 Euro bzw . maximal
200 Euro als zusätzliches Alterseinkommen nicht auf die
Grundsicherung angerechnet . Andersherum ausgedrückt:
Ich muss mir zuerst Mühe geben und mich anstrengen,
um zusätzlich etwas für das Alter anzusparen, weil ich
weiß, dass das nicht mehr verrechnet wird, sondern auf
die Grundsicherung obendrauf kommt . Das ist eine wirk-
lich starke Ansage an alle Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer im Land .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Es ist richtig: Wer wenig verdient, hat wenig übrig,
um zusätzlich etwas für das Alter anzusparen . Deswegen
werden wir im Betriebsrentenrecht eine zusätzliche För-
derung in Höhe von 480 Euro jährlich


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Jährlich?)


für Geringverdiener einführen . Auch das ist ein starkes
Zeichen . Wer wenig verdient, bekommt von uns zusätz-
liche Hilfe, damit er eine zusätzliche Altersversorgung
ansparen kann, die ihm nachher bei der Grundsicherung
nicht angerechnet wird . Mit dem Betriebsrentenstär-
kungsgesetz machen wir deutlich: Ja, wir wissen, dass
wir für die Zukunft der Altersversorgung mehr brauchen
als die gesetzliche Rente . Damit alle mitmachen wollen,
stellen wir die Stellschrauben so, dass es sich sowohl für
die Unternehmen als auch für die Arbeitnehmer lohnt, in
die betriebliche Altersversorgung zu investieren . Dank
des Freibetrags lohnt es sich für jeden, zusätzlich Al-
tersversorgung zu betreiben; denn freigestellt werden bei
der Grundsicherung nicht nur die betriebliche Altersver-
sorgung, sondern zum Beispiel auch das Riester-Sparen,
das Rürup-Sparen und Lebensversicherungen .

Unsere Botschaft an alle Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer lautet: Wir stärken die Altersversorgung
durch zusätzliche Anreize . Wir wollen durch ein starkes
Wirtschaftswachstum und mehr Beschäftigung dafür sor-
gen, dass das Rentenniveau auch in Zukunft stabil bleibt .

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820610900

Vielen Dank, Peter Weiß. – Nächster Redner: Markus

Kurth für Bündnis 90/Die Grünen .


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820611000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Matthias Birkwald, eines muss man Ihnen lassen: Sie las-
sen keine Gelegenheit aus, um zu zeigen, was man Ihnen
nicht zu Weihnachten schenken muss, nämlich einen Ta-
schenrechner . Gerechnet haben Sie hier schon oft . Wenn
Sie einmal nicht mehr als Abgeordneter aufgestellt wer-
den, dann haben Sie vielleicht noch eine zweite Karriere
als Double von Graf Zahl in der Sesamstraße vor sich .


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich habe Ihnen aber schon oft gesagt, dass Politik nicht
die Fortsetzung der Mathematik mit anderen Mitteln ist .
Vielmehr geht es darum, Mehrheiten zu organisieren,
Gesamtkonzepte zu erarbeiten und keine Rechenexem-
pel zu statuieren .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Welches Rentenniveau wollt ihr?)


– Ich gehe gleich darauf ein .
Einen Punkt will ich vorwegnehmen: Es ist vorder-

gründig richtig, wenn Sie sagen

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Vor dergründig?)

– ja –, dass wir, wenn wir den Beitragssatz um 2,4 Pro-
zentpunkte anheben – das bedeutet das –, auf ein Renten-
niveau von 53 Prozent kommen. Das gilt für heute, aber
das gilt nicht für das Jahr 2030 .


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Doch! Habe ich berechnet!)


Dann sind wir in anderen Dimensionen . Das haben Sie
gestern im Ausschuss noch bestätigt . Dann sind wir bei
einem Beitragssatz von 25 Prozent, und so geht es immer
weiter nach oben .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das ist doch der entscheidende Punkt. Sie sollten doch
nicht so tun, als ob man, wenn man heute 30 Euro ein-
zahlt, umstandslos 300 Euro mehr Rente im Jahr 2035
bekommt . So einfach ist es leider nicht .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich glaube, wir sollten die Debatte nutzen, um auf die
letzte Woche zurückzublicken, in der Andrea Nahles – ich
weiß nicht genau, ob als Bundesarbeitsministerin oder als
SPD-Generalsekretärin – das Gesamtkonzept vorgestellt
hat . Das war sowohl von der Art und Weise als auch vom
Zeitpunkt her denkwürdig . Am Donnerstagabend haben
Sie Ihren Rentengipfel und verabschieden drei Punkte –
drei Pünktchen, drei kleine, auf die ich noch eingehe. Das
ist typisch: die Politik des kleinsten gemeinsamen Nen-

Peter Weiß (Emmendingen)


Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620534


(A) (C)



(B) (D)


ners . Am Freitag, um 10 .30 Uhr, setzt sich Andrea Nahles
in die Bundespressekonferenz und sagt: Gestern ist eine
große Chance vertan worden . – Dann stellt sie plötzlich
acht andere Punkte vor.


(Kerstin Griese [SPD]: Hat sie sehr gut gemacht!)


In der Talkshow bei Anne Will am Sonntag sagte sie
dann: Die Union ist jetzt blank . Sie hat nämlich keine
Antwort . – Herr Weiß, wie fühlt man sich denn als Koali-
tionspartner, wenn man in der Art und Weise zusammen-
arbeiten muss?


(Zuruf des Abg. Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU])


Das ist, finde ich, interessant.


(Dr. Martin Rosemann [SPD]: Er hat ihr doch recht gegeben!)


Interessant ist auch, dass Volker Kauder im Nachhi-
nein sagt, über das Rentenniveau sei doch gar nicht gere-
det worden . Es scheint auch noch Uneinigkeit darüber zu
herrschen, wie Sie die Ost-West-Rentenangleichung fi-
nanzieren wollen, ob über Steuern oder Beiträge . Da geht
es wieder hin und her . Das ist symptomatisch für den Zu-
stand der Rentenpolitik der Großen Koalition . Blocka-
de, wechselseitige Missgunst, Sie gönnen sich nicht das
Schwarze unter dem Fingernagel, und was herauskommt,
ist eine Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners. Das
ist kläglich .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ein Beispiel konnten wir jüngst bei der Flexirente be-
sichtigen . Es gab minimale Änderungen, die das längere
Arbeiten im Alter nicht wirklich befördern werden . Auch
Ihr Rentengipfel ist ein Beispiel für den Befund, den ich
eben genannt habe .

Bei der Erwerbsminderungsrente sind wir uns über die
Fraktionsgrenzen einig, dass wir Verbesserungen brau-
chen . Das hätte man aber schon damals beim Rentenpa-
ket viel besser machen können . Bei der Betriebsrente, die
Sie gerade so gelobt haben, verschweigen Sie, dass Sie
nur oder vorwiegend auf die tarifgebundenen Beschäf-
tigten abzielen und die ganzen Beschäftigten, die nicht
tarifgebunden sind, besonders die in kleinen und mittel-
ständischen Unternehmen, im Regen stehen lassen .

Sie schaffen neue Subventionstatbestände. Im Grun-
de genommen ist das ein ähnliches Muster wie das, das
bei der sogenannten Rente mit 63 verfolgt worden ist .
Für diejenigen, die in den tarifgebundenen Großbetrie-
ben sind, wurden Veränderungen gemacht, aber für die
anderen nicht .

Die Rentenangleichung von Ost und West schieben
Sie über viele Jahre hinweg . Wir wollen eine sofortige
Rentenangleichung von Ost und West, rechtlich alles
klarstellen, den Rentenwert angleichen und die Höher-
wertung abschaffen. Wenn wir das machen würden, hät-
ten wir das Thema im nächsten Jahr vom Tisch .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Jetzt möchte ich kurz etwas zum Thema Rentenniveau
sagen, worauf sich der Antrag der Linken richtet . Klar
ist, dass die Höhe des Rentenniveaus natürlich von zwei
Seiten betrachtet werden muss, einmal von der Seite der
Beitragszahlerinnen und Beitragszahler, aber auch von
der Seite der jetzt Jüngeren, die später für ihre Beiträ-
ge ein Rentenniveau haben wollen, das klar ein Leben
oberhalb der Armutsgrenze ermöglicht . Das nenne ich
Generationengerechtigkeit 2 .0 . Der Ausgleichsmecha-
nismus über die Riester-Rente – da sind wir uns auch ei-
nig – funktioniert in der Breite nicht . Darum diskutieren
wir in allen Fraktionen, wie man mit dem Rentenniveau
weiter umgeht .


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Und was sagt ihr?)


Ihr Vorschlag funktioniert in dieser Form nicht . Wir
sagen: Wir streben eine Stabilisierung auf heutigem Ni-
veau an . Wir wollen uns bei der Finanzierung allerdings
nicht gleich auf die Beiträge fokussieren, sondern sie in
ein Gesamtkonzept einbetten . Das heißt – das könnte
man sofort machen – erstens einmal: eine Steuerfinanzie-
rung der Mütterrente .


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Einverstanden!)


Zweitens . Wir wollen die Frauenerwerbstätigkeit er-
höhen . Das geht nicht mit zusätzlichen Mütterrenten-
punkten, sondern durch eine Verbesserung der Verein-
barkeit von Familie und Beruf und eine Neuaufteilung
bei der Zeitpolitik .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir wollen die Beitragsgrundlagen durch die Bürger-
versicherung verbessern . Durch die Bürgerversicherung
sollen natürlich in erster Linie Sicherungslücken gerade
bei Selbstständigen geschlossen werden . Aber wir schaf-
fen es auch, einen Teil des demografischen Buckels durch
die damit verbundene Verbreiterung der Beitragsgrund-
lage abzumildern. Qualifizierte und gesteuerte Zuwande-
rung – wir haben einen Gesetzentwurf zum Einwande-
rungsgesetz vorgelegt – ist ein weiterer Baustein, um die
Grundlage der Rentenversicherung zu verbessern .

Als Ultima Ratio schließen wir auch eine Beitragssatz-
erhöhung nicht aus, aber weit entfernt von den lichten
Höhen, die Sie dort anstreben .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 33 Euro – lichte Höhen? Hallo?!)


Diese zusammengesetzten Komponenten machen
erst Sinn in einem Gesamtkonzept und nicht durch eine
scheuklappenartige Verengung, wie sie die Linkspar-
tei vornimmt, und auch nicht durch eine verkürzte und
holzschnittartige Verengung eines Generationengerech-
tigkeitsbegriffs, wie ihn Herr Spahn ja gern benutzt, der
aber am Ende des Tages nur dazu führt, dass die junge
Generation keine verlässlichen Renten mehr bekommt .
Das durchschaut die junge Generation im Übrigen schon
heute, und das kann auch deswegen keine Antwort sein .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Markus Kurth

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20535


(A) (C)



(B) (D)


Zu einer langfristigen Sicherung des Rentenniveaus
und der Umlagefinanzierung gehört natürlich auch, dass
wir über längeres Arbeiten sprechen . Das bedeutet, dass
wir an die belasteten Beschäftigten denken müssen, die
Ausstiegsmöglichkeiten und Ausgleiche bekommen
müssen . Aber natürlich werden wir auch darüber debat-
tieren, wie diejenigen, die können, auch länger arbeiten
können . Auch das ist eine Möglichkeit, das Rentenniveau
zu stabilisieren .


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sag das mal den Gerüstbauern!)


– Jetzt kommt der Zwischenruf: „Sag das mal den Ge-
rüstbauern!“ – Herr Birkwald, wenn Sie eben zugehört
haben, wissen Sie, dass ich gesagt habe: Für belastete
Beschäftigte müssen wir besondere Regelungen finden.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Welche?)


Wir als Bündnis 90/Die Grünen sind nämlich diejenigen,
die sich individuelle Lebenssituationen anschauen . Wenn
man keine individuellen Lösungen schafft, wird man bei
der Verlängerung der Lebensarbeitszeit auch nicht wei-
terkommen . Wir nehmen die Ängste der Beschäftigten an
dieser Stelle sehr ernst .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Rente nach Berufsgruppen! Wer will das denn haben?)


Ich kann allen nur empfehlen, sich den Bericht der
Rentenkommission von Bündnis 90/Die Grünen und
unsere Beschlüsse vom Parteitag vor drei Wochen an-
zusehen . Das können die Zuhörerinnen und Zuschauer
auch im Internet sehr einfach tun . Da ist eine Reihe von
interessanten anderen Aspekten, wie zum Beispiel unsere
Garantierente gegen Armut, enthalten .


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820611100

Das führt jetzt aber zu weit .


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820611200

Ich komme zum Schluss. – Sie war ja offensichtlich

auch in weiten Teilen Vorlage für das Rentenkonzept von
Frau Nahles . Sie hat unsere Vorschläge nicht ganz eins
zu eins übernommen, sonst wäre es sogar noch besser
geworden .

Vielen Dank .


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820611300

Vielen Dank, Markus Kurth . – Nächste Rednerin:

Katja Mast für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Katja Mast (SPD):
Rede ID: ID1820611400

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! 15 Jahre nach der letzten Rentenreform hat Bun-
desarbeitsministerin Andrea Nahles letzten Freitag ein

Gesamtkonzept zur Alterssicherung vorgelegt . Dieses
Konzept ist mutig, vorausschauend und bereitet den Weg
für eine zukunftsfeste und verlässliche Alterssicherung,
und zwar weit über das Jahr 2030 hinaus – mit klaren,
doppelten Haltelinien: für ein dauerhaft garantiertes Ren-
tenniveau von mindestens 46 Prozent, für einen maxima-
len Beitragssatz von 22 Prozent bis 2030 und 25 Prozent
bis 2045 und für eine politische Ziellinie von 48 Prozent
Rentenniveau und maximal 24 Prozent Rentenbeitrag.

An der Stelle will ich meinem Kollegen Peter Weiß
zurufen: Peter, wenn die CDU/CSU bereit ist, Leitplan-
ken beim Rentenniveau und bei Beitragssätzen einzuzie-
hen, warum haben wir das im Koalitionsausschuss nicht
hinbekommen?


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war ja gar nicht Thema, sagt der Herr Kauder! – Dr . Wolfgang StrengmannKuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Muss man das nicht sogar Gabriel fragen?)


Ich habe das Gefühl, dass deine Kanzlerin und dein Mi-
nisterpräsident aus Bayern deiner Haltung an der Stelle
nicht ganz gefolgt sind .

Außerdem ist in dem Rentenkonzept auch noch viel
drin, was das Thema „Kampf gegen Altersarmut“ angeht,
von dem ich finde, dass es in der Debatte gerade teilwei-
se nicht so stark war. Wir haben die Punkte Solidarren-
te – das heißt, dass diejenigen, die lang gearbeitet und
einbezahlt haben, mehr haben sollen als andere –, Versi-
cherungspflicht für Selbstständige, die heute besonders
von Altersarmut betroffen sind, Verbesserungen für die
Erwerbsminderungsrentnerinnen und -rentner und Frei-
beträge, über die auch schon gesprochen worden ist, auf-
gegriffen. Gesamtkonzept heißt also nicht, dass eine Sa-
che isoliert angeschaut wird; vielmehr wird die gesamte
Altersvorsorge in den Blick genommen, und man nimmt
auch den Kampf gegen die Altersarmut auf .

Keine andere hier vertretene Partei hat ein Konzept
vorgelegt, das so mutig ist wie das, das Bundesministerin
Andrea Nahles vorgelegt hat .


(Beifall bei der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die einen sagen so, die anderen sagen so!)


Niemand hier im Raum – keine andere Partei – schaut bis
zum Jahr 2045 –


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist „hochseriös“! – Harald Weinberg [DIE LINKE]: Haben Sie in die Glaskugel geschaut?)


da können Sie dazwischenrufen, was Sie wollen –; bei
niemandem von Ihnen steht dazu irgendetwas aufge-
schrieben .

Lassen Sie mich ganz deutlich sagen: Man hätte sich
auch einen schlanken Fuß machen können . Auch Bun-
desarbeitsministerin Nahles hätte das tun können – einige
hier tun das auch –; denn die Zahlen bis 2030 sind noch
ganz akzeptabel . Deshalb ist es einfach, nur bis 2030
zu rechnen . Danach gehen aber die letzten Babyboo-
mer-Jahrgänge in Rente .

Markus Kurth

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620536


(A) (C)



(B) (D)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820611500

Frau Mast, erlauben Sie eine Zwischenfrage?


Katja Mast (SPD):
Rede ID: ID1820611600

Lassen Sie mich noch einen Satz sagen . – Dann haben

wir in der Rentenversicherung keinen Demografieberg
vor uns, wie viele behaupten, sondern ein richtiges De-
mografieplateau.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820611700

Entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbrochen habe . –

Erlauben Sie eine Bemerkung – das ist nämlich auch
möglich – oder eine Zwischenfrage des Kollegen Kurth?


Katja Mast (SPD):
Rede ID: ID1820611800

Wenn er gerne möchte .


(Heiterkeit)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820611900

Das scheint so; sonst hätte er ja nicht darum gebeten .


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820612000

Genau . Ich möchte gerne eine Zwischenfrage stel-

len . – Danke, dass Sie sie zulassen, Frau Mast .

Sie haben gerade gesagt, dass niemand in der Renten-
politik so mutig wie die SPD ist.


Katja Mast (SPD):
Rede ID: ID1820612100

Niemand ist so mutig wie Andrea Nahles .


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820612200

Moment, den Fragesteller müssen Sie schon ausreden

lassen .


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820612300

Jetzt stelle ich mir die Frage – Sie haben gerade da-

von gesprochen, die SPD plane eine Solidarrente –: Wo
hat Sie der Mut verlassen, als Sie eine Woche vor dem
Rentengipfel die sogenannte solidarische Lebensleis-
tungsrente schlichtweg beerdigt haben, die doch schon
im Koalitionsvertrag vereinbart war? Wieso verkündet
die SPD jetzt eigentlich eine Solidarrente, und warum
machen Sie sich nicht daran, einfach eine Absicherung
für langjährig Arbeitende, deren Rente unter dem Grund-
sicherungsniveau ist, einzuführen? Dafür hätten Sie doch
als Grundlage sowohl eine im Koalitionsvertrag festge-
haltene Vereinbarung als auch eine satte Mehrheit hier im
Parlament. Wo bleibt denn da der Mut?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katja Mast (SPD):
Rede ID: ID1820612400

Vielen Dank, Herr Kollege Kurth, für diese Zwischen-

frage . Sie macht es mir noch einmal möglich, den Unter-
schied zwischen einer Solidarrente und der sogenannten
solidarischen Lebensleistungsrente zu erklären .


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Frage war eine andere! – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, wo ist der Mut, wollte ich ja wissen! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Warum eine solidarische Mindestrente?)


– Nur durch den Unterschied wird klar, warum man man-
che Dinge nicht umsetzt: weil man damit Themen ver-
brennt . Das weiß Herr Kurth genauso gut wie ich, und
deshalb möchte ich das Ganze gern erklären, indem ich
den Unterschied aufzeige .

Die SPD ist, übrigens schon im letzten Wahlkampf,
angetreten mit dem Vorhaben, die Zahlung einer Solidar-
rente an das langjährige Einzahlen in die Rentenversi-
cherung – mindestens 35 Jahre – zu koppeln . – Unser
Koalitionspartner, angetrieben auch durch die frühere
Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen, die ja
eine Lebensleistungsrente einführen wollte, will unbe-
dingt eine Kopplung an die private Altersvorsorge . Ge-
nau an diesem Punkt wird es schwierig; denn diejenigen
Menschen, die wenig verdienen, sorgen in der Regel
auch nicht privat vor .


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wovon denn auch?)


– Ja, klar . – Deshalb ist diese Kopplung mit einem wei-
teren Faktor zu einem großen Ausschlusskriterium für
Menschen geworden, die lange eingezahlt haben . Daher
sagen wir: Es ist sinnvoll, nicht etwas Schlechtes für die
Menschen umzusetzen, sondern in diesem Fall tatsäch-
lich etwas Gutes, das viele Menschen betrifft und nicht
nur wenige . Deshalb sagen wir an dieser Stelle: Nein zur
solidarischen Lebensleistungsrente, wie sie im Koaliti-
onsvertrag vereinbart ist, und Ja zur steuerfinanzierten
Solidarrente . –Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war mutig, ja!)


Aus meiner Sicht ist die zentrale Zukunftsfrage: Wie
geht es in der Rentenversicherung nach 2030 generatio-
nengerecht weiter? Sie von der Linken werfen uns von
der SPD – ich zitiere – „Beitragsdogmatismus“ vor.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ja! Mit was? Mit Recht!)


Das ist zumindest intellektuell unredlich; denn uns geht
es doch gerade um zwei Dinge, nicht nur um eine Sache:
auf der einen Seite das Rentenniveau zu sichern und auf
der anderen Seite auch eine klare Beitragssatzzusage zu
machen . Da kommt noch etwas hinzu . Beim Thema Bei-
tragssätze dürfen Sie auch nicht vergessen: Wir dürfen
über die Beiträge zur Rentenversicherung nicht isoliert
diskutieren . Die Frage, wie sich die Beitragssätze in der
Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung entwickeln,
muss auch gesamtgesellschaftlich eine Rolle spielen .

Ich fände es viel spannender, mit Ihnen darüber zu
diskutieren, ob wir neben einem vorausschauenden Ren-
tenversicherungsbericht – den haben wir ja in der Bun-
desrepublik Deutschland – nicht endlich auch zu einem
vorausschauenden Bericht bei der Kranken- und Pflege-
versicherung kommen könnten . Denn dann könnten wir

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20537


(A) (C)



(B) (D)


an der Stelle eine echte Belastung des Faktors Arbeit dis-
kutieren .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Da Demografie aber nicht nur eine Frage von Beitrags-
sätzen und Rentenniveau ist, schlagen wir einen steuerfi-
nanzierten Demografiezuschuss in der gesetzlichen Ren-
tenversicherung vor, den alle bezahlen, und nicht nur die
abhängig Beschäftigten und ihre Arbeitgeber . Eigentlich
hätte ich mir gewünscht, dass die Linke heute hier sagt:
Jawohl, die SPD schlägt mehr Steuermittel für die Ren-
tenversicherung vor; da gehen wir mit . – Das habe ich
aber leider nicht gehört .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820612500

Eigentlich ist Ihre Redezeit seit geraumer Zeit zu

Ende .


Katja Mast (SPD):
Rede ID: ID1820612600

Noch einen Schlusssatz . – Ich will an die Bürgerin-

nen und Bürger appellieren, in der Rentendebatte, die wir
in den nächsten Wochen und Monaten sicherlich munter
führen werden, genau zuzuhören . Hören Sie nicht nur
immer auf die einfachen Antworten; denn die sind in
der Rentenversicherung meistens nicht umsetzbar – und
wenn doch, dann sind sie extrem teuer .


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein letzter Satz! Das war mehr als ein Satz! – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Schauen Sie mal nach Österreich!)


Schauen Sie einfach, wer Ihnen echte Zahlen bis 2045
vorlegt, und dann diskutieren Sie darüber mit Ihren Ab-
geordneten und anderen Akteuren . Ich freue mich auf
diese Debatte .

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Fragen Sie mal, warum wir es nicht so wie Österreich machen!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820612700

Danke, Frau Kollegin Mast .

Ich bitte Sie wirklich, tendenziell die Redezeit ein-
zuhalten . Wir sind zwar in der Adventszeit, aber auch
unglaublich weit im Zeitplan zurück . Ich bitte Sie, das
Blinken am Redepult ernst zu nehmen . Sonst wird den
anderen Kollegen Zeit abgezogen .

Der nächste Redner ist Stephan Stracke für die CDU/
CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Stephan Stracke (CSU):
Rede ID: ID1820612800

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Die heutige Debatte gibt einen kleinen Vor-
geschmack auf die Auseinandersetzungen, die wir im
nächsten Jahr erwarten dürfen . Der Rentenwahlkampf ist
eröffnet. Die Oppositionsparteien und die SPD scheint ja

eines bei dieser heutigen Debatte zu einen: Sie liefern
sich einen Überbietungswettbewerb – einen Wettbewerb
darum, wer den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
durch zusätzliche Beiträge tiefer in die Tasche greifen
will .


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die kriegen ja auch mehr raus!)


Das eint Sie .

Der Ansatz der Union ist in diesem Bereich ein ganz
anderer . Wir wollen an dem Beschäftigungsniveau, das
wir derzeit haben, festhalten . Wir sehen derzeit nicht die-
sen Handlungsbedarf mit Blick auf das Rentenniveau,
sondern meinen, dass wir alles für die richtigen politi-
schen Weichenstellungen für die Zukunft tun müssen .
Das bedeutet vor allem, die richtige Arbeitsmarktpolitik
zu machen . Und bei der Beschäftigung, bei den Arbeitslo-
senzahlen sind wir in den letzten Jahren sehr erfolgreich;
da haben wir sehr viel erreicht . Drei von vier Frauen sind
heute erwerbstätig, und auch die älteren Beschäftigten
verbleiben länger im Arbeitsleben . Das ist eine sehr gute
Entwicklung .

Dennoch verschließen wir natürlich auch nicht die
Augen vor den demografischen Entwicklungen, die auf
uns zukommen .


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nichts zur Produktivität! Nichts zum Wirtschaftswachstum!)


Es wird wirklich tiefgreifende Veränderungen geben,
wenn sich die Anzahl derjenigen im Erwerbstätigenalter
in der Bevölkerung Mitte der 2030er-Jahre von 50 Milli-
onen auf 36 Millionen reduzieren wird und es 40 Prozent
mehr Rentner als heute geben wird .

Das bedeutet, dass wir einer stabilen Demografiebrü-
cke bedürfen . Deswegen bedarf es eines Gesamtpakets .
Und dazu gehören auch gute Löhne . Deswegen sind
die Tarifbindung und die Anbindung von tariflich abge-
schlossenen Lohnvereinbarungen so notwendig . Dazu
trägt auch der Mindestlohn ein Stück weit bei . Natürlich
müssen wir auch alles tun, damit das Beschäftigungsni-
veau so lange wie möglich auf dem jetzigen Stand ge-
halten werden kann . Deswegen tun wir auch alles, um
die Arbeitslosigkeit zurückzudrängen . All das tun wir,
weil die Rente letztlich das Spiegelbild des Erwerbsle-
bens darstellt . Deswegen gehört zu einer guten Sozial-
politik, die Bildungspolitik weiter in den Mittelpunkt zu
stellen – das tut Bayern beispielsweise vorbildlich –, aber
auch die Gesundheitsförderung, die Prävention und die
Reha . Wir dürfen es nicht zulassen, dass Arbeitsplätze
Menschen krank und kaputtmachen . Wir müssen dafür
sorgen, dass die Menschen das Renteneintrittsalter tat-
sächlich erreichen können . Auch dafür hat diese Große
Koalition schon sehr viel getan .

Was das Rentenniveau angeht: Wenn man sich das
einmal ansieht, stellt man fest: Es ist weitaus besser, als
alle Prognosen besagen. Das hat viel mit der derzeit gu-
ten wirtschaftlichen Lage und mit der Anzahl an sozial-
versicherungspflichtigen Arbeitsplätzen zu tun. Deshalb
ist es so wichtig, genau darauf den Akzent zu setzen .

Katja Mast

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620538


(A) (C)



(B) (D)


Tendenziell wird ein viel zu niedriges Rentenniveau
ausgewiesen . Darauf weist beispielsweise die Deutsche
Bundesbank in ihrem Bericht vom August dieses Jahres
hin . Zum einen wird die Erhöhung des Renteneintrittsal-
ters nicht wirklich abgebildet . Das Rentenniveau wird
also eher weit weniger sinken, als wir überall lesen . Zum
anderen wird das Gesamtversorgungsniveau sehr wohl
stabilisiert, und zwar durch die Riester-Rente . Auch da-
rauf weist die Deutsche Bundesbank hin . Das gilt auch
im Zeitalter der Niedrigzinspolitik .


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: War das nicht Ihr Parteichef, der gesagt hat: „Riester ist gescheitert“?)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir set-
zen vor allem da an, wo typische Armutsrisiken beste-
hen. Das betrifft die Erwerbsgeminderten. Derzeit sind
500 000 Erwerbsgeminderte auf Grundsicherung im Al-
ter angewiesen; dies ist ein schwerwiegendes Thema . Es
sind im Übrigen 320 000 mehr als 2003 . Deswegen hat
diese Große Koalition bereits in ihrem Rentenpaket mit
der Erhöhung der Zurechnungszeit reagiert . Wir werden
dies nochmals tun .


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was macht ihr für die, die schon in der Erwerbsminderungsrente sind? Nichts!)


Ich glaube, das ist der richtige Ansatz, um gerade in die-
sem Bereich zu helfen . Deswegen machen wir hier ent-
sprechend weiter .

Bei der Rentenleistung im Alter wollen wir diejeni-
gen, die ein Leben lang gearbeitet und auch vorgesorgt
haben, besserstellen als diejenigen, die nicht gearbeitet
haben und sich nicht um ihre Altersvorsorge gekümmert
haben . Arbeit und Vorsorge müssen sich im Alter auszah-
len . Das heißt aber auch: Die Zugangsvoraussetzung für
eine Besserstellung muss ein kapitalgedecktes Standbein
sein . – Das sieht der Koalitionsvertrag auch so vor .

Frau Nahles möchte mit ihrer Solidarrente bereits die
langjährige Zahlung von Beiträgen in die gesetzliche
Rente genügen lassen . Das ist ein zentraler Webfehler
dieses Konzepts . Deswegen lehnen wir die Vorschläge in
diesem Bereich ab .


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ihr seid also gegen die gesetzliche Rentenversicherung? Habe ich das richtig verstanden?)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, die gesam-
te Diskussion, die wir führen, konzentriert sich auf die
Rente . Dabei spielt natürlich auch die Frage der richti-
gen Balance zwischen denen, die derzeit in Rente sind,
und denen, die für die Rentenzahlung aufkommen, eine
erhebliche Rolle . Deswegen müssen wir da ganz genau
aufpassen .

Ich vermisse in dieser Debatte eines . Wir konzentrie-
ren uns ausschließlich auf den Bereich der Rente . Wir
sollten aber die Entwicklungen in der Pflege und in der
gesetzlichen Krankenversicherung genauso in den Blick
nehmen . Nur wenn wir alle drei Sozialversicherungssys-
teme in den Blick nehmen, führen wir hier eine solide
Debatte über die Zukunft der sozialen Sicherungssyste-

me . Das darf nicht isoliert betrachtet werden, weil man
sonst nur einen begrenzten Blickwinkel hat . Wir treten
dafür ein, dass wir Pflegeversicherung, Krankenversi-
cherung und Rentenversicherung zusammen in den Blick
nehmen . Dafür bietet sich das an, was wir in den letzten
Jahren so erfolgreich gemacht haben, nämlich eine breite
gesamtgesellschaftliche Debatte, flankiert durch entspre-
chende Kommissionen . Das halte ich in diesem Bereich
für geboten .

Ein herzliches Dankeschön .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820612900

Vielen Dank, Stephan Stracke . – Nächster Redner:

Dr. Martin Rosemann für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Martin Rosemann (SPD):
Rede ID: ID1820613000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn wir heu-
te ein Zwischenfazit nach drei Jahren Großer Koalition
ziehen, dann können wir sagen: In der Rentenpolitik hat
diese Regierung nur Verbesserungen geschafft: den vor-
zeitigen Rentenzugang für besonders langjährig Versi-
cherte, die Mütterrente,


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein teurer Spaß war das! Zahlen leider die Beitragszahler! – Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da wäre nichts besser gewesen!)


Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente, Stär-
kung von Prävention und Rehabilitation. Hinzu kommt
die höchste Rentenerhöhung, die es jemals im vereinig-
ten Deutschland gegeben hat .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU –. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wird es nie wieder geben! War ein Statistikfehler! Das wisst ihr auch!)


Jetzt kommt auch noch die West-Ost-Angleichung dazu,
meine Damen und Herren .


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sollen das wieder die Beitragszahler zahlen?)


Also in Richtung Linke: Während Sie hier schöne An-
träge schreiben, sind wir im Maschinenraum und arbei-
ten an wirklichen Verbesserungen für die Menschen in
Deutschland .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vor allen Dingen schlagen Sie Lecks!)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich will Bun-
desarbeitsministerin Andrea Nahles für zwei Dinge dan-
ken: erstens für ihr Gesamtkonzept, weil dieses Konzept
endlich Klarheit schafft, endlich verlässliche Zahlen über
die Kosten von verschiedenen politischen Maßnahmen

Stephan Stracke

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20539


(A) (C)



(B) (D)


auch in der Zukunft liefert. Damit findet die Debatte über
Rentenpolitik nicht mehr im luftleeren Raum statt, auch
wenn ich, ehrlich gesagt, wenig Hoffnung habe, dass sich
die Populisten von links und rechts daran orientieren
werden .


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Von links gibt es hier keine!)


Zweitens . Ich möchte Andrea Nahles dafür danken,
dass sie beim Thema „Vermeidung von Altersarmut“ so
gekämpft hat . Dass wir nach der ersten Verbesserung
bei der Erwerbsminderungsrente jetzt noch einmal eine
Schippe drauflegen, ist so wichtig; denn Erwerbsmin-
derung ist ein großes Risiko für Altersarmut in unserem
Land .

In diesem Zusammenhang muss ich sagen, dass ich
es sehr bedauerlich finde, dass sich CDU und CSU bei
der Solidarrente verweigert haben . Das wäre auch ein
zielgenauer Schritt zur Verhinderung von Altersarmut
gewesen .


(Dr . Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine zweite Sozialhilfe!)


Denn für uns Sozialdemokraten gilt: Wer sein Leben lang
gearbeitet hat, darf nicht zum Sozialamt geschickt wer-
den .


(Beifall bei der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Da braucht ihr aber mehr als 46 Prozent Rentenniveau! – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das machen wir doch!)


Bedauerlich ist auch die Verweigerung der Union bei
der doppelten Haltelinie. Diese hätte für mehr Planungs-
sicherheit gesorgt, und das hätte das Vertrauen in die
Rentenpolitik und in die Politik insgesamt gestärkt. Of-
fenbar fehlt es bei Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Union, an Mut zu Entscheidungen . Was wir aber
nicht durchgehen lassen werden, ist, dass manche von
Ihnen vor der Absenkung des Rentenniveaus warnen und
die anderen jede Beitragserhöhung und jede Ausweitung
des Steuerzuschusses ablehnen oder am besten wie Horst
Seehofer gleich beides . Erst im April forderte er die Sta-
bilisierung des Rentenniveaus . Jetzt spricht er davon, es
dürfe keine Beitragserhöhung geben und auch nicht mehr
Steuermittel .


(Beifall bei der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja, der kann zaubern, der Seehofer!)


Für uns ist klar: Es geht um ein Leben in Würde, auch
im Alter . Es geht um Teilhabe, es geht darum, Altersar-
mut zu verhindern, aber auch sozialen Abstieg . Deshalb
gilt für uns:

Erstens . Die gesetzliche Rente ist und bleibt die zen-
trale Altersvorsorge in Deutschland .


(Beifall bei der SPD)


Zweitens. Der demografische Wandel ist nur zu be-
wältigen, wenn die Lasten gerecht zwischen den Gene-

rationen verteilt werden . Deswegen brauchen wir bei der
Alterssicherung mehr als nur ein Standbein .

Lieber Matthias Birkwald, ich habe gestern im Aus-
schuss am Beispiel Ihrer eigenen Zahlen erklärt, wie man
mit Kapitaldeckung die Lasten zwischen den Generati-
onen gerechter verteilen kann. Sie haben offenbar nicht
ausreichend zugehört .


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Doch, doch! Ich höre Ihnen zu! Ich höre Ihnen immer zu!)


Wir machen dann im nächsten Ausschuss noch einmal
eine Lehrstunde .

Drittens . Soziale Sicherung im Alter muss unab-
hängig von der Erwerbsform sein . Deshalb wollen wir
Selbstständige Schritt für Schritt in die gesetzliche Ren-
tenversicherung einbeziehen, aber der Besonderheit der
Einkommenserzielung bei Selbstständigen bei der Bei-
tragserhebung Rechnung tragen und Selbstständige an
anderer Stelle entlasten .

Viertens . Wir brauchen keine Diskussion über die wei-
tere Erhöhung einer starren Regelaltersgrenze, sondern
müssen den Weg flexibler und individueller Übergänge,
die sich an der jeweiligen Erwerbsbiografie orientieren,
fortsetzen, wie wir es mit dem Flexigesetz begonnen ha-
ben .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Fünftens. Klar ist auch: Nicht alle Probleme lassen
sich in der Rentenpolitik lösen . Rente ist immer ein Spie-
gelbild der Erwerbsbiografie. Deswegen kommt dem Zu-
sammenhang von guter Arbeit, guten Löhnen und guter
Rente eine große Bedeutung zu . Deswegen beginnt Ren-
tenpolitik bei der Bildung, geht weiter über Ordnung auf
dem Arbeitsmarkt . Es geht ferner um eine bessere Bezah-
lung von Frauen und eine bessere Teilhabe von Frauen
am Arbeitsleben .


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Dann macht doch mal! Ja, das stimmt alles! Diese Koalition – Fehlanzeige!)


Und es geht darum, dass wir gerade in einer Zeit, in der
die Umbrüche im Erwerbsleben zunehmen, die Beschäf-
tigten bei diesen Umbrüchen durch präventive unterstüt-
zende Sozialpolitik während des Arbeitslebens besser
begleiten, und zwar durch Prävention, Rehabilitation,
Weiterbildung und Beratung . Auch da sind wir im Ma-
schinenraum unterwegs .

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820613100

Vielen Dank, Martin Rosemann . – Nächste Rednerin:

Jana Schimke für die CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Martin Rosemann

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620540


(A) (C)



(B) (D)



Jana Schimke (CDU):
Rede ID: ID1820613200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich wur-

de kürzlich von einem Schülerpraktikanten der neunten
Klasse gefragt, wie ich bei meiner politischen Arbeit für
Generationengerechtigkeit sorge . Schließlich sei das, so
sagte er, angesichts so mancher Vorschläge, aber auch
Entscheidungen der Vergangenheit ja nicht so leicht . In
meiner Antwort machte ich dann deutlich, dass es na-
türlich darauf ankomme, bei Gesetzgebungsvorhaben
die richtigen politischen Entscheidungen zu treffen. Ich
sagte ihm aber auch, dass die Sicherstellung von Gene-
rationengerechtigkeit auch bedeute, hier im Deutschen
Bundestag einen täglichen politischen Abwehrkampf zu
fechten .


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was?)


Wogegen?


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wogegen?)


Gegen jene politischen Kräfte, die den durch tiefgreifen-
de Reformen erarbeiteten Wohlstand schlichtweg ver-
frühstücken wollen


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit der Mütterrente und ihrer Beitragsfinanzierung, oder was? – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Da, bei der Linken, da sitzen sie! – Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Wo sollen die sein, die Kräfte? Wer soll das sein? Ist doch keiner da!)


und unseren Sozialstaat als Selbstbedienungsladen ver-
stehen, oder – um es kurz zu machen – gegen Anträge
wie jenen, der hier heute diskutiert wird . Da heißt es:
„Zeit für einen Kurswechsel“ .


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja!)


Allerdings stelle ich mir unter einem Kurswechsel etwas
anderes vor, als Politik von gestern und auf Kosten künf-
tiger Generationen zu machen .


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Zugunsten künftiger Generationen! Sie haben es nicht verstanden!)


Die Linke fordert in ihrem Antrag, jene Faktoren, die
die Rente bisher bezahlbar machen, zugunsten eines ho-
hen Rentenniveaus aufzugeben . Konkret soll dazu die im
Gesetz festgeschriebene Deckelung des Beitragssatzes
aufgehoben werden . Das bedeutet aber, der von den Ar-
beitnehmern zu erbringende Beitrag zur Rentenversiche-
rung könnte beliebig steigen, um die Renten auf einem
bestimmten Niveau zu halten .


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Für die Arbeitgeber auch!)


Dass aber ein umlagefinanziertes System, das von den
Beiträgen der Beschäftigten lebt,


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Und der Arbeitgeber!)


immer auch Solidarität in beide Richtungen erfordert, ge-
nau aus dem Grunde, dass es sonst die Gesellschaft nicht
mitträgt, lassen Sie dabei außer Acht .

Es ist erschreckend, meine Damen und Herren, für wie
selbstverständlich die Linke die Beiträge und die Leis-
tungen jener erachtet, die unseren Sozialstaat tragen .


(Widerspruch bei Abgeordneten der LINKEN – Lachen des Abg . Jörn Wunderlich [DIE LINKE])


Wenn wir Generationengerechtigkeit wollen und den
Generationenvertrag achten, dann müssen wir auch jene
im Blick behalten, die dafür heute mit ihren Beiträgen
geradestehen .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ich gehe mit Ihnen mal auf ein Podium! Dann probieren wir das mal aus!)


Der willkürliche Umgang mit dem Beitragssatz lässt das
Vertrauen in unseren Sozialstaat und seine Akzeptanz
schwinden . Solche Forderungen lassen sich nur damit
erklären, dass man entweder die demografische Entwick-
lung in unserem Land vollends ignoriert und die gesetz-
liche Rente in der Zukunft mit noch mehr Steuergeldern
bezuschussen, also die gute Haushaltspolitik der letzten
Jahre über Bord werfen will, oder die Steuerzahler mit
noch höheren Beiträgen zur Rentenversicherung belasten
will .


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Falsch! – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das machen Sie doch!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie ma-
chen Politik auf Kosten anderer, auf Kosten von Arbeit-
gebern und Arbeitnehmern


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die haben dann mehr in der Tasche!)


und insbesondere der jungen Menschen in unserem Land .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie werden nach Ihren Plänen künftig


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Mehr in der Tasche haben!)


exorbitant mehr zahlen und am Ende weniger Netto in
der Tasche haben .


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Mehr in der Tasche! – Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)


Jeder zusätzliche Prozentpunkt bei den Beiträgen zur So-
zialversicherung kostet aber Jobs und Geld . „Herzlichen
Glückwunsch!“ kann man dazu nur sagen .


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Mehr in der Tasche!)


Mit der Forderung nach Abschaffung des Nachhaltig-
keitsfaktors legen Sie auch die Axt an jenes Element bei
der Rente, das jüngeren Generationen einen natürlichen
Schutz vor den Begehrlichkeiten auch der Politik bietet.

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20541


(A) (C)



(B) (D)


Der Nachhaltigkeitsfaktor ist deshalb so wichtig, meine
Damen und Herren, weil er bei der jährlichen Rentenan-
passung das Verhältnis von Beitragszahlern und Ren-
tenbeziehern berücksichtigt . Dort rangehen zu wollen,
bestätigt, dass Sie schlichtweg keine anderen Antworten
auf die Herausforderungen der Zukunft haben . Sie schie-
ben Probleme vor sich her und vergrößern sie damit zu-
sätzlich .

Wir reden ja viel von Nachhaltigkeit – in der Umwelt,
in der Bildung und in der Wirtschaft . In der Renten- und
Sozialpolitik aber erhält Nachhaltigkeit eine existenzielle
Bedeutung . Das muss man können und wollen . Sie, ver-
ehrte Kollegen der Linken, können und wollen es nicht .


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Was Sie alles wissen!)


Deshalb ist es gut, dass Sie im Bund nicht über die Ge-
schicke unseres Landes bestimmen .

Meine Damen und Herren, ich glaube, wir brauchen
andere Lösungen . Fakt ist auch: In Zeiten einer älter wer-
denden Gesellschaft kann die Antwort eben nicht lauten,
dass die gesetzliche Rente allein es schon richten wird .
Ich würde behaupten, dass die Mehrzahl der Menschen
in meiner Generation das auch so sieht . Wir müssen des-
wegen den Menschen vielmehr die Möglichkeit geben,
ihre Rente noch stärker auch durch das eigene Erwerbs-
verhalten zu beeinflussen. Genau das berücksichtigen die
Beschlüsse und Maßnahmen der vergangenen Monate .

Mit der Einführung der Flexirente, die heute schon
mehrfach angesprochen wurde, haben wir Anreize dafür
gesetzt, dass sich längeres Arbeiten lohnt, für Arbeitneh-
mer, aber auch für Arbeitgeber. Wir schaffen dadurch
mehr Flexibilität und mehr Freiheit, und wir stärken die
Eigenverantwortung der Menschen . Wir müssen den
Menschen aber auch den Raum lassen und die Möglich-
keit geben, mit ihrem Einkommen in alternative Anlage-
formen zu investieren . Niedrige Steuern und angemesse-
ne Sozialbeiträge sind dafür zunächst die Voraussetzung .


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Höhere Löhne wären auch nicht schlecht!)


Darauf aufbauend wollen wir künftig wieder den Erwerb
von Grundeigentum unterstützen; denn Grundeigentum
ist Garant für soziale Stabilität, vor allen Dingen im Al-
ter .


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In der Uckermark, was? – Gegenruf des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Da ist es günstiger, Markus!)


Doch die Niedrigzinsphase führt nicht nur dazu, dass tra-
ditionelle Anlageprodukte immer weniger attraktiv sind,
sie führt auch dazu, dass junge Familien mit einem durch-
schnittlichen Einkommen sich infolge steigender Grund-
stücks- und Baupreise eben kein Eigenheim mehr leisten
können . Das Budget ist oftmals schon mit dem Erwerb
des Grundstücks aufgebraucht . Deshalb ist es wichtig, in
diesem Bereich mehr politische Unterstützung zu geben .

Und: Wir wollen auch die zweite und dritte Säule in
unserem Vorsorgesystem stärken; das wurde heute auch

schon mehrfach angesprochen . Die Linke würde das al-
les am liebsten abschaffen,


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was?)


aber wir halten daran fest, weil es sich bewährt hat . Gut
die Hälfte der heutigen Rentner haben Einkommen aus
betrieblicher und privater Vorsorge . In Deutschland gibt
es mehr als 20 Millionen aktive Anwartschaften aus der
betrieblichen Altersvorsorge .


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wie viele davon sind Entgeltumwandlung oder haben doppelte Krankenversicherungsbeiträge? Die Leute werden dann weinen, wenn sie das sehen!)


Mehr als 70 Prozent der heutigen Arbeitnehmer haben ei-
nen Anspruch auf eine Zusatzrente . Diese Zahlen zeigen,
meine Damen und Herren, dass die Menschen in unserem
Land erkannt haben, dass für eine auskömmliche Alters-
vorsorge Zusatzrenten wichtig und richtig sind .

Dazu – um einen letzten Gedanken zu äußern – liegt
mit dem Betriebsrentenstärkungsgesetz ein Vorschlag
auf dem Tisch, den wir in den kommenden Wochen bera-
ten werden . Die größte Herausforderung ist dabei zwei-
felsohne, herauszufinden, wie es uns gelingen kann, mit
dem Gesetz eben nicht nur tarifgebundene Unternehmen
zu erreichen. Unser Ziel ist und bleibt, Politik für alle
Menschen in Deutschland zu machen, und dazu zählt der
größte Teil der Unternehmen in unserem Land, ebenje-
ne, die nicht tarifgebunden sind und keinen Tarifvertrag
anwenden .

Einen wahrlichen Kurswechsel im Vorschlag zur be-
trieblichen Altersvorsorge stellt auch der Übergang zu ei-
ner Zielrente bzw . einer reinen Beitragszusage dar . Diese
hat sich bereits im europäischen Ausland bewährt, und
damit gäbe es in der Tat eine denkbare Alternative zur
Garantierente, die immer weniger für die Versicherten
abwirft und Unternehmen in die Haftung nimmt . Be-
triebliche Altersvorsorge könnte damit auch künftig auf
andere Anlageformen zurückgreifen .


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Zocken mit den Beiträgen der Arbeitnehmer!)


Meine Damen und Herren, wir neigen in vielen Berei-
chen der Politik dazu, Freiheit und Eigenverantwortung
zugunsten von Sicherheit und Garantien zu opfern . Da-
mit entgehen uns aber auch Chancen, die wir angesichts
demografischer Veränderungen und der Ausgestaltung
der europäischen Zinspolitik angehalten sind zu nutzen .

Lassen Sie uns über den Tellerrand hinwegschauen .
Unsere Kinder und späteren Enkel werden es uns danken .

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820613300

Vielen Dank, Jana Schimke . – Nächster Redner: Ralf

Kapschack für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU])


Jana Schimke

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620542


(A) (C)



(B) (D)



Ralf Kapschack (SPD):
Rede ID: ID1820613400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Verehrte Zuschauer! Eine Bemerkung vorweg: Ich könn-
te mir Markus Kurth sehr gut als Supergrobi in der Se-
samstraße vorstellen .


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, für uns, für die Sozi-
aldemokraten, ist die gesetzliche Rente die zentrale Säu-
le der Altersversorgung, und sie soll es bleiben . Das hat
Andrea Nahles vor einer Woche noch einmal sehr deut-
lich gemacht . Sie hat ein Konzept vorgelegt und eben
nicht bloß die Forderung nach Einführung der Rente mit
70 in die Welt gesetzt, wie manch einer unserer politi-
schen Lebensabschnittspartner aus der CDU/CSU


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Nicht auf mich gucken!)


– irgendwo muss ich hingucken –, als sei mit der Rente
mit 70 ein Problem gelöst. Kein einziges Problem ist ge-
löst, ganz im Gegenteil .


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Viele schaffen es jetzt schon nicht, bis 65 durchzuhal-
ten . Deshalb haben wir erst vor ein paar Wochen hier mit
den Möglichkeiten zum flexiblen Übergang neue Wege
eröffnet, um den Übergang vom Job in die Rente für äl-
tere Beschäftigte leichter zu machen, um es ihnen zu er-
leichtern, das normale Renteneintrittsalter zu erreichen .
Und jetzt sollen sie gleich bis 70 weitermachen? Das
kann doch nicht Ihr Ernst sein!

Eine flotte Forderung nach der Rente mit 70 bringt
sicher Schlagzeilen, eine Lösung bringt sie nicht . Und:
Solche simplen Parolen erschüttern das Vertrauen vieler
Menschen in den Sozialstaat, und das ist das Letzte, was
wir im Moment gebrauchen können .


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb bin ich froh, dass die Arbeits- und Sozialmi-
nisterin es sich nicht so leicht gemacht hat und nur auf
kurze Sicht gefahren ist, wie manche empfohlen haben .
Sie hat klare Vorstellungen formuliert, wie mit einer So-
lidarrente – das ist schon gesagt worden – Menschen, die
lange gearbeitet haben, der Weg in die Grundsicherung
erspart bleibt . Sie hat klar formuliert, dass bei den Er-
werbsminderungsrenten weitere Verbesserungen drin-
gend notwendig sind .


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])


Der erste große Schritt zu einer Erwerbstätigenversi-
cherung ist ebenfalls klar formuliert worden . Ja, Andrea
Nahles hat auch deutlich gemacht – ich will mich da gar
nicht drum herumdrücken –, dass das Niveau der gesetz-
lichen Rente nicht so stark sinken soll, wie ursprünglich
vorgesehen . Ich persönlich bin der Meinung: Das Niveau
der gesetzlichen Rente darf nicht weiter sinken .


(Beifall bei der SPD)


Deshalb habe ich persönlich sehr große Sympathien für
die Forderung der Gewerkschaften nach einer Stabili-
sierung des aktuellen Niveaus und einer langfristigen
Anhebung . Natürlich gibt es konkrete Vorschläge, wie
das generationengerecht finanziert werden kann. Darü-
ber wird auch in meiner Partei sehr intensiv diskutiert.
Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir da eine gute Lösung
finden werden.


(Beifall bei der SPD)


Ich sage aber auch ganz klar: Das, was im Antrag der
Linken steht – mindestens 53 Prozent –, hört sich ein
bisschen so an wie: Wir können auch noch mehr .


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: In Österreich geht das!)


Die beste Ergänzung zur gesetzlichen Rente ist für die
SPD die betriebliche Altersversorgung als private und
zugleich kollektive Vorsorge .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Sie ist Ergänzung, um das klar zu sagen, kein Ersatz .
Anders als die Linke wollen wir nicht einfach darauf
verzichten . Die betriebliche Altersversorgung ist ein
eingeführtes, bewährtes Instrument . Mit dem Betriebs-
rentenstärkungsgesetz wird die Ministerin dem Parla-
ment demnächst ihren Vorschlag präsentieren, wie die
Altersversorgung ausgebaut werden kann . Aus unserer
Sicht muss es darum gehen, gerade Beschäftigten in klei-
nen und mittleren Unternehmen einen besseren Zugang
zu Betriebsrenten zu ermöglichen – tarifvertraglich, wo
es geht, aber auch dort, wo es keine Tarifverträge gibt .

Es muss auch darum gehen, dass für Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer mit kleinen Einkommen eine
Betriebsrente selbstverständlich wird . Deshalb soll es
einen speziellen Förderbetrag für Geringverdiener ge-
ben, und – das ist auch schon angesprochen worden –
Betriebsrenten sollen künftig nicht mehr vollständig auf
die Grundsicherung angerechnet werden . Ich würde das
nicht eine Revolution nennen, aber das ist ein Riesen-
fortschritt .


(Beifall bei der SPD)


Auch das hat etwas mit Gerechtigkeit und mit Vertrauen
zu tun; denn es ist richtig, diejenigen besserzustellen, die
trotz kleinem Einkommen für das Alter vorsorgen, als an-
dere, die eben nicht vorsorgen .

All dies könnte mehr Frauen und Männern helfen, als
Ergänzung zur gesetzlichen Rente auch eine Betriebsren-
te zu erwerben – als Ergänzung, nicht als Ersatz .


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820613500

Denken Sie an Ihre Redezeit?


Ralf Kapschack (SPD):
Rede ID: ID1820613600

Ich komme zum Schluss . – Denn im Mittelpunkt bleibt

für uns die gesetzliche Rente, ohne Wenn und Aber .

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20543


(A) (C)



(B) (D)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820613700

Vielen Dank, Kollege Kapschack . – Die letzte Redne-

rin in dieser Debatte: Kerstin Griese für die SPD-Frak-
tion .


(Beifall bei der SPD)



Kerstin Griese (SPD):
Rede ID: ID1820613800

Danke schön. – Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolle-

ginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Was
kann ich zum Ende dieser Debatte sagen? Immer wenn
die Bundesregierung Verbesserungen macht – sei es die
abschlagsfreie Rente nach 45 Beitragsjahren, die Mütter-
rente oder die Rente für Erwerbsgeminderte – oder, wie
die Ministerin es jetzt tut, ein gutes, durchgerechnetes
Konzept für die Rente vorstellt, dann holt die Linke ihr
altes Konzept heraus, packt es in einen neuen Antrag,
schreibt eine neue Überschrift darüber und sagt: Das
Rentenniveau von 53 Prozent wird angehoben. Sie sagt
aber kein Wort dazu, wie das richtig finanziert werden
soll .


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein! Muss angehoben werden!)


Damit bleibt die Rente nicht sicher .


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das Rentenniveau ist ja nur bei 48 Prozent! Muss angehoben werden!)


Wir wissen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es
so einfach nicht ist . Es ist auch unverantwortlich, immer
einfach nur mehr zu fordern . Die Menschen wissen, dass
wir nicht einfach so weitermachen können; denn wür-
den wir es einfach so weiterlaufen lassen – das können
Sie in den Berechnungen von Frau Ministerin Nahles
nachlesen –, würde das Rentenniveau im Jahr 2045 auf
41,7 Prozent sinken, die Beiträge aber auf über 25 Pro-
zent steigen, und das wäre unverantwortlich .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Rechnen Sie das mal in Euro um bei steigenden Beiträgen! Das machen Sie immer alle nicht!)


Wir haben ganz andere Probleme, und die Menschen
wissen das. Ich finde, man kann über Generationenge-
rechtigkeit auch in einem Grundton reden, der davon
zeugt, dass wir uns das solidarische Miteinander der Ge-
nerationen und die soziale Gerechtigkeit zum Ziel neh-
men . Wir wissen, dass wir da etwas tun müssen . 1950
haben noch sechs Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
einen Rentner finanziert, heute sind es drei, und 2030
werden es zwei sein . Darauf muss man eine verantwor-
tungsvolle und zukunftsweisende Antwort finden.


(Beifall bei der SPD)


Unsere Politik und übrigens der hervorragende Ar-
beitsmarkt, der ja auch etwas mit unserer Politik zu tun
hat, haben dazu beigetragen, dass wir in diesem Jahr die
höchste Rentenerhöhung seit über 25 Jahren hatten . Der
Beitragssatz liegt bei 18,7 Prozent und das Rentenniveau
bei 47,7 Prozent. Das sind gute Zahlen. Das zeigt, dass

gute Rentenpolitik und gute Arbeitsmarktpolitik zusam-
mengehören .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Mir geht es um die Wahrung der Generationengerech-
tigkeit, um das solidarische Miteinander . Wir sozialde-
mokratischen Bundestagsabgeordneten machen keine
wolkigen Rentenversprechungen zulasten der jungen
Generation .


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wir auch nicht!)


Ich höre immer wieder: Ach, das macht ja nichts, wenn
die Beiträge um 1, 2 oder 3 Prozent steigen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE] Da kommt doch viel mehr Rente raus dann!)


Aber das ist netto wirklich weniger für die Menschen .
Die Menschen merken das, auch wenn sich Mitglieder
der Linkenfraktion das scheinbar nicht vorstellen kön-
nen . Menschen merken das, wenn eine niedrigere Zahl
auf dem Gehaltszettel steht .


(Beifall bei der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ich habe mit denen geredet! Die sagen, das wäre super: Den Riester-Quatsch weg, gesetzliche Rente! Da sparen wir 75 Euro im Monat!)


Wir wollen einen Ausgleich zwischen den Genera-
tionen. Denn das ist verantwortungsvolle Politik. Auch
ich danke Ministerin Nahles, dass sie ein umfassendes
Konzept zur Stabilisierung der gesetzlichen Rentenversi-
cherung vorgelegt hat . – Denn wir kümmern uns um alle
Generationen: um gute Renten für die Älteren und um
bezahlbare Beiträge für die Jüngeren, die heute arbeiten .
Damit ist dies auch ein gutes und wichtiges Konzept ge-
gen Altersarmut .


(Beifall bei der SPD)


Das Konzept bedeutet Verbesserungen für alle Men-
schen . Das wichtigste Versprechen des Sozialstaates ist,
dass man auch im Alter sicher leben kann . Wir tun et-
was gegen Altersarmut und sorgen dafür, dass der Le-
bensstandard gesichert ist. Deshalb finde ich es so gut,
dass wir gezielt schauen, wo man etwas gegen Altersar-
mut tun muss . Wir haben bei den Erwerbsminderungs-
renten schon einiges verbessert und gehen jetzt in dieser
Koalition weitere Schritte, damit die betroffenen Men-
schen monatlich etwa 100 Euro mehr in der Hand haben
werden . Das hilft echt gegen Altersarmut . Das hilft den
erwerbsgeminderten Menschen wirklich . Das ist verant-
wortungsvolle Rentenpolitik .


(Beifall bei der SPD)


Wir wollen auch für die Selbstständigen etwas tun . Wir
haben gesehen, dass auch die Selbstständigen in Gefahr
sind, im Alter arm zu werden . Deshalb ist es aus Sicht der
SPD wichtig, auch die Selbstständigen in die gesetzliche
Rentenversicherung einzubeziehen . Das stärkt die Ren-
tenversicherung, und das hilft den Selbstständigen dabei,
eine gesicherte Altersversorgung zu haben . Deshalb ist

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620544


(A) (C)



(B) (D)


das ein wichtiges Thema, eine wichtige Komponente in
der Rentenpolitik .

Mit der Solidarrente, einer Alterssicherung oberhalb
der Grundsicherung für diejenigen, die 35 Jahre einge-
zahlt haben, machen wir einen weiteren Vorschlag, der
für Sicherheit im Alter sorgt; dadurch wird anerkannt,
dass Menschen gearbeitet haben. Ich finde, das ist eine
richtig gute Sache, um Altersarmut gezielt vorzubeugen .

Der Vorschlag, den Frau Nahles vorgelegt hat, ist im
Gegensatz zu dem von den Linken klar durchgerechnet .


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ich habe Ihnen das doch auch vorgerechnet!)


Er ist nachhaltig, er ist umsetzbar, und er würde Verbes-
serungen für alle Menschen bedeuten . Das ist das Gute
daran . Damit gehen wir gezielt gegen Altersarmut vor .
Wir helfen denen, die es wirklich brauchen, und wir sor-
gen für ein solidarisches und nachhaltiges Gesamtkon-
zept . Ich freue mich auf weitere Diskussionen dazu .

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820613900

Vielen Dank, Kerstin Griese . – Damit schließe ich die

Aussprache .

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/10471 an den in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschuss vorgeschlagen . Sie sind damit ein-
verstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen .

Tagesordnungspunkt 5 b . Wir kommen zur Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zum
Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Rentenni-
veau anheben – Für eine gute, lebensstandardsichernde
Rente“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 18/10517, den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/6878 abzuleh-
nen . Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Dann wird sich niemand mehr ent-
halten . Die Beschlussempfehlung ist angenommen . Zu-
gestimmt haben CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die
Grünen . Dagegen war die Linke .

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 35 b und 35 c sowie
die Zusatzpunkte 2 a bis 2 d auf:

35 b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Özcan Mutlu, Tabea Rößner, Kai Gehring,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Die digitale Welt verstehen und mitgestal-
ten – Lernen und Lehren digitalisieren

Drucksache 18/6203
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss Digitale Agenda

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Özcan Mutlu, Kai Gehring, Beate Walter-
Rosenheimer, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Bildungseinrichtungen fit für die digitale
Gesellschaft und die Zukunft machen

Drucksache 18/10474
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsausschuss

ZP 2 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Dritten Geset-
zes zur Änderung des Bundeswaldgesetzes

Drucksache 18/10456
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Peter Meiwald, Oliver Krischer, Annalena
Baerbock, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Minamata-Konvention zu Quecksilber
unverzüglich ratifizieren

Drucksache 18/7657
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Energie

c) Beratung des Antrags der Abgeordne-
ten Dr . Valerie Wilms, Beate Walter-
Rosenheimer, Harald Ebner, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Nachhaltigkeit im politischen Prozess ver-
ankern

Drucksache 18/10475
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur

d) Unterrichtung durch die Bundesregierung

Erster Bericht der Bundesregierung über
die Auswirkungen des Conterganstiftungs-
gesetzes sowie über die gegebenenfalls
notwendige Weiterentwicklung dieser Vor-
schriften

Drucksache 18/8780

Kerstin Griese

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20545


(A) (C)



(B) (D)


Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen . Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall . Dann sind die Überweisungen so beschlossen .

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 36 a bis 36 l auf . Es
handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist .

Tagesordnungspunkt 36 a:

Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Einbeziehung der Bundespolizei in
den Anwendungsbereich des Bundesgebüh-
rengesetzes

Drucksache 18/9759

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4 . Ausschuss)


Drucksache 18/10276

Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 18/10276, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/9759 in der
Ausschussfassung anzunehmen . Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um ihr Handzeichen . – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Was macht die Linke? Gar nichts!


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Wir haben zugestimmt! Aber ganz kräftig und deutlich!)


– Gut . Dann habe ich links nicht richtig geguckt . Dann
gibt es keine Enthaltungen . – Der Gesetzentwurf ist da-
mit in zweiter Beratung angenommen . Zugestimmt ha-
ben CDU/CSU, SPD und die Linke, enthalten haben sich
die Grünen .

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzent-
wurf ist angenommen . Zugestimmt haben die Linke, die
SPD, die CDU/CSU, enthalten haben sich die Grünen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 36 b auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Umsetzung der Richtlinie 2014/55/EU
über die elektronische Rechnungsstellung im
öffentlichen Auftragswesen

Drucksache 18/9945

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4 . Ausschuss)


Drucksache 18/10287

Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 18/10287, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/9945 an-
zunehmen . Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um ihr Handzeichen . – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung angenommen . Zugestimmt
haben CDU/CSU, SPD und die Linke, enthalten haben
sich die Grünen .

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erhe-
ben . – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Gesetzentwurf ist angenommen . Zugestimmt haben
CDU/CSU, SPD und die Linke, enthalten haben sich die
Grünen .

Ich rufe Tagesordnungspunkt 36 c auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Änderung des Versorgungsrück-
lagegesetzes und weiterer dienstrechtlicher
Vorschriften

Drucksachen 18/9532, 18/9834

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4 . Ausschuss)


Drucksache 18/10512

Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 18/10512, dem Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 18/9532
und 18/9834 in der Ausschussfassung anzunehmen .

Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/10529 vor . Wer
stimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt da-
gegen? – Es enthält sich niemand . Der Änderungsantrag
ist abgelehnt . Zugestimmt haben Bündnis 90/Die Grünen
und die Linke, dagegen waren CDU/CSU und die SPD.

Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzei-
chen . – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen .
Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, dagegen waren
Bündnis 90/Die Grünen, und enthalten hat sich die Linke .

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist angenommen . Zugestimmt haben CDU/CSU
und SPD, dagegen waren die Grünen, und enthalten hat
sich die Linke .

Ich rufe Tagesordnungspunkt 36 d auf:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 7. April
2016 zwischen der Regierung der Bundesre-
publik Deutschland und der Regierung der
Französischen Republik über den grenzüber-

Vizepräsidentin Claudia Roth

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620546


(A) (C)



(B) (D)


schreitenden Einsatz von Luftfahrzeugen zur
Ergänzung des Abkommens vom 9. Oktober
1997 über die Zusammenarbeit der Polizei-
und Zollbehörden in den Grenzgebieten

Drucksache 18/9988

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4 . Ausschuss)


Drucksache 18/10492

Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 18/10492, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/9988 an-
zunehmen .

Zweite Beratung

und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist angenommen . Zugestimmt haben CDU/CSU,
Bündnis 90/Die Grünen und die SPD, dagegen war nie-
mand, und die Linke hat sich enthalten .

Sie haben geguckt, warum Sie gleich aufstehen muss-
ten . Das ist so, weil es sich um ein Vertragsgesetz handelt
und es dazu nur eine zweite Lesung gibt . Das habe ich
auch gerade gelernt .

Ich übergebe an Edelgard Bulmahn und wünsche ei-
nen weiteren schönen Nachmittag .


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1820614000

Es geht weiter mit Tagesordnungspunkt 36 e:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe (17 . Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Annette Groth, Inge Höger,
Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE

Freiheit für Mumia Abu-Jamal

Drucksachen 18/4722, 18/7349

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/7349, den Antrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 18/4722 abzulehnen . Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Enthält sich jemand? – Dann ist die Be-
schlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition ge-
gen die Stimmen der Opposition angenommen worden .

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 36 f auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung und Land-
wirtschaft (10 . Ausschuss) zu dem Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD

Antibiotika-Resistenzen vermindern – Er-
folgreichen Weg bei Antibiotikaminimierung
in der Human- und Tiermedizin gemeinsam
weitergehen

Drucksachen 18/9789, 18/10308

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf der Drucksache 18/10308, den Antrag der Frak-
tionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/9789
anzunehmen . Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthält sich jemand? –
Damit ist auch diese Beschlussempfehlung mit den
Stimmen der Koalition bei Enthaltung der Opposition
angenommen worden .

Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-
titionsausschusses, Tagesordnungspunkte 36 g bis 36 l .

Tagesordnungspunkt 36 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-
onsausschusses (2 . Ausschuss)

Sammelübersicht 382 zu Petitionen
Drucksache 18/10421

Wer stimmt für diese Sammelübersicht? – Stimmt je-
mand dagegen? – Damit ist Sammelübersicht 382 ein-
stimmig angenommen worden .

Tagesordnungspunkt 36 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-
onsausschusses (2 . Ausschuss)

Sammelübersicht 383 zu Petitionen
Drucksache 18/10422

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Damit ist die Sammelübersicht 383 mit den
Stimmen der Koalition und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenom-
men worden .

Tagesordnungspunkt 36 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-
onsausschusses (2 . Ausschuss)

Sammelübersicht 384 zu Petitionen
Drucksache 18/10423

Wer stimmt dafür? – Stimmt jemand dagegen? – Ent-
hält sich jemand? – Damit ist die Sammelübersicht 384
einstimmig angenommen worden .

Tagesordnungspunkt 36 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-
onsausschusses (2 . Ausschuss)

Sammelübersicht 385 zu Petitionen
Drucksache 18/10424

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthält
sich jemand? – Damit ist die Sammelübersicht 385 mit
den Stimmen der Koalition und der Fraktion Die Linke
gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen ange-
nommen worden .

Tagesordnungspunkt 36 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-
onsausschusses (2 . Ausschuss)

Sammelübersicht 386 zu Petitionen
Drucksache 18/10425

Vizepräsidentin Claudia Roth

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20547


(A) (C)



(B) (D)


Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthält
sich jemand? – Damit ist diese Sammelübersicht mit den
Stimmen der Koalition und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen gegen die Stimmen der Linken angenommen
worden .

Tagesordnungspunkt 36 l:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-
onsausschusses (2 . Ausschuss)


Sammelübersicht 387 zu Petitionen

Drucksache 18/10426

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Damit ist
auch diese Sammelübersicht mit den Stimmen der Koa-
lition gegen die Stimmen der Opposition angenommen
worden .

Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 sowie den Zusatz-
punkt 3 auf:

6 . Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neu-
ordnung der Verantwortung in der kerntech-
nischen Entsorgung

Drucksachen 18/10353, 18/10482

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO

ZP 3 Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/
CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neu-
ordnung der Verantwortung in der kerntech-
nischen Entsorgung

Drucksache 18/10469

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . Gibt es dazu
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall . Dann ist das so
beschlossen .

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in die-
ser Debatte hat Hubertus Heil für die SPD-Fraktion das
Wort .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1820614100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Kaum eine gesellschaftliche Debatte
hat unser Land über Jahrzehnte so tief gespalten wie die
Auseinandersetzung um die Kernkraft in Deutschland –
beginnend mit den Protesten 1973/1974 in Wyhl am Kai-
serstuhl bis hin zu heftigen Debatten der 70er-, 80er-,
90er- und frühen 2000er-Jahre mit frühen Mahnern wie
beispielsweise Erhard Eppler oder Robert Jungk . Jeder
Einzelne von uns und jede einzelne Partei in diesem
Haus hat im Zusammenhang mit dieser Auseinanderset-
zung eine eigene Geschichte .

Bündnis 90/Die Grünen sind darüber 1980 als grüne
Partei entstanden. Sie waren als erste Partei – seit ihrer
Wiege sozusagen – klare Kernkraftgegner . Die deutsche
Sozialdemokratie hat sich trotz der Tatsache, dass es auch
in der SPD in den 70er- und 80er-Jahren schon massiven
Widerstand gab, erst 1986 auf dem Nürnberger Parteitag
für den geordneten Ausstieg aus der Kernkraft ausge-
sprochen . Die Vorgängerparteien der Linkspartei waren
seit 1989/1990 Gegner der Kernkraft, und CDU/CSU ist
seit 2011, seit dem furchtbaren Unglück in Fukushima,
auch entschieden dagegen . – Was will ich damit sagen?
Eine übergroße Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in
diesem Land ist am Ende dieser Auseinandersetzung zu
Kernkraftgegnern geworden. Alle demokratischen Par-
teien in Deutschland sind mittlerweile für den Ausstieg
aus der Atomkraft . Das ist ein gutes Zeichen . Deshalb ist
es Zeit, diese gesellschaftliche Auseinandersetzung ein
für alle Mal zu beenden .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir werden im Jahre 2022 erleben, dass das letzte
deutsche Atomkraftwerk vom Netz geht . Unsere Genera-
tion muss dafür sorgen, dass die Abwicklung der Erblas-
ten des atomaren Zeitalters auf den Weg gebracht wird .
Das heißt ganz konkret, dass wir durch Regelungen in
zwei Bereichen dafür sorgen müssen – das tun wir mit
dem Gesetz, dessen Entwurf wir heute einbringen –, dass
wir den zukünftigen Generationen das ihnen Zustehen-
de hinterlassen . Dazu gehört, die Verantwortung für die
Atomabfälle neu zu regeln . Die Betreiber der Kernkraft-
werke sind auch in Zukunft für die gesamte Abwicklung
und die Finanzierung von Stilllegung, Rückbau und Ver-
packung der radioaktiven Abfälle zuständig; das liegt in
ihrer Verantwortung . Der Bund übernimmt allerdings die
klare Verantwortung für die Zwischen- und Endlagerung .
Finanziell bedeutet das, dass die Betreiber der Atom-
kraftwerke 17,3 Milliarden Euro dafür zur Verfügung
stellen; das sind die Rückstellungen . Hinzu kommt ein
Risikozuschlag in Höhe von 6,1 Milliarden Euro . Diese
insgesamt 23,4 Milliarden Euro wird der Staat in einem
Fonds sichern, der diesem Ziel gewidmet ist .

Es gilt aber nach wie vor – im Sinne des Verursacher-
prinzips – die Nachhaftung . Der Atomausstieg und die
gesamte Energiewende bedingen einen Strukturwandel
in der Energiewirtschaft . Diese veränderten Strukturen
erleben wir gerade in diesen Tagen bei den großen EVUs .
Es muss deshalb klar sein, dass der Staat weiterhin dieje-
nigen in Verantwortung nimmt, die in den Unternehmen

Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620548


(A) (C)



(B) (D)


Verantwortung tragen . Auch hier gilt der Satz: Eltern haf-
ten für ihre Kinder . – Bei Zahlungsunfähigkeit von Kern-
kraftwerksbetreibern müssen deren Mütterunternehmen
die Kosten für Rückbau und Entsorgung tragen .

Der Gesetzentwurf, den wir heute in erster Lesung
beraten, ist kein Regierungsentwurf, sondern ein ge-
meinsamer Fraktionsentwurf von CDU/CSU, SPD und
Bündnis 90/Die Grünen . Ich bin sehr dankbar, dass das
möglich war . Die Basis für diesen Gesetzentwurf wurde
in einer Kommission gelegt, die gründlich, kompetent
und, wie ich finde, sehr umsichtig gearbeitet hat. Ihre
Mitglieder haben mit ihren unterschiedlichsten persön-
lichen Historien und Interessen dafür gesorgt, dass jetzt
Vorschläge vorliegen, die wir in Gesetzesform umsetzen
können . Ich möchte für die Arbeit dieser Kommission
einmal ganz herzlich danken . Viele waren daran betei-
ligt: viele Kolleginnen und Kollegen der Fraktionen
dieses Hauses, kompetente Partner aus Wirtschaft, Wis-
senschaft und Gewerkschaften . Namentlich möchte ich
denjenigen danken, die diese Kommission geleitet ha-
ben: Ole von Beust, Matthias Platzeck und nicht zuletzt
Jürgen Trittin . Sie haben dazu beigetragen, dass es ein
einstimmiges Votum gegeben hat, auf dessen Basis wir
diesen Gesetzentwurf vorlegen konnten .


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich möchte den Kollegen Trittin persönlich anspre-
chen und ihm herzlich danken, weil er wie wenige andere
einen Beitrag dazu geleistet hat, diese gesellschaftliche
Auseinandersetzung nicht nur heftig zu führen, sondern
auch zu einem guten Ende zu bringen . Das hat er als zu-
ständiger Minister für Umwelt, Naturschutz und Reak-
torsicherheit in der Regierungszeit von Gerhard Schröder
getan, als Gerhard Schröder, Jürgen Trittin und Werner
Müller gemeinsam mit den Energieversorgungsunter-
nehmen den geordneten Ausstieg aus der Atomkraft im
Jahre 2000 vereinbart hatten . Das hat er als Vertreter der
Opposition getan, und das tut er auch im Rahmen sei-
ner parlamentarischen Arbeit in der Kommission . Jürgen
Trittin, ich hoffe, es schadet dir in deiner Fraktion nicht
zu sehr, wenn ich ganz herzlich Danke sage für das, was
du jetzt getan hast und was du in der Vergangenheit getan
hast .


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das Ergebnis dieser KFK ist eine wirklich gute
Grundlage für den heute vorliegenden Gesetzentwurf .
Ich gebe aber zu, dass in nächster Zeit noch heftige Ar-
beit vor uns liegt . Wir wollen unverzüglich, also ohne
schadhaftes Verzögern, aber auch gründlich dafür sorgen,
dass das ein guter Gesetzentwurf ist . Wir werden deshalb
an der einen oder anderen Stelle noch darüber diskutieren
müssen .

Eines ist mir ganz wichtig: Wenn es notwendig ist,
für dieses Gesetz einen öffentlich-rechtlichen Vertrag
zwischen den EVUs und dem Staat zu schließen, damit
alle Rechtsfolgen bedacht sind, dann habe ich die kla-
re Erwartung an die Energieversorgungsunternehmen in

Deutschland, dass sie die Klagen, die im Zuge des Atom-
ausstieges gegen den Staat eingereicht worden sind, zu-
rückziehen .


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg . Sabine Leidig [DIE LINKE])


Wenn wir die Risiken nicht im Sinne einer Staatsbeihil-
fe – das darf es auch nach EU-Recht nicht sein –, sondern
im Sinne von Verantwortungssicherung in die eben be-
schriebene Form überführen, dann muss klar sein, dass
alle den Krieg um die Atomkraft beenden müssen, auch
diejenigen, die ihn verloren haben . Das heißt, es darf kein
Nachtreten geben . Deshalb muss dafür gesorgt werden,
dass wir nicht nur einen gesellschaftlichen, sondern auch
einen Rechtsfrieden haben . Meine Damen und Herren,
wir brauchen genug Kraft, um gemeinsam nach vorne
zu schauen und die Energiewende zum Erfolg zu führen,
und dürfen deshalb nicht in Schlachten der Vergangen-
heit stecken bleiben . Gesellschaftliche Auseinanderset-
zungen sind verantwortungsvoll zu beenden, gerade in
diesen Zeiten . Wir müssen in Deutschland nach vorne
gucken und das atomare Zeitalter hinter uns lassen . Mit
diesem Gesetz leisten wir einen Beitrag dazu, dass die
Finanzierung dessen möglich ist .

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1820614200

Als nächster Redner hat Hubertus Zdebel von der

Fraktion Die Linke das Wort .


(Beifall bei der LINKEN)



Hubertus Zdebel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1820614300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Wenn die Atomkonzerne Eon, Vattenfall,
RWE und EnBW ein Problem haben, springt nicht nur
die Bundesregierung, sondern dieses Mal sogar fast das
gesamte Parlament. Was unter dem verharmlosenden Ti-
tel einer Neuordnung der Atommüllentsorgung beschlos-
sen werden soll, hat offensichtlich nur einen Grund: Den
Atomkonzernen soll ein richtig großes, fettes Weih-
nachtsgeschenk unter den Tannenbaum gelegt werden .


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist AfD-Niveau! – Weiterer Zuruf von der SPD: So ein Quatsch!)


Die Verantwortung für den Rückbau der Atommeiler soll
zwar bei den Konzernen bleiben; aber gegen eine Ein-
malzahlung von etwas über 23 Milliarden Euro – mein
Vorredner hat darauf hingewiesen – sollen die Atomba-
rone von sämtlicher Verantwortung für ihren Atommüll
befreit werden . Sie hatten die Gewinne; für die Bürger
bleiben die Atommüllberge und die Kosten .

Seit vorgestern liegt der Gesetzentwurf von CDU/
CSU, SPD und Grünen vor. Heute findet die erste Lesung
dieses äußerst komplexen Artikelgesetzes im Plenum
statt . Morgen ist die Anhörung mit den Experten, die den
Entwurf bestenfalls überfliegen konnten. Schon in der

Hubertus Heil (Peine)


Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20549


(A) (C)



(B) (D)


nächsten Sitzungswoche wollen Sie dieses Artikelgesetz
mit seinen kostspieligen Folgen verabschieden . Die ganz
große Mehrheit des Parlaments macht sich selbst zur blo-
ßen Abnickmaschine und veranstaltet so eine Farce . Das
ist erschreckend .


(Beifall bei der LINKEN)


CDU/CSU und SPD und unter Trittin als Umweltmi-
nister auch die Grünen hatten Jahrzehnte Zeit, um die
Probleme bei der Finanzierung der Atommülllagerung zu
regeln . Das haben sie verpennt . Heute sagen sie – wir
werden es sicherlich noch hören –, man müsse jetzt han-
deln, weil man einem nackten Mann, den Konzernen,
nicht in die Tasche greifen könne, bzw . wenn man jetzt
nichts tue, wäre das Geld weg . Unglaublich, was hier
abgezogen wird! Die Konzerne stecken sicher in einer
Strukturkrise; aber sie sind potent genug und haben ge-
nügend Substanz . Es gibt keinen vernünftigen Grund, sie
aus der Nachschusspflicht und ihrer Verantwortung für
die Kostenrisiken für die Atommülllagerung zu befreien .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Jahrzehntelang galt als Versprechen: Die Atomkon-
zerne zahlen die Atomzeche auch für die Atommülllage-
rung und den Rückbau der Meiler .


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Machen sie ja!)


Dieses Versprechen wird nun wie so viele in der miesen
Geschichte der Atomenergienutzung gebrochen, erneut
zum Schaden und auf Kosten der Bürgerinnen und Bür-
ger . Es ist erschreckend, dass es hierfür einen Schulter-
schluss der Großen Koalition mit den Grünen gibt . Sie
wetten auf die Zukunft und setzen das Verursacherprin-
zip außer Kraft .

Die dem Gesetzentwurf zugrundeliegende Kosten-
schätzung ist auf Sand gebaut . Nach allen Erfahrungen
werden die Kosten der Entsorgung steigen . Das zeigt
ganz aktuell die Asse; das wissen Sie alle . Auch der Bun-
desrat hat sich in der letzten Woche klar geäußert .


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Da lag der Gesetzentwurf wohl doch schon vor, wenn sie sich schon geäußert haben!)


Ich habe sehr genau verfolgt, was insbesondere die grü-
nen Minister dort vorgetragen haben . Die Länder wollen
nicht auf den Mehrkosten sitzen bleiben und fordern, im
Gesetz klipp und klar zu regeln, dass der Bund die Kos-
tenverantwortung ohne Wenn und Aber übernimmt . Das
ist eine sehr deutliche Aussage .

Ob die prognostizierte langfristige vierprozentige
Verzinsung der in den Fonds einzuzahlenden 23 Milliar-
den Euro tatsächlich eintritt, weiß zum jetzigen Zeitpunkt
niemand. Dabei geht es allerdings nicht um Peanuts,
sondern um riesige Beträge in zweistelliger Milliarden-
höhe . Es kann also für die Steuerzahlerinnen und Steu-
erzahler richtig dicke kommen. Eine Nachschusspflicht
der AKW-Betreiber oder die Pflicht, Rücklagen zu bil-
den – das wäre eine Alternative dazu; wir reden bisher
immer nur über die vermaledeiten Rückstellungen statt
über Rücklagen –, besteht nicht und ist im Gesetzentwurf
auch nicht vorgesehen . Einmal zahlen, und der Atommüll

ist in den Bilanzen der Konzerne für immer vergessen .
Hinzu kommt, dass jetzt die Brennelementesteuer aus-
läuft, wodurch die Konzerne zusätzlich entlastet werden
sollen. Was mit der Trittin-Kommission anfing, wird hier
fortgesetzt .

Es ist unglaublich dreist und skandalös, wie eine ganz
große Koalition sehenden Auges das nächste Milliarden-
geschenk für die Stromkonzerne vorbereitet . Seien Sie
gewiss: Mit uns ist eine Verlagerung der Kosten für den
Atommüll auf die Bürgerinnen und Bürger nicht zu ma-
chen .


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Aber Sie haben nichts zu sagen!)


Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1820614400

Jetzt hat Dr . Michael Fuchs für die CDU/CSU-Frak-

tion das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Michael Fuchs (CDU):
Rede ID: ID1820614500

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe

Kolleginnen! Wir haben vor etwas mehr als einem Jahr
mit der Arbeit der Kommission zur Überprüfung der Fi-
nanzierung des Atomenergieausstiegs begonnen, und wir
haben sehr intensiv zusammengearbeitet . Als ich die Lis-
te der 19 Kommissionsmitglieder zum ersten Mal gese-
hen habe, war mein Gedanke: Das wird ja eine muntere
gruppendynamische Übung. Da saß nämlich der Präsi-
dent des BDI neben der Direktorin des WWF und 30 Jah-
ren Kernenergiegeschichte in Deutschland – namentlich
mir gegenübersitzend –; Pro und Kontra waren in einem
Raum versammelt, Schreckgespenster der Kernenergie-
gegner wie auch Schreckgespenster der Kernenergiebe-
fürworter . Wir hatten auch – das war wahrscheinlich gut
so – einen leibhaftigen Bischof unter uns, der am Ende
dafür gesorgt hat, dass wir himmlischen Beistand hatten .
Deswegen war es möglich, dass diese Kommission zu ei-
nem einvernehmlichen Konzept gekommen ist, das wir
einstimmig beschlossen haben .

Entscheidend war: Wir haben in der Kommissions-
arbeit eben nicht die Schlachten der Vergangenheit ge-
schlagen . Wir haben die Ideologie außen vor gelassen,
und das war richtig so . Uns ging es um eine sichere
und – Hubertus Heil hat es schon gesagt – zukunftsfes-
te Lösung, die vor allen Dingen dem Verursacherprinzip
Rechnung trägt und die eine Vielzahl von Streitereien im
Bereich der Kernenergie rechtlich und politisch befrie-
den und beenden soll .

Alles in allem glaube ich, dass die Kommission eine
vernünftige Arbeit abgeliefert hat . Mein Dank geht da-
her an die Mitglieder der Kommission, vorrangig aber
an die drei Vorsitzenden – Hubertus Heil hat sie schon
erwähnt –: Ole von Beust, Matthias Platzeck und Jürgen
Trittin . Lieber Herr Trittin, ich bin mir nicht hundertpro-
zentig sicher, ob Ihnen das schadet . Ich habe es auch nie

Hubertus Zdebel

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620550


(A) (C)



(B) (D)


für möglich gehalten, dass ich in diesem Hause mal einen
Grünen lobe . Aber wenn es Ihnen schadet, ist es ja gut so .


(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der SPD)


Mein herzliches Dankeschön also besonders an Sie . Ich
muss ehrlich zugeben: Ich habe mir am Anfang der Kom-
missionsarbeit eine so vernünftige Zusammenarbeit nicht
vorstellen können .

Klar ist aber auch: Die Kommissionsarbeit war nur das
Vorspiel . Das Entscheidende kommt jetzt . Wir beginnen
damit heute . Der Gesetzentwurf der Bundesregierung
ist eine ordentliche Grundlage . Er zeichnet wesentliche
Weichenstellungen der Kommissionarbeit nach . Mit die-
sem Gesetzentwurf können wir weiterarbeiten .

Erstens . Die Betreiber der Kernkraftwerke bleiben für
die Stilllegung und den sicheren Rückbau zu 100 Prozent
verantwortlich und auch in der Zahlungsverpflichtung.

Zweitens . Für die Zwischen- und Endlagerung über-
tragen die Energieversorger die Finanzmittel auf einen
Fonds beim Bundesfinanzminister. Grundlage sind rund
17,4 Milliarden Euro, die die Energieversorger hierfür
zurückgestellt haben, wie man in den Bilanzen sehen
kann . Die Kommissionsarbeit hat gezeigt, dass diese
Rückstellungen – das sollte die Linke zumindest wahr-
nehmen – im internationalen Vergleich eher konservativ
als zu hoch berechnet sind . Hinzu kommt ein gemein-
sam von uns berechneter Risikozuschlag in Höhe von
rund 6 Milliarden Euro . Das sind immerhin noch einmal
35 Prozent obendrauf. Am Ende beläuft sich der Gesamt-
betrag auf annähernd 23,5 Milliarden Euro . Dieser wurde
auch von unabhängigen Gutachtern der Bundesregierung
als sachgerecht bestätigt .

Umgekehrt werden die Energieversorger nach Zah-
lung dieses Betrags von einer Nachschusspflicht befreit.
Dieser Ansatz ist für mich sachgerecht . Er setzt das Ver-
ursacherprinzip strikt um und sorgt dafür, dass die Mittel
für Zwischen- und Endlagerung in Zukunft nicht mehr
bei den Unternehmen, sondern beim Staat sind . Umge-
kehrt gewinnen die Energieversorger Planungssicherheit
und ein Stück weit Bilanzsicherheit, was meiner Mei-
nung nach dringend notwendig ist; denn man kann wahr-
lich nicht behaupten, dass es ihnen gerade in letzter Zeit
gut geht . Man schaue sich nur die Verlustbilanzen an .

Am wichtigsten ist für mich aber die dritte zentrale
Weichenstellung der KFK-Empfehlung . Die operative
und die finanzielle Verantwortung für die Zwischen- und
Endlagerung werden zukünftig beim Bund zusammenge-
führt, und zwar für den schwach-, mittel- und hochradi-
oaktiven Abfall . Das heißt aber auch: Der Staat hat es in
Zukunft allein in der Hand, mit den Geldern für die Zwi-
schen- und Endlagerung effizient zu wirtschaften. Es gibt
jetzt keine Ausreden mehr . Das muss schnell gemacht
werden . Wie kann es schnell gehen? Das kann man in
Finnland sehen . Vor zwei Tagen hat im Südwesten Finn-
lands der Bau des Endlagers Olkiluoto begonnen . Ich
gebe zu, dass Finnland etwas weniger stark besiedelt ist
als Deutschland . Aber man hat vor, bis 2023 dieses End-
lager so weit fertiggestellt zu haben, dass es beschickt
werden kann, dass also Abfälle eingelagert werden kön-
nen . Das ist der richtige Weg .

Wir haben ein Budget von 23,5 Milliarden Euro, das
seit dem Frühjahr dieses Jahres dem BMF zur Verfügung
steht . Damit muss gehaushaltet werden . Das liegt im In-
teresse des Steuerzahlers . Dass es bei einem vernünftigen
Verfahren möglich ist, innerhalb eines absehbaren Zeit-
raums ein Endlager zu finden, ist klar. Wir dürfen dann
aber keine Endlosdiskussion in diesem Hohen Hause
beginnen und permanent darüber nachdenken, wo sich
überall ein Loch bohren lässt . Wir dürfen nach Gorleben
nicht weitere Löcher im Bayerischen Wald, im Schwarz-
wald, im Hunsrück oder irgendwo in der Heide bohren .
Wir müssen uns irgendwann entscheiden . Das muss dann
politisch durchgesetzt werden . Das muss dieses Hohe
Haus verantworten .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dann werden wir mit diesen Summen sicherlich hinkom-
men . Anders werden wir das nicht geregelt bekommen .

Wichtig ist auch, dass wir für den schwach- und mit-
telradioaktiven Abfall endlich den Knoten bei Schacht
Konrad durchschlagen; denn hiervon hängt ein Stück
weit der Rückbau der Kernkraftwerke ab . Ich halte es für
notwendig, dort voranzukommen . Deshalb ist es wichtig,
dass wir auf einen effizienten Fluss der Finanzmittel zwi-
schen Fonds und Betreibergesellschaft achten . Genauso
wichtig ist, dass der effiziente Mitteleinsatz ständig über-
wacht wird . Wir haben eine Kommission gebildet, die
dies tun wird . Ich gehe davon aus, dass wir das in großer
Verantwortung gemeinsam machen werden .

Wichtig ist mir auch, dass wir nach dem international
festgelegten Trennungsprinzip aus dem Euratom-Vertrag
zwischen atomrechtlicher Aufsicht und Betrieb klar tren-
nen und den Sicherheitsfragen sauber Rechnung tragen .
Sicherheitsfragen dürfen mit nichts anderem vermischt
werden . Die richtigen Strukturen und Vorkehrungen hier-
für zu schaffen, das ist unsere Aufgabe im parlamenta-
rischen Verfahren . Ich gehe davon aus, dass wir das in
Kürze machen werden und dass wir mit dem nächsten
Jahr das Kernkraftzeitalter in Deutschland in geordneten
Bahnen abwickeln werden .

Danke .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1820614600

Als nächster Redner spricht Jürgen Trittin für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .


Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820614700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit

2001 heißt das Atomgesetz „Gesetz zur geordneten Be-
endigung der Kernenergienutzung … “, und seit 2011
haben wir hierüber einen Konsens . Seit 2009 – übrigens,
Kollege Fuchs, da sollten Sie noch einmal in das von Ih-
nen mit verabschiedete Standortauswahlgesetz schauen –
haben wir auch einen Konsens in diesem Hause darüber,
wie man ein entsprechendes Endlager für den Müll fin-
det; denn mit der Beendigung des atomaren Leistungsbe-
triebs ist das Atomzeitalter nicht vorbei . Heute sprechen
wir über die Chance zu einem dritten Konsens, nämlich

Dr. Michael Fuchs

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20551


(A) (C)



(B) (D)


dem Konsens darüber, wie man die Mittel für die Kosten,
die dafür anfallen – das sind bis zu 170 Milliarden Euro
bis 2099 –, entsprechend sichert .

Ich sage Ihnen deutlich: Dieses Gesetz kommt mit
15 Jahren Verspätung . Ich erinnere mich noch gut, wie
zum Zeitpunkt des Ausstiegs die Unternehmen sich mit
Händen und Füßen dagegen gewehrt haben, dass sie die-
se Mittel in einen Zweckverband übertragen . Der Grund
war einfach: Sie wollten mit hohen Rückstellungen
Steuern sparen . Sie wollten diese als eine Kriegskasse
im Konkurrenzkampf nutzen . Das ist ihnen nicht gut be-
kommen, und das ist übrigens der Gesellschaft nicht gut
bekommen . Nach zehn Jahren Blockade sieht es so aus,
dass Eon, RWE, Vattenfall und EnBW keine EEG-Anla-
gen haben und mit ihren Kohle- und Atomkraftwerken
kein nennenswertes Geld mehr verdienen . Erst jüngst
musste Eon 9,3 Milliarden Euro abschreiben . Ihre Bör-
senkurse haben sich halbiert . Aus dieser schönen Kriegs-
kasse, die man einmal hatte in Form der Rückstellungen,
ist eine Belastung ihrer Kreditwürdigkeit geworden . Sie
haben dann versucht, sich dessen zu entledigen: durch
Umbau, Umstrukturierung und Enthaftung. Plötzlich
haftete der schwedische Staat nicht mehr für Vattenfall .
Genau diesem Versuch, sich der Verantwortung zu ent-
ziehen, schieben wir heute gemeinschaftlich einen Riegel
vor .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir haben als Grüne immer dafür plädiert, dass man
das über einen öffentlich-rechtlichen Fonds macht. Die
Bundesregierung hat lange geleugnet, dass das über-
haupt nötig sei . Nun hat Ihnen Ihr eigener Gutachter von
Warth & Klein ins Stammbuch geschrieben, wie hoch
die Wahrscheinlichkeit ist, dass, wenn die Beträge fällig
werden, die Erlöse der Unternehmen diese noch decken:
50 Prozent. 50 Prozent, das ist, als würden Sie eine Mün-
ze werfen, nur dass das in diesem Falle eine 170-Milliar-
den-Euro-Münze ist. Ich finde, mit diesem Risiko sollten
wir alle nicht mehr leben wollen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Es drohte nämlich, dass die Unternehmen sich aus ihrer
Verantwortung stehlen und dass die Steuerzahler das be-
zahlen, was sie als Stromkunden schon einmal bezahlt
haben . Es drohte die Aushebelung des Verursacherprin-
zips, und dem beugen wir mit diesem Gesetzentwurf vor .

Wir haben das sehr gründlich in dieser Kommission
geprüft . Wir haben Bürgerinitiativen, Sachverständige,
Wirtschaftsprüfer und Ratingagenturen, also alle, die ir-
gendetwas dazu sagen konnten, zu öffentlichen Anhörun-
gen eingeladen . Das Ergebnis ist: Die Höhe der heutigen
Rückstellungen ist international vergleichbar, eher am
oberen Rand, und sie ist – so das Ergebnis der Kommissi-
on – angemessen, um die Kosten von insgesamt 170 Mil-
liarden Euro am Ende zu sichern. Das Problem ist nicht
die Höhe. Das Problem, vor dem wir stehen, ist, dass
diese Mittel nicht mehr sicher sind . Darum geht es . Des-
wegen schlagen wir vor, CDU/CSU, BDI, DGB, WWF,
alle diejenigen, die dort vertreten waren, dass künftig wie
folgt verfahren wird: Die Unternehmen müssen bis 2040

60 Milliarden Euro aufbringen, um rückzubauen und zu
verpacken . Dafür müssen sie künftig ihre Rückstellungen
mit Aktiva unterlegen . Das wird von der Bundesregierung
unter Kontrolle des Bundestages kontrolliert . Sie müssen
unverzüglich mit dem Rückbau anfangen . Das andere ist:
Sie müssen die Mittel für die Zwischen- und Endlage-
rung in einen öffentlich-rechtlichen Fonds überführen –
das sind die 17 Milliarden Euro –, und sie müssen, wenn
sie sich enthaften wollen, noch einmal über 6 Milliarden
Euro als Risikozuschlag obendrauf legen, den sie bisher
nicht hatten . Ein schönes Weihnachtsgeschenk übrigens,
wenn ich eben einmal 23 Milliarden Euro, die ich bisher
nur in den Büchern stehen hatte, ausreiche . Ich habe mir
ein Geschenk bisher anders vorgestellt, liebe Kollegen
von der Linken .

Wir haben erwartet, dass die Unternehmen alle Kla-
gen, die sich auf die Entsorgung beziehen, fallen lassen .
Ich finde, dass damit das Verursacherprinzip sehr viel
besser gesichert ist. Wir schaffen mehr Sicherheit. Wir
müssen nicht mehr bangen oder – wie die Linkspartei –
hoffen, dass die Konzerne bis 2099 nicht pleitegehen und
nicht an irgendwelche Hedgefonds verkauft werden, und
wir hätten dann tatsächlich so etwas wie einen neuen
Konsens .

Ich will aber eines zum Abschluss in aller Deutlichkeit
sagen: Zu einem solchen Konsens passt es nicht, wenn
die Unternehmen weiterhin gegen den ersten Konsens,
gegen den Ausstieg, Schadensersatzklagen erheben, sei
es vor Oberlandesgerichten, sei es vor Schiedsgerichten
in Washington . Konsens bedarf des Rechtsfriedens . Des-
wegen erwarten wir, dass auch solche Klagen zurückge-
nommen werden . Dann wird aus dem Ausstiegskonsens
ein Entsorgungskonsens .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1820614800

Als nächste Rednerin spricht Dr . Nina Scheer für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Nina Scheer (SPD):
Rede ID: ID1820614900

Sehr geehrte Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen

und Kollegen! Ich möchte mit der Frage anfangen, wie
wir überhaupt in diese Situation kommen konnten . Man
muss konstatieren, dass im Grunde genommen die Fra-
gen, die wir jetzt klären, schon zu Beginn der Atome-
nergienutzung hätten geklärt werden müssen . Man hätte
eigentlich die Betriebsgenehmigung für Atomkraftwerke
gar nicht erteilen dürfen, wenn genau die Dinge, die wir
jetzt – Jahrzehnte später – klären, damals schon geklärt
worden wären. Man hätte damit eine Verpflichtung for-
muliert, die wahrscheinlich verhindert hätte, dass wir
je Atomenergie genutzt hätten . Ich will damit sagen: Es
wurde damals unterlassen, und es war eine politische
Entscheidung, das zu unterlassen . Und genau dieses lässt
sich nach Jahrzehnten nicht mehr zurückschrauben . Ge-
nau darin liegt jetzt auch die politische Verantwortung,
noch das an Möglichkeiten der Vermögenssicherung zu
nutzen, was durch politische Entscheidungen stattfinden

Jürgen Trittin

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620552


(A) (C)



(B) (D)


kann, um zu vermeiden – was gerade eben schon geschil-
dert wurde –, dass Geld für die Nachsorge und die ganze
Abwicklung der Atomenergienutzung und die Endlage-
rung verloren geht .

Ich denke, es ist ein überfälliger Prozess, der jetzt ein-
geleitet wird und eingeleitet werden muss . Diese Zäsur,
die mit dem Gesetzentwurf vorgenommen wird, hat na-
türlich in starkem Maße das Verursacherprinzip zu be-
rücksichtigen . Das Verursacherprinzip sagt im Grunde
genommen, dass die Verantwortlichkeit komplett bei den
Atomkraftwerksbetreibern liegt . Natürlich ist das auch
die Erwartungshaltung, die in der Öffentlichkeit zu sehr
viel Misstrauen führt, wenn es darum geht, dass wir mit
der Fondslösung und den Abwicklungsmöglichkeiten
jetzt quasi eine Enthaftungsregelung schaffen. Ich den-
ke, wir müssen in der Öffentlichkeit ganz klar deutlich
machen, dass uns das sehr bewusst ist, dass wir hier über
das Verursacherprinzip eine grundsätzliche Verantwor-
tung der Betreiber haben, aber gleichwohl auch damit
umgehen müssen, dass wir, wenn wir keine Regelung
treffen, möglicherweise eine Gesamtlast beim Steuerzah-
ler haben .


(Beifall bei der SPD)


Insofern bleibt uns nichts anderes übrig, als diese
Lösung jetzt sobald wie möglich zu gestalten, natürlich
möglichst auch mit parlamentarischer Beteiligung . Die
Kommission hat eine sehr gute Vorarbeit geleistet, und
wir müssen jetzt dafür sorgen, dass im parlamentarischen
Prozess noch weitere Veränderungen vorgenommen wer-
den .

Ich sehe zum Beispiel – das wurde auch schon er-
wähnt – eine ganz große Aufgabe darin, dass natürlich
die Klagen zurückgenommen werden . Es kann nicht sein,
dass wir hier verhandeln – es ist eine Verhandlung not-
wendig, in einem öffentlich-rechtlichen Vertrag müssen
die Details geklärt werden, die können wir gesetzlich
nicht regeln – und uns mit den Konzernen an einen Tisch
setzen, die gleichzeitig die Bundesrepublik Deutschland
verklagen . Das geht nicht . Deswegen müssen wir unbe-
dingt zu einer Klagerücknahme kommen .


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich möchte so weit gehen, zu sagen: Die Betreiber
sollten sich vergegenwärtigen, dass wir durchaus Gestal-
tungsmöglichkeiten haben, wenn sie ihre Klagen nicht
zurückziehen . Natürlich könnte man darüber nachden-
ken, ob die konsensual gefundene Vermögensbemessung
noch so stichhaltig ist, wenn sich die Vermögensmasse
im Nachhinein noch zulasten des Staates verschieben
würde . Das könnte man ja noch machen . Insofern möchte
ich an dieser Stelle einen Appell an die Konzerne richten,
dass sie sich gut überlegen, ob sie in diesen Prozess hin-
eingehen, ohne ihre Klagen zurückgenommen zu haben .


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich möchte noch auf einen weiteren Punkt hinweisen,
den wir uns für die parlamentarischen Beratungen vor-
nehmen sollten . Es gibt verschiedene Segmente der Haf-
tungsregelungen . Es gibt einmal den Bereich des Rück-

baus, der Verpackung . Dieser Bereich liegt weiterhin in
der Verantwortlichkeit der Betreiber; insofern ist nicht
ganz richtig, was hier vorhin dargestellt wurde . Darüber
hinaus gibt es den Bereich der Zwischenlagerung und
der Endlagerung . Wir haben mit dem Nachhaftungsge-
setz schon im letzten Jahr versucht – das ist übrigens von
der Union damals leider blockiert worden –, zu regeln,
dass Vermögen weder durch die Insolvenz noch durch
die Aufspaltung von Unternehmen verloren gehen kann .
Durch Verabschiedung des vorliegenden Gesetzentwurfs
würde gesichert, dass weder durch Aufspaltung noch
durch Pleitegehen von Konzernen ein Vermögensverlust
stattfindet.

Für einen kleinen Teilbereich haben wir das aber noch
nicht sicherstellen können. Er betrifft den Rückbau und
die Verpackung . Was das Risiko angeht, dass in diesem
Bereich etwas passiert, sollten wir als Parlamentarier
noch einmal genau hinschauen, ob wir da nicht noch
nachbessern können . Die Kommission konnte diesen
Gesichtspunkt nicht in vollem Umfang aufgreifen, weil
sie gearbeitet hat, als das Nachhaftungsgesetz noch im
parlamentarischen Prozess war.

Als allerletzten Punkt möchte ich sagen, dass mir
sehr daran gelegen ist, dass man darauf achtet, dass die
aus den Fondsmitteln getätigten Geldanlagen nachhaltig
sind . Diese Mittel sollten nicht auf verstecktem Weg zur
Finanzierung von irgendwelchen Kernenergiegewin-
nungsvorhaben oder anderweitigen nicht nachhaltigen
Energiegewinnungsmöglichkeiten eingesetzt werden .
Ich finde, wir sollten Wert darauf legen, dass dafür eine
Regelung getroffen wird.

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1820615000

Als nächster Redner hat Dr . Georg Nüßlein für die

CDU/CSU-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1820615100

Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Der

Ausstieg aus der Kernenergie steht fest . Wir alle erleben
momentan auch politisch, wie schwierig es ist, die Kern-
kraftwerke unter den Restriktionen des Klimaschutzes
in einer verlässlichen und kostengünstigen Art und Wei-
se zu ersetzen . Neben dieser Großbaustelle gibt es eine
andere mit dem Kernenergieausstieg in Zusammenhang
stehende Großbaustelle, nämlich die Frage des Rück-
baus, der Zwischenlager und der Endlager . Wie alle mei-
ne Vorredner möchte ich betonen, wie wichtig in diesem
Zusammenhang der gefundene Konsens ist . Ich spüre
schon manchmal – übrigens hat es sich ganz am Anfang
der Rede der Kollegin Scheer auch so angedeutet –, wie
uns noch die alten Kampflinien beschäftigen.


(Zuruf der Abg. Dr. Nina Scheer [SPD])


– Das gilt für beide Seiten; keine Sorge. Da differenziere
ich nicht .

Dr. Nina Scheer

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20553


(A) (C)



(B) (D)


Auch wenn man sich unsere Energiepolitik ansieht,
erlebt man, wie stark wir oft nur auf das Thema Strom
fixiert sind. Das hängt natürlich auch damit zusammen,
dass wir die Themen Wärme, Verkehr usw . etwas ver-
nachlässigen . Aus der alten Kampfposition heraus haben
wir eine Energiedebatte immer unter dem Gesichtspunkt
„Strom durch Kernenergienutzung“ geführt . Ich wür-
de mir wünschen, dass wir da bei der Behandlung des
Gesamtthemas mit dem heutigen Tag nach und nach he-
rausfinden.

Natürlich ist es schwierig, einen solchen Konsens zu
finden. Es gab zwei Dinge, die uns von Anfang an vereint
haben, Michael Fuchs: erstens, dass uns allen miteinan-
der in der Kommission klar war, dass das Verursacher-
prinzip nicht infrage gestellt wird, und, zweitens, dass es
darum geht, die Verursacher tatsächlich in die Haftung
zu nehmen, und zwar dauerhaft, und durchsetzen zu
können, dass der Ausstieg nicht zulasten des Steuerzah-
lers geht, wie es uns die Linke jetzt an dieser Stelle gern
unterjubeln möchte. Ich finde, Ihre Weitsicht, die Sie in
wirtschaftspolitischen Fragen sonst nicht so unter Be-
weis stellen, schon bemerkenswert . Sie stellen sich hier-
hin und sagen, Sie hätten ganz klare Erkenntnisse, dass
die Energieversorger für die Zukunft substanziell ausrei-
chend gut aufgestellt sind . So habe ich Sie jedenfalls ver-
standen, und so haben Sie es auch formuliert . Das halte
ich für falsch . Ich glaube, dass wir hier zu Recht Hand-
lungsbedarf gesehen haben .


(Zuruf von der CDU/CSU: Die können halt keine Bilanzen lesen!)


Nun ist es aber eine komplizierte Materie, und zwar
sowohl was den Diskontierungszinssatz angeht – da spielt
uns der Herr Draghi manches an Tragik in die Bilanzen,
übrigens auch in andere Bilanzen – als auch hinsichtlich
der Frage, wie groß so ein Risikoaufschlag ist . Umso be-
merkenswerter ist es, dass wir uns – auch wenn das nicht
mathematisch genau geht, weil es keine unumstößlichen
Dinge gibt – am Schluss auf den Konsens geeinigt haben,
der hier so wichtig ist .

Nun ist das in der Tat – das möchte ich betonen – ein
Verdienst von Herrn Trittin, auch wenn es sein kann, dass
das ein Totalschaden für einen Grünen ist, wenn sich die
CSU dem Lob anschließt . Aber Sie haben natürlich sehr
integrativ Ihre Seite mit zur Verantwortung gezogen –
das fand ich bemerkenswert –, und das kann man in einer
solchen Debatte nicht oft genug herausstellen, meine Da-
men und Herren .

Ich sage Ihnen auch: Für mich hat diese Thematik na-
türlich auch eine regionale Bedeutung . In meinem Wahl-
kreis ist nicht nur das Kernkraftwerk Gundremmingen,
sondern damit auch ein Zwischenlager . Da könnte ich zu
der Rolle von Herrn Trittin seinerzeit etwas anderes, we-
niger Gutes sagen . Wir haben uns das Zwischenlager an
dieser Stelle jedenfalls nicht gewünscht . Ich will nicht sa-
gen, dass das bei mir akzeptiert wird, aber es wird als un-
vermeidbares Übel hingenommen . Ich sage Ihnen auch –
da muss man kein Prophet sein –: Es wird hingenommen,
solange das Kernkraftwerk läuft . Ich bin sicher, dass sich
die Perspektive der Bürgerinnen und Bürger mit Blick

auf das Zwischenlager in der Sekunde des Abschaltens
komplett ändern wird . Deshalb ist es, glaube ich, ein gu-
ter Ansatz, dass wir uns nicht nur um das Geld kümmern,
sondern auch um die Verantwortlichkeit des Staates und
klarmachen: Für dieses Zwischenlager ist am Ende der
Staat zuständig, und zwar insbesondere auch für die Si-
cherheit dieses Zwischenlagers . Das ist, glaube ich, eine
vertrauensbildende Maßnahme für die Menschen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg . Hubertus Heil [Peine] [SPD] und Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Natürlich haben die Menschen auch die Erwartung,
dass das Zwischenlager das ist, was der Name andeu-
tet, nämlich eine Zwischen-, eine Übergangslösung, und
nicht ein faktisches Endlager . Deshalb wächst natürlich
mit der Übernahme durch den Staat unsere Verantwor-
tung, dafür Sorge zu tragen, dass es am Schluss tatsäch-
lich diese Endlagermöglichkeit gibt, noch mehr .

Da bin ich noch einmal beim Verursacherprinzip: Na-
türlich sind die Konzerne verantwortlich für das, was sie
verursacht haben . Aber sie sind nicht dafür verantwort-
lich zu machen, meine Damen und Herren, wenn es in
Zukunft Ränkespiele bei der Thematik Endlagersuche
geben sollte . Auch das haben wir bei dem, was wir hier
beschließen wollen, sehr weise mit eingeplant: dass die
Konzerne nicht für politische Schwierigkeiten zur Ver-
antwortung gezogen werden . Das, meine ich, sollten und
dürfen wir unserer Wirtschaft nicht antun .

Ich glaube umgekehrt aber auch, dass wir mit ihnen
das Thema Klageverzicht – dazu haben wir heute ei-
niges gehört – durchaus offen und offensiv diskutieren
müssen . Natürlich gehört es auch zu einem gemeinsamen
Konsens, keine gerichtlichen Auseinandersetzungen von
gestern und vorgestern zu führen . Deshalb halte ich es
für entscheidend, dass wir in dieses Gesetz die Mög-
lichkeit einbauen, einen öffentlich-rechtlichen Vertrag
abzuschließen . Das ist auch deshalb wichtig, weil sich
die Konzernführungen nach dem Aktienrecht gar nicht so
leicht tun, auf Klagen zu verzichten – übrigens auch nicht
vor dem Hintergrund einer Gesetzeslage, wie wir sie hier
beschließen wollen . Auch hier geht es ja um die Frage,
wenn wir ihnen das aufoktroyieren, ob es ihnen möglich
ist, einfach zu sagen: Das machen wir nicht . – Es stellt
sich die Frage, ob es einen Ansatz gibt, aus der Thematik
aktienrechtlich herauszukommen . Ich glaube, da ist der
öffentlich-rechtliche Vertrag ein entscheidender Ansatz,
um das noch einmal anzugehen .

Ob wir die Anlagestrategie, Frau Kollegin Scheer, also
was das Bundesfinanzministerium mit dem ihm zuwach-
senden Geld tun soll, schon gemeinschaftlich im Gesetz
beschließen müssen: Mir wäre es wichtig, dass das Geld
so intelligent angelegt wird, dass der Diskontierungszins-
satz in Zukunft tatsächlich etwas mit der Realität zu tun
hat . Das ist schwer genug .


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1820615200

Herr Kollege Nüßlein, ich habe verzweifelt auf eine

Atempause gewartet, weil die Kollegin Kotting-Uhl Ih-
nen gerne eine Zwischenfrage stellen möchte . Lassen Sie
das zu?

Dr. Georg Nüßlein

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620554


(A) (C)



(B) (D)



Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1820615300

Wenn die Kollegin selber kein Rederecht hatte, dann

kann sie jetzt gerne eine Zwischenfrage stellen .


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1820615400

Wunderbar .


Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820615500

Ich werde schon noch dazu reden; keine Sorge . – Der

Punkt, zu dem ich Sie etwas fragen möchte, liegt schon
ein bisschen zurück, aber Sie haben Ihre Rede noch im
Kopf .

Sie haben vorhin gesagt, man dürfe die Konzerne nicht
in die finanzielle Verantwortung nehmen, wenn es um
politische Schwierigkeiten bei der Endlagersuche geht .
Ich habe mir jetzt überlegt, was für politische Schwierig-
keiten bei der Endlagersuche Sie denn meinen könnten .
Ich möchte Sie daher fragen: Meinen Sie zum Beispiel,
dass Bayern, das vorab schon einmal erklärt hat, dass in
Bayern überhaupt nichts für ein Endlager infrage kommt,
sich weigert, es zu akzeptieren, wenn man bei der Suche
in Bayern zu Ergebnissen kommt? „Politische Schwie-
rigkeiten“, ist das in diesem Sinne gemeint?


Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1820615600

Liebe Kollegin, die Einschätzung Bayerns fußt auf ei-

ner Würdigung der geologischen Situation, die das aus
unserer Sicht an der Stelle unmöglich macht .


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha!)


Was ich mit politischen Ränkespielen gemeint habe,
ist das, was wir bei Gorleben schon einmal erlebt haben,
nämlich dass es bis zum heutigen Tag und nach hohen
Investitionen keine technischen Einwendungen gegen
Gorleben gibt, unter anderem Sie aber alles dafür getan
haben, Gorleben aus der Endlagersuche komplett heraus-
zuhalten .


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wenn Gorleben in Bayern wäre, wäre es anders!)


Das ist das, was ich meine: dass man nicht am Schluss
die Konzerne zur Kasse bitten kann, nur weil die einen
oder anderen an der einen oder anderen Stelle unwillig
sind .


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kündigen Sie für Bayern schon mal an! Na gut!)


– Warten Sie doch einmal ab, ob wir mit unserer geolo-
gischen Einschätzung an dieser Stelle tatsächlich recht
haben . Das wird sich erweisen .

Jetzt haben wir immerhin die Hoffnung, dass wir die-
ses Gesamtthema zügig so voranbringen, wie es unserer
Verantwortung entspricht . Wir halten die Konzerne in der
Verantwortung . Wir tun alles dafür, dass an dieser Stelle
keine neuen Kampflinien aufbrechen. Ich wünsche mir
auf allen Ebenen Rechtsfrieden . Das würde der Thematik
guttun . Wie ich einleitend gesagt habe: Wir haben genü-
gend andere Schwierigkeiten . Wir müssen uns jetzt et-

was einfallen lassen, wie man dieses Land klimaschutz-
gerecht, aber auch so, dass Versorgungssicherheit besteht
und der Preis passt, mit Strom versorgt. Das wäre unsere
eigentliche Aufgabe .

In diesem Sinne herzlichen Dank fürs Zuhören .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1820615700

Ich schließe die Aussprache .

Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe
auf den Drucksachen 18/10353, 18/10482 und 18/10469
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen . Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das
ist nicht der Fall . Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen .

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:

– Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Weiterentwicklung der steu-
erlichen Verlustverrechnung bei Körper-
schaften

Drucksachen 18/9986, 18/10348, 18/10444
Nr. 1.7

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz-
ausschusses (7 . Ausschuss)


Drucksache 18/10495


(8 . Ausschuss)


Drucksache 18/10504

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . Gibt es dazu
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall . Dann ist das so
beschlossen .

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat
Dr. Philipp Murmann für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Philipp Murmann (CDU):
Rede ID: ID1820615800

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Hier liegt ein gutes Gesetz vor, auf das viele von uns
schon lange gewartet haben . Ich denke, es ist auch eine
gute Nachricht für den Unternehmensstandort Deutsch-
land, dass wir heute in dieser Diskussion zum Schluss
kommen und das Gesetz verabschieden .

Was ist das Ziel? Das Ziel ist die Stärkung junger und
innovativer Unternehmen durch die Möglichkeit, neue
Investoren aufzunehmen, ohne dadurch die steuerlich
nicht genutzten Verluste zu verlieren . Es soll die Mög-
lichkeit bestehen, Verluste, die in frühen Phasen ange-
fallen sind, mit späteren Gewinnen zu verrechnen und

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20555


(A) (C)



(B) (D)


dadurch Eigenkapital zu bilden . Ich denke, genau dieses
Ziel können wir mit diesem Gesetz erreichen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der SPD)


– Genau . Ich denke auch, es lohnt sich .

Wie können wir das Ziel erreichen? Wir schaffen ein
neues Instrument, nämlich § 8d Körperschaftsteuerge-
setz. Er eröffnet sozusagen ein neues Gebäude. Er gibt
den Unternehmen die Möglichkeit, auf Antrag von dem
Gebäude des bisherigen § 8c in das neue Gebäude des
§ 8d zu wechseln, um die Verluste, die bisher angefallen
sind, mit zukünftigen Gewinnen verrechnen zu können,
wie ich es eben schon ausgeführt habe . Dazu müssen die
Unternehmen entweder neu sein oder seit drei Jahren
denselben Geschäftsbetrieb geführt haben . Damit wollen
wir verhindern, dass nicht irgendwelche alten Verluste
aus Geschäftsbetrieben, die damit nichts zu tun haben,
auch noch mit verrechnet werden können . Ich denke, die
Möglichkeit, das mit diesem neuen Gebäude zu lösen, ist
eine sehr gute Idee . Wer immer die Idee im BMF hatte,
dem müssen wir herzlich dafür danken .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

[SPD]: Das war das Finanzministerium NRW!
Aber wunderbar! Wir verteilen Lorbeeren an
alle, die es verdienen!)

– Aus dem Finanzministerium NRW . Normalerweise
sind es nicht Einzelne, die solche Ideen generieren, son-
dern sie werden in einem Dialog entwickelt und dann zu
Papier gebracht, was dann immer noch eine besondere
Leistung darstellt .

Was heißt „Geschäftsbetrieb“? Das heißt, dieser Ge-
schäftsbetrieb muss bestimmte Anforderungen erfüllen .
Er darf nicht ruhend gestellt werden, er darf keiner ande-
ren Zweckbestimmung zugeführt werden, er darf keinen
zusätzlichen Geschäftsbetrieb aufnehmen, er darf keine
Beteiligung an Mitunternehmerschaften eingehen, und
er darf keine Wirtschaftsgüter zu einem geringeren als
dem gemeinen Wert übertragen bekommen . Warum ist
das alles so? Das klingt kompliziert . Das ist so, um zu
vermeiden, dass irgendwelche Verluste aus anderen Ge-
schäften, die vielleicht vorhanden sind, in den neuen § 8d
Körperschaftsteuergesetz hineinwandern . So wollen wir
Steuerverluste eindämmen, die früher durch Mantelkäu-
fe – man kauft eine GmbH, die nur Verluste, aber keinen
Geschäftsbetrieb mehr hat, und nutzt die Verluste, um
irgendetwas anderes zu machen – möglich waren . Das
wollen wir verhindern .

Wir haben lange darüber diskutiert: Was bedeutet
„Geschäftsbetrieb“, und was bedeutet es, diesen fortzu-
führen? Wie attraktiv ist der neue § 8d Körperschaftsteu-
ergesetz für junge Unternehmen? Die jungen Unterneh-
mer haben uns in der Anhörung gesagt: Es sei überfällig,
dass das Gesetz kommt; denn die großen Unternehmen
können Verluste aus ihrem Unternehmen schon immer
innerhalb des Unternehmens mit Gewinnen verrechnen .
Kleine und junge Unternehmen können das nicht . – In-
sofern haben wir damit ein Tor für die jungen Unterneh-

men geöffnet, neue Investoren aufzunehmen. Das ist der
wichtigste Aspekt .

Wir haben mit dem BMF und in den Berichterstatter-
gesprächen lange diskutiert . Natürlich ist es bei jungen
Unternehmen so, dass der Geschäftsbetrieb nicht gerad-
linig verläuft, sondern es gibt auch Veränderungen . Am
Anfang hat man eine Idee, mit der man beginnt . Diese
verändert sich dann leicht . Diese Veränderung muss und
wird auch möglich sein . Aber die Unternehmensidentität
darf nicht geändert werden . Das ist ein wichtiges Merk-
mal, an das man sich halten sollte .

Die Grünen werden sich leider kraftvoll enthalten,
obwohl wir lange darüber diskutiert haben . Sie sind der
Meinung, diese Regelung im Gesetzentwurf sei zu eng
gefasst . Darüber kann man reden . Sie meinen, man sollte
sie breiter fassen . Die Linken stimmen dagegen . Ihnen
ist es zu weit gefasst . Also, man sieht, die Diskussion ist
durchaus unterschiedlich . Insofern haben wir einen guten
Kompromiss gefunden, den wir jetzt in die Tat umsetzen
wollen, um endlich zu beginnen .

Das Thema „EU-Konformität“ haben wir auch inten-
siv diskutiert . Wir haben keinen Comfort Letter bekom-
men . Das BMF und das BMWi haben keinen Comfort
Letter bekommen . Insofern gibt es ein gewisses Risiko .
Wir denken aber, das Risiko ist vertretbar; denn der ge-
plante § 8d Körperschaftsteuergesetz gilt grundsätzlich
für alle Unternehmen . Es ist auch ein formelles Bestre-
ben der EU-Kommission, dass gerade junge Wachstums-
unternehmen durch alle möglichen Maßnahmen gestärkt
werden . Genau dem tragen wir mit diesem Gesetz Rech-
nung . Also setzen wir es auch ohne Vorbehalt in Kraft .
Ich denke, das ist auch gut so .

Ganz zum Schluss noch vier kurze Aspekte .

Erstens: Wirkung zum 1 . Januar 2016 . Dies hat den
Vorteil, dass alle Anteilsübertragungen schon in diesem
Jahr mit eingehen .

Zweitens: Evaluierung nach drei Jahren . Nach drei
Jahren werden wir uns das noch einmal ansehen und
prüfen: Wie attraktiv ist das Gesetz überhaupt? Wie vie-
le Anträge sind gestellt worden? Müssen wir vielleicht
noch einmal nachjustieren?

Drittens . Die Kommunalpolitiker schauen immer
besonders auf ihre Zahlen . In der kleinen Tabelle steht:
235 Millionen Euro Steuerausfälle bei den Kommunen .
Dabei muss man nur immer schauen, welche Kommunen
es denn trifft. Es sind natürlich die Kommunen, in denen
es junge Wachstumsunternehmen gibt, die neue Investo-
ren finden und damit in den Genuss des neuen § 8d Kör-
perschaftsteuergesetz kommen, also nicht die Kommu-
nen, die vielleicht sowieso finanziell extrem unter Druck
stehen . Es sind in der Regel Kommunen, die Gewerbebe-
triebe haben, die Körperschaften haben, die überhaupt in
der Lage sind, den neuen Paragrafen anzuwenden.

Der vierte und letzte Punkt: ein herzliches Dankeschön
an alle, die daran mitgewirkt haben . Heinz Riesenhuber
hat heute nicht nur Geburtstag, sondern ist auch einer
der Väter zumindest des Antriebs dieses Gesetzes . Ins-
besondere gilt der Dank den Mitarbeitern des BMF, auch
Ihnen, Herr Dr . Meister, aber auch den Mitarbeitern des

Dr. Philipp Murmann

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620556


(A) (C)



(B) (D)


Wirtschaftsministeriums sowie Helge Braun vom Bun-
deskanzleramt, der das Ganze positiv koordiniert hat;
denn am Ende ist etwas Gutes herausgekommen . Inso-
fern möchte ich Sie bitten, ein positives Zeichen zu set-
zen und diesem guten Gesetz zuzustimmen .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1820615900

Als nächster Redner spricht Richard Pitterle für die

Fraktion Die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Richard Pitterle (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1820616000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-

ginnen und Kollegen! Liebe Besucher auf der Tribüne!
Stellen wir uns mal klischeehaft vor, eine Gruppe junger,
dynamischer Studentinnen und Studenten hat eine inno-
vative Geschäftsidee und gründet ein Unternehmen, ein
sogenanntes Start-up . Dazu brauchen sie zu Anfang und
in den ersten Jahren immer wieder frisches Geld, viel-
leicht auch, weil nicht alles gleich so läuft, wie sie es sich
vorgestellt haben, und weil das neugeborene Unterneh-
men erst einmal nur Verluste einfährt . Das ist bekanntlich
eine schwierige Phase.

So . Und nun kommt die Bundesregierung mit einem
Gesetz daher, das etwas sperrig heißt: „Gesetz zur Wei-
terentwicklung der steuerlichen Verlustverrechnung bei
Körperschaften“ . Damit wollen Sie nach Ihren Bekun-
dungen Unternehmen, insbesondere auch Start-ups, un-
ter die Arme greifen . Die potenziellen Geldgeber sollen
nämlich in unser Start-up-Unternehmen investieren und
dafür die Verluste, die das Start-up in den ersten Jahren
gemacht hat, vereinfacht gesagt, steuerlich verrechnen
können . So weit, so gut .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass junge klei-
ne und mittlere Unternehmen in ihrer Gründungsphase
gefördert werden sollen, klingt ja erst mal sehr nett . Ich
habe wirklich angenommen, dass der Großen Koalition
endlich mal ein vernünftiges Gesetz gelungen ist . Aber
für die Ausführung bekommen Sie von mir eine saftige
Fünf; denn das Gesetz hat enorme Schwachstellen . Ich
will Ihnen drei davon nennen .

Erstens . Es ist gestaltungsanfällig, soll heißen, es er-
öffnet wieder einmal Spielraum für ein gezieltes Inves-
tieren findiger Spekulanten, die Unternehmensverluste
nur für steuerliche Vorteile nutzen wollen . Darauf hat
übrigens auch der Bundesrat hingewiesen und gar von
„erheblichem Gestaltungspotenzial“ gesprochen . Das
hängt auch damit zusammen, dass die Bundesregierung
hier wieder einmal eine so komplizierte Regelung vor-
legt, dass sogar den Juristen bereits nach kurzer Zeit die
Augen wehtun .


(Beifall bei der LINKEN – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Es geht aber auch noch komplizierter!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koali-
tion, wir von der Linken haben es wirklich satt, dass Sie

immer wieder Gesetze verabschieden, die den Konzer-
nen stets neue Steuerumgehungsmöglichkeiten bieten .


(Beifall bei der LINKEN)


Zweitens . Der Gesetzentwurf geht mit erheblichen
Steuermindereinnahmen einher . Im Entwurf selbst wer-
den die Mindereinnahmen auf insgesamt 600 Millionen
Euro jährlich beziffert. Das trifft vor allem die Kommu-
nen eiskalt – wir haben es schon gehört –: 235 Millionen
Euro werden den Gemeinden für Straßen, Schulen und
Krankenhäuser fehlen .

Das ist bei weitem nicht das Schlimmste. In der öffent-
lichen Anhörung zum Gesetzentwurf wurde vom Sach-
verständigen Professor Jarass erörtert, dass es bei voller
Nutzung aller Verlustvorträge durch die deutschen Kapi-
talgesellschaften knüppeldick käme; denn dann könnten
in den nächsten Jahren Steuerausfälle von insgesamt bis
zu 150 Milliarden Euro drohen .


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das wurde aber nicht bewiesen!)


Meine Damen und Herren, das ist schlichtweg eine Kata-
strophe auf Kosten der Gemeinschaft der Steuerzahlerin-
nen und Steuerzahler .

Dritter und letzter Punkt und sozusagen das i-Tüp-
felchen: Insbesondere Start-ups werden wahrscheinlich
überhaupt nicht von den Regelungen profitieren. Die
Möglichkeit der steuerlichen Verlustverrechnung ist
nämlich an die Voraussetzung gebunden, dass das Un-
ternehmen seit mindestens drei Jahren bzw . seit seiner
Gründung ausschließlich denselben Geschäftsbetrieb un-
terhält .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere in den
ersten Jahren nach Gründung gibt es bei Start-up-Unter-
nehmen noch laufend Anpassungsbedarf und entspre-
chende Umstrukturierungen . Zum Beispiel kann es sein,
dass Abläufe in der Produktion oder vielleicht auch das
Produkt selber geändert werden müssen, um am Markt
die richtige Nische zu finden. Genau das wäre dann aber
möglicherweise ein Ausschlussgrund, um in den Genuss
Ihres Steuergeschenkes zu kommen .


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie können doch nicht den Missbrauch verurteilen und dann Missbrauch gleichzeitig machen wollen!)


Wenn aber insbesondere die, die von einem Gesetzent-
wurf explizit profitieren sollen, am Ende gar nichts davon
haben, dann ist das ganz, ganz schlechte Gesetzgebungs-
arbeit .


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren von der Großen Koalition,
mit diesem Gesetz werden Sie nicht den kleinen Start-
ups helfen, sondern wieder einmal unter Inkaufnahme
erheblicher Steuermindereinnahmen Tür und Tor für die
großen Zocker öffnen. Die Linke kann dieses Gesetz nur
ablehnen .

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .


(Beifall bei der LINKEN)


Dr. Philipp Murmann

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20557


(A) (C)



(B) (D)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820616100

Vielen Dank . – Jetzt hat der Kollege Lothar Binding,

SPD-Fraktion, das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Philipp Murmann [CDU/CSU])



Lothar Binding (SPD):
Rede ID: ID1820616200

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist ein kompli-
ziertes Gesetz . Normalerweise ist es ja so: Sie bekommen
Lohn und zahlen Lohnsteuer . Jemand macht Gewinn mit
einem Unternehmen, dann zahlt er Gewinnsteuer . Hat er
im letzten Jahr Verlust gemacht, dann kann er die Verlus-
te in diesem Jahr mit dem Gewinn verrechnen .


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Genau! So ist das!)


Das ist auch fair; denn so kann man den Gewinn über die
Jahre korrekt versteuern . Bis dahin ist alles in Ordnung .

Nun gab es in der Vergangenheit Menschen, die ange-
fangen haben, Verluste zu sammeln und so zu sortieren,
dass sie, wann immer ein Gewinn eingefahren wurde,
diesen Gewinn aus steuerlichen Gründen vernichtet ha-
ben, um Steuern zu sparen . Das nannten wir Mantelkauf .
Die Leute haben „Mäntel“ gekauft, die alte Verluste
enthalten haben, um sie über junge Gewinne zu legen,
sodass man keine Steuern mehr bezahlt . Das wollen wir
verhindern . Das hat bei uns einen kurzen Namen: Es
heißt Körperschaftsteuergesetz § 8c . Er hat auch richtig
gut funktioniert .

Natürlich hatte das alte Gesetz Schwachstellen . Kol-
lege Pitterle hat jetzt gesagt: Das neue Gesetz hat auch
Schwachstellen. Ich muss ihm in allen drei Punkten, die
er aufgeführt hat, recht geben .

Es ist gestaltungsanfällig, wie im Übrigen jedes Ge-
setz . Wir kennen kein Gesetz, das nicht gestaltungsanfäl-
lig ist; denn kaum gibt es ein Hindernis auf der Straße,
suchen wir einen kleinen Umweg . Es wird auch Steuer-
mindereinnahmen geben, allerdings gezielt; denn wenn
ich die Hilfe von jemandem benötige, dann kann es sein,
dass die Hilfe etwas kostet; das kann auch hier der Fall
sein . Das regeln wir ganz bewusst so . Wir sagen: Viel-
leicht erwischt es die Kommunen eiskalt, vielleicht hilft
es aber auch den Kommunen sehr viel weiter, wenn neue
Unternehmen bei ihnen eine wirtschaftliche Dynamik
entfalten und dann Gewinne erzeugen, die fair versteuert
werden . Insofern ist die neue Regelung etwas sehr Gutes .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Eine absolute Zielgenauigkeit hat das Gesetz auch nicht,
weil es auch für Unternehmen gilt, die keine Start-ups
sind . Es stimmt, dass die Zielgenauigkeit dadurch ein
bisschen leidet . Allerdings müssen wir uns über den Un-
terschied zwischen Behauptung und Beweis unterhalten .
Wenn ein Professor in einer Anhörung etwas behauptet,
könnte es klug sein, dies auch zu beweisen . Leider hat
Professor Jarass vergessen, das zu tun; aber es wäre klug
gewesen .

Wir suchen schon lange nach Möglichkeiten, innova-
tive Unternehmen zu fördern . Aber was ist eigentlich ein

innovatives Unternehmen? Sie machen etwas Neues, sie
suchen nach neuen Produkten, sie wollen am Markt et-
was Neues entwickeln . Gerade aus den Erfahrungen der
letzten 20 Jahre wissen wir, dass viel Neues entstanden
ist, oft zu unserem Besten; manchmal auch nicht immer
nur zu unserem Besten . Jedenfalls hat das uns und unsere
Wirtschaft vorangebracht .

Wir sagen zu diesen Unternehmen auch Start-ups .
Start-up, das heißt ja eigentlich „anspringen“ . Ich hatte
einen VW-Bus, der damit einige Probleme hatte, und
deswegen mussten immer Leute kommen und helfen .
Das kann auch hier sein: Ein neues Unternehmen hat
Probleme, „anzuspringen“, und dann braucht man frem-
de Menschen, die helfen . Genau das soll dieses Gesetz
leisten .

Warum haben wir diesen Bereich in den Blick ge-
nommen? Eigentlich fühlen wir uns doch ganz wohl in
unserer unternehmerischen Landschaft . Wir haben aber
gesehen, dass in den USA – gut, die USA sind größer als
Deutschland – ungefähr 60 Milliarden Dollar über eine
entsprechende Förderung in die Start-up-Unternehmen
fließen. Jetzt haben wir gedacht: In Deutschland werden
das vielleicht 15 oder 20 Milliarden Euro sein, es sind
aber nur 1,3 Milliarden Euro . Das hat uns doch zu denken
gegeben . Wir haben gesagt: Das ist im Vergleich irgend-
wie zu wenig .

Ich will hinzufügen, dass durch den von mir eben
genannten Paragrafen schon sehr viel möglich war, nur
eben kein Mantelkauf . Wenn zum Beispiel ein Business
Angel Geld in ein Start-up, in ein neues Unternehmen
gibt, dann ist es bisher so, dass er oft sehr viel mehr be-
zahlt hat, als die Buchwerte in diesem Unternehmen aus-
machen . Er hat also eigentlich mehr bezahlt, als er dafür
bekommt. Warum? Weil er hofft, dass das Unternehmen
eines Tages Gewinn macht und er an diesem Gewinn teil-
hat. Er hat sozusagen die Hoffnung auf Patente. Er glaubt
an die Idee .

Bisher war es so, dass dieser Mehrpreis, den er be-
zahlt hat, stille Reserve war . Jetzt kommt das Besondere:
Das war für ganz viele Unternehmen, auch für Start-ups,
eine gute Lösung, weil der Verlust, der möglicherweise
entstand, genutzt werden konnte, solange er diese stil-
len Reserven nicht überstieg . Also: Wenn jemand gro-
ße stille Reserven erzeugt hat, hatte er die Möglichkeit,
auch große Verluste zu nutzen, selbst bei, wie wir sagen,
schädlichem Beteiligungserwerb . Das war eine sehr gute
Möglichkeit in § 8c Körperschaftsteuergesetz . Bei einem
Gesellschafterwechsel passierte bei einem Übertrag von
bis zu 25 Prozent gar nichts, bei einem Übertrag von 25
bis 50 Prozent waren die Verluste ratierlich oder quotal
zu verwerten, und erst ab einem Übertrag von mehr als
50 Prozent der Anteile konnten die Verluste komplett
nicht mehr genutzt werden . § 8c war also, wie gesagt,
eine gute Lösung für viele, aber nicht für alle . Um dieje-
nigen, für die es in § 8c Körperschaftsteuergesetz keine
gute Lösung gab, kümmern wir uns heute .

In einem jungen Unternehmen – Kollege Murmann
hat das schon angedeutet – besteht eine hohe Dynamik .
Es gibt oft Eigentümerwechsel, die Leute kommen und
gehen, sie wollen Geld geben oder es zurückhaben . Das

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620558


(A) (C)



(B) (D)


ist kein ganz gerader Pfad; das ist ja auch klar, weil eine
unbekannte Strecke begangen wird . Deshalb muss man
besondere Hilfen bereitstellen .

Die zweite Besonderheit ist, dass die Finanzierung
solcher Unternehmen oft nicht über einen normalen
Bankkredit läuft, sondern häufig über Beteiligungska-
pital . Das ist eine etwas andere Landschaft als die, mit
der wir uns üblicherweise beschäftigen . Deshalb waren
wir froh, dass das BMWi und die AG Wirtschaft ihre Ge-
danken dazu eingebracht haben . – Deshalb spricht heute
auch Matthias Ilgen zu diesem Thema . Wir danken dir
übrigens für deinen Brief, der eine Initialzündung war .
Es gibt ja immer mehrere Väter für gute Ideen . – Das
BMWi und die AG Wirtschaft haben eine Lösung entwi-
ckelt, die wir in § 8d Körperschaftsteuergesetz gießen .
Gewundert hat uns nicht, was das BMF und das BMWi
uns aufgeschrieben haben, sondern, dass trotz wissen-
schaftlicher Betreuung – wir haben ja mit den Wissen-
schaftlern gesprochen – in dem Gesetzentwurf ein rie-
siges Schlupfloch formuliert war, durch das Altverluste
hätten aktiviert werden können . Und dabei reden wir
über einen richtig hohen dreistelligen Milliardenbetrag;
er liegt sogar über 150 Milliarden Euro, und das ist sogar
bewiesen . Damit hätte man das gesamte Gesetz zunich-
temachen können . Dank der Expertise von BMF und der
Kollegen aus Nordrhein-Westfalen konnten wir dieses
Schlupfloch im Gesetzentwurf schließen. Davon verspre-
chen wir uns sehr viel .


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das war gewollt!)


– Das Schlupfloch war nicht gewollt, sondern das Schlie-
ßen der Schlupflöcher ist gewollt. Es ist ja unsere Aufga-
be als Finanzpolitiker, solche Schlupflöcher zu schließen.
Wir kennen aber die Kreativität auf dem Markt . Es gibt
immer wieder neue Schlupflöcher.

Es ist gut, jetzt ein Regime mit starken Restriktio-
nen zu schaffen, in das man auf Antrag kommt. Kollege
Murmann hat schon vorgetragen, was alles erfüllt sein
muss, damit man überhaupt in den Genuss von § 8d Kör-
perschaftsteuergesetz kommt .

Insofern denken wir: § 8d Körperschaftsteuergesetz
ist ein Erfolg . Er hat aber einen kleinen Nachteil, und das
ist seine Zielgenauigkeit . Er gilt für alle Unternehmen,
auch für diejenigen, die wir gar nicht gemeint haben . Das
ist ein Wermutstropfen, den wir in Kauf nehmen müssen,
weil die Regelung ansonsten nicht europarechtskonform
wäre .

Ich fasse zusammen: § 8c Körperschaftsteuergesetz
hemmt die Start-up-Unternehmen, und § 8d begünstigt
gelegentlich die Falschen . Angesichts dieses ewigen
Zielkonflikts ist die Evaluierung eine gute Lösung. So
wissen wir in drei Jahren, ob wir entspannt Weihnach-
ten feiern können oder nicht . Ich glaube, auf dieser Basis
sollten wir den Gesetzentwurf heute beschließen und in
drei oder vier Jahren noch einmal nachschauen .

Schönen Dank .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820616300

Vielen Dank . – Nächster Redner für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen ist Dr . Thomas Gambke .


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Verlustver-
rechnung ist ein Thema, mit dem wir Grüne uns schon
lange beschäftigen . Schon vor vier Jahren haben wir in
unser Wahlprogramm geschrieben: Wir wollen den Ver-
lustuntergang bei innovativen Unternehmen nicht zulas-
sen . Warum?


(Dr. Philipp Murmann [CDU/CSU]: Dann können Sie doch heute zustimmen!)


Weil innovative Unternehmen erst einmal investieren –
das ist Forschung und Entwicklung – und diese Gelder
später mit Gewinnen verrechnen wollen, so wie das in
einem Konzern passiert; Kollege Binding hat darauf hin-
gewiesen .

Nicht, weil Sie so sympathisch darum geworben ha-
ben, lieber Kollege Murmann, sondern weil die Inhalte
stimmen, ist uns dieses Thema ein großes Anliegen . Das
Ziel wird von uns absolut unterstützt . Wie könnte man
die ökologische Wende der Wirtschaft, die Energiewende
und die Verkehrswende ohne Innovationen erreichen?

Seit zweieinhalb Jahren wird über das Thema nach-
gedacht . Im September dieses Jahres wurde ein Entwurf,
wie das Problem zu lösen sei, vorgelegt. Die Ziele wa-
ren klar: Wir wollen nicht allgemein, sondern wir wollen
Innovationen fördern . Wir wollen es gestaltungssicher
machen, sodass die ursprünglichen Themen des Mantel-
kaufs nicht berührt sind .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir wollten auch eine hinreichende Flexibilität – das ist
ein ganz wichtiges Ziel – für unternehmerische Entschei-
dungen haben . Wir mussten und wollten das im Rahmen
der beihilferechtlichen Vorgaben der EU machen .

Lassen Sie mich ein Wort dazu sagen . Das klingt im-
mer so, als ob die böse EU uns Grenzen setzt . Warum
macht die EU das? Wir stehen hoffentlich dazu, dass wir
Wettbewerb durch singuläre Maßnahmen in den nationa-
len Gesetzgebungen nicht eindämmen wollen . Das heißt
also, dass etwas beihilferechtlich unproblematisch sein
soll, ist im Grunde genommen ein vernünftiges und rich-
tiges Ziel, das man sehr ernst nehmen muss .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich verhehle nicht, dass das keine einfache Angele-
genheit war . Aber wir müssen jetzt kritisch darauf schau-
en, ob denn die Ziele wirklich erreicht wurden oder ei-
nigermaßen erreicht wurden . Wir wissen, dass es nie ein
wirklich gestaltungssicheres Gesetz gibt . Aber die Frage
ist, in welchem Umfang Gestaltungen möglich sind . Wir
konnten uns nicht – das muss ich Ihnen sagen – für eine
Zustimmung in der Bewertung entscheiden, obwohl wir
es gerne gemacht hätten . Warum nicht? Zum einen geht
es dabei um das EU-Recht . Das Berichterstattergespräch

Lothar Binding (Heidelberg)


Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20559


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fand leider erst vorgestern statt . Wir hatten nur zwei Mo-
nate Zeit, im Parlament über diese doch sehr komplexe
Sachlage zu beraten .


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Aber wir diskutieren schon seit zwei Jahren!)


– Ja, aber nicht die Lösung . – Ich fragte Herrn Murmann
noch vor zwei Monaten: Was sind denn nun die Rahmen-
bedingungen? Er sagte: Ich weiß es noch nicht . Das BMF
hat noch nicht gesprochen . – Das BMF hat erst Ende Au-
gust gesprochen und den Gesetzentwurf erst Mitte Sep-
tember vorgelegt . Auf die Frage nach dem Beihilferecht
hat man ganz lapidar gesagt: Na ja, das Wirtschaftsminis-
terium hat uns sozusagen einen Freibrief gegeben . – Ich
meine, das ist zu dürftig .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir bekommen keinen Comfort Letter – das ist rich-
tig –, aber nach unserer Auffassung hätte man noch ein-
mal intensiv darüber nachdenken und sprechen müssen,
um zu schauen, ob es wirklich beihilferechtlich unpro-
blematisch ist . Warum? Weil die Unternehmen Rechts-
sicherheit brauchen . Wir haben ja gerade festgestellt,
dass, wenn man aus § 8d Körperschaftsteuergesetz fällt,
der Verlustuntergang wirklich komplett ist . Es gibt keine
Heilungsmöglichkeiten .

Das Gleiche gilt – jetzt komme ich auf den zweiten
wesentlichen Punkt zu sprechen –, wenn es eine Ver-
änderung des Geschäftsbetriebes gibt . Ich glaube, wir
Grüne haben Ihnen sehr eindrucksvolle Beispiele nennen
können . Sie sind auch in der Anhörung genannt worden,
zum Beispiel von dem Vertreter des BITKOM . BITKOM
hatte mit uns eine vernünftige Lösung gesucht und ge-
sagt: Wir brauchen gerade für innovative Unternehmen
einen größeren Bewegungsspielraum, als wir jetzt in dem
Gesetzentwurf – übrigens auch mit unsicheren Rechtsbe-
griffen – haben.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Aber eine bessere Lösung hatten die auch nicht!)


– Es hätte eine bessere Lösung gegeben, Herr Kollege
Binding .

Wir hatten einen Gesetzentwurf vorgelegt, um steuer-
liche Forschungsförderung zu ermöglichen . Das wäre si-
cher gewesen . Dazu habe ich überall große Zustimmung
gesehen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das wurde in die nächste Legislaturperiode verschoben .
Ich bedaure das . Uns Grünen hätte es besser gefallen,
wenn wir das in dieser Legislaturperiode gemacht hät-
ten . Ein entsprechender Gesetzentwurf war vorbereitet .
Wenn wir uns hier ein wenig mehr Zeit genommen hät-
ten, um es gestaltungssicher und mit EU-Recht konform
zu machen, dann hätten wir ein gutes Gesetz gemacht .
Wir können uns heute leider nur enthalten .

Vielen Dank .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das ist praktizierte Entscheidungsschwäche!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820616400

Vielen Dank . – Jetzt hat Dr . h . c . Hans Michelbach,

CDU/CSU-Fraktion, das Wort .


Hans Michelbach (CSU):
Rede ID: ID1820616500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Innovationen sind das Gebot der Stunde . An ausgezeich-
neten Ideen mangelt es in Deutschland ja nicht . Vielmehr
haben wir ein Problem bei der Umsetzung der Ideen in
die Praxis.

Wie aber gelingt es, hervorragende Ideen zu marktrei-
fen Produkten zu machen? Wie kann die Politik dafür
sorgen, dass die guten Ideen nicht in der Schublade lan-
den, sondern zur Grundlage eines Unternehmens werden,
um damit auf der einen Seite Geld zu verdienen und auf
der anderen Seite neue Arbeitsplätze zu schaffen? Das
sind die entscheidenden Fragen, liebe Kolleginnen und
Kollegen, die wir uns für eine erfolgreiche Wirtschafts-
und Standortpolitik stellen müssen .

2015 gab es 388 000 Existenzgründungen . Allerdings
ist die Zahl leider rückläufig. Das ist ein gefährlicher
Trend, den wir stoppen wollen, liebe Freunde; denn wir
werden unseren Wohlstand nur sichern können, wenn wir
unseren Unternehmen die besten Finanzierungsmöglich-
keiten bieten .

Unser Wirtschaftsstandort ist auf eine funktionierende
Generationenbrücke, eine stetige Erneuerung dringend
angewiesen . Deshalb ist es gut, dass wir heute eine Wei-
terentwicklung der steuerlichen Verlustverrechnung auf
den Weg bringen . Für deutsche Unternehmen und spe-
ziell für Start-ups entsteht mit der Einführung des § 8d
des Körperschaftsteuergesetzes eine wichtige steuerliche
Verbesserung, meine Damen und Herren . Das wollen wir
heute festhalten .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Das bedeutet mehr Steuergerechtigkeit für die Zukunft,
mehr Planungssicherheit, mehr Wachstumsperspektiven
mit Wagniskapital, mehr Liquidität, mehr Investitionen
und damit mehr Arbeitsplätze . Das ist das Ziel, und das
ist der Erfolg dieses Gesetzes, meine Damen und Herren .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wir wollen eine Evaluation, um zu zeigen, dass es stimmt!)


Das ist nicht nur ein gutes Zeichen für die Handlungsfä-
higkeit unserer Großen Koalition, sondern insbesondere
ein gutes Zeichen für die deutsche Wirtschaft .

Bisher hat der § 8c Körperschaftsteuergesetz viel-
mals zu einem Verlustuntergang geführt und zu einem
erheblichen unternehmerischen Risiko beigetragen . Die
Verluste sind nur dann nicht weggefallen, wenn die Kör-
perschaft die Stille-Reserve-Klausel oder die Konzern-
klausel erfüllt hat. Die Praxis hat aber gezeigt, dass diese
Maßnahmen zu eng gefasst waren . Deshalb müssen wir
in der Steuerpolitik immer wieder auf den Grundsatz des
Nettoprinzips schauen .

Der Verlust in einem Unternehmen ist in Wirklichkeit
kein Missbrauch, sondern ein Verlust von Liquidität, die

Dr. Thomas Gambke

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620560


(A) (C)



(B) (D)


besser in eine Neuentwicklung gesteckt wird . Verluste
sind in Unternehmen echte und werthaltige Vermögens-
gegenstände, da sie bei der Erzielung von ertragsteuer-
lichen Einkünften entstanden sind . Natürlich muss man
Missbrauch eindämmen . Das haben wir auch getan .
Bisher hat der Einstieg eines neuen oder weiteren Ge-
sellschafters oftmals zu einem Wegfall von Verlustver-
rechnungspotenzial geführt . Das ist nun mal eine Res-
sourcen-, eine Investitions-, eine Liquiditätsvernichtung,
die wir uns nicht leisten sollten . Deswegen wollen wir
das heute beseitigen . Das ist der erfolgreiche Weg für die
Zukunft, meine Damen und Herren .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wenn bei der Einkünfteerzielung echte Vermögens-
verluste entstanden sind, sollten nach dem verfassungs-
rechtlichen Nettoprinzip steuerliche Verluste eigentlich
grundsätzlich Berücksichtigung finden. Deshalb erhal-
ten mit dem heutigen Gesetz vor allem die kleinen und
mittelständischen Betriebe neue Steuergerechtigkeit und
zukünftig neue Impulse, um in neue Produkte, um in Di-
gitalisierung investieren zu können .

Vor allem ist es essenziell, den Wagniskapitalmarkt
um die Gründerszene zu stärken . Wir vereinfachen den
Zugang zu privatem Beteiligungskapital und schaffen da-
mit die Grundlage für Wachstum und neue Arbeitsplätze .
Ihnen wird es mit dem heutigen Gesetz zukünftig besser
gelingen, Investoren für Geschäftsmodelle zu gewinnen .

Die neue Ausrichtung ist an verschiedenen Konditio-
nen ausgerichtet; das ist richtig . Wir haben hier bewusst
Missbrauchsmöglichkeiten eingedämmt . Ich glaube, un-
ter dem Strich war das ein erfolgreicher Verhandlungs-
weg, der von unserem Berichterstatter Philipp Murmann
und seinen Partnern gegangen wurde.

Zum Abschluss, liebe Kolleginnen und Kollegen,
möchte ich Professor Dr. Heinz Riesenhuber herzlichen
Dank sagen . Er hat viele Jahre für mehr Wagniskapi-
tal gekämpft und dafür in der Politik geworben. Lieber
Heinz, zu deinem heutigen 81 . Geburtstag liefern wir –
nicht unbedingt pünktlich, aber wir liefern – und gratu-
lieren dir .

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820616600

Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion hat jetzt Matthias

Ilgen das Wort .


(Beifall bei der SPD)



Matthias Ilgen (SPD):
Rede ID: ID1820616700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dann

muss ich zunächst dem Kollegen Riesenhuber gratulie-
ren – natürlich zuerst zum Geburtstag –; denn wir haben
uns in den letzten Jahren viele Male im Ausschuss über
dieses Thema unterhalten .

Wie Sie wissen, hat der Erfolg sehr viele Väter. Peer
Steinbrück und ich haben für unsere Fraktion einmal ein
Papier mit 29 Thesen geschrieben, wie das im Steuerrecht

vereinfacht werden kann, was man tun könnte, um prak-
tische Probleme zu lösen. Einer der ganz dicken Kern-
punkte war die Körperschaftsteuer – § 8c . Nun ist der
Kollege Pitterle von den Linken leider schon entschwun-
den; er musste in einen wichtigen Untersuchungsaus-
schuss . Das ist schade; denn ich hätte ihm gern selbst
gesagt, dass er nicht verstanden hat, was wir mit diesem
Gesetz tun wollen . Er hat es nämlich kritisiert und gesagt,
das sei quasi ein neues Steuerschlupflochmodell und lade
die Konzerne ein, neue Gestaltungsmöglichkeiten zu ent-
wickeln . Was er aber nicht verstanden hat, ist, dass wir
gerade mit diesem Gesetz versuchen, kleine junge und
innovative Unternehmen – das mögen rechtlich GmbHs
sein –, die am Anfang nicht in Konzernstrukturen unter-
wegs sind, sondern in der Regel von den Gründern, den
Eigentümern geführt werden –, gleichzustellen . Wir re-
den in Europa und auch hier im Deutschen Bundestag
immer so schön vom Level Playing Field, also von den
gleichen Rahmenbedingungen, und die wollen wir hier
endlich auch für die Start-up-Szene schaffen, damit sie
ihre Verluste, wenn dies berechtigt ist, genauso loswer-
den können wie andere .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Herr Kollege Gambke, ich finde es in Ordnung, dass
wir über steuerliche Forschungsförderung reden wollen .
Das braucht sicherlich ein Extragesetz . Man darf das
nicht mit der Fragestellung in einen Topf werfen: Wie
gehen wir mit berechtigten Verlusten um, die am Beginn
eines Unternehmens entstehen, wenn investiert wird und
noch kein Gewinn erzielt werden kann, weil noch keine
Produkte am Markt sind, weil das Geschäftsmodell noch
nicht vollständig ausgereift ist? Das darf man nicht in ei-
nen Topf werfen und sagen: Wir können dem einen nicht
zustimmen, weil wir das andere auch wollen . – Stimmen
Sie dem einen zu, dann machen wir gemeinsam das an-
dere auch noch . Das wäre die Lösung an dieser Stelle .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir Wirtschaftspolitiker stellen täglich bei unseren
Gesprächen mit Unternehmerinnen und Unternehmern –
insbesondere der jungen und innovativen Unternehmen –
in diesem Land fest, dass wir viele Hemmnisse haben,
die wir Politiker manchmal gar nicht sehen, weil wir
all unsere Gesetze – das hat Kollege Binding so schön
gesagt – in bester Absicht hier im Deutschen Bundestag
machen, weil wir Lösungen und Rahmenvorschläge so
zu gestalten versuchen, dass der Staat und auch die Wirt-
schaft funktionieren können . Auf der anderen Seite gibt
es manchmal eben auch Paragrafen, die dem einen oder
anderen hinderlich sind bei dem, was er tun will . Wenn
man das feststellt, muss man die Ehrlichkeit aufbringen
und sagen: „Wir gucken uns an, was das bedeuten wür-
de, wenn man das machte“, und dann einen Lösungs-
vorschlag unterbreiten . Das ist ein Weg, den man gehen
kann .

Natürlich ist Gesetzgebung auch immer Trial and Er-
ror. Das wissen wir, und deswegen begrüßt die SPD-Bun-
destagsfraktion eindeutig die Evaluierung nach drei Jah-
ren . Dann werden wir nämlich Zahlen an der Hand haben

Dr. h. c. Hans Michelbach

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20561


(A) (C)



(B) (D)


und schauen können, wie sich das entwickelt hat . Aber
die hier an die Wand gemalten Horrorszenarien von Mil-
liarden und Abermilliarden werden nicht stattfinden, lie-
be Kolleginnen und Kollegen .


(Beifall bei der SPD – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Horrorszenarien?)


Und das wissen Sie auch . Sie sagen das hier wider bes-
seres Wissen .


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Mal sehen, was die Evaluierung bringt! – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Ja, genau!)


Da sind wir alle miteinander gespannt .

Der Bereich Wagniskapital muss auch in den kom-
menden Jahren weiter genau angeschaut werden . Wir
müssen aufholen . Lothar Binding hat hier die Vereinigten
Staaten von Amerika genannt, die sozusagen Vorzeige-
land bei dieser Entwicklung sind . Aber auch ein Blick
in die europäische Nachbarschaft lohnt sich . Großbritan-
nien ist zwar ein schlechtes Beispiel – wir hatten gera-
de den Brexit –, aber wir können einmal nach Holland
gucken . Wenn ich sehe, dass man dort das x-Fache an
Wagniskapitalinvestitionen pro Kopf wie in der Bundes-
republik Deutschland hat, weiß ich doch: Man kann da
besser werden, auch ohne dass man alle Rahmenbedin-
gungen und Gesetzgebungen in diesem Bereich aufge-
ben muss und sozusagen nur noch den amerikanischen
Wilden Westen hat . Ich glaube nicht, dass die Holländer
den haben, sondern es lohnt sich, in die Nachbarschaft
zu gucken und in Deutschland in den kommenden Jahren
weiter Projekte in dieser Richtung umzusetzen.

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820616800

Vielen Dank . – Als besonderes Geburtstagsgeschenk

erhält jetzt der Kollege Professor Dr. Heinz Riesenhuber
die Gelegenheit, diese Debatte abzuschließen .


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Aber nur drei Minuten!)



Dr. Heinz Riesenhuber (CDU):
Rede ID: ID1820616900

Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegen! Es ist sicher

nur ein Zufall, dass dieses Gesetz ausgerechnet an mei-
nem Geburtstag beschlossen werden soll . Aber ich gebe
zu, dass ich mich freue . Hans, du hast das zusammen mit
Philipp Murmann mit großer Herzlichkeit und Beharr-
lichkeit im Finanzausschuss vorangebracht . Herzlichen
Dank an alle unsere Finanzer . Herr Binding, Sie waren
mit genau solch einer Entschlossenheit dabei . Sonst wäre
es uns nicht gelungen .

In nobler Beiläufigkeit hat Herr Gambke angespro-
chen, dass die Debatte über die Europatauglichkeit ein
bisschen spröde ist . Ich freue mich, dass Sie seit vier Jah-
ren daran arbeiten . Wir haben es vor zwölf Jahren schon
einmal versucht .

Damals hatten wir auch eine prachtvolle Große Koali-
tion, mit der wir alle glücklich waren . Steinbrück war Fi-
nanzminister . Wir haben das MoRaKG geschrieben, und
jeder sagte uns – einschließlich des Finanzministers –:
Europafest, europafest! – An Europa ist es aber geschei-
tert . Jetzt haben wir mithilfe von Michael Meister und
He
Dr. Helge Braun (CDU):
Rede ID: ID1820617000
„Das müsste stehen“, und darauf bauen wir .

Einige Dinge werden wir uns in zwei, drei Jahren
noch einmal anschauen; dann evaluieren wir die Sache
mit dem „Geschäftsbetrieb“. Der Begriff ist zum Glück
ziemlich vage . Bei jungen Unternehmen gibt es nun ein-
mal Dynamiken, die nicht ganz leicht juristisch einzufan-
gen sind . Die Juristen unterstützen uns aber, und damit
wird die Weisheit zunehmen .


(Dr. Franz Josef Jung [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Dass diese Sache hier wirklich dauerhaft grundsätz-
lich ist, haben uns die USA vorgemacht . Die größten Un-
ternehmen der Welt sind sehr jung, vielleicht 20 Jahre alt;
manche sind noch jünger: Google, Facebook . Microsoft
ist nur wenig älter . Sie können sie durchdeklinieren . Das
alles waren Start-ups .

Diese Start-ups sind nicht plötzlich entstanden, weil
die Zeit reif war, sondern das war der Erfolg einer lang-
jährigen Arbeit in Richtung einer enormen Innovations-
kultur, die in den USA entstanden ist, seitdem sie da-
mals – 1958 war es – die SBICs gegründet haben, die
Small Business Investment Corporations . Das hat sich
entwickelt .

Flankierend hat man dann die Kapitalertragsteuer, die
Capital Gains Tax, halbiert, und die Sache blühte und ge-
dieh . Inzwischen haben SBICs in 2 100 Fonds investiert
und insgesamt über 166 000 Investments in kleinere Un-
ternehmen getätigt . Das heißt, wir sehen da eine breite
Dynamik . Einige sind dann durchgebrochen und sehr er-
folgreich gewesen . – Genau diese Landschaft brauchen
wir auch für die nächste Runde unserer Arbeit hier .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Sie müssen nur noch Steuern zahlen!)


Wenn Sie heute über den Campus des MIT gehen,
dann sehen Sie, dass die jungen Leute an einem schönen
Sommertag da sitzen . Die Jungs quatschen dann natür-
lich über die Mädchen, und die Mädchen quatschen über
die Jungs,


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oder die Mädchen über die Mädchen!)


aber sie quatschen auch über die Ideen, die sie haben, um
einmal reich zu werden . Einige werden auch reich, und
wenn sie reich werden, dann ist das ungemein anregend
für die anderen .


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Die Mädchen wollen reich werden?)


Wenn wir an einigen Stellen wirklich einen Durch-
bruch erzielen und das Ergebnis vorzeigen können, wird
die Welt anders . Als aus dem von Günter Spur geleite-

Matthias Ilgen

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620562


(A) (C)



(B) (D)


ten Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik Mitte der
80er-Jahre hier in Berlin zwei, drei Gründer herauska-
men, haben die anderen Kollegen gelächelt . Ein siche-
res Beamtenverhältnis, und der Mensch gründet! Sie
waren aber erfolgreich . Innerhalb weniger Jahre hatten
wir plötzlich anderthalb Dutzend Gründungen, die sich
fröhlich im Markt bewegt haben . Das jetzt wieder hinzu-
kriegen, das wird die große Aufgabe sein .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es wäre faszinierend, wenn Sie mir noch eine Viertel-
stunde Redezeit geben würden, Frau Präsidentin. Dann
würde ich das im Einzelnen erläutern


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)


und zeigen, wie wir seit dem Programm von 1983 zur
Förderung von Technologisch Orientierten Unterneh-
mensgründungen, TOU, systematisch weitere Program-
me zur finanziellen Beteiligung an jungen Technologi-
eunternehmen aufgebaut haben: BJTU in 1989, BTU in
1995. Der Staat hat sich dabei finanziell immer weiter
zurückgezogen: Darlehen statt Zuschüsse, dann Bürg-
schaften statt Darlehen . Der Staat hat Gründerzentren
und Technologieparks gegründet . Es ist damals eine
prachtvolle Landschaft entstanden, bis der Neue Markt
hier funktioniert hat und ein entsprechendes Segment an
der Börse eingerichtet wurde .

Dann platzte im Jahr 2000 die Blase . Seitdem sind
die Menschen ein bisschen deprimiert . Aus einer De-
pression entsteht wenig Dynamik . Es ging darum, wie-
der Schwung in den Markt zu bringen . Der Staat hat mit
vielen Fonds geholfen: EIF/ERP-Dachfonds, ERP-Start-
fonds, High-Tech Gründerfonds . Er hat auch mit dem
Programm EXIST und anderen Programmen geholfen.
Das sind wunderbare Sachen, alle in Ordnung . Aber da-
mit konnte man nicht die Zukunft gewinnen . Die Zukunft
entsteht aus Wagniskapitalgesellschaften, deren Gründer
für ihr eigenes Geld mit einer Innovationskraft und Ent-
schlossenheit kämpfen, die ein Beamter nicht immer auf-
bringen sollte .


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, heute liegt
ein großes Gesetz vor . Ich bin zuversichtlich, dass es auf
große Zustimmung stößt .


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Na ja!)


In der nächsten Runde wird es dann besser gehen; denn
wir haben noch einiges vor uns . Wolfgang Schäuble, ein
ungemein dynamischer und innovationsfreudiger Bun-
desfinanzminister, hat uns angekündigt, in den nächsten
zehn Jahren 10 Milliarden Euro an Krediten über einen
Tech Growth Fund für Start-ups bereitzustellen . Das ist
schon einmal ganz beachtlich . Manche erreichen mit ih-
rer Firma einen Marktwert von vielleicht 20 Millionen
Euro, aber dann fehlt ihnen das Geld für weiteres Wachs-
tum . Wir kommen jetzt mit beachtlichen Beträgen . Ich
bin voller Dankbarkeit und Bewunderung für den Fi-
nanzminister .

Es gibt auch weitere Themen, um die wir uns küm-
mern müssen. Die Abschaffung der Umsatzsteuer auf die

Management-Fee ist eine Zehnerpotenz weniger als das,
was wir heute mit diesem Gesetz beschließen . Trotzdem
ist es ein Riesenhebel, weil das Geld direkt in die Kassen
der Unternehmer fließt. Wenn jemand die Wahl hat, hier
ein Unternehmen zu gründen und damit erfolgreich zu
sein oder in Luxemburg zu arbeiten und dort 20 Prozent
mehr zu verdienen, dann ist das eine große Versuchung .

Wir müssen zudem sehen, ob wir die Transparenz der
Vermögensverwaltung gesetzlich regeln .

Wir haben also noch einiges Schöne vor uns . Aber
heute freuen wir uns über das, was uns mit diesem Gesetz
gelingt . Es ist ein großer Schritt mit einer breiten Un-
terstützung dieses dynamischen Parlaments. Auch Herr
Gambke will sich nur aus Höflichkeit enthalten.


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Er darf nicht zustimmen!)


Mit diesem Gesetz erreichen wir, dass die Menschen, die
etwas selber machen wollen, ein bisschen mehr Luft zum
Atmen haben; Menschen, die nicht darauf versessen sind,
38 Stunden in der Woche zu arbeiten, sondern entschlos-
sen sind, mehr zu arbeiten und erfolgreich zu sein .

Die Aufgabe eines stolzen und zugleich demütigen
Abgeordneten ist es, dafür zu arbeiten, dass andere
glücklich und erfolgreich sind – ohne Rücksicht auf un-
sere 38-Stunden-Woche .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Mit einer roten Fliege passt das echt gut!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820617100

Vielen Dank . – Wir kommen damit zur Abstimmung

über den von der Bundesregierung eingebrachten Ent-
wurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der steu-
erlichen Verlustverrechnung bei Körperschaften . Der
Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/10495, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 18/9986 und 18/10348
in der Ausschussfassung anzunehmen . Ich bitte dieje-
nigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
zustimmen wollen, um das Handzeichen . – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfrakti-
onen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Ent-
haltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen .

Damit kommen wir zur

dritten Beratung

und Schlussabstimmung . Ich bitte all diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von den Plätzen
zu erheben . – Wer ist dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Gesetzentwurf ist in dritter Lesung mit dem gleichen
Stimmenverhältnis angenommen .

Damit rufe ich den Zusatzpunkt 4 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Britta
Haßelmann, Luise Amtsberg, Volker Beck

Dr. Heinz Riesenhuber

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20563


(A) (C)



(B) (D)



(Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Parteiensponsoring regeln

Drucksache 18/10476

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .

Ich bitte Sie, möglichst schnell Ihre Plätze einzuneh-
men und die Gespräche außerhalb des Plenarsaals wei-
terzuführen .

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin
Britta Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen .


Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820617200

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrte Kol-

leginnen und Kollegen! Wir haben heute einen Antrag
vorgelegt, in dem wir Sie auffordern, noch in dieser Le-
gislaturperiode eine Regelung zum Parteiensponsoring
zu machen . Warum tun wir das? Weil wir wollen, dass
Sponsoring endlich den gleichen Transparenzpflich-
ten unterworfen wird, welche im Parteiengesetz für
Geldspenden bestehen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Diese Forderung ist überfällig . Dies endlich einzulösen,
ist auch überfällig . Das zeigen die jüngsten Skandale um
das Thema „Rent a Sozi“ .

Wer es nicht mitbekommen hat: Wir reden seit 2010
darüber, dass eine Einnahmequelle der Parteien neben
der staatlichen Parteienfinanzierung, neben der Frage
von Geldspenden einen immer größeren Stellenwert be-
kommt, und das ist das Thema Sponsoring . Das Spon-
soring ist aber im Parteiengesetz bisher nicht geregelt.
Deshalb bedarf es dringend Klarheit und einer transpa-
renten Darstellung gegenüber der Öffentlichkeit darüber:
Wie viele Sponsoringeinnahmen haben eigentlich Partei-
en, worüber verfügen sie da, und in welchem Verhältnis
stehen Geld und Zuwendung zu einer Leistung? Darüber
gibt es aber überhaupt keine Klarheit, meine Damen und
Herren .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Nun passiert Folgendes: Wechselseitig werfen sich
Parteien Skandale und Unterstellungen vor, aber ändern
tun wir letztlich nichts . Im Jahr 2010, als die CDU in
Nordrhein-Westfalen auf die Idee gekommen war, dass
man Herrn Rüttgers für relativ viel Geld mieten kann,
gab es eine riesige Empörungswelle . Es gab Diskussio-
nen hier im Deutschen Bundestag . Damals gehörte ich
dem Deutschen Bundestag seit einer Legislaturperiode
und einem Jahr an . Deshalb habe ich das noch genau in
Erinnerung. Seitens der SPD beispielsweise wurde hier
im Parlament eine wahnsinnige Empörung an den Tag
gelegt und gesagt: Wir brauchen jetzt im Parteiengesetz
dringend die Verankerung zum Sponsoring . – Was ist
daraus geworden? Bis heute, 2016, nichts . Weder in der

alten Regierungskonstellation noch in dieser Regierungs-
zeit waren Sie bereit, zum Sponsoring etwas zu machen .

Jetzt, im Jahr 2016, ist die Lage plötzlich andershe-
rum . Jetzt fängt eine Untergesellschaft des Vorwärts
an, Termine mit Ministerinnen und Ministern zu verge-
ben und diese quasi zu vermieten . Unter dem Stichwort
„Rent a Sozi“ finden wir alle das im Netz. Jetzt wird wie-
der erklärt: Wir brauchen dringend eine Regelung zum
Sponsoring . – Nur, meine Damen und Herren: Es passiert
nichts, weil keine der großen Parteien Bereitschaft zeigt,
endlich im Parteiengesetz eine Regelung zum Sponso-
ring vorzunehmen . Dazu fordern wir Sie heute auf .

Wir haben auch gesagt: Wir könnten hier im Bundestag
eine sofortige Abstimmung machen; denn die Argumen-
te sind doch ausgetauscht . Jeder weiß sogar, an welcher
Stelle im Parteiengesetz wir eine solche gesetzliche Re-
gelung platzieren müssten . Aber uns wurde schon erklärt,
es bestehe Beratungsbedarf . Wir müssen das erst einmal
wieder in den Ausschüssen versenken, weil keine Bereit-
schaft besteht, heute zu einer gesetzlichen Regelung im
Parteiengesetz in Sachen Sponsoring zu kommen.

Meine Damen und Herren von der SPD, wenn ich
dann von Ihrer Seite das Argument höre, Ihnen würde der
Antrag nicht weit genug gehen, kann ich dazu nur sagen:
Das schlägt dem Fass den Boden aus .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Außerdem höre ich von Ihrer Seite, man könne heute
nicht über unseren Antrag abstimmen, weil Sie weitge-
hendere Vorstellungen haben und einen Gesetzentwurf
vorbereiten wollen . Meine Damen und Herren, haben Sie
noch nicht gemerkt, dass es im Interesse von uns allen ist,
wenn wir das schnell regeln und klar regeln, mit Trans-
parenzpflichten wie bei Geldspenden im Parteiengesetz?
Die §§ 23, 24 und 25 haben uns hierzu die Vorlage ge-
liefert .

Sie können sich auch gerne unserem Gesetzentwurf
anschließen . Er liegt vor . Da braucht man gar keine Bera-
tung bis zum Frühjahr . Wir können ihn gern in der nächs-
ten Woche gemeinsam wieder einbringen .

Ich habe das Gefühl, dass Sie mit diesen Vorwänden
einfach vernebeln wollen, dass Sie, also Union und SPD,
letztlich nicht bereit sind, zu einer klaren Regelung zum
Sponsoring zu kommen . Dabei wäre es für uns alle wich-
tig. Für alle Parteien würde das nach außen mehr Trans-
parenz und Klarheit gegenüber den Bürgerinnen und
Bürgern bringen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Nichtregierungsorganisationen wie LobbyControl
und Transparency sowie Rechtswissenschaftlerinnen
und -wissenschaftler fordern uns genauso wie der Bun-
destagspräsident seit 2010/11 in seinem Bericht über die
Rechenschaftsberichte 2010 und 2011 der Parteien zur
Parteienfinanzierung dazu auf, endlich eine Transparenz-
pflicht und Darlegungspflicht für Sponsoring zu schaf-
fen . Ich zitiere den Bundestagspräsidenten und seinen
Bericht: Die damit verbundene Transparenz liegt „im

Vizepräsidentin Ulla Schmidt

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620564


(A) (C)



(B) (D)


wohlverstandenen Eigeninteresse der Parteien“. Das hat
Herr Lammert formuliert .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Warum um alles in der Welt weigern Sie sich bis heute,
mit uns zusammen für mehr Transparenz zu sorgen? Es
geht doch nicht um wechselseitige Vorwürfe, sondern da-
rum, endlich im Gesetz klar zu regeln, dass wir als Par-
teien beim Sponsoring die gleichen Darlegungspflichten
haben wie bei Geldspenden, da das Thema eine so große
Bedeutung hat .

Lassen Sie mich zuletzt noch etwas zu Ihrem Aus-
weichargument sagen, Sie wollten einen Gesetzentwurf
erarbeiten . Wir haben in der 17 . Legislaturperiode einen
Antrag zum Parteiensponsoring eingebracht, der zum
Ziel hatte, das Ganze transparenter zu gestalten . Die Bot-
schaft war: Beratungsbedarf! – Wir haben in der 17 . Le-
gislaturperiode einen entsprechenden Gesetzentwurf in
den Bundestag eingebracht . Dieser wurde monatelang im
Ausschuss versenkt – Beratungsbedarf! – und letztlich
abgelehnt . Wir haben in der 18 . Legislaturperiode einen
entsprechenden Entschließungsantrag eingebracht und
sogar das Parteiengesetz geändert, nur nicht bezüglich
Sponsoring . Heute beraten wir wieder über einen von uns
eingebrachten Antrag .

Ich fordere Sie abschließend auf: Lassen Sie uns das
im Interesse aller Parteien klar und eindeutig regeln! Wir
brauchen mehr Transparenzpflichten beim Sponsoring.

Vielen Dank .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820617300

Vielen Dank . – Das Wort hat jetzt der Kollege

Dr. Philipp Murmann von der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr . Diether Dehm [DIE LINKE]: Jetzt sind wir gespannt!)



Dr. Philipp Murmann (CDU):
Rede ID: ID1820617400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Jetzt hat sich Frau Haßelmann so aufgeregt . Dabei muss
ich sagen: Eine schlechte Idee wird natürlich nicht da-
durch besser, wenn man sie nur oft genug hier vorträgt .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Forderung der Grünen nach einer weiteren zusätz-
lichen Regelung im Parteiengesetz ist unseres Erachtens
aus mehreren Gründen nicht zielführend .

Erstens. Das Sponsoring für Parteien ist rechtlich zu-
lässig und bereits heute geregelt . Die Einnahmen sind
nach § 24 des Parteiengesetzes im Rechenschaftsbericht
der Parteien zu erfassen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht nach Zahler!)


Das gilt übrigens auch für andere Bereiche des wirt-
schaftlichen Geschäftsbetriebes . Warum wollen Sie ei-

gentlich jetzt eine einzelne Einnahmeart herausgreifen?
Das ist völlig unsystematisch .


(Lachen des Abg . Dr . Diether Dehm [DIE LINKE] – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Realsatire!)


Wenn, dann müssten doch alle Einnahmen individuell
und nach ihrer Herkunft ausgewiesen und zugeordnet
werden .


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Können wir machen!)


Zweitens . Sponsoring ist per se bereits ein transparen-
ter Vorgang .


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Was?)


Der Sponsor bezahlt dafür, dass er für sich wirbt, und
zwar offen und publikumswirksam.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Was hat er davon?)


Sonst würde es auch gar keinen Sinn machen . Der Vor-
gang ist für jeden sichtbar .


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat Ihnen das denn aufgeschrieben?)


Sie können das auf fast jeder größeren Veranstaltung be-
obachten. Ich lade Sie gerne auch einmal zum Parteitag
der CDU ein . Dort werden alle Aussteller und Sponsoren
öffentlich genannt,


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei uns auch!)


und Sie können sich ein Bild davon machen . Das Gleiche
gilt übrigens auch für die Grünen. Wir veröffentlichen
das, wie ich Ihnen sagte, ja auch und die SPD, soweit ich
das weiß, auch . Bei den Linken bin ich mir nicht ganz si-
cher . Aber darüber wollen wir jetzt einmal hinwegsehen .


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820617500

Herr Kollege Murmann, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Volker Beck?


Dr. Philipp Murmann (CDU):
Rede ID: ID1820617600

Ich möchte die Gedanken gerne zu Ende führen . Wenn

Sie, Herr Beck, am Ende noch Lust haben, können wir
noch einmal schauen .


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich hätte Lust!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820617700

Am Ende geht das nicht, nur mittendrin . – Gut .


Dr. Philipp Murmann (CDU):
Rede ID: ID1820617800

Danke .


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das zeigt, dass Sie unheimlich sicher in Ihrer Argumen Britta Haßelmann Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20565 tation sind! Sonst hätten Sie die Zwischenfrage zulassen können!)


(A) (C)


(B) (D)


– Lehnen Sie sich ein bisschen zurück, und hören Sie erst
einmal zu!


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Sie hätten doch die Zwischenfrage zulassen können!)


Wenn Ihnen das noch nicht ausreicht, dann beantwor-
ten wir Ihnen alle Fragen zum Sponsoring . Auch unsere
Ausstellerunternehmen werden häufig von Journalisten
deswegen angesprochen und beantworten entsprechende
Fragen .

Es gibt an diesem ganzen Vorgang überhaupt gar
nichts zu beanstanden .


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Was sagen Sie zu den Aussagen von Herrn Lammert?)


Im Gegenteil: Sponsoring ist transparent und hilft den
Parteien auch, ihren verfassungsmäßigen Auftrag zu er-
füllen, nämlich in die Gesellschaft hineinzuwirken .


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Warum sagt Herr Lammert das dann?)


Drittens . Wir lehnen eine weitere Bürokratisierung im
Parteienrecht ab. Die bestehenden Transparenzregeln im
Parteiengesetz sind auch im internationalen Vergleich
weitreichend und haben sich bewährt . Die Transparenz
unserer Parteienfinanzierung ist nämlich viel höher als
irgendeine sonst . Weder Vereine noch irgendeine von all
den NGOs, die uns sonst natürlich immer gerne mit er-
hobenem Zeigefinger begegnen, erfüllen solche Transpa-
renzregeln wie wir in den Parteien. Das ist so.

Allerdings führen diese Standards bereits heute dazu,
dass ein erheblicher administrativer und auch finanzieller
Aufwand getrieben wird. Die Parteien aber und damit wir
alle leben vom ehrenamtlichen Engagement ihrer Mit-
glieder . Das gilt besonders für die vielen Schatzmeister in
unseren Parteien. Mit immer mehr Bürokratie frustrieren
Sie nur diejenigen, die noch bereit sind, solche Ämter zu
übernehmen, und sich damit für unsere Demokratie ein-
setzen . Es ist bereits heute nicht einfach, Kandidaten für
die Schatzmeisterämter zu finden.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Dazu brauchen wir Sponsoring?)


Wir sollten das nicht durch noch mehr Bürokratie weiter
erschweren .

Viertens. Ihr Antrag zielt ja ganz offensichtlich auf ei-
nen aktuellen Fall im Umfeld der SPD. Dazu muss ich
Ihnen aber sagen: Thema verfehlt, denn die von Ihnen
vorgeschlagene Regulierung im Parteiengesetz würde
diesen Fall gar nicht erfassen. – Es wurde in der Presse
sogar der Vorwurf erhoben, die CDU sei an den Vorfällen
schuld, weil wir bei der letzten Novelle des Parteienge-
setzes gegen eine Sponsoringvorschrift gestimmt hätten .
Das ist zwar ein netter Versuch, aber auch ein ziemlich
plumpes Ablenkungsmanöver weg vom eigentlichen
Vorgang .

Bitte erlauben Sie mir, dass ich hier die Parteienrecht-
lerin Frau Professor Schönberger aus Konstanz zitiere,

die die Sponsoringpraxis der SPD im ZDF als – ich zi-
tiere –

eine sehr intelligente, aber im Endeffekt trotzdem
rechtswidrige Umgehung der Parteienfinanzierung

bezeichnet hat . Sie ergänzte dazu, es könne nicht sein,
dass – ich zitiere nochmals –

durch die Zwischenschaltung einer GmbH legal
wird, was sonst illegal wäre .

Es ging also gar nicht um das Parteiengesetz, sondern
um die Umgehung des Parteiengesetzes. Liebe Kollegen
von der SPD, die Verantwortung für diese Vorgänge müs-
sen Sie natürlich selber tragen. Ich finde es auch gut und
richtig, dass Sie klipp und klar gesagt haben, dass diese
Praxis jetzt beendet wird; denn natürlich schadet sie uns
allen .

Fünftens und letztens . Liebe Grüne, Regulierungen
und Verbote sind ja Ihre Spezialität .


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Irgendjemand muss ja regulieren und Gesetze machen!)


Aber Sie drangsalieren natürlich vor allem die vielen Eh-
renamtlichen, die für eine gute Sache werben, nämlich
für unsere parlamentarische Demokratie . Die Unions-
fraktion wird diesen Antrag deswegen ablehnen . Lassen
Sie uns stattdessen lieber gemeinsam überlegen, wie wir
unsere Demokratie und auch unser Land voranbringen,


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Was wollen Sie denn verbergen?)


wie wir mehr Ehrenamtliche für unsere Parteien gewin-
nen können .


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Durch Sponsoring? – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit Sponsoring?)


Transparenz ist für uns alle wichtig .


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann können Sie ja zustimmen!)


Sie ist ein hohes Gut .


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum wollen Sie die dann verhindern?)


Wir haben, wie ich finde, auch einige sehr gute Vorschlä-
ge in den Schatzmeisterrunden – Frau Haßelmann, wir
waren an der einen oder anderen Stelle ja auch zusam-
men – gefunden . Ob man die wirklich gleich in ein Ge-
setz gießen muss und damit zusätzliche Bürokratie aus-
löst, das möchte ich allerdings infrage stellen . Lassen Sie
uns lieber Regelungen finden, die keine Bürokratie auf
den unteren Ebenen auslösen . Für praktische und ange-
messene Vorschläge sind wir offen.

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Philipp Murmann

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620566


(A) (C)



(B) (D)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820617900

Vielen Dank . – Jetzt hat der Kollege Volker Beck um

die Gelegenheit zu einer Kurzintervention gebeten . Die
Betonung liegt auf „kurz“ .


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820618000

Ich will es auch ganz kurz machen . – Soweit ich mich

erinnere, geht aus den Rechenschaftsberichten der Par-
teien nicht hervor, welches Unternehmen mit welchem
Zahlbetrag für welche Sponsoringleistung einsteht .


(Michael Frieser [CDU/CSU]: Doch!)


Deshalb frage ich Sie einfach einmal probeweise: Kön-
nen Sie mir sagen, welche Zahlungen in diesem oder im
letzten Jahr – das dürfen Sie sich aussuchen –, ausgehend
von den drei besten Sponsorverträgen, von wem in wel-
cher Höhe an die CDU geleistet wurden? Das ist in den
Drucksachen des Bundestages, in den Rechenschaftsbe-
richten, nicht nachzuvollziehen . Deshalb würde ich das
gerne von Ihnen wissen . Sie haben ja behauptet, das sei
transparent .


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Sehr gut!)


So viel Transparenz können wir uns ja heute hier einmal
leisten .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820618100

Herr Kollege Murmann .


Dr. Philipp Murmann (CDU):
Rede ID: ID1820618200

Nur ganz kurz: Die Sponsoringeinnahmen werden in

den Rechenschaftsberichten ausgewiesen,


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber doch nicht nach Herkunft! – Gegenruf des Abg . Michael Frieser [CDU/ CSU]: Natürlich!)


und Sie sehen bei jedem Parteitag die Liste der Sponso-
ren . Sie können auch nachfragen, was die Standgebühr
kostet . Das alles ist völlig transparent .


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das ist eine Gesamtsumme!)


Dieser Antrag ist komplett überflüssig.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nur Sponsoring auf Parteitagen! Es gibt alles Mögliche! – Dr . Diether Dehm [DIE LINKE]: Es handelt sich nur um eine Gesamtsumme!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820618300

Vielen Dank . – Der Kollege Murmann hat jetzt Stel-

lung genommen .

Jetzt hat die Kollegin Dr. Petra Sitte die Möglichkeit,
hier vorne für die Fraktion Die Linke Stellung zu neh-
men . – Bitte schön .


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Petra Sitte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1820618400

Danke schön, Frau Präsidentin. – Es ist ja schon gesagt

worden: Das Thema Parteiensponsoring beschäftigt uns
jetzt nicht zum ersten Mal . Nach den beeindruckenden
Worten von Herrn Murmann traut man sich ja schon fast
gar nicht mehr, das wieder aufzurufen . Wir hatten 2014
auch schon einen entsprechenden Antrag eingebracht; in
ihm wurde gefordert, neben den Unternehmensspenden
an Parteien auch das Parteiensponsoring zu verbieten.
Das haben damals allerdings alle anderen Fraktionen ab-
gelehnt . Das halte ich für fragwürdig; denn Sponsoring
bedeutet im Gegensatz zu Spenden immer: Gegenleis-
tungen . Wer sponsert, will dafür eine Gegenleistung . Da
geht es bei weitem nicht nur um die Frage, ob man sich
dort darstellt .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das ist eben anders als bei Spenden .

Herr Murmann, es ist eben auch nicht so, dass in den
Rechenschaftsberichten die Sponsoren im Einzelnen
nachvollziehbar sind . Im Gegenteil: Es gibt eine Gesamt-
summe, und der Rest kann sich tapfer dahinter verste-
cken .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Worum geht es? Auch ich will das noch einmal sagen,
damit der Bogen etwas weiter gespannt wird: Parteien
müssen – das ist so vom Grundgesetz vorgeschrieben –
auch Spenden einwerben . „Huch?“, mag der eine oder
andere staunen . Wieso das denn? Der Hintergedanke
dabei war, dass Parteien nicht gänzlich vom Staat finan-
ziert werden sollen, um nicht gänzlich von ihm abhängig
zu sein . Aber: Nicht nur Geld vom Staat kann abhängig
machen, sondern eben auch Geld von Spendern . Ins-
besondere bei großzügigen Spendern könnte schon der
Eindruck entstehen, als solle die bedachte Partei ebenje-
nem Spender mit der einen oder anderen Entscheidung
besonders entgegenkommen . Wir haben das hier auch
schon erlebt; ich nenne nur das breitgelatschte Beispiel
Mövenpick .

Dieses Dilemma löst das geltende Recht durch Of-
fenlegung möglicher Beeinflussung. Es gibt also Veröf-
fentlichungspflichten für bestimmte Spenden, und es gibt
Spendenannahmeverbote . Auch das haben wir geregelt .
Aber das ist uns zu wenig . Im Gegensatz zu Spenden gibt
es in diesem Feld der Sponsoringeinnahmen von Partei-
en, für die es keine besonderen Anforderungen zur Ver-
öffentlichung der Sponsoren gibt – das habe ich vorhin
ausdrücklich gesagt –, immer eine Grauzone . Die Re-
chenschaftsberichte bieten diese Grauzone . Sponsoring
ist dann eben nicht öffentlich nachvollziehbar. Und Sie
wollen ja wohl nicht, dass ich zu jedem CDU-Parteitag
komme, um mir auf Ihrer Wand anzugucken, wer Sie dort
im Einzelnen sponsert,


(Beifall bei der LINKEN – Michael Frieser [CDU/CSU]: Bitte, doch!)


Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20567


(A) (C)



(B) (D)


damit im Endeffekt der Parteitag überhaupt stattfinden
kann, weil Parteitage nun einmal unverschämt teuer sind.


(Dr. Philipp Murmann [CDU/CSU]: Genau!)


Was in letzter Zeit bei der SPD mit der Agentur Net-
work Media GmbH passiert ist, ist natürlich schon eine
höchst fragwürdige Praxis und stellt genau die Grenz-
überschreitung dar, die wir hier vermeiden müssen . Dass
diese Agentur zu dem zur SPD gehörenden Vorwärts-Ver-
lag gehört, ist relativ nebensächlich . Fakt ist, dass die
Agentur versucht hat, Unternehmen und Lobbygruppen
anzusprechen, um dann eben für Beträge zwischen 3 000
und 7 000 Euro Termine mit SPD-Bundesministern, mit
ministerialen Beamten oder eben auch mit einzelnen
Staatssekretären zu verkaufen .

In den Medien war dann schnell, wie wir das schon
festgestellt haben, „Rent a Sozi“ als Schlagwort zu hö-
ren . Es gab natürlich auch sofort das Remake: Ah, da
war doch was mit Herrn Rüttgers . – Der hat das ja schon
vor einigen Jahren – ich glaube, es waren sechs – aktiv
betrieben, wobei ich finde, dass die Beträge, die damals
Herrn Rüttgers bzw . der CDU zugegangen sind, weit
über Wert lagen .


(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN)


2010 bestand dann auch Anlass, über diese Fragen
immer wieder zu reden . Es war von Werbebriefen an po-
tenzielle Sponsoren usw . die Rede . Es war die Rede von
Partnerpaketen und Ähnlichem mehr. Und es war natür-
lich von exklusiven Gesprächen die Rede . Das ist das,
was ich vorhin umschrieben habe mit den Worten: Der
Sponsor will eine Gegenleistung .


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Richtig!)


Da kommt nicht bloß ein Plakat hin, sondern da geht es
um Vernetzung . Genau dieser Eindruck sollte aus dem
Bundestag heraus verhindert werden .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass Vermieten von
Amtsträgern mit Parteibuch ist eben genau der Punkt, der
an die strafrechtliche Grenze heranreicht . Dass nun eini-
ge SPD-Kollegen – jeder von uns hat sich ja zwischen-
zeitlich den halbstündigen Bericht angesehen – ziemlich
glaubhaft versichert haben, dass sie das nicht gewusst
haben, ändert nichts daran . Allein, dass es möglich er-
scheint, zu Amtsträgern ebensolche Verbindungen auf-
bauen zu können oder sich zu erkaufen, ist sozusagen fast
ein Totalschaden für die Demokratie . Da wir im Ranking
der Liste der beliebtesten Berufe nicht gerade ganz oben
stehen, ist eine solche Praxis ganz besonders problema-
tisch .


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Kollegin hat es gesagt: Wenn es nicht so pro-
blematisch wäre, würde es nicht regelmäßig im Bericht
des Bundestagspräsidenten auftauchen . Der hat ja die
Angelegenheit immer wieder an das Parlament zurück-
gegeben und für eine Regelung geworben . Wir meinen,
dass Transparenz allein nicht ausreicht . Wir meinen, dass
man die gesamte Praxis unterbinden sollte.


(Beifall bei der LINKEN)


Insofern würde man vonseiten der Parteien gar nicht erst
in den Geruch kommen, solche Gegenleistungen erbrin-
gen zu müssen. Parteienfinanzierung soll demokratisch
sein, und demokratisch geht es vor allem dann zu, wenn
Bürgerinnen und Bürger genau die gleichen Rechte auf
Zugang zu Politikerinnen und Politikern haben, wenn
nicht über bestimmte Brücken gegangen werden muss,
wenn keine Sonderzugänge für Lobbygruppen und für
Firmen geschaffen werden.

Ich hoffe, dass diese Debatte vielleicht ein ganz klei-
nes bisschen zum Umdenken beiträgt .


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820618500

Vielen Dank . – An dieser Stelle darf ich der Kolle-

gin Sitte noch zu ihrem heutigen Geburtstag gratulieren .
Herzlichen Glückwunsch!


(Beifall)


Jetzt hat die Kollegin Gabriele Fograscher, SPD-Frak-
tion, das Wort .


(Beifall bei der SPD)



Gabriele Fograscher (SPD):
Rede ID: ID1820618600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Transparenz – das ist wahr – ist unver-
zichtbar in einer parlamentarischen Demokratie . Sie ist
essenziell für die Willensbildung der Bürgerinnen und
Bürger und damit für eine informierte Wahlentscheidung .

Für uns ist Transparenz mehr als das, was Sie von
den Grünen heute zum Thema Sponsoring vorlegen . Wir
haben uns in den vergangenen Jahren immer wieder für
mehr Transparenz eingesetzt, und wir konnten auch eini-
ges erreichen:

Wir haben die Bestechung von Abgeordneten neu ge-
regelt und diese unter Strafe gestellt .

Wir haben klare Regeln für den Wechsel von Politi-
kern in die Wirtschaft geschaffen.

Wir haben die Zahl der Hausausweise des Deutschen
Bundestages für Interessenvertreterinnen und Interessen-
vertreter stark begrenzt .

Und wir erhalten regelmäßig halbjährlich einen Be-
richt der Bundesregierung über externe Berater in den
obersten Bundesbehörden .

Wir als SPD-Bundestagsfraktion würden gerne noch
weiter gehende Regelungen schaffen.

Damit Entscheidungsprozesse nachvollziehbar sind,
wollen wir ein verpflichtendes Lobbyregister auf gesetz-
licher Grundlage beim Deutschen Bundestag einrichten .
Dieses soll darüber Auskunft geben, welcher Interessen-
vertreter mit welchem Budget für welchen Auftraggeber
tätig ist .

Dr. Petra Sitte

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620568


(A) (C)



(B) (D)


Auch der Einsatz von externen Beratern in den obers-
ten Bundesbehörden muss nachvollziehbar sein .


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist übrigens heute alles nicht Verhandlungsgegenstand!)


Wir wollen deshalb eine legislative Fußspur einführen,
aus der hervorgeht, welchen Beitrag externe Berater und
Interessenvertreter bei der Ausarbeitung eines Gesetzent-
wurfes geleistet haben .

Wir wollen, dass alle Bundestagsabgeordneten voll-
ständig ihre Einkünfte aus Nebentätigkeiten offenlegen,
und das auf Euro und Cent . Die derzeitige Stufenrege-
lung bringt immer noch keine vollständige Transparenz .

Auch bei der Parteienfinanzierung haben wir bereits
mehr Transparenz geschaffen. Ende vergangenen Jahres
haben wir die Saldierung wieder eingeführt . Damit wird
transparenter, welche Einnahmen und Ausgaben eine
Partei hat und worauf sich die staatliche Teilfinanzierung
stützt . Das haben wir beschlossen mit der Mehrheit der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Grünen bei
Enthaltung der Linken . Wir können uns auch hier durch-
aus noch mehr vorstellen . So fordern wir zum Beispiel
immer wieder – leider bis jetzt ergebnislos – ein Verbot
von Verbandsspenden, die Einführung einer jährlichen
Obergrenze von 100 000 Euro pro Spender und eine He-
rabsetzung der Sofortveröffentlichungsgrenze bei Groß-
spenden .

Auch wir wollen eine gesonderte Ausweisung von
Sponsoring in den Rechenschaftsberichten der Partei-
en . Das haben wir auch in unserem Regierungspro-
gramm von 2013 festgeschrieben . Zu diesem Thema
gab es bereits zahlreiche Berichterstattergespräche und
Diskussionsrunden . Doch leider – das haben wir heute
ja gehört – sehen CDU und CSU keinen Handlungsbe-
darf . Sponsoringeinnahmen werden derzeit unter der
Rubrik „Einnahmen aus Veranstaltungen, Vertrieb von
Druckschriften und Veröffentlichungen und sonstiger
mit Einnahmen verbundener Tätigkeit“ ausgewiesen .
Jetzt möchte ich einmal auf die Größenordnung einge-
hen, die dieser Einnahmeposten hat: bei der CDU und der
SPD beträgt er jeweils 8 Prozent der Gesamteinnahmen,
bei den Grünen sind es 1,6 Prozent und bei den Linken
0,9 Prozent.


(Zuruf von der LINKEN: Das ist ungerecht!)


Wenn es in dieser Legislaturperiode nicht mehr zu ei-
ner gesetzlichen Regelung zur gesonderten Ausweisung
des Sponsorings kommt, werden wir als SPD auf frei-
williger Basis ab dem nächsten Parteitag die Aussteller
und Sponsoren inklusive der gezahlten Nettosumme auf
unserer Homepage veröffentlichen.


(Beifall bei der SPD)


Die Grünen stellen heute den Antrag, Sponsoring-
einnahmen ebenso zu behandeln wie Spenden . Spen-
den werden über alle Gliederungen hinweg im Rechen-
schaftsbericht der Bundespartei zusammengeführt . Egal
an wen, an welche Gliederung jemand spendet – alle die-
se Spenden werden für den Rechenschaftsbericht addiert .

Für das Sponsoring ist das nicht so einfach . Auf Bun-
des-, Landes- und Bezirksebene ist eine separate Auswei-
sung machbar . Für die zahlreichen Ortsvereine, Unterbe-
zirke, Kreisverbände mit Tausenden von ehrenamtlichen
Kassiererinnen und Kassierern halte ich eine separate
Ausweisung von Sponsoring aber nicht für zielführend .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Ehrenamtlichen müssen einen immensen bürokrati-
schen Aufwand leisten, um zum Beispiel die Brötchen
für 40 Euro, die der regionale Bäcker zum Kinderfest
geschenkt hat, und die Würstchen für 90 Euro, die der
regionale Metzger zum Sommerfest unentgeltlich gelie-
fert hat, auszuweisen . Ich meine, dieser Aufwand steht in
keinem Verhältnis zum Erkenntnisgewinn durch solche
Aufstellungen . Das zeigt, dass die bestehenden Regelun-
gen für Spenden eben nicht eins zu eins auf das Sponso-
ring übertragen werden können .

Wenn Sie von den Grünen wirklich eine praxistaugli-
che Regelung wollen, sollten Sie Ihren Antrag auf sofor-
tige Abstimmung zurückziehen und mit uns in ernsthafte
Gespräche eintreten . Frau Haßelmann, Ausschussbera-
tungen und Berichterstattergespräche als ein „Versen-
ken“ zu bezeichnen, entwertet auch unsere Arbeit im
Parlament.


(Zuruf der Abg . Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich fordere Sie gerne zu ernsthaften Gesprächen auf, um
eine Lösung für dieses Problem zu finden.

Danke schön .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wollen Sie nächste Woche einen Gesetzentwurf von Frau Haßelmann?)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820618700

Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt Michael Frieser

das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Michael Frieser (CSU):
Rede ID: ID1820618800

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wir erleben eine Sternstunde: Immer dann,
wenn in der Presse mit entsprechenden Schlagzeilen von
einer Verfehlung berichtet wird, muss das grundsätzliche
Regel- und Gesetzeswerk herangezogen werden . – Frau
Kollegin Fograscher: „Tapfer!“, würde ich mal sagen .
Dass die SPD nach diesem „Lapsus“ – ich bezeichne das
ganz vorsichtig mal so – genau das nicht weiter tut, näm-
lich einen Minister zu vermieten, versteht sich von selbst .
Dazu brauche ich kein Gesetz und kein Regelwerk .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie war das bei der CDU in NRW?)


Deshalb halte ich es auch für etwas schwierig, im
Augenblick vor dem Hintergrund dieser Frage einen Ha-
se-und-Igel-Wettbewerb zu veranstalten in dem Sinne:

Gabriele Fograscher

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20569


(A) (C)



(B) (D)


Der eine will etwas zum Thema Sponsoring, und der an-
dere will etwas zum Thema Lobbyismus machen . – Das,
was passiert ist, hat nichts mit Sponsoring oder Partei-
enfinanzierung im Rahmen von Spenden zu tun. Ich bit-
te darum, das im Sinne der Demokratie fein säuberlich
auseinanderzuhalten .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Sponsoring bedeutet, dass sich Menschen innerhalb
eines Rechtsstaates, einer Demokratie dem politischen
Prozess zuwenden und erkennbar machen, dass sie wirk-
lich daran teilhaben wollen . Alle Einnahmen aus diesen
Geschäften – das gilt nicht nur für Parteitage – können
eingesehen werden . Die Rechenschaftsberichte liegen
beim Bundestagspräsidenten . Auf Ersuchen sind wir
selbstverständlich auch persönlich bereit, darüber Be-
richt zu erstatten . Wir laden jeweils auch gegenseitig zu
den Parteitagen ein.

Ich habe Verständnis dafür, dass die SPD, die diesen
Fehler eingesteht und auch Besserung lobt, jetzt nicht nur
sagt, dass sie das nicht mehr tut, sondern auch versucht,
mit einem eigenen Vorschlag politisch in die Vorhand
zu geraten . Ich glaube nur, dass wir uns damit in dieser
Frage, um die es im Zentrum geht, keinen Gefallen tun .
Denn weder eine Änderung beim Thema Lobbyismus
noch beim Thema Sponsoring wird etwas daran ändern,
dass man vor falsches Verhalten bei der Frage, wie man
Einfluss auf die Politik gewinnen kann, keine Regeln set-
zen kann; denn in diesem Parlament ist jeder Einzelne
von uns seinem Gewissen unterworfen – sofern der Ein-
zelne denn eines hat .

Aber im Ergebnis muss doch jeder selbst verantwor-
ten, wie er sich in dieser Frage verhält . Und ich bin darü-
ber erstaunt, dass es doch immer wieder jemanden gibt,
der sich tatsächlich für eine solche Aktion hergibt – egal
mit welchen gesellschaftspolitischen, gesellschaftsrecht-
lichen Verschachtelungen man versucht, das in irgendei-
ner Weise zu camouflieren.

Aber es bleibt dabei: Der Anteil des Sponsorings –
wir haben es gehört – ist wirklich verschwindend gering .
Deshalb kann man nur sagen: Die Ordnung, die wir in
§ 24 des Parteiengesetzes gefunden haben, beinhaltet
auch die Pflicht, alle Sponsoringleistungen auszuweisen.
Das bedeutet eindeutig, dass man das ablesen kann . Nicht
umsonst hat die europäische Staatengruppe GRECO zum
Thema Parteienfinanzierung gesagt: Dies ist in Ordnung.
Es ist in Deutschland ordnungsgemäß – wie in anderen
europäischen Staaten auch – geregelt .

Das sagt übrigens auch die in diesem Land immer
noch verbindliche Rechtsprechung: Alles, was zu dem
Thema Sponsoring an Ausweisung notwendig ist, ist ge-
leistet worden .

Ich verstehe, dass man in so einer aufgeheizten Dis-
kussion versucht, mit tollen Vorschlägen wieder nach
vorn zu kommen . Aber ich kann nur sagen: Wir haben
zwei Jahre zum Thema Parteienfinanzierung verhandelt.
Erst in der letzten Sitzung haben die Grünen gesagt: Zum
Thema Sponsoring könnten wir noch etwas machen .

Die entscheidende Botschaft muss doch sein, dass wir
in der Demokratie dankbar sein müssen für Menschen,

für Firmen, die sich nicht nur zu Parteien bekennen,
sondern auch zur Funktion von Parteien, nämlich an der
Willensbildung teilzunehmen . Das bedeutet, dass sie
sich nicht hinter Masken verbergen . Das bedeutet, dass
man sich nicht im Hinterzimmer trifft, wo es keiner mit-
bekommt, sondern das bedeutet, dass man mit offenem
Visier sagt, welche Firma an welcher Stelle Parteien mit
einer Art von Sponsoring unterstützt .


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber warum kann man das später nicht transparent machen? Dann haben wir auch kein Problem!)


Darum geht es . Deshalb: Am Ende des Tages hilft al-
les Gerede nicht . Am Ende des Tages geht es darum, ob
wir das, was wir an Regeln für die Parteienfinanzierung
haben, anwenden. Es geht darum, dass wir als Parlamen-
tarier in den Parlamenten, als Funktionäre in den Partei-
en – und das geht bis hinunter zu den Ehrenamtlichen –
uns rechtstreu verhalten . Es muss gelten: Wir füllen diese
Funktionen aus und versuchen dabei, unsere Arbeit auf-
rechtzuerhalten .

Natürlich ist Sponsoring bei zurückgehenden Ein-
nahmen ein zunehmend wichtig werdender Aspekt . Wer
wüsste das besser als Parteienvertreter? Gegen dieses
Problem im Zusammenhang mit Sponsoring helfen keine
neuen Gesetze und auch kein neues Regelwerk; da hilft
nur ein funktionierender moralischer Kompass .

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei der CDU allerdings fraglich!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820618900

Vielen Dank. – Jetzt hat für die SPD-Fraktion der Kol-

lege Dietmar Nietan das Wort .


(Beifall bei der SPD)



Dietmar Nietan (SPD):
Rede ID: ID1820619000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Ich möchte gar nicht darum herumreden:
Das in der Berichterstattung der Sendung Frontal 21 ge-
schilderte Geschäftsgebaren innerhalb der SPD-eigenen
Medienagentur Network Media ist unakzeptabel und mit
sozialdemokratischen Prinzipien nicht vereinbar. Damit
wurde nicht nur dem Ansehen meiner eigenen Partei,
sondern auch der Politik insgesamt großer Schaden zu-
gefügt .


(Beifall des Abg . Dr . Diether Dehm [DIE LINKE])


Ich habe deshalb als Schatzmeister der SPD veran-
lasst, dass dieser Vorgang intern untersucht wird, um
dann aus den gewonnenen Erkenntnissen auch Konse-
quenzen zu ziehen . Unabhängig von dieser Aufarbeitung
habe ich umgehend sichergestellt, dass es die sogenann-
ten Vorwärts-Gespräche nicht mehr geben wird .

Ich weiß, dass wir uns nicht nur der berechtigten Kri-
tik an dem, was passiert ist, sondern auch unberechtig-

Michael Frieser

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620570


(A) (C)



(B) (D)


ten Unterstellungen stellen müssen . Deshalb will ich es
hier noch einmal in aller Deutlichkeit sagen: Trotz der
Berichterstattung über unsere Agentur bleibt es für die
SPD weiter dabei: Mit Sponsoringleistungen kann kein
Zugang zu Amtsträgern, Abgeordneten oder Parteifunk-
tionären erkauft werden .


(Beifall bei der SPD)


Ich will hier noch einmal betonen, dass die Politike-
rinnen und Politiker, die in der Vergangenheit an Vor-
wärts-Gesprächen teilgenommen haben, nicht über De-
tails etwaiger Absprachen zwischen Sponsoren und der
Agentur ins Bild gesetzt wurden; ihnen war auch die
Höhe etwaiger Zahlungen nicht bekannt .

Auch wenn wir davon ausgehen können, dass in dem
in Rede stehenden Fall kein Verstoß gegen das Parteien-
gesetz vorliegt, hat Bundestagspräsident Lammert recht,
wenn er sagt:

Völlig unabhängig von der Frage, ob das rechtlich
relevant ist oder nicht, es ist jedenfalls selten däm-
lich .


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg . Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich weiß, dass das, was hier geschehen ist, zu einem
weiteren Vertrauensverlust bei den Menschen in unse-
rem Land geführt hat . Aber ich will an dieser Stelle auch
deutlich sagen: Auch wenn es ein langer und schwerer
Weg sein wird, sollten wir jetzt gemeinsam im Bundestag
alles dafür tun, das verlorengegangene Vertrauen wieder
zurückzugewinnen . Aus diesem Grund begrüße ich die
hier eingebrachte Initiative der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen ausdrücklich .


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es wäre aus meiner Sicht ein gutes Signal, wenn wir
noch in dieser Legislaturperiode Regelungen in das Par-
teiengesetz aufnehmen, die das Parteiensponsoring trans-
parenter machen .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])


Wir hätten dem vorliegenden Antrag heute gerne zu-
gestimmt . Da aber unser Koalitionspartner bisher nicht
dafür zu gewinnen war, werden wir zu Beginn des kom-
menden Jahres unsere eigenen Vorschläge für mehr
Transparenz beim Sponsoring vorlegen .


(Michael Frieser [CDU/CSU]: Jetzt wird es echt dreist!)


Ich will es hier sehr deutlich sagen, weil ich es auch
belegen kann: Die Vorschläge, die wir machen, fordern
wir als SPD seit 2010. Sie können das in unseren Wahl-
programmen, in den Statements meiner Vorgängerin,
Dr. Barbara Hendricks, nachlesen. Es ist keine Erfin-
dung, die uns jetzt einfällt, weil wir Mist gebaut haben .

Ich will kurz schildern, was aus unserer Sicht wichtig
wäre und was, ohne eine überbordende Bürokratie aufzu-
bauen, getan werden könnte .

Erstens. Wir brauchen im Parteiengesetz eine sehr prä-
zise Definition davon, was wir unter Sponsoring verste-
hen, damit es keine Missverständnisse gibt . Ich glaube,
dass die Definition, wie sie im Erlass des Bundesfinanz-
ministeriums zur steuerlichen Behandlung von Sponso-
ring zu finden ist, eine gute Orientierung wäre.

Zweitens. In den Rechenschaftsberichten der Parteien
sollten Einnahmen aus Sponsoring mit einer neuen ei-
genen Einnahmeposition ausgewiesen werden und nicht
wie bisher in eine Sammelposition eingehen, die einen,
wie ich finde, schönen Titel hat.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Er lautet: „Einnahmen aus Veranstaltungen, Vertrieb von
Druckschriften und Veröffentlichungen und sonstiger
mit Einnahmen verbundener Tätigkeit“ . Ich glaube, es
ist sinnvoll, im Sinne der Transparenz Sponsoring nicht
in einer solchen Sammelposition zu verstecken, sondern
deutlich auszuweisen .


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Frieser [CDU/CSU]: Ministertreffen gehören nicht dazu! Selbst nach der Änderung gehören Ministertreffen nicht dazu!)


Drittens. Es ist auch sinnvoll, eine Veröffentlichungs-
pflicht, vergleichbar mit den Regelungen zu Parteispen-
den im jetzigen Parteiengesetz, zu verankern.

Viertens . Hier gebe ich allen recht, die es angespro-
chen haben . Wir sollten uns darüber verständigen, dass
wir, wenn wir eine neue Regelung schaffen, uns über-
legen, wie wir sie so ausgestalten können, dass wir ört-
liche, lokale Parteiorganisationen vor einer überborden-
den Bürokratie bewahren . Wenn Sie zum Beispiel vom
örtlichen Metzger die Grillwürstchen für ein Sommerfest
gesponsert bekommen, dann müssen Sie nicht ellenlange
bürokratische Wege auf sich nehmen .

Unabhängig von der Frage, wie wir uns hier im Parla-
ment einigen, haben wir – meine Kollegin Fograscher hat
das schon gesagt – uns auf freiwilliger Basis entschieden,
ab dem nächsten Jahr sicherzustellen, dass wir nicht nur
wie bisher die Liste der Sponsoren unserer Parteitage
veröffentlichen, sondern für jede SPD-Veranstaltung die
exakte Höhe des Betrages des jeweiligen Sponsors ver-
öffentlichen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie können mir
wirklich glauben: Die jetzt bekanntgewordenen Vorfälle
sind nicht nur peinlich . Sie ärgern mich deshalb, weil sie
Wasser auf die Mühlen von Populisten sind, deren Partei-
en selbst mit dubiosesten Methoden zur Geldbeschaffung
auffällig geworden sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, damit es
keinen Zweifel gibt, will ich noch einmal betonen: Für

Dietmar Nietan

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20571


(A) (C)



(B) (D)


das, was bei Network Media passiert sein soll oder pas-
siert ist – wir untersuchen es –, tragen wir als SPD eine
Verantwortung . Wir müssen dieser Verantwortung zu-
künftig durch ein besseres Handeln gerecht werden . Auf
der anderen Seite halte ich es für richtig, dass wir für die
Verteidigung einer pluralistischen, an den Werten unse-
res Grundgesetzes orientierten Parteiendemokratie hier
in diesem Hause eine gemeinsame Verantwortung tragen .

Wir sollten deshalb das Anliegen in dem hier vorlie-
genden Antrag von Bündnis 90/Die Grünen nicht nur
ernst nehmen, sondern auch sicherstellen, dass wir eine
entsprechende Regelung möglichst in großer Gemein-
samkeit noch in dieser Legislaturperiode umsetzen, liebe
Kolleginnen und Kollegen .


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich kann Ihnen jedenfalls versichern, dass an der
SPD-Fraktion die Verabschiedung einer guten Regelung
zum Sponsoring im Parteiengesetz noch in dieser Legis-
laturperiode nicht scheitern wird . Hier müssen jetzt ande-
re Farbe bekennen .

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Unerträglich!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820619100

Vielen Dank . – Das Wort hat jetzt die Kollegin Barbara

Woltmann, CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Barbara Woltmann (CDU):
Rede ID: ID1820619200

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Vor einem Jahr – es war auch Adventszeit – ha-
ben wir schon einmal nach zweijähriger sehr intensiver
und heftiger Debatte eine Änderung des Parteiengesetzes
verabschiedet, und in dieser Debatte war auch ein wich-
tiger Punkt, dass wir mehr Transparenz bei der Parteien-
finanzierung schaffen. Ich denke – Kollege Frieser hat
das schon ausgeführt –, das ist uns mit den Änderungen,
die wir seinerzeit ins Gesetz hineingebracht haben, auch
durchaus gelungen .


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht beim Sponsoring!)


Dass wir jetzt erneut über das Thema Transparenz und
die Frage, ob wir genügend Transparenz in der Partei-
enfinanzierung haben, sprechen müssen, ist einem aktu-
ellen Anlass geschuldet . Kollege Nietan, ich bin Ihnen
dankbar, dass Sie hier so offen angesprochen haben, dass
das ein Fehler war und sich so etwas auch nicht wieder-
holen darf . Ich glaube schon, es kann Ihnen nur peinlich
sein, eine Überschrift wie „Rent a Sozi“ in den Medien
zu lesen .


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Bei Rüttgers war es nicht besser, oder?)


Die Überschrift in der taz vom gestrigen Tag lautet:
„Schluss mit Rent-a-Sozi“ . Das macht es auch nicht

wirklich besser, weil diese Art von Überschrift, wenn es
denn so ist, immer eine Art von Käuflichkeit suggeriert.

Ich bin von jeder Art von Schadenfreude weit entfernt .
Denn seien wir doch mal ehrlich: Es fällt doch auf uns
alle zurück, auf die gesamte politische Klasse . Wir alle
müssen dem Eindruck entgegentreten, dass Politik in ir-
gendeiner Art und Weise käuflich sein könnte.


(Beifall des Abg . Alexander Ulrich [DIE LINKE])


Politiker stehen sowieso schon in der Beliebtheitsskala
ganz unten . Insofern sind die Aktivitäten Ihrer Werbe-
agentur, die Sie vorhin erwähnt haben – Network Me-
dia –, absolut kontraproduktiv und insgesamt schädlich .
Dass die betroffenen Politiker – Herr Oppermann hat
teilgenommen, Frau Lambrecht hat teilgenommen, Olaf
Lies, der niedersächsische Wirtschaftsminister von der
SPD, hat teilgenommen – von den Geldzahlungen keine
Kenntnis hatten, macht es ja nicht wirklich besser . Der
Negativeindruck ist erst mal da . Insofern müssen wir al-
les tun, damit sich dies nicht wiederholt .

Ich möchte an die Worte des Kollegen Frieser erin-
nern, der vorhin gesagt hat: Dieser Vorgang hat absolut
nichts mit dem normalen Sponsoring zu tun, sondern da
ist gesagt worden, Ihre Politiker, Ihre Führungskräfte kä-
men nur, wenn eine Summe X gezahlt wird . Auch andere
Parteien haben Fehler gemacht. Ich will uns da nicht aus-
nehmen: Das, was wir 2010 gemacht haben, war auch ein
Fehler. Ich bezeichne es bei jeder Partei als Fehler, wenn
der Eindruck vermittelt wird, mit einem Politiker könne
man nur sprechen, wenn man vorher dafür bezahlt habe .
Das möchte ich nicht .

Ansonsten kann ich zur Parteienfinanzierung insge-
samt nur sagen: Das ist in Artikel 21 Grundgesetz schon
geregelt:

Die Parteien wirken bei der politischen Willens-
bildung … mit . … Sie müssen über die Herkunft
und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermö-
gen … Rechenschaft geben .

Das haben wir ja auch mit der Novellierung im letzten
Jahr gewährleistet . Da gibt es die einschlägige Vorschrift
in § 24 Parteiengesetz.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820619300

Frau Kollegin Woltmann, das ist eine gute Stelle, um

Sie mal zu unterbrechen . Gestatten Sie eine Zwischenfra-
ge der Kollegin Wolff?


Barbara Woltmann (CDU):
Rede ID: ID1820619400

Ich glaube, wir sind schon jetzt in Zeitverzug .


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Ja, 40 Minuten!)


Ich möchte gerne weitermachen .


(Zurufe von der LINKEN: Oh!)


Es gibt viele Möglichkeiten, wie sich Parteien finan-
zieren können: über Mitgliedsbeiträge und Spenden, aber
natürlich auch über Sponsoring . Sponsoring ist ein lega-

Dietmar Nietan

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620572


(A) (C)



(B) (D)


les mögliches Mittel; es ist überprüft worden . GRECO
hat gesagt, es sei verfassungsgemäß, es sei alles in Ord-
nung, wir könnten das so machen . Der werte, geschätzte
Kollege Helmut Brandt, der jetzt nicht mehr da ist, hat
in seiner Rede am 17 . Dezember letzten Jahres – er ist
ja bei uns der zuständige Berichterstatter – schon dazu
ausgeführt, dass § 24 Parteiengesetz das auch mit erfasst.

Ich möchte an dieser Stelle ganz ausdrücklich be-
tonen: Selbst wenn wir wie auch immer geartete Of-
fenlegungs- und Transparenzregelungen bezüglich des
Sponsorings hätten, wäre dieser Fall nicht davon erfasst
gewesen . Ich möchte auch daran erinnern, dass sich jeder
Abgeordnete – es gibt einen Verhaltenskodex, über den
wir diskutiert haben und den wir uns am Anfang dieser
Legislaturperiode gegeben haben – fragen muss: Was tue
ich? Ist das politisch korrekt? Handle ich richtig? Daran
müssen wir uns ausrichten .

Wir halten eine weiter gehende Regelung nicht für
erforderlich, weil wir glauben, dass § 24 Parteiengesetz
das abdeckt . Wenn es gute Vorschläge gibt, wäre ich die
Letzte, die darüber nicht noch einmal gerne redet . Aber
wie gesagt: Dieser Vorgang wäre davon nicht erfasst ge-
wesen .

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820619500

Vielen Dank . Damit sind wir am Ende der Debatte an-

gelangt .

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksa-
che 18/10476 mit dem Titel „Parteiensponsoring regeln“.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Abstim-
mung in der Sache, die Fraktionen der CDU/CSU und
SPD wünschen Überweisung, und zwar zur federführen-
den Beratung an den Innenausschuss und zur Mitbera-
tung an den Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz .

Nach ständiger Übung stimmen wir zunächst über
den Antrag auf Ausschussüberweisung ab . Ich frage
deshalb: Wer stimmt für die beantragte Überweisung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist die
Überweisung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der Opposition beschlossen . Deshalb
stimmen wir über den Antrag auf Drucksache 18/10476
nicht in der Sache ab .

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 c auf:

a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Dritten Gesetzes zur Änderung des Asylbe-
werberleistungsgesetzes

Drucksachen 18/9985, 18/10351, 18/10444
Nr. 1.9

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-

(11 . Ausschuss)


Drucksache 18/10521


(8 . Ausschuss)


Drucksache 18/10522

b) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedar-
fen sowie zur Änderung des Zweiten und
des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch

Drucksachen 18/9984, 18/10349, 18/10444
Nr. 1.8

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-

(11 . Ausschuss)


Drucksache 18/10519


(8 . Ausschuss)


Drucksache 18/10520

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Arbeit und So-
ziales (11 . Ausschuss) zu dem Antrag der Ab-
geordneten Dr . Wolfgang Strengmann-Kuhn,
Kerstin Andreae, Markus Kurth, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Existenzminimum verlässlich absichern,
gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen

Drucksachen 18/10250, 18/10519

Zu beiden Gesetzentwürfen der Bundesregierung liegt
je ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor .
Über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Er-
mittlung von Regelbedarfen werden wir später nament-
lich abstimmen .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach einer interfrak-
tionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minu-
ten vorgesehen . – Ich sehe keinen Widerspruch . Dann ist
so beschlossen .

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bun-
desregierung hat die Parlamentarische Staatssekretärin
Gabriele Lösekrug-Möller .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


G
Gabriele Lösekrug-Möller (SPD):
Rede ID: ID1820619600


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Eines ist klar:
Die existenzsichernden Leistungen müssen sich an den
allgemeinen Lebensverhältnissen und der Wohlstands-
entwicklung orientieren; denn Teilhabe muss auch bei
Leistungsbezug möglich sein . Deshalb ist der Gesetzge-
ber zu Recht verpflichtet, regelmäßig die Leistungssätze
sowohl im SGB II und im SGB XII als auch im Asylbe-
werberleistungsgesetz anzupassen . Mit beiden Gesetzen,
die wir heute abschließend beraten, kommen wir dieser
Verpflichtung nach.

Barbara Woltmann

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20573


(A) (C)



(B) (D)


Schon der ursprüngliche Entwurf des Regelbedarfs-
Ermittlungsgesetzes sah vor, das soziokulturelle Exis-
tenzminimum auf Grundlage des bewährten Statistik-
modells erneut zu bemessen . Ich halte fest: Im Ergebnis
führt das Gesetz unter anderem zu deutlich höheren Re-
gelbedarfen für Kinder in der mittleren Altersstufe sowie
zu moderaten Erhöhungen bei Alleinstehenden und Part-
nern in Paarhaushalten.

Ich begrüße es sehr, dass wir uns im parlamentarischen
Verfahren auf weitere Punkte verständigen konnten, von
denen viele Menschen in unserem Land profitieren wer-
den . So haben wir zum Beispiel das sogenannte Erstren-
tenproblem gelöst . Viele Leistungsberechtigte, die keine
bedarfsdeckende Rente haben, mussten bislang im ersten
Rentenzahlmonat von ihrem Grundsicherungsanspruch
leben, weil die Rente erst am Monatsende überwiesen
wird. Dadurch konnten Betroffene in der Vergangenheit
in eine Notlage geraten . Mit dem vorliegenden Gesetzent-
wurf sorgen wir dafür, dass Leistungsberechtigte künftig
für den entsprechenden Monat ein Überbrückungsdarle-
hen erhalten, das nur in zumutbarer Höhe zurückgezahlt
werden muss .


(Beifall bei der SPD)


Gestern im Ausschuss haben die Oppositionsfraktio-
nen erhebliche Zweifel an der Umsetzung der Vorgaben
des Bundesverfassungsgerichts geäußert . Diese Kritik
wird auch heute zu hören sein . Dazu sage ich ganz klar:
Der Gesetzgeber könnte es sich bei der Bewertung, an
welchem Lebensniveau sich das Existenzminimum be-
misst, natürlich leicht machen und die Referenzgruppe
ganz großzügig bemessen . Dann drückte er sich zwar vor
wertenden Entscheidungen in der Sache, erntete jedoch
den meisten Applaus . Oder er stellt sich wie die Bun-
desregierung der Verantwortung und bekennt Farbe bei
der Frage: Wie viel braucht ein Mensch zum würdevol-
len Leben? Die Bundesregierung hat sich mit ihrem Ge-
setzentwurf für eine verantwortliche und verantwortbare
Neubemessung der Regelbedarfe entschieden . Grundla-
ge ist das bewährte und vom Bundesverfassungsgericht
im Kern bestätigte Verfahren unter Beachtung der höch-
strichterlichen Urteile .

Auch mit dem zweiten heute vorliegenden Gesetzent-
wurf, dem Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung
des Asylbewerberleistungsgesetzes, nehmen wir verant-
wortungsvoll notwendige Anpassungen vor .

Ich bitte Sie um Zustimmung zu beiden Gesetzent-
würfen, damit die Gesetze am 1 . Januar 2017 in Kraft
treten können .

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820619700

Vielen Dank . – Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt

Katja Kipping .


(Beifall bei der LINKEN)



Katja Kipping (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1820619800

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der

Deutsche Gewerkschaftsbund sagt zu dem vorliegenden
Gesetzentwurf aus dem Hause von Andrea Nahles – Zi-
tat –: Aus unserer Sicht sind die Defizite so schwerwie-
gend und vielfältig, dass wir fordern, noch einmal ganz
neu zu rechnen . – Zitat Ende .


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Recht hat er . Was Andrea Nahles hier vorgelegt hat, ist
nichts anderes als das gezielte Kleinrechnen des sozio-
kulturellen Existenzminimums . Und dazu sagen wir als
Linke geschlossen Nein .


(Beifall bei der LINKEN)


Zur Erläuterung: „Soziokulturelles Existenzmini-
mum“ meint, dass der Mensch nicht nur körperlich
überleben soll, sondern auch als soziales Wesen überle-
ben muss . Das heißt eben, dass man nicht nur Geld zum
Essen braucht, sondern auch, um Freunde zu treffen, zu
einem Verein zu fahren oder sich den Bezug einer Tages-
zeitung leisten zu können . Beim soziokulturellen Exis-
tenzminimum handelt es sich um ein Grundrecht . Hier ist
also besondere Sorgfalt gefragt .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Doch Andrea Nahles hat alle Tricks ihrer Vorgänge-
rin mit CDU-Parteibuch faktisch fortgesetzt. Nur zur
Erinnerung, wie der Regelsatz berechnet wird: Mehrere
Haushalte halten über drei Monate ihre Konsumausga-
ben fest, und dann wird von den Ausgaben der ärmeren
dieser Haushalte – es sind die unteren 15 Prozent – das
Existenzminimum abgeleitet . Sie haben die unteren
15 Prozent der Einkommenshierarchie genommen. Nur,
um eine Ahnung davon zu vermitteln, wie arm die Leu-
te sind, von deren Ausgaben wir die Regelsätze ableiten,
sage ich: Das durchschnittliche Einkommen dieser Haus-
halte beträgt 764 Euro . Das heißt, diejenigen, von deren
Ausgaben wir das ableiten, leben weit unter der Armuts-
grenze . In dieser Gruppe sind verdeckt Arme enthalten .

Hinzu kommt, dass Sie jede Menge Abschläge zu-
sätzlich vornehmen . Um einige Beispiele zu nennen:
Die Haftpflichtversicherung, die Malstifte für die Kin-
der in der Freizeit, die Kugel Eis im Sommer, der Grab-
schmuck, der Weihnachtsbaum, das Glas Glühwein auf
dem Weihnachtsmarkt – das alles und vieles mehr ge-
stehen Sie Menschen, die auf Hartz IV angewiesen sind,
nicht zu . Ich muss ganz klar sagen: Das, was CDU/CSU
und SPD hier machen, ist eine große Bevormundung
durch die materielle Daumenschraube, und das ist übel .


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn man nur die offensichtlichen Tricks weglassen
würde, müsste der Regelsatz bei mindestens 560 Euro
liegen .

Nun ist es ja neuerdings Mode geworden, das Problem
Armut zu relativieren und zu sagen: Das ist ja nur ein sta-
tistischer Effekt. – Ich möchte klar festhalten: Es ist sehr

Parl. Staatssekretärin Gabriele Lösekrug-Möller

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620574


(A) (C)



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sinnvoll, Armut im Verhältnis zum gesamtgesellschaftli-
chen Standard zu bemessen .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Darüber hinaus müssen wir aber auch klar sagen:
Hartz-IV-Betroffene hierzulande sind wirklich von ma-
terieller Unterversorgung betroffen. Dazu nur einige
Zahlen: 34 Prozent – das ist also jeder Dritte – sagen,
sie können sich keine notwendigen medizinischen Zu-
satzleistungen leisten; 59 Prozent sagen, sie können
nicht einmal abgenutzte Möbel ersetzen; 69 Prozent der
Hartz-IV-Betroffenen sagen, dass sie sich nicht einmal
eine Woche Urlaub auf niedrigstem Niveau mit ihrer Fa-
milie leisten können; 29 Prozent sagen, dass sie es sich
nicht leisten können, Freunde zu sich nach Hause ein-
zuladen . Um es zusammenzufassen: Für viele Menschen
hierzulande ist Armut wahrlich kein abstraktes Problem,
sondern bittere Realität . Daran muss man etwas ändern .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Katja Mast [SPD]: Indem man sie in Arbeit bringt!)


Unter diesem Tagesordnungspunkt wird auch der
Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des
Asylbewerberleistungsgesetzes behandelt . Das, was
Schwarz-Rot hier vorschlägt, ist schäbig . Es ist Aus-
druck einer wirklichen Ignoranz gegenüber höchstrich-
terlicher Rechtsprechung . Ich kann aus Zeitgründen nur
auf einen Punkt eingehen. Ihr Gesetzentwurf sieht vor,
dass Personen, die in Gemeinschaftsunterkünften leben,
die Leistungen um 10 Prozent gekürzt werden sollen. Sie
unterstellen damit, dass all diese Menschen quasi in einer
eheähnlichen Einstandsgemeinschaft leben . Der Vertre-
ter des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes hatte dafür nur ein
Wort . Er sagte: Das, was Schwarz-Rot hier macht, ist
faktische Zwangsverpartnerung . – Deshalb sagen wir zu
diesem Gesetzentwurf ganz klar und entschieden Nein .


(Beifall bei der LINKEN)


Wir haben angeregt, dass über diesen Gesetzentwurf
namentlich abgestimmt wird, und das aus gutem Grund .
Ich habe in der Vergangenheit auf so mancher Diskus-
sionsveranstaltung vor Wahlen immer wieder den Ein-
druck gehabt: Mensch, in der SPD sitzen echt vernünf-
tige Leute, die verstanden haben, dass Hartz IV, dass die
Agenda 2010 ein Fehler war, und die kritische Punkte
einräumen. – Das Problem ist: Am Tag nach der Wahl ist
das offensichtlich nichts mehr wert. Deswegen steht heu-
te jeder von Ihnen ganz persönlich in der Verantwortung .

Das, was hier vorliegt, bedeutet ganz klar Armut und
materielle Ausgrenzung per Gesetz . Jeder, der diesem
Gesetzentwurf zustimmt, sagt Ja zu Armut und Ausgren-
zung . Wir als Linke sagen Nein dazu . Wir sagen Ja zu
den wirklichen Alternativen . Das sind für uns gute Arbeit
und eine sanktionsfreie Mindestsicherung in Höhe von
mindestens 1 050 Euro .

Vielen Dank .


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820619900

Danke . – Jetzt hat die Kollegin Jana Schimke für die

CDU/CSU-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Jana Schimke (CDU):
Rede ID: ID1820620000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir bera-

ten heute abschließend Gesetzentwürfe, bei denen es um
die Neufestsetzung der Regelbedarfe im SGB II und im
SGB XII sowie im Asylbewerberleistungsgesetz geht . Es
geht also um jene Bereiche unseres Unterstützungssys-
tems, mit denen das Existenzminimum bedürftiger Men-
schen in Deutschland sichergestellt wird . Uns wurde die
Verantwortung zuteil, Wünschenswertes zu berücksich-
tigen, vor allem aber auch im Rahmen des Machbaren
zu bleiben . Schließlich geht es um sehr unterschiedliche
Gruppen von Menschen: Die einen sind dazu aufgerufen,
für ihren Lebensunterhalt möglichst bald wieder alleine
zu sorgen . Die anderen können das aus gesundheitlichen
oder altersbedingten Gründen nicht mehr .

Wenn es ums Geld geht, ist es fast nie möglich, alle
Beteiligten – dazu zähle ich Parteien, Interessensver-
bände oder auch die Bundesländer – zufriedenzustellen .
Deshalb hat eine Reihe von Forderungen keinen Zugang
ins Gesetz gefunden . Das ist auch gut so . Gleichwohl
schaffen wir heute die Grundlage, dass die Hilfebedürfti-
gen in unserem Land weiterhin ausreichende Leistungen
im Sinne des Existenzminimums erhalten . Bedürftige
können weiterhin darauf vertrauen, durch den Staat und
durch die Gemeinschaft unterstützt zu werden .

Maßgeblich dafür ist die aktuelle Einkommens- und
Verbrauchsstichprobe aus dem Jahr 2013 . Sie spiegelt
die Lebensverhältnisse der Haushalte und Menschen in
Deutschland wider und ist damit eine der wichtigsten
amtlichen Statistiken . Wir bleiben ganz bewusst bei die-
ser Methodik zur Berechnung des Regelsatzes, weil sie
sich bewährt hat und den verfassungsrechtlichen Vor-
gaben entspricht . Dies haben sowohl das Bundesverfas-
sungsgericht als auch die Sachverständigen in der erst
kürzlich stattgefundenen öffentlichen Anhörung noch
einmal bestätigt .

Die positiven Signale dieses Gesetzes an die Bürger
zeigen sich einmal mehr in mehrfacher Hinsicht . Zum
einen profitieren Bedürftige von der guten gesamtwirt-
schaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Lage in unse-
rem Land . So steigen die Regelsätze im Sozialgesetz-
buch II und im Sozialgesetzbuch XII um durchschnittlich
5 Euro und für Kinder im Alter von 7 bis 14 Jahren sogar
um 21 Euro. Hier kommen wir den Preissteigerungen der
letzten Jahre in vielen Bereichen nach, beispielsweise
in den Bereichen Nahrung, Kleidung und auch Energie .
Zum anderen sind diese Erhöhungen moderat . Sie sind
ein Signal an die vielen Menschen in unserem Land, die
diese Leistungen mit ihren Steuern und Einkommen fi-
nanzieren . Wir als politische Verantwortungsträger zei-
gen, dass wir verantwortungsvoll mit den Steuergeldern
umgehen .

Sozialpolitik ist aber auch oft eine Gratwanderung
zwischen Anreiz und Fehlanreiz . Deshalb werden wir
als Union unsere Ziele von Sozialpolitik nicht aus dem

Katja Kipping

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20575


(A) (C)



(B) (D)


Blick verlieren. Konkret ist damit das Prinzip von Hil-
fe zur Selbsthilfe gemeint . Ausufernde Regelsätze und
Zusatzleistungen hier und da können dazu führen, dass
Hilfe zu Abhängigkeit führt . Das wollen wir vermeiden .

Es geht aber auch darum, zu prüfen, ob Leistungen
noch zeitgemäß und in der Sache begründet sind . Dies
zeigt sich auch bei den Regelsätzen im Asylbewerber-
leistungsgesetz . Hier kommen wir den vielen Asyl-
rechtsänderungen des vergangenen Jahres nach, und wir
entsprechen unserem Anspruch, vorrangig Sach- statt
Geldleistungen auszugeben. Dies betrifft die Berechnung
der Regelbedarfe . Danach werden wir den notwendigen
Bedarf, zu dem Nahrung, Kleidung, Unterkunft, Ge-
sundheitspflege oder auch Haushaltsprodukte zählen, um
durchschnittlich 17 Euro reduzieren .

Wir führen ebenfalls eine neue, niedrigere Bedarfs-
stufe für erwachsene Leistungsberechtigte in Sammel-
unterkünften ein. Diese Personen teilen sich durch den
gemeinschaftlichen Wohnraum die Kosten . Das werden
wir künftig im Regelsatz berücksichtigen. Hier schaffen
wir in vielerlei Hinsicht Klarheit und auch mehr Gerech-
tigkeit im Sinne aller, die auf staatliche Hilfen angewie-
sen sind .

Weiter schaffen wir Klarheit bei den Menschen mit
Behinderung, die in einer Wohngemeinschaft leben, zum
Beispiel bei den Eltern, bei Freunden oder bei Verwand-
ten . Sie wurden vorher durch die Regelbedarfsstufe 3
erfasst und damit wie Menschen in stationären Einrich-
tungen behandelt . Das Bundessozialgericht hat uns be-
auftragt, das zu ändern . Diese Menschen erhalten künftig
einen höheren Regelsatz .

Meine Damen und Herren, jeder in unserem Land
kann darauf vertrauen, dass er in der Not die notwendige
Unterstützung bekommt . Wir haben deshalb im Bera-
tungsverlauf die Problematik der Erstrentner ausführlich
thematisiert und eine Lösung gefunden .

Diese durch Maß und Mitte geprägten Entscheidun-
gen stehen für eine finanzierbare, nachhaltige und damit
auch gute Sozialpolitik . Eine Gesellschaft muss sich ihre
Standards, die sie sich selbst setzt, auch immer leisten
können im Sinne kommender Generationen und des so-
zialen Friedens innerhalb der Gesellschaft . Genau das
setzen wir mit diesem Gesetz um .

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg . Kerstin Griese [SPD])



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820620100

Vielen Dank . – Nächster Redner ist der Kollege

Dr . Wolfgang Strengmann-Kuhn von der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen .


(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir behandeln heute ein sehr wichtiges Gesetz . Es geht
um das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwür-
digen Existenzminimums. Das betrifft die 8 Millionen

Menschen, die in Deutschland Mindestsicherungsleis-
tungen beziehen, und eigentlich uns alle, auch die, die
Steuern zahlen, weil sich auch der Steuerfreibetrag letzt-
lich aus diesen Berechnungen ableitet . Es ist also ein Ge-
setz, das uns alle betrifft.

Das Existenzminimum wird alle fünf Jahre neu be-
rechnet . Grundlage ist ein sogenanntes Statistikmodell .
Es geht aber nicht darum, das Existenzminimum objektiv
zu bestimmen, sondern dahinter stecken immer norma-
tive Entscheidungen . Die Grundidee ist eigentlich, dass
man eine Referenzgruppe, die ein existenzsicherndes
Einkommen hat, und deren Ausgaben betrachtet und da-
raus den Regelsatz ableitet .

Was die Bundesregierung jetzt allerdings macht, ist
Folgendes: Sie betrachtet eine Referenzgruppe, die sie so
ausgesucht hat, dass das Einkommen gerade etwas über
dem Grundsicherungsniveau liegt . In dieser Referenz-
gruppe sind zudem viele Menschen, die weniger als die
Grundsicherung haben . Dadurch entstehen Zirkelschlüs-
se . Ihr Einkommen beträgt gerade einmal 764 Euro .

Eigentlich müssten zumindest die Gesamtausgaben
der Menschen in dieser Gruppe als Referenzwert genom-
men werden, aber selbst das macht die Bundesregierung
nicht . Von den Ausgaben, die diese Gruppe hat, rechnet
sie 140 Euro herunter und rechnet damit das Existenzmi-
nimum künstlich klein . Es ist eindeutig, dass das Exis-
tenzminimum, das die Bundesregierung hat berechnen
lassen, nicht existenzsichernd ist . Deswegen werden wir
diesen Gesetzentwurf ablehnen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Ich könnte relativ lange darüber reden, was an der
Berechnung der Bundesregierung problematisch ist, und
unsere Alternativen ausführlich darstellen . Ich mache das
jetzt nicht, weil die drei Minuten, die ich noch habe, dazu
nicht ausreichen und ich vermutlich keine zusätzliche
Redezeit bekomme. Frau Präsidentin, ich würde das gern
machen, lasse das aber und verweise auf die Stellung-
nahmen der Sozialverbände und den Alternativvorschlag
in unserem Antrag, der hier heute auch behandelt wird .
Darin steht, wie man das Existenzminimum methodisch
vernünftig und existenzsichernd berechnen könnte . Ich
empfehle das zum Nachlesen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte die Zeit nutzen, um auf zwei aus meiner
Sicht wichtige Punkte hinzuweisen, die in der Debatte
ein Rolle gespielt haben und interessanterweise aus den
Reihen der Unionsfraktion angesprochen worden sind,
die ich für den sozialen Zusammenhalt bei uns für rele-
vant halte, bei denen ich aber andere Schlussfolgerungen
ziehen würde als die Kolleginnen und Kollegen aus der
Unionsfraktion .

Der eine Punkt ist: Wir haben diese Woche gerade die
neuen Zahlen vom Statistischen Bundesamt erhalten,
wonach 8 Millionen Menschen in Deutschland Grund-
sicherungsleistungen beziehen – 8 Millionen, also fast
10 Prozent der Bevölkerung. Nimmt man noch Leistun-
gen nach dem BAföG hinzu, sind es schon 9 Millionen

Jana Schimke

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620576


(A) (C)



(B) (D)


Menschen, die Grundsicherungsleistungen oder ähnliche
Leistungen in Deutschland beziehen .

Kollege Zimmer hat in der ersten Lesung hier im Ple-
num sowie gestern im Ausschuss noch einmal betont:
Wenn man das Existenzminimum ordentlich berechne-
te – wie wir das vorschlagen – oder wir dem Vorschlag
der Linken folgten, hätten wir nicht 8 oder 9 Millionen,
sondern 10 Millionen, 11 Millionen oder noch mehr
Menschen, die Grundsicherungsleistungen beziehen . Da-
mit stieße das bedürftigkeitsgeprüfte Grundsicherungs-
system an seine Grenzen, was durchaus problematisch
wäre . Deswegen ist es aus meiner Sicht wichtig, auch
über Alternativen wie das Grundeinkommen nachzuden-
ken und zu diskutieren .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Man muss aber mindestens dafür sorgen, dass die
Menschen, die eigentlich nicht in das Hartz-IV-Sys-
tem, nicht in die Grundsicherung gehören, dort heraus-
kommen . Dafür haben wir in unserem Rentenkonzept
Vorschläge unterbreitet – vor allen Dingen die grüne
Garantierente –, um Menschen, die lange rentenversiche-
rungspflichtig beschäftigt waren, nicht in die Grundsi-
cherung abrutschen zu lassen .


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die gilt nicht für Bestandsrentner, nur für die Zukunft!)


Und wir werden morgen Vormittag die grüne Kinder-
grundsicherung diskutieren, mit der wir es erreichen,
dass ein großer Teil der jetzt auf Hartz IV angewiesenen
Kinder aus dem Hartz-IV-Bezug herauskommt . Das wäre
das Mindeste, was man an der Stelle tun müsste .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte aber auf eine weitere Gruppe verweisen,
und damit bin ich bei dem zweiten Punkt, der in der gest-
rigen Debatte eine Rolle gespielt hat, nämlich: Was ist
mit den Erwerbstätigen? Müsste es nicht einen Abstand
geben zwischen denen, die erwerbstätig sind, und denen,
die das Existenzminimum erhalten? Ja, ich finde schon.
Auch wenn das Lohnabstandsgebot nicht mehr gilt und
für die Berechnung des Existenzminimums laut Bundes-
verfassungsgericht keine Rolle mehr spielen darf, müs-
sen wir dafür sorgen, dass Menschen, die erwerbstätig
sind, ein höheres Einkommen haben als das Existenzmi-
nimum .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Katja Kipping [DIE LINKE])


Da sind wir alle gefordert, noch einmal über Maßnah-
men nachzudenken, mit denen wir das erreichen . Denn
ich glaube, auch der soziale Zusammenhalt ist gefährdet,
wenn es nicht möglich ist, durch eigene Arbeit mehr zu
bekommen als das Existenzminimum . Das gilt auch für
Teilzeiterwerbstätige und Selbstständige . Ich glaube,
dass da noch eine wichtige Aufgabe vor uns liegt .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auch da könnte ich Vorschläge unterbreiten .

Da aber meine Redezeit um ist, ein kurzes Fazit: Wir
müssen also an zwei Stellen ansetzen . Wir brauchen auf
der einen Seite eine Grundsicherung, die existenzsi-
chernd ist, vor Armut schützt und deren Regelsatz ver-
nünftig berechnet ist . Auf der anderen Seite müssen wir
aber dafür sorgen, dass möglichst wenig Menschen in die
Grundsicherung abrutschen, und dabei vor allem an die
Alten, die Kinder und an die Erwerbstätigen denken . So
wird ein Schuh daraus . Die Bundesregierung macht bei-
des nicht, es wäre aber beides dringend notwendig, um
den sozialen Zusammenhalt bei uns wiederherzustellen .

Vielen Dank .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820620200

Danke schön . – Jetzt hat Kollegin Daniela Kolbe für

die SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Daniela Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1820620300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Es ist gut und entspricht auch dem gesunden
Menschenverstand, dass wir uns die Höhe der Leistungs-
sätze regelmäßig anschauen und den tatsächlichen Le-
benshaltungskosten anpassen . Es ist logisch: Wenn die
Preise steigen, müssen auch die Sozialleistungen steigen.
Deswegen wird regelmäßig eine EVS durchgeführt –
Herr Strengmann-Kuhn hat ein paar grundsätzliche Din-
ge dazu gesagt –, die eine statistische Grundlage dafür
bietet, sich ein Bild zu machen, was man in Deutschland
braucht, um ein würdevolles Leben zu finanzieren und
teilhaben zu können .


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie nehmen aber etwas raus!)


Aber Sie haben völlig recht: Es ist eine normative Ent-
scheidung, es gibt nicht den objektiv richtigen Wert da-
für . Deswegen führen wir, wenn wir uns ehrlich machen,
diese wichtige und auch schwierige Diskussion mitei-
nander .

Dieses soziokulturelle Minimum ist in Deutschland
Gott sei Dank verbrieftes Recht, und zwar nicht nur für
die Empfängerinnen und Empfänger von SGB-II- und
SGB-XII-Leistungen, sondern auch für diejenigen Men-
schen in Deutschland, die Leistungen nach dem Asyl-
bewerberleistungsgesetz erhalten . Dazu möchte ich ein
paar Sätze sagen .

Auch nach dem neuen Asylbewerberleistungsgesetz
steigen die Leistungen, weil die Preise gestiegen sind.
Wenn Sie sich den Gesetzentwurf anschauen, dann wer-
den Sie allerdings feststellen, dass die Auszahlungsbeträ-
ge sinken . Das liegt unter anderem daran, dass nach einer
Einigung der Koalitionsfraktionen einige Dinge zukünf-
tig als Sachleistungen erbracht werden, die deshalb aus
dem Leistungssatz herausgenommen werden . Dazu sage
ich gleich noch mehr .

Wir gleichen das Asylbewerberleistungsgesetz an ei-
nigen Punkten auch an das SGB XII bzw. das SGB II an.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20577


(A) (C)



(B) (D)


Dadurch gibt es hier eine größere Parallelität; das finde
ich auch gut und richtig . Unser System der Sozialgesetz-
gebung ist sehr kompliziert . Deshalb macht es Sinn, an
der einen oder anderen Stelle gleichlaufende Regelungen
zu haben .

Ich freue mich sehr, dass wir es endlich hinbekommen
haben, eine solche gleichlaufende Regelung im Bereich
des Ehrenamtes einzuführen. Zukünftig – ich finde das
vollkommen richtig – werden bis zu 200 Euro anrech-
nungsfrei sein, die ein Geflüchteter, der Leistungen nach
dem Asylbewerberleistungsgesetz erhält, dafür erhält,
dass er sich ehrenamtlich einbringt . Das ist genau die
gleiche Regelung, die auch schon im SGB XII gilt, und
wir freuen uns, dass das jetzt endlich auch für diesen Be-
reich in Kraft treten wird .


(Beifall bei der SPD)


Wir wertschätzen damit das bürgerschaftliche En-
gagement von Geflüchteten, das viele von uns auch aus
ihren Wahlkreisen kennen . Wir fördern den Optimalfall
der Integration und senden das Signal: Liebe Geflüchtete,
ihr seid nicht zur Passivität in diesem Land verdammt,
sondern wir wollen, dass ihr euch einbringt, dass ihr ein
Teil dieser Gesellschaft seid und dass ihr euer Wissen
und Können im Sportverein – oder wo immer ihr das
mögt – teilt . Das ist die herzliche Einladung, die auch
von diesem Gesetzentwurf ausgeht .


(Beifall bei der SPD)


Wir gliedern durch diesen Gesetzentwurf zwei Teile
aus und erbringen sie zukünftig als Sachleistungen, und
zwar die Leistungen für Strom und für Wohnungsin-
standhaltung . Das ist für verschiedenste Konstellationen
prinzipiell durchaus sinnvoll, etwa für Bewohner von
Gemeinschaftsunterkünften, die nicht renovieren, wenn
sie ausziehen, und wo auch nicht jedes Zimmer einen
Stromzähler hat . Diese Ausgliederung steht jetzt im Ge-
setzentwurf .

Wir haben in der Anhörung aber auch durchaus kriti-
sche Stimmen gehört; denn das Leben ist bunt . Es leben
eben nicht alle Bezieherinnen und Bezieher in Gemein-
schaftsunterkünften, sondern manche leben auch in einer
privaten Wohnung . Die Kommunen, die genau das för-
dern, dass Geflüchtete nämlich in privaten Wohnungen
untergebracht werden, fürchten zukünftig einen höheren
Verwaltungsaufwand, weil sie Stromrechnungen einsam-
meln und die Renovierungen klären müssen, und das
nehmen wir sehr ernst .

Außerdem müssen die Betroffenen wissen, dass sie
zukünftig ein Recht darauf haben, die Stromkosten und
die Kosten für die Wohnungsinstandsetzung abzurech-
nen . Womöglich wäre hier eine Kannregelung sinnvoller
gewesen; denn das Leben ist nun einmal bunt .

Wir haben aber etwas anderes getan: Wir werden uns
die Regelung und ihre Wirkungen 2018 noch einmal an-
schauen und genau prüfen, ob wir hiermit den Kommu-
nen einen Gefallen oder ob wir etwas Kontraproduktives
tun . Ich denke, wir werden diese Debatte sowieso stets
weiterführen, und das werden wir auch an dieser Stelle
tun .

Zum Schluss möchte ich noch einen Punkt loswerden,
weil das in der Debatte manchmal ein bisschen schräg
anklingt: Wir Sozis glauben nicht, dass man durch Leis-
tungskürzungen Geflüchtete abschrecken


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


oder davon abbringen kann, nach Deutschland zu kom-
men . Es gibt auch aktuelle Studien, die genau das bele-
gen . Die Leute kommen wegen der Demokratie, wegen
der Freiheit und wegen der Rechtsstaatlichkeit hierher .

Wir finden, dass das Bundesverfassungsgericht hier
einen wichtigen Rechtsgrundsatz formuliert hat, näm-
lich, dass die Festlegung des Existenzminimums eben
nicht migrationspolitisch motiviert sein darf, und dabei
sollte es auch bleiben .

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Katja Kipping [DIE LINKE]: Da haben aber Ihre Kollegen von der CDU etwas anderes erzählt!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820620400

Vielen Dank. – Als Nächstes hat Professor Dr. Matthias

Zimmer für die CDU/CSU-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Matthias Zimmer (CDU):
Rede ID: ID1820620500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Er-

mittlung der Regelbedarfe nach SGB XII ist ein kompli-
ziertes Verfahren .


(Katja Kipping [DIE LINKE]: In der Tat!)


Darüber zu streiten, ob das alles trennscharf ist und wel-
che Gruppen hereingerechnet, herausgerechnet, zu wel-
chem Prozentsatz berücksichtigt werden sollen, ist ein
unendliches Feld der Freude für die Fachwissenschaftler .


(Dr . Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)


Der Kollege Strengmann-Kuhn, der ja Fachwissenschaft-
ler ist, hat uns gerade und auch gestern im Ausschuss ge-
zeigt: Das ist auch ein unendliches Feld der Leidenschaft .


(Dr . Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt auch!)


Man kann es anders machen, als wir es gemacht ha-
ben, man muss es aber nicht . Mir reicht es, dass das Sta-
tistische Bundesamt in der Anhörung bestätigt hat, dass
die Berechnung fachlich in Ordnung ist .


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Du bist ja bescheiden geworden!)


Ähnliches gilt für die Frage der Vereinbarkeit mit der
Verfassung . Der Vorwurf der mangelnden Konformität
mit der Verfassung ist immer schnell bei der Hand . Je-
doch ist das Verfahren 2011 ähnlich durchgeführt wor-
den, ganz ohne Beanstandungen . Für mich bedeutet dies:

Daniela Kolbe

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620578


(A) (C)



(B) (D)


Die Ermittlung der Regelsätze ist sachgemäß und verfas-
sungskonform .


(Beifall bei der CDU/CSU – Beate MüllerGemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber ist es auch gerecht?)


Wir als Union haben uns – auch dies sei gesagt – eini-
gen Wünschen des Koalitionspartners verweigert . Aber
wir haben das mit guten Gründen getan . Drei Bereiche
will ich einmal aufgreifen .

Erstens . Unser Koalitionspartner hätte gerne gesehen,
wenn wir für sogenannte Weiße Ware den Erwerb über
Darlehen bzw . Zuschuss möglich gemacht hätten, also
ganz ähnlich, wie es früher nach dem alten Bundessozi-
alhilfegesetz möglich war . Nun ist die Weiße Ware schon
Bestandteil des Regelsatzes . Mir ist aber auch klar, dass
der dafür vorgesehene Anteil höchst selten zurückgelegt
und gespart wird, wie übrigens auch bei den Haushalten,
deren Einkommen über dem Niveau von Hartz IV liegt .
Ich finde es schwer, zu begründen, dass wir den einen
helfen und den anderen sagen: Schaut ihr einmal selbst
zu, wie ihr das finanziert.

Zweitens: die Frage des Umgangsmehrbedarfs . Ja, es
ist richtig: Das ist ein schwieriges Thema . Besonders das
Argument des Kindeswohls wiegt schwer . Jedoch gibt
es schon heute einen Mehrbedarf für Alleinerziehende;
sie sind in der höheren Regelbedarfsstufe 1 eingeordnet .
Sie erhalten also mehr Leistungen als verheiratete Paare
mit Kindern . Dies jetzt noch einmal auszuweiten, scheint
mir zu Unwuchten zu führen, die schwer zu rechtfertigen
sind,


(Dr . Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht doch um die Kinder und nicht um die Alleinerziehenden!)


zumal unsere Bedenken, was die systematische Benach-
teiligung von Familien und eingetragenen Partnerschaf-
ten durch die unterschiedlichen Regelbedarfsstufen be-
trifft, nicht ausgeräumt sind.

Drittens: die Ausweitung des Bildungs- und Teilha-
bepakets auch auf Nachhilfe zum Bildungsaufstieg . Ich
sage offen: Hier hat es bei uns sehr kontroverse Diskus-
sionen gegeben . Richtig ist: Der Zusammenhang von
sozialer Lage und Bildungschancen muss durchbrochen
werden. Richtig ist aber auch: Die Förderung von Poten-
zialen im Bildungsbereich ist eine Aufgabe der Schulen,
mithin eine öffentliche Aufgabe. Warum soll ich eine ge-
nuin öffentliche Aufgabe privatisieren? Warum sollte ich
hier Anreize für eine Nachhilfeindustrie setzen? Nein,
ich jedenfalls halte dies für falsch . Bildung ist Aufgabe
der Schulen, nicht das Geschäft der Nachhilfe . Die Schu-
len sollen ihren Job richtig machen . Bildungspolitik ist
die Aufgabe der Länder . Den Bund durch die Hintertür in
diese Aufgabe mit hineinzubringen, halte ich für falsch .


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr . Martin Rosemann [SPD]: Dann wäre ja die Konsequenz, das ganze Paket abzuschaffen!)


Ein letzter Gedanke . Transferleistungen müssen er-
wirtschaftet werden . Sie werden auch von denjenigen
erwirtschaftet, deren Einkommen nur einen Wimpern-

schlag über der Grenze für den Bezug der Sozialleistun-
gen liegt . Die Legitimität des solidarischen Miteinanders
in unserer Gesellschaft hängt aber wesentlich davon ab,
dass wir nicht die Ränder stärken, sondern die Mitte der
Gesellschaft, dass wir den Menschen, die arbeiten und
keine Transferleistungen erhalten, das Gefühl geben: Ihr
seid uns wichtig, und zwar nicht nur als Zahlmeister für
gesellschaftliche Randgruppen .


(Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Die haben aber Angst, abzusteigen, und die Angst wird immer größer!)


Wenn wir den Populismus bekämpfen wollen, müssen
wir deutlich machen: Wir wollen nicht die gesellschaft-
lichen Ränder auf Kosten der Mitte stärken, sondern die
Randgruppen in die Mitte integrieren .


(Katja Mast [SPD]: Stimmt! – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erst überlegen, dann sagen!)


Über das, was dies bedeutet, waren wir in der Koalition
durchaus unterschiedlicher Meinung. Ich finde es richtig,
diese Differenzen deutlich zu machen. Sozialpolitische
Probleme sind aus unserer Sicht manchmal eben auch
ordnungspolitische Probleme und nicht, wie es manch
einer denken mag, lediglich finanzpolitische Probleme.

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir die gesell-
schaftliche Ressource Solidarität nicht überstrapazieren
dürfen, wenn wir sie erhalten wollen. Der Populismus
dieser Tage nährt sich nämlich gerade von der Zersetzung
und der Delegitimierung dieser Ressource . „Wehret den
Anfängen“ könnte dann nämlich auch heißen, auch und
gerade in schwierigen Diskussionen über Bedarfe den
Blick auf das Gemeinwohl und die Gesamtgesellschaft
nicht zu verlieren .

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820620600

Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat die Kollegin

Dagmar Schmidt, SPD-Fraktion, das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Dagmar Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820620700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir reden
heute über Gesetze, die mehr als 8 Millionen Menschen
in Deutschland betreffen, davon allein 2 Millionen Kin-
der und noch einmal 260 000, die über den Kinderzu-
schlag von dem betroffen sind, was wir hier und heute
beschließen .

Wir haben uns bei der Methodik für das sogenannte
Statistikmodell entschieden . Ich gebe allen Rednerinnen
und Rednern recht, die heute gesagt haben: Wir müssen
an dieser Stelle ganz besondere Sorgfalt walten lassen,
weil es um viele Menschen geht . Es geht nicht nur um
diejenigen, die im Leistungsbezug nach dem SGB II

Dr. Matthias Zimmer

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20579


(A) (C)



(B) (D)


sind, die Arbeitslosengeld bekommen, die manchmal
jung sind und an ihrer Situation noch etwas verändern
könnten, sondern es geht auch um diejenigen, die alt und
krank sind, die mit einer Behinderung leben und denen
es deswegen nicht mehr möglich ist, an ihrer Situation
etwas zu ändern . Genau deswegen müssen wir eine be-
sondere Sorgfalt an den Tag legen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Auch müssen wir eine besondere Sorgfalt walten lassen,
weil es um viele Kinder geht .

Frau Lösekrug-Möller hat es gesagt: Wir erhöhen die
Regelbedarfsstufe 5 um 21 Euro . Das ist super für all die-
jenigen, die jetzt diese 21 Euro mehr bekommen .


(Beifall des Abg . Dr . Martin Rosemann [SPD])


Aber dies ist auch ein Hinweis darauf, dass wir uns viel-
leicht noch einmal genau angucken müssen, ob unsere
Methodik wirklich ein valides Verfahren darstellt, um ge-
rade für die Kinder angemessene Regelsätze zu ermitteln .
Ich glaube, da haben wir eine Aufgabe für die Zukunft .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die SPD hat es sich zur Aufgabe gemacht, die konkre-
ten Probleme zu lösen, die uns in unseren Bürgersprech-
stunden, bei Gesprächen, die wir führen, auf den Tisch
gelegt werden . Das war zunächst einmal die Frage der
sogenannten Erstrenten, zu denen auch die Staatssekre-
tärin schon etwas gesagt hat . Wer Arbeitslosengeld be-
zieht und dann in Rente geht, der hat bislang zu Beginn
des Monats sein Geld bekommen, bekommt es dann zum
Ende des Monats und hat einen Zeitraum vor sich liegen,
in dem er sehen muss, wie er zurechtkommt . Das wol-
len wir jetzt mit einem Darlehen unterstützen, das nicht
vollständig abbezahlt werden muss . Ich glaube, diese
Problemlösung ist mehr als angemessen angesichts einer
solchen Lücke im sozialen System .


(Beifall bei der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Unterdeckung!)


Wir hätten gerne dasselbe Prinzip, nämlich dass wir
die Menschen nicht aus der Verantwortung lassen, ihnen
aber auch nichts aufbürden, was sie am Ende des Tages
nicht leisten und nicht stemmen können, auch für die
sogenannte Weiße Ware oder für unerwartet steigende
Stromkosten angewandt . Leider hatten wir die Kraft in
dieser Koalition nicht, das auch umzusetzen .


(Kerstin Griese [SPD]: Sehr schade!)


Wir haben eine weitere Diskussion geführt . Dabei
ging es um die Frage der Mobilität . Auch da haben wir
im Vergleich zu der Regelbedarfsermittlung der letzten
Legislatur eine deutliche Verbesserung erzielt . Aber wir
haben noch immer nicht das Problem gelöst, das Men-
schen haben, die im ländlichen Raum leben . Ich weiß
nicht, wie es bei Ihnen ist . Ich komme aus dem ländli-
chen Raum . Nicht alles, was man zum Leben an Mobi-
lität haben muss, ist über den öffentlichen Personennah-
verkehr gewährleistet . Ab einem bestimmten Alter und

auch ab einer bestimmten Steigung ist auch nicht mehr
alles wirklich zwingend mit dem Fahrrad zu erledigen .


(Volker Kauder [CDU/CSU]: E-Bike!)


Ich bin froh, dass wir mit einem Gesetz, das wir heute
Morgen beschlossen haben, wenigstens erreichen konn-
ten, das Schonvermögen im SGB XII so zu erhöhen, dass
ein günstiger Pkw darunterfällt. Das ist zumindest ein
kleiner Schritt .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich bin besonders traurig darüber, dass wir Folgendes
nicht geschafft haben – Ordnungspolitik hin oder her; die
Debatte hätten Sie schon mit Frau von der Leyen führen
müssen, als Sie das Grundprinzip eingeführt haben –:
Die jetzige Situation, dass Lernförderung in Form von
Nachhilfe nur für diejenigen Kinder gilt, die akut davon
betroffen sind, sitzen zu bleiben, und ich keine Möglich-
keit habe, denjenigen Kindern Nachhilfe zu geben, die
das Potenzial, das Talent und den Willen haben, sich zu
verbessern, vom B- in den A-Kurs, von der Hauptschule
in die Realschule zu kommen, ist etwas, was ich schon
ziemlich bitter finde und was wir uns hätten leisten müs-
sen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein weiterer Punkt war die Frage des Umgangsmehr-
bedarfs . Auch dazu haben wir eine lange Diskussion
geführt . Dabei geht es darum, dass Menschen, die ihre
Kinder in zwei Haushalten aufziehen, weil sie getrennt
leben, einfach höhere Kosten haben, und diese an dieser
Stelle auch berücksichtigt werden müssten . Dazu, das
durchzusetzen, hatten wir ebenfalls nicht die Kraft – ich
hoffe, dass wir auch das irgendwann wieder auf die Ta-
gesordnung setzen können –;


(Dr . Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nach der nächsten Bundestagswahl machen wir das!)


das ist sehr schade . Auch das wäre eine wichtige sozial-
politische Maßnahme gewesen .


(Beifall bei der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820620800

Frau Kollegin Schmidt, denken Sie bitte an die Zeit .


Dagmar Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820620900

Ich denke an die Zeit, habe aber noch einen grundsätz-

lichen Punkt, den ich gerne loswerden möchte.

Da hier immer nur über die Höhe der Transferleis-
tungen geredet wird: Es geht nicht nur um die Höhe
der Transferleistungen, sondern auch um eine soziale
Infrastruktur, die wir für alle Menschen ausbauen müs-
sen . Wenn ich mir anschaue, was diese Koalition für die
Kommunen auf den Weg gebracht und geleistet hat, dann
kann ich nur feststellen, dass das ein wichtiger sozialpo-
litischer Beitrag ist .


(Beifall bei der SPD)


Dagmar Schmidt (Wetzlar)


Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620580


(A) (C)



(B) (D)


Wir dürfen diejenigen, die nicht auf der Sonnenseite des
Lebens stehen, nicht vernachlässigen .

In diesem Sinne: Glück auf und noch einen schönen
Abend!


(Beifall bei der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820621000

Vielen Dank . – Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt

der Kollege Tobias Zech das Wort .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Tobias Zech (CSU):
Rede ID: ID1820621100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist

unser gesetzlicher Auftrag, über die Regelbedarfe zu ent-
scheiden . Deshalb sind wir heute hier . Ich möchte Sie aber
auch daran erinnern, dass wir aufgrund unseres christli-
chen, wertegeleiteten Menschenbildes die Aufgabe ha-
ben, Regelsätze zu bestimmen, die eine gesellschaftliche
und kulturelle Teilnahme am Leben ermöglichen . Das
ist uns hiermit gelungen . In der katholischen Soziallehre
geht es um Solidarität und Subsidiarität, aber auch um
die Achtung des Gemeinwohls . Alle drei stehen neben-
einander . Alle drei sind gleich wichtig . Alle drei erfüllen
wir mit den beiden Gesetzen . Die Gesetze sind sachlich
richtig und verfassungsgemäß . Die Berechnungen stim-
men . Somit können wir ohne Weiteres zustimmen .

Wir stimmen heute über den Entwurf eines Geset-
zes ab, das in der Regel höhere Regelbedarfe vorsieht .
Meine Vorredner haben schon erwähnt, dass die Regel-
bedarfserhöhung bei Kindern zwischen 14 und 17 Jahre
21 Euro beträgt . Natürlich nutzen wir die Einkommens-
und Verbrauchsstichprobe, um beide Gesetze, sowohl
das Asylbewerberleistungsgesetz als auch das Gesetz zur
Ermittlung von Regelbedarfen, zu evaluieren und wei-
terzuentwickeln . Wenn wir an die Diskussionen in den
80er-Jahren zurückdenken, als es noch darum ging, ob
eine Kinokarte oder eine Zugfahrkarte zum Warenkorb
gehören, dann können wir feststellen, dass die Methodik,
die wir jetzt anwenden, wesentlich transparenter, ehrli-
cher und näher an den Menschen ist .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Wir haben auch Änderungen vorgenommen . Liebe
Dagmar Schmidt, es sind sicherlich nicht alle Änderun-
gen berücksichtigt worden, die wünschenswert gewesen
wären . Aber wir haben das Gesetz geändert, und zwar
in die richtige Richtung . Wir haben die Überbrückung
der Erstrenten eingeführt; das ist wichtig . Kollegin Mast,
das, was wir nun korrigieren, hat Rot-Grün eingeführt .
Wir haben es nun gemeinsam repariert . Es gibt allerdings
noch viel zu reparieren . Seien Sie doch einmal zufrieden
mit dem, was wir geändert haben . Der Teufel steckt be-
kanntlich im Detail . Die Nachhilfe wurde bereits als Bei-
spiel genannt . Der Kollege Zimmer hat sehr eindrucks-
voll dargelegt, wo überall Schwierigkeiten bestehen .


(Katja Mast [SPD]: Das hat er nicht!)


– Das sehen Sie anders als ich . Aber Sie erlauben mir
sicherlich meine eigene Meinung . Ich gestehe Ihnen Ihre
eigene auch zu .

So schwierig das alles im Detail ist – wir haben das
in der Anhörung und in der sehr emotionalen und guten
Ausschusssitzung erlebt –, so wichtig ist, dass wir die
Grundpfeiler Solidarität, Gemeinwohl und Subsidiarität
nicht vernachlässigen . Bildung ist in diesem Land Län-
dersache . Daher dürfen wir die Länder auch nicht der
Exkulpation zuführen . Die Länder haben sich darum zu
kümmern, dass jedem Kind – gleich welcher sozialen
Herkunft und gleich welcher finanziellen Verhältnisse –
Bildungschancen eröffnet werden. Wir müssen die Län-
der in die Pflicht nehmen und dürfen nicht in vorausei-
lendem Gehorsam finanzieren.

Wir beschließen zudem Änderungen des Asylbewer-
berleistungsgesetzes . Diese sind folgerichtig . Wir folgen
somit den Beschlüssen des Koalitionsausschusses vom
April dieses Jahres . Wir werden alles dafür tun, um die
Sachleistungen in den Vordergrund zu stellen . Sie dürfen
mit Geldleistungen verrechnet werden; das ist richtig .
Kollege Strengmann-Kuhn, das ist auch verfassungskon-
form und ist somit nicht zu kritisieren .

Wir müssen das Asylbewerberleistungsgesetz auf-
grund der Diskussionen in unserem Land und aufgrund
des Populismus, der über das Thema Asyl über uns alle
hereinbricht, offen und transparent debattieren. Das tun
wir heute . Dazu ist die Änderung im Gesetz notwendig .

Wir haben neben dem Fokus auf Sachleistungen statt
Geldleistungen mit der Adaption der Regelung über die
Steuerfreiheit von ehrenamtlichen Bezügen analog zum
SGB XII auch Erleichterungen geschaffen. Diese Er-
leichterungen können für eine bessere Integration ge-
nutzt werden .

Es ist ein schwieriges Thema . Der Teufel liegt im De-
tail . Man kann über jede einzelne Ausgabe länger strei-
ten . Ich bin mir aber sicher, dass wir hier zwei Gesetze
verabschieden, die den Grundgedanken der Werte der so-
zialen Marktwirtschaft in diesem Land gerecht werden .
Wir dürfen und müssen uns bei unserer Politik an den
Rändern orientieren, aber wir müssen immer die Mitte
im Fokus haben. Das schaffen wir damit. Ich bitte um
Zustimmung .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1820621200

Ich schließe die Aussprache .

Wir kommen nun zu den Abstimmungen . Zunächst
kommen wir unter Tagesordnungspunkt 9 a zur Abstim-
mung über den von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Asyl-
bewerberleistungsgesetzes . Der Ausschuss für Arbeit
und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf der Drucksache 18/10521, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf den Ihnen bekannten Drucksachen
in der Ausschussfassung anzunehmen . Ich bitte dieje-

Dagmar Schmidt (Wetzlar)


Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20581


(A) (C)



(B) (D)


nigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
zustimmen wollen, um das Handzeichen . – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzent-
wurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition
gegen die Stimmen der Opposition angenommen .

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung . Wer dem Gesetzentwurf in die-
ser Ausschussfassung zustimmen will, den bitte ich, sich
vom Platz zu erheben. – Das läuft auf ein ähnliches Ab-
stimmungsergebnis hinaus . Wer ist dagegen? –


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Herr Präsident, bitte schauen Sie nach rechts!)


– Ja, der Hinweis ist völlig richtig . – Wer nicht gegen das
Gesetz stimmen will, der möge sich von den noch gar
nicht freigegebenen Urnen entfernen .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Selbst wenn ich jetzt zugunsten der Opposition eine
Reihe von Kolleginnen und Kollegen, die immerhin
am Rande des Plenums hinten stehen, den abgegebe-
nen Neinstimmen hinzurechnen würde, wäre das Erste
immer noch die Mehrheit . Damit ist der Gesetzentwurf
angenommen .


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Einen Versuch war es wert!)


– Der Versuch war zulässig . Er ist auch mit dem entspre-
chenden Ergebnis abgewickelt worden .

Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke auf der Drucksache 18/10531 ab . Wer
stimmt diesem Entschließungsantrag zu? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Bei umgekehrter Stim-
menverteilung ist der Entschließungsantrag mehrheitlich
abgelehnt .

Unter dem Tagesordnungspunkt 9 b geht es um die
Abstimmung über den von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von
Regelbedarfen sowie zur Änderung des Zweiten und des
Zwölften Buches Sozialgesetzbuch . Der Ausschuss für
Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf der Drucksache 18/10519, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung in der Ausschussfas-
sung anzunehmen . Diejenigen, die diesem Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung zustimmen wollen – –

Da gibt es schon wieder das gleiche Problem. Ich ma-
che schon vorher darauf aufmerksam: Es beschleunigt
das Verfahren nicht, wenn sich alle um die noch nicht
vorhandenen Abstimmungsurnen drängen .

Diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss-
fassung zustimmen wollen, bitte ich um das Handzei-
chen . – Wer stimmt dagegen? – Damit ist der Gesetzent-
wurf in zweiter Beratung angenommen .

Jetzt muss sich jeder, der steht, überlegen, wofür er
stimmen will . Jedenfalls können Sie nicht gleichzeitig
für und gegen den gleichen Gesetzentwurf stimmen . Es
gibt auch noch ein paar einzelne Plätze. Insofern ist es
zumutbar, sich zu setzen .

Wir kommen zur

dritten Beratung

und Schlussabstimmung . Wir stimmen auf Verlangen der
Fraktion Die Linke über den Gesetzentwurf namentlich
ab . Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle Plätze an
den Urnen besetzt? – Das ist offenkundig der Fall. Dann
eröffne ich die Abstimmung.

Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das sei-
ne Stimmkarte nicht abgegeben hat? – Das scheint nicht
der Fall zu sein . Dann schließe ich die Abstimmung und
bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der
Auszählung zu beginnen . Das Ergebnis teilen wir dann
anschließend mit .1)

Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion Die Linke auf der
Drucksache 18/10532 . Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? – Leichte Irritation bei der Fraktion der
Grünen? – Seid ihr wieder sortiert?


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alles gut! Wir sind im Film!)


– Gut . – Wer stimmt dafür? – Die Antragsteller . Wer
stimmt dagegen? – Die Koalition . Wer enthält sich? –
Die Grünen . Ja, passt doch . Der Entschließungsantrag ist
mehrheitlich abgelehnt .

Tagesordnungspunkt 9 c . Wir setzen die Abstimmung
zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses auf der
Drucksache 18/10519 fort. Der Ausschuss empfiehlt un-
ter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ableh-
nung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
mit dem Titel „Existenzminimum verlässlich absichern,
gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen“ . Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Mit den Stimmen der Koalition ist die
Beschlussempfehlung mehrheitlich angenommen .

Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11 . Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Klaus Ernst, Herbert Behrens,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Die Wahl von Betriebsräten erleichtern
und die betriebliche Interessenvertretung
sicherstellen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Beate
Müller-Gemmeke, Katja Keul, Dr . Thomas
Gambke, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Mehr Betriebsrätinnen und Betriebsräte
braucht das Land

Drucksachen 18/5327, 18/2750, 18/7595

1) Ergebnis Seite 20587 C

Präsident Dr. Norbert Lammert

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620582


(A) (C)



(B) (D)


Das soll in 38 Minuten abgehandelt werden . Hat je-
mand weiter gehende Vorschläge? – Das ist offenkundig
nicht der Fall . Dann versuchen wir das einmal .

Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem
Kollegen Bernd Rützel für die SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Bernd Rützel (SPD):
Rede ID: ID1820621300

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Lie-

be Kollegen! Sehr geehrte Damen! Sehr geehrte Herren!
Es ist mir völlig unverständlich, dass die Mitbestimmung
trotz ihrer wirklich großen Erfolge so in die Defensive
geraten ist – ja, das ist sie – ; deshalb bin ich den Linken
und den Grünen wirklich dankbar, dass sie dieses Thema
immer wieder auf die Tagesordnung setzen .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, dann stimmt ihr heute unserem Antrag zu, oder?)


Sie stoßen bei uns auf offene Ohren.

Gleichwohl will ich Ihnen sagen, dass Ihre Anträge
zwar grundsätzlich in die richtige Richtung gehen, von
uns aber nicht angenommen werden können . Das liegt ei-
nerseits an manchem Unausgegorenem, aber andererseits
auch daran – das ist kein Geheimnis –, dass wir mit un-
serem Koalitionspartner nicht allzu viel aus dem Bereich
Mitbestimmung in den Koalitionsvertrag hineinverhan-
deln konnten .

Kaum jemand hier im Hause wird wohl bestreiten,
dass die Mitbestimmung seit Jahrzehnten eine tragende
Säule der deutschen Sozial- und Wirtschaftspolitik ist,
dass sie Ausgleich und sozialen Frieden schafft.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Die Mitbestimmung hat uns Teilhabe der Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer am Produktionsfortschritt
und Planungssicherheit für die Unternehmen gesichert.
Selbst Michael Rogowski, der noch 2004 als Präsident
des BDI die Mitbestimmung als „Irrtum der Geschichte“
bezeichnet hat, dürfte spätestens seit der Finanzkrise be-
kehrt sein; ich hoffe es zumindest.

Dank der Mitbestimmung ist Deutschland so gut wie
kein anderes Land durch die Finanzkrise 2008/2009 ge-
kommen .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Dank ihr gibt es ein seit Jahrzehnten erprobtes Vertrau-
ensverhältnis zwischen Beschäftigten und Arbeitgebern .
Eben durch dieses Vertrauensverhältnis konnten Be-
schäftigte und Arbeitgeber gemeinsam Massenentlassun-
gen und Betriebsschließungen oftmals verhindern . Auch
Gerhard Cromme, der damalige Aufsichtsratsvorsitzen-
de von ThyssenKrupp und von Siemens bestätigte im
März 2012 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:

Die Mitbestimmung in Deutschland hat in der Krise
enorm geholfen .

Dennoch haben nur 42 Prozent aller Betriebe in West-
deutschland und nur 33 Prozent aller Betriebe in Ost-
deutschland eine betriebliche Interessensvertretung .


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deswegen muss die Mitbestimmung gestärkt werden!)


Deswegen müssen wir die Mitbestimmung stärken .

Übrigens, neulich hatte ich in meinem Wahlkreisbüro
die Gewerkschaft der Profifußballer zu Gast.


(Daniela Kolbe [SPD]: Oh!)


– „Oh!“ – Sie sind organisiert; sie haben sich organisiert .
Das sollte manchem vielleicht zu denken geben. Ich finde
es sehr gut, dass sich die Profifußballer organisieren. Das
sollte ein Beispiel für viele andere sein .

Einige Arbeitgeber fürchten aber Betriebsratsgrün-
dungen wie der Teufel das Weihwasser .


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Betriebsräte werden systematisch bekämpft!)


Sie wehren sich mit allen zur Verfügung stehenden Mit-
teln, teilweise am Rande der Legalität und oftmals auch
darüber hinaus . Sie bekämpfen systematisch die Grün-
dung von Betriebsräten . Dementsprechend ist mittler-
weile ein juristisches Beratungsfachgebiet entstanden .
Wo man früher vielleicht noch versuchte, den einen oder
anderen Vorgang einer Betriebsratsgründung durch Zu-
geständnisse oder durch eine Schönrednerei aus dem
Weg zu räumen, so beauftragt man heute sofort Kanz-
leien – sehr teure Kanzleien – und greift auch sofort zur
Kündigung . Man heizt das Union Busting deutlich an .

Erst letzte Woche habe ich mit Vertretern der IG Me-
tall zusammengesessen . Die Geschichten, die ich dort
über Schikanen, Benachteiligungen, Verdächtigungen
und Abmahnungen hörte, waren haarsträubend .


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und was macht der Gesetzgeber?)


Wir brauchen eine bessere Lösung mit Blick auf die
Strafverfolgung .

Ich habe das selber in meinem Wahlkreis miterlebt, als
eine Großbäckerei – ich habe das an dieser Stelle schon
einmal ausgeführt – ihren gewählten Betriebsratsvor-
sitzenden entlassen hat – trotz der Unterstützung durch
die Gewerkschaft NGG, trotz riesengroßer Medienkam-
pagnen und Berichterstattungen in der Zeitung und im
Fernsehen, trotz aller Interventionen von Mandatsträge-
rinnen, von Abgeordneten . Der Mann war raus . Er hat
verloren, ist zermürbt und kann auch nicht mehr zurück .

Für Unternehmen, die solche Methoden anwenden,
fehlen mir die Worte . Sie werden jedenfalls nicht erfolg-
reich sein .

Ich war lange selber Betriebsrat . Ich war Jugendver-
treter, später Personal- und dann Betriebsrat. Ich weiß,
dass die Politik die Mitbestimmung – da hast du voll-

Präsident Dr. Norbert Lammert

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20583


(A) (C)



(B) (D)


kommen recht, Beate – und damit die Personal- und Be-
triebsräte stärken muss. Die Politik ist hier gefordert.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann liegt was auf dem Tisch?)


Die Mitbestimmung ist ein Erfolgsmodell, auch wenn
das nicht oder vielleicht noch nicht allen Arbeitgebern
klar ist . Deutschland geht es gut – nicht trotz der Mitbe-
stimmung, sondern wegen der Mitbestimmung .

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1820621400

Jutta Krellmann ist die nächste Rednerin für die Frak-

tion Die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Jutta Krellmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1820621500

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Was fangen wir damit jetzt an?


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Arbeitgeber, die Betriebsräte systematisch behindern,
gehören ins Gefängnis! – Das ist eine von 300 Antworten
auf die Frage, wie Betriebsräte besser geschützt werden
können .


(Bernd Rützel [SPD]: Was steht denn auf dem Zettel in Ihrer Hand?)


– Da steht: Gefängnisstrafen für Geschäftsführer und
Vorstände .


(Bernd Rützel [SPD]: Wer will das?)


– Das will ich gerade erzählen . Zuhören!

Darüber hat Die Linke letzten Freitag mit 250 Be-
triebs- und Personalräten im Bundestag diskutiert. Die
Schärfe der Forderung zeigt die tiefe Empörung der Be-
troffenen.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Gegensatz zu bezahlten Managern werden Be-
triebsräte von der Mehrheit der Beschäftigten im Betrieb
gewählt . Aber wer sich für Demokratie im Betrieb ein-
setzt, der lebt gefährlich . Denn Betriebsräte oder Be-
schäftigte, die einen Betriebsrat gründen wollen, werden
zunehmend eingeschüchtert, systematisch kaltgestellt
oder direkt gekündigt . Ob im Einzelhandel, der System-
gastronomie oder anderswo: Einige Arbeitgeber wollen
betriebsrats- und gewerkschaftsfreie Zonen schaffen, und
dazu scheint ihnen jedes Mittel recht . Dazu engagieren
sie Anwälte, die die Betroffenen mit Kündigungen über-
ziehen, egal, ob berechtigt oder nicht . Dazu beschäftigen
sie Detektive, die die Betroffene ausspionieren.

Im Kern geht es darum, die Betroffenen mürbe zu ma-
chen und sie zu brechen . Dieses System nennt sich Uni-

on Busting und wird in Deutschland immer salonfähiger .
Demokratie darf aber nicht am Werkstor enden!


(Beifall bei der LINKEN)


Richtig ist: Verstöße gegen die Betriebsverfassung
sind kein Kavaliersdelikt, sondern eine Straftat . Im Be-
triebsverfassungsgesetz heißt es in § 119: „Mit Freiheits-
strafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird bestraft,
wer eine Wahl des Betriebsrats ... beeinflusst“ oder des-
sen Tätigkeit „behindert oder stört“ . Ich bin seit 30 Jah-
ren Gewerkschaftssekretärin, aber ich kenne keinen Ar-
beitgeber, der wegen Betriebsratsbehinderung wirklich
im Knast gelandet ist .

Um Straftaten festzustellen, bräuchten die Arbeitsge-
richte Ermittlungskompetenzen wie jedes andere Gerich-
te auch . Hier muss der Gesetzgeber handeln:


(Beifall der Abg. Karin Binder [DIE LINKE])


Wir brauchen Schwerpunktstaatsanwaltschaften, um sol-
che Vergehen gezielt zu verfolgen .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Aber der Gesetzgeber kann oder könnte noch mehr
tun . Die Linke fordert ein einheitliches Wahlverfahren
und fordert, dass der Kündigungsschutz für alle Kandi-
dierenden ausgeweitet und verlängert wird .


(Bernd Rützel [SPD]: Da machen wir mit!)


Der Einsatz von externem Sachverstand muss erleich-
tert werden . Genauso muss die Freistellung an heutige
Anforderungen angepasst werden . Wir fordern eine Be-
weislastumkehr bei der Feststellung der Erforderlichkeit
von Betriebsratsarbeit . Es kann doch nicht sein, dass
beispielsweise bei H&M eine Teilzeitbeschäftigte durch
Gehaltskürzung wegen ihrer Betriebsratstätigkeit in ihrer
Existenz bedroht wird .


(Beifall bei der LINKEN)


Den Bundesregierungen der letzten 20 Jahre verdan-
ken wir neben zwei Klassen von Belegschaften auch
zwei Klassen von Betriebsräten: Betriebsräte, die seit
Jahrzehnten verankert sind – der Kollege Rützel hat dazu
schon etwas gesagt –, und Betriebsräte in Betrieben, in
denen es bisher keine Mitbestimmung gab und die den
Allmachtsfantasien ihrer Arbeitgeber schutzlos ausgelie-
fert sind. Politik muss diejenigen schützen, die von ihren
Arbeitgebern zum Abschuss freigegeben werden .


(Beifall bei der LINKEN)


Die Arbeitswelt verändert sich, aber der Konflikt
bleibt der alte: der Interessengegensatz zwischen Arbeit
und Kapital . Auch bei der Arbeit der Zukunft ist die ent-
scheidende Frage, ob diejenigen, die die Werte erarbei-
ten, mitentscheiden können oder nicht .

Unser Antrag ist heute nur der Anfang . Wir streiten
auch 2017 im Bundestag für die Rechte der Betriebsräte .

Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
SPD: Sie könnten heute schon etwas machen. Ich wun-
dere mich sehr, dass Sie einerseits Betriebsräte unterstüt-

Bernd Rützel

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620584


(A) (C)



(B) (D)


zen, aber heute vermutlich gegen unseren Antrag stim-
men werden . Das ist doch einfach nicht glaubwürdig .


(Zuruf des Abg. Bernd Rützel [SPD])


Ziehen Sie die Korsettstangen ein, und stimmen Sie ge-
meinsam mit uns für den Antrag, damit für die Betriebs-
räte da draußen endlich etwas passiert, damit sie ihren
Glauben an die Politik wiederfinden und sehen, dass für
sie etwas gemacht wird .

Vielen Dank .


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1820621600

Für die Unionsfraktion hat jetzt der Kollege Wilfried

Oellers das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Wilfried Oellers (CDU):
Rede ID: ID1820621700

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Deutschland ist nicht nur ein wirtschaftlich starkes
Land, sondern wir leben hier auch die weltweit ausge-
prägteste Form der Beziehung zwischen Unternehmer
und Mitarbeiter . Das ist, auch was die Gesetzgebung
betrifft, maßgeblich auf unionsgeführte Regierungen zu-
rückzuführen .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Sie wird getragen von der Tarifautonomie und der be-
trieblichen Mitbestimmung .


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Was hat denn die Tarifautonomie damit zu tun?)


Neben dem erfolgreichen Unternehmertum in
Deutschland mit den vielen mittelständischen und fami-
liengeprägten Unternehmen, den Groß- und Kleinbetrie-
ben mit ihren klugen Köpfen sind es aber gerade auch
diese beiden Säulen der industriellen Beziehung, die
Deutschland und die Menschen zu Wohlstand gebracht
haben . Wie wichtig dies für eine erfolgreiche und funk-
tionierende Wirtschaft ist, dafür, wie gut und verlässlich
sie funktioniert, das sieht man insbesondere in Krisenzei-
ten; Bernd Rützel hat es schon angesprochen . Gerade die
Erinnerungen an 2009 zeigen, wie wichtig es war, dass
man auf diese beiden Säulen zurückgreifen konnte . Ge-
rade diese beiden Säulen waren es, die uns weitgehend
schadlos durch die Krise geführt haben, aber vor allen
Dingen anschließend noch viel stärker aus der Krise
haben herauskommen lassen . Das sehen wir heute ins-
besondere an dem historischen Tiefststand der Arbeits-
losenzahl – circa 2,5 Millionen Arbeitslose – und an der
Rekordbeschäftigungszahl .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


In dieser Beziehung ist es wichtig, dass Verständnis
für die Situation des jeweils anderen aufgebracht wird
und dass Lösungen gefunden werden, die die Interessen
beider Seiten berücksichtigen . Das ist natürlich nicht
immer einfach . Es führt zu intensiven und kontroversen

Diskussionen . Schließlich wollen beide Seiten voran-
kommen: Die Unternehmer wollen auf der einen Seite
bestimmte Vorstellungen umsetzen, wie man den Betrieb
erfolgreich weiterentwickeln kann . Auf der anderen Seite
möchten die Mitarbeiter eine Teilhabe an den Erfolgen
erhalten, insbesondere aber auch in bestimmten Ange-
legenheiten mitreden können, Einfluss nehmen können
und Ideen einbringen können . Wichtig erscheint mir in
diesem Verhältnis, dass beide Seiten bei ihrem Handeln
stets im Auge behalten, was der jeweils andere tut . Da,
wo es funktioniert, funktioniert es wirklich richtig gut .
Dort sind auch die Betriebe erfolgreich .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . Bernd Rützel [SPD])


Natürlich ist es wünschenswert, dass von diesem er-
folgreichen Modell, so gut es geht und so viel es geht,
Gebrauch gemacht wird . Die Beschäftigtenzahlen, die
durch die heute in Rede stehenden Betriebsräte vertre-
ten werden, sind, wenn man die letzten 15 Jahre betrach-
tet, leider leicht rückläufig. Dabei ist festzustellen, dass
mit zunehmender Betriebsgröße der Organisationsgrad
zunimmt . Kleinere Betriebe – das verwundert natürlich
nicht – haben oft keinen so großen Organisationsgrad .
Das ist auch dem Umstand geschuldet, dass dort enge-
rer Kontakt zu dem Unternehmen besteht und dass das
Näheverhältnis dazu führt, dass Probleme konkreter an-
gegangen werden .

Nicht unerwähnt bleiben soll auch, dass es neben den
Betriebsräten auch weitere Einrichtungen gibt, wie zum
Beispiel die Schwerbehindertenvertretung oder die Frau-
enbeauftragten in Unternehmen, die Interessen wahr-
nehmen . Sicherlich ist zu berücksichtigen, dass die Mit-
bestimmung in den unterschiedlichsten Branchen auch
unterschiedlich stark verankert ist . Das hat aber auch
zum Teil historische Gründe . Zu betonen ist allerdings,
dass die Rechte der Betriebsräte im Betriebsverfassungs-
gesetz umfassend geregelt sind . Bereits ab fünf Mitarbei-
tern kann ein Betriebsrat gegründet werden . Er hat dann
umfangreiche Rechte wie Unterrichtungsrechte, Anhö-
rungsrechte, Informationsrechte, Mitbestimmungsrech-
te, Beratungsrechte usw . Sie beziehen sich nicht nur auf
Personalangelegenheiten, sondern unter anderem auch
auf die Gestaltung von Arbeitsplätzen und Arbeitsabläu-
fen . Betriebsräte genießen auch einen speziellen Kündi-
gungsschutz . Deswegen kann ich das Beispiel, das du,
Bernd, zitiert hast, nicht nachvollziehen; aber das scheint
es ja zu geben .


(Bernd Rützel [SPD]: Leider! – Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Aber das sind Anwälte! Das ist Ihre Berufsgruppe!)


Zu erwähnen ist, dass in dem Gesetzespaket zu den
Werkverträgen und zur Zeitarbeit die Informationsrechte
der Betriebsräte konkretisiert worden sind .


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darum geht es doch gar nicht!)


Darüber hinaus erlaube ich mir auch, darauf hinzuwei-
sen, dass wir heute Morgen mit dem Bundesteilhabege-

Jutta Krellmann

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20585


(A) (C)



(B) (D)


setz auch die Rechte der Schwerbehindertenvertretungen
gestärkt haben . Das ist sicher ein anderes Thema,


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


aber ich möchte es trotzdem an dieser Stelle erwähnt ha-
ben .

Insgesamt denke ich, dass die derzeitige Rechtslage
umfangreich ist und viele Schutzmechanismen hat . Sie
stellt ein ausgewogenes Konstrukt dar . Schaue ich mir
die Anträge an, die heute zu diskutieren sind, so möchte
ich dazu sagen, dass sie entweder nicht nötig – ich erläu-
tere das gleich näher – oder vielleicht etwas unverhält-
nismäßig sind .

Ich komme zu dem Beispiel, dass Mitglieder in Wahl-
vorständen und Beschäftigte, die erstmals die Wahl ei-
nes Betriebsrats einleiten wollen, dem Schutz des § 119
Betriebsverfassungsgesetz unterstellt werden sollen .
Hier geht es um die Ahndung von Straftaten gegen Be-
triebsverfassungsorgane und ihre Mitglieder . Nach mei-
ner Auffassung haben wir an dieser Stelle eine Regelung,
wenn wir § 20 Betriebsverfassungsgesetz mit § 119 Be-
triebsverfassungsgesetz in Verbindung bringen .

Eine weitere Forderung ist, befristet Beschäftigte, die
in einen Betriebsrat gewählt werden, dem umfassenden
Schutz des § 78a Betriebsverfassungsgesetz zu unter-
stellen . Das hätte zur Konsequenz, dass aus einem be-
fristeten Arbeitsverhältnis im Ergebnis ein unbefristetes
Arbeitsverhältnis werden würde . Das allerdings verstößt
gegen § 78 Satz 2 Betriebsverfassungsgesetz – für die
Zuhörer mag das alles jetzt sehr juristisch sein, aber ich
bin nun einmal Jurist –, in dem geregelt ist, dass Be-
triebsratsmitglieder weder benachteiligt, aber auch nicht
bevorteilt werden dürfen . Wenn jemand, der befristet be-
schäftigt ist, in den Betriebsrat gewählt wird und dann
ein unbefristetes Arbeitsverhältnis bekommt, ist das eine
Bevorteilung dieser Person, was zumindest nach dieser
Norm nicht zulässig ist .

Dann müsste man konsequenterweise hingehen und
diese Norm auch abschaffen, aber das fordern Sie hier
nicht .


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum geht es dann bei Auszubildenden?)


Deswegen ist der Antrag an dieser Stelle etwas unschlüs-
sig .


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Sie haben ein Demokratieverständnis, das ist unglaublich!)


Dabei sei auch erwähnt, dass man, wenn man eine solche
Forderung stellt, konsequent sein muss und keine Rosi-
nenpickerei betreiben sollte .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Darüber hinaus werden weitere Kündigungsschutz-
rechte verlangt . Ich habe eben erwähnt, dass der Kündi-
gungsschutz für Betriebsräte eigentlich schon umfassend
ist .

Außerdem wird eine Meldepflicht bei Verstößen gefor-
dert. Da soll eine entsprechende Einrichtung geschaffen
werden, bei der sie dann gemeldet werden sollen . In die-
sem Zusammenhang erlaube ich mir den Hinweis, dass
sämtliche Verstöße, die im Ergebnis festgestellt werden,
natürlich auch gerichtlich festgestellt werden müssen .


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eben nicht!)


– Doch. – Die Verhandlungen sind öffentlich. Deswegen
hat jeder im Ergebnis Zugang zu den Entscheidungen,
sodass ich denke, dass eine Meldepflicht an dieser Stelle
nicht nötig ist . – Daher lehnen wir die Anträge ab .

Abschließend möchte ich vielleicht noch folgende An-
merkung machen: Auch wir von der Unionsfraktion sind
der Auffassung, dass es sehr wünschenswert ist, wenn
wir eine hohe Zahl von Betriebsräten haben . Das haben
wir auch nie in Abrede gestellt . Aber es muss im Ergeb-
nis auch die Entscheidung der Mitarbeiterschaft eines
Unternehmens sein, ob sie es machen will oder nicht .


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ja, genau! Es darf nur nicht behindert werden! Darum geht es! – Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Es steht nirgendwo was anderes!)


Ich möchte in diesem Zusammenhang einige Zitate
aus der letzten Debatte nennen . Da wurde zum Beispiel
gesagt – ich zitiere –: „Nur mitbestimmte Arbeit ist gute
Arbeit .“ Ich persönlich würde das nicht unterschreiben,
weil man damit der Freiheit der Mitarbeiterschaft bei der
Entscheidung darüber, ob man einen Betriebsrat gründet,
doch etwas widerspricht . Darüber hinaus wurde in der
letzten Sitzung – es wurde heute nicht erwähnt, aber ich
erwähne es trotzdem – „eine kämpferische Mitbestim-
mung in den Betrieben“ gefordert . Da muss ich sagen:
Das sind Formulierungen, die eher auf Konfrontation
ausgerichtet sind und so ein bisschen zum Klassenkampf
aufrufen. Ich finde, in solch einer Diskussion und bei
solch einem sensiblen Thema, vor allen Dingen bei solch
einem erfolgreichen Modell sollten wir bei der Wortwahl
doch etwas behutsamer vorgehen .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt aber auch andere Stimmen! – Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Was machen wir denn gegen Union Busting? Was machen wir dagegen?)


Im Ergebnis darf ich feststellen, dass wir zurzeit Re-
kordzahlen am Arbeitsmarkt haben, Rekordbeschäftig-
tenzahlen haben, geringe Arbeitslosenzahlen haben . Dies
ist maßgeblich auf das hier in Rede stehende Modell zu-
rückzuführen . Deswegen sollten wir es bei der derzeiti-
gen Rechtslage belassen .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU – Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Mit der ökonomischen Entwicklung hat das nichts zu tun!)


Wilfried Oellers

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620586


(A) (C)



(B) (D)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1820621800

Das Wort erhält nun die Kollegin Müller-Gemmeke

für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolle-
ginnen und Kollegen! Alle Fraktionen hier betonen im-
mer wieder die wichtige Funktion von Betriebsräten;
wir haben es gerade beim Kollegen Rützel gehört . In
der Beschlussempfehlung spricht die Union von einem
„Standortvorteil für die deutsche Wirtschaft“, es sei
„grundsätzlich sinnvoll“, Betriebsräte zu stärken . Der
Kollege Paschke von der SPD hat bei der ersten Lesung
sogar analog zu unserem Antrag gesagt: „Ja, mehr Be-
triebsrätinnen und Betriebsräte braucht das Land!“ Das
hört sich alles gut an; aber ich kann diese Sonntagsreden
einfach nicht mehr hören . Das Motto „Gut, dass wir mal
darüber geredet haben“ ist zu wenig . Was fehlt, ist kon-
kretes Handeln .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Bernd Rützel [SPD]: Das geht nur in einer Regierung!)


Die Fakten sind doch wirklich bekannt: Die weißen
Flecken bei der Mitbestimmung sind groß . Die Arbeit
von Betriebsräten und Betriebsratswahlen werden behin-
dert; Kollege Oellers, darum geht es . Die Mitbestimmung
wird sogar in Teilen der Wirtschaft, wie in den USA, sys-
tematisch bekämpft . Es besteht also Handlungsbedarf;
denn dieser Trend muss gestoppt werden .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Drei Problemfelder sind mir ein besonderes Anliegen:

Erstens. Die schwierigste Phase ist ja, wenn sich die
Beschäftigten auf den Weg machen, einen Betriebsrat zu
gründen . Sie sind dann besonders von Benachteiligun-
gen und auch Kündigungen bedroht . Deshalb wollen
wir, dass diese aktiven Beschäftigten einen besonderen
Schutz bekommen . Wenn Arbeitgeber Betriebsräte ver-
hindern wollen, dann müssen wir ganz eindeutig auf der
Seite der Beschäftigten stehen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Zweitens . In Betrieben mit einem hohen Anteil an Be-
fristungen ist eine kontinuierliche Betriebsratsarbeit ex-
trem schwierig, aber gerade dort ist ein gut aufgestellter
Betriebsrat bitter nötig . Deshalb wollen wir, dass auch
befristet angestellte Betriebsräte einen Schutz erhalten
analog zu § 78a Betriebsverfassungsgesetz . Herr Oellers,
wenn das bei Auszubildenden funktioniert, dann geht das
auch bei Befristungen; denn die Betriebsratsarbeit lebt
von Kontinuität .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN sowie des Abg . Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Drittens . Wir hören immer wieder von Kündigungen,
von Abmahnungen, Schikanen und Drohungen, wenn

Betriebsräte in Betrieben nicht erwünscht sind . Das al-
les sind Straftaten nach § 119 Betriebsverfassungsgesetz,
und doch haben diese Arbeitgeber in der Regel nichts
zu befürchten . Da läuft etwas gewaltig schief . Dagegen
muss etwas getan werden . Es darf keine rechtsfreien
Räume geben; denn die Mitbestimmung ist gelebte De-
mokratie, und das sollten Sie endlich ernst nehmen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Sehr geehrte Regierungsfraktionen, die großen He-
rausforderungen, die Globalisierung und jetzt auch die
Digitalisierung, zu meistern, das schaffen die Unterneh-
men nur gemeinsam mit engagierten Belegschaften . Die
Mitbestimmung schafft dafür die Voraussetzung; denn
nur so entsteht Augenhöhe zwischen Beschäftigten und
den Arbeitgebern .


(Beifall des Abg. Bernd Rützel [SPD])


Die Vorteile der betrieblichen Mitbestimmung sind
bekannt, und doch wird die Akzeptanz brüchig . Deshalb
brauchen die Beschäftigten Unterstützung . Sie brauchen
auch Rückendeckung, damit sie sich auch zukünftig en-
gagieren und damit sie sich auch trauen, einen neuen
Betriebsrat zu gründen, vor allem wenn die Arbeitgeber
die Mitbestimmung verhindern wollen . Notwendig ist
ein klares Bekenntnis, dass Betriebsräte erwünscht sind .
Deshalb muss die Mitbestimmung gestärkt werden .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Heute wird über zwei Anträge abgestimmt . Der An-
trag der Linken – das ist bekannt – geht uns an manchen
Stellen zu weit, und deshalb werden wir uns enthalten .
Wir Grünen haben bewusst moderate und umsetzbare
Vorschläge vorgelegt . Es ist zwar nachvollziehbar, dass
Sie, die Regierungsfraktionen, einen grünen Antrag ab-
lehnen – das ist schon klar –, aber Sie hatten seit der
ersten Lesung fast zwei Jahre Zeit, selber etwas auf den
Tisch zu legen, und bis heute ist nichts passiert . Und ver-
weisen Sie in diesem Zusammenhang nicht immer nur
auf den Koalitionsvertrag .


(Beifall der Abg . Jutta Krellmann [DIE LINKE])


Denn dort steht ganz klar – ich zitiere –: Die Mitbestim-
mung ist „ein hohes Gut“ . Sie könnten jetzt ganz spontan
gemeinsam die Mitbestimmung stärken . Gute Ideen lie-
gen ja jetzt auf dem Tisch .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Gerade in der heutigen Zeit müssen die Beschäftigten
beteiligt werden . Wenn sie sich einmischen und mitre-
den können, wenn sie ihre Arbeitswelt aktiv mitgestalten
können, wenn ihre Anliegen gehört werden und wenn sie
sich gut durch Betriebsräte vertreten fühlen, dann ent-
steht ein Gefühl von Wertschätzung, und das stärkt auch
den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft .

Notwendig ist nicht weniger, sondern mehr Demokra-
tie, und das gilt auch für die Arbeitswelt . Machen Sie sich
endlich auf den Weg!

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20587


(A) (C)



(B) (D)


Vielen Dank .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1820621900

Ich möchte das von den Schriftführerinnen und

Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen

Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung zur Ermittlung von Regelbedarfen sowie zur
Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialge-
setzbuch bekannt geben: abgegebene Stimmen 540 . Mit
Ja haben gestimmt 440, mit Nein haben gestimmt 99,
Enthaltungen 1 . Damit ist der Gesetzentwurf angenom-
men .

Endgültiges Ergebnis

Abgegebene Stimmen: 542;
davon

ja: 442
nein: 99
enthalten: 1

Ja

CDU/CSU

Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Artur Auernhammer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens (Börde)

Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. André Berghegger
Dr . Christoph Bergner
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr . Maria Böhmer
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr . Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr . Ralf Brauksiepe
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Iris Eberl
Jutta Eckenbach
Hermann Färber
Uwe Feiler
Enak Ferlemann

Ingrid Fischbach
Axel E . Fischer


(Karlsruhe-Land)

Dr . Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr . Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Michael Frieser
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr . Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Josef Göppel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Dr . Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Olav Gutting
Christian Haase
Rainer Hajek
Dr . Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr . Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich (Chemnitz)

Mark Helfrich
Uda Heller
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Dr . Heribert Hirte

Christian Hirte
Robert Hochbaum
Alexander Hoffmann
Thorsten Hoffmann


(Dortmund)

Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr . Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M . Huber
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Erich Irlstorfer
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Dr . Franz Josef Jung
Xaver Jung
Dr . Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr . Stefan Kaufmann
Ronja Kemmer
Roderich Kiesewetter
Dr . Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Hartmut Koschyk
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr . Roy Kühne
Uwe Lagosky
Dr . Dr . h . c . Karl A . Lamers
Andreas G . Lämmel
Dr . Norbert Lammert

Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Dr . Silke Launert
Paul Lehrieder
Dr . Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Dr . Andreas Lenz
Dr . Ursula von der Leyen
Antje Lezius
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Dr . Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr . Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Dr . Thomas de Maizière
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Stephan Mayer (Altötting)

Reiner Meier
Dr . Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr . h . c . Hans Michelbach
Dr . Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Volker Mosblech
Elisabeth Motschmann
Carsten Müller


(Braunschweig)

Stefan Müller (Erlangen)

Dr. Philipp Murmann
Dr . Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Julia Obermeier
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Dr . Tim Ostermann

Beate Müller-Gemmeke

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620588


(A) (C)



(B) (D)


Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Eckhardt Rehberg
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr . Heinz Riesenhuber
Iris Ripsam
Johannes Röring
Kathrin Rösel
Dr . Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr . Wolfgang Schäuble
Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Christian Schmidt (Fürth)

Gabriele Schmidt (Ühlingen)

Patrick Schnieder
Nadine Schön (St . Wendel)

Dr . Ole Schröder
Dr . Kristina Schröder


(Wiesbaden)

Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster


(Weil am Rhein)

Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger

Christian Frhr . von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Stritzl
Michael Stübgen
Dr . Sabine Sütterlin-Waack
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Hans-Peter Uhl
Dr . Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Dr . Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Karl-Heinz Wange
Nina Warken
Kai Wegner
Dr . h . c . Albert Weiler
Marcus Weinberg (Hamburg)

Dr . Anja Weisgerber
Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Ingo Wellenreuther
Marian Wendt
Waldemar Westermayer
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese (Ehingen)

Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Oliver Wittke
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Dr . Matthias Zimmer
Gudrun Zollner

SPD

Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Bettina Bähr-Losse

Dr . Katarina Barley
Doris Barnett
Klaus Barthel
Dr . Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding (Heidelberg)

Burkhard Blienert
Willi Brase
Dr . Karl-Heinz Brunner
Dr . h . c . Edelgard Bulmahn
Dr . Lars Castellucci
Jürgen Coße
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr . Daniela De Ridder
Dr . Karamba Diaby
Sabine Dittmar
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier
Dr . h . c . Gernot Erler
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr . Johannes Fechner
Dr . Fritz Felgentreu
Dr . Ute Finckh-Krämer
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr . Edgar Franke
Ulrich Freese
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Angelika Glöckner
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Michael Groß
Uli Grötsch
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Dirk Heidenblut
Marcus Held
Dr . Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Thomas Hitschler

Matthias Ilgen
Christina Jantz-Herrmann
Frank Junge
Josip Juratovic
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Cansel Kiziltepe
Arno Klare
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Anette Kramme
Dr . Hans-Ulrich Krüger
Helga Kühn-Mengel
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr . Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Kirsten Lühmann
Dr . Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Dr . Matthias Miersch
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
Bettina Müller
Michelle Müntefering
Dr . Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Ulli Nissen
Thomas Oppermann
Mahmut Özdemir (Duisburg)

Aydan Özoğuz
Markus Paschke
Christian Petry
Jeannine Pflugradt
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Achim Post (Minden)

Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr . Sascha Raabe
Dr . Simone Raatz
Martin Rabanus
Stefan Rebmann

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20589


(A) (C)



(B) (D)


Gerold Reichenbach
Dr . Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Petra Rode-Bosse
Dennis Rohde
Dr . Martin Rosemann
René Röspel
Dr . Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth (Heringen)

Susann Rüthrich
Bernd Rützel
Sarah Ryglewski
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr . Hans-Joachim

Schabedoth
Dr . Nina Scheer
Marianne Schieder
Udo Schiefner
Dr . Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt (Aachen)

Matthias Schmidt (Berlin)

Dagmar Schmidt (Wetzlar)

Carsten Schneider (Erfurt)

Ursula Schulte
Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Frank Schwabe
Andreas Schwarz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Rainer Spiering
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Dr . Karin Thissen
Carsten Träger
Dirk Vöpel

Gabi Weber
Bernd Westphal
Andrea Wicklein
Dirk Wiese
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)

Gülistan Yüksel
Stefan Zierke
Dr . Jens Zimmermann
Manfred Zöllmer

Nein

DIE LINKE

Dr . Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W . Birkwald
Heidrun Bluhm
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr . Diether Dehm
Nicole Gohlke
Dr . Gregor Gysi
Dr. André Hahn
Heike Hänsel
Dr . Rosemarie Hein
Inge Höger
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Ulla Jelpke
Kerstin Kassner
Katja Kipping
Jan Korte
Jutta Krellmann
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Stefan Liebich

Dr . Gesine Lötzsch
Birgit Menz
Niema Movassat
Norbert Müller (Potsdam)

Dr . Alexander S . Neu
Thomas Nord
Petra Pau
Harald Petzold (Havelland)

Richard Pitterle
Martina Renner
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Frank Tempel
Dr . Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Harald Weinberg
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Jörn Wunderlich
Hubertus Zdebel
Pia Zimmermann
Sabine Zimmermann


(Zwickau)


BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Luise Amtsberg
Annalena Baerbock
Volker Beck (Köln)

Dr . Franziska Brantner
Agnieszka Brugger
Ekin Deligöz
Katharina Dröge
Harald Ebner
Dr . Thomas Gambke
Matthias Gastel
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bärbel Höhn

Dieter Janecek
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Stephan Kühn (Dresden)

Christian Kühn (Tübingen)

Renate Künast
Markus Kurth
Monika Lazar
Steffi Lemke
Dr . Tobias Lindner
Nicole Maisch
Peter Meiwald
Irene Mihalic
Beate Müller-Gemmeke
Özcan Mutlu
Dr . Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Corinna Rüffer
Manuel Sarrazin
Ulle Schauws
Dr . Gerhard Schick
Dr . Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr . Harald Terpe
Markus Tressel
Dr . Julia Verlinden
Doris Wagner
Beate Walter-Rosenheimer

Enthalten

SPD

Rüdiger Veit

Abgeordnete, die sich wegen gesetzlichen Mutterschutzes für ihre Abwesenheit entschuldigt haben, sind in der Liste der
entschuldigten Abgeordneten (Anlage 1) aufgeführt .

Jetzt erhält der Kollege Markus Paschke das Wort für
die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt aber nicht wieder nur erzählen, was im SPD-Wahlprogramm steht, sondern was die Koalition macht! – Gegenruf des Abg. Bernd Rützel [SPD]: Das gehört doch gar nicht hierher! – Weitere Zurufe von der SPD)


– Tragen Sie das vor, was Sie für richtig halten, und nicht,
was Ihnen jetzt durch Zurufe angedient wird .


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Markus Paschke (SPD):
Rede ID: ID1820622000

Ich habe ja mittlerweile gelernt, dass man sich durch

Zwischenrufe nicht aus dem Konzept bringen lässt . Da-
mit meine Kolleginnen und Kollegen von den Grünen
und den Linken das vielleicht doch noch begreifen, will

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620590


(A) (C)



(B) (D)


ich damit anfangen, kurz zu erklären, wie eine Koalition
funktioniert:


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Man schließt am Beginn einer Legislaturperiode einen
Vertrag . Darin ist geregelt, was man zusammen regeln
will. Ich finde, wir haben viele gute Sachen in den Koali-
tionsvertrag hineinverhandelt,


(Bernd Rützel [SPD]: Und haben es auch gemacht! – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man kann darüber hinausgehen, wenn man sich einig ist!)


leider nichts zum Thema Mitbestimmung .


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Schade eigentlich!)


Aber – und das erwarte ich auch nach der nächsten Wahl
von der Koalition, die sich dann bilden wird – man hat
einen Vertrag abgeschlossen, und der ist verlässlich und
wird von allen Seiten eingehalten . Das hat auch etwas
mit Seriosität zu tun .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Vor zwei Tagen hat Bundesministerin Andrea Nahles
das Weißbuch „Arbeiten 4 .0“ vorgestellt . Darin heißt es:

Sozialpartnerschaft, Mitbestimmung und demo-
kratische Teilhabe bei der Gestaltung von Arbeits-
bedingungen sind ein Kernelement der deutschen
sozialen Marktwirtschaft, Stabilitätsanker in Krisen
und Erfolgsfaktor auch im internationalen Wettbe-
werb .


(Beifall bei der SPD)


Bei der Veranstaltung wurde deutlich, dass die Arbeit der
Zukunft gar nicht ohne Mitbestimmung geht . Mit Be-
triebsrat gibt es nämlich immer einen Interessenausgleich
zum Vorteil des Unternehmens und der Beschäftigten .


(Beifall bei der SPD)


Auch deshalb finde ich, dass die Anträge der Opposi-
tion in die richtige Richtung gehen .


(Beifall der Abg . Matthias W . Birkwald [DIE LINKE] und Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN] – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mehr Betriebsräte braucht das Land!)


Sie haben recht: Die Zahl der Unternehmen mit Betriebs-
rat ist rückläufig; die Behinderung von Betriebsratsarbeit
bis hin zum Betriebsratsbashing nimmt zu . Das ist eine
Entwicklung, die mich mit Sorge erfüllt, wo wir politisch
gegensteuern müssen; denn das bedeutet, dass immer
weniger Beschäftigte Mitspracherechte im Unternehmen
haben. Ich finde, das ist schlichtweg nicht zukunftsfähig.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Veränderung der Arbeitswelt von heute und mor-
gen braucht mehr Mitbestimmung, nicht weniger . Wenn

wir mehr Flexibilität wollen, dann kann das nicht zu-
lasten einer Seite, zulasten der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer, gehen, sondern dann braucht man einen
gerechten Ausgleich .


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Dazu braucht es eine starke Stimme – und diese starke
Stimme sind die Betriebsräte und die Gewerkschaften –;
denn die Aufgaben werden nicht weniger, sondern mehr
und vielfältiger . Wir brauchen in Zukunft Lösungen für
Fragen der Digitalisierung der Arbeitswelt,


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


des Arbeitnehmerdatenschutzes und der Arbeitszeit, um
nur einige wenige Beispiele zu nennen . All diese Fragen
können nicht einseitig geregelt werden . Sie machen es
unumgänglich, dass die unterschiedlichen Interessen be-
rücksichtigt werden: flexible Produktion oder Dienstleis-
tung und Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder die
Möglichkeit zum Ausfüllen eines Ehrenamtes .


(Beifall bei der SPD)


Hier haben wir als Gesetzgeber zwei Möglichkeiten –
das als Anregung zum Nachdenken für unseren Koaliti-
onspartner –:


(Zuruf der Abg . Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die eine Möglichkeit ist: Man sorgt auf gesetzlicher Ebe-
ne für einen Interessenausgleich . Dann wird man sehr
enge Regelungen fassen müssen, was entweder für die
Flexibilität oder für den Arbeitsschutz nicht gut ist . Bei-
des finde ich nicht besonders klug; im Zweifel muss aber
das Schutzbedürfnis der Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer Vorrang haben . Die andere Möglichkeit ist: Wir
schaffen einen flexiblen gesetzlichen Rahmen, der durch
Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen an die Bedürf-
nisse der Branche oder des Betriebes angepasst werden
kann .


(Beifall bei der SPD – Bernd Rützel [SPD]: Das ist besser!)


Dazu brauchen wir aber mehr Mitbestimmung, mehr
Mitsprache im Betrieb, mehr Betriebsräte, mehr Rechte
der Betriebsräte .


(Bernd Rützel [SPD]: Jawohl!)


Kluge Unternehmer werden begreifen, dass bei solchen
Rahmenbedingungen Betriebsräte und Gewerkschaften
Problemlöser sind und nicht Problemmacher.


(Beifall bei der SPD)


Zu den genannten Herausforderungen habe ich in den
vorliegenden Anträgen keine ausreichenden Vorschläge
gesehen .


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? Nicht ausreichend?)


Deswegen werden wir den Anträgen heute nicht zustim-
men .

Markus Paschke

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20591


(A) (C)



(B) (D)


Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1820622100

Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Martin

Pätzold für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Martin Pätzold (CDU):
Rede ID: ID1820622200

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Die Debatte heute zeigt, dass es gut ist, dass
es Anträge der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen
gibt .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg . Matthias W . Birkwald [DIE LINKE])


So können wir an dieser Stelle über betriebliche Mitbe-
stimmung, über betriebliche Interessensvertretung disku-
tieren und uns noch einmal vergewissern, wer eigentlich
die Grundlage dafür gelegt hat,


(Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die CSU!)


dass solche Werte in der sozialen Marktwirtschaft nach
1949 eine bedeutende und entscheidende Rolle gespielt
haben . Die Wurzeln dieser Überzeugung stammen aus
der katholischen Soziallehre .


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist aus euch geworden?)


Unterschiedliche Interessen werden ausgeglichen . Es
gibt die Säule der Solidarität – diese Säule ist bei Ihnen
vermeintlich besonders stark ausgeprägt –, die Säule der
Menschenwürde, der Personalität, aber auch die Säule
der Subsidiarität und der Eigenverantwortung . Wenn es
um betriebliche Mitbestimmung und Betriebsräte geht,
dann geht es auch immer um Eigenverantwortung und
Subsidiarität .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dieses Thema ist uns wichtig . Es geht auch darum,
die soziale Marktwirtschaft ständig weiterzuentwickeln
und unsere Wettbewerbsfähigkeit im globalen Wettbe-
werb zu erhalten und – am besten natürlich – auszubau-
en. In einer modernen Welt, in der – Herr Paschke hat es
angesprochen – die Digitalisierung, die Arbeitswelt 4 .0,
das Berufsleben, die Berufsfelder und die Art und Wei-
se, wie gearbeitet wird, komplett verändern wird, wird
es auch darum gehen, moderne Formen abzubilden, nicht
nur durch rechtliche Gegebenheiten, sondern auch durch
gesellschaftliche Diskussionen .

So sind die Einzelfälle, die hier genannt wurden


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind keine Einzelfälle!)


– nicht immer nur Einzelfälle; das ist richtig –,


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


differenziert zu bewerten. Letztendlich ist es Auftrag für
den Gesetzgeber, festzustellen, ob er handeln muss oder
nicht . Mein Kollege Wilfried Oellers hat ja deutlich ge-
macht, welche Vorlagen Sie machen und welche Initia-
tiven Sie in Ihren Anträgen formulieren . Wir hatten die
Möglichkeit, fast zwei Jahre darüber zu diskutieren . Es
gab auch eine Anhörung zu diesem Thema . Wenn man
sich noch einmal in die Protokolle einarbeitet und sich
damit beschäftigt, dann wird auch dort sichtbar, dass es
eben nicht nur eine Auffassung dazu gab, sondern sich
durchaus ein differenziertes Bild gezeigt hat.

Sie von Bündnis 90/Die Grünen schreiben in Ihrem
Antrag, dass wir durch unsere Form der Mitbestimmung
sehr erfolgreich durch die Wirtschafts- und Finanzkrise
gekommen sind .


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Wir erleben auf der anderen Seite die Entwicklung, dass
die Zahl der Betriebsräte abnimmt. In circa 40 Prozent
der Unternehmen im Westen gibt es einen; im Osten ist
die Zahl deutlich niedriger . Man muss auch hier wieder
festhalten: In Unternehmen, in denen es einen Betriebsrat
gibt, gibt es nicht unbedingt weniger Probleme als in Un-
ternehmen, in denen es keinen gibt . Aber wenn in einem
Unternehmen Probleme entstehen, kann ein Betriebsrat
natürlich auch für die Arbeitnehmer sehr hilfreich sein,
um die unterschiedlichen Interessen vernünftig auszu-
gleichen .

Das, was wir in der Diskussion hier, aber auch in den
Ausschusssitzungen und in der Anhörung bisher an Ar-
gumenten gehört haben, hat dazu geführt, dass bei uns
die Überzeugung entstanden ist, dass wir beim Interes-
sensausgleich nicht handeln müssen,


(Katja Mast [SPD]: Was?)


sondern dass sich die Mitbestimmung in der Form, wie
sie bisher gegeben ist, bewährt hat .


(Katja Mast [SPD]: Oh! Nein!)


Es gibt im Antrag der Linken einige Punkte, die wir
sehr deutlich ablehnen: das vereinfachte Wahlverfahren,
das Sie beschrieben haben, die Ausweitung von Strafgel-
dern – Wilfried Oellers hat das schon angesprochen; es ist
ein grundsätzlicher Reflex bei Ihnen, immer dann Strafen
erhöhen zu wollen, wenn Fehlverhalten vorliegt – und
auch die Ausweitung des Kündigungsschutzes . Das führt
dazu, dass wir Ihrem Antrag nicht zustimmen können .

Ich komme zum Antrag von Bündnis 90/Die Grünen .
Sie listen sieben Punkte auf. Ich möchte exemplarisch
auf Punkt Nummer 4 eingehen, bei dem es darum geht,
wer die zu schützenden Personen sind. Bei diesem Punkt
können wir nicht mit Ihnen gehen, genauso wenig wie
bei Punkt 7, mit dem Sie die Frage der Behinderung und
Verhinderung von Betriebsratswahlen regeln wollen .

So ist am Ende unsere Überzeugung, dass sich die
Mitbestimmung in der jetzigen Form bewährt hat, dass
wir den Anträgen der Opposition nicht zustimmen kön-
nen und dass wir uns weiter dafür einsetzen werden, dass
wir einen starken Arbeitsmarkt haben, weil wir damit die
größten gesellschaftlichen Wirkungen erzielen können .

Markus Paschke

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620592


(A) (C)



(B) (D)


Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU – Bernd Rützel [SPD]: Damit ist dann alles geregelt! – Zuruf der Abg . Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1820622300

Ich schließe die Aussprache .

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Arbeit und Soziales auf der Drucksache 18/7595 .
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion Die Linke mit dem Titel „Die Wahl von Betriebsräten
erleichtern und die betriebliche Interessenvertretung si-
cherstellen“ . Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung
zu? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit
ist die Beschlussempfehlung bei Enthaltung von Bünd-
nis 90/Die Grünen angenommen .

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ableh-
nung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
mit dem Titel „Mehr Betriebsrätinnen und Betriebsräte
braucht das Land“ . Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthält sich je-
mand? – Auch diese Beschlussempfehlung ist mit Mehr-
heit angenommen .

Ich rufe Tagesordnungspunkt 32 auf:

Beratung des Antrags der Bundesregierung

Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte am NATO-geführten Ein-
satz Resolute Support für die Ausbildung, Be-
ratung und Unterstützung der afghanischen
nationalen Verteidigungs- und Sicherheits-
kräfte in Afghanistan

Drucksache 18/10347
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Widerspruch
ist nicht erkennbar . Also verfahren wir so .

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Bundesministerin der Verteidigung, Ursula von der
Leyen .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der
Verteidigung:

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Am Abend des 10 . November hat uns die
Nachricht von einem schweren Anschlag auf das Kon-
sulat in Masar-i-Scharif ereilt . Wir haben stundenlang
gebangt, gehofft, dass nicht das Schlimmste eintritt. Gott

sei Dank konnte verhindert werden, dass es Opfer un-
ter dem Personal des Konsulates gibt, aber wir betrauern
gemeinsam mit den Afghanen sechs afghanische Sicher-
heitskräfte, die ihr Leben lassen mussten . Unsere Gedan-
ken sind heute Abend bei ihren Familien . Wir wünschen
den vielen Verwundeten, die es durch diesen Anschlag
gegeben hat, Genesung und gute Besserung auch von
dieser Stelle .


(Beifall im ganzen Hause)


Dass der schwere Anschlag im Endeffekt so glimpflich
ausgegangen ist, haben wir vor allen Dingen zu verdan-
ken – dafür möchte ich unseren hohen Respekt und Dank
aussprechen – den Beamtinnen und Beamten der Bun-
despolizei vor Ort, den afghanischen Sicherheitskräften,
den Soldatinnen und Soldaten, die aus Camp Marmal
zu Hilfe geeilt sind, Soldatinnen und Soldaten der Bun-
deswehr, aber ganz voran auch ihren Kameradinnen und
Kameraden aus Georgien, aus Lettland und aus Estland .
Ohne sie wäre es nicht so glimpflich ausgegangen. Sie
verdienen unseren Dank dafür .


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dieser Anschlag, der sehr gezielt war, der sehr geplant
war, zeigt aber auch, wie fragil und volatil die Sicher-
heitslage in Afghanistan nach wie vor ist .

Das zu Ende gehende Jahr, das Jahr 2016, ist ein
schwieriges Jahr für die Regierung gewesen . Es war ein
sehr schwieriges Jahr für die afghanischen Sicherheits-
kräfte . Man muss in der Bilanz sagen: Die afghanischen
Sicherheitskräfte haben aus den Ereignissen des Jah-
res 2015 ihre Lehren gezogen . Sie sind besser geworden .
Sie haben nach wie vor sehr hohe Verluste – das muss
man an dieser Stelle auch erwähnen –, doch sie kämpfen,
sie agieren aktiver, erfolgreicher, als das im vergangenen
Jahr der Fall gewesen ist .

Es ist den Taliban zum Beispiel nicht gelungen, ihr
Ziel zu erreichen, eine der Provinzhauptstädte zu er-
obern . Den afghanischen Sicherheitskräften ist es ge-
lungen, diese Angriffe abzuwehren, so auch den erneu-
ten Angriff auf Kunduz-Stadt im Oktober 2016, und so
sind die afghanischen Sicherheitskräfte zumindest in der
Lage, eine strategische Pattsituation mehr oder minder
zu halten . Aber es gibt noch viel zu tun, insbesondere mit
Blick auf das Thema Ausbildung . Wir haben deshalb im
Frühjahr dieses Jahres unseren Ansatz für Ausbildung,
Beratung und Unterstützung weiter angepasst .

In allererster Linie allerdings bedarf es politischer Re-
formen seitens der afghanischen Regierung . Wir erwar-
ten mehr Aktivität . Die Regierung muss politisch enger
zusammenstehen . Insbesondere müssen Staatspräsident
Ghani und der CEO Abdullah Abdullah gemeinsam in
dieselbe Richtung arbeiten . Wir erwarten, dass die Re-
gierung echte Reformen anstößt und sie auch gegen Wi-
derstände durchsetzt . Wir haben Erwartungen an die af-
ghanische Regierung, und diese finden zurzeit zu wenig
Widerhall . Hier muss sich in erster Linie etwas ändern;


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dr. Martin Pätzold

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20593


(A) (C)



(B) (D)


denn eines ist uns allen in diesem Hohen Hause klar: Kei-
ne noch so gute militärische Ausbildung, kein noch so
fundierter Rat, keine noch so umsichtige Unterstützung
können die unverzichtbare Rolle einer Regierung erset-
zen . Die Regierung muss aktiver werden, zum Beispiel
mit Blick auf die Besetzung vakanter Ministerposten . Sie
muss Motor für Reformen sein; damit lenke ich den Blick
auf die längst überfällige Parlamentswahl. Nur wenn die
Regierung aktiv ist, kann das geschehen, was unverzicht-
bar notwendig ist, damit die militärischen Erfolge auf
Dauer stabilisiert werden: der wirtschaftliche Aufbau des
Landes und damit die Schaffung einer Perspektive für die
Menschen, die in diesem Land leben .

Die Staats- und Regierungschefs der NATO-Länder
haben sich im Juli dieses Jahres in Warschau darauf ge-
einigt, den Aufbau Afghanistans weiterhin zu unterstüt-
zen . Die NATO hat ihre Einsatzrahmenbedingungen und
Abläufe angepasst . Es ging darum, wie man die afgha-
nischen Partner im Einzelfall durch Aufklärung, durch
Lufttransport, durch Verwundetentransport besser unter-
stützen kann . Das jetzt vorliegende Mandat nimmt diese
Konkretisierungen der NATO durch textliche Klarstel-
lungen auf, wird aber ansonsten vollständig inhaltsgleich
fortgeschrieben . Das heißt, Niveau und Aufgaben der
Bundeswehr bleiben ebenso unverändert wie die Ober-
grenze von 980 Soldatinnen und Soldaten .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt nach wie vor
viel Schatten, viele Probleme in Afghanistan. Es gibt aber
auch Fortschritte, die wir unter dem Berg der Probleme
oft nicht sehen . Ich will ein kleines Beispiel nennen: Es
wurden gerade in etwa der Hälfte des Landes Wahlen
zu den Provincial Councils – gewissermaßen Kommu-
nalwahlen – durchgeführt . Immerhin ist die Hälfte der
Gewählten Frauen . Das wäre unter den Taliban niemals
möglich gewesen . Wenn wir auf unsere eigenen Wahlen
schauen, dann wissen wir, wie schwer es ist, eine Quote
von 50 Prozent für Frauen zu erreichen.


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben die Quote übererfüllt! – Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Sehr gut! Sie haben fast das afghanische Niveau er-
reicht .


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die meisten Frauen hat die Fraktion Die Linke! Das wollen wir nur erwähnen!)


Deshalb ist es auch richtig, dass wir unser Engagement
ein weiteres Jahr fortsetzen . Aber wir werden – das muss
uns auch klar sein – durch unser Engagement den Af-
ghanen nur Zeit verschaffen, Zeit, die Probleme anzupa-
cken, Zeit, die erforderlichen Reformen auf allen Ebenen
konsequent zu verfolgen . Sie müssen die hart errungenen
Fortschritte und Erfolge, die es im Land unzweifelhaft
gibt, auf die Dauer selbst sichern können . Genau in die-
sem Sinne ist das Mandat angelegt, für das wir um wohl-
wollende Beratung und dann Zustimmung werben .

Danke schön .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820622400

Als Nächste spricht die Kollegin Heike Hänsel für die

Fraktion Die Linke .

(Beifall bei der LINKEN)



Heike Hänsel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1820622500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
15 Jahre führt die NATO in Afghanistan nun Krieg unter
deutscher Beteiligung . George Bush rief 2001 mit seinen
Bündnispartnern den globalen Krieg gegen den Terror
aus, und Millionen Menschen bezahlten das mit ihrem
Leben, Frau von der Leyen; auch Hundertausende Frau-
en waren unter diesen Toten . Laut einer Studie der Ärz-
teorganisation IPPNW sind allein in Afghanistan min-
destens 220 000 Menschen getötet worden, in Pakistan
80 000; im Irak ist über 1 Million Menschen direkt ge-
tötet worden oder an den Kriegsfolgen gestorben . Dieser
sogenannte Krieg gegen den Terror ist selbst Terror für
Millionen Menschen und hat nur neuen Terror erzeugt,
und dafür sind Sie hier mitverantwortlich .


(Beifall bei der LINKEN – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: So ein Quatsch!)


Die Bilanz Ihres Afghanistan-Feldzuges fällt erschüt-
ternd aus: Die Welt ist nicht sicherer geworden, die An-
schlagsgefahr auch hier in Deutschland ist gestiegen, ge-
schweige denn, dass Afghanistan stabilisiert wurde .


(Dr. Franz Josef Jung [CDU/CSU]: Afghanistan ist kein Ausbildungsland mehr für Terroristen!)


2,7 Millionen Afghaninnen und Afghanen sind ins Aus-
land geflohen, 1,2 Millionen Menschen sind innerhalb
Afghanistans auf der Flucht . Afghanistan zählt weiter-
hin zu den ärmsten Ländern der Erde mit einer der kor-
ruptesten Regierungen der Welt . Die Sicherheitslage im
Land ist besorgniserregend . Die Bundesregierung selbst
bezeichnete 2015 nur 9 von 123 Distrikten als kontrol-
lierbar . Das hat eine Große Anfrage unserer Fraktion er-
geben . Das deutsche Generalkonsulat in Masar-i-Scharif
ist nach einem Taliban-Angriff, wie erwähnt, geschlossen
worden; die Diplomaten wurden abgezogen .

In dieses Land wollen Sie nun bis zu 80 000 Afgha-
ninnen und Afghanen aus der EU abschieben . Was für
eine menschenverachtende Politik!


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Was für ein schäbiger Deal mit der korrupten afgha-
nischen Regierung, die im Gegenzug dafür mehr als
13 Milliarden Euro kassiert! Mit dieser Politik betreiben
Sie auch ein Taliban-Aufbauprogramm; denn viele jun-
ge Afghanen, die Sie abschieben wollen, werden in den
Fängen der Taliban und von IS-Milizen landen .


(Zuruf von der SPD: Das ist abenteuerlich!)

Sie zahlen bis zu 1 000 Dollar monatlich und sind so die
einzige Einnahmequelle . Wir fordern, dass dieses Ab-
schiebeprogramm sofort gestoppt wird . Afghanistan ist
kein sicheres Herkunftsland .


(Beifall bei der LINKEN)


Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620594


(A) (C)



(B) (D)


Investieren Sie dieses Geld lieber in demokratische Kräf-
te und Strukturen, die den Menschen direkt zugutekom-
men . Sie könnten damit sogar alle Milizen auf einmal
wegkaufen und ihnen einen Arbeitsplatz anbieten, statt
weiterhin korrupte Multimillionäre in Kabul zu finanzie-
ren .

Zur Rekrutierung neuer Kämpfer für islamistische
Gruppen tragen maßgeblich auch die US-Drohnenmor-
de in Afghanistan und Pakistan bei, weil sie den Hass
weiter schüren, und hier kommt nun der eigentliche
Skandal . Gestern bestätigte die Bundesregierung auf
Anfrage meines Kollegen Andrej Hunko, dass die Droh-
neneinsätze der USA über die US-Militärbasis Ramstein
hier in Deutschland geplant, überwacht und ausgewertet
werden . Damit ist die Bundesregierung an völkerrechts-
widrigen extralegalen Tötungen beteiligt . Ich nenne das
Beihilfe zum Mord . Schließen Sie Ramstein sofort!


(Beifall bei der LINKEN)


Das verstößt auch gegen das Grundgesetz, und dies muss
strafrechtliche Konsequenzen haben .

Die Drohnenmorde stärken die Taliban und den IS .
Gleichzeitig schicken Sie, Frau von der Leyen, und Ihre
Regierung aber Bundeswehrsoldaten nach Afghanistan,
um junge Afghanen auszubilden, damit sie gegen die Ta-
liban kämpfen. Was für eine perverse Politik!


(Beifall bei der LINKEN)


Die Afghanen sind dabei nur das Kanonenfutter . Allein
zwischen 2013 und 2016 wurden über 19 000 afgha-
nische Soldaten getötet . Wir werden gegen dieses Man-
dat stimmen .

In dieser Woche hatten wir eine junge Afghanin, Selay
Ghaffar, Vorsitzende der Solidaritätspartei, in den Bun-
destag eingeladen . Sie gehört zur jungen Generation, die
genug hat von der NATO-Besatzung und einer korrupten
Drogenregierung . Sie demonstriert mutig mit ihren An-
hängerinnen und Anhängern . Sie vernetzen sich in sozi-
alen Medien und suchen den internationalen Austausch .
Diese jungen Leute brauchen unsere Solidarität und un-
sere Unterstützung .


(Beifall bei der LINKEN – Florian Hahn [CDU/CSU]: Das wäre auch mit den Taliban möglich, oder?)


Sie können aber nicht einmal ohne Gefahr demonstrie-
ren, weil die Regierung, die Sie finanzieren, sie mit allen
Mitteln bekämpft, sodass sie teilweise nur im Untergrund
arbeiten können .


(Gabi Weber [SPD]: Was ist das denn für ein Quatsch!)


Ziehen Sie die Bundeswehr aus Afghanistan ab! Stär-
ken Sie endlich demokratische Kräfte statt korrupte War-
lords!


(Beifall bei der LINKEN – Florian Hahn [CDU/CSU]: Mit den Taliban könnten sie demonstrieren? Alles klar!)


Die Friedensgruppen rufen in vielen Städten – unter
anderem auch in Stuttgart – zu Demonstrationen am

10 . Dezember 2016, dem Tag der Menschenrechte, für
ein Menschenrecht auf Frieden auf . Es ist wichtig, ein
Zeichen gegen diese Kriegspolitik zu setzen . Frieden
statt NATO!

Vielen Dank .


(Beifall bei der LINKEN – Jürgen Hardt [CDU/CSU]: Es werden nicht viele zu Ihrer Demo kommen!)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820622600

Für die Bundesregierung spricht jetzt Staatsminister

Michael Roth .


(Beifall bei der SPD)



Michael Roth (SPD):
Rede ID: ID1820622700

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Frau Hänsel, Ihre Simplifizierung ist beschä-
mend . Wer von „Feldzug“ spricht, der hat an einer ernst-
haften Debatte kein wirkliches Interesse .


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Aha! – Michaela Noll [CDU/CSU]: Richtig!)


Ich gehe fest davon aus – da spreche ich sicherlich nicht
nur für meine Fraktion –, dass es sich hier keine Frakti-
on einfach macht . Wir überprüfen jedes Mandat kritisch .
Wir sprechen mit den Kolleginnen und Kollegen der in-
ternationalen Gemeinschaft im Rahmen der NATO und
schauen: Was können wir besser machen? Wo können
wir unserer Verantwortung gerecht werden? – Wir wis-
sen doch alle, dass das eine Generationenaufgabe ist . Wir
sind seit 15 Jahren in Afghanistan engagiert,


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja, aber es wird nicht besser!)


aber eben nicht nur militärisch . Wir engagieren uns im
Bereich der Entwicklungszusammenarbeit . Wir engagie-
ren uns im Bereich der humanitären Hilfe, im Bereich der
Stabilisierung .


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: 75 Prozent Analphabetentum!)


Wer ein solch undifferenziertes Bild von Afghanistan
zeichnet, der handelt verantwortungslos .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg . Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Sie handeln verantwortungslos! – Gegenruf des Abg. Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Ihr meckert ja nur rum!)


Wer so redet, der erkennt nicht an, dass inzwischen Schu-
len gebaut wurden,


(Niema Movassat [DIE LINKE]: Wie viele sind denn schon wieder geschlossen worden?)


dass viele Mädchen wieder eine Schule besuchen kön-
nen, dass es mehr Studierende gibt als jemals zuvor in
der Geschichte, dass die Infrastruktur deutlich verbessert
wurde, dass Krankenhäuser errichtet werden konnten,
dass die Kindersterblichkeit deutlich gesunken ist, dass

Heike Hänsel

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20595


(A) (C)



(B) (D)


Kabul eine Stadt ist, die überhaupt nicht mit den Verhält-
nissen zu vergleichen ist, die wir noch vor 15 Jahren vor-
gefunden haben .


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Dann fahren Sie doch hin, und bewegen Sie sich dort! Sie fahren doch nur mit kugelsicherer Weste dahin!)


Das muss man bei objektiver Betrachtung doch zumin-
dest einmal zur Kenntnis nehmen .

Keiner zeichnet hier ein einseitiges Bild von Afgha-
nistan. Gerade weil wir um die Defizite wissen, sind wir
bereit, Afghanistan in den kommenden Jahren auf seinem
schwierigen Weg weiterhin zu unterstützen .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Am Ende dieses Weges steht für uns ein klares Ziel: Af-
ghanistan muss sicherer und stabiler werden, damit die
Menschen in ihrer Heimat endlich wieder Hoffnung
schöpfen können, Hoffnung auf ein Leben in Sicherheit,
Hoffnung auf einen Job und ein bisschen Freiheit.

Ich finde es mehr als legitim, dass uns Bürgerinnen
und Bürger in unseren Sprechstunden fragen: Was tut
ihr ganz konkret in Afghanistan? – Die Verlängerung der
NATO-Ausbildungs- und Beratungsmission Resolute
Support ist eben nur ein Baustein, wenn auch ein wich-
tiger . Daneben bringt die Bundesregierung in Afghanis-
tan die gesamte Bandbreite des außenpolitischen Instru-
mentariums zum Einsatz . Insgesamt beläuft sich unsere
finanzielle Unterstützung auf 510 Millionen Euro jähr-
lich, davon 80 Millionen Euro für die Ausbildung und
für die Unterstützung der afghanischen Armee, 70 Mil-
lionen Euro für die Ausbildung und Ertüchtigung der af-
ghanischen Polizei; 250 Millionen Euro werden in die
Entwicklungszusammenarbeit investiert und 110 Millio-
nen Euro in weitere Stabilisierungsprojekte . In keinem
Land, liebe Kolleginnen und Kollegen, engagieren wir
uns stärker .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Im Rahmen dieses Engagements fördert die Bundesre-
gierung unter anderem den Polizeiaufbau in Afghanistan,
berät sie die afghanische Regierung im Flüchtlingsrecht
und unterstützt Binnenvertriebene in Nordafghanistan,
beteiligt sich am Aufbau staatlicher Strukturen und natür-
lich der Infrastruktur; davon habe ich bereits gesprochen .
Wer unser Engagement beim Bau von Schulen, Kranken-
häusern und Straßen einfordert, und zwar zu Recht, kann
sich der Verlängerung von RSM nicht verschließen .

Deutschland ist damit nach den Vereinigten Staaten
der zweitgrößte bilaterale Geldgeber in Afghanistan .
Aber – das ist schon von der Kollegin von der Leyen zum
Ausdruck gebracht worden; ich habe das auch Gesprä-
chen mit vielen Kolleginnen und Kollegen entnommen –
wir stellen Afghanistan mitnichten Blankoschecks aus .
Die Bundesregierung hat die finanzielle Unterstützung
ausdrücklich an ganz strenge Bedingungen geknüpft . Wir
erwarten, dass die afghanische Regierung ihren Teil der
Abmachung einhält, etwa bei der Beachtung von Men-
schenrechten oder bei der Bekämpfung von Korruption .


(Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, freilich!)


Auch in Migrationsfragen erwarten wir eine bessere Zu-
sammenarbeit . Das geschieht bisher noch unzureichend .
Wir werden das in Kabul mit Nachdruck weiter einfor-
dern .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Afghanistan bedarf
weiterhin unserer Unterstützung, damit die in den ver-
gangenen Jahren erreichten Fortschritte nicht zurückge-
dreht werden. Wir befinden uns an dem Punkt, an dem
noch nicht einmal klar ist, ob das, was wir mühselig ha-
ben aufbauen und unterstützen können, gesichert werden
kann . Die Menschen in Afghanistan müssen endlich wie-
der eine Perspektive für ein Leben in Frieden, Freiheit
und wirtschaftlicher Sicherheit haben. Diese Perspektive
müssen sie in ihrem eigenen Land sehen .

Dass diese Perspektive derzeit leider nicht überall in
Afghanistan gegeben ist, belegen auch die aktuellen Zah-
len aus Deutschland: Seit Beginn des Jahres 2016 haben
allein in Deutschland mehr als 120 000 Afghaninnen und
Afghanen einen Asylantrag gestellt . Deutschland reagiert
mit großer Hilfsbereitschaft . Die Hälfte der Antragstel-
ler aus Afghanistan hat Anspruch auf internationalen
Schutz . Fakt ist aber auch, dass viele Afghaninnen und
Afghanen ihr Land aus wirtschaftlichen Motiven, aus
Perspektivlosigkeit verlassen. Ich will das Dilemma of-
fen ansprechen: Einerseits versuchen wir seit 15 Jahren,
in Afghanistan Stabilität zu schaffen und das Vertrauen in
die staatlichen Strukturen zu erhöhen . Andererseits kann
aber kein Vertrauen entstehen, wenn immer mehr junge
Menschen das Land verlassen . Diesen Teufelskreis müs-
sen wir durchbrechen, liebe Kolleginnen und Kollegen .
Wir können nur in die Zukunft Afghanistans investieren,
wenn auch das afghanische Volk an diese Zukunft glaubt .
Auch hier engagieren wir uns mit vielen konkreten Pro-
jekten vor Ort . Wir lassen doch niemanden allein .

Bisweilen sind es die kleinen Dinge des Alltags, die
Hoffnung machen. So ist es bewegend, zu sehen, wie
mit der Eröffnung einer einzigen Schule Hunderten von
Kindern und Jugendlichen wieder eine Perspektive ge-
schenkt wird oder wie mit Mikrokrediten Hunderte von
neuen Start-ups entstehen, die den Menschen vor Ort
wieder Arbeit geben . Jede dieser kleinen Erfolgsge-
schichten bringt das Land und die Menschen unserem
gemeinsamen Ziel ein Stück näher: ein Land, das auf
eigenen Füßen steht und das endlich zur Normalität zu-
rückkehren kann .

Ja, es geht um die Stabilisierung und um die Befrie-
dung Afghanistans . Ich gebe zu: Das ist eine Generatio-
nenaufgabe . Aber das ist keine Einbahnstraße . Wir haben
auch die klare Erwartungshaltung, dass die afghanische
Regierung Schritt für Schritt wieder die Verantwortung
für Stabilität und Sicherheit im eigenen Land übernimmt .
Die Bundesverteidigungsministerin hat eben dargestellt,
wo die Defizite liegen. Es gibt durchaus auch Erfolge,
aber viel viel zu wenig . Wir können damit nicht zufrieden
sein .

Seit dem Ende der ISAF-Mission 2014 tragen die af-
ghanischen Sicherheitskräfte die alleinige Verantwor-
tung für die Sicherheit in ihrem Land . Die afghanischen
Streitkräfte hatten es vor allem durch den Wegfall der
Luftnahunterstützung schwer und mussten hohe Verluste

Staatsminister Michael Roth

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620596


(A) (C)



(B) (D)


beklagen . Militante Gruppen, insbesondere die Taliban,
liefern sich an vielen Orten immer wieder Gefechte mit
den staatlichen Sicherheitskräften oder begehen Anschlä-
ge . Aber wir sollten auch anerkennen: Insgesamt hat die
afghanische Armee bisher besser als erwartet standgehal-
ten . Den Taliban ist es trotz mehrfacher erbitterter Versu-
che nicht gelungen, auch nur eine einzige Provinzhaupt-
stadt dauerhaft einzunehmen .

Dennoch: Wie angespannt die Sicherheitslage in Af-
ghanistan nach wie vor ist, hat uns auch der Anschlag
auf das deutsche Generalkonsulat in Masar-i-Scharif vor
wenigen Tagen gezeigt . Dies hat alle erschüttert . Alle
haben sich die Frage gestellt: Können wir einfach so
weitermachen? Müssen wir das Mandat im Lichte dieses
Anschlags noch einmal kritisch überprüfen? – Ich finde,
wir haben das verantwortungsvoll getan . Ich rate jedem
von Ihnen, wenn einmal die Gelegenheit besteht, mit un-
seren Kolleginnen und Kollegen im Generalkonsulat zu
sprechen . Da kann einem nur himmelangst werden, wenn
man sich einmal vor Augen führt, was die Menschen dort
erlebt haben, nicht zu sprechen auch von den vielen un-
schuldigen afghanischen Opfern .

Die Gewalt, die auch noch heute von den Taliban in
Afghanistan ausgeht, und das Leid der Bevölkerung kön-
nen rein militärisch nicht beendet werden . Frau Hänsel,
das behauptet doch auch überhaupt niemand . Der Weg
zu einem friedlichen Afghanistan kann letztlich nur über
einen innerafghanischen Friedensprozess führen,


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Aber da passiert doch nichts!)


an dem alle gesellschaftlichen Gruppen teilhaben, die für
eine politische Lösung bereit sind .

Der Abschluss eines Friedensabkommens mit der
Hisb-i-Islami von Gulbuddin Hekmatjar zeigt, dass ein
Friedensabschluss möglich ist . Die Regierung wird nun
beweisen müssen, dass sie in der Lage ist, die ehemali-
gen Kämpfer der Hisb-i-Islami einzubinden und so ein
positives Beispiel für weitere Abkommen zu setzen . Die
internationale Gemeinschaft unterstützt diesen Prozess.
Auch aufseiten der Taliban mehren sich Stimmen, die
diesen Weg befürworten . Wie umstritten war das noch
vor Jahren, als es die Forderung gab, mit den Taliban zu
sprechen! Man tut das nun . Jeder versucht im Rahmen
seiner Verantwortlichkeit, etwas Konkretes zu leisten,
sodass wir hier zu dauerhaften Friedensschlüssen kom-
men. Am Ende eines solchen Prozesses müssen sich die
Afghanen auf ein Ende der Gewalt einigen, alle Verbin-
dungen zum internationalen Terrorismus kappen und sich
zur Einhaltung der afghanischen Verfassung verpflichten.
Ein solcher Friedensprozess wird im besten Fall noch
Jahre dauern . Entscheidend wird sein, dass die Staaten
der gesamten Region an einem Strang ziehen . Auch hier-
für setzen wir uns ein . Deutschland hat beispielsweise
den Vorsitz der Internationalen Afghanistan-Kontakt-
gruppe inne . Auch hier übernehmen wir ganz konkret
Verantwortung .

Der Mandatsantrag regelt die weitere Beteiligung
bewaffneter deutscher Streitkräfte an Resolute Support,
und zwar gemeinsam mit unseren Partnern. Das Man-
dat bleibt im Grundsatz unverändert . Resolute Support

wird auch 2017 kein Kampfeinsatz sein . An dieser Stel-
le möchte ich nicht nur den Soldatinnen und Soldaten,
sondern auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
unserer Auslandsvertretungen sowie den Polizistinnen
und Polizisten in Afghanistan danken. Ihr Einsatz unter
schwierigsten Bedingungen verdient unseren größten
Respekt . Jeder von uns, der sich nach schwieriger innerer
Abwägung dazu entscheiden kann, dieser Mission zuzu-
stimmen, stärkt das Vertrauen in unsere Sicherheit und in
unsere Sicherheitskräfte, die in Afghanistan verantwort-
lich zeichnen und sich nach Kräften im Interesse von
Sicherheit und Stabilität bemühen . Wir sollten sie dabei
nicht alleine lassen . Deshalb freue ich mich über jeden
Einzelnen und jede Einzelne von Ihnen, der bzw . die die-
ser Mission und diesem Mandat zuzustimmen vermag .

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820622800

Nächste Rednerin ist die Kollegin Agnieszka Brugger,

Bündnis 90/Die Grünen .


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir alle haben trotz der Meinungsunterschie-
de, die es zwischen uns gibt, gehofft, dass die Gewalt
nach so vielen Jahren des Leids in Afghanistan endlich
ein Ende findet. Die Lage ist zurzeit so düster wie schon
lange nicht mehr . In den letzten 15 Jahren haben weder
der ISAF-Einsatz mit all seinen unterschiedlichen Pha-
sen, mit Luftbombardierung, Offensiven, Antiterrormaß-
nahmen und schwerem Gerät, noch die Ausbildungsmis-
sion, die dem nachgefolgt ist und über deren Fortsetzung
wir heute beraten, die angestrebten Ziele erreicht .

Es ist notwendig, dass Sie von der Bundesregierung
und der Koalition sich ein paar Tatsachen stellen, ihnen
ins Auge sehen und ein paar Fragen beantworten . Wel-
ches sind Ihre Kriterien für ein Ende, einen Erfolg bzw .
einen Exit bei diesem Ausbildungseinsatz, der einmal auf
zwei Jahre angelegt war, nun aber viel länger laufen soll
und dessen Schwerpunkte von reiner Ausbildung Rich-
tung Unterstützung und Begleitung verschoben werden?
Außer Hinhalteparolen hört man nicht besonders viel .
Was hier fehlt, ist ein realistisches Konzept . Wie kann
denn die Ausbildung von Sicherheitskräften überhaupt
gelingen, wenn eine Regierung durch Zerrissenheit und
Klientelpolitik einen Großteil des Vertrauens in der Be-
völkerung verspielt hat? Wenn es keine gute politische
Führung gibt, dann kann auch die Ausbildung von Si-
cherheitskräften keinen Erfolg haben . Frau Ministerin,
Sie selbst haben das gerade angesprochen . Aber ich hatte
in den letzten Monaten den Eindruck, dass man immer,
wenn man nachgefragt hat, wie die Bundesregierung
zum Beispiel darauf reagiert, dass es über Monate hin-
weg keinen Verteidigungsminister in Afghanistan gab,
nur ein Schulterzucken geerntet hat . Wie reagieren Sie
darauf, dass es trotz langjähriger intensiver Ausbildungs-
bemühungen immer wieder Hinweise – und zwar nicht
allzu wenige – auf Korruption, Desertion und Gewalt in-

Staatsminister Michael Roth

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20597


(A) (C)



(B) (D)


nerhalb der afghanischen Sicherheitskräfte gibt oder dass
es immer wieder zu gravierenden militärischen Fehlent-
scheidungen kommt? Was ist Ihre Antwort darauf, dass
nach wie vor die schlimmsten Menschenrechtsverletzer
und Warlords die Bevölkerung drangsalieren und unter-
drücken? Hier kann doch nicht das Prinzip gelten: Der
Feind unseres Feindes, der Taliban, ist unser Freund .

All das sind doch riesige Probleme und ist eine riesige
Hürde für eine friedliche Zukunft in Afghanistan; denn
das beschert den Taliban Zulauf . Aber bei allen Fragen
bleibt die Bundesregierung Antworten schuldig . Es gibt
große Leerstellen . Stattdessen legen Sie Jahr für Jahr ein
Mandat vor und vermitteln uns den Eindruck: Nur noch
ein bisschen länger und nur noch ein bisschen mehr, dann
wird es endlich besser! – Das ist sehr dürftig, und, ehrlich
gesagt, mir fehlt da der Glaube .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sicherlich hat das mit Ignoranz zu tun; aber ich glau-
be, es hat auch mit einer gewissen Rat- und Hilflosigkeit
zu tun. Ich sage ganz ehrlich: Diese Rat- und Hilflosig-
keit spüre ich auch selbst als jemand, der, wie viele mei-
ner grünen Kolleginnen und Kollegen, gegen die Man-
date gestimmt hat . Niemand hat den Masterplan, wie
man Frieden, Stabilität und Sicherheit in den nächsten
Jahren in Afghanistan mit Sicherheit schaffen kann. Aber
aus meiner Sicht gibt es drei Schlussfolgerungen, die
man ziehen kann, wenn man trotz der deprimierenden
Lage im Land die Menschen nicht alleine lassen will und
wenn man möchte, dass das langjährige, auch durchaus
schwierige und umstrittene Engagement nicht vergebens
sein soll .

Erstens ist eine ehrliche und kritische Bilanz dieser
Militäreinsätze mehr als überfällig . Die Bundesregierung
darf sich hier nicht weiter wegducken . Nicht nur wir Grü-
ne fordern das seit Jahren; das haben auch andere Kol-
leginnen und Kollegen immer wieder eingefordert . Aber
dann haben wir vor kurzem aus der Presse erfahren, dass
im März 2015 ein Bericht im Verteidigungsministerium
geschrieben wurde – Nachbetrachtung Afghanistan-Ein-
satz –, der unter Verschluss gehalten wurde . Ich muss sa-
gen: Die Debatte muss hier im Parlament geführt werden.
Wir müssen uns damit beschäftigen, wenn man aus Feh-
lern für die Zukunft lernen will . Sie können Ergebnisse
nicht unter den Teppich kehren, nur weil sie Ihnen nicht
genehm sind .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dazu gehört auch die Frage, was man mit einem solchen
Einsatz realistisch überhaupt erreichen kann . Ich denke,
es ist für das zukünftige Engagement extrem wichtig,
sich damit auseinanderzusetzen .

Zweitens . Ja, es ist nicht alles schlecht in Afghanistan .
Deutschland hat in den Bereichen Wiederaufbau, Ent-
wicklungszusammenarbeit oder auch Bildung durchaus
viel geleistet . Das muss weitergehen, und das muss ge-
stärkt werden; denn das ist das, was den Menschen in Af-
ghanistan neue Hoffnung und Zukunftsperspektiven gibt.

Bei meiner dritten Schlussfolgerung sind wir Grüne
ganz klar in Opposition zur Bundesregierung . Sie wi-
dersprechen sich an dieser Stelle wirklich massiv selbst .

Eine halbe Million neuer Binnenvertriebener ist gerade
von den Vereinten Nationen in Afghanistan registriert
worden . Das zeigt die Dramatik der Lage . Einerseits er-
klären Sie uns hier, dass es so schwierig und gefährlich
in Afghanistan ist und man deshalb den Militäreinsatz
verlängern muss . Andererseits sprechen Sie von siche-
ren Zonen, wollen Abschiebungen und Rückführungen
verstärken und verfolgen obendrein die Strategie, dass
es nur dann, wenn Afghanistan mehr Flüchtlinge zurück-
nimmt, in Zukunft Entwicklungszusammenarbeit gibt .
Meine Damen und Herren, das passt vorne und hinten
nicht zusammen . Das ist zynisch und herzlos . So lässt
man die Menschen in Afghanistan nämlich wirklich al-
lein .

Vielen Dank .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820622900

Der Kollege Jürgen Hardt spricht jetzt für die CDU/

CSU .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Jürgen Hardt (CDU):
Rede ID: ID1820623000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

gehen mit dem Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr und
der Entscheidung über dieses Mandat in das 16 . Jahr .
Deswegen sind die Fragen völlig berechtigt: Was hat die-
ser Einsatz bisher gebracht? Wie weit haben wir uns den
Zielen angenähert, die wir formuliert haben? Wohin wird
dieser Einsatz führen? Wann können wir ihn beenden?

Wir haben im Zusammenhang mit unserem Einsatz
in Afghanistan eine ganze Reihe von Erfahrungen ge-
macht, die meines Erachtens gut aufbereitet worden sind
und die in die RSM-Mission eingeflossen sind. Wir ha-
ben vor zwei Jahren entschieden, dass wir nicht mehr an
Kampfhandlungen in Afghanistan teilnehmen und dass
wir uns auf Beratung, Ausbildung und Unterstützung der
afghanischen Streitkräfte konzentrieren . Das konnten wir
deshalb tun, weil wir es in den Jahren zuvor tatsächlich
geschafft haben, sowohl bei der Polizei als auch bei der
afghanischen Armee einen Ausbildungs- und Ausrüs-
tungsstand zu erreichen, der es den afghanischen Streit-
kräften erlaubt, die Verantwortung Stück für Stück selbst
zu übernehmen .

Blicken wir auf das zurückliegende Jahr zurück und
vergleichen wir es mit früheren Monaten . Blicken Sie
zum Beispiel auf den neuerlichen Versuch der Taliban,
die Stadt Kunduz im Norden von Afghanistan, im Ver-
antwortungsbereich der Bundeswehr im Rahmen des al-
ten ISAF-Mandats, einzunehmen. Dieser Angriff konnte,
anders als noch wenige Monate zuvor, erfolgreich zu-
rückgeschlagen werden; außer ein paar Handybildern der
Taliban war nichts von einer Besetzung dieser Stadt zu
verspüren . Den einheimischen Kräften ist es gelungen,
die Sicherheit und Ordnung weitestgehend wiederher-
zustellen . Das zeigt, dass wir gut vorankommen, wenn-
gleich wir natürlich noch nicht am Ziel sind .

Agnieszka Brugger

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620598


(A) (C)



(B) (D)


Wir haben alle das Interview des Kommandeurs des
deutschen Verbandes gelesen: Die Bevölkerung wünscht
sich dieses Engagement der deutschen Bundeswehr und
dankt dafür. Wir werden mit offenen Armen empfangen,
eben auch, weil die Bundeswehr nicht nur in kaki Uni-
form und mit der Waffe dort steht, sondern weil die Bun-
deswehr eben auch zivile Hilfe möglich macht . Was sich
im Land an Infrastruktur entwickelt und an Bildungs-
möglichkeiten offenbart – darüber hat die Ministerin ge-
sprochen –, ist ganz beachtlich .

Wenn wir auf die konkreten Defizite dieses Einsatzes
blicken, müssen wir natürlich auch nüchtern feststellen:
Die Zahl der getöteten Zivilisten in Afghanistan in den
ersten drei Quartalen dieses Jahres ist im Vergleich zu
den ersten drei Quartalen des letzten Jahres leider nicht
zurückgegangen . Es sind jeweils rund 2 500 Zivilisten
getötet worden . Die Terrorgefahr ist tatsächlich überall
präsent, wie wir am Generalkonsulat in Masar schmerz-
lich erleben mussten . Ich schließe mich ausdrücklich
dem Dank der Ministerin an .

Wir Obleute haben alle stündlich verfolgt, wie sich
die Situation in Masar entwickelt hat, und wir haben den
Eindruck, dass die Bundeswehr und ihre verbündeten
Streitkräfte da sehr umfassend und sehr gut reagiert ha-
ben . Leider hat es Opfer unter der Zivilbevölkerung und
unter den einheimischen Sicherheitskräften gegeben, die
natürlich in Zukunft unter allen Umständen verhindert
werden müssen .

Es gibt natürlich ein Defizit an Good Governance in der
Hauptstadt . Die Regierung mit der Doppelspitze funktio-
niert nur höchst unvollkommen – ein echter Hemmschuh
für eine schnellere und bessere Entwicklung . Wir haben
Pakistan, das nach wie vor ein Rückzugsort für die Tali-
ban und terroristische Kräfte ist. Der pakistanische Pre-
mierminister muss aus unserer Sicht erst beweisen, dass
er ein „terrific guy“ ist. Wir sehen ihn nicht als wirklichen
Erfolgsfaktor in der Region an, sondern wir mahnen die
pakistanische Regierung an, auch mehr gegen den Terro-
rismus im eigenen Land zu machen .

Ich bin der Meinung, dass wir uns natürlich mit Blick
auf die vielen, insbesondere jungen Afghanen, die gegen-
wärtig außerhalb Afghanistans leben, die Frage stellen
müssen: Was können wir tun, um diese jungen Menschen
zu bewegen, in ihr Heimatland zurückzukehren und dort
am Aufbau des Landes mitzuwirken? Es macht ja kei-
nen Sinn, wenn die ganzen Jungen und im Zweifel auch
die besser Ausgebildeten, zum Beispiel die, die Englisch
beherrschen, dann in anderen Ländern, zum Beispiel in
Deutschland, wo es 250 000 Afghanen gibt, leben . Wenn
wir von denen sprechen, die abgeschoben oder zurückge-
führt werden können und müssen, dann sprechen wir nur
von einem kleinen Teil . Ich glaube aber, dass es unter den
anderen auch viele gibt, die bei entsprechenden Anreizen
bereit und in der Lage sind, den Aufbau ihres Landes zu
fördern und zu betreiben . Da würde ich mir wünschen,
dass wir da noch mehr Fantasie und Kreativität entwi-
ckeln, dass mehr von diesen Menschen auch tatsächlich
ihr eigenes Land mit aufbauen .

Wir werden in die Beratung dieses Antrags mit gro-
ßer Sorgfalt einsteigen . Wir werden in den Ausschüssen

darüber reden, aber ich habe keinen Zweifel daran, dass
die CDU/CSU-Bundestagsfraktion am Ende der Verlän-
gerung des RSM-Mandats auch zustimmen wird .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820623100

Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der

Kollege Florian Hahn für die CDU/CSU .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Florian Hahn (CSU):
Rede ID: ID1820623200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Mehr als 15 Jahre sind wir mittlerweile in Afghanistan .
Diese 15 Jahre, die für uns wie eine Ewigkeit wirken, sind
für ein Land, das seit der sowjetischen Invasion 1979 in
einem zermürbenden Zustand aus Krieg und Gewalt ver-
sinkt, nicht genug .

Klar ist: Afghanistan braucht noch mehr Zeit . Für uns
heißt das: Wir brauchen einen langen Atem, die soge-
nannte strategische Geduld, um das Land weiter zu stabi-
lisieren, erreichte Fortschritte zu sichern und zu verhin-
dern, dass Afghanistan noch einmal zu einem sicheren
Hafen für islamistischen Terror wird .

Dazu ist es entscheidend, der Situation im Land am
Hindukusch mit genügend Pragmatismus zu begegnen.
Wir dürfen bei der Analyse der Gefährdungslage keine
Augenwischerei betreiben, sondern müssen gerade auch
gegenüber den Soldatinnen und Soldaten klar und ehrlich
die Realität beschreiben . Das Glas ist weder halb voll
noch halb leer .

Was heißt das? Der Angriff auf das deutsche Konsulat
in Masar stellt für uns natürlich ein dickes Ausrufezei-
chen dar . Eines wird damit deutlich: Die Taliban werden
auch weiterhin versuchen, mit gezielten Anschlägen den
Einsatzwillen der afghanischen Sicherheitskräfte und der
internationalen Gemeinschaft zu brechen . Diese Strate-
gie darf nicht aufgehen .

2015 war für die Taliban das erfolgreichste Jahr seit
der westlichen Militärintervention 2001 . Trotz interner
Machtkämpfe stellen sie auch in diesem Jahr für mehr
als die Hälfte der rund 34 Provinzen des Landes eine
ernsthafte Bedrohung dar. Trotzdem: Über 68 Prozent
der Bevölkerung stehen unter dem Schutz der Regierung .
Keine Stadt ist in diesem Jahr an die Taliban gefallen .
Die afghanischen Sicherheitskräfte haben mit den rund
320 000 Männern 90 Prozent ihrer Sollstärke erreicht.
Ein Großteil ist weiterhin mangelhaft ausgebildet . Es
fehlt an Führungsfähigkeiten . 2015 haben sie fast ein
Drittel ihrer Stärke durch Tod, durch Verwundung, durch
Desertion verloren . Ein solcher Verlust bewegt sich in
einer Größenordnung, die eine Armee kaum verkraften
kann .

Und doch: Der Ausbau der afghanischen Luftwaffe
geht voran . Eine eigene Luftnahunterstützung kann häu-
figer selbstständig geleistet werden. Auch haben die af-
ghanischen Spezialkräfte mittlerweile ein professionelles
Niveau erreicht . Aber Vetternwirtschaft, ethnische Auf-

Jürgen Hardt

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20599


(A) (C)



(B) (D)


splitterung in Fraktionen und Korruption sind im Militär
und in der Polizei weiterhin verbreitet. Aber auch hier
gibt es einige positive Zeichen: Präsident Ghani hat ge-
meinsam mit Abdullah Abdullah mehr als 70 ineffiziente
Militäroffiziere entlassen. Diese Strukturreformen müs-
sen weitergehen und dürfen nicht, wie in diesem Jahr,
wieder nachlassen .

Sicher ist: Militärisch allein ist der Konflikt nicht lös-
bar. Es muss daher auch eines offen ausgesprochen wer-
den: Unser Engagement ist noch lange notwendig . An die
Taliban gerichtet, heißt das, sie können uns auch nicht
aussitzen .

In den Kategorien von „Sieg“ oder „Niederlage“
sind langfristige Stabilisierungsmissionen nicht zu
fassen . . . . Die internationale Gemeinschaft aber darf
„nicht siegen“ deshalb nicht als Scheitern interpre-
tieren .

So lautet eine Bewertung des deutschen Engagements
durch den Wehrbeauftragten, Hans-Peter Bartels, den
ehemaligen General Klaus Wittmann und den Vorsitzen-
den des BundeswehrVerbandes, Oberstleutnant André
Wüstner .

Wichtig ist den drei Analysten vor allem eins: Wir
müssen aus Afghanistan lernen . Das heißt, wir müssen
die ressortübergreifende Zusammenarbeit weiter verbes-
sern, sprich: die interdisziplinäre Führungsstruktur in
aktuellen und künftigen Einsätzen noch stärker harmo-
nisieren. Gerade in asymmetrischen Konflikten müssen
wir daran arbeiten, mit genügend regionaler Flexibilität
auf Lageentwicklungen zu reagieren .

Entscheidend ist aber auch, dass die Einheitsregierung
unter Präsident Ghani in Afghanistan in Zukunft noch
stärker zu ihren Reformbemühungen steht . Frau Bundes-
ministerin hat das ja bereits sehr richtig und sehr ausführ-
lich ausgeführt . Die politischen Akteure müssen ihren
Anteil übernehmen, um Regierungshandeln, Frauenrech-
te, Wirtschaftskraft in Afghanistan zu verbessern und
damit die Unterstützung der Bevölkerung zu vergrößern .
Willkür und Unrecht sind die gefährlichsten Brandbe-
schleuniger für radikales Gedankengut und erfolgreiche
Rekrutierungshelfer der Taliban . Die Botschaft der Af-
ghanistan-Konferenz in Brüssel Anfang Oktober dieses
Jahres war daher sehr deutlich: Die internationale Unter-
stützung ist an klare Fortschritte bei der Umsetzung von
Reformen geknüpft .

Heute konkurriert Afghanistan mehr denn je um Res-
sourcen und Aufmerksamkeit mit anderen Konfliktgebie-
ten . Umso wichtiger ist es, dass sich die Afghanen nicht
in die Zeit nach dem sowjetischen Abzug 1989 zurück-
versetzt fühlen, in der das Land in Vergessenheit geriet .
Mit dem fortgesetzten Mandat zeigen wir sehr deutlich,
dass wir Afghanistan in der schwierigen Übergangsphase
nicht im Stich lassen .

„Geduld bedeutet, dass man immer weitblickend das
Ziel im Auge behält“, so ein berühmter afghanischer
Denker . Daran sollten wir uns halten und die entspre-
chende Geduld weiter aufbringen .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820623300

Damit schließe ich die Aussprache .

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/10347 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Erhebt sich dagegen
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall . Dann ist die Über-
weisung somit beschlossen .

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 12 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Recht und Verbrau-
cherschutz (6 . Ausschuss) zu dem Antrag der Ab-
geordneten Katja Keul, Luise Amtsberg, Volker
Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Gesetzliche Grundlage für Angehörigen-
schmerzensgeld schaffen

Drucksachen 18/5099, 18/10076

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Widerspruch
dagegen erhebt sich nicht . Dann ist das so beschlossen .

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Dr. Johannes Fechner für die SPD das
Wort .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Johannes Fechner (SPD):
Rede ID: ID1820623400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren auf den Tribü-
nen! Das Angehörigenschmerzensgeld kommt endlich .
Gestern ging nach langen und intensiven Diskussionen
der Referentenentwurf in die Ressortabstimmung . Damit
können wir noch in dieser Legislaturperiode eine Rechts-
grundlage beschließen, damit die Hinterbliebenen einen
eigenen Anspruch auf Schmerzensgeld erhalten, wenn
sie einen Angehörigen verloren haben .

Vor meiner Wahl in den Bundestag habe ich als
Rechtsanwalt Eltern vertreten, die durch einen tragi-
schen Verkehrsunfall ihr kleines Kind verloren hatten,
was unermessliches Leid über die Familie gebracht hat .
Natürlich können wir dieses große seelische Leid Hin-
terbliebener durch den Verlust nahestehender Menschen
niemals mit Geld ausgleichen . Aber zumindest ein Stück
weit können wir das Leid von Hinterbliebenen durch eine
Geldzahlung lindern .

Dafür ist im BGB eine eigene Anspruchsgrundlage für
Hinterbliebene erforderlich . Nach heutiger Rechtslage
haben Angehörige nur dann einen Anspruch, wenn die
hohen Anforderungen des BGH hierfür erfüllt sind . Der
BGH fordert eine über das Maß der normalen Trauer hi-
nausgehende seelische Beeinträchtigung, und das ist im
Einzelfall immer nur sehr schwer nachweisbar .

Florian Hahn

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620600


(A) (C)



(B) (D)


Es war mir persönlich – ich habe Ihnen den entspre-
chenden Fall geschildert –, aber auch der SPD deshalb
ein großes Anliegen, dass wir für die Angehörigen und
Hinterbliebenen eine klare Rechtsgrundlage für ihre ei-
genen Ansprüche schaffen.


(Beifall bei der SPD)


Wir wollen deshalb in einem neuen Absatz 3 des § 844
BGB Personen einen Entschädigungsanspruch gegen den
Schädiger gewähren, die einen nahestehenden – nicht
notwendigerweise verwandten – Menschen durch eine
Straftat oder einen Unfall verloren haben . Auch Mitglie-
der von Patchworkfamilien und unverheiratete Partner
sind so erfasst. Denn ich finde, auch ein unverheirateter
Hinterbliebener kann einem Verstorbenen so nahegestan-
den sein, dass wir ihm oder ihr zum Ausgleich ihres bzw .
seines Leides einen eigenen Anspruch gewähren sollten .

Was die Höhe angeht, so haben wir Koalitionsfrak-
tionen uns dafür entschieden, dies im Einzelfall der
Rechtsprechung zu überlassen, allerdings mit dem klaren
Hinweis auf die Rechtsprechung in Deutschland und Eu-
ropa . Es wurden hier Zahlungen von bis zu 25 000 Euro
zugesprochen . Aus meiner Sicht könnte sich diese Recht-
sprechung durchaus dahin gehend entwickeln, dass auch
noch höhere Beträge zugesprochen werden .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht zuletzt die
Germanwings-Katastrophe hat uns gezeigt, dass Hin-
terbliebene eine klare Rechtsgrundlage und einen eige-
nen Rechtsanspruch auf Entschädigungszahlungen ha-
ben müssen . Es darf nicht sein, dass Angehörige in der
schweren Zeit der Trauer in ein unwürdiges Geschacher
um ihre Entschädigungszahlungen gegen den Schädiger
oder dessen Versicherung eintreten müssen . Das müssen
wir verhindern .


(Beifall bei der SPD)


Den Grünenantrag, über den wir heute diskutieren und
abstimmen, will ich ausdrücklich loben; die Forderungen
in diesem Antrag sind berechtigt . Aber das Bundesjus-
tizministerium hat jetzt ein entsprechendes Gesetzge-
bungsverfahren gestartet; der Schmerzensgeldanspruch
im BGB sowie in weiteren Gesetzen und die Gefähr-
dungshaftung werden kommen . Weil also den berechtig-
ten Anliegen des Grünenantrags nachgekommen wird,
müssen wir diesen Antrag nicht mehr verabschieden . Die
Aufforderung an die Bundesregierung, tätig zu werden,
ist schlicht nicht mehr nötig .


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagen Sie seit zwei Jahren!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, Angehörige brau-
chen eine klare Rechtsgrundlage für ihre Ansprüche .
Lassen Sie uns diese hier möglichst rasch beschließen .

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD – Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Am besten heute noch!)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820623500

Nächster Redner ist der Kollege Harald Petzold, Frak-

tion Die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Harald Petzold (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1820623600

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! Der
Kollege Fechner hat es angesprochen: Nach dem Absturz
der Germanwings-Passagiermaschine im März 2015 ha-
ben die Fluggesellschaften Germanwings und Lufthansa
den Hinterbliebenen der Opfer eine finanzielle Über-
brückungshilfe von jeweils bis zu 50 000 Euro gezahlt .
Vorausgegangen waren sehr schmerzhafte – ich will es
trotzdem einmal so nennen – Verhandlungen, weil die
Opfer eben keinen Rechtsanspruch auf ein Angehörigen-
schmerzensgeld hatten – und das, obwohl Sie sich in Ih-
rem Koalitionsvertrag eigentlich dazu verpflichtet haben,
Folgendes zu regeln – ich zitiere –:

Menschen, die einen nahen Angehörigen durch Ver-
schulden eines Dritten verloren haben, räumen wir
als Zeichen der Anerkennung ihres seelischen Leids
einen eigenständigen Schmerzensgeldanspruch ein,
der sich in das deutsche System des Schadensersatz-
rechts einfügt .

Weil nichts passiert war, hat die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen – das hatten Sie damals so begründet – in
der 124 . Sitzung unseres Bundestages den Antrag ein-
gebracht, den wir heute erneut behandeln und der die
Bundesregierung auffordert, einen eigenen gesetzlichen
Schmerzensgeldanspruch für Hinterbliebene zu schaffen.
Dazu sollen entsprechende Paragrafen im Bürgerlichen
Gesetzbuch geändert werden . Im Falle der Gefährdungs-
haftung soll der gesetzliche Schadensersatzanspruch um
ein Schmerzensgeld für Hinterbliebene erweitert werden .
Im Opferentschädigungsgesetz soll ergänzt werden, dass
Hinterbliebene im Fall der Zahlungsunfähigkeit des Ver-
ursachers einen Anspruch gegen den Staat geltend ma-
chen können .

In diesem Antrag wird letztlich nur das gefordert, was
Sie im Koalitionsvertrag festgeschrieben haben . Deswe-
gen ist es unverständlich, wieso bis zum heutigen Tag bis
auf Ankündigungen nichts passiert ist .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nachdem sich der Justizminister als Ankündigungs-
minister genügend profiliert hat, entwickeln Sie sich,
Herr Kollege Fechner, muss ich ganz ehrlich sagen, in
der SPD-Bundestagsfraktion zum Ankündigungsabge-
ordneten vom Dienst .


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In jeder Sitzung des Ausschusses, in der von Ihnen die
Vertagung oder Absetzung oder Nichtbehandlung dieses
Antrags beantragt worden ist, ist immer wieder angekün-

Dr. Johannes Fechner

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20601


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digt worden: Wir machen das, weil wir selbst an einer
Lösung arbeiten . Wir arbeiten selbst daran .


(Dr. Johannes Fechner [SPD]: Ich schicke Ihnen den Referentenentwurf!)


Heute kündigen Sie wieder nur an und sagen: Der Refe-
rentenentwurf ist jetzt fertig .


(Dr. Johannes Fechner [SPD]: Ja!)


Damit können die Opfer und die Hinterbliebenen nichts
anfangen . Davon können sie sich nichts kaufen . Deswe-
gen wird es Zeit, dass Sie endlich liefern .


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr . Johannes Fechner [SPD]: Genau das tun wir!)


Ich kann Sie nur auffordern, alle die Dinge nachzu-
lesen und zu berücksichtigen, die mein Kollege Jörn
Wunderlich in der ersten Lesung vorgetragen hat; denn
die Problemlage ist längst klar. Ich will noch einmal aus-
drücklich darauf hinweisen, dass es darum gehen muss,
eine Regelung zu treffen, nach der dieses Angehörigen-
schmerzensgeld nicht auf andere Leistungen angerechnet
wird; sonst haben wir eine neue Ungerechtigkeit .


(Beifall bei der LINKEN)


Ich fordere Sie auf, noch in dieser Legislaturperiode –
es sind noch zehn Monate bis zur nächsten Wahl – etwas
vorzulegen, das tatsächlich beschlossen werden kann . Ich
kann nicht nachvollziehen, wieso Sie hier sagen: „Der
Antrag der Grünen ist gut“, dann aber nicht die Größe
besitzen, ihn wenigstens zu behandeln und hier eine Zu-
stimmung dazu herbeizuführen .


(Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Es passierte ja auch nicht mehr, als dass die Bundesre-
gierung aufgefordert wird, endlich zu liefern . Das wird
höchste Zeit .

Vielen Dank, meine Damen und Herren .


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820623700

Der Kollege Dr . Hendrik Hoppenstedt spricht jetzt für

die CDU/CSU .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hendrik Hoppenstedt (CDU):
Rede ID: ID1820623800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor über

einem Jahr, am 24 . September 2015, haben wir über den
Grünenantrag hier schon einmal beraten . Jetzt ist es wie-
der so weit .


(Dr . Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und so lange haben Sie nicht geliefert!)


In dem Antrag zitieren Sie aus dem Koalitionsvertrag:

Menschen, die einen nahen Angehörigen durch Ver-
schulden eines Dritten verloren haben, räumen wir

als Zeichen der Anerkennung ihres seelischen Leids
einen eigenständigen Schmerzensgeldanspruch ein,
der sich in das deutsche System des Schadensersatz-
rechts einfügt .

Dazu darf ich erneut feststellen: Ich begrüße, wenn
die Opposition sich mit unserem Koalitionsvertrag aus-
einandersetzt, und wenn sie ihn auch noch inhaltlich
unterstützt, umso schöner . Das Abschreiben aus dem
Koalitionsvertrag ist möglicherweise keine intellektuel-
le Höchstleistung, für unser Land möglicherweise aber
immer noch besser als die Verwirklichung eigener Ideen .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Normalerweise werden Ihre Anträge von der Koaliti-
on stets aus guten Gründen zurückgewiesen .


(Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das machen Sie immer!)


Das werden wir auch dieses Mal tun müssen, dieses Mal
mit etwas schwererem Herzen . Aber wir glauben, dass
die Ergänzung des Opferentschädigungsgesetzes inhalt-
lich zu weitgehend ist .

Allerdings haben Sie recht, dass es nicht angehen
kann, dass wir nach drei Jahren immer noch nicht die
erste Lesung eines Gesetzentwurfs dazu hier im Plenum
haben .


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg . Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE])


Der Grund dafür ist relativ einfach: Bundesminister
Heiko Maas hat uns tatsächlich erst am letzten Donners-
tag einen ersten Referentenentwurf übermittelt .


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist auch bald Weihnachten!)


Ich könnte jetzt auf eine Vielzahl von Briefen und Ge-
sprächen mit dem BMJV verweisen, in denen ich und an-
dere versucht haben, das Ministerium ein Stück weit zur
Eile zu treiben . Das hat leider alles wenig genutzt .


(Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gib’s ihm, gib’s ihm!)


Wahrscheinlich hätte ich mich heute hierhingestellt
und hätte irgendetwas Freundliches, etwas Entschuldi-
gendes oder etwas Relativierendes über das Ministerium
gesagt,


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Ihnen fällt nichts mehr ein!)


wenn die SPD-Bundestagsfraktion nicht am letzten
Samstag eine Pressemitteilung herausgegeben hätte, aus
der ich kurz zitieren darf:

Die Koalitionsfraktionen haben sich in den vergan-
genen Tagen endlich auf eine gesetzliche Regelung
zum Hinterbliebenengeld geeinigt . Damit kann der
Bundestag noch in dieser Legislaturperiode eine
Rechtsgrundlage beschließen,


(Beifall des Abg. Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE])


Harald Petzold (Havelland)


Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620602


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mit der das seelische Leid Hinterbliebener durch
den Verlust nahestehender Menschen ausgeglichen
werden kann .

In Absatz 4 heißt es:

Hinterbliebene dürfen nicht mit geringen Summen
abgespeist werden . Wir hätten deshalb gern in der
Gesetzesbegründung einen Korridor von 30 000 bis
60 000 Euro benannt . Dieses wollte die Union nicht .
Immerhin wird nun aber auf unseren Vorschlag hin
in der Gesetzesbegründung als Orientierung auf Ur-
teile verwiesen, in denen bis zu 25 000 Euro zuge-
sprochen wurden .

Meine Damen und Herren, dazu gestatten Sie mir
zwei Bemerkungen .

Bemerkung eins . Sie erwecken den Eindruck, dass die
Koalitionsfraktionen monatelang über diese Eckpunkte
gestritten hätten .


(Dr. Johannes Fechner [SPD]: So war es auch!)


Das ist erkennbar nicht der Fall . Wir hatten zwei The-
men, die uns beschäftigt haben, nämlich der Kreis der
Anspruchsberechtigten zum einen und zum anderen die
Anspruchshöhe . Beides haben wir in einem 30-minüti-
gen Gespräch in Form eines Kompromisses beigelegt .
Deswegen noch einmal: Für die Verzögerung ursächlich
ist die Priorisierung im Hause Maas. Dort wird als Aller-
erstes das aus dem Koalitionsvertrag abgearbeitet, was
die SPD hineinverhandelt hat.


(Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Sehr schön! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist Ihren Ressorts ja wesensfremd!)


Dann wird sich um die Dinge gekümmert, die im Zwei-
felsfall gar nicht – Frau Künast, hören Sie doch kurz
zu! – im Koalitionsvertrag stehen, wie zum Beispiel die
Reform des Mordparagrafen . Dann erst kommen unsere
Belange . Da in diesem Fall das Gesetzesvorhaben auch
von der CSU kommt, ist es natürlich ein besonderes
Schmuddelkind .


(Beifall bei der CDU/CSU – Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Jetzt wird es aber wirklich peinlich!)


Zweite Bemerkung: die Sache mit der Anspruchshö-
he . Das Ministerium war zwar unendlich langsam, aber
wenigstens kann es lesen .


(Dr. Johannes Fechner [SPD]: Schreiben wäre auch nicht schlecht!)


Im Koalitionsvertrag steht, dass sich der Anspruch in
das deutsche System des Schadenersatzrechtes einfügen
muss . Wenn der schlimmere Schockschaden mit circa bis
zu 15 000 Euro entschädigt wird, dann kann der Hinter-
bliebenenschmerz schwerlich 60 000 Euro nach sich zie-
hen, Herr Fechner. Das trieft vor Populismus, jedenfalls
meines Erachtens . Das scheinen selbst die Grünen so zu
sehen; denn im Antrag heißt es:

Die bislang üblicherweise angewandten Schmer-
zensgeldtabellen haben sich bewährt .

Wer das ändern will, soll das offen so sagen. Er be-
kommt dann nämlich amerikanische Schadensersatzver-
hältnisse, die jedenfalls ich nicht will, weil sie auch für
die Versichertengemeinschaft riesige Mehrkosten nach
sich ziehen würden .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deswegen, meine Damen und Herren von der SPD,
glaube ich, war es vielleicht nicht die beste Idee, diese
Pressemitteilung zu schreiben. Wenn Sie doch eine Pres-
semitteilung schreiben möchten, dann rate ich Ihnen zum
Schluss, zwei Dinge dort hineinzuschreiben:

Punkt eins. „Die SPD-Bundestagsfraktion bedauert,
dass der zuständige Minister drei Jahre lang gebraucht
hat, um einmal einen Referentenentwurf zu schreiben .“


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Christine Lambrecht [SPD]: Ganz kleines Karo!)


Punkt zwei. „Die SPD-Bundestagsfraktion entschul-
digt sich bei den Hunderten von Menschen in unserem
Land, die möglicherweise in den letzten zwei Jahren ei-
nen nahen Angehörigen verloren haben durch Verschul-
den oder Tötung durch einen Dritten,


(Christine Lambrecht [SPD]: Blamabel, was Sie machen! – Dr. Johannes Fechner [SPD]: Du blamierst dich gerade!)


weil sie es nicht geschafft hat, einen entsprechenden Ge-
setzesentwurf rechtzeitig vorzulegen .“

Hier möchte ich sagen: Das ist ausschließlich ein
SPD-Thema. Deswegen würde ich mich freuen, wenn
Sie zukünftig dafür Sorge tragen, dass Ihre Pressemittei-
lungen der Realität entsprechen .

Danke schön .


(Beifall bei der CDU/CSU – Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb stimmen Sie den Grünen zu! – Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Sie können ja zustimmen, Herr Hoppenstedt, dann haben wir sofort den Gesetzentwurf!)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820623900

Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Keul, Bünd-

nis 90/Die Grünen .


(Beifall der Abg . Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE])



Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820624000

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ist es nicht schön, dass wir alle


(Beifall des Abg. Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE])


wunderbar für das Angehörigenschmerzensgeld sind?
Dass Sie jetzt in der Debatte über irgendetwas herziehen,

Dr. Hendrik Hoppenstedt

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20603


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um unseren Antrag abzulehnen, ist nicht neu, nicht über-
raschend und auch nicht ungewöhnlich .


(Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Keine intellektuelle Höchstleistung!)


Aber ungewöhnlich ist durchaus die hartnäckige Untätig-
keit des Justizministeriums .

Ich rufe noch einmal in Erinnerung: Nach dem Ab-
sturz der Germanwings-Maschine am 24 . März 2015
wurde noch einmal offenbar, dass im deutschen Recht
immer noch kein Schadensersatzanspruch für den Ver-
lust eines nahen Angehörigen besteht . Wir haben diesen
Anlass genutzt, uns noch einmal über eine konkrete ge-
setzliche Lösung Gedanken zu machen . Am 2 . Juni 2015
hat meine Fraktion den heute zur Abstimmung stehenden
Antrag auf Vorlage eines entsprechenden Gesetzes be-
schlossen und in den Bundestag eingebracht . Drei Mo-
nate später, im September 2015, fand die erste Lesung
statt, und da kündigten Sie schon an, es sei ja alles schon
so gut wie eingetütet .

Positiv überrascht war ich in der Debatte, dass wir so-
gar bei den Einzelheiten dieses Vorhabens tatsächlich zu
den gleichen sinnvollen Ergebnissen gekommen waren,
nämlich Einschränkung auf die Todesfälle, aber Anwen-
dung auch auf die Gefährdungshaftung . Wenn wir schon
einmal unabhängig zueinander zu dem gleichen Ergebnis
kommen, ist das ja erst einmal positiv .

Vonseiten der SPD hörte ich, der Gesetzentwurf solle
noch vor Weihnachten – ich betone: Weihnachten 2015 –
sicher vorliegen . In der Dezemberausgabe der Richterzei-
tung konnte ich dann einen Artikel des Kollegen Fechner
lesen . Da hieß es:

Das Angehörigenschmerzensgeld gehört für mich
persönlich zu den wichtigsten rechtspolitischen Vor-
haben in dieser Legislaturperiode .


(Dr. Johannes Fechner [SPD]: Genau! Ja!)


Aha, dachte ich, das macht Hoffnung.

Am 16 . Dezember haben wir im Rechtsausschuss auf
unseren Antrag hin beschlossen, eine Expertenanhörung
durchzuführen . Das wäre ja auch gerade im Hinblick auf
die angeblichen Arbeiten im Ministerium durchaus sinn-
voll gewesen . Stattdessen wurde aber dann die Termi-
nierung der Anhörung immer wieder abgesetzt, mal mit
der Begründung, man habe keine Zeit, und mal mit dem
Hinweis, der Gesetzentwurf aus dem Ministerium würde
ja jeden Moment vorliegen . Nach zehn Sitzungswochen
haben wir dann einen Bericht nach § 62 der Geschäfts-
ordnung angefordert, der aber weder Sie noch das Minis-
terium in irgendeiner Weise beeindruckt hat .

Nachdem Sie jetzt fast ein Jahr lang unser Minder-
heitenrecht auf Durchführung einer Anhörung boykot-
tiert haben, geht die Legislatur langsam, aber sicher dem
Ende entgegen . Und jeder weiß: Was bis Weihnachten
nicht durch ist, wird auch nichts mehr .


(Christine Lambrecht [SPD]: Oh!)


Ich habe den Antrag auf Expertenanhörung jetzt aufgege-
ben, damit wir wenigstens diese zweite Lesung unseres
Antrages hier heute noch durchführen können . Als ich

Anfang der Woche dann die erwähnte PM las, machte
ich mir schon Sorgen, und ich dachte, wir müssten den
Tagesordnungspunkt zurückziehen, weil jetzt etwas vor-
liegt . Aber siehe da: In der Kabinettssitzung gestern stand
es nicht auf der Tagesordnung, und als ich heute auf die
Tagesordnung der nächsten Sitzungswoche schaute – das
ist übrigens die letzte Sitzungswoche vor Weihnachten –,
war auch da vom Schmerzensgeld nichts zu sehen .

Wenn Ihnen das Schmerzensgeld wirklich so wichtig
ist, dann bringen Sie Ihr eigenes Ministerium jetzt auf
Trab und stimmen Sie unserem Antrag zu .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Das Thema wird ja nicht erst beim nächsten Flugzeug-
absturz relevant . Jeden Tag sterben Menschen bei Ver-
kehrsunfällen oder werden Opfer einer Gewalttat . Ich
vermag den Angehörigen nicht zu erklären, warum zwar
der Schmerz bei Verlust eines Körperteils bezifferbar ist,
aber nicht der Schmerz bei Verlust eines Kindes .

Wir haben gute Erfahrungen damit gemacht, dass wir
die Bemessung des Schmerzensgeldes in Deutschland in
das Ermessen des Gerichts stellen; denn jeder Fall ist in-
dividuell unterschiedlich . Wir sollten es als Gesetzgeber
dabei belassen, keine Zahlen in das Gesetz zu schreiben .
Die Ergänzung der Paragrafen – wir hatten vorgeschla-
gen, § 253 BGB zu ergänzen – kann ja nicht so komplex
sein, dass das Ministerium dafür zwei Jahre braucht .

Wenn ich einmal vergleiche, wie schnell Sie die In-
teressen der Deutschen Bank beim Insolvenzrecht, beim
sogenannten Liquidationsnetting,


(Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Oh, darüber reden wir nachher noch, ob das so ist!)


über das wir heute Nacht noch reden werden, gesichert
und in Gesetzesform gegossen haben, dann komme ich
zu dem Schluss, dass Sie diese kleine, aber wichtige Än-
derung des BGB im Schadensrecht dreimal hätten fertig
machen können .


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN – Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Da haben Sie den richtigen Weg noch nicht erkannt, Frau Kollegin!)


Tun Sie also bei der Abstimmung, was Sie meinen tun
zu müssen . Meine Fraktion wird jedenfalls heute für ein
Angehörigenschmerzensgeld stimmen .

Vielen Dank .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Wir auch!)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820624100

Für die SPD spricht jetzt der Kollege Dr. Matthias

Bartke .


(Beifall bei der SPD)


Katja Keul

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620604


(A) (C)



(B) (D)



Dr. Matthias Bartke (SPD):
Rede ID: ID1820624200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wurde

bereits gesagt: Im März 2015 hat der Kopilot Andreas
Lubitz sein Flugzeug absichtlich gegen die Felsen
der französischen Alpen gesteuert . Die Folgen dieses
schrecklichen Absturzes sind uns allen bekannt . Unter
dem Eindruck dieser Katastrophe haben Sie, liebe Bünd-
nisgrüne, den vorliegenden Antrag im vergangenen Jahr
vorgelegt .


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, wir, die Koalition, ha-
ben bereits im Koalitionsvertrag einen eigenständigen
Schmerzensgeldanspruch für Angehörige vereinbart;


(Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Davon haben die Angehörigen nur nichts!)


Sie haben eben durchaus zutreffend darauf hingewiesen.
Der Absturz des Flugzeugs war für uns also eine Bestäti-
gung unseres eigenen Handlungsauftrages . Anlass waren
aber vor allem die Einzelschicksale, die keine mediale
Aufmerksamkeit bekommen .

Immer wieder kommen Menschen durch eine Straftat
oder einen fremdverschuldeten Unfall ums Leben . Wird
ein Kind auf seinem Fahrrad von einem Auto überfahren,
bekommen die Eltern Schadensersatz für das Fahrrad
und für die Beerdigung . Ihr jahrzehntelanges seelisches
Leid nimmt das bürgerliche Recht nicht zur Kenntnis .
Es ist aber die Trauer, die eine tiefe Kerbe schlägt . Hin-
terbliebenen steht zwar jetzt schon Schadensersatz für
seelisches Leid zu; das ist aber nur dann der Fall, wenn
sie eine schwere seelische Erschütterung über normale
Trauer hinaus nachweisen können . Man spricht dann von
einem sogenannten Schockschaden . Die einfache Trau-
er ist entschädigungslos; sie wird als hinzunehmendes
Schicksal angesehen . Das wollen wir so nicht länger ste-
hen lassen .

Ich bin daher sehr froh, dass wir uns in der Regie-
rungskoalition endlich auf eine gesetzliche Regelung zur
Einführung eines Hinterbliebenengeldes geeinigt haben .


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich dachte, das haben Sie schon im Koalitionsvertrag gemacht!)


Der Verlust eines geliebten Menschen kann niemals
mit Geld aufgewogen werden . Diesem Anspruch muss
ein Schmerzensgeld aber auch nicht genügen . Mit der
geplanten Einführung eines Hinterbliebenengeldes wird
das seelische Leid der Angehörigen anerkannt, und wir
bekunden unsere Solidarität .

Ausschlaggebend für den seelischen Schmerz ist
nicht der Verwandtschaftsgrad, sondern das Nähever-
hältnis . Deswegen ist es nur folgerichtig, dass all jene
Anspruch auf die Entschädigungszahlung haben sollen,
die in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis
zum Getöteten standen . Erfasst sind damit zum Beispiel
Patchworkfamilien oder unverheiratete Partner.

Lieber Herr Hoppenstedt,


(Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Jetzt kommt’s!)


das, was Sie eben gesagt haben, war zum Teil peinlich


(Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Und zum Teil sehr richtig!)


und zum Teil unterste Schublade . Wir Sozialdemokraten
sollen uns bei Opfern entschuldigen, weil wir das Gesetz
nicht schnell genug gemacht haben? Herr Hoppenstedt,
ich kann Ihnen nur anraten, bei den nächsten Koalitions-
verhandlungen mit den Grünen Ihre Koalitionsaufträ-
ge mit einer Zeitleiste zu versehen, aus der hervorgeht,
wann Sie was abhandeln wollen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Liebe Grüne, Ihre Kritik ist im Wesentlichen die ge-
wesen, dass die Koalitionsfraktionen ihren Koalitions-
vertrag nicht schnell genug abarbeiten. Ich finde das
ehrlicherweise eine bemerkenswerte Oppositionsarbeit,
dass Sie der Regierung vorwerfen, nicht schnell genug
die eigenen Vorhaben abzuarbeiten . Ich habe mir Oppo-
sitionsarbeit immer etwas anders vorgestellt. Ich finde es
aber super, dass Sie uns so bei unserer Arbeit unterstüt-
zen, und danke Ihnen .

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Sie schon mal was Richtiges wollen, Herr Kollege!)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820624300

Zum Abschluss dieser Aussprache hat der Kollege

Alexander Hoffmann für die CDU/CSU das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Alexander Hoffmann (CSU):
Rede ID: ID1820624400

Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen

und Kollegen! Der Rechtsstaat hat zwei Wege, wie er auf
eine Körperverletzung oder auf die Tötung eines Men-
schen reagiert .

Da ist zum einen die strafrechtliche Seite . Hier steht
die Strafe – die Freiheitsstrafe auf Bewährung, die Geld-
strafe – im Mittelpunkt, und es geht um Schuld, Sühne,
ja Vergeltung . Der Staat erhebt hier seinen Strafanspruch,
und dieser Strafanspruch schützt letztendlich das Rechts-
gut Leben, die körperliche Unversehrtheit . Ich will ins
Gespräch bringen, dass bereits diese Seite für das Opfer
bzw . die Hinterbliebenen unglaublich wichtig ist; denn
diese strafrechtliche Abwicklung – so will ich es einmal
nennen – zeigt dem Opfer, den Hinterbliebenen: Ihr seid
nicht allein . Sie signalisiert: Der Täter steht außerhalb
des rechtsstaatlichen Systems und nicht das Opfer . Sie
vermittelt auch Sicherheit, weil die Hinterbliebenen mer-
ken: Der Rechtsstaat springt mir zur Seite .

Es gibt aber auch eine zweite Seite, und zwar die zi-
vilrechtliche Seite; das ist heute schon angeklungen . Da
geht es zunächst um die sehr banal klingende Frage: In-

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20605


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wieweit kann der Schmerz, das Leid, das ein Mensch
durch den Verlust eines anderen Menschen oder durch
eine Körperverletzung erleidet, monetär aufgewogen
werden? Ich denke, wir wissen alle, dass es Konstella-
tionen gibt, in denen das Leid nie mit Geld aufzuwiegen
sein wird. Materielle Schäden sind gut zu beziffern, aber
bei immateriellen Schäden ist das so gut wie unmöglich .
Und dennoch ist es so, dass auch diese zweite Seite für
das Opfer, für die Hinterbliebenen unglaublich wichtig
ist; denn sie hat Ausgleichs- und Genugtuungsfunkti-
on . Und gerade weil diese Seite, liebe Kolleginnen und
Kollegen, für das Opfer bzw . die Hinterbliebenen von
erheblicher Bedeutung ist, darf es den Rechtsstaat nicht
kaltlassen, dass wir hier eine Regelungslücke haben, ich
möchte sagen: einen blinden Fleck .

Der bayerische Justizminister Winfried Bausback
hat diesen blinden Fleck vor einigen Jahren sehr gut be-
schrieben . Er hat gesagt: Wenn Eltern ihr Kind durch ei-
nen Unfall verlieren – das Kind wird auf dem Fahrrad
sitzend auf dem Schulweg von einem Auto angefahren –,
dann hat der Rechtsstaat nur unbefriedigende Antworten .
Denn er antwortet: Wir können euch sehr wohl materi-
ellen Ersatz für das zerstörte Fahrrad geben, aber es ist
nicht vorgesehen, dass auch nur ansatzweise ein Ersatz
für das Leid und für den Schmerz geleistet wird, den
ihr durch den Verlust eures Kindes erlitten habt . – Da
wird das Problem offensichtlich. Das deutsche Zivil-
recht kennt kein Schmerzensgeld für nahe Angehörige .
Auch die Rechtsprechung über die Schockschäden, die
sehr dezidiert und differenziert ist, hilft – das ist heute
schon angeklungen – in dem Moment nicht weiter; denn
sie fordert dramatische Auswirkungen von einigem Ge-
wicht und von einiger Dauer . Die bloße Trauer, der bloße
Schmerz, so tragisch das klingt, genügt nicht .

Das war der Grund, warum die CSU im Jahr 2013 da-
rauf gedrungen hat, dass dieser Punkt unmittelbar im Ko-
alitionsvertrag Berücksichtigung findet.


(Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Aha, die CSU war es!)


Da sich dann – das muss man so offen ansprechen – im
Justizministerium über Jahre hinweg nichts getan hat,
war ich sehr dankbar, als das bayerische Justizministe-
rium Anfang 2015, im Januar, einen eigenen Gesetzent-
wurf vorgelegt hat, um diese Problematik sachgerecht
abzubilden .

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich
will in einer gewissen großkoalitionären Verbundenheit
zumindest so viel sagen:


(Christine Lambrecht [SPD]: Großmütig! – Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist das denn?)


Ich war in der heutigen Debatte schon etwas amüsiert,


(Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Wir waren auch amüsiert!)


dass Sie tatsächlich den Versuch unternommen haben,
sich als Fahnenträger, ja sogar als Erfinder des Angehöri-

genschmerzensgeldes feiern zu lassen, und das, nachdem
Sie drei Jahre lang nichts unternommen haben,


(Elisabeth Winkelmeier-Becker [CDU/CSU]: Jetzt verwechsle die Fraktion nicht mit dem Ministerium!)


nachdem Ihr Minister auf diesem Feld drei Jahre lang
nichts unternommen hat . Deswegen würde ich vorschla-
gen:


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich glaube, jetzt wird es hier spannend!)


Weniger feiern lassen, weniger reden; wir sollten bei die-
sem Thema endlich einfach einmal machen .

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit .


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr . Matthias Bartke [SPD]: Jetzt nennen Sie einen Justizminister, der da etwas zuwege gebracht hat! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kommen wir jetzt zur Wahl der Waffen?)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820624500

Damit schließe ich die Aussprache .

Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz zu dem
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem
Titel „Gesetzliche Grundlage für Angehörigenschmer-
zensgeld schaffen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10076, den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 18/5099 abzulehnen . Wer für diese Beschluss-
empfehlung des Ausschusses stimmt, den bitte ich um
ein Handzeichen . – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen von Bünd-
nis 90/Die Grünen und der Linken angenommen .

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 13 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Seefischereigeset-
zes

Drucksache 18/9466

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-

(10 . Ausschuss)


Drucksache 18/10496

Über den Gesetzentwurf werden wir später namentlich
abstimmen . Ich weise darauf hin, dass zur Annahme des
Gesetzentwurfs nach Artikel 87 Absatz 3 unserer Ver-
fassung die absolute Mehrheit, das heißt 315 Stimmen,
erforderlich ist . Das ist die sogenannte Kanzlermehrheit .

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Widerspruch
dagegen erhebt sich nicht . Dann ist das so beschlossen .

Alexander Hoffmann

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620606


(A) (C)



(B) (D)


Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin das Wort der Kollegin Ingrid Pahlmann.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Liebe Frau Kollegin, Sie nutzen Ihren heutigen Ge-
burtstag für diese Rede . Sie feiern Ihren Geburtstag hier
im Hohen Hause . Ich möchte Ihnen für dieses außeror-
dentlich hohe Maß an Pflichterfüllung danken, vor allem
aber zu Ihrem Geburtstag herzlich im Namen der Kolle-
ginnen und Kollegen gratulieren .


(Beifall)



Ingrid Pahlmann (CDU):
Rede ID: ID1820624600

Recht herzlichen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsi-

dent! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Wir beraten
heute den Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung
des Seefischereigesetzes. Mir ist bewusst, dass Fische-
reithemen nicht bei allen Kollegen ganz oben auf der
Agenda stehen . Daher möchte ich mit einigen grundle-
genden Anmerkungen beginnen .

Das Seefischereigesetz ist die Grundlage im deutschen
Recht für den gewerbsmäßigen Fischfang auf See . Au-
ßerdem regelt es Aufgaben und Zuständigkeiten bei der
behördlichen Überwachung der Seefischerei.

Kernanliegen des Seefischereigesetzes ist es, die
Fischbestände zu schützen . Daher sieht die Gemeinsame
Fischereipolitik der EU ein geregeltes Bewirtschaftungs-
system vor, das die Reproduktionsfähigkeit der Bestände
langfristig sichert, die Fangmöglichkeiten gerecht auf-
teilt, insgesamt den Erhalt von Meeresressourcen garan-
tiert und damit natürlich auch den Fischern einen wirt-
schaftlich ausreichenden Ertrag sichert .

Die Fischer werden auf verschiedenste Weise kontrol-
liert und überwacht . Sie sind über ein Satellitensystem
jederzeit zu orten . Sie müssen die Quoten der einzelnen
Fischarten einhalten, jeden Hol ins Logbuch eintragen
und aufgrund des Rückwurfverbotes auch alle Beifänge
in den Häfen anlanden . Darüber hinaus gibt es Modell-
versuche mit einer Kameraüberwachung an Bord, um
jegliche Manipulation auszuschließen . Die Erfassung der
Daten und die strikte Kontrolle spielen also eine große
Rolle .

Mit der Änderung des Seefischereigesetzes, über die
wir hier heute diskutieren, werden einzelne Vorschriften
im deutschen Recht an das geltende Fischereirecht der
EU angepasst. Viele Passagen im Gesetz waren absolut
unstrittig . Strittig war allerdings in den letzten Wochen
das Ansinnen der Bundesregierung, das BMEL zu er-
mächtigen, die seewärtige Fischereiaufsicht auf den Zoll
und die Bundespolizei auszuweiten . Sie könnten dann
neben der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernäh-
rung, der BLE, auch wieder Aufgaben in der Fischerei-
aufsicht wahrnehmen, wie sie das bis 2011 auch getan
haben .

Darüber, wie sinnvoll nun diese Zusammenführung
von verschiedenen Kontrollinstanzen ist, welche Vortei-
le, aber vor allem auch welche Nachteile sich dadurch für

unsere Fischer ergeben, haben wir in den letzten Wochen
viel diskutiert .


(Johann Saathoff [SPD]: Das kann man wohl sagen!)


Es ist sicherlich sinnvoll, die gute Zusammenarbeit der
drei schiffsführenden Ressorts BMF, BMI und BMEL
zu stärken und die enge Zusammenarbeit der BLE und
der Zollverwaltung im Maritimen Sicherheitszentrum in
Cuxhaven zu vertiefen . Andererseits befürchten aber nun
vor allem die Fischer ausufernde zusätzliche Kontrollen .

Wir haben diese Sorge sehr ernst genommen und ha-
ben in den Verhandlungen mehrfach darüber debattiert .
So ging es hauptsächlich um die Frage: Sind der Zoll und
die Bundespolizei bei diesen dezidiert fischereirechtli-
chen Fragen in der Lage, die vielschichtigen und komple-
xen Kontrollen an Bord versiert durchzuführen? Es geht
um die Beurteilung von Fischarten, von Fischmengen,
von Fischgrößen, von Netzarten, von Maschengrößen
und vielem mehr . Ich muss sagen: Auf diese Frage haben
mein Kollege Saathoff und ich keine zufriedenstellende
Antwort bekommen .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Johann Saathoff [SPD]: Leider!)


Andererseits ist diese Kompetenzverteilung auf Zoll
und Bundespolizei keine neue Errungenschaft . Seit den
90er-Jahren gab es bereits eine Rechtsgrundlage für eine
solche Tätigkeit . Sie wurde auch ausgeübt . Wohl ver-
sehentlich wurde dieser Passus dann im Jahre 2011 im
Rahmen der letzten Änderung des Seefischereigesetzes
gestrichen . Seitdem wurden vom Zoll mangels tragfä-
higer Rechtsgrundlage keine Fischereivollkontrollen
mehr vorgenommen . Im Jahr 2014 haben dann BMEL
und BMF aufgrund einer Verordnung vereinbart, dass
die Zollverwaltung bis zur Verabschiedung eines neuen
Gesetzes, also bis zum heutigen Tag, wieder Kontrollen
durchführen kann. Um diese Praxis nun auf eine ordentli-
che Rechtsgrundlage zurückzuführen, soll die Streichung
von 2011 rückgängig gemacht werden .

Das war ein absolut kurzer Abriss der durchaus hitzig
geführten Diskussion . Ich habe es mir selbst nicht leicht
gemacht, den viel diskutierten § 2 Absatz 7 des Seefi-
schereigesetzes, um den es hier geht, wieder im Gesetz
zu verankern . Aber ich möchte an dieser Stelle eines ganz
deutlich machen: Nach allen Restriktionen, die den Fi-
schern vor allem in letzter Zeit auferlegt wurden – ich
denke an die extreme Absenkung der Dorschfangquoten
in der Ostsee –, können wir uns keine weitere Verzöge-
rung der Verabschiedung des Gesetzentwurfs erlauben .


(Beifall bei der CDU/CSU – Johann Saathoff [SPD]: Das stimmt!)


Denn wenn wir noch weiter debattieren, geht es nicht
mehr nur um den Unmut unserer Fischer über zusätzliche
Kontrollen, sondern schlichtweg um ihre Existenz .


(Johann Saathoff [SPD]: Da haben Sie recht!)


Können wir den Gesetzentwurf heute nicht verab-
schieden, werden die Gelder aus dem Europäischen Mee-
res- und Fischereifonds nicht ausgezahlt, die an die Er-
füllung der Gesetzesvorhaben gebunden sind . Wir sollten

Vizepräsident Johannes Singhammer

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20607


(A) (C)



(B) (D)


also nicht länger die nötigen EU-Zahlungen blockieren .
Mein Plädoyer, bevor wir gleich über die Änderungen ab-
stimmen, ist hoffentlich deutlich geworden: Es darf keine
unnötige Verlängerung der Diskussion geben . Vielmehr
müssen wir diesen Gesetzentwurf heute verabschieden .
Denn damit bringen wir das Geld für die Fischer auf den
Weg . Ich kann Sie nur eindringlich darum bitten: Stim-
men Sie dem vorgelegten Gesetzentwurf zu!

Ich danke Ihnen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820624700

Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt die Kollegin

Birgit Menz .


(Beifall bei der LINKEN)



Birgit Menz (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1820624800

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Liebe Gäste! Die Meere und Ozeane
unseres Planeten sind Heimat für unzählige Tiere und
Pflanzen und ernähren Millionen von Menschen in allen
Teilen der Erde . Klimawandel, Umweltverschmutzung
und Überfischung stellen das Ökosystem Meer vor noch
nie dagewesene Herausforderungen . Die intensive Be-
wirtschaftung der Gewässer der letzten Jahre trägt un-
weigerlich dazu bei, dass nicht nur die Ernährungssicher-
heit vieler Menschen auf dem Spiel steht, sondern ganze
Ökosysteme zu kollabieren drohen .

Mit dem Dritten Gesetz zur Änderung des Seefische-
reigesetzes soll dem Ziel der Gemeinsamen Fischereipo-
litik der Europäischen Union, die Fischpopulationen zu
stabilisieren und eine nachhaltige Bewirtschaftung der
Meere zu erreichen, Rechnung getragen werden . Dabei
spielt die Kontrolle einer Anlandungsverpflichtung eine
wichtige Rolle; denn pro Jahr landen unter anderem
durch umweltgefährdende Fangmethoden viele Millio-
nen Tonnen Meereslebewesen unbeabsichtigt – sprich:
zusätzlich – in den Netzen, der sogenannte Beifang .

Dass dieser vor 2015 einfach über Bord geworfen wer-
den durfte, führte zu einer riesigen Verschwendung von
Meereslebewesen aus rein wirtschaftlichen Gründen;
denn die meisten der zurückgeworfenen Fische überleb-
ten diese Strapaze nicht . Mit dem Rückwurfverbot schob
die EU dieser verschwenderischen Praxis endlich einen
Riegel vor .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Entsprechend der Anlandungsverpflichtung muss nun
der gesamte Fang an Bord verbleiben und auf die Quoten
angerechnet werden. Die Mitgliedstaaten sind verpflich-
tet, die Einhaltung des Rückwurfverbotes sicherzustellen
und die detaillierten Dokumentationen aller Fangreisen
zu kontrollieren . Im Rahmen einer Bewertung werden
dabei verschiedene Kriterien wie der Schadenswert, die
wirtschaftliche Lage der Täterin und der Täter oder Aus-
maß oder Wiederholung des Verstoßes berücksichtigt .

Aus dem Gesetzentwurf geht nicht hervor, dass ab
2017 auch ein strengerer Maßstab für die Bewertung des

Anlandungsgebots in Kraft tritt . Zwar ist geregelt, wel-
ches Bußgeld zu verhängen oder welches Strafverfahren
im Falle eines schweren Verstoßes einzuleiten ist, jedoch
ist nicht erklärt, worin dieser schwere Verstoß besteht .

Im Sinne der Transparenz sollten die inhaltlichen
Kriterien für die Bewertung von Verstößen aufgeführt
werden, um Klarheit für die Fischerinnen und Fischer zu
schaffen.


(Beifall bei der LINKEN)


Auch die im Gesetz vorgesehene Ermächtigung des
Landwirtschaftsministeriums, die Überwachung und
die Fischereiaufsicht auf die Behörden der Zollverwal-
tung und der Bundespolizei zu übertragen, ist zumindest
kritisch zu hinterfragen . Zwar sind solche Amtshilfen in
vielen Bereichen üblich,


(Johann Saathoff [SPD]: Amtshilfe ist was ganz anderes!)


jedoch sehen wir hier derzeit das Problem, ob überhaupt
ausreichende personelle und technische Ressourcen vor-
handen sind, die eine effektive und verlässliche Kontrol-
le garantieren und nicht zur Überlastung der zuständigen
Beamten und Beamtinnen führen .

Neben der ökologischen Entwicklung muss die aktu-
elle sowie die zukünftige Fischereipolitik sozial gerecht
ausgestaltet werden .


(Beifall bei der LINKEN)


Vor allem kleine und mittlere Betriebe sehen durch Fang-
quoten und Schonzeiten ihre Existenz bedroht .

Um die maritime Umwelt ebenso wie die Existenz der
Küstenfischerei zu schützen, braucht es ein vernünftiges,
existenzsicherndes Modell, welches ein Fortbestehen
dieses Berufsstandes garantiert .


(Beifall bei der LINKEN)


Um Fischpopulationen zu stabilisieren und eine nachhal-
tige Bewirtschaftung der Meere zu erreichen, kann ein
konsequentes Umsetzen des Rückwurfverbotes jedoch
nur der Anfang sein . Die Linke fordert deshalb, die Fang-
quoten streng nach den wissenschaftlichen Erkenntnis-
sen festzulegen, gänzlich auf Grund- und Schleppnetze
zu verzichten und alternative Fangmethoden, die den
sogenannten Beifang vermeiden und die Meeresumwelt
schonen, zu fördern .

Danke .


(Beifall bei der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820624900

Nächster Redner ist der Kollege Johann Saathoff,

SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johann Saathoff (SPD):
Rede ID: ID1820625000

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Worum geht es bei dieser Änderung des Seefi-
schereigesetzes? Im Kern geht es um die Umsetzung von

Ingrid Pahlmann

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620608


(A) (C)



(B) (D)


zahlreichen Bestimmungen des EU-Rechtes . Zum Bei-
spiel geht es darum, Sanktionierungen bei Fehlverhalten
zu regeln, und zwar nicht nur bei Fehlverhalten von Fi-
schern, sondern auch bei Fehlverhalten von Inhabern von
Fischereilizenzen, also den Fischereibetrieben . Es geht
darum, die Zuständigkeit für Fragen jeglicher Art hin-
sichtlich Fangerlaubnissen auf das Verwaltungsgericht
Hamburg zu übertragen, damit Rechtsklarheit besteht . Es
geht darum, dass Kapitäne Auskunftsrechte hinsichtlich
möglicher Strafpunkte erhalten . Das ist da genauso wie
mit Flensburg . Dafür müssen sie das Recht haben, die
Auskunft zu bekommen .

Man kann das alles mittragen, liebe Kolleginnen und
Kollegen, das will ich an dieser Stelle sagen . Wichtig ist,
dass das Gesetz zügig – also noch in diesem Jahr – ver-
abschiedet wird; denn die Konformität mit EU-Recht ist
die Voraussetzung für die Auszahlung von Fördermitteln
aus dem Europäischen Meeres- und Fischereifonds, dem
EMFF .

Der EMFF ist für die Fischerei besonders jetzt von
enormer Bedeutung . Das liegt an den Stilllegeprämien,
die sonst nicht möglich wären . Was ist das eigentlich?
Fischer verpflichten sich freiwillig, nicht rauszufahren
und damit die Bestände zu schonen . Dabei verdienen sie
natürlich kein Geld, und damit sie Geld verdienen, be-
kommen sie eine Entschädigung aus EMFF-Mitteln . Wir
haben ein aktuelles Problem – wir haben miteinander da-
rüber gesprochen –, müssen wir 2017 doch eine starke
Kürzung der Fangquote – von weit über 50 Prozent –
beim Ostseedorsch hinnehmen, weil unter anderem der
Nachwuchs des Ostseedorsches 2015 komplett ausge-
fallen ist . Die Gründe dafür können vielfältig sein, sie
sind auf jeden Fall nicht bei den Fischern zu suchen . Die
Fischerei ist auf die Stilllegeprämie mindestens so lange
angewiesen, bis die Dorschquote wieder auskömmlich
ist .


(Beifall bei der SPD)


Ohne EMFF, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die
Nachhaltigkeit der Fischerei gefährdet . Wer nachhaltige
Fischerei will, muss auch sicherstellen, dass die Fische-
rei selber eine nachhaltige Grundlage hat . Allerdings gibt
es einen deutlichen Webfehler im Gesetz – das will ich
an dieser Stelle noch einmal ausführen –, nämlich die
Übertragung von Aufgaben der Fischereiaufsicht von
der BLE auf die Bundespolizei bzw . den Zoll . „Laat de
Kaat man lopen, Melk gifft de doch neet!“, sagt man in
Ostfriesland, wenn ein eigentlich Unzuständiger sich für
zuständig erklärt . Ich habe die Handreichung der BLE
einmal mitgebracht . Das ist übrigens nur das Kerncur-
riculum, dazu gibt es noch weitere Dinge, doppelseitig
bedruckt, in Englisch – lauter Fachchinesisch und lauter
Fachlatein .

Der Zoll soll zum Beispiel Fangkontrollen durchfüh-
ren . Er muss also in der Lage sein, den Rundnasengrena-
dier vom Schwarzen Degenfisch zu unterscheiden. Fragt
mich, wer von uns das kann! Es gibt Vorschriften hin-
sichtlich der Beifänge, hinsichtlich der Fangmethoden,
Netzgröße, Netzform, Maschenweite, Maschenform und,

und, und . Viel Spaß, Kolleginnen und Kollegen, kann ich
da nur sagen .


(Beifall bei der SPD – Zuruf von der SPD: Hurra!)


Diese Kontrollen sollen für Zoll und Bundespolizei
möglich werden in einer Zeit der Diskussion über Kame-
ras an Bord, in einer Zeit, wo man mittels AIS-Daten von
der Badewanne aus sehen kann, wo sich die Fischerei-
fahrzeuge gerade befinden, mit Vessel-Monitoring-Sys-
temen, in einer Zeit, wo die Fangdaten je Hol in das Log-
buch einzutragen sind, und einer Zeit, in der wir gerade
dabei sind, neue Schiffe für die BLE bauen zu wollen.
Wofür eigentlich, wenn der Zoll das alles kann?

Warum gibt es das nicht eigentlich auch umgekehrt?
Das heißt, die BLE kontrolliert neben den Belangen der
Fischereiaufsicht mit, ob eventuell Zigaretten geschmug-
gelt worden sind .


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Können wir machen! Gute Idee!)


Ich glaube, das ist dann viel einfacher .

Ein Argument für die Kompetenzübertragung auf
Zoll und Bundespolizei war, dass es diese Grundlage
früher bereits gegeben habe und dies nur aus Versehen
herausgefallen sei . Es war aber auch in der Vergangen-
heit nicht sinnvoll . Es gab 1 100 Sichtkontrollen in fünf
Jahren . Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sichtkontrolle
heißt, am Schiff vorbeifahren und gucken, ob eine Flagge
gehisst ist, ob sozusagen die Kennzeichnung dran ist –
mehr nicht . Keine wesentlichen fachlichen Kontrollen
hat es gegeben . Es gab früher nur den Anschein besserer
Kontrollen .


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1820625100
Die Kon-
trollkompetenzen der BLE werden nicht eingeschränkt . –
Faktisch wird es aber keine besseren weiteren Kontrol-
len durch Zoll und Bundespolizei geben können, wie die
Vergangenheit gezeigt hat . Also ist der Sinn, ein Gefühl
von mehr und besseren Kontrollen zu vermitteln – quasi
Potemkin’sche Kontrollen, wenn man so will.


(Beifall des Abg. Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD])


Es wird der Anschein von mehr Kontrollen für die Bür-
gerinnen und Bürger und von mehr Kontrollen für die
Fischer erweckt . Als neues Argument kommt hinzu, dass
dadurch die Erhöhung der Achtsamkeit der Fischer ein-
trete . Fischerei wird über die gefährliche Tätigkeit – und
glauben Sie mir, ich kenne Menschen, die auf See geblie-
ben sind – hinaus zur gefahrengeneigten Tätigkeit . Man
muss nicht nur aufpassen, nicht unterzugehen, sondern
auch aufpassen, nicht bestraft zu werden . Zollkontrollen,
liebe Kolleginnen und Kollegen, sind an Land – im land-
wirtschaftlichen Sektor – schon enorm schwierig . Mir
leuchtet einfach nicht ein, warum das auf See einfacher
sein soll .

Johann Saathoff

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20609


(A) (C)



(B) (D)


Wenn es um zusätzliche Aufgaben für den Zoll gehen
soll, dann hätte ich eine Idee, nämlich den illegalen Wel-
penhandel .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich finde, das wäre als Aufgabe für den Zoll angebracht;
da muss etwas gemacht werden . Das ist nicht kompli-
ziert, und hier besteht dringender Handlungsbedarf .

Die betroffenen Bundesländer haben für sich ein An-
hörungsrecht bei der Umsetzung der Kompetenzen für
den Zoll eingefordert . Grundsätzlich – das kann man
daraus lesen – sehen die Bundesländer das aus, wie ich
gerade dargelegt habe, nachvollziehbaren Gründen also
ebenfalls kritisch . Da gibt es eine Gelegenheit, noch
einmal über das Ganze nachzudenken; denn nicht jede
Ermächtigung muss auch unbedingt umgesetzt werden .
Wenn das dann doch gemacht wird, dann sagt mir mein
Gefühl, dass das Seefischereigesetz noch weitere Ände-
rungen erfahren wird . Dann wird diese Kompetenzrege-
lung immer wieder diskutiert werden müssen . Ich freue
mich schon auf die entsprechenden Erfahrungsberichte
darüber, wie ineffektiv diese Kontrolle tatsächlich statt-
gefunden hat .

Wer sich um illegale Fischerei kümmert, der sollte
sich nicht auf Nord- und Ostsee kaprizieren, sondern
lieber im südostasiatischen Raum suchen . Dort gibt es
Schiffe, die über ein Jahr lang nicht nach Hause kommen.
Dort gibt es Sklaverei und Menschenhandel . Dort gibt
es Trash-Fishing; da wird alles rausgefischt, durch die
Wurstmühle gedreht und anschließend als Shrimpsfutter
verkauft. Dort liegen die wirklichen Probleme. An diesen
Problemen können weder BLE noch Zoll oder Bundes-
polizei etwas ändern, aber wir sollten intensiv darüber
diskutieren .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Trotzdem bekommen Sie, da die Fischer dringend
unsere Unterstützung brauchen und die EMFF-Mittel
ausgezahlt werden müssen, unsere Zustimmung . Frau
Pahlmann, Ihnen danke ich noch einmal ganz herzlich
auch für Ihre Worte gerade . Es war eine konstruktive Dis-
kussion, die wir miteinander geführt haben . Dafür herz-
lichen Dank!


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820625200

Bevor ich gleich dem Kollegen Friedrich Ostendorff

für Bündnis 90/Die Grünen das Wort erteile, möchte ich
bitten, die ganz unaufschiebbaren Gespräche außerhalb
des Plenarsaals fortzusetzen, damit wir dem Kollegen
zuhören können. – Herr Kollege Ostendorff, jetzt haben
Sie das Wort .


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute sollen wir die novellierte Fassung des Seefische-
reigesetzes beschließen . Es regelt die Ausübung der See-

fischerei im Hinblick auf den Schutz und die Überwa-
chung unserer Fischbestände und damit den Erhalt der
biologischen Meeresschätze .

Grundsätzlich verfolgt die europäische Fischereipoli-
tik das Ziel, eine Nutzung lebender aquatischer Ressour-
cen unter nachhaltigen wirtschaftlichen, ökologischen
und sozialen Bedingungen zu sichern . Mit dieser Ge-
setzesänderung werden Regelungen des Seefischereige-
setzes an das novellierte EU-Recht angepasst und inner-
staatliche Zuständigkeiten geändert, um die seewärtige
Fischereiaufsicht auf den Zoll oder die Bundespolizei
zu übertragen . Dadurch wird der Zollverwaltung oder
der Bundespolizei ganz oder teilweise die Kontrolle der
Fischerei auf See jenseits der um 3 Seemeilen seewärts
erweiterten Basislinie bis zur Landesgrenze der Bundes-
republik Deutschland übertragen .

Sie merken, ich stutze da immer etwas . Als bodenge-
bundener Flachländer ist das für mich sehr fremd, aber
wir haben uns da durchgekämpft .

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, Sie spüren alle bei diesen wenigen Anmerkun-
gen, was hier an Bürokratievereinfachung gewirkt hat .
Das ist sicherlich ein Paradebeispiel von Bürokratiever-
einfachung der allerfeinsten Art .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wie sich im Ausschuss herausgestellt hat und wie wir
heute Abend bei meinem Vorredner gerade wieder erlebt
haben, haben Sie, meine Kolleginnen und Kollegen der
Großen Koalition, uns einen Gesetzentwurf vorgelegt,
von dem zumindest die SPD nicht überzeugt ist.


(Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ganz offenbar! – Johann Saathoff [SPD]: Das ist falsch verstanden!)


Wundersame Dinge passieren: Sie legen etwas vor,
sind aber dagegen; trotzdem stimmen Sie dafür . Ich fra-
ge mich, welcher Wähler oder welche Wählerin diesen
Wirrwarr noch nachvollziehen kann .


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg . Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE])


Wir haben einen Abstimmungswirrwarr und einen
Kompetenz- und Kontrollwirrwarr, die ihresgleichen
suchen . Warum soll es eigentlich zwei Zuständigkeiten
für ein und dieselbe Sache geben? Warum soll die Bun-
desanstalt für Landwirtschaft und Ernährung bis zu die-
ser Basislinie plus 3 Seemeilen seewärts zuständig sein,
und dahinter sind dann der Zoll und die Bundespolizei
zuständig? Wie das funktioniert, soll man einmal den
Bürgern erklären . Ich frage mich, welches Flaggenmeer
wir demnächst haben, was die Basislinie ist, ob die bei
Ebbe oder Flut gemessen wird und ob wir uns über die
Basislinie überhaupt einig werden . Das wird noch sehr
interessant .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE])


Johann Saathoff

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620610


(A) (C)



(B) (D)


Damit die Kontrolle nicht vorher kentern geht, wie Fischer
sagen – das heißt auf Deutsch: zusammenbricht –, sollte
das Gesetz unbedingt nochmals überarbeitet werden .

Wir Grüne hoffen, dass diesem Gesetz in der prak-
tischen Umsetzung nicht der Wind aus den Segeln ge-
nommen wird und unsere Fischbestände im Sinne der
Empfehlungen des Parlamentarischen Beirates für nach-
haltige Entwicklung auch nachhaltig erhalten bleiben .
Herr Minister, setzen Sie endlich die Empfehlungen des
Internationalen Rates für Meeresforschung für die zu-
künftigen Generationen um .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE])


Das heute vorliegende, novellierte Seefischereigesetz
wird zum Beispiel den Dorschbeständen in der westli-
chen Ostsee wenig nutzen – auch das habe ich bei der Ar-
beit gelernt, nämlich dass es die westliche und die östli-
che Ostsee gibt –: Der Westdorsch durfte zwei Jahrzehnte
lang, von den Kontrollen geduldet, überfischt werden.
Im Oktober dieses Jahres hätten Sie, Herr Minister, die
Chance gehabt, zur nachhaltigen Fischfangpolitik in der
Ostsee zurückzukehren . Aber auch diese Chance haben
Sie in den Wind geschrieben .

Was die See genommen, gibt sie nie zurück – so sagt
ein Fischersprichwort . Statt den Vorgaben des Internatio-
nalen Rates zu folgen und eine Kürzung der Westdorsch-
fangquote um 87 Prozent zu unterstützen, haben Sie,
Herr Minister Schmidt, sich auf EU-Ebene dafür stark-
gemacht, die Fangquote in der westlichen Ostsee nur um
56 Prozent und in der östlichen Ostsee um 25 Prozent
abzusenken .


(Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie peinlich!)


Die EU-Fischereiminister haben leider beschlossen, dass
die wissenschaftliche Vorgabe um 63 Prozent überschrit-
ten werden darf . All das ist legal .

Wer Fischern helfen will, meine Damen und Herren,
muss dafür sorgen, dass ihnen auch zukünftig noch etwas
ins Netz geht .


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Nordseeplan ist momentan in der Erarbeitung . Wir
Grüne hoffen, dass Sie die Fehler des Ostseeplanes nicht
wiederholen . Sorgen Sie dafür, dass unsere Fischerinnen
und Fischer endlich verlässliche Planungsgrundlagen ha-
ben und wissen, wie es morgen und übermorgen für sie
weitergeht .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820625300

Abschließende Rednerin zu diesem Tagesordnungs-

punkt ist die Kollegin Kordula Kovac für die CDU/CSU .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich darf alle Kolleginnen und Kollegen, die weiterhin
Wichtiges zu besprechen haben, daran erinnern: Es ist
nicht völlig ausgeschlossen, dass auch jemand von uns
einmal am Ende einer solchen Aussprache kurz vor einer
namentlichen Abstimmung das Wort erteilt bekommt .
Ich bitte deshalb, entsprechend aufmerksam zu sein .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)



Kordula Kovac (CDU):
Rede ID: ID1820625400

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren oben auf der
Tribüne! Meine Vorrednerinnen und Vorredner haben ei-
gentlich schon alles gesagt .


(Lachen des Abg. Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Jetzt liegt es an mir, alles zusammenzufassen und auf den
Punkt zu bringen. Ich mache es daher kurz: Mit dem jetzt
vorliegenden Gesetzentwurf bringen wir im Wesentli-
chen das deutsche Recht mit dem geltenden Fischerei-
recht der EU in Einklang und passen es an die Praxis
an . Wichtig ist es mir, an dieser Stelle festzuhalten: Die
Regelungen gehen nicht über unmittelbar geltendes EU-
Recht hinaus .

So kontrovers wir hier auch debattieren mögen: Ei-
gentlich ist das Gesetz in weiten Teilen völlig unumstrit-
ten. Meine Kollegin Ingrid Pahlmann – ich möchte dir
auch von dieser Stelle heute noch einmal zum Geburtstag
gratulieren, liebe Ingrid;


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


vielleicht klatschen die Kollegen, die eben geklatscht ha-
ben, jetzt noch einmal –


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Noch einmal?)


hat es bereits dargestellt. Das Seefischereigesetz dient
neben der Regelung der Seefischerei vor allem der Um-
setzung von Bestimmungen der Gemeinsamen Fischerei-
politik der EU .

Mit der GFP wird die Ausübung der Seefischerei im
Hinblick auf Schutz der Bestände und Erhalt der biolo-
gischen Vielfalt, Überwachung und Strukturpolitik der
Fischwirtschaft geregelt . Durch diese länderübergreifen-
de gemeinsame Politik wird gewährleistet, dass Überfi-
schung verhindert bzw . gemindert wird . Der Nachhal-
tigkeitsgedanke, den Carl von Carlowitz für den Wald
formuliert hat, gilt auch für unsere Meere und Gewässer:
Es darf der Natur nur so viel entnommen werden, wie
auch wieder nachwachsen kann, in diesem Fall: nach-
kommen kann .

Darüber hinaus regelt das Seefischereigesetz auch
die Aufgaben und Zuständigkeiten bei der behördlichen
Überwachung der Seefischerei; denn selbst die besten
Regeln nützen nichts, wenn ihre Einhaltung nicht kon-
trolliert wird . Genau hierüber streiten wir uns nun heute,
nicht um die Kontrolle per se, sondern darüber, wer sie
durchführen soll .

Meine Damen und Herren, mit dem heute zu beschlie-
ßenden Gesetz werden, wie bereits von den Kolleginnen

Friedrich Ostendorff

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20611


(A) (C)



(B) (D)


und Kollegen gesagt, im Wesentlichen folgende Dinge
geregelt:

Erstens . Das Verwaltungsgericht Hamburg ist von nun
an zuständig für sämtliche Streitigkeiten, die Fanger-
laubnisse betreffen. Das ist ein, wie ich finde, gelungenes
Beispiel für Kompetenzbündelung .

Zweitens . Mit der Ausdehnung auf eine der drei zu-
letzt erteilten Fangerlaubnisse wird der BLE mehr Zeit
eingeräumt, festzustellen, ob eine Fangerlaubnis wegen
erheblicher Überschreitung oder Missbrauchs einer frü-
heren Erlaubnis zu versagen ist . Bessere Kontrolle also –
sehr schön!

Drittens . Ab sofort kann das BMEL die Kompetenz
zur Überwachung und Unterstützung der Seefischerei
der Zollverwaltung oder der Bundespolizei ganz oder
teilweise übertragen . Damit wird die bisherige Kontroll-
zuständigkeit der BLE auf zwei weitere Behörden aus-
geweitet .

Jetzt kann man natürlich den Zeigefinger heben.
„Kompetenzwirrwarr“ und „Webfehler“ sind ja auch
wirklich schöne Worte. Und aus Prinzip dagegen zu sein,
ist ein beliebter Sport der Linken und der Grünen, auch
von dir, lieber Kollege .


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Begründete Worte! Sehr begründet!)


Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen wir doch
bitte die Kirche im Dorf . Es ist ja nicht so, als würden wir
hier völlig neues Terrain betreten . Dass sich BMEL, BMI
und BMF die Zuständigkeiten bei der Kontrolle der Fi-
scherei teilen, ist absolut nichts Neues . Die Zusammenar-
beit zwischen der Bundesanstalt für Landwirtschaft und
Ernährung, der Bundespolizei und dem Zoll in diesem
Bereich ist bereits seit Jahrzehnten gängige Praxis. Letzt-
endlich wird diese Praxis durch das heute zu beschlie-
ßende Gesetz nur gesetzlich verankert . Dass manche da-
raus einen Staatsakt machen wollen, halte ich für völlig
überzogen .

Ja, vielleicht kann man über die Kompetenz von Zoll
und Bundespolizei im Hinblick auf das nötige Detailwis-
sen streiten . Ja, es mag mehr Kontrollen insgesamt für die
Fischer geben . Aber, meine Damen und Herren, es gibt
eben auch Geld; und darum geht es heute letztendlich .
Wer jetzt weiterhin seine Befindlichkeiten, bezogen auf
die Kompetenzübertragung, hochhalten will, tut dies auf
dem Rücken der Fischerinnen und Fischer . Das schnelle
Verabschieden des Gesetzes ist geboten, damit die Mittel
des Europäischen Meeres- und Fischereifonds EMFF an
unsere Fischer ausgezahlt werden können .

Der EMFF hilft den Fischern unter anderem bei der
Umstellung auf die nachhaltige Fischerei . Und das, liebe
Freundinnen und Freunde hier im Plenum, eine nachhal-
tige Fischerei, ist doch unser aller Ziel . Lassen Sie da-
her doch bitte bei der Abwägung Augenmaß walten, und
stellen Sie sich die Frage, ob Ihre Bedenken gegen diese
Kompetenzübertragung es wirklich rechtfertigen, gegen
das Gesetz zu stimmen .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Fischerei in
Deutschland ist ein traditioneller Bestandteil von Wirt-
schaft und Kultur, sowohl an der Küste als auch im Bin-
nenland . Helfen Sie mit, dass das auch so bleibt! Stim-
men Sie dem Gesetzentwurf zu!

Danke schön .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820625500

Damit schließe ich die Aussprache .

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung
des Seefischereigesetzes. Der Ausschuss für Ernährung
und Landwirtschaft empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 18/10496, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf Drucksache 18/9466 in der
Ausschussfassung anzunehmen .

Ich bitte Sie, noch an Ihren Plätzen zu bleiben, weil
wir jetzt bei der zweiten Lesung sind und es erkennbar
sein soll, wer für welche Entscheidung verantwortlich
zeichnet .

Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen . – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen von CDU/CSU und SPD bei Enthaltung der
Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen ange-
nommen worden .

Jetzt kommen wir zur

dritten Beratung

und Schlussabstimmung . Nach Artikel 87 Absatz 3 des
Grundgesetzes ist zur Annahme des Gesetzentwurfs die
absolute Mehrheit – das sind derzeit 315 Stimmen – er-
forderlich . Wir stimmen nun über diesen Gesetzentwurf
namentlich ab . Ich bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.

Sind alle Abstimmungsurnen besetzt? – Ich bitte um
Bestätigung durch Handzeichen, ob alle Abstimmungs-
urnen besetzt sind. – Ja, alles klar. Dann eröffne ich jetzt
die Schlussabstimmung über den Gesetzentwurf .

Sind noch Kolleginnen oder Kollegen hier im Saal,
die ihre Stimmkarte abgeben möchten, aber das bisher
noch nicht geschafft haben? Ich bitte, mir das kundzu-
tun . – Das ist jetzt erkennbar nicht mehr der Fall . Dann
schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführe-
rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-
nen . Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später
bekannt gegeben .1)

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 14 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Wolfgang Gehrcke, Andrej Hunko,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

1) Ergebnis Seite 20614 C

Kordula Kovac

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620612


(A) (C)



(B) (D)


Türkei-Politik neu ausrichten

Drucksache 18/10472
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Widerspruch
gibt es keinen . Dann ist das so beschlossen .

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Sevim Dağdelen.


(Beifall bei der LINKEN)



Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1820625600

Verehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Her-

ren! Die letzten Monate haben uns eindringlich gezeigt,
dass wir eine radikale Wende in der Türkei-Politik der
Bundesregierung brauchen . Es kann nicht sein, dass der
türkische Staatspräsident Erdogan immer mehr Leute
verhaften, entlassen und, ja, auch foltern lässt . Aber das
Einzige, was der Bundesregierung und vor allem Bun-
deskanzlerin Merkel dazu einfällt, ist es, sich besorgt,
ja bestenfalls alarmiert zu zeigen . Dass diese zur Schau
gestellte Besorgnis irgendetwas bewirkt, glauben immer
weniger Menschen auch in unserem Land .


(Beifall bei der LINKEN)


In Umfragen wie der von Infratest dimap im August
fordern 88 Prozent der Befragten Konsequenzen in der
Türkei-Politik angesichts der verheerenden Entwicklun-
gen in der Türkei .


(Beifall bei der LINKEN)


Wie die Linke wollen diese 88 Prozent kein Weiter-so in
der Politik gegenüber der Türkei.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie haben, wie wir eben auch, kein Verständnis dafür,
dass die Bundesregierung außer warmen Worten prak-
tisch nichts unternimmt, um das unterdrückerische isla-
mistische Regime in Ankara zur Freilassung von Akade-
mikern, von Journalisten, von Parteivorsitzenden sowie
von mittlerweile über 2 000 inhaftierten Mitgliedern der
prokurdischen HDP zu bewegen.

Die HDP-Vorsitzenden Demirtas und Yüksekdag sind
in akuter, großer Gefahr, auch weil die türkischen Behör-
den durch die gemeinsame Unterbringung mit Al-Qai-
da-Mitgliedern im Hochsicherheitsgefängnis von Edirne
auf einen Lynchmord spekulieren . Meine Damen und
Herren, unternehmen Sie endlich etwas für die Freilas-
sung von Demirtas und Yüksekdag!


(Beifall bei der LINKEN)


Jetzt stöhnen Sie schon wieder: Ja, was kann man
denn schon machen? Ich möchte Ihnen wirklich einige
Ideen hier mitgeben, was man konkret machen kann .

Beenden Sie die Waffenlieferungen an die Türkei!


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist doch wirklich ein Verbrechen, dass die Türkei im
ersten Halbjahr 2016 von Platz 25 auf Platz 8 der Bestim-
mungsländer deutscher Rüstungsexporte aufgerückt ist,
meine Damen und Herren .

Frieren Sie die EU-Beitrittsgespräche ein! Und stop-
pen Sie endlich auch die EU-Beitrittshilfen wie die Vor-
beitrittshilfen!


(Beifall bei der LINKEN)


Ich frage mich auch: Was versprechen Sie sich denn da-
von, jährlich an eine Diktatur wie die Türkei 630 Milli-
onen Euro an Vorbeitrittshilfen zu bezahlen und damit
sozusagen 20 Prozent der aus deutschen Steuergeldern an
die EU gezahlten Beiträge an eine Diktatur zu überwei-
sen? Ist es, weil Sie denken, die Türkei sei ein unsinkba-
rer Flugzeugträger und deshalb brauchten Sie sie? Oder
ist es, weil Sie meinen, die Türkei würde uns dann die
Flüchtlinge vom Hals halten?

Nicht zuletzt fordern wir auch: Stoppen Sie die ge-
plante Erweiterung der Zollunion mit der Türkei! Denn
auf der einen Seite zu suggerieren, dass Sie Skepsis be-
züglich der EU-Beitrittsgespräche haben, auf der anderen
Seite aber durch die Hintertür die Zollunion zu erweitern
und damit dieses Regime zu unterstützen, das nenne ich
wirklich ein Täuschungsmanöver . Deshalb müssen Sie
damit aufhören .


(Beifall bei der LINKEN)


Es geht aber nicht nur um die Menschen in der Türkei,
meine Damen und Herren, es geht auch um die Sicher-
heit der Menschen hier in Deutschland . Es wird immer
deutlicher: Durch Ihre Partnerschaft mit Erdogan haben
Sie mit dazu beigetragen, dass sich Mordkommandos der
türkischen Geheimdienste hier in Deutschland unbehel-
ligt bewegen können. Presseberichten zufolge tummeln
sich über 6 000 Agenten Erdogans hier in Deutschland .
Ich finde, das darf so nicht weitergehen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir als Linke fordern die Ausweisung dieser 6 000 Agen-
ten aus Deutschland . Hören Sie auf, mit Erdogans Diens-
ten zusammenzuarbeiten! Die Bundesregierung steht
hier in der Verantwortung, die Menschen in Deutschland
vor den Agenten und Schergen des türkischen Geheim-
dienstes zu schützen .

Sorgen Sie endlich für eine Wende in der Türkei-Poli-
tik! Wir sind es leid – wie die Mehrheit der Bevölkerung
in Deutschland . Es darf kein Weiter-so mit der Türkei
geben . Zeigen Sie endlich konkrete Solidarität mit den
Verfolgten in der Türkei, indem Sie Ihre Kumpanei mit
Erdogan beenden! Jetzt, meine Damen und Herren, ist
die Zeit der Worte vorbei . Sie müssen jetzt als Regierung
endlich handeln .

Vielen Dank .


(Beifall bei der LINKEN)


Vizepräsident Johannes Singhammer

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20613


(A) (C)



(B) (D)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820625700

Für die CDU/CSU spricht der Kollege Dr . Andreas

Nick .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . Axel Schäfer [Bochum] [SPD])



Dr. Andreas Nick (CDU):
Rede ID: ID1820625800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sowohl Außenminister Steinmeier als auch Staatsminis-
terin Böhmer, meine Berichterstatterkollegin Michelle
Müntefering und ich waren in den letzten Wochen zu
Gesprächen in Ankara . Über die durchaus schwierigen
Eindrücke und Erfahrungen habe ich vor kurzem hier
eingehend berichtet . Das will ich nicht noch einmal wie-
derholen .

Für unsere Politik gegenüber der Türkei gilt: Wir
haben eine klare Ausrichtung, orientiert an den grund-
sätzlichen Werten und langfristigen Interessen unseres
Landes, und wir reagieren angemessen auf aktuelle Ent-
wicklungen und Herausforderungen in der Türkei . Für
uns sind die deutsch-türkischen Beziehungen aber auch
zu wichtig, um sie als Instrument der innenpolitischen
Auseinandersetzung zu missbrauchen – nicht in der Tür-
kei und schon gar nicht hier in Deutschland .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Beides kann man vom vorliegenden Antrag der Links-
partei nicht sagen, und deshalb werden wir ihn selbstver-
ständlich ablehnen .


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Selbstverständlich!)


Zwei unabänderliche Konstanten sind grundlegend
für unsere Beziehungen zur Türkei. Die Türkei befindet
sich in einer exponierten geostrategischen Lage . Und ob
es uns gefällt oder nicht: Kein einziges Problem dieser
Region ist ohne oder gar gegen die Türkei leichter zu lö-
sen als mit ihr . Was auch immer sich sonst verändert – die
Geografie bleibt. In einer in dieser Woche vorgestellten
Umfrage der Körber-Stiftung wurden von den Befragten
in Deutschland mit 21 Prozent der Nennungen die Bezie-
hungen zur Türkei auf Rang drei der wichtigsten außen-
politischen Herausforderungen Deutschlands eingestuft,
noch vor – durchaus erstaunlich – den Beziehungen zu
Russland .

Mit kaum einem anderen Land ist Deutschland gesell-
schaftlich enger verflochten als mit der Türkei. Angesicht
von fast 4 Millionen Menschen türkischer Herkunft, die
in unserem Land zu Hause sind, ist es eben noch nicht
einmal theoretisch eine denkbare Option, sich diesem
Land gegenüber in irgendeiner Weise nicht zu verhalten
oder sich gar komplett von ihm abzuwenden .

Umgekehrt sollten wir aber auch nicht der Versuchung
erliegen, unsere Möglichkeiten zur Einwirkung auf die
türkische Innenpolitik zu überschätzen . Die Versuchung
für einige auch in diesem Hause ist offenbar gelegentlich
groß, innenpolitische Auseinandersetzungen der Türkei
hier austragen zu wollen .


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: So ein Unsinn!)


Aber ich sage deutlich: Der Deutsche Bundestag ist dafür
nicht der geeignete Platz,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Hören Sie einmal auf, wie die Leute von Erdogan zu reden!)


im Übrigen auch nicht die Straßen und Plätze in Deutsch-
land .


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das ist rassistisch von Ihnen auch noch!)


– Hallo!


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Wenn jemand anderes sprechen würde, würden Sie das nicht als eine innenpolitische Angelegenheit der Türkei bezeichnen! Zum Beispiel mein Kollege Birkwald! – Zurufe von der CDU/ CSU und von der SPD)


– Haben Sie jetzt eigentlich das Wort, Frau Dağdelen?
Oder wie sieht das aus, Herr Präsident?


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820625900

Herr Kollege, Sie haben das Wort .


Dr. Andreas Nick (CDU):
Rede ID: ID1820626000

Danke .


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820626100

Und das bleibt auch bei Ihnen .


Dr. Andreas Nick (CDU):
Rede ID: ID1820626200

Im Verhältnis der Türkei zur Europäischen Union ist

eines aber völlig klar:


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Wenn mein Kollege zur Türkei spricht, macht hier keiner diesen Vorwurf! Wenn ich dazu spreche, kommt immer dieser dumme Vorwurf! – Gegenruf des Abg. Michael Brand [CDU/CSU]: Hören Sie doch einmal zu!)


– Wer schreit, hat unrecht, Frau Dağdelen! – Grundlage
für den Beitrittsprozess sind die Kopenhagener Kriterien .
Ich zitiere:

Als Voraussetzung für die Mitgliedschaft muss der
Beitrittskandidat eine institutionelle Stabilität als
Garantie für demokratische und rechtsstaatliche
Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte so-
wie die Achtung und den Schutz von Minderheiten
verwirklicht haben …

An diesen Kriterien muss sich auch die Türkei messen
lassen . Dabei gibt es keinen Rabatt und keine Kompro-
misse . Leider führt derzeit kein Weg an der Feststellung
vorbei, dass die Türkei davon heute weiter entfernt ist als
zu jedem anderen Zeitpunkt seit Beginn des Beitrittspro-
zesses .

Es war eben nicht unproblematisch, die Beziehungen
zur Türkei alleine auf die Fragen des Beitrittsprozesses

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620614


(A) (C)



(B) (D)


und der Vollmitgliedschaft zu reduzieren, wie dies die
rot-grüne Bundesregierung seinerzeit getan hat, und al-
ternative Modelle wie das Konzept und der Begriff der
Privilegierten Partnerschaft von vornherein in Misskredit
zu bringen .


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach, Herr Nick, das glauben Sie doch selbst nicht! – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Adenauer 1963!)


Als Union müssen wir unsere Position in dieser Frage je-
denfalls nicht korrigieren . Der beschränkte Blick auf das
nicht absehbare Ende eines ergebnisoffenen Prozesses in
10, 15 oder 20 Jahren hat auf beiden Seiten lange Zeit zu
sehr den Blick darauf verstellt, das zum jeweiligen Zeit-
punkt Mögliche und Notwendige zur Verbesserung der
Zusammenarbeit umzusetzen .

Es wäre aber umgekehrt heute ebenso ein Fehler, gerade
jetzt den Dialog mit der Türkei unsererseits abzubrechen .
Diesen Gefallen sollten wir denen in der Türkei gerade
nicht tun, die sich von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
und von der Perspektive einer nach Westen orientierten
Türkei abwenden wollen . Die Entscheidung über den wei-
teren Weg aber muss die Türkei selbst treffen.

Es ist doch gerade die türkische Zivilgesellschaft, die
uns eindringlich auffordert, die Tür für eine möglichst
enge Anbindung an Europa nicht zuzuschlagen . Und wir
haben ein vitales Interesse an einer prosperierenden Tür-
kei mit einer stabilen Demokratie und einer lebendigen
Zivilgesellschaft . Dies entspricht nicht nur unseren stra-
tegischen Interessen, sondern ebenso den grundlegenden
Werten, denen deutsche Außenpolitik verpflichtet ist und
bleibt .

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1820626300

Bevor ich gleich dem Kollegen Sarrazin das Wort

erteile, gebe ich das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Än-
derung des Seefischereigesetzes bekannt: abgegebene
Stimmen 529 . Mit Ja haben gestimmt 434, Neinstimmen
gab es keine, Enthaltungen 95 . Der Gesetzentwurf hat
damit die erforderliche Mehrheit erreicht .

Endgültiges Ergebnis

Abgegebene Stimmen: 529;
davon

ja: 434
nein: 0
enthalten: 95

Ja

CDU/CSU

Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Artur Auernhammer
Thomas Bareiß
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens (Börde)

Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. André Berghegger
Dr . Christoph Bergner
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr . Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr . Ralf Brauksiepe

Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Iris Eberl
Jutta Eckenbach
Hermann Färber
Uwe Feiler
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Axel E . Fischer


(Karlsruhe-Land)

Dr . Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr . Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Michael Frieser
Dr . Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr . Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Josef Göppel

Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Dr . Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Olav Gutting
Christian Haase
Florian Hahn
Rainer Hajek
Dr . Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr . Stefan Heck
Dr . Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich (Chemnitz)

Mark Helfrich
Uda Heller
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Dr . Heribert Hirte
Christian Hirte

Robert Hochbaum
Alexander Hoffmann
Thorsten Hoffmann


(Dortmund)

Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr . Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M . Huber
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Erich Irlstorfer
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Dr . Franz Josef Jung
Xaver Jung
Dr . Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Ronja Kemmer
Roderich Kiesewetter
Dr . Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen

Dr. Andreas Nick

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20615


(A) (C)



(B) (D)


Markus Koob
Carsten Körber
Hartmut Koschyk
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr . Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr . Roy Kühne
Uwe Lagosky
Dr . Dr . h . c . Karl A . Lamers
Andreas G . Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Dr . Silke Launert
Paul Lehrieder
Dr . Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Dr . Andreas Lenz
Dr . Ursula von der Leyen
Antje Lezius
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Dr . Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr . Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Dr . Thomas de Maizière
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Stephan Mayer (Altötting)

Reiner Meier
Dr . Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr . h . c . Hans Michelbach
Dr . Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Volker Mosblech
Elisabeth Motschmann

(Braun schweig)

Stefan Müller (Erlangen)

Dr. Philipp Murmann
Dr . Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak

Dr . Georg Nüßlein
Julia Obermeier
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Dr . Tim Ostermann
Ingrid Pahlmann
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Eckhardt Rehberg
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr . Heinz Riesenhuber
Iris Ripsam
Johannes Röring
Kathrin Rösel
Dr . Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer (Saalstadt)

Karl Schiewerling
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Christian Schmidt (Fürth)

Gabriele Schmidt (Ühlingen)

Patrick Schnieder
Nadine Schön (St . Wendel)

Dr . Ole Schröder
Dr . Kristina Schröder


(Wiesbaden)

Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster


(Weil am Rhein)

Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein

Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Frhr . von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Stritzl
Michael Stübgen
Dr . Sabine Sütterlin-Waack
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Hans-Peter Uhl
Dr . Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Dr . Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Karl-Heinz Wange
Nina Warken
Dr . h . c . Albert Weiler
Marcus Weinberg (Hamburg)

Dr . Anja Weisgerber
Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Ingo Wellenreuther
Marian Wendt
Waldemar Westermayer
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese (Ehingen)

Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Oliver Wittke
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Dr . Matthias Zimmer
Gudrun Zollner

SPD

Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Bettina Bähr-Losse

Dr . Katarina Barley
Doris Barnett
Klaus Barthel
Dr . Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding (Heidelberg)

Burkhard Blienert
Willi Brase
Dr . Karl-Heinz Brunner
Dr . h . c . Edelgard Bulmahn
Dr . Lars Castellucci
Jürgen Coße
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr . Daniela De Ridder
Sabine Dittmar
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier
Dr . h . c . Gernot Erler
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr . Johannes Fechner
Dr . Fritz Felgentreu
Dr . Ute Finckh-Krämer
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr . Edgar Franke
Ulrich Freese
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Angelika Glöckner
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Michael Groß
Uli Grötsch
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Dirk Heidenblut
Hubertus Heil (Peine)

Wolfgang Hellmich
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Thomas Hitschler
Matthias Ilgen
Christina Jantz-Herrmann

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620616


(A) (C)



(B) (D)


Frank Junge
Josip Juratovic
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Cansel Kiziltepe
Arno Klare
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Anette Kramme
Dr . Hans-Ulrich Krüger
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr . Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Dr . Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Dr . Matthias Miersch
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
Bettina Müller
Michelle Müntefering
Dr . Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Ulli Nissen
Mahmut Özdemir (Duisburg)

Aydan Özoğuz
Markus Paschke
Christian Petry
Jeannine Pflugradt
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Achim Post (Minden)

Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr . Sascha Raabe
Dr . Simone Raatz
Martin Rabanus
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach

Dr . Carola Reimann
Andreas Rimkus
Petra Rode-Bosse
Dennis Rohde
Dr . Martin Rosemann
René Röspel
Dr . Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth (Heringen)

Susann Rüthrich
Bernd Rützel
Sarah Ryglewski
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr . Hans-Joachim

Schabedoth
Axel Schäfer (Bochum)

Dr . Nina Scheer
Marianne Schieder
Udo Schiefner
Dr . Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt (Aachen)

Matthias Schmidt (Berlin)

Dagmar Schmidt (Wetzlar)

Carsten Schneider (Erfurt)

Ursula Schulte
Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Frank Schwabe
Andreas Schwarz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Rainer Spiering
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Dr . Karin Thissen
Carsten Träger
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dirk Vöpel
Gabi Weber
Bernd Westphal
Andrea Wicklein
Dirk Wiese
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)

Gülistan Yüksel
Stefan Zierke
Dr . Jens Zimmermann
Manfred Zöllmer

Enthalten

DIE LINKE

Dr . Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W . Birkwald
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr . Diether Dehm
Dr. André Hahn
Heike Hänsel
Dr . Rosemarie Hein
Inge Höger
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Ulla Jelpke
Kerstin Kassner
Jan Korte
Jutta Krellmann
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Stefan Liebich
Dr . Gesine Lötzsch
Birgit Menz
Niema Movassat
Norbert Müller (Potsdam)

Dr . Alexander S . Neu
Thomas Nord
Petra Pau
Harald Petzold (Havelland)

Richard Pitterle
Martina Renner
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Frank Tempel
Dr . Axel Troost
Kathrin Vogler
Harald Weinberg
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Jörn Wunderlich
Hubertus Zdebel
Sabine Zimmermann


(Zwickau)


BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Kerstin Andreae
Annalena Baerbock

Dr . Franziska Brantner
Agnieszka Brugger
Ekin Deligöz
Katharina Dröge
Harald Ebner
Dr . Thomas Gambke
Matthias Gastel
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bärbel Höhn
Dieter Janecek
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Stephan Kühn (Dresden)

Christian Kühn (Tübingen)

Renate Künast
Markus Kurth
Monika Lazar
Steffi Lemke
Dr . Tobias Lindner
Peter Meiwald
Irene Mihalic
Beate Müller-Gemmeke
Özcan Mutlu
Dr . Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Cem Özdemir
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth (Augsburg)

Corinna Rüffer
Manuel Sarrazin
Ulle Schauws
Dr . Gerhard Schick
Dr . Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr . Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Dr . Julia Verlinden
Doris Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Dr . Valerie Wilms

Abgeordnete, die sich wegen gesetzlichen Mutterschutzes für ihre Abwesenheit entschuldigt haben, sind in der Liste der
entschuldigten Abgeordneten (Anlage 1) aufgeführt .

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20617


(A) (C)



(B) (D)


Jetzt, Herr Kollege Manuel Sarrazin, haben Sie das
Wort für Bündnis 90/Die Grünen .


Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820626400

Vielen Dank, Herr Präsident. – Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Herr Nick, Sie haben jetzt schon eine Vor-
lage gegeben:


(Michael Brand [CDU/CSU]: Vorsicht!)


Wenn Rot-Grün daran schuld ist, dass Herr Erdogan ein
Präsidialsystem errichten möchte, weil wir damals zu
lieb waren, dann kann man sich fragen, warum Sie den
größten Teil Ihrer Rede in ausgezeichneter Diplomatie
gegenüber der türkischen Regierung bestritten haben .
Tragen nicht vielmehr Sie zu dem bei, was Sie beklagen?
Oder muss man sich nicht vielleicht sogar die Frage stel-
len, ob nicht der Koalitionsvertrag, den Sie geschlossen
haben und der wortwörtlich die Schlussfolgerung des
Rats von 2005 zu Fragen der Mitgliedschaft der Türkei
in der EU enthält, schuld daran ist, dass Herr Erdogan
ein Präsidialsystem errichten möchte? Da hinterfragen
Sie Ihre Ausführungen doch einmal . Das ist doch Ge-
schichtsklitterung .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg . Matthias W . Birkwald [DIE LINKE])


Wenn ich einmal meine Meinung zur Geschichte sa-
gen darf: Hätten wir die Zeit des proeuropäischen En-
thusiasmus in den türkisch-europäischen Beziehungen
genutzt, um hinter dem Rücken der türkischen Politiker
mit Druck aus der türkischen Zivilgesellschaft mehr Re-
formen zustande zu bringen, dann wäre es für Erdogan
jetzt vielleicht schwieriger, das gesamte rechtsstaatliche
System umzukrempeln .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Aber das ist ja egal; denn das, was wir in der Türkei
erleben, ist ein Machtkampf, der auf das Schärfste ge-
führt wird .


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Das ist reichlich romantisch!)


Ich denke, dass man klar sagen kann, dass Herr Erdogan
offenkundig noch nicht überzeugt ist, diesen Machtkampf
absolut gewonnen zu haben . Selbst wenn Herr Erdogan
jetzt den Gesetzentwurf ins Parlament einbringt und
wenn dieser Gesetzentwurf verabschiedet wird, ist auch
ihm klar, dass die Türkei keine so monolithische Gesell-
schaft ist, dass es keine Opposition gibt und man einfach
durchregieren kann . Deswegen schlägt dieses System
um sich. Und in der Folge des Putschversuchs wird nicht
nur gegen die als Putschisten vermuteten Kräfte, sondern
gegen alle ihm Probleme machenden Kräfte sehr rabiat
vorgegangen . Ich denke in der Tat, es ist richtig – das
sollten alle Fraktionen in diesem Haus unterschreiben –,
dass wir diese klare Analyse vor dem Hintergrund der
aktuellen Lage nicht in den Schatten stellen . Das erwarte
ich auch von der Bundesregierung .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Gabriele Groneberg [SPD])


Gleichzeitig muss ich sagen, was mich leitet . Wir hat-
ten vor einigen Wochen Can Dündar zu Gast in unserer
Fraktionssitzung . Das ist sehr eindrucksvoll gewesen . Er
hat uns dazu aufgefordert, die Menschen, die in der Tür-
kei für ihre demokratischen Rechte kämpfen, nicht im
Stich zu lassen .


(Michael Brand [CDU/CSU]: Absolut richtig!)


Wenn man sich daran ausrichtet, dann zeigt sich doch,
dass es wahrscheinlich der falsche Weg ist, wenn wir der
Türkei den Rücken zukehren, wenn wir sozusagen den
Stecker herausziehen,


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Genau!)


was die Chancen für einen EU-Beitritt der Türkei angeht .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der falsche Weg ist dann auch, die Vorbeitrittshilfen ein-
fach komplett zu streichen .


(Michael Brand [CDU/CSU]: Wer hat das denn gefordert? – Gegenruf der Abg . Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das ist Ihre Politik seit Jahren! Seit Jahren sagen Sie das!)


Dies schadet vor allem denen, die überhaupt noch demo-
kratische Kräfte in der Türkei finanzieren können. Viel
cleverer wäre es vielmehr, dieses Geld gezielt einzuset-
zen, indem wir sagen: „An der Stelle zahlen wir nicht
mehr; an der anderen Stelle zahlen wir weiterhin“, um so
einzelne Fortschritte oder die Verhinderung von Rück-
schritten in der Türkei über die Verwebungen, die es zwi-
schen der Türkei und der Europäischen Union noch gibt,
zu erreichen .


(Zurufe der Abg. Sevim Dağdelen [DIE LINKE] und Heike Hänsel [DIE LINKE])


Das, was ich bei der Linkspartei an dieser Stelle nicht
verstehe, ist Folgendes: Ich saß vor einigen Wochen
mit dem Kollegen Neu, der im Moment als Schriftfüh-
rer links hinter mir sitzt, auf einem Podium zum Thema
„Putin ist super“. Die deutsche Wirtschaft und Herr Neu
waren der Meinung, dass Putin ganz klasse ist; eingela-
den hatte Herr Clement .


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Zu welchen Veranstaltungen geht ihr?)


Mit ihm habt ihr jetzt ja nichts mehr zu tun; daher kann
ich es hier ja sagen .


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Sehr richtig!)


Herr Neu hat also die deutsche Wirtschaft dazu aufge-
rufen, nach Russland zu gehen und dort zu investieren;
denn nur das könne die Demokratie in Russland voran-
bringen .


(Michael Brand [CDU/CSU]: Jetzt ist er umgefallen!)


Jetzt behauptet die Linksfraktion hier, die Türkei wer-
de zu einer Diktatur, und beantragt deswegen, sofort
die Zollunion mit der Türkei zu beenden, weil man die

Vizepräsident Johannes Singhammer

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620618


(A) (C)



(B) (D)


wirtschaftlichen Beziehungen mit ihr beenden müsse .
Entscheidet euch doch einmal: Wollt ihr jetzt Wandel
durch Handel, oder wollt ihr, dass wir mit der Türkei
wirtschaftlich nichts mehr zu tun haben? Beides geht ja
nun wirklich nicht .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD – Michael Brand [CDU/CSU]: Das ist eine Strategie: Der Herr Neu kann sich jetzt nicht wehren! – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Komm mal zum Thema, Manuel! – Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Äpfel mit Äpfeln und Birnen mit Birnen vergleichen!)


Wir haben vorhin die Meldung vernommen, dass Herr
Akinci und Herr Anastasiades gerade beim Mittagessen
zusammensitzen. Ich hoffe, dass wir mit Blick auf die ak-
tuellen Beziehungen zur Türkei auch immer daran den-
ken, dass wir vielleicht noch in diesem oder im nächsten
Jahr eine Einigung in der Zypern-Frage erreichen kön-
nen .

Ich hoffe, uns in diesem Hohen Hause trägt die ge-
meinsame Auffassung, dass wir uns aus Fragen der Tür-
kei-Politik nicht einfach heraushalten, dass wir nicht ein-
fach schweigen angesichts dortiger Entwicklungen, die
wir mit großer Besorgnis sehen, und dass wir gerade ge-
genüber den progressiven Kräften in der Türkei klarma-
chen, dass wir keine Isolation wollen . Deswegen: Nicht
trotz, sondern gerade wegen der Entwicklungen in der
Türkei ist der Dialog zwischen der EU und der Türkei
weiter notwendig .


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das sagen Sie schon seit Jahren!)


Es ist richtig: Im Moment liegen die Beziehungen
bzw . die Verhandlungen faktisch auf Eis . Die braucht
man gar nicht mehr einzufrieren . Aber von sich aus jetzt
den Stecker zu ziehen und die Verhandlungen abzubre-
chen, halte ich für falsch .

Danke sehr .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820626500

Einen schönen Abend, liebe Kolleginnen und Kolle-

gen, und vielen Dank, Manuel Sarrazin . – Nächste Red-
nerin ist Dr. Dorothee Schlegel für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Dorothee Schlegel (SPD):
Rede ID: ID1820626600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Die Türkei-Politik der EU
steckt tatsächlich in einem Dilemma . Alles besser zu wis-
sen, so wie es die Linke mit ihrem Antrag „Türkei-Politik
neu ausrichten“ vorgibt, ist für die Opposition leicht und
vielleicht auch ihre Aufgabe . Wir kennen unser Ziel –
mein Kollege Sarrazin hat gerade schon einiges vorge-
legt –: Wir wollen eine europäische Bindung der Türkei .
Wir wollen eine friedliche Türkei, in der Demokratie,

Freiheit und Rechtsstaatlichkeit herrschen . Da sind wir
uns hier bestimmt alle einig .

Ich verwahre mich gegen den Vorwurf der Linken,
dass die bisherige Strategie der Bundesregierung und der
EU zu einer Verschlechterung der Menschenrechtslage in
der Türkei geführt habe .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Ist sie schlechter geworden oder nicht?)


Liebe Linke, Provokation ist keine gute Außenpolitik.
Das sehen auch Delegationen von türkischen Studieren-
den, oppositionelle Parlamentarier und NGO-Vertreter
so, mit denen ich in den letzten Wochen Gespräche ge-
führt habe .

Aber wir müssen uns ehrlich fragen: Welche wirksa-
men Mittel haben wir tatsächlich? Angesichts der Ver-
folgung und Inhaftierung von politisch Andersdenkenden
und der Massenentlassungen durch die türkische Regie-
rung befürworte ich die Entscheidung des EU-Parla-
ments, die Beitrittsgespräche temporär einzufrieren – als
Signal an die türkische Regierung und das türkische Par-
lament, zum demokratischen Prozess zurückzukehren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Unsere Normen und Werte sind nämlich nicht verhan-
delbar . Wir akzeptieren weder Menschenrechts- noch
Rechtsstaatsverletzungen .


(Gabriele Groneberg [SPD]: So ist es!)


Die Türkei entfernt sich von Demokratie, Rechtsstaat-
lichkeit und Laizismus, und die Gesellschaft lebt in ei-
nem angespannten Zustand. Seit dem Putsch hat auch die
Gewalt gegenüber Frauen drastisch zugenommen . Das
Vorgehen gegen Minderheiten, gegen die kurdische Be-
völkerung und gegen Andersdenkende sowie das Infrage-
stellen von Ländergrenzen verurteilen wir aufs Schärfste .
Die Türkei ist kein sicherer Herkunftsstaat . Diese Ein-
schätzung des EU-Unterstützungsbüros für Asylfragen
der EU-Kommission teile ich .

Meine Damen und Herren, die letzten zwei Fort-
schrittsberichte der EU-Kommission zur Bewertung der
Beitrittsgespräche waren sehr kritisch . Dennoch wollen
wir als SPD-Fraktion und als Europäer den Dialog fort-
setzen . Ich bin gegen einen grundsätzlichen Verhand-
lungsstopp . Der würde vor allem die gemäßigten Kräfte
in der Türkei hart treffen. Ich zitiere hierzu die Spre-
cherin der größten Oppositionspartei, CHP, Selin Sayek
Böke, die sagte:

Europa sollte verstehen, dass die Türkei mehr als
ein Einzelner ist . Die Türkei ist größer als Erdogan .

Beitrittskapitel zu öffnen oder Verhandlungen zu den
bisherigen Kapiteln weiterzuführen, waren und sind die
Möglichkeit, miteinander im Dialog zu bleiben – mit den
richtigen Gesprächspartnern und einer echten Gesprächs-
bereitschaft .


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Die sind doch alle im Knast!)


Manuel Sarrazin

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20619


(A) (C)



(B) (D)


Ich denke, es gibt auch Leute, mit denen man vernünftig
sprechen kann .


(Beifall bei der SPD)


Natürlich sind die Verhandlungen – ohne Wenn und
Aber – sofort zu beenden, sollte die Türkei die Todesstra-
fe wieder einführen .

Welche Möglichkeiten haben wir? Auch kleine
Schritte setzen Zeichen, zum Beispiel das Projekt der
Philipp-Schwartz-Initiative, das weiter finanziell un-
terfüttert wird . Mit diesem vom Auswärtigen Amt und
von der Alexander-von-Humboldt-Stiftung geförder-
ten Programm erhalten gefährdete Wissenschaftler ein
Stipendium für 24 Monate an deutschen Universitäten .
Oder: 104 Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundes-
tag, darunter auch ich, haben Patenschaften für inhaf-
tierte Abgeordnete übernommen . Oder: Was die Bundes-
wehrsoldaten am NATO-Stützpunkt Incirlik angeht: Alle
Abgeordneten müssen das Recht haben, sich vor Ort ein
Bild zu machen . Derzeit prüft die Bundesregierung alter-
native Standorte wie etwa Kuwait .

Die Linke fordert ein Einfrieren der Vorbeitrittshilfen,
die auch für die Förderschwerpunkte Demokratie, Zi-
vilgesellschaft und Rechtsstaatlichkeit vorgesehen sind .
Doch um sie zu stoppen, müsste zunächst der Beitritts-
prozess beendet werden . Davon sind wir weit entfernt .
Trotz der aktuell belasteten Beziehungen gibt es von
türkischer Seite ein intensives Bemühen, mit der EU zu
sprechen .

Nach wie vor ist die EU der größte Handelspartner der
Türkei . Wirtschaftssanktionen würden auch die Bevölke-
rung und die Gegner des Regierungskurses treffen. Einen
Handelskrieg wollen wir daher nicht .

Kolleginnen und Kollegen, wie also weiter in der Zu-
kunft? Wir müssen mit einer europäischen Stimme spre-
chen – und das viel deutlicher . Das ist allerdings nicht
einfach . Wir müssen noch klarer sagen: „Terrorismus de-
finieren wir anders!“, auch im Hinblick auf die Erfüllung
der Kriterien zur Visaliberalisierung .

Wir fordern: Der Ausnahmezustand muss beendet
werden . Wir fordern weiterhin die Freilassung der inhaf-
tierten HDP-Politiker und -Bürgermeister. Wir müssen
alle unsere Wege nutzen, die Opposition im Land stärker
zusammenzubringen, und wieder mehr mit der kurdi-
schen Bevölkerung in Kontakt treten . Völkerverständi-
gende Möglichkeiten sind zum Beispiel weitere Städte-
partnerschaften, die Zusammenarbeit unter NGOs und
die Pflege türkisch-deutscher oder europäischer Nach-
bar- und Freundschaften .

Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, gerade in
schwierigen Zeiten – Manuel Sarrazin hat es auch ge-
sagt – braucht es mehr denn je den Dialog .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820626700

Vielen Dank, Dorothee Schlegel . – Das Wort zu einer

Kurzintervention hat der Kollege Dr . Neu . – Ich muss
erklären: Diese bezieht sich nicht auf den Redebeitrag
von Frau Schlegel, sondern auf den von Herrn Sarrazin .


(Michael Brand [CDU/CSU]: Zu spät!)


Herr Dr . Neu konnte das als Schriftführer vorhin schlecht
von hier oben vom Präsidium aus machen; das schickt
sich nicht . Deswegen sind Sie sicher damit einverstan-
den, dass wir jetzt gedanklich zurückgehen und er sich
jetzt auf den Kollegen Sarrazin bezieht .


Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1820626800

Vielen Dank, dass Sie mir die Möglichkeit geben, zu

reagieren . – Kollege Sarrazin, es muss Sie ja schwer ge-
troffen haben, dass Sie an diesem Tag mit Ihren kruden
antirussischen Thesen derart baden gegangen sind, wie
Sie baden gegangen sind .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die dortigen Wirtschaftsvertreter haben in der Tat für
eine wirtschaftliche Kooperation mit Russland gewor-
ben . Dafür habe ich mein Verständnis geäußert – im Ge-
gensatz zu Ihnen, der Sie nach wie vor eine sehr stark
antirussische Position vertreten. Es ist traurig, dass die
Menschen in diesem Land, seien sie aus Wirtschaft oder
Politik, die eine Verständigung mit Russland, dem größ-
ten europäischen Nachbarstaat, suchen, als prorussisch
diffamiert werden. Das zeigt aber, wo Sie angekommen
sind .

Danke .


(Beifall bei der LINKEN – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820626900

Jetzt hat der Kollege Sarrazin seinerseits das Wort,

wenn er will .


Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820627000

Lieber Herr Neu, als ich die Beteiligung an dieser Ver-

anstaltung zugesagt habe, wusste ich, dass ich mit meiner
inhaltlichen Position zur Politik Russlands in der Ukrai-
ne keinen großen Anklang finden würde, weil die anwe-
senden Wirtschaftsvertreter dort vor allem auf die Profite
ihrer Großkonzerne gucken


(Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Das ist Kapitalismus!)


und nicht so sehr auf das, was die Menschen in der Ukra-
ine und in Russland wirklich interessiert . Deswegen habe
ich mich an der Stelle für eine linke Position entschieden.
Ein, zwei Leute haben mir trotzdem applaudiert .

Ich glaube, deswegen, weil ich ein Freund Russlands bin:
Ja ljublju Rossiju, Kollege Neu .

Danke sehr .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dr. Dorothee Schlegel

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620620


(A) (C)



(B) (D)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820627100

Jetzt kommen wir zum Thema Türkei zurück . Der

nächste Redner ist Alexander Radwan für die CDU/
CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Wir fordern keine Wirtschaftssanktionen! – Weitere Zurufe von der LINKEN)


– Überwiegend hat jetzt der Kollege Radwan das Wort .
Sind Sie damit einverstanden? – Gut .


Alexander Radwan (CSU):
Rede ID: ID1820627200

Gleich fangen sie an, sich zu raufen .


(Heiterkeit bei der SPD – Zuruf von der SPD: Wir doch nicht! – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie Angst, mitzumachen?)


– Sie haben Angst, wenn ich mitmache .

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Frau Präsidentin! Wir haben jetzt eine Debatte zum

Thema Türkei mit der Überschrift „Ändern Sie die Zu-
stände in der Türkei, und zwar sofort und unmittelbar“ .
So kommen mir Ihr Antrag und Ihre Argumentation vor .
Ich finde es sehr bemerkenswert, wenn ich aus den ver-
schiedenen Fraktionen die Wortbeiträge zum Thema Tür-
kei erlebe . Ich kann mich noch gut an Zeiten erinnern, in
denen wir von der CSU kritisiert wurden, weil wir mit
Blick auf die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei im-
mer gesagt haben: Vorsicht! Ist das der richtige Weg?


(Zuruf der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE])

– Genau . Wenn die Türkei heute unter diesen Umständen
dabei wäre, dann wäre es sicherlich einfacher innerhalb
der EU und mit der Türkei . Das ist ein interessanter An-
satz . Erst mit Enthusiasmus rein und jetzt mit Enthusias-
mus verdammen: Das ist nicht die Politik, die uns bezo-
gen auf die Türkei weiterhilft .


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Lesen Sie doch den Antrag!)


– Habe ich . Ich habe ihn sogar mehrfach gelesen . Ich
habe Ihrer Argumentation aber nur schwer folgen kön-
nen .

Ziel muss es sein, dass wir – hier haben wir Konsens –
unsere Werte gegenüber der Türkei deutlich machen . Wir
können in der Türkei keine Innenpolitik machen . Um-
gekehrt probiert es Erdogan in Deutschland; Erdogan
versucht, hier Innenpolitik zu machen . Gleichzeitig wol-
len wir auch bei all dem, was wir dort erreichen wollen,
keine weitere Destabilisierung . Wir müssen auch darüber
nachdenken, in welche Richtung sich die Türkei weiter-
entwickelt. Darum lassen Sie mich drei Punkte aus Ihrem
Antrag herausgreifen .


(Zuruf der Abg. Sevim Dağdelen [DIE LINKE])


Was das Thema Beitritt anbelangt, kann ich Ihnen
klipp und klar sagen: Aus meiner Sicht war es schon lan-

ge notwendig, dass wir zum Realismus übergehen, dass
wir ganz klar die Frage stellen – das betrifft ein Land wie
die Türkei, aber auch andere Länder –: Ist eine Beitritts-
perspektive wirklich real und ehrlich? Oder sind wir heu-
te möglicherweise an einem Punkt angelangt, wo wir in
unserem Land und in der Türkei noch über das Ja oder
Nein diskutieren, obwohl jeder weiß, dass es eigentlich
nicht erreichbar ist?

Darum lassen Sie uns endlich einmal gemeinsam de-
battieren und – in den europäischen Verträgen ist dies
angelegt – über eine konstruktive Nachbarschaftspolitik
reden . Das wäre möglicherweise ein Modell für die Tür-
kei, das es zu entwickeln gilt und mit dem es dann eine
Perspektive für das Land gibt. Jeder weiß im Zusammen-
hang mit der Frage „Beitritt – ja oder nein?“: Das, was
wir hier debattieren, ist nicht mehr das Thema . Wir regen
uns hier über Sachen auf, bei denen jeder weiß: Der Kas
is bissn .

Das zweite Thema ist das Flüchtlingsabkommen . Das
Flüchtlingsabkommen ist auch im ureigenen Interesse
der Türkei . Dass die Türkei mit Unterstützung der Eu-
ropäischen Union nicht durch weitere Flüchtlingsströme
destabilisiert wird, ist in unserem Interesse .


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das ist Merkels Interesse!)


– Nein, das ist im Interesse der Türkei, und das ist auch in
unserem Interesse, vielleicht nicht in Ihrem Interesse . Es
ist aber im Interesse der Regierung, die Destabilisierung
der Türkei nicht weiter vorantreiben zu lassen .


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Seit wann sind Waffenlieferungen ein Beitrag für die Stabilität?)


– Jetzt bin ich gerade beim Flüchtlingsabkommen, Frau
Dağdelen, dazu haben Sie auch etwas in Ihrem Antrag
geschrieben .


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Ja!)


Hätten Sie weniger geschrieben, wäre ich auf den einen
oder anderen Punkt schneller gekommen.

Es ist also im Interesse der Türkei . Gleichzeitig müs-
sen wir aber auch in Deutschland ganz klar das Signal
an Erdogan senden – hier müssen wir unsere Hausaufga-
ben in Europa machen –, dass schlicht und ergreifend die
Außengrenzen der Europäischen Union zur Türkei durch
Frontex geschützt werden . Das ist eine weitere zusätzli-
che Maßnahme, die wir hier ergreifen müssen .

Am meisten hat mich dann das Thema „Zoll und Wirt-
schaft“ gewundert . Die Gruppierungen, die Sie in der
Türkei ansprechen, die noch ein Stück weit eine westli-
che Orientierung haben und die noch durch Handel eine
Perspektive haben, wollen Sie sozusagen an die Kandare
nehmen . Was passiert dann in dem Land, das wirtschaft-
lich so eng mit Europa verwoben ist? Wollen wir dann
durch ein Kappen der Wirtschaftsbeziehungen, durch
ein Absinken der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit in
diesem Land weitere Instabilität, weitere Radikalisierung
produzieren? Sollen die Ärmsten der Armen ein schlech-
tes Leben haben und dann noch dem jeweiligen Ratten-
fänger zum Opfer fallen? Nein, hier, im wirtschaftlichen

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20621


(A) (C)



(B) (D)


Bereich, muss Europa, müssen wir als Europäische Uni-
on verantwortungsvoll weiter zusammenarbeiten .

Meine Vorrednerin Frau Dr . Schlegel hat den Satz zi-
tiert: „Die Türkei ist größer als Erdogan .“ Das ist völlig
richtig . Neben dem Umgang mit Erdogan gibt es andere
Themen; wir müssen bereits heute eine Politik anlegen,
die der Türkei eine Perspektive für die Zeit nach Erdogan
bietet . Das ist heute unsere Aufgabe .

Deswegen lehnen wir Ihren Antrag ab; denn Ihr An-
trag würde die Situation in der Türkei nur noch ver-
schlimmern, anstatt sie zu verbessern .

Besten Dank und einen schönen Abend .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820627300

Vielen Dank, Alexander Radwan . – Damit schließe

ich die Aussprache .

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/10472 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sie sind sicher damit
einverstanden . – Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen .

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und
Energie (9 . Ausschuss) zu der Verordnung der
Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Tele-
kommunikation, Post und Eisenbahnen

Verordnung zur Förderung der Transpa-
renz auf dem Telekommunikationsmarkt

(TK-Transparenzverordnung – TKTransparenzV)


Drucksachen 18/8804, 18/8934 Nr. 2, 18/10508

Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor .

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden . – Ihr
Einverständnis ist vorhanden .1)

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Energie zu der Verordnung der
Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommuni-
kation, Post und Eisenbahnen zur Förderung der Transpa-
renz auf dem Telekommunikationsmarkt . Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 18/10508, der Verordnung auf Drucksache 18/8804
zuzustimmen . Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die
Beschlussempfehlung ist knapp angenommen . Zuge-
stimmt hat die CDU/CSU, dagegen waren die Grünen .
Die Linken wussten nicht, worum es geht, und die SPD
hat sich mit etwas anderem beschäftigt .


(Heiterkeit – Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Michael Brand [CDU/CSU]: Genau so habe ich es auch gesehen!)


1) Anlage 4

Abstimmung über den Entschließungsantrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/10525 .
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschlie-
ßungsantrag ist abgelehnt . Zugestimmt haben Bünd-
nis 90/Die Grünen, dagegen CDU/CSU und SPD, und
enthalten hat sich die Linke .

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf:

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Recht und Verbrau-
cherschutz (6 . Ausschuss) zu dem Antrag der
Abgeordneten Tom Koenigs, Omid Nouripour,
Luise Amtsberg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Keine Straflosigkeit bei Kriegsverbrechen –
Völkerstrafprozesse in Deutschland voran-
bringen

Drucksachen 18/6341, 18/10296

b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Völkerstrafgesetzbuches

Drucksache 18/8621

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-

(6 . Ausschuss)


Drucksache 18/10509

Auch hier gehen die Reden zu Protokoll. 2)

Tagesordnungspunkt 16 a . Wir kommen zur Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Ver-
braucherschutz zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Keine Straflosigkeit bei Kriegs-
verbrechen – Völkerstrafprozesse in Deutschland voran-
bringen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 18/10296, den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/6341
abzulehnen . Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine .
Die Beschlussempfehlung ist angenommen . Zugestimmt
haben CDU/CSU und SPD, dagegen waren Bündnis 90/
Die Grünen und die Linke .

Tagesordnungspunkt 16 b . Abstimmung über den
von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf
zur Änderung des Völkerstrafgesetzbuches . Der Aus-
schuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10509,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksa-
che 18/8621 in der Ausschussfassung anzunehmen . Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen . – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenom-
men. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD. Die Grü-
nen haben sich enthalten, und die Linken waren dagegen .

2) Anlage 5

Alexander Radwan

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620622


(A) (C)



(B) (D)


Dritte Beratung

und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erheben . –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist angenommen . Zugestimmt haben CDU/CSU
und SPD, dagegen waren die Linken, und Enthaltungen
kommen von Bündnis 90/Die Grünen .

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b auf:

a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Umsetzung der Änderungen
der EU-Amtshilferichtlinie und von weite-
ren Maßnahmen gegen Gewinnkürzungen
und -verlagerungen

Drucksachen 18/9536, 18/9956, 18/10102
Nr. 17

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz-
ausschusses (7 . Ausschuss)


Drucksache 18/10506


(8 . Ausschuss)


Drucksache 18/10507

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses (7 . Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr . Thomas
Gambke, Kerstin Andreae, Britta Haßelmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Mit Transparenz Steuervermeidung mul-
tinationaler Unternehmen eindämmen –
Country-by-Country-Reporting einführen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr . Thomas
Gambke, Kerstin Andreae, Britta Haßelmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Steuerschlupflöcher schließen – Gewinn-
verlagerung durch Lizenzzahlungen ein-
schränken

Drucksachen 18/2617, 18/9043, 18/10506

Auch hier gehen die Reden zu Protokoll.1)

Tagesordnungspunkt 17 a . Zum Gesetzentwurf der
Bundesregierung liegt ein Änderungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor .

Dann kommen wir jetzt zur Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur
Umsetzung der Änderungen der EU-Amtshilferichtlinie
und von weiteren Maßnahmen gegen Gewinnkürzungen
und -verlagerungen. Der Finanzausschuss empfiehlt un-
ter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 18/10506, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksachen 18/9536 und 18/9956 in der Ausschuss-
fassung anzunehmen . Hierzu liegt ein Änderungsan-

1) Anlage 6

trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-
che 18/10527 vor, über den wir zuerst abstimmen . Wer
stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Der Änderungsantrag ist abgelehnt . Zu-
gestimmt hat Bündnis 90/Die Grünen, dagegen waren
CDU/CSU und SPD, und enthalten hat sich die Linke.

Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, jetzt um das
Handzeichen . – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD,
enthalten haben sich Linke und Bündnis 90/Die Grünen .

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist angenommen . Zugestimmt haben CDU/CSU
und SPD, dagegengestimmt hat niemand, enthalten ha-
ben sich Bündnis 90/Die Grünen und die Linke .

Tagesordnungspunkt 17 b . Wir setzen die Abstim-
mung zu der Beschlussempfehlung des Finanzausschus-
ses auf Drucksache 18/10506 fort . Der Ausschuss emp-
fiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung
die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 18/2617 mit dem Titel „Mit
Transparenz Steuervermeidung multinationaler Unter-
nehmen eindämmen – Country-by-Country-Reporting
einführen“ . Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine .
Die Beschlussempfehlung ist angenommen . Zugestimmt
haben CDU/CSU und SPD, dagegengestimmt haben
Bündnis 90/Die Grünen und die Linken .

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/9043 mit dem Titel „Steuerschlupflöcher
schließen – Gewinnverlagerung durch Lizenzzahlungen
einschränken“ . Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die
Beschlussempfehlung ist angenommen . CDU/CSU und
SPD haben dafür gestimmt, dagegen waren Bündnis 90/
Die Grünen, und enthalten hat sich die Linke .

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Gohlke, Dr . Rosemarie Hein, Sigrid Hupach,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Inklusive Bildung für alle – Ausbau inklusiver
Hochschulen fördern

Drucksache 18/9127
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Die Reden gehen zu Protokoll.2)

2) Anlage7

Vizepräsidentin Claudia Roth

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20623


(A) (C)



(B) (D)


Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/9127 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . – Sie sind einverstan-
den . Dann ist die Überweisung so beschlossen .

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung der Vorschriften zur Vergabe
von Wegenutzungsrechten zur leitungsgebun-
denen Energieversorgung

Drucksache 18/8184

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Energie (9 . Ausschuss)


Drucksache 18/10503

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden .1)

Wir kommen zur Abstimmung . Der Ausschuss für
Wirtschaft und Energie empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 18/10503, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/8184 in der
Ausschussfassung anzunehmen . Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen . – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung angenommen . Zugestimmt haben CDU/CSU
und SPD, dagegengestimmt haben Bündnis 90/Die Grü-
nen und die Linke .

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erhe-
ben . – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist angenommen . Zugestimmt haben CDU/
CSU und SPD, dagegengestimmt haben Linke und Grü-
ne .

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Regelung von Ansprüchen auslän-
discher Personen in der Grundsicherung für
Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozi-
algesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem
Zwölften Buch Sozialgesetzbuch

Drucksache 18/10211

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Soziales (11 . Ausschuss)


Drucksache 18/10518

Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor .

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre eini-
ges, aber keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlos-
sen .

1) Anlage 8

Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der Par-
lamentarischen Staatssekretärin Anette Kramme für die
Bundesregierung .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


A
Anette Kramme (SPD):
Rede ID: ID1820627400


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und
Kolleginnen! Dass Menschen aus anderen Mitgliedstaa-
ten der Europäischen Union zu uns kommen und hier
arbeiten können, das ist eine große und wichtige Errun-
genschaft der europäischen Einigung . Europa ist Gott sei
Dank mehr als eine Freihandelszone . Nicht nur für Ka-
pital und Handel gilt Freizügigkeit, auch die Bürger der
Europäischen Union können sich in allen Mitgliedstaaten
der Europäischen Union frei bewegen .

Meine Damen und Herren, es besteht nach euro-
päischem Recht ein Zusammenhang zwischen dem
Freizügigkeitsrecht von Erwerbstätigen und ihren Fa-
milienangehörigen einerseits und Ansprüchen auf Sozial-
leistungen andererseits . Diesem Willen des europäischen
Gesetzgebers folgt die gesetzliche Klarstellung, die wir
hier und heute beraten .

Deutschland profitiert von der Arbeitnehmerfreizügig-
keit . Das tun auch die anderen Staaten der Europäischen
Union, vor allen Dingen aber die Menschen innerhalb
von Europa; das will ich ausdrücklich festhalten . Aber es
kann natürlich niemand die Augen davor verschließen,
dass es große Unterschiede innerhalb der Europäischen
Union gibt, was Lebensstandard, was Löhne und was
Sozialleistungen angeht . Und ja, es gibt Armut innerhalb
der Europäischen Union . Armutsmigration nimmt nicht
nur insgesamt auf der Welt zu, auch in Europa wächst
der Druck . Doch – das will ich hier noch einmal bekräf-
tigen – Anreize für Arbeitsmigration sind an dieser Stelle
keine Lösung .

Armut bekämpfen – das können wir nur gemeinsam in
der Europäischen Union . Dabei sollte es unser Ziel sein,
dass die jeweiligen Systeme der sozialen Sicherung in
den Mitgliedstaaten leistungsfähiger werden .


(Beifall bei der SPD)


Wir brauchen eine Aufwärtskonvergenz der sozialen Ver-
hältnisse in der Europäischen Union mit höheren Löhnen
und besserem sozialen Schutz in allen EU-Mitgliedstaa-
ten .


(Beifall bei der SPD)


Es geht nicht, dass wir die Abhängigkeit der Sozial-
leistungsansprüche von Erwerbstätigkeit einfach auflö-
sen. Es geht auch nicht, dass wir diesen Personen An-
sprüche nach dem Sozialgesetzbuch XII zulasten der
Kommunen gewähren . Genau das ist aber die Konse-
quenz der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes
vom letzten Jahr, die das vorliegende Gesetz veranlasst
hat . Deshalb ist eine Reaktion des Bundesgesetzgebers
notwendig . Darum debattieren wir heute über den vorlie-
genden Gesetzentwurf .

Vizepräsidentin Claudia Roth

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620624


(A) (C)



(B) (D)


Konkret geht es dabei um Folgendes: Einerseits wird
klargestellt, dass Personen ohne Aufenthaltsrecht aus
der Freizügigkeitsrichtlinie keine Leistungen nach dem
SGB II oder dem SGB XII enthalten . Zum anderen ent-
hält der Gesetzentwurf eine Neuerung: Erstmals wird
gesetzlich fixiert, wann von einer Verfestigung des tat-
sächlichen Aufenthalts auszugehen ist und wir aus ver-
fassungsrechtlichen Gründen Leistungen gewähren . Das
ist nach fünf Jahren der Fall .

Wir wollen, dass die Kommunen in der Lage sind, Zu-
sammenhalt zu sichern und zu stärken . Wir wollen sozi-
alen Fortschritt innerhalb der Europäischen Union . Wir
wollen, dass nicht Armut, sondern Arbeit die Menschen
in Europa zusammenführt . Dafür kämpfen wir .

In diesem Sinne herzlichen Dank .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820627500

Vielen herzlichen Dank, Anette Kramme . – Nächste

Rednerin: Sabine Zimmermann für die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Sabine Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1820627600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Während bei der Förderung von Unternehmen
alle Hebel in Bewegung gesetzt werden und nichts zu
teuer ist, soll die soziale Absicherung von EU-Bürge-
rinnen und -Bürgern auf der Strecke bleiben . Wir sagen:
Das Grundrecht auf Sicherung des Existenzminimums
muss für alle Menschen in Deutschland gelten .


(Beifall bei der LINKEN – Dr . Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Alle Europäer nach Deutschland!)


– Das habe ich nicht gesagt, Kollege Zimmer .


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das ist aber die Konsequenz!)


Mobilität in Europa muss sozial abgesichert werden .
Das Streichen der sozialen Absicherung für EU-Bürge-
rinnen und -Bürger widerspricht grundsätzlich dem euro-
päischen Gedanken . Daran krankt die EU aber schon seit
Anbeginn . Im Mittelpunkt stehen die wirtschaftlichen In-
teressen, denen sich die Menschen unterzuordnen haben .
Das Soziale bleibt auf der Strecke . Dagegen wenden wir
uns hier .


(Beifall bei der LINKEN)


Namenhafte Juristen haben den Gesetzentwurf der
Bundesregierung in Grund und Boden gestampft .


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Wer denn?)


– Ich sage es Ihnen gleich, Kollege Zimmer . – Deren
Gutachten sind mehr als eindeutig: Ihr Gesetzentwurf ist
verfassungswidrig .


(Beifall bei der LINKEN)


Das Grundrecht auf ein Existenzminimum steht allen
Menschen in Deutschland zu, ob nun mit deutscher oder
ausländischer Staatsangehörigkeit. So stellt Professor
Dr . Berlit in seiner Stellungnahme fest:

Mit nationalem Verfassungsrecht ist der Entwurf auf
der Grundlage der derzeitigen Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts mit dem Grundrecht auf
ein menschenwürdiges Existenzminimum . . . unver-
einbar .

Noch deutlicher formuliert es die Neue Richterverei-
nigung:

Die Abschaffung von Sozialleistungen an besonders
schwache Mitmenschen untergräbt die deutsche
Rechts- und Verfassungsordnung . Schwerer Scha-
den droht dem Arbeits- und Sozialrecht . Die Rege-
lung schafft eine Gruppe moderner Sklaven, die alle
Arbeitsbedingungen und jedes Lohnniveau akzep-
tieren müssen, um hier zu überleben .


(Michael Brand [CDU/CSU]: Sie wissen nicht, was Sklaven sind! Sonst würden Sie nicht solch eine Scheiße reden! – Gegenruf der Abg. Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Was ist das für eine Vulgärsprache hier?)


– Das sagt die Neue Richtervereinigung . Ich zitiere hier .
Ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Dies erhöht den Druck auf diejenigen, die zur Zeit
regulären Beschäftigungen im untersten Qualifika-
tions- und Einkommensbereich nachgehen . . . . Bis-
her galt, dass jeder Mensch unabhängig von seiner
Herkunft dasselbe Recht auf ein Leben in Würde in
sich trägt . Die Neuregelung ersetzt dieses tragende
Prinzip durch sozialrechtliche Apartheid.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das ist ein starkes Stück! – Michael Brand [CDU/ CSU]: Sklaverei und Apartheid!)


Die Folgen für die deutsche Gesellschaft sind un-
absehbar .

Ich sage: Dieses Gesetz fügt sich in die unsoziale Politik
dieser Bundesregierung ein .


(Beifall bei der LINKEN – Dr . Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Sie wollen ein Mindesteinkommen für alle Europäer, das die Deutschen bezahlen! – Michael Brand [CDU/ CSU]: Das ist eine Verharmlosung von Sklaverei und Apartheid!)


Dabei müsste es die Bundesregierung doch eigentlich
besser wissen . Gerade Rumänen und Bulgaren wird oft
unterstellt, sie kämen hierher, um Sozialleistungen abzu-
greifen . Die Erwerbsquote dieser beiden Gruppen liegt
aber bei über 80 Prozent, sodass dieser Vorwurf unhalt-
bar ist .


(Beifall bei der LINKEN)


Wir wollen ein Europa für die Menschen . Dazu ge-
hört auch die soziale Absicherung . Die Bundesregierung
hat mit ihrer unsozialen Politik und mit ihren Spardik-

Parl. Staatssekretärin Anette Kramme

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20625


(A) (C)



(B) (D)


taten schon genug Schaden in Europa angerichtet und
für einen dramatischen Vertrauensverlust der EU bei den
Menschen gesorgt . Dieser Irrweg muss endlich beendet
werden .

Danke schön .


(Beifall bei der LINKEN – Dr . Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Meine Güte!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820627700

Vielen Dank, Sabine Zimmermann . – Nächster Red-

ner: Dr. Martin Pätzold für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU – Michaela Noll [CDU/CSU]: Jetzt kommt etwas Vernünftiges!)



Dr. Martin Pätzold (CDU):
Rede ID: ID1820627800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Ich glaube, mit dem Gesetz heute leisten
wir einen wichtigen Beitrag für die Akzeptanz der Euro-
päischen Union. Das Parlament hat sich mit diesem Ge-
setzesvorschlag sehr schnell und in pragmatischer Weise
auseinandergesetzt .


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja!)


Vor genau drei Wochen haben wir ihn hier das erste Mal
debattiert . Am Montag fand die Anhörung statt . Sie hat
ein sehr differenziertes Bild gezeichnet. Es gab Sach-
verständige, Frau Zimmermann, die durchaus einen
Hintergrund hatten, der eher bei Ihnen war, die den Ge-
setzentwurf als nicht verfassungsgemäß und nicht euro-
parechtskonform bezeichnet haben .

Dann gab es aber auch Sachverständige – das gehört
zur kompletten Wahrheit dazu –, wie ein Dr . Groth und
Herr Dollinger, zwei ehrenwerte Persönlichkeiten,


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die sich nicht wirklich sicher waren!)


die gesagt haben: Das Gesetz ist verfassungsgemäß, es ist
europarechtskonform . – Deshalb bringen wir das auf den
Weg, und es ist auch gut so, dass wir das so tun .


(Beifall bei der CDU/CSU – Beate MüllerGemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, die waren sich nicht sicher!)


Wir verfolgen damit drei Ziele . Das erste ist: Wir
wollen unser Sozialsystem vor Missbrauch schützen . Es
geht darum, dass wir die Kommunen entlasten, die der-
zeit keine Rechtssicherheit haben und auf die gerade in
Ballungsgebieten hohe Kosten zukämen . Auch der Bund,
insbesondere mein Kollege Jens Spahn, freut sich darü-
ber, dass er Ausgaben in Zukunft klarer planen kann .

Zweitens regeln wir damit, dass der Grundsatz „For-
dern und Fördern“ gilt . Nach fünf Jahren Aufenthalt hier
gibt es einen Leistungsanspruch . Dies entspricht dem
Grundsatz „Fordern und Fördern“ . Das ist eine wichtige
und klare Regelung, mit der wir Transparenz und Sicher-
heit schaffen. Sie schreiben in Ihrem Entschließungs-

antrag ja auch, durch die Gerichtsurteile seien wir dazu
verpflichtet.


(Dr . Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie schaffen keine Rechtssicherheit!)


Wir schaffen sie anders, als Sie sich das vorstellen, aber
aus unserer Sicht absolut nachvollziehbar .

Drittens . Mit diesem Gesetz haben wir für die aufsto-
ckenden Leistungen noch keine abschließende „glückli-
che“ Regelung, weil wir sie vermutlich noch nicht eu-
roparechtskonform hinbekommen haben . Deswegen hat
mein Kollege Matthias Zimmer den Sprecher für Ange-
legenheiten der Europäischen Union, Michael Stübgen,
immer wieder darauf hingewiesen, dass wir natürlich
auch darüber diskutieren müssen, wie es uns gelingt,
über die aufstockenden Leistungen bei sehr geringfügi-
ger Beschäftigung oder Selbstständigkeit weiter in den
Genuss von Sozialleistungen zu kommen . Wir müssen
gucken, ob wir das im nationalen Recht vernünftig lösen
können . Das ist eine Herausforderung, die wir aus dieser
Gesetzgebung mitnehmen müssen .

Im Großen und Ganzen zeigt sich, dass wir die Punkte
aus der Anhörung pragmatisch, sehr schnell und zielstre-
big in den Gesetzestext aufgenommen haben und damit
das Gesetzgebungsverfahren heute abschließen können .

Die Sachverständigen, beispielsweise der BDA, aber
auch der Agentur für Arbeit, haben deutlich gemacht,
dass die Freizügigkeit, der positive Weg nach Deutsch-
land, damit nicht eingeschränkt wird . Der Vorschlag, den
wir heute unterbreiten, ist sehr ausgewogen . Vielleicht
entscheidet sich die Opposition ja doch, mitzustimmen .
Das wäre ein guter Beitrag dazu, die Europäische Union
ein Stück sozialer und gerechter zu machen .

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr . Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das wäre der Sieg der Hoffnung über die Erfahrung! – Beate MüllerGemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bestimmt nicht!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820627900

Vielen Dank, Dr. Pätzold. – Nächster Redner:

Dr . Wolfgang Strengmann-Kuhn für Bündnis 90/Die
Grünen .


(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben ja heute schon über das Grundrecht auf Ge-
währung eines menschenwürdigen Existenzminimums
debattiert . In der am Montag durchgeführten Anhörung
sind erhebliche Zweifel geäußert worden, ob dieser Ge-
setzentwurf diesem Grundrecht entspricht, und zwar von-
seiten der Diakonie, des Deutschen Paritätischen Wohl-
fahrtsverbandes, des Deutschen Gewerkschaftsbundes,


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Alles hervorragende Juristen!)


Sabine Zimmermann (Zwickau)


Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620626


(A) (C)



(B) (D)


in den Expertisen des Deutschen Anwaltsvereins, vonsei-
ten der Neuen Richtervereinigung . Auch die von Ihnen
eben genannten Experten sagten, dass das hart an der
Grenze sei und man das auch anders beurteilen könne .
Zumindest wurden Zweifel geäußert – ganz besonders
von Herrn Dollinger, aber auch von Herrn Groth, der sag-
te: Das geht zumindest an die Grenze dessen, was verfas-
sungsmäßig möglich ist . – Es gab am Montag einen ein-
zigen Sachverständigen, der sagte: Die Härtefallregelung
reicht, damit es verfassungskonform ist .


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört! Hört!)


Eigentlich hätten Sie den Gesetzentwurf nach der Exper-
tenanhörung am Montag zurückziehen müssen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Das Grundrecht auf Gewährung eines menschen-
würdigen Existenzminimums war auch die Ursache des
schon angesprochenen Urteils des Bundessozialgerichts .
Die Lösung, die dort gefunden wurde, finden wir auch
problematisch, weil das Bundessozialgericht gesagt hat,
dass die Menschen Leistungen nach dem SGB XII be-
kommen müssten . Erwerbsfähige gehören dort erstens
nicht hin, und die Kommunen müssten es zweitens be-
zahlen. Auch das haben wir kritisiert und finden es falsch.

Was an Ihrem Gesetzentwurf neben dieser verfas-
sungsrechtlichen Frage auch problematisch ist: Er löst
überhaupt kein Problem. Was ein Ausschluss von Sozial-
leistungen bedeutet, kann man vor Ort beobachten, zum
Beispiel bei mir zu Hause in Frankfurt oder in Offenbach,
aber auch, wenn man in den Tiergarten – nicht weit von
hier – geht . Am Mittwoch, glaube ich, beschrieb Die Welt
die dortigen Zustände in einem Artikel . Die Menschen
leben unter menschenunwürdigen Umständen, wenn sie
keine Sozialleistungen bekommen . Es droht Ausbeutung .
Von irgendetwas müssen die Menschen leben – nach
Ihrer Vorstellung ja fünf Jahre lang –, ehe sie Sozial-
leistungen beziehen können . Die Folgen kann man vor
Ort beobachten: Schwarzarbeit, Prostitution, kriminelle
Aktivitäten sind die Folge, und das Ganze schürt Aus-
länderfeindlichkeit und führt zu sozialen Problemen, die
letztlich die Kommunen ausbaden müssen . Deswegen ist
der Gesetzentwurf auch für die Kommunen maximal eine
Scheinlösung .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Wir haben heute noch einen Entschließungsantrag
vorgelegt, in dem wir eine Alternative darstellen, die
rechtssicher ist, den sozialen Maßstäben genügt und auch
europapolitisch das richtige Signal sendet . Wir sagen
nämlich, dass wir die Menschen, die nach Deutschland
kommen, die aktiv nach Arbeit suchen, die eine Chance
auf dem Arbeitsmarkt haben – Kollegin Zimmermann
hat schon gesagt, dass gerade die Bulgaren und Rumänen
eine sehr hohe Erwerbstätigenquote haben, sehr fleißig
sind –, unterstützen müssen . Sie brauchen Unterstützung
bei den aktiven Arbeitsmarktmaßnahmen . Und nach drei
Monaten bedarf es auch einer finanzieller Unterstüt-
zung – sonst funktioniert die Integration in den Arbeits-

markt nicht –, damit die Menschen, die aktiv nach Arbeit
suchen, eine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben . Sie
brauchen unsere Unterstützung .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Sie schaffen damit neue Anreizsysteme!)


Umgekehrt sagen wir – gerade kam der Zwischenruf
„Anreizsysteme“ –, dass wir Menschen, die keine Chan-
ce auf dem Arbeitsmarkt haben, die nicht aktiv nach Ar-
beit suchen – in dem Fall würde eigentlich auch das Frei-
zügigkeitsrecht entfallen –, die Leistung auch verweigern
können . Auch das muss man der Wahrheit halber dazusa-
gen, um deutlich zu machen: Das Recht auf Freizügigkeit
ist für Menschen gedacht, die aktiv nach Arbeit suchen,
die eine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben .

Gleichzeitig muss man auf europäischer Ebene viel
mehr machen, als die Bundesregierung tut . Die Ziele, die
Frau Kramme eben nannte, teilen wir, aber die praktische
Politik der Bundesregierung geht nicht oder zumindest
viel zu wenig in diese Richtung . Wir brauchen kein Ge-
setz, das verfassungsrechtlich problematisch ist, die In-
tegration erschwert, sozialpolitische Probleme nicht löst,
sondern sogar welche schafft und europapolitisch das
falsche Signal sendet . Deswegen werden wir den Gesetz-
entwurf ablehnen .

Vielen Dank .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820628000

Vielen Dank, Wolfgang Strengmann-Kuhn . – Nächste

Rednerin: Dagmar Schmidt für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dagmar Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820628100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Zu Beginn der Debatte waren wenigstens noch
vier Personen auf den Rängen; jetzt ist leider niemand
mehr da .


(Michael Brand [CDU/CSU]: Ihr habt es geschafft! – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das wird im Fernsehen übertragen! Keine Bange!)


Sehr geehrte Damen und Herren, die Idee der europä-
ischen Freizügigkeit ist die Idee, in jedem europäischen
Land arbeiten und für seinen Lebensunterhalt sorgen zu
können . Es ist nicht die Idee, einfach irgendwo in jedem
europäischen Land wohnen zu können . Ich glaube, dass
wir an diesem Kern auch nicht rütteln sollten .

Die Rechte, die aus dieser Arbeit entstehen, sind – und
das ist viel wert – für jeden in Europa, der Arbeit ge-
funden hat, dieselben . Wer in Deutschland eine Arbeit
aufgenommen hat und seine Sozialabgaben zahlt, hat
daraus die gleichen Rechte wie die Deutschen . Dieser
Zugang zu Sozialleistungen ist sehr niedrigschwellig .
Schon nach einem Jahr Arbeit hat man Zugang zu allen
Leistungen nach dem SGB II . Wer weniger als ein Jahr

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20627


(A) (C)



(B) (D)


hier gearbeitet hat, hat Anspruch auf ein halbes Jahr Un-
terstützung, um neue Arbeit zu finden. Das alles ist sehr
niedrigschwellig .

Auch der Vorschlag der Grünen löst das Problem, über
das wir ganz am Anfang gesprochen haben und aus dem
das resultiert, was wir heute diskutieren, nicht . Ich habe
zwar große Sympathien dafür; denn wer arbeiten will,
gehört nicht in den Geltungsbereich des SGB XII, son-
dern des SGB II . Aber wenn am Ende des Tages doch
keine Arbeit gefunden wurde, dann bleibt es auch nach
dem Lösungsvorschlag der Grünen bei dem Problem:
Die Betroffenen bekommen zwar keine Leistungen, sind
aber nach wie vor in unserem Land, und die sozialen Pro-
bleme verlagern sich auf die Städte und Kommunen .


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist nicht so! Da steht etwas anderes drin!)


Deswegen sind, glaube ich, vor allem drei Dinge not-
wendig . Wir brauchen erstens ein intensiveres Engage-
ment, um die soziale Integration in Europa voranzutrei-
ben . Wir brauchen europäische Mindeststandards, und
wir brauchen – das meine ich sehr ernst – einen kompro-
misslosen Schutz von Minderheiten .


(Beifall bei der SPD)


Wir brauchen zweitens – ich bin froh, dass auch die
Sachverständigen in der Anhörung bestätigt haben, dass
der Gesetzentwurf, den wir vorgelegt haben, eine sehr
breite Härtefallregelung beinhaltet – eine Härtefallre-
gelung, die die Probleme löst, die zum Beispiel dadurch
entstehen – das sind leider keine Einzelfälle –, dass Men-
schen, die hier arbeiten, ihren Lohn nicht ausbezahlt be-
kommen und ihre Rechte einklagen müssen . Auch in der
Zeit, in der sie hier sind, um ihre Rechte einzuklagen,
brauchen sie Unterstützung .

Es gibt auch Frauen, die mit ihren Familien hierher-
gekommen sind, deren Mann sich aber von ihnen trennt
und woanders Arbeit findet. Oft hat die Familie dann aber
schon hier Wurzeln geschlagen, und die Kinder gehen bei
uns zur Schule . Auch für diese Fälle brauchen wir Re-
gelungen, vor allem für die Kinder, die hier leben, ihre
Ausbildung hier begonnen haben und ihre Heimatländer
teilweise gar nicht oder kaum kennen . Für alle die müs-
sen wir eine Härtefallregelung finden.


(Beifall bei der SPD)


Drittens brauchen wir – und das haben wir mit dem
Staatssekretärsausschuss und im Nachgang dazu schon
gemacht – eine Stärkung der Kommunen . Die Kommu-
nen brauchen mehr Geld, um in den sozialen Brennpunk-
ten und da, wo es nötig ist, Hilfe und Unterstützung leis-
ten zu können .

Wir brauchen die Öffnung der Integrationskurse. Auch
das haben wir damals schon beschlossen . Alle wissen,
dass wir schon dabei sind und dass es in dieser Situation,
in der wir auch die Integration der Flüchtlinge bewälti-
gen müssen, nicht so einfach ist, das alles so schnell zur
Verfügung zu stellen, wie es nötig ist . Aber auch daran
arbeiten wir .

Die Freizügigkeit in Europa ist eines der größten Ge-
schenke, die wir bekommen haben . Wenn uns Mitte des
letzten Jahrhunderts jemand gesagt hätte, dass man heute
frei durch Europa reisen und überall arbeiten kann, dann
hätten wir das wahrscheinlich nicht geglaubt . Unsere
nächste große Aufgabe ist es, –


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820628200

Das machen wir aber nächstes Mal .


Dagmar Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1820628300

– den sozialen Zusammenhalt in Europa zu stärken .

Glück auf!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820628400

Es ist nett, dass die Kollegen der CDU/CSU mitstop-

pen . Das freut mich sehr .


(Michael Brand [CDU/CSU]: Intuition!)


Das tun Sie jetzt bitte bei Herrn Zech auch . – Der nächs-
te Redner ist der Kollege Tobias Zech für die CDU/
CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Tobias Zech (CSU):
Rede ID: ID1820628500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Uns liegt

heute ein Gesetz vor, das ein klares Bekenntnis zu Euro-
pa ist, ein klares Bekenntnis zur Freizügigkeit und ein
klares Bekenntnis zur Europäischen Gemeinschaft und
somit zu europäischen Werten .

Wer behauptet, mit diesem Gesetz würde die Freizü-
gigkeit eingeschränkt, hat nicht verstanden, wofür die
Europäische Union steht und welche Freizügigkeit wir
gewähren . Wir gewähren nämlich Arbeitnehmerfreizü-
gigkeit und nicht die Freizügigkeit, sich das beste Sozial-
system in Europa auszusuchen .


(Beifall des Abg . Stephan Stracke [CDU/ CSU] – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das macht doch keiner! Das ist doch ein Märchen!)


Das wollen wir nicht . Wir wollen die Freizügigkeit der
Arbeitnehmer . Diese schützen wir mit diesem Gesetz .


(Beifall bei der CDU/CSU – Beate MüllerGemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie stigmatisieren diese Menschen!)


Man könnte sogar sagen, Frau Zimmermann und Herr
Strengmann-Kuhn: Wer sich gegen dieses Gesetz stellt,
stellt sich gegen die europäische Freizügigkeit


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Populismus, sage ich da nur!)


Dagmar Schmidt (Wetzlar)


Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620628


(A) (C)



(B) (D)


und vor allem gegen die Akzeptanz dieser Freizügigkeit .
Auch auf sie müssen wir Wert legen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . Dr. Martin Rosemann [SPD])


In einer Zeit, in der die Europäische Union umstritten
ist, in der wir nach dem Brexit und nach Diskussionen
über Zuständigkeiten und über unsere Grenzen auch da-
rüber debattieren müssen, wie wir Europa weiterentwi-
ckeln, dürfen wir nicht noch mehr Kritik provozieren
und nicht noch mehr Ängste vor der Europäischen Uni-
on schüren, sondern wir brauchen gute Ideen, wie wir
Zuwanderung in Europa gestalten . Aber wir regeln die
Arbeitnehmerfreizügigkeit und verhindern gleichzeitig
den Missbrauch von Sozialsystemen . Das Gesetz ist ein
Schutz unserer Sozialsysteme und somit auch ein Schutz
der Freizügigkeit in Europa .

Mit diesem Gesetz vereinheitlichen wir darüber hi-
naus die divergierende Rechtsprechung in unserem Land .
Dieses Gesetz gibt der Justiz eine Handreichung, damit
deutschlandweit die gleichen Urteile gesprochen werden .
Wir stellen mit diesem Gesetz auch klar, dass Menschen,
die allein zum Zwecke der Arbeitsuche nach Deutschland
kommen, keine Unterstützung bekommen . Wir wollen
nicht, dass sich jemand in Europa aussuchen kann, wo er
Sozialhilfe bezieht . Wir möchten es den guten Arbeitneh-
mern in ganz Europa ermöglichen, sich ihren Arbeitsort
oder den Sitz ihrer Firma auszusuchen . Das machen wir
mit diesem Gesetz .

Was wir nicht machen – diesen Vorwurf habe ich
schon ein paarmal gehört –: Es ist kein Aushungern von
Bevölkerungsgruppen, in keiner Weise .


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Peinlich, peinlich! Da schüttelt es einen!)


Es ist ein gutes Gesetz für Deutschland, aber auch ein
gutes Gesetz für die Freizügigkeit . Diejenigen, die ernst-
haft auf Arbeitsuche sind bzw . die schon auf dem Ar-
beitsmarkt angekommen sind, werden natürlich weiter
unterstützt .


(Dr . Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, die schließen Sie auch aus!)


– Nein, die schließen wir eben nicht aus .


(Dr . Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die ernsthaft auf Arbeitsuche sind, schließen Sie auch aus!)


Es gibt Überbrückungsleistungen . Es gibt sehr weitrei-
chende Härtefallregelungen – Dagmar Schmidt hat das
schon dargestellt – mit einem großen Ermessensspiel-
raum. Herr Strengmann-Kuhn, für die Personen, die
jetzt schon Arbeitnehmer oder selbstständig sind und die
aufgrund von § 2 des Freizügigkeitsgesetzes zu Einreise
und Aufenthalt berechtigt sind, machen wir mit diesem

Gesetz keine einzige Einschränkung . Das gilt es zu un-
terstreichen .


(Widerspruch des Abg . Dr . Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Auch die Verfestigung des Aufenthalts nach fünf Jahren
im Land bietet eine bessere Perspektive. Der ordnungs-
politische Rahmen, den wir hier setzen, ist gleichzeitig
im Sinne von Freizügigkeit, im Sinne von Europarecht
und sozialer Gerechtigkeit .

Ich kann Ihnen nur eines sagen: Dieses Gesetz ist der
Tatsache geschuldet, dass wir uns als CSU 2014 in Kreuth
das Thema Freizügigkeit von Arbeitnehmern in Europa
im Zusammenhang mit dem Missbrauch von Sozialleis-
tungen auf die Fahne geschrieben haben . Dafür sind wir
hier von vielen Seiten beschimpft worden . Heute wird
unser Vorschlag Realität . Wir CSUler sind es gewohnt,
dass unsere Vorschläge aufgrund der intellektuellen Tiefe
ein paar Monate brauchen, um hier anzukommen .


(Beifall des Abg . Dr . Matthias Zimmer [CDU/ CSU] – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der SPD: Der war gut!)


Aber ich kann Ihnen sagen: Wir Bayern sind leidensfä-
hig .


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind auch leidensfähig!)


Wir geben allen die Zeit, über unsere guten Vorschläge
länger nachzudenken .


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir hören bis zum Schluss die Rede an!)


Deswegen bin ich froh, dass wir heute ein gutes Gesetz
vorliegen haben, das natürlich verfassungsgemäß ist, das
nicht gegen EU-Recht verstößt, und dass die Vorschläge,
die wir als CSU vor zwei Jahren in Kreuth gemacht ha-
ben, heute zum Gesetz werden .


(Michael Brand [CDU/CSU]: Die Präsidentin aus Bayern freut sich auch!)


Ich kann nur um Zustimmung bitten .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820628600

Vielen Dank, Herr Kollege Tobias Zech . Auch ich

musste lachen, weil ich weiß, was Sie meinen, wenn Sie
über Bayern reden .

Ich schließe die Aussprache .

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der
Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten
Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem
Zwölften Buch Sozialgesetzbuch . Der Ausschuss für Ar-
beit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-

Tobias Zech

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20629


(A) (C)



(B) (D)


lung auf Drucksache 18/10518, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 18/10211 in der Aus-
schussfassung anzunehmen .

Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen . –
Wer stimmt dagegen? – Dann gibt es keine Enthaltungen .
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung ange-
nommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, dage-
gen waren die Linken und Bündnis 90/Die Grünen .

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erhe-
ben . – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine .
Der Gesetzentwurf ist angenommen . Zugestimmt haben
CDU/CSU und SPD, dagegengestimmt haben Bünd-
nis 90/Die Grünen und die Linke .

Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-
che 18/10533 ab . Wer stimmt für diesen Entschließungs-
antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Kei-
ne . Der Entschließungsantrag ist abgelehnt . Zugestimmt
hat Bündnis 90/Die Grünen, dagegen waren CDU/CSU,
SPD und die Linke.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Luftsicherheitsge-
setzes

Drucksachen 18/9752, 18/9833

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4 . Ausschuss)


Drucksache 18/10493

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden .1) –
War eigentlich jemals jemand dagegen? Ich will jetzt
aber keine schlafenden Hunde wecken .


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Mach einfach weiter!)


Wir kommen zur Abstimmung . Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 18/10493, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksachen 18/9752 und 18/9833 in der Ausschuss-
fassung anzunehmen . Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen,
um das Handzeichen . – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be-
ratung angenommen . Zugestimmt haben CDU/CSU und
SPD, dagegengestimmt hat die Linke, und enthalten hat
sich Bündnis 90/Die Grünen .

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist angenommen . Zugestimmt haben CDU/CSU

1) Anlage 9

und SPD, dagegengestimmt hat die Linke, und enthalten
hat sich Bündnis 90/Die Grünen . Der Gesetzentwurf ist
angenommen .

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung der Insolvenzordnung

Drucksachen 18/9983, 18/10263, 18/10444
Nr. 1.4

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-

(6 . Ausschuss)


Drucksache 18/10470

Der Gesetzentwurf beinhaltet in der Fassung der Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Ver-
braucherschutz auch Änderungen des Gesetzes betref-
fend die Einführung der Zivilprozessordnung .

Ich bitte jetzt die Sozialpolitiker, sich entweder mit
dem Insolvenzrecht bzw . der Insolvenzordnung zu befas-
sen


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Spannendes Thema! – Michael Brand [CDU/CSU]: Oder?)


oder zu gehen .

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre und
sehe keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .

Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort
Dr. Karl-Heinz Brunner, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD):
Rede ID: ID1820628700

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Wenn Besuchergruppen nach Berlin
kommen und ich erzähle, dass man erst gegen 22 oder
23 Uhr nach Hause kommt, dann glauben die das nicht
ganz . Insofern hätte ich sie heute bei diesem edlen Ta-
gesordnungspunkt zu dem Regierungsentwurf zur Insol-
venzordnung gerne auf den Besucherrängen gehabt . Aber
dies ist leider nicht gelungen .


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir reden so lange, bis wieder welche da sind!)


– Liebe Frau Vorsitzende Künast, das machen wir heute
nicht .

Bevor wir in die inhaltliche Debatte einsteigen, las-
sen Sie uns kurz auf den spannenden Begriff „Liquida-
tionsnetting“ zurückkommen . Ich kann mir gut vorstel-
len, dass nicht jeder hier im Hohen Hause mit diesem
Fachbegriff vertraut ist. Worum geht es eigentlich? Wie
das Wirtschaftslexikon schreibt, werden unter „Netting“
im Finanzwesen alle Methoden zur Vermeidung von
Zahlungs-, Fremdwährungs-, Kredit- oder Liquiditäts-
krisen zwischen zwei Vertragsparteien innerhalb eines

Vizepräsidentin Claudia Roth

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620630


(A) (C)



(B) (D)


vertraglich vereinbarten Verrechnungsverfahrens ver-
standen . Liquidationsnetting ist mit die wichtigste Form
des Nettings im Bankwesen . Es handelt sich hierbei
um die einheitliche Beendigung von Geschäften durch
Kündigung und automatische Auflösung aus wichtigem
Grund, einschließlich aus Gründen insolvenzbezogener
Tatbestände . Dies hat zur Folge, dass die sich ergebenden
Ansprüche durch einen Ausgleichsanspruch in Höhe des
Nettomarktwerts des Geschäfts – also die Nettosumme,
die sich aus beiden Ansprüchen ergibt – oder des sich
daraus ergebenden unrealisierten Gewinns oder Verlusts
festgestellt und so die festgestellten Beträge miteinander
saldiert werden . Das Insolvenzrisiko wird auf diese Wei-
se erheblich reduziert .

Nach der ersten Lesung hatten wir eine öffentliche
Anhörung zu diesem Thema . Dabei wurde aus meiner
Sicht festgestellt, dass das Bundesministerium der Justiz
und für Verbraucherschutz hervorragende Arbeit geleis-
tet hat, auch wenn der eine oder andere Sachverständige
wohl die existenzielle Notwendigkeit dieser Maßnahme
noch nicht erkannt hatte . Der Rechtsausschuss sah daher
in seiner Sondersitzung in dieser Woche trotz der geäu-
ßerten Bedenken keine Notwendigkeit, den Gesetzestext
zu ändern; er ist schlicht gut . Bei der abschließenden
Beratung im Ausschuss haben wir beschlossen, dass alle
nötig gewordenen Klarstellungen und Präzisierungen der
gesetzlichen Grundlagen für die Abwicklung von Finanz-
marktkontrakten in der Insolvenz vorgenommen werden .

Die Dringlichkeit des Gesetzes besteht, da die Allge-
meinverfügung der BaFin lediglich bis zum 31 . Dezem-
ber 2016 gilt . Ohne die Entscheidung des Hohen Hauses
über den heutigen Gesetzentwurf droht die Gefahr, die
internationale Wettbewerbsfähigkeit deutscher Kredi-
tinstitute und Marktteilnehmer und damit die Stabilität
unseres deutschen Finanzsystems nicht mehr dauerhaft
schützen zu können .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Daher bedarf es gesetzlicher Regelungen, dieser Klar-
stellung der Insolvenzfestigkeit von Liquidationsnetting-
klauseln . Ich betone ausdrücklich: Mit dem Gesetz wird
nur der ursprünglich gewollte Rechtszustand wiederher-
gestellt, nichts Neues, kein Dammbruch, wie es einer der
Sachverständigen meinte, kein Mehr in § 104 der Insol-
venzordnung, nur Klarstellung .


(Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Genau das ist der Punkt!)


Es ist absolut richtig, dass sich der Gesetzgeber zü-
gig dieser Frage angenommen hat, da anderenfalls große
Schwierigkeiten im Finanzierungs- und Rücklagensys-
tem aller deutschen Banken hätten auftreten können .
Dies wird – auch mit Blick auf eine mögliche Belastung
des Steuerzahlers – durch das Gesetz vermieden . Dies
zum Netting .

Nun zu dem dem Gesetzentwurf angefügten Omnibus .
Man soll auch über das sprechen, was noch drinsteht,


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was Sie wieder nicht gemerkt haben!)


Artikel 4 EGZPO, der Einfachheit halber Einführungs-
gesetz zur Zivilprozessordnung, hinsichtlich der Wert-
grenzen zur Nichtzulassungsbeschwerde zum Bun-
desgerichtshof . Der Änderungsantrag ist zum jetzigen
Zeitpunkt sinnvoll, die Verlängerung der Geltungsdauer
maßvoll . Ob allerdings die Regelung einer Mindestbe-
schwer in Höhe von 20 000 Euro grundsätzlich die rich-
tige Höhe darstellt, stelle ich persönlich infrage . Gleich-
wohl teile ich die Einschätzung, dass dieser Komplex
insgesamt und grundsätzlich gelöst werden muss, und
das endgültig und nicht allein durch Korrekturen an der
Wertgrenze .

Lassen Sie mich dazu ein Beispiel nennen . Warum soll
einem Waldbesitzer, dessen Wäldchen zum Zeitpunkt der
Klageerhebung 19 000 Euro wert ist, der Rechtsweg ver-
sperrt sein, während demjenigen, dessen Aktienpaket im
Wert von ursprünglich mehr als 20 000 Euro zum Zeit-
punkt des Urteils nur noch 50 Cent wert ist, ein anderes
Rechtsschutzinteresse zugebilligt wird?


(Beifall bei der SPD)


An dieser Stelle möchte ich noch einmal betonen, dass
die Geltungsdauer der Wertgrenze für den Weg zum Bun-
desgerichtshof ein letztes Mal verlängert wird .


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Du hast doch drei Jahre Zeit gehabt, es zu ändern! Ihr begründet auch alles!)


Denn ich will keine Kapitalisierung der Rechtsmittel,
sondern Recht für alle . Daher darf der Zugang zum Recht
nicht allein an der materiellen Höhe der Auseinanderset-
zung scheitern . Wertgrenzen dürfen schon gar nicht dazu
dienen, Personalengpässe bei den Obergerichten auszu-
gleichen .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wie gesagt, mit diesem Gesetz machen wir einen rich-
tigen Schritt in Sachen Rechtssicherheit für alle, jedoch
nicht den letzten; denn im Insolvenzrecht ist mit diesem
Gesetzentwurf noch lange nicht alles abgeschlossen .
Konzerninsolvenzrecht, Sicherung von ausbezahlten Ar-
beitslöhnen, eine Reform der Anfechtungsfristen sowie
die Beteiligung von Gewerkschaftsvertretern bei der Sa-
nierung von Unternehmen stehen noch auf der Agenda .
Da haben wir noch einiges zu vereinbaren .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Wir jedenfalls, die Sozialdemokraten, haben dazu
klare Vorstellungen . Wir können diese auch kurzfristig
umsetzen, sodass es heißen kann: Wo Sozialdemokratie
draufsteht, steckt auch Sozialdemokratie drin .

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und Ihnen allen
einen schönen Abend .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber was ist Sozialdemokratie?)


Dr. Karl-Heinz Brunner

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20631


(A) (C)



(B) (D)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820628800

Vielen Dank, Karl-Heinz Brunner . – Nächster Redner:

Richard Pitterle für die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Richard Pitterle (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1820628900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-

ginnen und Kollegen! Der vorliegende Gesetzentwurf
hat in den Beratungen zu einigen Missverständnissen
geführt. Dafür ist auch die Problembeschreibung der
Verfasser verantwortlich . Dort heißt es irreführend, der
Entwurf sei eine Reaktion auf die Rechtsprechung . Der
Bundesgerichtshof hatte in der Finanzwelt übliche Ver-
träge mit dem Insolvenzrecht für unvereinbar erklärt . Mit
dem Gesetz solle die Abwicklung von Finanzverträgen in
der Insolvenz nach bankenaufsichtsrechtlichen Anforde-
rungen daher klargestellt und präzisiert werden .

Bei der genauen Analyse zeigt sich: Die Regelungen
gehen weit darüber hinaus . Die Änderung erweitert die
Ausnahmevorschriften des § 104 Insolvenzordnung er-
heblich . In Zukunft können auch Warentermingeschäf-
te durch Rahmenverträge zusammengefasst werden .
Schlicht falsch ist die beiläufige Behauptung der Ver-
fasser, dies sei ohnehin geltende Rechtslage . Nicht alle
Verträge über Waren-, Rohstoff- oder Energielieferun-
gen sind Finanzinstrumente . In diesem Bereich mag es
der Wunsch von Lobbyisten sein, das Insolvenzrisiko
zu verringern . Das ist aber der Wunsch aller Gläubiger .
Sachliche Gründe für eine Privilegierung gibt es nicht.
Eine Ausweitung gebieten weder das Unionsrecht noch
bankenaufsichtsrechtliche Anforderungen .

Die Neuregelung präzisiert nichts . Sie stellt auch
nichts klar . Die Rahmenbedingungen für vertragliche
Vereinbarungen zum sogenannten Liquidationsnetting
sind konturlos formuliert . Das erhöht die Rechtsunsi-
cherheit . Das birgt die Gefahr ausufernder Vereinba-
rungen zulasten der Insolvenzmasse . Das gefährdet die
Sanierung der Unternehmen und damit den Erhalt von
Arbeitsplätzen .

Begründet wird dies auch mit dem Schutz des Ver-
tragspartners in der Insolvenz . Liebe Kolleginnen und
Kollegen, diese Heuchelei ist kaum zu ertragen . Sie
verweigern Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern seit
Monaten durch Untätigkeit den Schutz ihres hart erarbei-
teten Lohnes in der Insolvenz .


(Widerspruch bei der CDU/CSU)


Sie verweigern sich auch einer generellen Besserstel-
lung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gegen-
über anderen Gläubigern . Geht es jedoch um das große
Finanzkasino und selbstgeschaffene Risiken, steht auf
einmal der Schutz des Vertragspartners im Mittelpunkt
Ihrer Bemühungen .


(Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Das ist ja Klassenkampf, Herr Kollege!)


– Das mögen Sie Klassenkampf nennen; das ist Ihr Pro-
blem .

Wie gewaltig diese Risiken sein müssen, zeigt das
völlig kopflose Agieren der Bundesanstalt für Finanz-

dienstleistungsaufsicht . Die Tinte auf dem Urteil war
kaum trocken, da erließ die BaFin eine Verfügung . Sie
erklärte die Rechtsprechung kurzerhand zum Schutz des
Finanzmarktes für unbeachtlich . Eine Bundesoberbehör-
de versucht, durch Notverordnung in die Zuständigkeit
von Gesetzgebung und Rechtsprechung überzugreifen .


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ungeheuerlich!)


Wenn Herr Schäuble hier wäre, müsste ich ihm sagen,
als Rechts- und Fachaufsicht über die BaFin sollte er
doch vielleicht einen Grundkurs in Staatsorganisations-
recht und zum Thema Gewaltenteilung anbieten .


(Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Danke für den Hinweis! Der hat uns gerade noch gefehlt!)


Pikant daran ist, dass die BaFin auch im Untersu-
chungsausschuss Cum/Ex, aus dem ich gerade komme,
keine gute Figur macht . Sie will als Aufsichtsbehörde
über den Finanzmarkt mehr als zehn Jahre nichts davon
mitbekommen haben, wie Banken und Finanzdienstleis-
ter Milliarden Euro Steuern hinterzogen haben .

Zum Abschluss noch folgende Frage: Was hat die
Nichtzulassungsbeschwerde beim BGH mit dem Li-
quidationsnetting zu tun? Genau: Nichts! Mit Ihrer
nachgeschobenen Änderung missachten Sie erneut die
verfassungsrechtlichen Vorgaben zum Ablauf des Ge-
setzgebungsverfahrens .


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)


Auch inhaltlich ist ein Gesetz, das den Zugang zu Ge-
richt wegen Überlastung erschwert, ein Offenbarungseid
Ihrer Haushalts- und Justizpolitik und eines Rechtsstaa-
tes unwürdig .

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .


(Beifall bei der LINKEN – Dr . Volker Ullrich [CDU/CSU]: Das ist aber starker Tobak, Herr Kollege!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820629000

Vielen Dank, Richard Pitterle. – Der Nächste in der

Debatte: Dr . Heribert Hirte für die CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Heribert Hirte (CDU):
Rede ID: ID1820629100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Guten Abend! Herr Kollege, die Aufklärung in Sachen
Finanzkasino war daneben .


(Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Gut zuhören, Herr Pitterle!)


Ich kann nur sagen: Was die BaFin gemacht hat, ist rich-
tig . Ich werde das gleich auch erklären . Herr Schäuble
braucht auch keinen Grundkurs in Sachen Staatsorgani-

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620632


(A) (C)



(B) (D)


sationsrecht . Auch diese Bemerkung war schlicht dane-
ben .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . Dr. Karl-Heinz Brunner [SPD])


Wir reden hier über etwas ganz anderes, nämlich über
§ 104 Insolvenzordnung, das Close-out Netting . Der Kol-
lege Brunner hat eben schon deutlich gemacht, worum
es geht . Close-out heißt, dass bei bestimmten Kreditver-
tragstypen der Vertrag beendet wird . Er wird zweitens
genettet, nämlich aufgerechnet, und zwar in der Weise,
dass das Risiko aus verschiedenen Verträgen zusammen-
gefasst wird . Was hier in Rede steht, ist in der Tat ein
Riesenvolumen. Der Kollege Christoph Paulus von der
Berliner Universität hat uns das in der Anhörung sehr
deutlich gemacht: Es geht um ein Gesamtvolumen von
605 Billionen Euro . Davon besteht ein mögliches Insol-
venzrisiko in Höhe von 24 Billionen Euro . Es ist richtig,
dass wir, weil diese Forderungen und Verbindlichkeiten
zusammenhängen, sie dann auf 3,7 Billionen Euro redu-
zieren .


(Zuruf der Abg . Katja Keul [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


– Kollegin Keul, jetzt fragen wir uns: Warum müssen wir
das Gesetz reformieren? Da muss man noch einmal gu-
cken, wann das Gesetz in der jetzigen Form geschaffen
wurde .


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vor der Finanzkrise!)


– Sie können gleich darauf erwidern . – Im Jahr 2004
hat nämlich die damalige rot-grüne Koalition die jetzige
Norm geschaffen.


(Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Genau!)


Da gab es dann Nachfragen von der Bayerischen Staats-
regierung . Die hat Ihnen, der rot-grünen Koalition, Fra-
gen gestellt und damit den Eindruck erweckt, dass die
rot-grüne Koalition – so heißt es hier in der Ausschuss-
drucksache aus dem Jahr 2004 mit der Nummer 15/2584 –
„das Großkapital schützen wolle und die kleinen Firmen
zugrunde richte“ . Dann haben wir alle – leider ohne die
Linken, aber das ist nicht so überraschend – zusammen-
gearbeitet und haben gemeinsam mit dem BMJ – wie es
damals noch hieß – diesen „bodenlosen Behauptungen“,
die Sie jetzt bringen, obwohl Sie damals genau das Ge-
genteil gesagt haben, „die Grundlage entzogen“ .


(Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Hört! Hört!)


Dann hat Ihr Vorgänger Jerzy Montag, ein guter Mann,
gesagt, die jetzige Fassung diene „dem Schutz des Ban-
kenplatzes Deutschland“ und stelle auch sicher, dass „in
der Insolvenz nicht auf Baumaschinen, nicht auf Forde-
rungen und nicht auf andere Gegenstände“ zurückgegrif-
fen werden könne . „Mit dem Ergebnis des . . . Entwurfs“,
über dessen Korrektur wir jetzt heute beraten, „könne
man sehr zufrieden sein .“

Der Bundesgerichtshof hat sich mit Ihrem Gesetz aus-
einandergesetzt und festgestellt, dass manches von dem,
was Sie damals wollten, nicht funktionierte . Wir kor-

rigieren Ihre Fehler, und Sie sagen jetzt, wir schützten
die Banklobby . Ich halte das für daneben; das muss man
wirklich sagen .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Man kann dann noch einen Schritt weitergehen und
nachfragen. Sie haben das in der Pressemitteilung von
gestern so schön gesagt: Die Großbanken kriegen Privi-
legien gesichert, und deshalb müssten wir eine Sonder-
sitzung abhalten .


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die haben Sie beantragt!)


– Das ist Ihre Pressemitteilung, die ich hier zitiere. –
Und deshalb lehnen Sie es ab . – Auch das stimmt nicht .
Schauen Sie doch bitte einmal in das Gesetz hinein . Frau
Keul, dazu können Sie gleich etwas sagen . § 340 der In-
solvenzordnung besagt, dass bei solchen Verträgen das
Recht gilt, was vereinbart wurde . Das heißt, man kann
der Regelung entfliehen. Es ist also nicht so, dass die
Banken dann alle sofort pleitegehen . Sie werden die
Verträge ändern, und dann haben wir einen Vertrag nach
englischem Recht, der genau das vorsieht, was wir jetzt
hier vorschlagen . Ich muss schon sagen: Ich halte es für
richtig, dass deutsche Banken auch deutsches Recht nut-
zen können .

Wir stellen noch einen Punkt im Ausschussbericht
klar, der in der Anhörung zweifelhaft war, nämlich dass
Erfüllungsansprüche dann gegengerechnet werden kön-
nen . Das halte ich für wichtig .

Aber ich möchte zu einem weiteren Punkt noch etwas
sagen, zur Streitwertgrenze . Ja, die Überlegung, ob die
Streitwertgrenze und die Fortschreibung der Streitwert-
grenze der richtige Ansatz ist, den Zugang zum Bundes-
gerichtshof zu kontrollieren, ist zweifelhaft . Herr Kol-
lege Brunner hat es eben schon gesagt: Da müssen wir
ein bisschen grundsätzlicher herangehen . Ich habe in der
Ausschusssitzung vorgestern genau das gesagt: Wir sind
für eine solche weiter gehende Lösung offen.

Wir sind hier in Vorlage gegangen . Wir haben gestern
gesagt, dass die Erweiterung des Ansatzes des Kapitalan-
leger-Musterverfahrensgesetzes ein Punkt ist, an dem wir
weitergehen würden und weitergehen können . Das Justiz-
ministerium hat inzwischen nachgezogen. Wir finden das
gut . Darüber können wir reden . Dann können wir erwä-
gen, ob wir zum Beispiel bei identischen Sachverhalten,
die mehrere Personen betreffen, oder bei Streuschäden
eine Regelung treffen, dass der Streitwert, der als Grenze
des Zugangs zum Bundesgerichtshof dient, herabgesetzt
wird . Da gibt es also Reformbedarf . Wir werden darüber
reden . Mit dieser Änderung wird die Zeit überbrückt, bis
die wesentlichen Änderungen kommen werden .

Der letzte Punkt. Natürlich ist das nicht das Ende der
Reformen im Insolvenzrecht . Wir werden das Anfech-
tungsrecht reformieren . Wir warten auf die Vorschläge
und die Antworten der SPD. Wir werden auch das Kon-
zerninsolvenzrecht reformieren .

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dr. Heribert Hirte

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20633


(A) (C)



(B) (D)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820629200

Vielen Dank, Dr . Hirte . – Nächste Rednerin: Katja

Keul für Bündnis 90/Die Grünen .


(Beifall der Abg . Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820629300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich will gleich einmal ein paar Dinge klarstel-
len:

Zuerst zur Schuldfrage . Die Sondersitzung haben
nicht wir beantragt, sondern Sie, weil Sie die Fristen
nicht eingehalten haben und wir auf die Fristeinhaltung
nicht verzichtet haben .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: Sie hätten doch verzichten können!)


Zweiter Punkt. Sie ändern hier ein Gesetz, das irgend-
wann einmal unter Rot-Grün, wie Sie sagen, auf den Weg
gebracht worden ist – und nicht umgekehrt .


(Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: Wir ändern es, um Ihre Fehler zu korrigieren!)


Außerdem haben Sie aus einem Gesetzgebungsverfahren
von 2004 zitiert . Es war vor der Finanzkrise, also bevor
wir alle wussten, welche Auswirkungen es hat, dass die
Banken alle unterkapitalisiert sind .

Dieses Gesetzgebungsverfahren ist in der Tat ein
Musterbeispiel dafür, wie sich die Interessen der Finanz-
industrie hier ihren Weg bahnen . Im Juni dieses Jahres
entschied der Bundesgerichtshof, dass die Praktiken der
Finanzakteure, also der Banken, die mit Derivaten han-
deln, gegen § 104 Insolvenzordnung verstoßen . Warum?
Weil sie die Forderungen aus diesen Risikogeschäften im
Insolvenzfall so miteinander verrechnen, dass praktisch
keine Insolvenzforderung mehr übrig bleibt . Wir haben
ja gerade gehört: Es geht nicht um 3,50 Euro, sondern
durchaus um Milliarden .

Nach diesem BGH-Urteil legt die Bundesregierung
sofort, also quasi über Nacht, einen Entwurf zur Ände-
rung der Rechtslage vor, damit die Banken weitermachen
können wie bisher, und erweitert die Norm sogar noch
darüber hinaus .


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört! Hört!)


Nicht einmal eine einzige Sekunde haben die Akteure die
Alternative in Betracht gezogen, sich schlicht an das gel-
tende Recht zu halten, als ob die systemische Finanzkri-
se, in der wir uns seit zehn Jahren befinden, nicht deutlich
genug gemacht hätte, dass die Sorglosigkeit dieses Ge-
schäftsbereichs die Ursache des ganzen Elends ist .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In der Gesetzesbegründung steht ganz schamlos, dass
es genau darum geht: den Großbanken zu ersparen, ihre
Eigenkapitalquote zu erhöhen – was sie tun müssten,
wenn das Insolvenzrisiko realistisch abgebildet würde .
Es ist aber gerade notwendig, dass die Eigenkapitalquo-

ten erhöht werden, um zu verhindern, dass wieder nur die
Gewinne bei den Akteuren bleiben, die Verluste aber im
Ernstfall die Allgemeinheit tragen muss .

Das deutsche Insolvenzrecht ist auf Gleichbehandlung
aller Gläubiger ausgerichtet – und das ist auch gut so .
Hier wollen einige wieder einmal gleicher sein als ande-
re, und die Bundesregierung steht gehorsam bereit . Das
ist wirklich befremdlich, wenn man einmal auf der ande-
ren Seite betrachtet, wie lange der deutsche Mittelstand
auf die moderate Reform des Anfechtungsrechtes wartet,
das seit zwei Jahren auf Eis liegt . Für die Finanzindustrie
geht es plötzlich innerhalb von drei Monaten .

Angeblich sollte aus beiden Gesetzen jetzt ein Paket
geschnürt werden . Aber warum steht nun doch wieder
nur das Interesse der Finanzer auf der Tagesordnung und
nicht das des Mittelstandes? Warum sollte die zweite Le-
sung schon wieder zur nächtlichen Stunde zu Protokoll
gegeben werden, obwohl das schon in der ersten Lesung
so gelaufen ist?


(Dr. Heribert Hirte [CDU/CSU]: Von mir aus war das nicht nötig! Wir haben noch eine Stunde Zeit!)


Darauf haben wir uns diesmal nicht eingelassen .

Ich kann nur hoffen, dass sich die mediale Öffentlich-
keit hier nicht an der Nase herumführen lässt . Sie argu-
mentieren damit, dass es ja nicht anders geht, weil diese
Regelung doch international überall so gehandhabt wird
und daher der Standort Deutschland leiden oder man ins
englische Recht ausweichen würde . In der Tat, die Fi-
nanzlobby hat ihre Sonderinteressen natürlich nicht nur
hier, sondern weltweit durchsetzen können, und weil sie
dadurch jetzt in den anderen Ländern dieselben Privile-
gien hat, sollen wir damit erpresst werden, dass es eben
nicht anders geht . Das ist das alte Totschlagargument:
Wenn wir es nicht tun, dann tun es die anderen . – Damit
werden wir die systemische Krise niemals in den Griff
kriegen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Ganz im Gegenteil: Die Auswirkungen dieser Ma-
chenschaften bringen gerade unsere Welt ins Wanken .
Europa fällt auseinander, und ehemals stabile Demokra-
tien stehen im Feuer der Populisten. Als demokratische
Volksvertreter dürfen wir uns nicht länger erpressen las-
sen .

Und was ist eigentlich aus der Finanztransaktionsteu-
er geworden? Wenn die Staaten einmal den Auswüchsen
der Finanzindustrie regulierend Einhalt gebieten wollen,
dann ist es so mühsam, Mitstreiter zu überzeugen . Wenn
aber die Finanzindustrie in einem Land nach dem ande-
ren Privilegien zum Standard machen will, geht das im-
mer ganz schnell . Wir Grüne machen das an genau dieser
Stelle nicht mehr mit . Wir lehnen diesen Gesetzentwurf
ab .

Vielen Dank .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620634


(A) (C)



(B) (D)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820629400

Vielen Dank, Katja Keul . – Der letzte Redner in der

Debatte: Alexander Hoffman für die CDU/CSU-Frakti-
on .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Alexander Hoffmann (CSU):
Rede ID: ID1820629500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kollegin-

nen und Kollegen! Thema ist das Dritte Gesetz zur Ände-
rung der Insolvenzordnung . Ich gebe zu, dass diejenigen,
die dieser Debatte zu dieser Stunde beiwohnen, das nicht
unbedingt als Hauptgewinn begreifen werden – insbe-
sondere dann nicht, wenn sie Ihre Rede gehört haben,
Kollege Pitterle.

Ich habe versucht, ein Fallbeispiel zu finden, das sehr
deutlich macht, worum es im Kern geht . Stellen Sie sich
Folgendes vor: Zwei Banken betreiben regelmäßig Ge-
schäfte miteinander . Eines Tages kauft die Bank A von
der Bank B Wertpapiere im Wert von 1 Million Euro . Sie
bezahlt diese Wertpapiere auch gleich; die Bank B ist
aber schon einige Tage später nicht mehr in der Lage, die
Wertpapiere zu liefern, weil sie insolvent geht .

Dann hat die Bank A eine Forderung in Höhe von
1 Million Euro, die sie im Rahmen des Insolvenzverfah-
rens geltend machen kann und dort zur Tabelle anmeldet .


(Richard Pitterle [DIE LINKE]: Um welche Bank handelt es sich?)


Das hat – Kollege Pitterle, hören Sie zu! – ein maximales
Ausfallrisiko zur Konsequenz . Liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen und von den Linken – um an
dieser Stelle schon dem ersten Missverständnis entge-
genzuwirken, das Sie heute sehr gerne skizziert haben –,
diese Bank A, die auf dieser 1 Million Euro sitzen bleibt,
kann die Deutsche Bank oder eine andere Großbank
sein, aber das kann letztendlich auch jede Hausbank ei-
nes jeden Bürgers in Deutschland sein . Dann zahlt diese
1 Million Euro am Schluss der Anleger, der Kunde, der
Steuerzahler .

Genau diese Konstellation sollte § 104 der Insolvenz-
ordnung vermeiden . Er hat nämlich folgende Möglich-
keit vorgesehen: Wenn – zurück zu meinem Fall – die
Bank B aufgrund eines anderes Geschäfts eine noch of-
fene Forderung gegen die Bank A hat, sagen wir in Höhe
von 800 000 Euro, dann sollte die Möglichkeit eröffnet
werden, das miteinander zu verrechnen, sodass nur die
Differenz von 200 000 Euro ins Saldo gestellt wird mit
der Folge, dass das maximale Risiko der Bank A am
Ende des Tages 200 000 Euro beträgt . Damit beträgt auch
das Ausfallrisiko der Kunden, der Steuerzahler und der
Anleger dieser Bank A nur 200 000 Euro .


(Richard Pitterle [DIE LINKE]: Sie haben doch behauptet, dass der Steuerzahler nicht mehr haften soll!)


Genau das, liebe Kolleginnen und Kollegen, war das Ziel
von § 104 der Insolvenzordnung .

Das sahen – der Kollege Hirte hat es vorhin angespro-
chen – die Grünen im Übrigen einmal ganz genauso: Im
Jahr 2004 wurde diese Norm formuliert . Aber heute wol-

len Sie davon nichts mehr wissen . Der BGH legt § 104 –
wir haben es gehört – heute anders aus und begreift sol-
che Aufrechnungsvereinbarungen als unwirksam .


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der BGH hat nämlich daraus gelernt!)


Auch deswegen, liebe Kollegin Keul, gilt es, schnell
zu handeln; denn uns läuft ein Stück weit die Zeit davon .
Die zweite Konsequenz, wenn solche Rahmenvereinba-
rungen nicht mehr getroffen werden können, ist nämlich,
dass Banken aufgrund dieses erhöhten Ausfallrisikos
letztendlich Finanzrückstellungen in einer Größenord-
nung machen müssen, wie sie heute einfach nicht mehr
darstellbar ist .

Sie haben vorhin gesagt: Wir haben durch die Finanz-
krise gelernt, und deswegen müssen die Rückstellungen
der Banken ohnehin erhöht werden . – Das ist aber in-
soweit unehrlich, als Sie ganz genau wissen, dass die
Erhöhung der Rückstellungen, über die wir hier reden,
aufgrund des Anstiegs des Ausfallrisikos komplett auf-
gefressen wird .

Es ist wichtig, dass wir zeitnah darauf reagieren, weil
es letztendlich für viele Banken ein Problem darstellen
würde, in dieser kurzen Zeit die Rückstellungen auf die-
ses Maß zu erhöhen . Damit zeigt die Große Koalition,
dass sie handlungsfähig ist . Die Große Koalition zeigt,
dass sie darauf reagieren kann . Ich glaube, das Beispiel
zeigt sehr gut, dass es sich nicht um Geschenke für Groß-
banken handelt .


(Richard Pitterle [DIE LINKE]: Das hat der Sachverständige selber gesagt!)


Deswegen bitte ich um Zustimmung .

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820629600

Vielen Dank, Alexander Hoffmann. – Ich schließe die

Aussprache .

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-
rung der Insolvenzordnung . Der Ausschuss für Recht und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/10470, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf den Drucksachen 18/9983 und
18/10263 in der Ausschussfassung anzunehmen . Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung zustimmen wollen, jetzt um ihr Handzeichen . – Wer
stimmt dagegen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Be-
ratung angenommen . Zugestimmt haben die CDU/CSU
und die SPD; dagegen waren Bündnis 90/Die Grünen
und die Linke .

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erhe-
ben . – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Gesetzentwurf ist angenommen . Zugestimmt haben

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20635


(A) (C)



(B) (D)


CDU/CSU und SPD. Dagegengestimmt haben Bünd-
nis 90/Die Grünen und die Linke .

Ich darf Sie bitten, die Essensverteilung ein bisschen
einzuschränken und diese Teile, die wir hier freundli-
cherweise auch bekommen haben, nicht unbedingt als
Wurfgeschosse einzusetzen; sonst lasse ich den Innen-
ausschuss damit befassen .


(Heiterkeit und Beifall – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den 1. Ausschuss nicht vergessen!)


Wir haben auch Hunger, aber wir müssen erst noch mit
den Kollegen vereinbaren, ab wann hier Bier serviert
wird


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


und Bratwurst .

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:

– Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten
Gesetzes zur Änderung des Bundesfernstraßen-
mautgesetzes

Drucksache 18/9440

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-

(15 . Ausschuss)


Drucksache 18/10440

– Bericht des Haushaltsausschusses (8 . Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung

Drucksache 18/10441

Hierzu liegen zwei Änderungsanträge und ein Ent-
schließungsantrag der Fraktion Die Linke vor .

Die Reden gehen nicht zu Protokoll. Deswegen bitte
ich die Kolleginnen und Kollegen, die gleich debattieren
werden, Platz zu nehmen.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Dazu gibt es
keinen Widerspruch .

Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort für die
Bundesregierung der Parlamentarischen Staatssekretärin
Dorothee Bär .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich bitte die Kollegen, jetzt Platz zu nehmen und Frau
Bär zuzuhören . Das gilt für alle, auch für die Kollegen
von ihrer Partei.

D
Dorothee Mantel (CSU):
Rede ID: ID1820629700


Vielen herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – So viele
sind von meiner Partei gar nicht da.


(Michael Donth [CDU/CSU]: Oh!)


– Ich habe die eigene Partei gemeint, natürlich nicht die
Schwesterpartei .


(Gustav Herzog [SPD]: So viel Unterschied muss sein!)


– So viel Unterschied muss sein, Herr Herzog .

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehr-
ten Damen und Herren! Heute ist ein guter Tag, um über
das Vierte Gesetz zur Änderung des Bundesfernstraßen-
mautgesetzes zu sprechen, weil es heute insgesamt ein
guter Mauttag in Deutschland ist .


(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr . Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das werden wir noch sehen!)


Deswegen passt es ganz besonders gut, dass wir heute zu
diesem Gesetzentwurf noch sprechen können .

Wie Sie alle wissen, war und ist es unser Ziel, in die-
ser Legislaturperiode die Finanzierung der Bundesfern-
straßen zu verbessern . Sie alle wissen auch, dass wir das
schon in den vergangenen drei Jahren geschafft haben,
und wir werden auch im nächsten Jahr bis zur Bundes-
tagswahl in diesem Bemühen nicht nachlassen .

Uns ist es wichtig, eine moderne, eine sichere, eine
leistungsstarke Verkehrsinfrastruktur in Deutschland zu
gewährleisten. Deswegen treiben wir die Nutzerfinan-
zierung konsequent voran und schaffen so den wesent-
lichen Bestandteil des Investitionshochlaufs . Wir stellen
dadurch auch die Maßnahmen sicher – auch das ist heute
ein wichtiger Schritt –, die sich im Bundesverkehrswege-
plan 2030 befinden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, Sie
behaupten im Ausschuss immer wieder, dass alles, was
zum Vordringlichen Bedarf und zum weiteren Bedarf mit
Planungsrecht im Gesetzentwurf steht, nicht ausfinan-
ziert ist .


(Dr . Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schleppend!)


Allein durch solche Gesetzesinitiativen stellen wir fest,
dass es möglich ist, dass alles finanziert werden kann,
was wir uns vorgenommen haben . Sie sehen, dass in der
Verkehrspolitik insgesamt eine ganzheitliche Politik be-
trieben wird .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Humor am späten Abend!)


Aufgrund der besonderen Belastung für die Infrastruk-
tur spielt natürlich die Lkw-Maut eine ganz wesentliche
Rolle . Wir haben mit dem Dritten Gesetz zur Änderung
des Bundesfernstraßenmautgesetzes die ersten beiden
Schritte unternommen, haben zum 1 . Juli 2015 die Lkw-
Maut von circa 1 200 Kilometer auf circa 2 300 Kilo-
meter autobahnähnliche Bundesstraßen ausgeweitet und
haben zum 1. Oktober 2015 die Mautpflichtgrenze von
12 Tonnen zulässiges Gesamtgewicht auf 7,5 Tonnen ab-
gesenkt. Auch dadurch schaffen wir mehr Gerechtigkeit.

Vizepräsidentin Claudia Roth

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620636


(A) (C)



(B) (D)


Jetzt stehen wir vor dem nächsten Schritt und machen
mit dem vorliegenden Vierten Gesetz eine Ausweitung
der Lkw-Maut ab Mitte 2018 auf alle circa 40 000 Kilo-
meter Bundesstraßen. Auch damit finanzieren und ver-
bessern wir die Finanzierung der Bundesfernstraßen und
gewährleisten weiterhin eine sichere und vor allem mo-
derne und leistungsstarke Infrastruktur .

Für uns ist die Philosophie – die teilen nicht alle; das
werden wir nachher noch hören –, dass Mobilität ein
Grundbedürfnis der Menschen in unserem Land ist .


(Beifall des Abg. Karl Holmeier [CDU/CSU])


Wir machen eine Politik, die für diese Grundbedürfnisse
steht. Wir machen keine Politik, Frau Wilms, die gegen
solche Grundbedürfnisse steht; denn damit stellen Sie
sich zu Recht ins Abseits . Ich bin gespannt auf Ihr Ge-
mäkel, was gleich wieder kommen wird, Frau Kollegin .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Sebastian Hartmann [SPD]: Es gibt heute Lob!)


Die parlamentarischen Beratungen und die Befassung
des Bundestags haben weitere Anregungen zu dem von
der Bundesregierung im Mai 2016 beschlossenen Gesetz-
entwurf gebracht . Beispielsweise sollen landwirtschaftli-
che Fahrzeuge unter bestimmten Bedingungen von der
Maut befreit werden. Es soll die Möglichkeit geschaffen
werden, die Mautpflicht auch auf bestimmte Strecken
von Landes- und Kommunalstraßen auszuweiten . Ein
ganz besonderes Anliegen von einigen von uns – auch
von mir persönlich; dazu wird der Kollege Jarzombek
sicher nachher noch Stellung nehmen – ist die Bereitstel-
lung von Mautdaten in der Datenbank mCLOUD . Das
ist ein wichtiger und positiver Schritt, weil der umfang-
reiche Datenschatz auch für die Verkehrsforschung von
ganz besonderer Bedeutung ist .

Mit dem Entschließungsantrag wird die Bundesregie-
rung aufgefordert, unterschiedliche Mautsätze für Bun-
desautobahnen und Bundesstraßen möglichst zu vermei-
den . Das ist uns auch wichtig, weil sichergestellt werden
soll, dass weniger zentral gelegene Regionen nicht dop-
pelt bestraft werden . Wir wollen eine Gleichwertigkeit
der Lebensverhältnisse . Wir wollen kein Stadt-Land-Ge-
fälle . Das ist ganz besonders für die ländlichen Regionen
wichtig . Deswegen müssen wir alles daransetzen, um
diese Ungerechtigkeit zu vermeiden .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich darf mich ganz herzlich bei allen Kolleginnen und
Kollegen der Regierungsfraktionen bedanken, die im
Verkehrsausschuss mit Augenmaß Leitlinien für die Zu-
kunft geschaffen haben. Ich glaube, wir alle können kon-
statieren – wenn wir es ehrlich meinen, wenn wir nicht
versuchen, das Ganze populistisch schlechtzureden –,
dass wir im Ergebnis heute Abend einen Gesetzentwurf
mit einem Änderungs- und einem Entschließungsantrag
der Koalitionsfraktionen verabschieden, die ein absolut
gelungenes Gesamtpaket darstellen . Wir haben in dieser
Legislaturperiode unsere Ziele bezüglich der Lkw-Maut
erreicht. Aber wir haben auch eine sehr gute Position ge-
schaffen für die nächsten Jahre.

Abschließend ist es mir noch einmal wichtig, zu beto-
nen: Wir wollen mit unserer Verkehrspolitik Mobilität er-
möglichen, nicht Mobilität verhindern . Mobilität braucht
Infrastruktur . Unsere wachsende Wirtschaft braucht In-
frastruktur . Das ist zumindest für diejenigen, die außer-
halb bestimmter ideologischer Kreise sind, eine Binsen-
weisheit .

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820629800

Vielen Dank, Dorothee Bär . – Nächster Redner:

Herbert Behrens für die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Herbert Behrens (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1820629900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Mühsam, unendlich mühsam war dieser Prozess, um zu
dem Gesetzentwurf zu kommen, den wir heute vorliegen
haben . Es geht um die Ausweitung der Lkw-Maut auf
alle Bundesstraßen . Schon lange wird die Forderung von
verschiedenen Parteien erhoben. Aber das ist auch das
Einzige, was erhoben wird . Bislang wird die Maut nicht
auf allen Bundesstraßen erhoben .

Es könnte eigentlich ein ganz guter Tag sein – das
wurde von Ihnen erwähnt, Frau Bär –, deswegen, weil
er diese Entscheidung nach sich zieht . Mit der Mautaus-
weitung wird endlich ein Wettbewerbsnachteil der Bahn
beim Güterverkehr deutlich verringert; denn die Bahn
muss bekanntlich für jeden gefahrenen Kilometer bezah-
len . Das war bei den Lkw-Gütertransporten bislang nicht
der Fall . Diese Ungleichbehandlung ist einer der Gründe
dafür, dass in den letzten Jahren immer mehr Güter auf
der Straße transportiert wurden und der Güterverkehr
auf der Schiene stagniert . Ich bin sicher, dass wir hier
im Parlament diesen Trend umkehren können, und die
Mautausweitung ist ein erster Schritt in diese Richtung .
Andere müssen noch folgen; das wissen wir, glaube ich .
Dass dieser Weg beschritten werden muss, das wird je-
dem klar sein . Das hat ja die lange Diskussion über die-
ses Thema gezeigt .

Wir wissen: Der massiv wachsende Straßengüterver-
kehr hat negative Folgen für Mensch und Umwelt; das
kann niemand ernsthaft bestreiten . Das müssen wir jetzt
ändern, damit wir auf unserem Weg weiterkommen . Aber
der Teufel steckt bekanntlich im Detail, und diese Details
trüben dann doch die Genugtuung über den hier vorge-
legten Gesetzentwurf .

Es gibt eine lange Liste von Einwänden gegen dieses
Gesetz und gegen die Mautpolitik der Bundesregierung .
Ich will allerdings nur drei ansprechen . Meine Fraktion
hat dies mit Anträgen unterlegt .

Erstens . Wieder einmal konnte sich die Bundesregie-
rung nicht dazu durchringen, auch die Fernbusse in die
Mautpflicht zu übernehmen. Nun hat der Verkehrsminis-
ter nicht versucht, ausländische Busse in die Mautpflicht
aufzunehmen; zum Glück ist er auf diese Idee nicht ge-
kommen . Die Linke dringt weiterhin entschieden darauf,

Parl. Staatssekretärin Dorothee Bär

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20637


(A) (C)



(B) (D)


dass eine Maut für Fernbusse in dieses Gesetz aufgenom-
men wird .


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Eine Fernbusmaut ist sinnvoll, fair, gerecht und vor al-
len Dingen längst überfällig. Meine Hoffnung ist, dass
unser vorliegender Änderungsantrag heute eine Mehrheit
finden könnte – das ist ein Hinweis an die Kolleginnen
und Kollegen der SPD –, wenn man sich auf die eigenen
Vorschläge zurückbesinnen würde .


(Michael Donth [CDU/CSU]: Ich glaube, nicht! – Gustav Herzog [SPD]: Herr Behrens, das geht an der Sache vorbei!)


Zweitens . Man hätte mit dem Gesetzentwurf eine
grundsätzliche Schwäche des deutschen Mautgesetzes
beseitigen können, nämlich den Finanzierungskreislauf
Straße . Dieser besagt, dass jeder Euro an Mauteinnah-
men wieder in den Straßenbau zurückfließen soll, und
das ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, wirklich wider-
sinnig, und es ist zynisch .


(Michael Donth [CDU/CSU]: Zynisch?)


Seit mehr als einem Jahr sind auch die Klimakosten
des Lkw-Verkehrs Bestandteil der Lkw-Maut . Es kann
nicht angehen, dass der Mautteilsatz für Klimaschäden
des Straßengüterverkehrs dazu verwendet werden soll,
die Grundlage für noch mehr Güterverkehr auf der Straße
zu schaffen. Das ist doch wirklich widersinnig. Güterver-
kehr muss umweltverträglicher werden, und zwar sofort .


(Beifall bei der LINKEN)


Ein dritter ganz wesentlicher Punkt bei der Lkw-Maut
ist die Frage, wie mit dem Mautbetreiber Toll Collect
umgegangen wird . Der Bund hat sich entschieden, nach
Vertragsende im Jahr 2018 beim Mautbetrieb wieder auf
das private Unternehmen zurückzugreifen . Das ist aus
Sicht der Linken völlig falsch .


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn uns die Geschichte der Lkw-Maut eines gelehrt
hat, dann das, dass man sich auf eine öffentlich-private
Partnerschaft – und genau darum handelt es sich hier ja –
nicht verlassen kann . Ich rede nicht davon, dass wir uns
seit zehn Jahren bemühen, die 7 Milliarden Euro Maut-
ausfall einzuklagen . Ich rede davon, dass Schluss ge-
macht werden muss mit öffentlich-privaten Partnerschaf-
ten . Wir sind der Meinung: Der Bund muss die Maut in
Eigenregie übernehmen, damit es hier vorangehen kann .

Darum werden wir uns bei der Abstimmung zum Ge-
setzentwurf, den wir im Kern gut finden und dem wir
eigentlich zustimmen wollen, aufgrund der Mängel der
Stimme enthalten . Wir können uns nicht durchringen,
zuzustimmen .


(Zuruf von Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD: Oh! Oh! – Sebastian Hartmann [SPD]: Aber nicht um diese Uhrzeit!)


Denn aus einem krummen Antrag wird keine gerade Sa-
che .


(Beifall bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820630000

Vielen Dank, Herbert Behrens . – Nächster Redner:

Sebastian Hartmann für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Sebastian Hartmann (SPD):
Rede ID: ID1820630100

Meine sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr ge-

ehrten Damen und Herren! Was lange währt, wird end-
lich gut .


(Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Fast! – Dr . Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sieht gar nicht danach aus!)


Angesichts der Aussagen, die von der Linken kommen,
kann man sagen: Eine Enthaltung der Linken ist schon
fast eine Zustimmung .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Sie haben sich ja richtig viel Mühe geben müssen, um
überhaupt etwas zu finden, was man kritisieren kann.
Nun haben Sie sich für eine kräftige Enthaltung entschie-
den . Das ist ja richtig mutig in der Verkehrspolitik . Dabei
ist Ihr Problem, dass Sie sich nicht einfach hinter den tol-
len Koalitionsvertrag stellen können . Denn wir haben ei-
nes klargemacht: Wir werden in den nächsten vier Jahren
die Bundesmittel für die Verkehrsinfrastruktur substan-
ziell erhöhen . Dies werden wir durch zusätzliche Mittel
aus der Nutzerfinanzierung durch den Lkw ergänzen. Die
bestehende Lkw-Maut wird auf alle Bundesstraßen aus-
geweitet .


(Dr . Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ausländermaut! – Zuruf des Abg. Karl Holmeier [CDU/CSU])


Versprochen und gehalten; der Kollege Holmeier bringt
es genau auf den Punkt.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wir als Große Koalition haben klare Aussagen getroffen,
die wir eins zu eins eingehalten haben . Wir stellen neben
die starke Säule der Steuerfinanzierung eine starke Säule
der Nutzerfinanzierung. Was will man mehr?

Sie haben große Mühe gehabt, Kritikpunkte zu fin-
den . Lassen Sie uns doch einmal auf die positiven Seiten
schauen: Wir werden in dieser Legislaturperiode so viel
in die deutsche Infrastruktur investieren wie noch nie-
mals zuvor . Morgen werden wir in der Debatte über den
Bundesverkehrswegeplan deutlich machen, wo überall
das Geld in die zukünftigen Infrastrukturen fließen wird.


(Dr . Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, welche Wahlkreise!)


– Sie kritisieren, dass das Geld in Wahlkreisen investiert
wird . Aber, liebe Frau Kollegin, wir alle werden in Wahl-
kreisen gewählt oder nicht gewählt,


(Dr . Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, aber wir haben eine andere Verantwortung! – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie haben keine Sachkriterien!)


Herbert Behrens

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620638


(A) (C)



(B) (D)


und mit diesen Investitionen tun wir etwas für die Infra-
struktur vor Ort . Das kann man doch nicht kritisieren .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Seien Sie froh, dass wir aus den Stauengpässen heraus-
kommen und endlich in eine moderne Infrastruktur in-
vestieren können .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Sie haben sich ja bemüht, bei der Lkw-Maut Kritik-
punkte zu finden. Schauen wir einmal auf die positiven
Punkte:

Wir werden die Maut auf alle Bundesstraßen auswei-
ten . Wenn wir diese Maut auf alle Bundesstraßen aus-
weiten, dann kommen wir damit unserer Verantwortung
nach. Wir werden auch die 8 Prozent der Bundesstraßen,
die in der kommunalen Baulast liegen, einbeziehen und
die Regelung so ausgestalten, dass die Länder ihren An-
teil bekommen und an die Kommunen weiterreichen .

Wir haben als Große Koalition den guten Entwurf der
Bundesregierung als Ausgangspunkt genommen und ihn
noch besser gemacht .

Wir haben Daten zur Verfügung gestellt . Die mCLOUD
ist von der Frau Staatssekretärin angesprochen worden .
Ja, auch mit diesen Daten wird man Verkehre in Zukunft
besser lenken können . Wir wissen, welche Daten bei der
Lkw-Maut generiert werden, und wir stellen sie dem Ver-
kehrssektor zur Verfügung .

Wir haben darüber hinaus das Problem erkannt, dass
durch eine ungleiche Anlastung der Kosten möglicher-
weise Erreichbarkeitsdefizite produziert werden, und
zwar an abgelegenen Orten, die nur durch Bundesstraßen
zu erreichen sind . Auch da haben wir als Große Koalition
sehr deutlich gesagt: Wir wollen durch diese Maut keine
falsche Lenkungswirkung erzeugen . Wir haben klar ge-
sagt: Keine unterschiedlichen Mautteilsätze an der Stelle,
sondern eine gerechte Anlastung .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Oppositionsvertreter mögen kritisieren, das sei nicht
genügend Internalisierung der externen Kosten . Für
alle, die nicht Verkehrspolitikerin oder Verkehrspolitiker
sind – ich sehe davon wenige heute Abend im Plenum –,
müsste ich jetzt sagen: Dabei geht es um die Frage, ob
wir mehr in Sachen Luftschadstoffe und mehr in Sachen
Lärm tun können . An dieser Stelle muss ich in Richtung
der Linken, die immer behaupten, wir müssten mehr ma-
chen, sehr deutlich sagen: Sie müssen in die EU-Richt-
linie schauen, die den Rechtsrahmen eindeutig vorgibt .
Wir würden an der Stelle gerne weiter gehen,


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Der Rahmen sieht vor, dass mehr machbar ist!)


und wir wünschen der Bundesregierung in den Verhand-
lungen mit Brüssel viel Erfolg . Wir wünschen ihr so viel
Erfolg, wie sie in anderen Verhandlungen mit Brüssel
schon hatte, damit die Lkw-Maut mit Blick auf die In-
ternalisierung externer Kosten deutlich stärker ausge-
weitet werden kann, weil man so endlich zu einer echten

Vergleichbarkeit der Verkehrsträger Schiene und Straße
käme . Das ist der Weg, den wir weitergehen werden .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wir werden an der Stelle nicht aufhören; denn es geht
nicht darum, den einen Verkehrsträger ideologisch gegen
den anderen auszuspielen. Hier kommt der zweite Punkt
hinzu: Wir brauchen Verlässlichkeit . Wir führen auf der
einen Seite, bei den Lkws, eine Ausweitung der Nutzer-
finanzierung herbei, haben auf der anderen Seite, bei den
Fernbussen, aber ein Moratorium für die Ausweitung der
Maut zugesagt und klare Zusagen für diese Legislatur-
periode gegeben . Wenn man in den Antragstext schaut,
stellt man fest, dass es bei dem neuen Wegekostengutach-
ten 2018 bis 2022 auch um die Prüfung der Ausweitung
der Nutzerfinanzierung auf andere Verkehrsträger geht.


(Gustav Herzog [SPD]: Sehr richtig!)


Das ist mit dem Gewerbe vereinbart . Daran halten wir
uns. Das ist verlässliche Politik.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wir sind auch an einem anderen Punkt sehr verläss-
lich: Wir haben dem Gewerbe mit Blick auf die Nutzer-
finanzierung eine Zusage zur Weitergabe der Mauthar-
monisierungsmittel gegeben . Wenn wir feststellen, dass
aufgrund der Richtlinienstruktur möglicherweise nicht
jeder Euro bei den Speditionen ankommt, obwohl wir in
Deutschland das versprochen haben, dann handeln wir
als Große Koalition . Schauen Sie in die Entschließung,
die wir formuliert haben . Wir haben dort sehr deutlich
formuliert: Jeder Euro, den wir dem Gewerbe zugesagt
haben, wird ausgegeben, und wenn die Richtlinie nicht
auskömmlich ist, dann wollen wir sie weiterentwickeln .
Wir haben der Bundesregierung wichtige Hinweise gege-
ben und gesagt, was wir uns vorstellen: neue Fördertatbe-
stände und eine einfachere Richtlinienstruktur, damit wir
dem Ziel – 450 Millionen Euro für die deutschen Spediti-
onen – immer näherkommen . Das ist eine Aussage; daran
werden wir uns messen lassen .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Damit sichern wir Tarifbeschäftigungsverhältnisse in
Deutschland . Das Speditionsgewerbe ist ein gutes Ge-
werbe, das dazu beiträgt, dass im Industriestaat Deutsch-
land auch zukünftig Waren vernünftig transportiert wer-
den können . Wir kommen unserer Verantwortung nach .

Nun wird man es sich als Opposition vielleicht einfach
machen können und sagen: Das hätte alles noch schneller
sein können . Das hätte noch mehr sein können .


(Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Besser vor allen Dingen! Besser!)


– Schauen Sie einmal: Wenn Herr Behrens das wirklich
gedacht hätte, dann hätte er es ja gesagt . Er hat ja lan-
ge gesucht, bis er etwas gefunden hat, das er kritisieren
konnte . Er hat nichts gefunden . Sie können doch zufrie-
den sein .


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Dann haben Sie aber unsere Änderungsanträge nicht gelesen, Kollege Hartmann!)


Sebastian Hartmann

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20639


(A) (C)



(B) (D)


Denken Sie noch einmal einen Moment nach . Ändern Sie
Ihren Entschluss, sich zu enthalten . Stimmen Sie heute
zu . Dann können Sie nachher sagen: Es ist auch mithilfe
der Linken geschehen, was die Große Koalition im Zu-
sammenhang mit der Lkw-Maut an guten Sachen vor-
weggenommen hat .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Wenn Sie dem Änderungsantrag zustimmen, können wir das machen!)


Ich glaube, dass es ein guter Tag für die Verkehrsin-
frastrukturfinanzierung in Deutschland ist. Wir stellen
neben die starke Säule der Steuerfinanzierung eine starke
Säule der Nutzerfinanzierung. Das ist verantwortungs-
volle Verkehrspolitik .


(Die Verblendung eines Sitzplatzes in den Reihen der CDU/CSU-Fraktion fällt zu Boden)


– Jetzt bricht schon das Plenum zusammen.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820630200

Es wird schon randaliert .


(Heiterkeit)



Sebastian Hartmann (SPD):
Rede ID: ID1820630300

Aber auch das werden wir zukünftig finanzieren kön-

nen, meine Damen und Herren . Denn so viel Geld wie
jetzt stand noch nie zur Verfügung .


(Gustav Herzog [SPD]: Das Geld brauchen wir morgen!)


Daher können wir morgen guten Gewissens den Bundes-
verkehrswegeplan 2030 beschließen . Das Geld ist da .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820630400

Vielen Dank, lieber Sebastian Hartmann . – Hier gilt

das Verursacherprinzip . Ich sage Ihnen: Das wird teuer .


(Heiterkeit)


Nächste Rednerin in der Debatte: Dr . Valerie Wilms
für Bündnis 90/Die Grünen .


Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820630500

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Nach diesem impulsiven Auftritt von Herrn Hartmann
bleibt morgen vielleicht noch ein bisschen Geld übrig,
um das zu reparieren, was dort auf der Koalitionsseite
zerlegt worden ist .


(Gustav Herzog [SPD]: Auf der Unionsseite! Fürs Protokoll! – Sebastian Hartmann [SPD]: Das wollte ich wirklich nicht!)


Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird durchaus
ein Beitrag geleistet, die längerfristige Erhaltung der Ver-
kehrswege in den nächsten Jahren sicherzustellen . Das

ist heute tatsächlich mal eine gute Nachricht aus Rich-
tung der Bundesregierung .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Sonst finden wir da ja nicht allzu viel Gutes. Durch die
überfällige Ausweitung der Lkw-Maut auf alle Bundes-
straßen bleiben rund 2 Milliarden Euro mehr für den Er-
halt des Gemeingutes Straße . So weit, so gut .

Doch mit dem heutigen Tag gesellt sich trotz allen Ju-
bels über zusätzliche Einnahmen durch die Lkw-Maut,
der hier herrscht, eine schlechte Nachricht für die Finan-
zierung unserer Infrastruktur hinzu . Die Zeitungen titeln
heute, dass die EU-Kommission möglicherweise grünes
Licht für die CSU-Maut gibt .


(Karl Holmeier [CDU/CSU]: Gut so!)


Manch einer erinnert sich: Das war die bayerische Bier-
tischidee einer Pkw-Maut für Ausländer aus dem letzten
Wahlkampf . Doch die Bedenken sind mit dem Segen
der EU-Kommission noch nicht ausgeräumt . Es stellen
sich weiterhin wichtige Fragen: Wird diese Pkw-Maut
ausländische Fahrzeughalter diskriminieren? Wird kein
deutscher Fahrzeughalter schlechtergestellt?


(Sebastian Hartmann [SPD]: Es gilt der Koalitionsvertrag!)


– Kollege Hartmann, ich bin gespannt, wie sich die SPD
aus diesem Koalitionsvertrag herauswinden wird .

Die Quadratur des Kreises funktioniert nicht . Das
werden auch Sie noch erleben . Es heißt weiterhin: Ihre
Pkw-Maut bleibt Murks. Die Planungen dazu haben das
Ministerium jahrelang für wirklich vernünftige Arbeit
blockiert . So kann man keine Regierungsgeschäfte füh-
ren .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Jetzt kommen wir zur Ausweitung der Lkw-Maut .
Auch dort legen Sie mal wieder eine halbgare Lösung
vor .


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie haben es verpasst, die innerörtlichen Ausweichver-
kehre ernsthaft zu verhindern . Hier brauchen Sie drin-
gend eine echte Lösung. Die finden wir nicht in Ihrem
Gesetzentwurf . In Ihrem System gibt es nämlich einen
Grundfehler: Sie hören mit der Lkw-Maut nicht vor ge-
schlossenen Ortschaften auf . Sie wollen die Maut auch in
der Ortsdurchfahrt auf Bundesstraßen erheben . Die Maut
wird dann auf den innerörtlichen Bundesstraßen fällig .
Auf Landes- und Gemeindestraßen wird dort keine Maut
erhoben. Das führt zwangsläufig zu Ausweichverkehren.
Das beste Beispiel dafür habe ich Minister Dobrindt –
Frau Bär war leider nicht da – im Fall von Hamburg mit
der Stresemannstraße, einer Bundesstraße, und der para-
llel verlaufenden Reeperbahn gezeigt . Viel Spaß!


(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der SPD – Sebastian Hartmann [SPD]: Da darf man künftig auch Maut erheben?)


Sebastian Hartmann

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620640


(A) (C)



(B) (D)


Ein Konzept, wie Sie dem wirksam begegnen wollen,


(Zuruf von der SPD: Da fahren doch die ganzen Cabrios! – Sebastian Hartmann [SPD]: Mit dem Lkw auf die Reeperbahn! – Heiterkeit bei der SPD)


fehlt komplett . Das hat auch die Anhörung im Aus-
schuss gezeigt . Sie müssen aufpassen, dass Sie mit Ihrem
Schnellschuss sinnvolle Systeme für eine Nutzermitfi-
nanzierung bei kommunalen Straßen nicht von vornhe-
rein blockieren .

Ein weiterer Aspekt zeigt die Inkonsequenz Ihres
Handelns: Da basteln Sie in der Ausschlussberatung
noch schnell eine Befreiung für landwirtschaftliche Zug-
maschinen im gewerblichen Güterverkehr von der Maut
ein . Ich habe das jetzt einmal ziemlich deutlich zitiert .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Befreiung ist Un-
fug, echter Unfug .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Bereits heute werden landwirtschaftliche Fahrzeuge im
Baustellenverkehr anstelle von Baustellen-Lkws ein-
gesetzt . Fahren Sie einmal durch die Baustellen, Herr
Hartmann, von denen Sie in Nordrhein-Westfalen genug
haben müssten .


(Sebastian Hartmann [SPD]: NRW kommt voran!)


Sie schaffen so offenen Auges eine Ungleichbehandlung
zulasten der gewerblichen Transportunternehmen .


(Zuruf von der CDU/CSU: Stimmt doch gar nicht!)


Ich bin gespannt, was die in Zukunft dazu sagen werden .

Mein Rat: Verlieren Sie vor lauter sinnloser Planung
um die Pkw-Maut nicht den Blick auf das Gesamtsys-
tem . – Ich habe den Eindruck, das Ministerium will un-
seren Rat sowieso nicht hören .

Die Mautlücke für Fahrzeuge zwischen 3,5 und
7,5 Tonnen muss auch geschlossen werden . Wir müssen
auch die Fernbusse in das System einbeziehen .


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820630600

Sie müssen jetzt an Ihre Zeit denken .


Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820630700

Werte Frau Präsidentin, die Ausdehnung der Lkw-

Maut auf alle Bundesstraßen ist im Grundsatz richtig .
Da gehen wir durchaus mit allen hier mit . Aber aufgrund
der handwerklichen Fehler, die ich aufgezeigt habe, ist
Schluss mit lustig, und wir werden dem garantiert nicht
zustimmen .

Danke .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820630800

Vielen Dank, Dr . Valerie Wilms . Der letzte Redner

in dieser Debatte – ich gehe davon aus: des heutigen

Abends –: Thomas Jarzombek für die CDU/CSU-Frak-
tion .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Thomas Jarzombek (CDU):
Rede ID: ID1820630900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist

das Ende eines Tages, der ein sehr trauriger Tag für uns
ist. Ich schaue auf den Blumenstrauß. Mit Peter Hintze
ist ein Kollege von uns gegangen, der eine Lücke hin-
terlässt, von der ich noch nicht weiß, wie wir sie füllen
wollen . Aber das Leben geht weiter – wie auch immer .
Vielleicht mahnt das, in der Debattenkultur ein bisschen
auf die Werte zu achten, die Peter Hintze vorgelebt hat,
und nicht immer alles zum Klamauk zu machen und nicht
immer zu versuchen, aus kleinen Dingen große Skandale
zu konstruieren .

Das bringt mich jetzt zu der Lkw-Maut, über die wir
heute Abend beraten . Die Maut hat bei ihrer Einführung
2003 leider nicht das Vertrauen der Menschen in den
Staat gestärkt, weil es nicht funktioniert hat und weil da-
für vielleicht das Gleiche gilt wie für so manches andere
große Projekt: Man hat zu viel gewollt, ein zu großes Ge-
rät gebaut und einen zu optimistischen Ansatz gehabt, in
welcher Zeit man das schaffen kann.

Die Lkw-Maut ist aber auch ein Zeichen dafür, dass
man die Probleme lösen kann. Daraus ist ein großer Er-
folg entstanden . Nach der anfänglichen Verzögerung ha-
ben wir seit 2005 ein Mautsystem, das extrem gut ist,
extrem zuverlässig funktioniert, das über alle Zweifel
erhaben ist und das uns jedes Jahr kontinuierlich gute
Einnahmen für unseren Verkehrshaushalt bringt . Sie sind
auch richtig . So schön es ist, Frau Kollegin Wilms von
den Grünen, dass Sie hier über die Pkw-Maut reden – mit
der Lkw-Maut liefern wir den Beitrag dazu, dass unsere
Verkehrsinfrastruktur von denjenigen finanziert wird, die
den Verschleiß verursachen . Denn der Verschleiß auf der
Straße wird im Wesentlichen durch die Lkws verursacht .


(Zuruf von der SPD: So ist es!)


Deshalb ist es gerecht, dass diese zur Refinanzierung he-
rangezogen werden .

Wir haben im Jahr 2015 4,4 Milliarden Euro über die
Lkw-Maut eingenommen . Wir erwarten jetzt 4,5 Milli-
arden Euro . Wir haben im letzten Jahr zum 1 . Juli wei-
tere 1 100 Kilometer vierspurige Bundesstraßen für die
Mautpflicht vorgesehen. Wir haben seit dem 1. Oktober
auch die Lkws ab 7,5 Tonnen einbezogen . Was wir jetzt
machen, ist eine Ausweitung auf das gesamte Netz der
Bundesfernstraßen . Das bringt uns weitere 2 Milliarden
Euro pro Jahr .

Das ist ein großer Erfolg . Man kann es sehen . Selbst
in Nordrhein-Westfalen mit den sehr rudimentären Pla-
nungskapazitäten wird jetzt gebaut .


(Sebastian Hartmann [SPD]: Sie brauchen NRW nicht zu hauen! Freuen Sie sich darüber, dass die Investitionen kommen!)


Es ist auf einmal Geld im Haushalt vorhanden . Wäh-
rend wir in der letzten Legislaturperiode jedes Jahr da-
rum gerungen haben, die Investitionslinie von 10 Milli-

Dr. Valerie Wilms

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20641


(A) (C)



(B) (D)


arden Euro zu halten, sind wir jetzt bei fast 13 Milliarden
Euro und haben weitere 5 Milliarden Euro für das ganz
neue Breitbandförderprogramm, von dem wir alle in-
zwischen überzeugt sind, dass das nicht das Ende, son-
dern der Anfang ist und dass wir – so schreibt es auch
der Bundesminister in seiner Agenda – Breitbandausbau
weiter finanzieren müssen. Das finde ich sehr richtig.

Wir haben bei der Lkw-Maut etwas Weiteres ge-
schafft, nämlich – was die Bundeskanzlerin hier an ver-
schiedener Stelle schon gesagt hat – den falsch verstan-
denen Datenschutz erfolgreich bekämpft . Neben vielen
anderen Aspekten ist es immer so gewesen, dass wir gute
Daten für die Entwicklung unserer Verkehrsinfrastruktur
aus der Lkw-Maut, von den On-Board-Units, hatten, die
nie genutzt wurden, deren weitere Nutzung per Gesetz
verboten war, weil immer behauptet wurde, es sei mit
dem Datenschutz nicht vereinbar . Da bedanke ich mich
bei den Ministerien, dass sie mit vielen konstruktiven
Gesprächen mit den Datenschutzbehörden, aber auch mit
Anwendern, mit Verkehrsforschern herausgearbeitet ha-
ben, dass diese Daten, wenn man sie anonymisiert, sehr
wohl für Verkehrsforschung und für Verkehrssteuerung
nutzbar sind .

Ich finde es wirklich großartig, dass das Verkehrs-
ministerium als das erste Haus beim Thema Open Data
richtig vorangegangen ist, mit der mCLOUD ein Portal
zur Verfügung gestellt hat, wo Verkehrsdaten, Wetterda-
ten – alles Mögliche – zur Verfügung gestellt werden für
Start-ups, für Hochschulen, für alle, die damit Innovatio-
nen machen wollen . Dass jetzt die Daten der Lkw-Maut
ebenfalls dort hineinkommen, ist ein großer Erfolg von
langer, langer Arbeit und ein Vorbild für alle anderen Pro-
jekte des Bundes; denn diese Koalition hat sich in ihrem
Vertrag darauf verständigt, ein Open-Data-Gesetz noch
in dieser Wahlperiode vorzulegen . Die Bundeskanzlerin
hat an dieser Stelle angekündigt, dass wir das noch tun
werden . Die Eckpunkte sind bereits da, und ich glaube,
dass das, was wir jetzt hier mit den Daten der Lkw-Maut
machen, ein gutes Vorbild für alle anderen Daten ist, die
der Staat hat, mit denen wir eine Menge neuer Arbeits-
plätze schaffen können. Die Konrad-Adenauer-Stiftung
hat eine Studie erstellt, die besagt: 40 000 neue Arbeits-
plätze sind damit möglich . – Das ist eines von vielen
kleinen Beispielen, mit denen man vielleicht nicht Dis-
kussionen am Stammtisch gewinnen kann, die aber dazu
beitragen, dass wir in Deutschland weiter wirtschaftlich
erfolgreich bleiben .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deshalb freue ich mich, dass unser Paket so gut ist,
dass sogar die Opposition nicht dagegen stimmt . Das ist
doch ein gutes Zeichen für Zusammenhalt und konstruk-
tive Arbeit . Dafür bedanke ich mich und freue mich, dass
wir hier etwas Gutes schaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1820631000

Vielen Dank, Herr Kollege . – Damit schließe ich die

Aussprache .

Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Än-
derung des Bundesfernstraßenmautgesetzes . Der Aus-
schuss für Verkehr und digitale Infrastruktur empfiehlt
unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/10440, den Gesetzentwurf der Bundes-
regierung auf Drucksache 18/9440 in der Ausschussfas-
sung anzunehmen .

Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion
Die Linke vor, über die wir zuerst abstimmen:

Änderungsantrag auf Drucksache 18/10497 . Wer
stimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt da-
gegen? – Wer enthält sich? – Der Änderungsantrag ist
abgelehnt . Zugestimmt hat die Linke, dagegen waren
SPD und CDU/CSU. Enthalten haben sich Bündnis 90/
Die Grünen .

Änderungsantrag auf Drucksache 18/10498 . Wer
stimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen gibt es keine . Der Änderungsantrag
ist abgelehnt . Zugestimmt haben die Linke und Bünd-
nis 90/Die Grünen. Dagegen haben CDU/CSU und SPD
gestimmt .

Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, jetzt um das
Handzeichen . – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD.
Dagegengestimmt hat niemand . Enthalten haben sich die
Linke und Bündnis 90/Die Grünen .

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erheben . –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist angenommen . Zugestimmt haben CDU/CSU
und SPD. Dagegengestimmt hat niemand. Enthalten ha-
ben sich die Linke und Bündnis 90/Die Grünen .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 18/10440 empfiehlt der Ausschuss für
Verkehr und digitale Infrastruktur, eine Entschließung
anzunehmen . Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die
Beschlussempfehlung ist angenommen . Zugestimmt
haben die CDU/CSU und die SPD. Dagegengestimmt
haben Bündnis 90/Die Grünen . Enthalten hat sich die
Linke .

Abstimmung über den Entschließungsantrag der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 18/10499 . Wer stimmt für
diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist abge-
lehnt . Zugestimmt hat die Linke . Dagegengestimmt ha-
ben die CDU/CSU und die SPD, und enthalten hat sich
Bündnis 90/Die Grünen .

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Neuordnung der Aufgaben der

Thomas Jarzombek

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620642


(A) (C)



(B) (D)


Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung

(FMSA-Neuordnungsgesetz – FMSANeuOG)


Drucksachen 18/9530, 18/9955, 18/10307 Nr. 1

Beschlussempfehlung und Bericht des Haus-
haltsausschusses (8 . Ausschuss)


Drucksache 18/10501

Die Reden gehen zu Protokoll.1)

Wir kommen direkt zur Abstimmung . Der Haushalts-
ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/10501, den Gesetzentwurf der Bundes-
regierung auf Drucksachen 18/9530 und 18/9955 in der
Ausschussfassung anzunehmen . Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen . – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Keine . Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung angenommen . Zugestimmt haben die
CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und die SPD. Dage-
gen war die Linke .

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erhe-
ben . – Wer stimmt dagegen? – Dann gibt es keine Ent-
haltungen . Der Gesetzentwurf ist angenommen . Zuge-
stimmt haben die CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen
und die SPD. Dagegen war die Linke.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:

– Zweite und dritte Beratung des von den Frak-
tionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zum Erlass und zur
Änderung marktordnungsrechtlicher Vor-
schriften sowie zur Änderung des Einkom-
mensteuergesetzes

Drucksache 18/10237

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-

(10 . Ausschuss)


Drucksache 18/10468

– Bericht des Haushaltsausschusses (8 . Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung

Drucksache 18/10502

Auch dazu gehen die Reden zu Protokoll.2)

Wir kommen zur Abstimmung . Der Ausschuss für
Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 18/10468, den Ge-
setzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf
Drucksache 18/10237 in der Ausschussfassung anzuneh-
men . Die Fraktion Die Linke hat beantragt, über den Ge-
setzentwurf in der Ausschussfassung getrennt abzustim-
men, und zwar zum einen über Artikel 3 – Änderung des
Einkommensteuergesetzes – und zum anderen über den
Gesetzentwurf im Übrigen .

1) Anlage 10
2) Anlage 11

Wir kommen also zunächst zu Artikel 3 des Gesetz-
entwurfs in der Ausschussfassung . Ich bitte diejenigen,
die Artikel 3 in der Ausschussfassung zustimmen wollen,
um das Handzeichen . – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Keine . Artikel 3 ist angenommen mit Zustim-
mung der CDU/CSU und der SPD bei Gegenstimmen
von der Linken und Bündnis 90/Die Grünen .

Wir kommen nun zu den übrigen Teilen des Gesetz-
entwurfs in der Ausschussfassung . Ich bitte diejenigen,
die zustimmen wollen, um ihr Handzeichen . – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die übrigen Tei-
le des Gesetzentwurfs sind angenommen . Zugestimmt
haben CDU/CSU und SPD. Enthalten haben sich Bünd-
nis 90/Die Grünen und die Linke . Niemand hat dagegen-
gestimmt . Damit sind alle Teile des Gesetzentwurfs in
zweiter Beratung angenommen .

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist angenommen . Zugestimmt haben CDU/CSU
und SPD. Enthalten haben sich die Linken und Bünd-
nis 90/Die Grünen .

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Energiestatistikge-
setzes (EnStatG)

Drucksache 18/10350
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung

Auch dazu gehen die Reden zu Protokoll.3)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 18/10350 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . – Heute
Abend gibt es sicher keine anderen Vorschläge . Dann ist
die Überweisung so beschlossen .

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregie-
rung eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Vorbereitung eines register-
gestützten Zensus einschließlich einer
Gebäude- und Wohnungszählung 2021

(Zensusvorbereitungsgesetz 2021 – ZensVorbG 2021)

Drucksachen 18/10458, 18/10484
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO

Auch dazu gehen die Reden zu Protokoll.4)

3) Anlage 12
4) Anlage 13

Vizepräsidentin Claudia Roth

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20643


(A) (C)



(B) (D)


Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf den Drucksachen 18/10458 und 18/10484 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen . – Es gibt keine weiteren Vorschläge . Dann ist
die Überweisung so beschlossen .

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes
zur Änderung des Sprengstoffgesetzes

Drucksache 18/10455

Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz

Auch hierzu sollen die Reden zu Protokoll gegeben
werden . – Sie sind alle damit einverstanden .1)

1) Anlage 14

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 18/10455 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . – Es gibt keine
anderweitigen Vorschläge . Dann ist die Überweisung so
beschlossen .

Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung .

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Freitag, den 2 . Dezember 2016, 9 Uhr,
ein .

Die Sitzung ist geschlossen . Ich wünsche Ihnen einen
schönen Restabend . Ich bedanke mich bei meinen beiden
Schriftführerinnen, bei der Kollegin auf der Regierungs-
bank; danke, Frau Bär . Vor allem bedanke ich mich bei
den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Hauses, die
noch so lange gearbeitet haben, und auch bei den Kame-
raleuten . Guten Abend!