Vizepräsidentin Claudia Roth
(A) (C)
(B) (D)
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20645
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Barthle, Norbert CDU/CSU 01 .12 .2016
Beck (Bremen),
Marieluise
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
01 .12 .2016
Bülow, Marco SPD 01 .12 .2016
Dobrindt, Alexander CDU/CSU 01 .12 .2016
Dörner, Katja BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
01 .12 .2016
Ernst, Klaus DIE LINKE 01 .12 .2016
Ernstberger, Petra SPD 01 .12 .2016
Fabritius, Dr . Bernd CDU/CSU 01 .12 .2016
Ferner, Elke SPD 01 .12 .2016
Gehrcke, Wolfgang DIE LINKE 01 .12 .2016
Groth, Annette DIE LINKE 01 .12 .2016
Hendricks, Dr . Barbara SPD 01 .12 .2016
Högl, Dr . Eva SPD 01 .12 .2016
Jung, Andreas CDU/CSU 01 .12 .2016
Kunert, Katrin DIE LINKE 01 .12 .2016
Lerchenfeld, Philipp
Graf
CDU/CSU 01 .12 .2016
Möhring, Cornelia DIE LINKE 01 .12 .2016
Müller, Dr . Gerd CDU/CSU 01 .12 .2016
Nouripour, Omid BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
01 .12 .2016
Pilger, Detlev SPD 01 .12 .2016
Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
01 .12 .2016
Schlecht, Michael DIE LINKE 01 .12 .2016
Schulze, Dr. Klaus-Peter CDU/CSU 01 .12 .2016
Schwartze, Stefan SPD 01 .12 .2016
Silberhorn, Thomas CDU/CSU 01 .12 .2016
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Strebl, Matthäus CDU/CSU 01 .12 .2016
Tank, Azize DIE LINKE 01 .12 .2016
Thönnes, Franz SPD 01 .12 .2016
Wawzyniak, Halina DIE LINKE 01 .12 .2016
Zeulner, Emmi * CDU/CSU 01 .12 .2016
Zypries, Brigitte SPD 01 .12 .2016
*aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Corinna Rüffer, Kerstin
Andreae, Ekin Deligöz, Katharina Dröge, Harald
Ebner, Kai Gehring, Bärbel Höhn, Katja Keul,
Sven-Christian Kindler, Maria Klein-Schmeink,
Sylvia Kotting-Uhl, Monika Lazar, Dr. Tobias
Lindner, Peter Meiwald, Beate Müller-Gemmeke,
Lisa Paus, Claudia Roth (Augsburg), Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn, Dr. Julia Verlinden und Beate
Walter-Rosenheimer (alle BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN) zu der Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines
Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbst-
bestimmung von Menschen mit Behinderungen
(Bundesteilhabegesetz – BTHG) (Tagesordnungs-
punkt 3 a)
Seit bekannt wurde, welche Neuregelungen die Große
Koalition mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) treffen
möchte, protestierten Menschen mit und ohne Behinde-
rungen: Sie haben sich vor dem Reichstag ans Ufer der
Spree gekettet, wochenlang vor dem Bundesministerium
für Arbeit und Soziales protestiert, für die erfolgreichs-
te ihrer zahlreichen Petitionen mehr als 330 000 Un-
terzeichnende gefunden und zu Tausenden im ganzen
Land protestiert. Sie haben damit ihren Protest gegen
ein Gesetz zum Ausdruck gebracht, das die Teilhabe von
Menschen mit Behinderungen nur in wenigen Bereichen
stärkt und mit dem viele behinderte Menschen nicht wie
versprochen besser, sondern teils sogar schlechter daste-
hen als bisher .
Dabei wäre es höchste Zeit für einen weiteren Schritt
in diese Richtung . Schon im letzten Jahr hatte der zustän-
dige Fachausschuss der Vereinten Nationen ein harsches
Urteil zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonven-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620646
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(B) (D)
tion in Deutschland gefällt: Behinderte Menschen kön-
nen in Deutschland ihre Menschenrechte nicht im vollen
Umfang wahrnehmen . Die Expertinnen und Experten
der Vereinten Nationen sahen erheblichen Handlungsbe-
darf und äußerten für einige Bereiche sogar große Sorge .
Kritisch sahen sie unter anderem die hohe Zahl der be-
hinderten Menschen, die in Wohnheimen lebt und den
Mangel an alternativen Wohnmöglichkeiten . Auch die
Tatsache, dass behinderte Menschen Teilhabeleistungen
selbst mitfinanzieren müssen, hob der Fachausschuss ne-
gativ hervor .
Auch mit dem Teilhabegesetz bleibt es möglich, dass
die Leistungsträger behinderte Menschen zum Wohnen
in einem Wohnheim zwingen, indem sie andere Unter-
stützungsleistungen verweigern . Es ist zwar anzuerken-
nen, dass die Freibeträge für den Einsatz von Einkommen
und Vermögen angehoben und Partnerinnen und Partner
freigestellt werden . Der Grundsatz, dass behinderte Men-
schen selbst für den Ausgleich ihrer gesellschaftlichen
Ausgrenzung zahlen müssen, bleibt aber bestehen .
Mit der neuen unabhängigen Beratung oder der bun-
desweiten Einführung des Budgets für Arbeit sind an
einigen Stellen positive Regelungen zu finden. Im Lich-
te der Herausforderung, die mit der Umsetzung der Be-
hindertenrechtskonvention verbunden ist, wirkt das aber
kleinlich .
Das Bundesteilhabegesetz ist das wichtigste behinder-
tenpolitische Vorhaben, seit vor 15 Jahren mit dem Neun-
ten Buch Sozialgesetzbuch – Rehabilitation und Teilhabe
behinderter Menschen – (SGB IX) von der damaligen
rot-grünen Koalition erste Schritte unternommen wur-
den, die Rechte behinderter Menschen und ihren An-
spruch auf Teilhabe in den Vordergrund zu stellen . Das
Teilhabegesetz wird dem selbstgesteckten Anspruch der
Koalition, einen entscheidenden Beitrag zur Umsetzung
der UN-Behindertenkonvention zu leisten, nicht gerecht .
Trotz allem erkennen wir an, dass die Fraktionen von
SPD und Union in letzter Minute einige der Forderungen
behinderter Menschen und ihrer Verbände aufgenommen
haben .
Wir sind dankbar für das Engagement und den Elan,
den behinderte Menschen und ihre Unterstützer im Ab-
wehrkampf gegen einen katastrophalen Entwurf aufge-
bracht haben . Das hat zu einigen Verbesserungen am
Entwurf geführt . Trotzdem können wir diesem Gesetz-
entwurf nicht zustimmen . Wir sehen ihn im Gegenteil als
Auftrag, nach der Bundestagswahl mit neuem Schwung
die Aufgabe anzugehen, vor die uns die Behinderten-
rechtskonvention stellt .
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Ulla Schmidt (Aachen) (SPD)
zu der Abstimmung über den von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurf eines Dritten Ge-
setzes zur Stärkung der pflegerischen Versorgung
und zur Änderung weiterer Vorschriften (Drittes
Pflegestärkungsgesetz – PSG III) (Tagesordnungs-
punkt 4 a)
Heute stehen die Regelungen des Pflegestärkungs-
gesetzes III auf der Tagesordnung, die in Verbindung
mit dem Bundesteilhabegesetz das größte sozialpoliti-
sche Vorhaben der Koalition sind. Im Pflegestärkungs-
gesetz III finden sich neben den Regelungen zur kom-
munalen Verankerung der Pflege wichtige Regelungen
zur Schnittstelle von Eingliederungshilfe und Pflege für
Menschen mit Behinderung . Ich habe mich sehr dafür
eingesetzt, die Regelung des § 43a SGB XI abzuschaffen
oder zumindest auslaufen zu lassen . Völlig inakzeptabel
ist die nun beabsichtigte Ausweitung dieser Regelung –
auch wenn diese Ausweitung größtenteils zurückgenom-
men wurde .
Die Abgeltung von individuell erworbenen Pflegever-
sicherungsansprüchen über einen Pauschalbetrag ent-
spricht nicht mehr der Lebenswirklichkeit in den statio-
nären Einrichtungen und sollte beendet werden .
Angesichts der weiteren Änderungen im Pflegestär-
kungsgesetz III, die den Gleichrang der Pflege beibehal-
ten und insoweit eine bedarfsgerechte Versorgung von
Menschen mit Behinderung und Pflegebedarf möglich
machen, werde ich dem Gesetz dennoch zustimmen . Ich
gehe davon aus, dass wir in Zukunft erneut über die Re-
gelung des § 43a SGB XI diskutieren werden .
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Ener-
gie (9. Ausschuss) zu der Verordnung der Bundes-
netzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommuni-
kation, Post und Eisenbahnen: Verordnung zur
Förderung der Transparenz auf dem Telekommu-
nikationsmarkt (TK-Transparenzverordnung –
TKTransparenzV) (Tagesordnungspunkt 15)
Hansjörg Durz (CDU/CSU): Heute ist ein guter
Tag für den Nutzer von Telekommunikationsdiensten
in Deutschland . Mit der Verabschiedung der TK-Trans-
parenzverordnung geben wir dem Verbraucher endlich
ein rechtssicheres Instrumentarium in die Hand, das ihm
Transparenz über die von ihm in Anspruch genommene
Telekommunikationsleistung bietet .
Die heute von uns zu verabschiedende Regelung hat
ihren Ursprung in mehreren, in den vergangenen Jahren
festgestellten Defiziten:
Erstens . Messstudien zur Dienstqualität breitbandi-
ger Internetzugänge haben ergeben, dass im Verhältnis
von vertraglich vereinbarten Datenübertragungsraten zu
tatsächlich gelieferten Datenübertragungsraten über alle
Technologien, Produkte und Anbieter zum Teil erhebli-
che Diskrepanzen existieren . Einfach ausgedrückt: Beim
Kunden kommt weniger an als vertraglich vereinbart .
Zweitens . Analysen von Telekommunikationsverträ-
gen haben ergeben, dass viele Anbieter dazu gar keine
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20647
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oder nur wenig belastbare Aussagen zur realisierbaren
Datenübertragungsrate tätigen . Einfach gesagt: Der Kun-
de weiß gar nicht, mit welcher Leistung er konkret rech-
nen darf .
Drittens. kam es in der Vergangenheit häufig zu Ver-
braucherbeschwerden insbesondere im Telekommunika-
tionsbereich, beispielsweise in Bezug auf Kündigungs-
termine und verbrauchte Datenvolumina .
Auf diese Missstände nimmt die Verordnung direkt
Bezug:
Erstens. Die Verordnung sieht die Verpflichtung zur
Bereitstellung eines anbieterübergreifend einheitlich
gestalteten Produktinformationsblattes vor, und zwar
vor Vertragsschluss . Damit sollen Endkunden in die
Lage versetzt werden, sich vorab über wesentliche Ver-
tragsbestandteile zu informieren. Dies schafft für den
Endkunden ein hohes Maß an Übersichtlichkeit und
Vergleichbarkeit bereits vor Vertragsschluss. Das Pro-
duktinformationsblatt ist – auch auf Wunsch der Ver-
braucherschutzverbände – bewusst schlank gehalten und
erfasst nur die wesentlichen Vertragsinhalte . Dazu zäh-
len der Preis, die Vertragslaufzeit sowie die Angabe der
minimalen, der normalerweise zur Verfügung stehenden
und der maximalen Datenübertragungsrate . Die Bestand-
teile des Musterinformationsblatts, das zukünftig als
Grundlage für eine einheitliche Vermittlung gegenüber
den Kunden dienen soll, wurde in enger Abstimmung
zwischen Bundesnetzagentur und der TK-Branche erar-
beitet . Wir haben dabei darauf geachtet, dass die in der
Telekommunikationsbranche tätigen Unternehmen nicht
über Gebühr belastet werden, ohne das Niveau der Ver-
braucherinformation zu verwässern . Die Anbieter dürfen
nicht weniger, aber auch nicht mehr in das Produktinfor-
mationsblatt schreiben, als es § 1 der TK-Transparenz-
verordnung vorgibt. Ziel ist es, eine Informationsüberflu-
tung des Verbrauchers zu vermeiden .
Zweitens . Durch die Transparenzverordnung wird
die Bereitstellung eines Messsystems festgeschrieben,
welches es dem Endkunden nach erfolgter Anschluss-
schaltung ermöglicht, vertraglich vereinbarte Daten-
übertragungsraten auch zu überprüfen . Dabei kann der
TK-Anbieter entweder auf das Messangebot der Bundes-
netzagentur (www .breitbandmessung .de) zurückgreifen
oder ein eigenes implementieren .
Die Messergebnisse müssen für den Kunden speicher-
bar sein und im Online-Kundencenter hinterlegt werden
können . So versetzen wir den Kunden in die Lage, ohne
größeren Aufwand Messreihen zu bilden, diese zu doku-
mentieren und somit leichter als bisher Leistungsmängel
gegenüber seinem Anbieter zu beanstanden . Zudem sind
die TK-Anbieter ausdrücklich dazu verpflichtet, ihre
Kunden über die Möglichkeit zur Nutzung eines Mess-
systems zu informieren .
Drittens. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Ver-
pflichtung für den Anbieter, zukünftig auf der Monats-
rechnung für den Verbraucher relevante Vertragsdaten
abzudrucken . Dazu zählt das aktuelle Kündigungsdatum
genauso wie im Bereich des Mobilfunks das monatlich
verbrauchte Datenvolumen .
Das Ende der Mindestvertragslaufzeit war bislang in
vielen Fällen für die Endnutzer nur schwer zu ermitteln .
Durch die neue Regelung wird eine zuverlässige und für
den Verbraucher praktikable Informationsmöglichkeit
geschaffen. Die Kenntnis des verbrauchten Datenvolu-
mens versetzt den Verbraucher wiederum in die Lage,
seinen Vertrag nach seinen Bedürfnissen anzupassen .
Viertens . Gleichzeitig legt die Verordnung Bußgel-
der fest, die dann erhoben werden, wenn die geforderten
Maßnahmen nicht rechtzeitig, vollständig oder zufrie-
denstellend umgesetzt werden .
Die genannten Elemente erreichen genau das Ziel der
Transparenzverordnung, nämlich Transparenz für die
Verbraucher zu schaffen.
Im parlamentarischen Verfahren drehte sich hingegen
vieles um die Frage, ob sektorspezifische Schadenser-
satz- oder Kündigungsregelungen für den TK-Bereich
durch die Verordnung implementiert werden können .
Schon bereits aufgrund einer mangelnden Rechtsgrund-
lage durch das TKG ist dies zu verneinen . Dies wurde in
der öffentlichen Anhörung mehrfach bestätigt. Aber auch
aus rein praktischen Erwägungen scheidet eine derartige
Implementierung aus . Vor dem Hintergrund des bereits
geltenden Zivilrechts sind Telekommunikationsdienst-
verträge als Dauerschuldverhältnisse im BGB geregelt .
Damit existieren bereits heute grundsätzlich Schadens-
ersatz- und Kündigungsrechte, sofern vertragskonforme
Leistungen nicht bereitgestellt werden . Und diese An-
sprüche kann der Kunde auf dem Zivilrechtsweg verfol-
gen und damit vor ordentlichen Gerichten durchsetzen .
Das intendierte Ziel der Transparenzverordnung ist
der informierte Verbraucher . Dieser erhält zukünftig
transparente, vergleichbare, ausreichende und aktuel-
le Informationen auf Basis einer klaren, verständlichen
und leicht zugänglichen Form . Das ist der Mehrwert der
Transparenzverordnung, den wir durch Produktinforma-
tionsblatt, Messtool, Abdruck der Vertragslaufzeit und
Kontrolle bei ungewöhnlich hohem Datenverbrauch be-
fördern. Wir schaffen dadurch die Voraussetzungen für
einen echten Qualitätswettbewerb, bei dem die Kunden
wissen, was sie bei den einzelnen Anbietern erhalten und
dementsprechend dann auch ihren Anbieter auswählen
können . Wettbewerb durch Transparenz!
Lassen Sie mich zum Abschluss noch einen Ausblick
geben. Seit April 2016 findet europaweit die sogenannte
TSM-Verordnung unmittelbare Anwendung, mit der die
Bereiche Netzneutralität und Roaming adressiert werden .
Gewissermaßen das Herzstück der Verordnung in Sachen
Mindestqualität stellt dabei der Artikel 4 der TSM-Ver-
ordnung dar . Dieser gibt TK-Anbietern unter anderem
vor, in ihren Verträgen klar und verständlich zu erläutern,
„wie hoch die minimale, die normalerweise zur Verfü-
gung stehende, die maximale und die beworbene Down-
load- und Upload-Geschwindigkeit von Internetzugangs-
diensten bei Festnetzen oder die geschätzte maximale und
die beworbene Download- und Upload-Geschwindigkeit
von Internetzugangsdiensten bei Mobilfunknetzen ist und
wie sich erhebliche Abweichungen von der jeweiligen
beworbenen Download- und Upload-Geschwindigkeit
auf die Ausübung der Rechte der Endnutzer . . . auswirken
http://www.breitbandmessung.de
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620648
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könnten .“ Damit die Bundesnetzagentur etwaige Verstö-
ße gegen diese Transparenzvorschriften sanktionieren
kann, benötigt sie entsprechende Sanktionsmechanismen
wie Buß- und Zwangsgelder . Diese Sanktionsmechanis-
men sollen mit dem 3. TKG-Änderungsgesetz geschaffen
werden . Der Gesetzentwurf wird, wie Sie wissen, derzeit
im Wirtschaftsausschuss beraten .
Dieses Grundkonzept der europäischen Verordnung
mit Transparenz in Kombination mit Sanktionsmöglich-
keiten durch die Bundesnetzagentur, wenn es zu Verstö-
ßen kommt, halte ich für überzeugend . Man muss beides
in Zusammenhang sehen: die Vorgaben der TSM-Ver-
ordnung in Kombination mit der Transparenz durch die
Transparenzverordnung . Wenn der Kunde weiß, was ihm
zusteht, und er nachprüfen kann, was er bekommt, ist der
Weg zu einem echten Qualitätswettbewerb geebnet .
Heute geht es um Transparenz. Und diese schaffen wir
in einem ersten Schritt durch die Verabschiedung dieser
gelungenen Verordnung .
Klaus Barthel (SPD): Gleich am Anfang der vorlie-
genden Verordnung zur Förderung der Transparenz auf
dem Telekommunikationsmarkt (TK-Transparenzver-
ordnung) steht unter „Problem und Ziel“ völlig zutref-
fend:
„Die Bundesnetzagentur hat seit Inkrafttreten der
TKG-Novelle im Endkundenmarkt insbesondere unter-
sucht, welche Informationen Anbieter zu stationären und
mobilen Breitbandanschlüssen geben . Dabei stand das
Verhältnis der vertraglich vereinbarten Datenübertra-
gungsrate und der tatsächlich gelieferten Datenübertra-
gungsrate im Fokus .
Eine Messstudie zur Dienstqualität breitbandiger In-
ternetzugänge hat ergeben, dass es in dieser Hinsicht
über alle Technologien, Produkte und Anbieter hinweg
eine deutliche Diskrepanz gibt . Gleichzeitig hat die Stu-
die deutlich gemacht, dass Transparenz bei der Leis-
tungserbringung einen großen Einfluss auf die Kunden-
zufriedenheit hat .“
Das Problem ist also schon lange bekannt und belegt.
In seiner Sitzung vom 24 . Juni 2013 hat der Beirat bei der
Bundesnetzagentur festgehalten:
„Der Beirat stellt fest, dass die Messstudie ‚Diens-
tequalität bei Breitbandzugängen‘ und die Auswertung
der Vertragsbedingungen eine deutliche Diskrepanz
zwischen vermarkteter und tatsächlich erreichter Da-
tenübertragungsrate aufzeigen . Der Beirat begrüßt, dass
die Bundesnetzagentur einen Eckpunkteentwurf vor-
gelegt hat, um die Transparenz im Endkundenmarkt zu
fördern . Vorrangiges Ziel muss es dabei sein, dem End-
kunden Transparenz darüber zu verschaffen, welche Da-
tenübertragungsrate (Mindestbandbreite) mit ihm vom
TK-Unternehmen vereinbart wird und wie er in tech-
nisch einfacher Form kontrollieren kann, ob diese Rate
auch tatsächlich zur Verfügung steht . Zugleich müssen
Sanktionsmechanismen für den Fall einer Abweichung
entwickelt werden . Insofern bittet der Beirat die Bundes-
netzagentur, von ihren Befugnissen nach § 41a Absatz 2
TKG sowie § 43a Absatz 1 Nr . 2 und Absatz 2 Nr . 3 TKG
Gebrauch zu machen . Das Bundesministerium für Wirt-
schaft und Technologie wird gebeten, zu prüfen, ob die-
ses Vorgehen der Bundesnetzagentur durch Erlass einer
Verordnung gemäß § 45n TKG unterstützt werden kann .“
Diese Verordnung liegt nun – immerhin drei Jahre
später – endlich vor .
Schon 2013 war völlig klar: Der Endkunde braucht
Transparenz, welche Datenübertragungsrate vertraglich
vereinbart wurde und wie er in technisch einfacher Form
kontrollieren kann, ob diese Rate auch tatsächlich zur
Verfügung steht .
Die jetzt vorliegende Verordnung ist ausdrücklich zu
begrüßen:
Wenn in Zukunft auf jeder Monatsrechnung der Ab-
lauf der Mindestvertragslaufzeit erscheint, hilft dies dem
Kunden bzw . Endnutzer, den Überblick zu bewahren .
Ebenso dient es der Transparenz, wenn der Verbrau-
cher bzw . Endnutzer eine transparente Informations-
möglichkeit eingeräumt bekommt im Hinblick auf sein
bislang verbrauchtes Datenvolumen – auf mindestens
tagesaktueller Basis und nach Ende des vereinbarten Ab-
rechnungszeitraumes im Wege einer Gegenüberstellung
des vertraglich vereinbarten und des tatsächlich ver-
brauchten Datenvolumens .
Besonders hervorzuheben ist hier aber das Produkt-
informationsblatt, das die Anbieter dem Verbraucher
bzw . Endnutzer in Zukunft vor Vertragsschluss zur
Verfügung stellen müssen . Es muss die wesentlichen
Vertragsbestandteile aufzeigen: Vertragslaufzeiten; mi-
nimale, normalerweise zur Verfügung stehende und ma-
ximale Datenübertragungsrate; Rahmenbedingungen zu
einer etwaigen Reduzierung der Datenübertragungsrate
(„Drosselung“) . Diese Angaben sind auch in den indivi-
duellen Verträgen deutlich hervorzuheben . Vor allem die
Angaben zur minimalen, normalerweise zur Verfügung
stehenden und zur maximalen Datenübertagungsrate sol-
len dabei helfen, dass in Zukunft die erheblichen Abwei-
chungen zwischen der in der Werbung versprochenen,
der vertraglich zugesagten und der tatsächlichen Daten-
übertragungsrate ermittelt und nachgewiesen werden
können .
Dafür ist es unerlässlich, dass der Verbraucher bzw .
Endnutzer einen Rechtsanspruch auf Information zur ak-
tuellen Datenübertragungsrate seines Mobilfunk- bzw .
Festnetzanschlusses erhält – so, wie es die Verordnung
vorsieht . Die Anbieter können eine eigene Messung an-
bieten oder auf das zukünftige Messtool der Bundesnetz-
agentur verweisen . Zur Überprüfbarkeit und Vergleich-
barkeit müssen für den Verbraucher bzw . Endnutzer „auf
einen Blick“ die vertraglich vereinbarte minimale und
maximale Datenübertragungsrate und die tatsächlich ge-
messene Datenübertragungsrate dargestellt werden . Die
Messergebnisse müssen abgespeichert und online zu-
gänglich sein . So kann der Verbraucher ohne größeren
Aufwand mehrere Messungen durchführen und seinem
Anbieter etwaige Abweichungen zwischen tatsächlicher
und vertraglich vereinbarter Datenübertragungsrate mit-
teilen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20649
(A) (C)
(B) (D)
Das von der Bundesnetzagentur in Zukunft auf der
Webseite www .breitbandmessung .de angebotene Mess-
tool spielt hier eine ganz zentrale Rolle . Wichtig und
gut ist auch, dass die Bundesnetzagentur von der durch
die Telekom-Binnenmarkt-Verordnung (TSM-Verord-
nung, Telecom Single Market/TSM-VO – Verordnung
[EU] 2015/2120) eingeräumten Möglichkeit Gebrauch
macht, einen solchen zertifizierten Überwachungs-
mechanismus nach Artikel 4 Absatz 4 dieser Verord-
nung anzubieten . Auch das Gremium Europäischer
Regulierungsstellen für elektronische Kommunikation
(GEREK – Body of European Regulators for Electronic
Communication/BEREC) erkennt das Messtool als zerti-
fizierten Überwachungsmechanismus an.
Aber genau hier beginnt das Problem bzw. endet die
Transparenz für den Endverbraucher . Denn Artikel 4 Ab-
satz 4 der TSM-Verordnung lautet:
„Jede erhebliche, kontinuierliche oder regelmäßig
wiederkehrende Abweichung bei der Geschwindigkeit
oder bei anderen Dienstqualitätsparametern zwischen
der tatsächlichen Leistung der Internetzugangsdienste
und der vom Anbieter der Internetzugangsdienste ge-
mäß Absatz 1 Buchstabe a bis d angegebenen Leistung
gilt – sofern die rechtserheblichen Tatsachen durch einen
von der nationalen Regulierungsbehörde zertifizierten
Überwachungsmechanismus festgestellt wurden – für
die Auslösung Bestimmung der Rechtsbehelfe, die dem
Verbraucher nach nationalem Recht zustehen, als nicht
vertragskonforme Leistung .“
Laut Auffassung der Bundesnetzagentur können die
Messungen der Anbieter oder über das Messtool der
Bundesnetzagentur Abweichungen bei den Übertra-
gungsraten zwar ermitteln . Bei der Frage aber, ob es sich
dabei um eine „erhebliche, kontinuierliche oder regelmä-
ßig wiederkehrende Abweichung handelt“, die nach der
TSM-Verordnung als nicht vertragskonforme Leistung
gilt, wird der Verbraucher bisher völlig alleine gelassen
und – auf der Grundlage unbestimmter Rechtsbegriffe –
den tiefen Niederungen des Leistungsstörungsrechts im
BGB und einer erst noch zu entwickelnden Rechtspre-
chung überlassen .
Nun haben wir unter anderem in der Anhörung zur
Transparenzverordnung gelernt, dass dieses Defizit nicht
der Transparenzverordnung anzulasten ist . Mangels
Ermächtigungsgrundlage können innerhalb der Trans-
parenzverordnung keine Mindestqualitäten für Inter-
netzugänge festgelegt werden . Ebenso wenig kann die
Bundesnetzagentur mangels Rechtsgrundlage im Rah-
men der Transparenzverordnung Regelungen zum Scha-
densersatz schaffen, Bußgelder vorsehen oder ein Son-
derkündigungsrecht bei erheblichen Abweichungen der
Datenübertragungsrate .
Genau das ist aber der Grund, weshalb die Transpa-
renzverordnung heute verabschiedet werden kann und
muss . Alles, was sie regelt und regeln kann, bedeutet ei-
nen großen Fortschritt für die Kundinnen und Kunden .
Die Anbieter können sich darauf einstellen, dass es in
Zukunft ein verständliches und übersichtliches Produkt-
informationsblatt geben muss, was auf der monatlichen
Rechnung stehen muss, dass und wie die Datenübertra-
gungsraten gemessen werden können . Alles das kann und
soll jetzt auf den Weg gebracht werden .
Und das, was aus auch unserer Sicht fehlt, nämlich
Klarheit über die Rechtsfolgen bei Abweichung der
Datenübertragungsraten, muss und kann nicht hier und
heute, sondern allenfalls über die ohnehin anstehende
Novellierung des Telekommunikationsgesetzes (TKG)
gelöst werden . Aber das TKG steht heute noch nicht zur
Debatte . Die Koalition sieht hier noch Beratungsbedarf .
Insoweit bietet der Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/10525 ei-
nen durchaus richtigen Ansatz – nur leider nicht für die
Transparenzverordnung. Auch wir vertreten die Auffas-
sung, dass Mindeststandards für die Qualität von Inter-
netzugängen festgelegt werden müssen – im Interesse der
Verbraucher . Es dürfen nicht erst noch zeitlich und mate-
riell aufwendige Rechtsstreite ausgefochten werden müs-
sen, bevor klar ist, was eine erhebliche, kontinuierliche
oder regelmäßig wiederkehrende Abweichung der Da-
tenübertragungsrate ist, die nach der TSM-Verordnung
unmittelbar als nicht vertragskonforme Leistung gilt . Es
liegt nicht nur nahe, sondern es ist rechtlich geboten, dies
in Einklang mit den GEREK-Leitlinien zur Netzneutra-
lität (BoR [16] 127) zu tun, die auf der Grundlage von
Artikel 55 Absatz 3 TSM-Verordnung und im Interesse
einer einheitlichen Anwendung der TSM-Verordnung in
der EU herausgegeben wurden . Es bleibt zu klären, wel-
che Möglichkeiten dafür im TKG bestehen und wie dies
europarechtskonform umgesetzt werden kann .
Tatsache ist, dass die Bundesnetzagentur über Arti-
kel 5 Absatz 1 Satz 2 TSM-Verordnung ermächtigt ist,
„Mindestanforderungen an die Dienstequalität“ vorzu-
schreiben . Sie kann Anforderungen an die verschiedenen
Geschwindigkeitsarten aufstellen (so zum Beispiel an die
minimale, normalerweise verfügbare und maximale Ge-
schwindigkeit) . Bisher vertreten Bundesnetzagentur und
Bundeswirtschaftsministerium die Auffassung, allenfalls
auf der Grundlage der derzeit im ersten Betriebsjahr
der Breitbandmessung erhobenen Daten könne sich ein
Handlungsbedarf zur Festlegung von Mindestqualitäten
ergeben . Dies ignoriert, dass die Erhebungen 2012 und
2013 längst belegt haben, in welch erheblichem Umfang
die Datenübertragungsraten über alle Technologien, Pro-
dukte und Anbieter hinweg deutlich von den beworbenen
und vertraglich zugesagten Raten abweichen . Es gibt kei-
nen Grund, diese Daten nicht als Beleg dafür zu nehmen,
dass längst Handlungsbedarf besteht . Allein die Vielzahl
der Beschwerden von Kundinnen und Kunden und unse-
re Alltagserfahrungen reichen längst aus, Handlungsbe-
darf festzustellen .
Die TSM-Verordnung ist seit November 2015 in Kraft
getreten und schreibt vor, dass die nationalen Regulie-
rungsbehörden genau überwachen und sicherstellen, dass
die Transparenzvorgaben eingehalten werden . Insoweit
sind wir mehr als skeptisch, es bei der bloßen Ermächti-
gung aus der TSM-Verordnung zu belassen und darauf zu
vertrauen, dass die Regulierungsbehörde nach Vorliegen
neuerer Daten endlich Handlungsbedarf sieht und dann
auch hinreichend konkrete Vorgaben zu den Datenüber-
tragungsraten macht .
http://www.breitbandmessung.de
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620650
(A) (C)
(B) (D)
Es kann weder im Interesse der Verbraucher noch
der Bundesnetzagentur liegen, dass hier weiter so gro-
ße Rechtsunsicherheit über die Frage herrscht, was ist in
dem Bereich eine nicht vertragskonforme Leistung ist,
wie sie zweifelsfrei festgestellt werden kann und welche
Rechtsfolgen sich daraus ergeben . Diese Rechtsunsicher-
heit dient allein den Anbietern . Auch im Straßenverkehr
ist es nicht unbedingt übliche Verwaltungspraxis, zu-
nächst einmal zu ermitteln, wie schnell die Autofahrer
auf einer Straße tatsächlich fahren, um dann erst anhand
dieser Erhebungen die zulässige Höchstgeschwindigkeit
festzulegen .
Aber zurück zur Transparenzverordnung: Das Mess-
tool der Bundesnetzagentur ist ein richtiger erster Schritt .
Es wird zu mehr Transparenz auf dem Markt führen und
hoffentlich den Druck auf die Anbieter erhöhen, auch
nur solche Übertragungsraten anzubieten, die tatsäch-
lich beim Nutzer ankommen . Die Breitbandmessung
der Bundesnetzagentur und die beabsichtige Veröffent-
lichung von Jahresberichten und statistische Analysen
zur Dienstequalität von breitbandigen Internetzugän-
gen werden das Ihre dazu beitragen . Aus unserer Sicht
muss aber zusätzlich gewährleistet sein, dass der Nutzer
schnell und eindeutig erkennen kann, dass und wie er/sie
sich bei erheblicher Unterschreitung der Übertragungs-
raten ganz praktisch wehren kann . Dabei ist das von der
SPD-Fraktion und von Verbraucherorganisationen seit
langem geforderte Sonderkündigungsrecht nur ein denk-
bares In strument von mehreren . Schon mit Beschluss des
Beirates bei der Bundesnetzagentur vom 24 . Juni 2013
wurde die Bundesnetzagentur aufgefordert, Sanktions-
mechanismen für den Fall einer Abweichung zu entwi-
ckeln .
Wir appellieren an die Bundesnetzagentur, möglichst
bald den Ergebnisbericht über das erste Betriebsjahr ihrer
Breitbandmessung vorzulegen, um auf dieser Grundlage
fundiert darüber beraten zu können, ob und welche wei-
teren Regelungen im Interesse der Verbraucher ins TKG
aufgenommen werden müssen . Damit Netzbetreiber
Kunden nicht mehr mit vagen Angeboten locken können,
die Internetgeschwindigkeiten von „bis zu …“ verspre-
chen. Damit die beworbenen Produkte von den tatsächli-
chen nicht weiter derart stark abweichen wie bisher .
Die Auswertung brauchen wir noch aus einem ande-
ren Grund . Man darf gespannt sein, was die realen Mes-
sungen ergeben – mit Blick auf die Breitbandstrategie
der Bundesregierung, wonach in einem ersten Schritt bis
Ende 2018 allen Haushalten in Deutschland mindestens
50 Mbit/s im Download zur Verfügung stehen sollen .
Denn die „Aktuelle Breitbandverfügbarkeit in Deutsch-
land (Stand 2016)“, erhoben vom TÜV Rheinland im
Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr und digi-
tale Infrastruktur, besagt zwar, dass für 71,2 Prozent der
bundesdeutschen Haushalte Bandbreiten von mindestens
50 Mbit/s im Download verfügbar sind . Allerdings: Die
Ergebnisse basieren ausschließlich auf den freiwilligen
Datenlieferungen von circa 350 Breitbandanbietern,
nicht Kunden . Ein Schelm, wer Böses dabei denkt .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns heu-
te die Transparenzverordnung auf den Weg bringen und
möglichst bald über das TKG dafür sorgen, dass das
Messtool der Bundesnetzagentur kein stumpfes Schwert
bleibt. Wichtig ist uns dabei auch die Perspektive, ausrei-
chend Druck auszuüben, um tatsächlich über den Wett-
bewerb die Ziele der Breitbandstrategie der Bundesregie-
rung vielleicht doch noch zu erreichen .
Thomas Lutze (DIE LINKE): Mit der Verordnung
für mehr Transparenz in der Telekommunikation bleibt
die Bundesregierung einmal mehr hinter dem Möglichen
zurück und bedient die Interessen der Telekommunika-
tionsunternehmen statt die der Verbraucherinnen und
Verbraucher . Zwar folgt die Telekommunikations-Trans-
parenzverordnung in einigen Punkten den umfangrei-
chen Transparenzvorgaben der Telekommunikation-Bin-
nenmarkt-Verordnung, und das begrüßen wir . Dennoch
fehlen wichtige Umsetzungsmaßnahmen . Beispielsweise
sind nach den europäischen Vorgaben von den Telekom-
munikationsanbietern auch Informationen darüber zu
leisten, wie sich die von einem Anbieter angewandten
Verkehrsmanagementmaßnahmen auf die Qualität des
Internetzugangsdienstes, die Privatsphäre der Endnutzer
und den Schutz personenbezogener Daten auswirken .
Ähnliches gilt für priorisierte Spezialdienste . Hier fehlen
die konkretisierenden Bestimmungen in Form verständ-
licher Erläuterungen für die Endnutzer, wie sich solch
priorisierte Spezialdienste in der Praxis auf ihren Inter-
netzugang auswirken können .
Neben diesem völligen Fehlen von Transparenzvor-
gaben für das Verkehrsmanagement sowie für Spezial-
dienste im Internet wurde auch die Chance verpasst, die
erstellten Transparenzvorschläge des Gremiums Euro-
päischer Regulierungsstellen für elektronische Kommu-
nikation, GEREK, für den mobilen Internetzugang auf-
zugreifen . Damit die Verbraucherinnen und Verbraucher
sich ein realistisches Bild über die geschätzten maxima-
len Datenübertragungsraten je nach Ort und Nutzungsbe-
dingungen machen können, wurde von dieser Seite vor-
geschlagen, sollten die TK-Anbieter in digitalen Karten
über die Netzabdeckung und die geschätzten sowie ge-
messenen maximalen Datenübertragungsraten informie-
ren . Das sind nur einige ausgewählte Kritikpunkte; sie
zeigen aber, dass Bundesregierung und Bundesnetzagen-
tur es erneut verpasst haben, eine verbraucherfreundliche
TK-Politik zu formulieren.
Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ein
großer Telekommunikationsanbieter bewirbt sein An-
gebot mit einer Geschwindigkeit von 16 Mbit/s . Wer
wissen will, wie viel der Anbieter davon auch tatsäch-
lich liefert, muss das Kleingedruckte lesen . Ich habe das
gemacht: Gerade einmal 6 304 Kbit/s . müssen geliefert
werden, um den Vertrag zu erfüllen, das sind nicht mal
40 Prozent der 16 Mbit/s. Da sind die Verbraucherinnen
und Verbraucher die Gelackmeierten, und das wird auch
durch diese Transparenzverordnung nicht geändert!
Nur 15,9 Prozent der Nutzer erreichen überhaupt die
volle Bandbreite . Das hat der letzte Test der Bundes-
netzagentur 2013 ergeben . Die EU hat zuletzt im Okto-
ber 2014 eine Qualitätsstudie veröffentlicht. Im europä-
ischen Durchschnitt werden gerade einmal 75,9 Prozent
der versprochenen Bandbreiten erreicht . Übersetzt heißt
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20651
(A) (C)
(B) (D)
das: statt 50 Mbit/s nur knapp 38 Mbit/s . Und Deutsch-
land lag sogar noch unter diesem Durchschnitt .
Die Antwort auf diesen Missstand ist die vorliegen-
de Transparenzverordnung . Seit 2014, also nunmehr seit
zwei Jahren, ist sie in der Mache . Dafür ist das Ergebnis
ganz schön mau . Die Internetanbieter sollen in Zukunft
auf einem standardisierten Produktinformationsblatt die
maximale Downloadbandbreite, die minimale und die
normalerweise verfügbare Surfgeschwindigkeit nennen .
Der Berg kreißte und gebar ein Informationsblatt .
Glauben Sie wirklich, dass das etwas nützt? Ich habe
nichts gegen Transparenz, im Gegenteil . Aber Transpa-
renz allein reicht nicht . Transparenz ist kein Ersatz für
verbriefte Rechte, auf die man sich berufen kann . Trans-
parenz ist kein Ersatz für Mindeststandards, die von allen
Marktteilnehmern eingehalten werden müssen .
Seit August liegen die Leitlinien von GEREK vor, der
Dachorganisation der europäischen Aufsichtsbehörden .
Diesen Leitlinien zufolge kann man für die minimale, die
maximale und die normalerweise zur Verfügung stehen-
de Bandbreite Mindestanforderungen definieren.
Genau das schlagen wir in unserem Entschließungsan-
trag vor . Wir möchten erreichen, dass die normalerweise
zur Verfügung stehende Geschwindigkeit mindestens für
95 Prozent eines Tages zur Verfügung stehen muss, und
dass zu keinem Zeitpunkt weniger als 70 Prozent der ver-
sprochenen „Bis zu“-Bandbreiten geliefert werden dür-
fen . Das wären verbraucherfreundliche Vorgaben, die Sie
sich nicht getraut haben .
Und das ist noch nicht alles . Bald wird hier die Re-
form des Telekommunikationsgesetzes auf der Tagesord-
nung stehen . Dann geht es unter anderem darum, welche
Sanktionen zur Verfügung stehen, wenn die Anbieter die
Mindestqualitätsanforderungen nicht erfüllen . Das euro-
päische Recht hat hier kürzlich vielfältige Möglichkeiten
geschaffen. Verbraucherinnen und Verbraucher können
einen pauschalierten Schadensersatzanspruch bekom-
men, wenn die Anbieter dauerhaft nicht die vertraglich
vereinbarte Leistung liefern . Denkbar sind auch Bußgel-
der, etwa in Höhe eines bestimmten Prozentsatzes vom
Jahresumsatz der Unternehmen .
All dies setzt aber voraus, dass überhaupt erst einmal
die Möglichkeit geschaffen wird, solche Vertragsverstö-
ße festzustellen. Solange die Anbieter nicht verpflichtet
sind, bestimmte Mindeststandards einzuhalten, kann
man natürlich auch keine Sanktionen für Verstöße dage-
gen festlegen – und genau das ist das Problem mit dieser
Transparenzverordnung!
Deshalb appelliere ich an Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen: Stimmen Sie unserem Antrag zu . Machen Sie
nicht nur Transparenzgedöns, sondern geben Sie Min-
destqualitätsstandards vor, die nicht unterschritten wer-
den dürfen. Schaffen Sie die Grundlage dafür, den Ver-
braucherinnen und Verbrauchern durchsetzbare Rechte
an die Hand zu geben . Zeigen Sie, dass Sie im Bereich
der Telekommunikation nicht nur die Interessen der Un-
ternehmen, sondern auch die der Verbraucherinnen und
Verbraucher im Blick haben .
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– der Beschlussempfehlung und des Berichts des
Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz
(6. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord-
neten Tom Koenigs, Omid Nouripour, Luise
Amtsberg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Keine
Straflosigkeit bei Kriegsverbrechen – Völker-
strafprozesse in Deutschland voranbringen
– des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Völ-
kerstrafgesetzbuches
(Tagesordnungspunkt 16 a und b)
Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Heute finden die
zweite und dritte Lesung zum Entwurf des Gesetzes zur
Änderung des Völkerstrafgesetzbuches statt . Dieser Ge-
setzentwurf dient der Ratifizierung der Vereinbarungen,
die auf der Konferenz in Kampala getroffen wurden, und
stellt einen großen Schritt zu einer Ächtung von Kriegs-
verbrechen dar .
Das Verbrechen der Aggression ist ein Straftatbe-
stand im Völkerstrafrecht und umfasst eine offenkundige
Verletzung der Charta der Vereinten Nationen . Der Ge-
setzentwurf dient als Schutz des friedlichen Zusammen-
lebens der Völker und gleichzeitig zum Schutz der frei-
heitlichen demokratischen Grundordnung, die auch ein
Leben in Frieden umfasst . Aus diesem Grund ist es umso
wichtiger, diese Werte auch in deutsches Recht einzubau-
en, um einen Beitrag zu einer friedlicheren und sicheren
Welt zu leisten und Kriegsverbrechen zu bestrafen . Dies
markiert einen wichtigen Schritt beim Kampf gegen die
Straflosigkeit schwerster Verbrechen, welche die inter-
nationale Gemeinschaft als Ganze betreffen, indem es
der Ausübung der Gerichtsbarkeit des IStGH über das
Verbrechen der Aggression den Weg eröffnet. Die Eini-
gung in Kampala ist das Ergebnis eines langwierigen und
mühevollen Ringens um einen Kompromiss, an welchem
die Bundesrepublik Deutschland wesentlich beteiligt
war . Dieser Gesetzentwurf verfolgt diesen Weg weiter .
Der vorliegende Gesetzentwurf schlägt mithin eine
Möglichkeit vor, mit der es gelingen kann, den Tatbestand
des Verbrechens der Aggression in das deutsche Recht zu
implementieren . Bislang regelten § 80 StGB – Vorberei-
tung eines Angriffskrieges – und § 80a StGB – Aufsta-
cheln zum Angriffskrieg – die Strafbarkeitstatbestände
im Zusammenhang mit einem Angriffskrieg in Deutsch-
land . Diese Vorschriften sollen nun durch einen neuen,
eigenständigen Straftatbestand des Verbrechens der Ag-
gression, der in das Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) ein-
gefügt wird, ergänzt werden . Es wird mithin ein neuer
§ 13 VStGB „Verbrechen der Aggression“ geschaffen.
Die Koalition hat gut gearbeitet, und ich werde im
Folgenden einige Änderungen an der vorgeschlagenen
Formulierung darstellen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620652
(A) (C)
(B) (D)
Im parlamentarischen Verfahren wurden vor allem
zwei Punkte diskutiert. Dies ist erstens die Änderung des
§ 13 Absatz 5 VStGB, welcher sich nun nur noch auf
§ 13 Absatz 2 VStGB bezieht und nicht mehr auf Ab-
satz 1 . Zweitens wird der Wortlaut in § 80a StGB von
„Aufstacheln zum Angriffskrieg“ zu „Aufstacheln zum
Verbrechen der Aggression“ geändert .
In § 13 Absatz 5 VStGB wird nun der minder schwere
Fall geregelt . Zwar sind zahlreiche Situationen denkbar,
in denen von sehr unterschiedlicher Tatschwere ausge-
gangen werden kann . Der vorliegende Gesetzentwurf
bezieht sich aber auf den Wortlaut des IStGH-Status . Im
IStGH-Statut selbst wird nicht zwischen einer völker-
rechtswidrigen Angriffshandlung und dem Verbrechen
der Aggression unterschieden . Es wäre somit also auch
darstellbar, jede einschlägige Handlung, die unter § 13
VStGB subsumiert werden kann, auch gemäß einem
„normalen“ Fall zu bestrafen . Aus diesem Grund bedarf
es keiner Sonderregelung zu einem minder schweren
Fall . Daraus erschließt sich, dass § 13 Absatz 5 VStGB
sich im Änderungsvorschlag nur noch auf Absatz 2 be-
zieht und der Bezug auf Absatz 1 komplett wegfällt . Dies
ist eine kluge Anpassung des Regierungsentwurfs in den
parlamentarischen Beratungen .
Durch die vorgeschlagene Streichung des § 80a StGB
würden in Zukunft alle Fälle, in denen ein Aufstacheln
zum Angriffskrieg vorliegt, unter § 111 StGB geprüft
werden müssen . § 111 StGB normiert aber die Strafbar-
keit des „Aufforderns“ und nicht des „Aufstachelns“. Es
würde mithin Unterschiede bei der Subsumtion geben,
und dies könnte dazu führen, dass bisher strafbares Ver-
halten „Aufstacheln“ in Zukunft straflos „Auffordern“
würde . Aus diesem Grund wird § 80a beibehalten und
lediglich der Wortlaut zu „Aufstacheln zum Verbrechen
der Aggression“ geändert .
In der bereits angesprochenen Stellungnahme des
Bundesministeriums des Innern wird ausgeführt: Durch
§ 13 Absatz 3 VStGB werden im Einklang mit dem Völ-
kerrecht nur Angriffshandlungen erfasst, die einem Staat
nach den Regeln des Völkerrechts zugerechnet werden
können . Der nationale Gesetzgeber kann im Rahmen
seiner Jurisdiktion aber weitergehen, als dies die völ-
kerrechtliche Umsetzungspflicht verlangt. Es besteht ein
rechtspolitisches Interesse daran, auch nichtstaatliche
Akteure – wie zum Beispiel Terrormilizen – in den An-
wendungsbereich von § 13 VStGB mit einzubeziehen .
Dies gilt zumindest, sofern deren Handlungen mit Ag-
gressionshandlungen vergleichbar sind . Rechtstechnisch
wäre eine Erweiterung des § 13 VStGB um Handlungen
bewaffneter nichtstaatlicher Terrorgruppen, die Anschlä-
ge in Deutschland verüben bzw . solche Handlungen pla-
nen, denkbar gewesen . Alternativ hätten §§ 129a, b StGB
um einen solchen Tatbestand ergänzt werden können .
Eine entsprechende Regelung würde allerdings nicht
in § 13 VStGB eingefügt . Dies ist auch nachvollziehbar .
Vielmehr hätte ich mir gewünscht, dass die §§ 129a, b
StGB ergänzt werden . Bei einer Erweiterung des § 13
VStGB auf nichtstaatliche Akteure könnte man nach
einem Terroranschlag im Innern zu der Auffassung ge-
langen, dass bereits ein Angriffskrieg vorliegt, und die-
sen dann dem Staat, von dem die Terroristen kommen,
zurechnen . Dies würde zu einer nicht hinnehmbaren
völkerrechtlichen Gefahr für den Frieden führen und
muss deshalb abgelehnt werden . Eine Verschärfung der
§§ 129a, b StGB wäre aber begrüßungswert, um terroris-
tische Angriffe gezielter verfolgen zu können. Mitunter
sollte in Zukunft auch vor dem Hintergrund hybrider Ge-
fahren hierbei nachgedacht werden .
Der nun vorliegende Gesetzentwurf enthält viele be-
grüßenswerte Regelungen, die einen wichtigen Beitrag
zur Schließung der Lücke der völkerrechtlichen Strafbar-
keit leisten . Ich würde mich aus diesem Grund freuen,
wenn alle Fraktionen diesem Entwurf nun zustimmen
könnten .
Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Völkermord, Kriegs-
verbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und
das Verbrechen der Aggression . Für diese schweren
Verbrechen wurde mit dem Römischen Statut des In-
ternationalen Strafgerichtshofs eine Gerichtsbarkeit
für eine Aburteilung geschaffen. Diese Statuten bilden
seit Inkrafttreten am 1. Juli 2002 elementare Pfeiler im
weltweiten Völkerrecht . Für die Aburteilung der Völker-
rechtsverbrechen ist seit 2002 der Internationale Strafge-
richtshof berufen .
Es ist mit Sorge zu beobachten, dass das Völkerstraf-
recht mit dem Internationalen Strafgerichtshof eine Legi-
timationskrise zu durchlaufen scheint . Weiterhin lehnen
einige wichtige Länder, so zum Beispiel die Vereinigten
Staaten von Amerika, den Internationalen Strafgerichts-
hof ab . Durch den Abschluss bilateraler Verträge mit
Mitgliedsländern des IStGH versuchen die USA, eine
Überstellung von US-Staatsangehörigen an den IStGH
vorsorglich auszuschließen . Zudem haben Südafrika und
Burundi den Austritt aus dem IStGH im Oktober 2016
bekanntgegeben . In Namibia und Kenia gibt es eben-
falls Erwägungen zum Austritt . Mit dem Rückzug der
Unterschrift Russlands hat sich ein weiteres Land vom
Internationalen Strafgerichtshof entfernt . Seien die Hin-
tergründe für die Entscheidung zur Abkehr der einzelnen
Länder auch noch so tiefgreifend und spezifisch, ist diese
Entwicklung eine Tendenz in die falsche Richtung .
Entgegen der Tatsache, dass sich die Gerichtsbarkeit
nur auf Verbrechen erstreckt, welche nach dem Inkraft-
treten des Römischen Statuts begangen wurden, wurde
doch in bisher 23 Fällen für Gerechtigkeit und juristische
Aufarbeitung gesorgt . Der Internationale Strafgerichts-
hof stellt somit eine tragende Säule der internationalen
Rechtsprechung dar .
Um eine gerechte und einheitliche Grundlage auf in-
ternationaler Ebene und im Interesse aller teilnehmenden
Staaten zu schaffen, haben sich die Mitgliedstaaten auf
der Überprüfungskonferenz in Kampala im Jahr 2010 auf
weitere Punkte einigen können. Konnte man sich bisher
nicht auf eine Definition des Verbrechens der Aggression
einigen, so gelang 2010 eben dies . Auch der Streit über
die Rolle des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen bei
der Entscheidung, ob ein Akt der Aggression vorliegt,
konnte beigelegt werden. So muss nun eine offenkundige
Verletzung der Charta der Vereinten Nationen vorliegen .
Als konkretes Beispiel wird ein Angriffskrieg genannt.
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20653
(A) (C)
(B) (D)
Deutschland hat neben 27 anderen Staaten die Änderun-
gen ratifiziert.
Die Vorbereitung eines Angriffskriegs ist derzeit nach
§ 80 StGB strafbar und setzt die verfassungsrechtlichen
Vorgaben aus Artikel 26 GG um . Mit der Verlagerung in
das VStGB verschiebt sich der Charakter der Aggression
von einem Staatsschutz- hin zu einem Weltfriedensde-
likt . Dies entspricht einer völkerrechtsfreundlichen Um-
setzung . Das Verbrechen der Aggression wendet sich als
Führungsverbrechen gegen Personen eines Staates, die
tatsächlich in der Lage sind, das politische oder militäri-
sche Handeln zu kontrollieren und zu lenken .
Im Zuge der Verfolgungszuständigkeit gilt dennoch
unabdingbar der Grundsatz der Komplementarität . Dies
bedeutet, dass der Internationale Strafgerichtshof nur
dann aktiv wird und die Strafverfolgung ausübt, wenn
die nationalen Behörden und Gerichte hierzu nicht in der
Lage sind . Dies wird vor allem in labilen Staaten ohne
eine unabhängige Justiz der Fall sein . Wir können mit
Stolz sagen, dass wir in Deutschland nicht betroffen sind.
Wir haben einen funktionierenden Rechtsstaat mit un-
abhängigen Gerichten zur Aburteilung von Völkerrechts-
verbrechen . Die Ergebnisse der Konferenz von Kampala
finden sich als neuer Straftatbestand des Verbrechens der
Aggression im Binnenrecht umgesetzt . Das Völkerstraf-
recht erfährt seine Vervollständigung . Der richtige Ort
ist das Völkerstrafgesetzbuch. Dort finden sich auch die
anderen aufgezählten völkerrechtlichen Kernverbrechen .
Damit kommt das Verbrechen der Aggression als schwe-
re Völkerstraftat zur Geltung . In diesem Zusammenhang
findet sich der erwähnte Straftatbestand der Vorbereitung
eines Angriffskrieges nun auch in der Definition des Ver-
brechens der Aggression im Völkerstrafgesetzbuch wie-
der .
Gleichwohl können wir uns glücklich schätzen, dass
der bisherige Tatbestand der Vorbereitung eines Angriffs-
krieges nur wenig praktische Relevanz hat . Anzeigevor-
gänge führten regelmäßig schon zu keiner Einleitung
eines Ermittlungsverfahrens . Dies zeigt, dass die Bun-
desrepublik Deutschland sich derzeit keinen Gefahren
durch solche Straftaten ausgesetzt sieht .
Dirk Wiese (SPD): Die schrecklichen Bilder, die uns
diese Tage wieder aus der Welt, insbesondere aus Aleppo
erreichen, sind an Grausamkeit kaum zu überbieten . Sie
laufen täglich über unsere Bildschirme, sie begleiten uns
auf dem Handy, in den Nachrichten, in den Zeitungen . So
traurig das klingen mag, sie gehören derzeit zu unserem
Alltag . Wir dürfen aber trotzdem nicht abstumpfen, die
Bilder relativieren oder als gegeben hinnehmen . Denn
das Grauen vor Ort ist real .
Der Kollege Achim Post hat die Gefühlslage vieler
von uns in Bezug auf Syrien auf den Punkt gebracht, als
er in einer der vergangenen Aktuellen Stunden davon
sprach, dass wir seit Jahr und Tag zwischen Hoffnung
und Verzweiflung, zwischen kleinen diplomatischen
Fortschritten und Ohnmachtsgefühlen, zwischen Mög-
lichkeiten und Misserfolg schwanken .
Auch wenn derzeit keine diplomatische Lösung in
Sicht ist und die Verhandlungen um einen Frieden derzeit
schwerer denn je sind, muss die Weltgemeinschaft aber
zusammenstehen und eines klar machen: Wer sein eige-
nes Volk tötet, foltert, aushungert und vertreibt, begeht
systematische Verbrechen gegen die Menschlichkeit .
Wer Frauen und Kinder bombardiert, wer Krieg gegen
die eigene Zivilbevölkerung führt, dem gebührt nur eins:
ein Platz auf der Anklagebank des Internationalen Straf-
gerichtshofs in Den Haag .
Für die Weltgemeinschaft muss feststehen, dass solche
Taten nicht ungesühnt bleiben dürfen . Wir dürfen nicht
zulassen, dass die abscheulichsten Verbrechen ungestraft
bleiben . Das Recht darf vor Verbrechen nicht kapitulie-
ren, auch wenn diese von historischem Ausmaß sind .
Das ist der Grundgedanke, der uns von den Nürnberger
Prozessen, dem Ursprung, sozusagen der Stunde null des
Völkerstrafrechtes, über die Strafprozesse der Internati-
onalen Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien
und für Ruanda und schließlich durch die Verabschie-
dung des Römischen Statuts zu dem Internationale Straf-
gerichtshof in Den Haag führte . Ein Grundgedanke, der
in diesen Zeiten, in denen das Grauen des Krieges wieder
so präsent ist, wichtiger denn je ist und an dem festzuhal-
ten unsere oberste Pflicht ist. Deshalb ist es auch an uns,
das Instrument des Internationalen Strafgerichtshofs wei-
ter zu stärken und der übergeordneten Gerechtigkeit im
Sinne von Gustav Radbruch zur rechtsstaatlichen Durch-
setzung auf multilateraler Ebene zu verhelfen . Oder um
es mit den Worten Willy Brandts zu sagen: „Wo immer
schweres Leid über die Menschen gebracht wird, geht es
uns alle an . Vergesst nicht: Wer Unrecht lange geschehen
lässt, bahnt dem nächsten den Weg .“
Der völkerrechtliche Grundsatz der Komplementarität
verlangt, dass die in die Zuständigkeit des IStGH fallen-
den Verbrechen auch durch nationale Behörden verfolgt
werden können . Dieser Anforderung kommen wir heute
nach, indem wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
die Beschlüsse der Vertragsstaatenkonferenz von Kam-
pala im Jahr 2010 umsetzen . Dadurch kann der IStGH ab
dem 1. Januar 2017 völkerrechtswidrige Angriffskriege
bestrafen, ein wichtiger Schritt; denn das „Verbrechen
der Aggression“ war schon in den Nürnberger Kriegs-
verbrecherprozessen nach dem Zweiten Weltkrieg als
schwerstes internationales Verbrechen angesehen wor-
den, bislang aber leider nicht kodifiziert.
Lassen Sie mich kurz ein paar Worte zur Kritik sagen,
die gestern im Rechtsausschuss vonseiten der Opposition
geäußert wurde . Es ging darum, dass die Strafverfolgung
bezüglich des Verbrechens der Aggression nicht dem
Weltrechtsprinzip unterstellt wird . Unabhängig davon,
dass eine solche Regelung unsere Staatsanwaltschaften
überlasten würde, da sie solche Fälle detaillierten Prü-
fungsverfahren unterziehen müsste, sind wir uns doch
alle einig, dass solche Fälle schon allein wegen ihrer au-
ßenpolitischen Dimension vor ein internationales Gericht
gehören . Deshalb haben wir uns für diesen Fall auch be-
wusst gegen das Weltrechtsprinzip entschieden . Im Üb-
rigen hat das auch eine positive Wirkung auf den IStGH .
Denn durch den eingeschränkten Geltungsbereich des
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620654
(A) (C)
(B) (D)
nationalen Strafrechts wird hier die Zuständigkeit und
damit die Bedeutung des IStGH gestärkt werden .
Sie sehen, mit dem Gesetzentwurf komplementieren
wir die Werkzeuge des IStGH . Das ist richtig und wich-
tig!
Zum Schluss möchte ich noch einmal auf meine Ein-
gangssätze zurückkommen . Ich möchte diejenigen, die
meinen, sie könnten heute walten und schalten, wie sie
wollen, und im rechtsfreien Raum ungestraft Verbrechen
begehen, an Artikel 29 des Römischen Statuts des IStGH
erinnern, der da lautet: „Die der Gerichtsbarkeit des Ge-
richtshofs unterliegenden Verbrechen verjähren nicht .“
Wir haben Zeit . Wir vergessen nicht . Wir werden An-
klage erheben .
Ulla Jelpke (DIE LINKE): In der heutigen Debatte
geht es darum, den Straftatbestand der Aggression im
Völkerstrafgesetzbuch zu verankern . Vereinfacht gesagt:
Wer einen Angriffskrieg führt, soll angeklagt und bestraft
werden .
Bislang ist ja im deutschen Strafrecht nur die Vorbe-
reitung eines Angriffskrieges, nicht aber seine Führung
mit Strafe bedroht . Mit diesem Hinweis hat sich die
Bundesanwaltschaft geweigert, Ermittlungen wegen der
deutschen Teilhabe am Irakkrieg aufzunehmen: „Nach
dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift ist nur die Vor-
bereitung an einem Angriffskrieg und nicht der Angriffs-
krieg selbst strafbar“, erklärte die Bundesanwaltschaft
damals . Dieser Zustand verlangt natürlich dringend nach
einer Korrektur . Nur: Was die Koalition hier vorlegt, ist
eine Verschlimmbesserung, der wir unsere Zustimmung
versagen .
Es sind zwei Punkte, die aus Sicht der Linken beson-
ders kritisch sind: zum einen der Verzicht auf das soge-
nannte Weltrechtsprinzip, zum anderen die pauschale
Herausnahme sogenannter humanitärer Einsätze aus der
Strafbarkeit .
Zum ersten Punkt: „Weltrechtsprinzip“ meint, dass
Straftaten gegen das Völkerrecht, zum Beispiel Geno-
zid oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit, überall
auf der Welt juristisch verfolgt werden können . Auch die
deutsche Justiz darf einen Täter belangen, selbst wenn
er nicht Deutscher ist und die Tat nicht in Deutschland
begangen hat . Es soll keine sicheren Häfen für Kriegs-
verbrecher geben .
Von diesem Prinzip weicht die Bundesregierung hier
ab: Das Führen und Vorbereiten eines Angriffskrieges
soll in Deutschland nur strafbar sein, wenn der Täter ent-
weder Deutscher ist oder es sich um einen Angriffskrieg
gegen Deutschland handelt .
Der Sachverständige Robert Frau hat in der Anhörung
zurecht darauf hingewiesen, dass unser Grundgesetz
„Handlungen … insbesondere die Führung eines An-
griffskrieges“ verbietet, und nicht lediglich „Handlungen
von Deutschen“ oder „Angriffskriege durch Deutsche“.
Es stellt sich also schon die Frage, warum gerade an die-
sem Punkt vom Weltrechtsprinzip abgewichen wird.
Die Gesetzesbegründung gibt darauf den Hinweis auf
die „außenpolitische Relevanz“ . Im Klartext heißt das:
Die Bundesregierung will ihre Verbündeten aus EU und
NATO schützen . Denn gerade die USA unternehmen ja
ganz gerne mal einen Angriffskrieg – im Falle des Luft-
waffenstützpunktes Rammstein auch gerne mal von deut-
schem Boden aus . Und die Bundesregierung will verhin-
dern, dass hohe US-Militärs oder Politiker deswegen in
Deutschland angeklagt werden . Eine Krähe hackt der
anderen kein Auge aus, um nichts anderes geht es hier .
Der andere Punkt dreht sich um die Frage, was ei-
gentlich ein Angriffskrieg bzw. das Verbrechen der Ag-
gression ausmacht . Da liefert der Gesetzestext ja eini-
ge Hinweise, die wir durchaus unterschreiben würden:
Angriffshandlungen seien, heißt es da, eine „gegen die
Souveränität, die territoriale Unversehrtheit oder die
politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete An-
wendung von Waffengewalt“. Das Gesetz enthält eine
sogenannte Erheblichkeitsschwelle, um nur „offenkun-
dige Verletzungen“ des Völkerrechts und nicht kleinere
Grenzscharmützel zu treffen.
Doch die Art und Weise, wie die Bundesregierung die
„Offenkundigkeit“ von Völkerrechtsverletzungen inter-
pretiert, geht dabei eindeutig zu weit . Das zeigt sich in
der Begründung, in der es heißt: „Rechtlich umstrittene
Einsätze, wie im Rahmen humanitärer Interventionen …
sollen davon gerade nicht erfasst werden und damit nicht
als Aggressionsverbrechen strafbar sein .“
Damit wird eine ganze Kategorie von Kriegen aus
dem Geltungsbereich des Gesetzes herausgenommen .
Denn es gibt doch heute keinen Krieg mehr, der nicht als
humanitäre Intervention verharmlost wird . Noch der ge-
meinste Diktator behauptet, mit Bomben und Gewehren
Gutes zu tun . Für die westlichen Militärbündnisse gilt
das genauso .
Nehmen wir nur den Überfall der NATO auf Jugosla-
wien im Jahr 1999 . Es gab kein UN-Mandat . Der Krieg
war eine gegen die Souveränität und politische Unab-
hängigkeit Jugoslawiens gerichtete Anwendung von
Waffengewalt, um noch einmal den Gesetzeswortlaut zu
zitieren . Die Linke würde es sehr begrüßen, wenn solch
ein Verhalten künftig eine Gefängnisstrafe für die verant-
wortlichen Politiker nach sich ziehen würde.
Nur: Das ist gar nicht beabsichtigt . Denn schon
SPD-Kanzler Gerhard Schröder und Grünen-Außen-
minister Joseph Fischer haben damals den Etiketten-
schwindel vom humanitären Einsatz benutzt, um eine
von eiskalten politischen Interessen geleitete bewaffnete
Aggression zu legitimieren .
Anderes Beispiel: Der Irakkrieg 2003, den der dama-
lige US-Präsident Bush mit der verlogenen Behauptung,
Saddam Hussein besitze Massenvernichtungswaffen,
vom Zaun gebrochen und damit den gesamten Mittleren
Osten bis heute in Flammen gesetzt hat .
Deutschland leistete Beihilfe mit Überflugrechten für
das US-Militär . Obwohl das Bundesverwaltungsgericht
diesen Krieg als völkerrechtswidrig bezeichnete, beschö-
nigt ihn die Bundesregierung in einer windigen Argu-
mentation als lediglich fragwürdig oder umstritten .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20655
(A) (C)
(B) (D)
Was muss denn noch passieren, bevor die Bundes-
regierung einen Krieg als „offenkundigen“ Bruch der
UN-Charta bezeichnet?
Nehmen wir den Krieg gegen Libyen im Jahr 2011 .
Die UN hatte lediglich eine Flugverbotszone beschlos-
sen, aber die NATO verübte massive Bombardierungen
des Landes, um die Aufständischen zu unterstützen .
Auch das wurde mit der Generalfloskel vom „humanitä-
ren Einsatz“ verteidigt .
Ich fasse zusammen: Die Linke ist unbedingt dafür,
das Verbrechen des Angriffskrieges zu ahnden. Wir wür-
den diesem Gesetzentwurf sofort zustimmen, wenn es
Aussichten dafür gäbe, auch das aggressive Verhalten
der NATO-Staaten, inklusive der Bundesrepublik selbst,
zum Fall für die Gerichte zu machen . Aber darum geht es
hier gar nicht .
Denn die Behauptung von Justizminister Heiko Maas,
der Gesetzentwurf stelle Angriffskriege „umfassend“
unter Strafe, ist gelogen . Die Bundesregierung will viel-
mehr einen pauschalen Freibrief für all jene Kriege, die
sie selbst unternimmt, ob im Rahmen der NATO, der EU
oder einer anderen Konstellation .
Letzten Endes geht es damit um nicht weniger als da-
rum, die kriegerische Politik der imperialistischen Staa-
ten zu legalisieren . Dem wird sich Die Linke entschieden
widersetzen .
Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Im
Oktober haben Burundi, Südafrika und Gambia ihren
Rücktritt vom Römischen Statut verkündet . Erstmals
in der Geschichte des Internationalen Strafgerichtsho-
fes sind damit drei der 124 Mitgliedstaaten ausgetreten .
Auch Russland, welches allerdings nie Mitglied des
ICC war, hat seine Zustimmung zum Römischen Statut
zurückgezogen . Anders als in manchen Medien kolpor-
tiert, bedeutet dies nicht gleich den Anfang vom Ende
des Internationalen Strafgerichtshofes . Es muss uns aber
eine Mahnung sein, die strukturellen, politischen und
rechtlichen Probleme, mit denen sich der Internationale
Strafgerichtshof in der Praxis konfrontiert sieht, ernst zu
nehmen .
Mit Blick auf die drei ständigen Sicherheitsratsmit-
glieder USA, Russland und China, die nicht Mitglied
des Internationalen Strafgerichtshofes sind, bemerkte
Kofi Annan vor einigen Tagen ganz richtig in der Süd-
deutschen Zeitung: „Diejenigen, die eine globale Füh-
rungsrolle für sich beanspruchen, sollten auch beim ICC
beispielhaft vorangehen . Zudem wurde die Qualität der
Ermittlungen des Strafgerichtshofs infrage gestellt, wie
auch die langwierigen Verhandlungen, die er führt, sowie
seine Fähigkeit, Zeugen zu beschützen . Diese Unzuläng-
lichkeiten müssen angegangen werden . Sie müssen aber
Gründe dafür sein, den Gerichtshof bei seinen Anstren-
gungen, sie zu beseitigen, zu unterstützen – und nicht da-
für, ihn zu verlassen . Immerhin ist der Gerichtshof eine
der bedeutendsten Errungenschaften der internationalen
Gemeinschaft seit dem Ende des Kalten Krieges .“ Ja, es
ist und bleibt eine große Errungenschaft, dass der Inter-
nationale Strafgerichtshof über Täterinnen und Täter von
Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit
und Kriegsverbrechen richtet . Diese Menschen, die an-
deren so viel Leid zugefügt haben, sollen nirgends mehr
sicher sein – vor Strafverfolgung .
Diesem Zweck dient auch das deutsche Völkerstraf-
gesetzbuch . Auch dieses gibt es wie den Internationalen
Strafgerichtshof erst seit 2002 . Das Völkerstrafgesetz-
buch hat seinen Praxistest bestanden. Das hat der erste
Prozess auf seiner Grundlage gezeigt, der letztes Jahr
(erstinstanzlich) zu Ende gegangen ist .
Doch Völkerstrafprozesse sehen sich nicht nur in-
ternational, sondern auch in Deutschland prozessualen
Problemen gegenüber. Die adäquate Einbindung von Ne-
benklägerinnen und Nebenklägern, die Frage der Anony-
misierung von Zeugenaussagen, die Anwendbarkeit des
§ 244 Absatz 5 Satz 2 Strafprozessordnung und die Er-
stellung eines Wortprotokolls sind einige Beispiele . Ein
Völkerstrafprozess, bei dem der Tatort oft Tausende von
Kilometern entfernt ist, dessen politische und histori-
sche Kontexte kompliziert und Sprache und Kultur ganz
fremd sind, ist eine komplexe Sache . Da müssen neben
den angesprochenen prozessualen Parametern auch die
strukturellen Rahmenbedingungen stimmen .
Lassen Sie mich ein praktisches Beispiel geben: Im
Jahr 2013 hat die Zentralstelle für die Bekämpfung von
Kriegsverbrechen und weiteren Straftaten nach dem Völ-
kerstrafgesetzbuch (ZBKV) 25 Hinweise auf Straftaten
nach dem Völkerstrafgesetzbuch erhalten . Zwei Jahre
später waren es 2 149 . Diese enorme Zunahme von Hin-
weisen ist natürlich auf die gestiegene Zahl von Geflüch-
teten zurückzuführen . Mehr Hinweise bedeuten mehr Be-
weismittel und letztlich weniger Straflosigkeit. Sie sind
also sehr zu begrüßen . Um all diese Hinweise bearbeiten
und die eingeleiteten Ermittlungsverfahren schnell und
effektiv durchführen zu können, müssen aber auch die
personellen und finanziellen Kapazitäten der ZBKV und
des Völkerstrafrechtsreferats beim Generalbundesan-
walt aufwachsen. Darüber waren sich in der öffentlichen
Anhörung zu unserem Antrag „Keine Straflosigkeit bei
Kriegsverbrechen – Völkerstrafprozesse in Deutschland
voranbringen“ (Drucksache 18/6341) auch alle Fraktio-
nen und Experten einig .
Auch unser Vorschlag, eine interdisziplinäre Arbeits-
gruppe aus Vertreterinnen und Vertretern der Strafrechts-
lehre und -praxis sowie aus der Zivilgesellschaft ein-
zusetzen, die sich mit der Lösung der angesprochenen
prozessualen Probleme befassen, fand große Zustim-
mung. Der Sachverständige Professor Werle gab dem
Kind auch gleich einen Namen: „Arbeitsgruppe Völker-
strafrechtspraxis“ .
Doch so groß die Zustimmung während der Anhö-
rung über Fraktionsgrenzen hinweg war, so sehr hat die
Union unsere Versuche, einen interfraktionellen Antrag
dazu hinzubekommen, verschleppt und letztlich schei-
tern lassen – sowohl im Rechts- wie auch im Menschen-
rechtsausschuss . Das ist sehr schade, und ich vermute,
irgendetwas wird den Kolleginnen und Kollegen von der
Koalition auch heute einfallen, um unseren Antrag abzu-
lehnen . Gleichzeitig werden wir hier Lamenti über die
Austritte aus dem ICC hören .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620656
(A) (C)
(B) (D)
Doch hier, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben Sie
heute die Gelegenheit, ganz konkret etwas für die Lösung
der prozessualen und strukturellen Probleme von Völ-
kerstrafprozessen in Deutschland zu tun, einen Beitrag
für mehr und bessere Völkerstrafprozesse in Deutsch-
land zu leisten – das wäre mehr wert als Klagen über den
Status quo oder abstrakte Bekenntnisse zum Völkerstraf-
recht .
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Än-
derungen der EU-Amtshilferichtlinie und von
weiteren Maßnahmen gegen Gewinnkürzungen
und -verlagerungen
– zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Thomas Gambke, Kerstin Andreae,
Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN: Mit Transparenz Steuervermeidung
multinationaler Unternehmen eindämmen –
Country-by-Country-Reporting einführen
– zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Thomas Gambke, Kerstin Andreae,
Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN: Steuerschlupflöcher schließen – Ge-
winnverlagerung durch Lizenzzahlungen
einschränken
(Tagesordnungspunkt 17 a und b)
Markus Koob (CDU/CSU): Ich will gleich zu Be-
ginn anmerken, dass mein Themenbereich – steuerli-
cher Familienleistungsausgleich – nur begrenzt was mit
Maßnahmen gegen Gewinnkürzungen und -verlagerun-
gen zu tun hat . Deswegen werde ich mich nur auf den
Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen beziehen, der
die Anpassungen beim Kinderfreibetrag, Kindergeld,
Arbeitnehmer-Grundfreibetrag und Kinderzuschlag zum
Gegenstand hat .
Der unbeteiligte Zuhörer wird sich sicherlich fragen,
wie das miteinander zusammenhängt? Was hat der Kin-
derfreibetrag mit Steuergestaltung multinationaler Un-
ternehmen zu tun? Und welche Konsequenzen soll die
Pflicht zu Country-by-Country-Reports auf meine Steu-
ererklärung als Arbeitnehmer haben?
Die Erklärung ist viel einfacher und pragmatischer:
Wir haben diesen Änderungsantrag zu den Anpassungen
steuerlicher Freibeträge vor allem aus umsetzungsprakti-
schen Gründen in dieses Verfahren integriert, damit wir
eine rechtzeitige und praxisgerechte Umsetzung ermögli-
chen . Denn der Gesetzgeber hat nicht nur für die theore-
tische Normierung, sondern auch für die Auswirkungen
in der Praxis eine Verantwortung. Wenn uns Wirtschaft,
Steuerbehörden aber auch die Arbeitnehmer schon oft
erklärt haben, dass rückwirkende und unterjährige An-
passungen im Steuerrecht immer einen immensen admi-
nistrativen Mehraufwand bedeuten, den man durch vo-
rausschauendes Handeln vermeiden sollte, sind wir gut
beraten, darauf einzugehen .
Daher ist uns daran gelegen, das Verfahren noch
in diesem Jahr abzuschließen, damit pünktlich ab dem
1 . Januar 2017 auf einer sicheren Rechtsgrundlage mit
den neuen Freibeträgen operiert werden kann – in den
Steuerverwaltungen, in den Personalbüros aber auch in
den Privathaushalten. Das betrifft schließlich jeden Ar-
beitnehmer, der sich um seinen Lohnsteuerfreibetrag im
neuen Jahr 2017 kümmern muss und dann bereits pünkt-
lich zu Jahresbeginn mehr Netto vom Brutto einplanen
kann .
In der Sache geht es um die verfassungsrechtlich ge-
botene Anhebung der steuerlichen Freibeträge – also
sowohl des Grundfreibetrages wie auch des Kinderfrei-
betrages – für die Jahre 2017 und 2018 . In zwei Etap-
pen möchten wir bis 2018 den Kinderfreibetrag auf
4 788 Euro und den Grundfreibetrag auf 9 000 Euro
anheben . Bei den Familien, bei denen sich der Kinder-
freibetrag nicht auswirkt, werden wir im selben Verhält-
nis das Kindergeld anpassen . Auch der Kinderzuschlag
wird um monatlich 10 Euro auf 170 Euro erhöht . Die-
ser Kinderzuschlag wird denjenigen Eltern gewährt, die
mit ihrem Erwerbseinkommen zwar den eigenen Bedarf
nach dem Sozialgesetzbuch II decken können, bei denen
dieses Erwerbseinkommen aber nicht ausreicht, um den
Bedarf ihrer Kinder hinreichend zu decken .
Neben diesen Anpassungen werden wir die kalte Pro-
gression abmildern, die von den Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern zu Recht als Gerechtigkeitsfrage wahr-
genommen wird . Wenn die komplexen Wechselwirkun-
gen von Inflation und Lohnerhöhung im Kontext eines
progressiven Steuertarifs zu unerwünschten Ergebnissen
führen, müssen kluge Gesetzgeber darauf reagieren . Und
da an der Klugheit und Schaffenskraft dieser Koalition ja
nun wirklich kein Zweifel besteht, ist es gut, dass wir un-
sere Steuertarife zugunsten der arbeitenden Bevölkerung
für die nächsten beiden Jahre anpassen . Das sind wir den
Menschen, die morgens aufstehen, ihrer Beschäftigung
nachgehen und damit zum Wohlstand und zur Wohlfahrt
unseres Landes beitragen, auch schuldig .
Ich sage aber auch klar: Man muss immer das Ganze
sehen, und die familienpolitische Gesamtbilanz dieser
Wahlperiode kann sich sehen lassen . Erst letzte Woche
haben wir beschlossen, den Etat des Familienministeri-
ums für das Jahr 2017 mit 9,5 Milliarden Euro auszustat-
ten . Das sind zwei Milliarden Euro mehr als zu Beginn
der Wahlperiode . Das zeigt auch, welch hohen Stellen-
wert die Familien in diesem Land für uns haben .
Wir haben hier also ein Paket, das eine Einzelmaß-
nahme unter vielen darstellt und das Familien, Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmern, Steuerzahlerinnen und
Steuerzahlern weitere Milliarden Entlastungen bringt –
ab 2018 beträgt die Jahreswirkung der steuerlichen Ent-
lastung 6,3 Milliarden Euro . Das tun wir, ohne im Wider-
spruch zum übergeordneten Ziel der schwarzen Null zu
stehen . Das zeigt einmal mehr, dass eine kluge Finanz-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20657
(A) (C)
(B) (D)
politik öffentliche Investitionen, Entlastung der Bürger
und Augenmaß bei Ausgaben gut miteinander verbinden
kann . Dieser Maßnahme können und sollen – wenn es
nach meiner Partei geht – auch weitere, notwendige steu-
erliche Entlastungen für die Steuerzahlerinnen und Steu-
erzahler folgen . Über Letzteres werden wir uns sicherlich
im Wahlkampf auseinandersetzen, für heute erbitte ich
Ihre Zustimmung zu unserem Änderungsantrag .
Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU): Erstens . Es
bleibt dabei: Mit der Vereinbarung des internationalen
Informationsaustausches von Steuer- und Unternehmens-
daten hat die Staatengemeinschaft auf die Beobachtung
der vergangenen Jahre reagiert, wonach Großkonzerne
wie Facebook, Google und Starbucks durch Ausnutzung
unterschiedlicher Steuersysteme ihre Steuerlast auf ein
Minimum senken konnten . Verantwortlich für diesen
Missstand waren vor allem unzureichende Informati-
onen der Steuerbehörden über Auslandssachverhalte .
Der Informationsaustausch ist deshalb zentraler Teil des
Programmes gegen „Die Aushöhlung von Steuerbemes-
sungsgrundlagen und Gewinnverlagerung“ (Base Ero-
sion and Profit Shifting – kurz BEPS), das Bundesfinanz-
minister Wolfgang Schäuble bereits im Jahr 2012 auf
Ebene der G 20 und der OECD mitinitiiert hatte .
Aktionspunkt 13 des BEPS-Programmes sieht die
Einführung eines verpflichtenden automatischen Infor-
mationsaustauschs der Steuerbehörden über länderbezo-
gene Berichte von Unternehmen, das sogenannte Coun-
try-by-Country Reporting vor . Die Steuerverwaltungen
sollen damit Informationen über die globale Aufteilung
der Erträge und die entrichteten Steuern sowie über wei-
tere Indikatoren der Wirtschaftstätigkeit von international
tätigen Unternehmen erhalten . Mit dem heute vorliegen-
den Gesetz setzen wir Aktionspunkt 13 und die entspre-
chende EU-Richtlinie nun in nationales Recht um .
Bezugnehmend auf den hier ebenfalls vorliegenden
Antrag der Grünen möchte ich auf einen ganz zentralen
Bestandteil des Informationsaustausches eingehen:
Die Daten werden nach diesem Gesetz nur den Steu-
erbehörden übermittelt und nicht veröffentlicht. Die G 20
und OECD haben dabei aus wohlerwogenen Gründen auf
ein öffentliches Country-by-Country Reporting verzich-
tet .
Auf europäischer Ebene hat die Kommission nun aber
einen weiteren Regelungsvorschlag für die Umsetzung
des Country-by-Country Reportings vorgelegt, mit dem
eine Publizität des Country-by-Country Reportings ge-
genüber der allgemeinen Öffentlichkeit erreicht werden
soll . Gleiches fordern nun auch die Grünen .
Die EU-Kommission hat dafür einen Regelungsweg
gewählt, mit dem wohl das für Ertragssteuerfragen not-
wendige Einstimmigkeitserfordernis im Rat umgangen
werden soll . Die Wahl der Rechtsgrundlage wurde jüngst
auch vom juristischen Dienst des Rates bemängelt . Es
handelt sich danach um ein steuerliches Vorhaben, bei
dem Einstimmigkeit gelten müsste .
Die Einflussmöglichkeiten von Deutschland sind da-
mit bei den Beratungen erheblich gemindert . Hier ap-
pelliere ich ausdrücklich an das Rechtsverständnis des
Bundesjustizministers: Das Rügen der Rechtsgrundlage
im Rat sollte nicht davon abhängig gemacht werden, wie
man politisch zu dem Vorhaben steht .
Gegen den Vorschlag der Kommission sprechen aber
nicht nur rechtliche Bedenken . Auch politisch ist er un-
geeignet zur Erreichung des erklärten Ziels „Herstel-
lung von Steuergerechtigkeit“. Ein öffentliches Coun-
try-by-Country Reporting in Europa könnte sogar den
Erfolg des gesamten BEPS-Projektes gefährden. Bei
einem öffentlichen Country-by-Country Reporting gäbe
es für Drittstaaten keinen Grund mehr, den europäischen
Staaten ihrerseits entsprechende Daten zu übermitteln .
Das Pfand, mit dem man die Kooperation anderer Staaten
erreichen könnte, würde leichtfertig ohne Gegenleistung
aus der Hand gegeben . Ziel des Handelns auf europäi-
scher Ebene muss deshalb die inhaltlich gleiche Umset-
zung der OECD/G-20-BEPS-Empfehlungen sein.
Die öffentliche Berichterstattung dürfte außerdem
schützenswerte Interessen der betroffenen Unternehmen
verletzen . Im Besonderen ist der Schutz von Geschäfts-
geheimnissen nicht hinreichend gewahrt, da durch die
Veröffentlichungen Rückschlüsse auf Unternehmens-
strukturen und Margen möglich wären .
Vor allem die Grünen haben bemängelt, dass interna-
tional noch kein effektiver Streitbeilegungsmechanismus
ausgehandelt sei. Genau das aber ist das Problem, wenn
man jetzt ein öffentliches Country-by-Country Reporting
fordert, bei dem es absehbar zu einer noch größeren Zahl
an Streitigkeiten zwischen Finanzbehörden kommen
wird . Die Unternehmen werden dann absehbar in zahl-
reiche Fälle der Doppelbesteuerung laufen, ohne dass wir
dafür praktikable und zuverlässige Lösungen hätten .
Ich würde eher vorschlagen: Informationen ja, aber
wenn wir im Gegenzug auch Informationen bekommen
und am besten noch eine gegenseitige Vereinbarung über
effiziente Streitbeilegung.
Insgesamt würde ein öffentliches Country-by-Country
Reporting mehr schaden als nutzen . Zur Durchsetzung
des maßgeblichen Ziels, Eindämmung von Steuerver-
meidungspraktiken, ist es ausreichend und zielgerichte-
ter, nicht wahllos die Öffentlichkeit, sondern die Steuer-
verwaltungen derjenigen Staaten, die sich am Austausch
beteiligen, zu informieren .
Zweitens . Mit dem vorliegenden Gesetz zur Umset-
zung der Änderungen der EU-Amtshilferichtlinie führen
wir nicht nur das Country-by-Country Reporting ein,
sondern es werden auch verschiedene Vorschriften des
deutschen Steuerrechts geändert, um diese an aktuelle
Entwicklungen anzupassen .
Hervorzuheben ist hier die Nachjustierung bei der
Wegzugsbesteuerung in § 50i EStG, womit wir die über-
schießende Tendenz der Regelung korrigieren .
Mit § 4i EStG soll der doppelte Betriebsausgabenab-
zug bei Personengesellschaften durch Sonderbetriebs-
vermögen vermieden werden . Hier sind wir auf die
Forderung des Bundesrates eingegangen . Die Bund-Län-
der-Arbeitsgruppe wird aber im Einklang mit dem
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620658
(A) (C)
(B) (D)
BEPS-Programm weiterhin an einer noch umfassenderen
Lösung des Problems hybride Gestaltungen arbeiten.
Die Regelung des § 1 AStG haben wir nicht ins
Gesetz aufgenommen . Danach sollten ausschließlich
die deutschen gesetzlichen Regelungen für die Ausle-
gung des Fremdvergleichsmaßstabs nach Artikel 9 des
OECD-Musterabkommens maßgeblich sein . Damit ließ
der Wortlaut darauf schließen, dass es sich um einen
schlichten treaty override handelt . Es bestand die Gefahr,
dass bei unseren DBA-Vertragspartnern der Eindruck
entsteht, Deutschland wolle sich einseitig vom interna-
tionalen Verständnis des Fremdvergleichsgrundsatzes
abwenden . Um Doppelbesteuerung zu vermeiden, muss
sich der Fremdvergleichsgrundsatz aber nach den jeweils
aktuellsten internationalen Vereinbarungen richten .
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Dieser zur
Nachtzeit behandelte bzw . abgestimmte Gesetzentwurf
beinhaltet drei wichtige steuerpolitische Themenberei-
che, von denen jeder ein eigenes Gesetz – zur Tagzeit
debattiert und beschlossen – verdient hätte:
Bekämpfung von Gewinnkürzungen und Gewinnverla-
gerungen
Entlastung der Einkommensteuerzahler und insbesonde-
re der Familien
Ausgleich, ja Überkompensation der kalten Progression
Die Umsetzung der Änderungen der EU-Amtshil-
ferichtlinie und von weiteren Maßnahmen gegen Ge-
winnkürzungen und Gewinnverlagerungen ist eine der
wichtigsten steuerpolitischen Maßnahmen dieser Legis-
laturperiode. Wir nennen Sie kurz Anti-BEPS-Projekt.
Große Konzerne mit Milliardenumsätzen, hohen Gewin-
nen und exorbitant dicken Managergehältern zahlen zum
Teil lächerlich geringe Steuerbeträge . Endlich gehen wir
erneut dagegen vor .
Mit der Entlastung der Einkommensteuerzahler und
insbesondere der Familien geht es in Richtung soziale
Gerechtigkeit . Wir setzen damit den im aktuellen Exis-
tenzminimumbericht und im Steuerprogressionsbericht
ausgewiesenen Handlungsbedarf um . Auch wenn wir
uns mehr hätten vorstellen können – hier helfen wir am
unteren Ende der Einkommensskala .
Abschließend, schon fast als Nebenbemerkung, wird
eine erneute Angleichung der Tarifgrenzen bei der Ein-
kommensteuer durchgeführt, um die sogenannte kalte
Progression auszugleichen. Das machen wir über die
Jahre zwar regelmäßig – mal vorauseilend, wie heute,
oder auch nachlaufend –, aber leider wird immer wieder
selbst jene kalte Progression angeprangert, deren Wir-
kung es nicht gibt – weil bereits kompensiert .
Die Bündelung dieser drei Komponenten in ein Ge-
setz leuchtet rein fachlich, rein thematisch nicht ein, ist
jedoch damit begründet, dass so die Verfahren und Zeit-
abläufe einfacher und kürzer werden . Schließlich soll die
Umsetzung noch in diesem Jahr erfolgen .
In der globalisierten Welt spielen Staatsgrenzen für
unternehmerische Aktivitäten eine immer kleiner wer-
dende Rolle . Viele Konzerne sind multinational aufge-
stellt, Manager denken weltumspannend, einige – wohl-
gemerkt nicht alle – springen gedanklich von Steueroase
zu Steueroase .
Anders ist das bei Steuersystemen, hier spielt das
staatliche Hoheitsgebiet natürlich eine Rolle . Steuer-
systeme sind auf ihrem Staatsgebiet festgenagelt . Ein
schwerwiegendes Problem ergibt sich dann, wenn auch
das steuerpolitische Denken in den Staaten auf nationa-
ler Ebene verharrt . Durch diese Diskrepanz haben sich
multinationale Konzerne Möglichkeiten geschaffen, ihre
Gewinne dorthin zu verlagern, wo der Steuersatz nied-
rig und die Bemessungsgrundlage kurz ist oder verkürzt
werden kann . Im Ergebnis werden viel weniger Steuern
verlangt, als Umsatz und Ertrag erwarten ließen . Im Er-
gebnis müssen alle anderen Bürgerinnen und Bürger und
Unternehmen mehr Steuern bezahlen, denn die staatliche
Infrastruktur ist für alle wichtig .
Auf Englisch heißt das Base Erosion und Profit Shif-
ting: BEPS. Also Erosion der Bemessungsgrundlage
durch Verlagerung des Gewinns . Wie groß das Ausmaß
der Gewinnverlagerung ist, zeigen unter anderem die
vielen journalistischen Leaks der letzten Jahre . Leak
heißt Loch oder Lücke, also die Lücke, durch die uns
Daten bekannt werden, die das Ausmaß der Steuerumge-
hung deutlich machen .
Um dieser Herausforderung zu begegnen, haben die
G20-Staaten 2013 die OECD damit beauftragt, konkrete
Vorschläge gegen diese Formen der Steuergestaltung zu
erarbeiten . Die OECD hat 2015 in Form des sogenann-
ten BEPS-Aktionsplans geliefert. Ebenfalls geliefert hat
die Europäische Union, indem sie daraus eine passende
Amtshilferichtlinie abgeleitet hat . Unsere Aufgabe ist es
nun, diese Richtlinie in nationales Recht zu überführen .
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf haben nun auch
wir den ersten Teil der Umsetzung geliefert .
Um mehr Transparenz bei der europäischen Unter-
nehmensbesteuerung zu erreichen, werden drei zentra-
le Elemente aus der EU-Amtshilferichtlinie umgesetzt .
Zum einen wird eine dreiteilige Verrechnungspreisdoku-
mentation eingeführt . Mit Verrechnungspreisen bewerten
multinationale Konzerne Geschäftsvorfälle innerhalb der
Konzernfamilie . Diese Verrechnungspreise müssen mit
dem sogenannten Fremdvergleichsgrundsatz überein-
stimmen. Dies bedeutet, dass die Preise vergleichbar mit
Marktpreisen sind, die das Unternehmen einem fremden
Unternehmen berechnen würde . Keine familieninternen
Spezialpreise! Die neugeregelte Dokumentation der Ver-
rechnungspreise erlaubt es der Betriebsprüfung, dies bes-
ser zu kontrollieren .
Weiterhin werden multinational aktive Unternehmen
künftig verpflichtet, den Finanzbehörden spezielle län-
derbezogene Berichte zu liefern . Dies erfolgt im Rah-
men des sogenannten Country-by-Country Reportings .
Inhalt dieser Berichte sind unter anderem Angaben zu
Umsatzerlösen, bereits gezahlten Ertragssteuern oder
dem einbehaltenem Gewinn . Außerdem werden hier alle
Betriebsstätten und Tochterunternehmen des Konzerns
aufgelistet . Der Konzern muss dabei angeben, in wel-
chen steuerlichen Hoheitsgebieten sich diese Einheiten
befinden und welche Aktivitäten dort ablaufen. Nach der
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20659
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Lieferung der Berichte erfolgt deren automatischer Aus-
tausch zwischen den Finanzbehörden der EU-Staaten .
Mithilfe dieser Berichte werden die beteiligten Finanz-
behörden in die Lage versetzt, Gewinnverlagerung eines
Konzerns besser zu erkennen und das daraus resultieren-
de Risiko einer Steuerverkürzung besser einzuschätzen .
Diese Maßnahme ist das Herzstück des vorliegenden Ge-
setzentwurfs .
Das nächste Element bildet der automatisierte Aus-
tausch sogenannter Tax-Rulings . Hierbei handelt es sich
um Steuervorbescheide, die ein Staat einem einzelnen
Unternehmen erteilt . Durch die Luxemburg-Leaks wis-
sen wir, dass diese Tax-Rulings oftmals Ausnahmere-
gelungen vom geltenden Steuerrecht beinhalten, das für
die übrigen Unternehmen gilt . Dadurch entsteht eine
unzulässige Wettbewerbsverzerrung und somit schädli-
cher Steuerwettbewerb zulasten der übrigen Staaten . Das
machen deutsche Finanzbehörden nicht . Sie können Un-
ternehmen zwar eine verbindliche Auskunft erteilen, die
im Englischen ebenfalls mit Tax-Ruling übersetzt wird,
jedoch handelt es sich dabei nicht um eine Ausnahme-
reglung, die nur für das eine Unternehmen gilt . Andere
Unternehmen mit gleichen Voraussetzungen erhalten den
gleichen Vorbescheid . Mithilfe des automatischen Aus-
tauschs der schädlichen Tax-Rulings, beispielsweise aus
Luxemburg, können solche Praktiken künftig offengelegt
werden .
Die oben beschriebenen Maßnahmen schaffen eine
verbesserte Transparenz über die Aktivitäten interna-
tional agierender Unternehmen . Das begrüßen wir in
der SPD-Fraktion. Gleichzeitig rufen wir aber auch die
weiteren Ursachen für Gewinnverlagerungen und Ge-
winnkürzungen der Konzerne in Erinnerung: fehlende
Abstimmung der nationalen Steuersysteme und unfairen
Steuerwettbewerb . Die Folge einer solchen unzureichen-
den Abstimmung zwischen den Staaten ist zum Beispiel
der doppelte Abzug von Betriebsausgaben bei Personen-
gesellschaften . Hier macht der ausländische Gesellschaf-
ter Aufwendungen in Deutschland als Sonderbetriebsaus-
gaben geltend und zieht diese Aufwendung gleichzeitig
im Ausland nochmals als Betriebsausgaben ab . Mit der
Einführung des neuen § 4i im Einkommensteuergesetz
können wir künftig gegen solche hybriden Gestaltungen
vorgehen . Diese Regelung ist ein besonderes Anliegen
des Bundesrates gewesen, für das wir uns sehr gern in
den Beratungen stark gemacht haben . Ebenfalls wichtig
ist ein Fortbestehen des § 50i EStG, der verhindert, dass
sich vermögende Steuerpflichtige beim Umzug ins Aus-
land der Besteuerung der in ihrem Vermögen enthaltenen
stillen Reserven entziehen . Die Regelung wird kritisiert,
da sie nicht nur Auslandsfälle, sondern auch Inlandsfälle
betrifft, bei denen keine Steuerflucht zu befürchten wäre.
Diese überschießende Wirkung wird nunmehr durch eine
Beschränkung auf Auslandsfälle korrigiert . In den Bera-
tungen haben wir Bedenken geäußert, ob es hier zu ei-
ner EU-rechtlich unzulässigen Ungleichbehandlung von
EU-Ausländern kommen kann . Das Bundesministerium
der Finanzen hat dies verneint . Die Erklärung des Mi-
nisteriums ist unserer Meinung nach nicht vollständig,
daher müssen wir die Entwicklung bei diesem Aspekt
beobachten .
Der vorliegende Gesetzentwurf enthält keine Maß-
nahmen gegen unfairen Steuerwettbewerb . Wettbewerb
an sich ist ein fundamentaler Bestandteil der Marktwirt-
schaft . Der Wettbewerb muss aber fair sein . Steuerdum-
ping höhlt die Einnahmebasis der Staaten aus . Für die
Finanzierung der öffentlichen Güter benötigen Staaten
Steuereinnahmen, und diese werden durch einen unfai-
ren Steuerwettbewerb auf ein ineffizient niedriges Ni-
veau reduziert . Daher ist es unsere Aufgabe, hier voraus-
schauend zu handeln und gemeinschaftlich abgestimmte
Maßnahmen zur Regulierung von Steuerwettbewerb zu
unternehmen . Jeder Kommunalpolitiker kennt die For-
mel „Race to the Bottom“ – vor lauter Konkurrenz der
Nachbargemeinden um die Ansiedlung von Unterneh-
men werden schließlich beide arm . Hier geht es um die
gleiche Sache auf internationaler Ebene .
Mit den genannten Maßnahmen machen wir einen ers-
ten Schritt zur Bekämpfung von Gewinnkürzung und Ge-
winnverlagerung durch multinationale Konzerne . Das ist
ein Erfolg und gleichzeitig auch ein Beispiel für andere
EU-Staaten, ebenfalls die Umsetzung der EU-Amtshilfe-
richtlinie anzugehen . Es ist aber klar, dass einem ersten
Schritt stets weitere Schritte folgen müssen, damit man
das Ziel auch erreicht . Deshalb ist es unsere Aufgabe, in
Zukunft weitere Punkte aus dem OECD-Aktionsplan des
BEPS-Projektes umzusetzen, um die Transparenz weiter
zu vergrößern, eine hinreichende Abstimmung mit den
Steuersystemen der anderen EU-Staaten zu erreichen
und endlich auch gegen den schädlichen Steuerwettbe-
werb vorzugehen . Den letzten Schritt sollten wir mit der
Realisierung einer einheitlichen Körperschaftsteuerbe-
messungsgrundlage in der europäischen Union vorneh-
men . Daran gilt es weiter zu arbeiten .
Endlich ein Wort zu den Familien und jenen, die nicht
in Konzernstrukturen und Kategorien der Steueroptimie-
rung denken:
In den Beratungen zu diesem Gesetz wurden auch
wichtige Entlastungsmaßnahmen für die Steuerzahler
und die Familien auf den Weg gebracht . Wir setzen dabei
die aus dem Existenzminimumbericht und dem Steuer-
progressionsbericht folgenden Anpassungsbedarfe um .
Wir erhöhen den Grundfreibetrag – 2017 um 168 Euro
und 2018 um 180 Euro – und den Kinderfreibetrag –
2017 um 108 Euro und 2018 um 72 Euro . Es war für uns
selbstverständlich, dass wir auch das Kindergeld entspre-
chend anheben, damit auch Familien mit geringen und
mittleren Einkommen eine spürbare Entlastung erfah-
ren. Ein wichtiges Anliegen war der SPD darüber hinaus
eine Erhöhung des Kinderzuschlags – 2017 um 10 Euro .
Diese Erhöhung kommt besonders Familien mit kleinen
Einkommen zugute . Niemand soll seiner Kinder wegen
auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende
nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch angewiesen
sein . Deshalb wird der Zuschlag erhöht . Damit lassen
sich keine Reichtümer schaffen – leider führen hier schon
kleine Beträge zu großen Belastungen in den öffentlichen
Haushalten –, aber mit diesen Maßnahmen tragen wir so
gut wie heute möglich zur Verbesserung der finanziellen
Situation von Familien bei .
Auch der Gefahr einer Minderung des Realeinkom-
mens durch die sogenannte kalte Progression wurde in
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620660
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diesem Gesetzentwurf Rechnung getragen . Dafür wird
eine Verschiebung der Tarifgrenzen – 2017 um 0,73 Pro-
zent und 2018 um 1,65 Prozent – zugunsten der Bürge-
rinnen und Bürger vorgenommen . Die genannten Än-
derungen des Einkommensteuergesetzes zur Förderung
von Familien und zur Verhinderung der Wirkung der
sogenannten kalten Progression entlasten die Bürger
in den nächsten beiden Jahren insgesamt um immerhin
6,645 Milliarden Euro .
Soweit sich hier die Schätzungen bestätigen, wird die
kalte Progression – tatsächlich ja eine Folge der Inflati-
on – mit diesem Gesetz etwas überkompensiert .
Wir stimmen dem Gesetzentwurf zu – gleichwohl ist
es sehr ärgerlich, dass wir ein solch wichtiges Gesetz zur
Nachtzeit behandeln, keine Debatte führen und die Re-
den zu Protokoll geben.
Richard Pitterle (DIE LINKE): Im Kampf gegen
Steuervermeidung zählt jede Minute und jede noch so
kleine Maßnahme . In jeder Minute, in der wir nicht han-
deln, nutzen milliardenschwere internationale Konzerne
die Schwächen des nationalen und internationalen Steu-
errechts aus, um ihre Gewinne zu verschieben und Steu-
ern in Milliardenhöhe einzusparen . Daher begrüßen wir
den heute zur Verabschiedung stehenden Gesetzentwurf
zur EU-Amtshilferichtlinie und zu weiteren Maßnahmen
gegen Gewinnkürzungen und Gewinnverlagerungen als
richtigen Schritt .
Allerdings, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen
der Regierungskoalition, sollten Sie sich nicht zu sehr
auf die Schultern klopfen . Mit der Note „Eins“ lässt sich
der Gesetzentwurf nicht bewerten . Eine hervorragende
Leistung haben Sie damit nicht abgeliefert . Sie setzen
ohne besonderen Eifer nur das um, was durch interna-
tionale Empfehlungen sowie Vereinbarungen und durch
europäisches Recht ohnehin vorgegeben ist .
Die Wirksamkeit gesetzgeberischer Maßnahmen
hängt jedoch nicht vom Gesetz selbst ab. Papier ist ge-
duldig, und wo kein Kläger, da kein Richter . Mit der Ver-
abschiedung von Gesetzen muss sichergestellt sein, dass
die geschriebenen Pflichten auch befolgt werden. Alles
andere ist Aktionismus, den wir uns im Kampf gegen
Steuervermeidung im wahrsten Sinne des Wortes nicht
leisten können!
Leider strotzt Ihr Gesetz vor Vollzugsdefiziten, die es
zu einem zahnlosen Tiger machen. Sie verpflichten mul-
tinationale Unternehmensgruppen mit einem Umsatz von
mindestens 750 Millionen Euro zur Übermittlung länder-
bezogener Berichte ihrer Geschäftstätigkeit . Und was,
wenn nicht?, werden sich die Berater der Konzerne fra-
gen . Dann sieht Ihr Gesetz vor, dass eine Geldbuße von
10 000 Euro fällig wird . Aber auch ein Zwangsgeld von
25 000 Euro wird bei einem Konzern wie Apple mit Bar-
reserven in Höhe von 200 Milliarden Dollar vermutlich
keine nächtliche Sondersitzung des Vorstandes auslösen .
Wirksam und abschreckend, wie es die Amtshilferichtli-
nie verlangt, ist das jedenfalls nicht .
Natürlich lässt sich taktisch auch anders handeln . Sie
wollen Informationen? Sie bekommen Informationen!
Aber in einem Umfang, der die Suche nach steuerlich
relevanten Umständen zur Suche nach der Nadel im
Heuhaufen macht. Offenbar glaubt man im Bundesfi-
nanzministerium trotz der heillosen Überforderung bei
Cum/Ex-Geschäften noch immer daran, bei den perso-
nellen und sachlichen Ressourcen auf Augenhöhe mit
Finanzberatern zu agieren . Anders lässt sich jedenfalls
die lapidare und an Realitätsverweigerung grenzende
Anmerkung im Entwurf, die Prüfung der Berichte würde
keine messbaren Auswirkungen auf die Verwaltung ha-
ben, nicht verstehen .
Hätte der Entwurf vielleicht noch ein „Ausreichend“
erzielen können, wird er durch die kurzfristigen Ände-
rungsanträge im Finanzausschuss endgültig mangelhaft .
Das Sammelsurium an Änderungen im Steuerrecht, die
in keinem sachlichen Zusammenhang mit dem Ziel des
Entwurfes stehen und für gewöhnlich im eigenständigen
Jahressteuergesetz zu finden sind, ist schlicht formell ver-
fassungswidrig . Der Finanzausschuss des Bundestages,
der diese Änderungen hier zur erstmaligen und zugleich
letzten Beratung vorlegt, ist – wie alle Fachausschüsse –
für Gesetzesvorhaben nicht initiativberechtigt .
Zu diesen Ergänzungen zählt im Übrigen auch die
großspurig angekündigte Entlastung von Familien mit
Kindern . Jetzt wird es endlich amtlich: Mit der Erhöhung
des Kindergeldes um 2 Euro gibt es vielleicht im nächs-
ten Sommer die eine oder andere Kugel Eis mehr .
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Seit mehreren Jahren beschäftigten wir uns im
Deutschen Bundestag mit der Gewinnverlagerung und
Steuervermeidung von grenzüberschreitend tätigen Un-
ternehmen . Vor dem Hintergrund nationaler – und teil-
weise auch individuell den Unternehmen eingeräumter –
steuerlicher Präferenzregime können Unternehmen im
Einzelfall ihre Gewinne fast komplett steuerfrei behal-
ten . Die EU-Kommission schätzt, dass die europäischen
Staaten allein durch die aggressive Steuervermeidung der
großen Konzerne insgesamt 50 Milliarden bis 70 Milliar-
den Euro jedes Jahr an Steuereinnahmen verlieren . Das
hat nicht nur zu einem starken Protest der Bürgerinnen
und Bürger geführt, sondern ist darüber hinaus eine Ur-
sache für den Widerstand gegen die fortschreitende Glo-
balisierung .
Umso bedeutsamer war die Initiative vieler Länder im
Rahmen der OECD, gemeinsam Empfehlungen zu ent-
wickeln, um diese Entwicklung zu stoppen . Diese Emp-
fehlungen wurden dann zunächst auf der Ebene der EU
beschlossen und sollen jetzt national umgesetzt werden .
Im Kampf um einen fairen Wettbewerb, die Verhinde-
rung von Steuerdumping und gegen nationalen Egoismus
hat diese Initiative eine entscheidende Bedeutung .
Deshalb muss zunächst angemerkt werden: Die Be-
handlung dieses Themas in einer halben Stunde am
späten Abend zeigt, dass die Koalitionsfraktionen offen-
sichtlich nicht begriffen haben, wie wichtig ein solches
Gesetz ist, um dem wachsenden Misstrauen der Bürge-
rinnen und Bürger gegenüber der Globalisierung zu be-
gegnen . Denn worauf beruht denn dieses Misstrauen, ja
die Ablehnung der Globalisierung? Die Menschen sind
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20661
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jeden Tag mit Problemen konfrontiert: Jobunsicherheit,
Schwierigkeiten, eine bezahlbare Wohnung zu bekom-
men, und Schulen, bei denen das Geld für eine dringende
Sanierung fehlt . Und auf der anderen Seite stehen inter-
nationale Unternehmen, die offenbar kaum oder gar nicht
für die öffentliche Daseinsvorsorge zahlen.
Der vorliegende Gesetzentwurf darf nicht als Detailre-
gelung sehr komplexer internationaler Steuerregelungen
begriffen werden, sondern als ein wesentlicher Baustein,
um mehr Gleichmäßigkeit für die Steuerabgaben interna-
tionaler Unternehmen herzustellen . Deshalb wäre es so
wichtig gewesen, diese politisch so bedeutsame Zielset-
zung aufzugreifen und umzusetzen .
Das heute zu beschließende sogenannte BEPS-Um-
setzungsgesetz wird diesem hehren Anspruch nicht ge-
recht . Es wäre so wichtig gewesen, zwei wichtige In-
strumente für einen fairen Wettbewerb in das Gesetz mit
aufzunehmen: zum einen mit länderbezogenen Offenle-
gungspflichten endlich Transparenz über wirtschaftliche
Aktivitäten und aggressive Steuervermeidungsaktivitä-
ten großer multinationaler Unternehmen herzustellen;
denn nur mit Transparenz können Ängste bekämpft wer-
den . Zum anderen muss die Bundesregierung aber auch
klarmachen, dass sie das Steuerdumping anderer Staaten
nicht einfach hinnehmen will . Eine nationale Lizenz-
schranke kann Steuerdumping effektiv verhindern.
Es ist bitter, dass die progressiven Kräfte vor allem
in der SPD sich bei beiden Themen in der Koalition
nicht haben durchsetzen können, obwohl die SPD diese
Vorschläge der Grünen in der letzten Legislaturperiode
mit unterstützt hat. Zu nahe steht man offensichtlich den
Industrieverbänden, die bei fehlendem Gespür für das
gesellschaftliche und politische Umfeld eine Verhinde-
rungsstrategie betreiben, die am Ende in Brexit und nati-
onalen Alleingängen enden und damit Wohlstandsverlus-
te für Deutschland befürchten lassen . Deutschland muss
seiner Führungsverantwortung gerade in der Wirtschafts-
und Finanzpolitik gerecht werden und diese auch durch
eigene Maßnahmen unterstreichen .
Und zu allem Überfluss wurden dem Gesetz ver-
schiedenste sonstige Steuerrechtsänderungen angehängt .
Dabei hätten auch diese einer sorgfältigen Behandlung
bedurft. Wie oft wurde das Thema „kalte Progression“
angesprochen, und wie wichtig wäre es gewesen, über
dieses Thema ordentlich und in angemessener Weise eine
Debatte im Parlament zu führen. Denn in Zeiten einer
fast Null-Inflation stellt sich das Thema „kalte Progres-
sion“ nicht, aber es stellt sich das Thema der Entlastung
unterer und mittlere Einkommen . Und auch hier versucht
sich die Koalition der sorgfältigen Debatte zu entziehen
und am späten Abend schnell eine Entscheidung durch-
zuwinken .
Dieses Verfahren zeigt die Führungsschwäche einer
Kanzlerin und einer Koalition, die die notwendigen Maß-
nahmen gegenüber den aktuellen Herausforderungen bit-
ter vermissen lässt . In der eigentlichen Sache, dem Kampf
gegen Gewinnverlagerung und Steuervermeidung, zeigt
sich die ganze Unentschlossenheit der Bundesregierung .
Lassen Sie mich die beiden Vorschläge, die die Grünen
in die Debatte eingebracht haben, nochmals erläutern . Da
sind zunächst die länderbezogenen Offenlegungspflich-
ten für große multinationale Unternehmen: ein geeigne-
tes Instrument, um durch Transparenz über wirtschaftli-
che Aktivitäten aggressive Steuervermeidungsaktivitäten
zu hemmen . Denn nur wenn für jeden nachvollziehbar
ist, wie sich in multinationalen Konzernen die Erträge
und gezahlten Steuern auf einzelne Volkswirtschaften
verteilen, kann ein öffentlicher Druck entstehen, der dazu
führt, dass Steuern auch wirklich dort gezahlt werden,
wo Wertschöpfung stattfindet. Ohne ein Mindestmaß an
Öffentlichkeit wird sich die Steuerplanung multinatio-
naler Unternehmen weiterhin nicht an ethischen, d . h .
gemeinwohlorientierten, Maßstäben orientieren, sondern
am Shareholder-Value oder auch am nationalen Interes-
se einzelner Staaten . Denn ob die Nichtausübung des
Anrechnungsverfahrens in den USA oder die doppelte
Steuersitzangehörigkeit in Irland („double-irish“) oder
die Lizenzbox in den Niederlanden („dutch sandwich“):
Es sind vor allem die Egoismen einzelner Staaten, die
die Steuergestaltung der international tätigen Unterneh-
men erst möglich machen. Dass diese die weit offenen, ja
bewusst eingeräumten Schlupflöcher nutzen, kann ihnen
gar nicht übel genommen werden . Dies gilt allerdings
nicht, und das muss mit aller Klarheit gesagt werden, für
Steuerhinterziehung und Steuerbetrug wie zum Beispiel
bei den Karussellgeschäften mit Energiezertifikaten oder
Cum/Ex-Geschäften .
Die Entscheidung der EU-Kommission im August
dieses Jahres, die irischen Steuerregelungen, von denen
insbesondere Apple profitiert, als unzulässige Beihilfe
einzustufen, war ein Zeichen im Kampf gegen den un-
zulässigen und schädlichen Steuerwettbewerb von Mit-
gliedstaaten . Es war auch ein starkes Signal für den freien
Markt: Multinationale Konzerne dürfen steuerlich nicht
bessergestellt werden als mittelständische Unternehmen .
Mitgliedstaaten, deren steuerrechtliche Regelungen die
Gewinnverschiebung von multinationalen Konzernen
begünstigen, handeln nicht solidarisch, sondern auf Kos-
ten der anderen Mitgliedstaaten .
Damit komme ich zu dem zweiten Aktionspunkt, den
wir Grünen vorgeschlagen haben . Besonders niedrige
Steuersätze zum Beispiel auf Lizenzen können nur als
Steuerdumping bezeichnet werden sie haben mit Steu-
erwettbewerb in Europa nichts zu tun . Diese niedrigen
Steuersätze führen dazu, dass multinationale Konzerne
effektiv im Durchschnitt eine geringere Steuerbelastung
aufweisen als mittelständische Unternehmen . Diese
Wettbewerbsverzerrung zulasten des Mittelstandes führt
letztlich dazu, dass Innovation und Marktentwicklung
gehemmt werden . Die Einsicht, dass die konzerninterne
Verschiebung von Gewinnen mittels Lizenzzahlungen,
vor allem in Ländern mit sogenannten Patent-Box-Re-
gimen, effektiv nur durch eine nationale Lizenzschran-
ke verhindert werden kann, hat sich bei vielen Experten
durchgesetzt . Auch hier wäre es so wichtig, dass die Bun-
desregierung ein klares Signal setzt, dass sie weiterem
Steuerdumping nicht weiter zuschauen will .
Es wird deshalb sehr schnell ein zweites BEPS-Umset-
zungsgesetz geben müssen . Darin muss dann auch eine
Anzeigepflicht für Steuergestaltung stehen. Die Grenze
zwischen legaler Steuergestaltung und illegaler Steuer-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620662
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(B) (D)
hinterziehung muss transparenter werden . Seit Jahren
schon fordern wir, die steuerberatende Branche mit einer
Anzeigepflicht für steuermindernde Gestaltungen für ihre
Kunden zu belegen . Einige andere Staaten haben damit
gute Erfahrungen gemacht: Steuergestaltungsangebote
gingen deutlich zurück, schwarze Schafe bei Banken und
Steuerberatern konnten identifiziert werden, Verwaltung
und Politik waren in der Lage, frühzeitig auf Risiken zu
reagieren, und Kunden wurden vor windigen Steuerge-
staltungsangeboten geschützt . Das dazu jüngst vorgeleg-
te Gutachten des Max-Planck-Instituts zeigt, dass eine
Anzeigepflicht für Steuergestaltungsmodelle rechtlich
auch in Deutschland möglich und ökonomisch sinnvoll
ist . Dieses Instrument ist ein scharfes Schwert gegenüber
Steuervermeidungsstrategien . Bei der Aggressivität, mit
der manche Unternehmen Steuervermeidung betreiben,
muss der Gesetzgeber solche Instrumente einsetzen, um
Steuervermeidung zu bekämpfen . Die Bundesregierung,
die sich dem Thema bisher verweigert hat, muss jetzt
schnellstmöglich einen Gesetzentwurf liefern .
Auch die von der Koalition kurzfristig wieder abge-
setzte Anpassung des deutschen Außensteuerrechts zur
Verhinderung von Verrechnungspreisgestaltungen muss
dann angegangen werden . Es ist nicht nachvollziehbar,
warum bei einer deutlichen Problemanzeige aus dem
Kreis der steuerberatenden Branche die Bundesregierung
zu dieser Sache noch nicht liefern konnte und eine zu-
nächst als wichtig erachtete Präzisierung nicht umgesetzt
hat . Notwendig wäre eine rechtliche Handhabe für die Fi-
nanzverwaltungen, eine Gewinnberichtigung tatsächlich
vornehmen zu können, wenn festgestellt wird, dass eine
Transaktionsstruktur allein aus Steuervermeidungsgrün-
den gewählt wurde . Bisher ist dies nicht möglich . Recht-
lich möglich, so der BFH, ist allenfalls eine Anpassung
der Verrechnungspreise .
Der Fremdvergleichsgrundsatz ist also Teil des Steu-
ervermeidungsproblems . Der Fremdvergleichsgrundsatz
in seiner bisherigen, in das nationale Recht transformier-
ten Form verhindert es gerade nicht, vertragliche Abre-
den mit funktionsarmen verbundenen Unternehmen der
Verrechnungspreisermittlung zugrunde zu legen, wo-
durch riesige Gewinne willkürlich im Konzern verscho-
ben werden können . Dieser legalen Steuergestaltung,
die der BEPS-Abschlussbericht eindämmen sollte, wird
durch das BEPS-Umsetzungsgesetz kein Riegel vorge-
schoben . Um die Finanzverwaltung in die Lage zu ver-
setzen, derartigen Steuergestaltungen effektiv entgegen-
zuwirken und die erforderliche Besteuerung im Einklang
mit tatsächlicher wirtschaftlicher Aktivität zu erreichen,
müssen sie von vertraglichen Vereinbarungen abweichen
können, wenn diese nicht Ausdruck tatsächlicher wirt-
schaftlicher Aktivität sind . Die politische Antwort auf die
Herausforderungen der globalisierten Wirtschafts- und
Finanzwelt muss eine mutige – und keine verzagte – sein .
Ein Wort noch zum Vorhaben der Koalition, die kal-
te Progression im Einkommensteuertarif zu korrigieren.
Eine Korrektur der sogenannten kalten Progression ist
verfassungsrechtlich nicht notwendig . Und man rennt ei-
ner Sache hinterher, die aufgrund der aktuellen und der in
den kommenden zwei Jahren zu erwartenden Inflations-
rate schlicht nicht aktuell ist .
Die politischen Prioritäten werden im Gesetzentwurf
der Koalition falsch gesetzt, weil durch eine Korrektur
der kalten Progression, wie jetzt im Gesetz geregelt, die
höheren Einkommen am meisten profitieren. Dabei wäre
es so wichtig, gerade die unteren und mittleren Einkom-
men zu entlasten . So beträgt die Entlastung der wenigen
Steuerpflichtigen, die dem Spitzen- oder Reichensteuer-
satz unterliegen, ein Vielfaches der Entlastung unterer
Einkommensgruppen . Auch hier hätte eine Lösung auf
der Hand gelegen: die stärkere Anhebung des Grundfrei-
betrages .
Der von uns vorgelegte Änderungsantrag zum Ge-
setz sieht aus diesen Gründen vor, das infrage stehende
Finanzvolumen von etwa 2,4 Milliarden Euro für eine
stärkere Anhebung des Grundfreibetrags zu verwenden .
Diese Maßnahme bewirkt, dass Steuerpflichtige mit
niedrigen Einkommen im Vergleich zum Gesetzentwurf
verstärkt profitieren, aber insgesamt alle Steuerpflichti-
gen einheitlich entlastet werden . Denn eine Anhebung
des Grundfreibetrags führt dazu, dass die Steuersenkung
nicht mit dem Einkommen ansteigt, sondern für alle Ein-
kommensgruppen gleich hoch ist . Der regressive Vertei-
lungseffekt eines „Tarifs auf Rädern“ wird somit vermie-
den .
Selten war ich so enttäuscht von einem Gesetzesent-
wurf . Wenn wir ihn dennoch nicht ablehnen, sondern uns
enthalten, dann deshalb, weil die im Gesetz vorgesehe-
nen Anti-BEPS-Maßnahmen in die richtige Richtung
weisen, auch wenn sie viel zu kurz gefasst sind . Und weil
wir einer steuerlichen Entlastung, auch wenn sie nicht
ausgewogen ist, nicht widersprechen wollen .
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Gohlke, Dr. Rosemarie Hein, Sigrid Hupach, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE:
Inklusive Bildung für alle – Ausbau inklusiver
Hochschulen fördern (Tagesordnungspunkt 18)
Xaver Jung (CDU/CSU): „Und täglich grüßt das
Murmeltier“ . – Wieder einmal diskutieren wir einen der
Anträge „Inklusive Bildung für alle“ – und mir hat sich
immer noch nicht erschlossen, wieso wir vier verschie-
dene Anträge diskutieren, wenn doch ein ganzheitliches
Konzept gefordert ist; denn Inklusion ist eine gesamt-
gesellschaftliche Aufgabe quer durch alle Bildungsbe-
reiche . Fließende Übergänge und der Erhalt von Erfah-
rungen müssen unsere Ziele sein . Mit vier verschiedenen
Anträgen senden Sie also schon allein symbolisch ein
völlig falsches Signal .
Aber auch inhaltlich zeigt sich, dass Sie die Prozesse
einer fortschreitenden inklusiven Bildung nicht richtig
erfassen:
So wird mit dem vorgelegten Antrag die Bundesregie-
rung unter anderem aufgefordert, mit dem Bundesrat und
der Kultusministerkonferenz verbindliche Handlungs-
empfehlungen und Empfehlungen für personelle Stan-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20663
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dards und Garantien zu verfassen . Hier sind die Länder
aber schon weiter: Alle haben bereits Aktionspläne zur
Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im
Bereich Hochschule verabschiedet!
In dem Antrag wird zudem gefordert, den Studieren-
den mit Beeinträchtigung BAföG über die Regelstudi-
enzeit hinaus zu gewährleisten . Auch dies geschieht be-
reits! So heißt es in § 15 Absatz 3 des Gesetzes: „Über
die Förderungshöchstdauer hinaus wird für eine ange-
messene Zeit Ausbildungsförderung geleistet, wenn sie
Nummer 5 infolge einer Behinderung … überschritten
worden ist .“
Zudem schlagen Sie einen „Inklusionspakt“ vor, der
unter anderem ein Investitionsprogramm im Umfang
von mindestens 2 Milliarden Euro umfassen soll . Da-
bei entlastet der Bund die Länder schon um 1,2 Milliar-
den Euro, und zwar jährlich, durch die Übernahme der
BAföG-Kosten . Zudem werden wir bis 2023 mit dem
Hochschulpakt weitere 20 Milliarden Euro investiert ha-
ben . Und ab 2020 kommen noch einmal 3,5 Milliarden
Euro für die kommunale Bildungsinfrastruktur finanz-
schwacher Kommunen hinzu .
Der Bund finanziert somit schon kräftig mit, nun sind
endlich die Länder am Zug, das Geld gemäß der Verein-
barungen bedarfsgerecht einzusetzen .
Ein weiterer Bestandteil des Inklusionspaktes sind
Weiterbildungs- und Qualifizierungsprogramme. Auch
hier ist der Bund schon aktiv . Auch für uns ist die Frage,
wie eine heterogene Schülerschaft am besten gefördert
werden kann und wie das wiederum zu vermitteln ist,
zentral . So investiert das BMBF einerseits in Forschung
in diesem Bereich . Andererseits werden im Rahmen der
„Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ Projekte gefördert,
die inklusive Bildung in der Lehrerbildung an Hochschu-
len erforschen und erproben . Diese Förderung an Hoch-
schulen ist ein wichtiger Baustein für eine gelingende
Inklusion .
Grundsätzliche Kompetenzen im Umgang mit einer
heterogenen Schülerschaft erlernen die Lehrerinnen und
Lehrer zudem in ihrem Studium . Denn im Rahmen der
aktualisierten Standards für Lehrerbildung ist ein Basis-
modul für alle angehenden Lehrerinnen und Lehrer vor-
gesehen . Entsprechend haben alle Bundesländer schon
im Januar 2015 angefangen, Maßnahmen der Lehreraus-,
-fort- und -weiterbildung zu realisieren .
In der letzten Debatte bemerkten Sie, Frau Hein, dass
unser System zusätzliche Hürden für Benachteiligte
aufbauen würden: so könnten individuelle Situationen
nicht berücksichtigt werden, wenn sie in den Sozialge-
setzbüchern nicht vorkommen würden . Zudem müssten
Hilfeleistungen erst kompliziert beantragt werden . Dies
sind Probleme der Umsetzung – denn mit Beratungsstel-
len, die individuell auf die Belange der Schülerinnen und
Schüler und ihr Umfeld eingehen können, kann viel auf-
gefangen werden . Die Studentenwerke haben bereits eine
entsprechende Anlaufstelle eingerichtet . Sie zu stärken
und angemessen auszustatten, obliegt nun den Ländern .
Doch keine Frage: Inklusion oder, allgemeiner, die
Beschulung einer heterogenen Schülerschaft ist eine der
großen, wenn nicht sogar die größte Herausforderung un-
seres Bildungssystems . Doch mit übereilten Forderungen
und dem Verkennen erfolgreicher Ansätze kommen wir
nicht voran .
Inklusion beginnt im Kopf, im Kopf eines jeden,
und so müssen wir gesellschaftliche Akzeptanz durch
wohlüberlegte Forderungen und zielgerichtete Ansätze
schaffen. Eine Überforderung der Beteiligten durch eine
sogenannte „kalte Inklusion“ oder übereifriger Reform-
wille bei einem historisch gewachsenen, gut funktionie-
ren mehrgliedrigen System mit Sonderschulen sind da
nicht hilfreich .
Uwe Schummer (CDU/CSU): Bildung ist ein we-
sentlicher Schlüssel zur Teilhabe am Leben mit all seinen
Facetten . Das gilt für Menschen mit und ohne Behinde-
rungen gleichermaßen . Wer gut ausgebildet ist, hat bes-
sere Chancen auf dem Arbeitsmarkt .
Menschen mit Behinderungen sind vielfach gut
ausgebildet und teilweise sogar besser qualifiziert als
Menschen ohne Schwerbehinderung . Dennoch sind sie
häufiger arbeitslos. Gute Bildung und Ausbildung sind
wichtig, doch gleichzeitig braucht es aufgeschlosse-
ne Arbeitgeber, um diesen Menschen den Einstieg ins
Berufsleben zu ermöglichen . Über 30 000 Betriebe be-
schäftigen heute keinen einzigen schwerbehinderten
Menschen . Neben besseren Bildungschancen brauchen
wir gleichzeitig mehr Beschäftigungsmöglichkeiten auf
dem ersten Arbeitsmarkt. Das kann Politik alleine nicht
stemmen .
Die Koalition hat in den vergangen Jahren daran ge-
arbeitet, für Menschen mit Behinderungen mehr Optio-
nen zur Teilhabe an Bildung, Arbeit zu schaffen. Unser
Ziel ist, die geltende UN-Behindertenrechtskonvention
prozesshaft weiter umzusetzen . Dazu haben wir die as-
sistierte Ausbildung eingeführt, die Inklusionsbetriebe
ausgebaut und im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes
die Leistungen zur Teilhabe an Bildung klargestellt und
erweitert . Als Behindertenbeauftragter meiner Fraktion
habe ich mich bei der Kultusministerkonferenz dafür
starkgemacht, dass neben Hamburg, Berlin und Bran-
denburg weitere Länder die Gebärdensprache als Unter-
richtsfach in Regelschulen einführen . Für gehörlose und
schwerhörige Menschen würden hemmende Kommuni-
kationsbarrieren ausgeräumt werden, wenn immer mehr
die Deutsche Gebärdensprache beherrschen . Die Rück-
meldung der KMK war positiv . Jetzt müssen weitere
Länder nachlegen .
Als 2009 die UN-BRK geltendes Recht wurde, hat
die Hochschulrektorenkonferenz gleich reagiert und sich
dazu verpflichtet, eine „Hochschule für alle“ zu realisie-
ren . Damit war ein wichtiges Signal gesetzt . Die Umset-
zung ist ein Prozess, der noch viele Jahre in Anspruch
nehmen wird .
Immer mehr Hochschulen setzten die Verpflichtung
zur Inklusion in die Praxis um und schaffen Angebote
für Studierende mit Behinderungen oder chronischer Er-
krankung. Es gibt an nahezu jeder Uni qualifizierte An-
laufstellen, in denen schwerbehinderte Studierende oder
Studieninteressierte umfassend beraten und unterstützt
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620664
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werden . Die Beauftragten für die Belange behinderter
und chronisch kranker Studierender an den Universitä-
ten als auch die Studentenwerke und Teile der verfassten
Studierendenschaft vertreten die Interessen von Studen-
ten mit Beeinträchtigungen . Sie alle arbeiten gemeinsam
daran, die Studienbedingungen für Menschen mit Handi-
cap zu optimieren .
Studierende mit Behinderung können ihr Studium in-
dividuell planen und dabei auf „angemessene Vorkehrun-
gen“ zurückgreifen: Sie können phasenweise in Teilzeit
studieren, sie können Prüfungstermine individuell planen
oder besondere Regelungen für Exkursionen sowie Prak-
tika verhandeln .
Wer mit einer Beeinträchtigung die für sich passende
Uni sucht, kann schon heute aus mehreren Hochschulen
auswählen . Die Uni Hamburg hat zum Beispiel eine Ser-
vicestelle für gehörlose und hörgeschädigte Studierende
etabliert, die bei der Organisation des Studiums unter-
stützt. Die Uni Potsdam schult ihre Erstsemester-Tutoren
zu den Themen Barrierefreiheit und Teilhabemöglichkei-
ten von Studierenden mit Behinderung . Denn vor allem
innerhalb der Studierendenschaft ist es wichtig, für die
Belange behinderter Kommilitonen zu sensibilisieren .
Wenn dann im Studienalltag Barrieren auftauchen, lassen
sich diese durch gegenseitige Hilfe auch mal unkompli-
ziert überwinden .
Menschen mit Behinderungen haben heute Anspruch
auf individuelle Nachteilsausgleiche während des Studi-
ums . Dafür sind verschiedene Kostenträger zuständig,
wie BAföG-Ämter, die örtlichen und überörtlichen Sozi-
alhilfeträger, die Träger der Grundsicherung für Arbeits-
suchende und die Kranken- und Pflegekassen.
Ab dem 1 . Januar 2017 tritt das neue Bundesteilhabe-
gesetz in Kraft . Erstmals werden dann Hilfen zur Teilha-
be an Bildung in der Eingliederungshilfe als eigene Leis-
tung festgeschrieben . Damit stellen wir sicher, dass die
notwendigen Assistenzleistungen von der Grundschule
über die weiterführende Schule bis hin zur Universi-
tät für ein Bachelor- und Master-Studium bereitstehen .
Auch für die berufliche Weiterbildung wird es künftig
Leistungen aus der Eingliederungshilfe geben . Das ist
ein enormer Fortschritt gegenüber geltendem Recht . Da-
mit werden wir sicherlich mehr Menschen mit Behinde-
rungen für die Aufnahme eines Studiums motivieren .
Damit sich beruflicher Aufstieg und Leistung auch
im Berufsleben lohnen, haben wir mit dem BTHG die
Einkommens- und Vermögensfreigrenzen deutlich nach
oben gesetzt . Auch Menschen mit Behinderungen mit As-
sistenzbedarf müssen von ihrem Lohn gut leben können .
Ab 2020 wird daher das Einkommen bis 30 000 Euro
frei von Zuzahlungen für Assistenzleistungen sein . Wer
mehr verdient, leistet einen prozentualen Eigenbeitrag
zu seinen Fachleistungen . Das Vermögen wird von heu-
te 2 600 Euro auf bis zu 50 000 Euro anrechnungsfrei
bleiben . Hier hat die Union ein klares Zeichen gesetzt:
Leistung muss sich lohnen .
Der Bund schnürt aktuell ein 5-Milliarden-Paket zur
Förderung von Schulen . Bis zum Jahr 2021 sollen bun-
desweit alle 40 000 Schulen mit Computern und Internet-
zugang ausgerüstet werden . Investitionen in Digitalisie-
rung kommen allen Schülern zugute, vor allem Schülern
mit Behinderung . Ein Beispiel: Schüler mit feinmotori-
schen Einschränkungen können beispielsweise schneller
über Tastaturen komplexe Texte verfassen oder Aufga-
ben zügiger lösen, als sie es mit dem Stift könnten . Ich
bin überzeugt, dass dieses neue Förderprogramm auch
die Inklusion in der Bildung massiv voranbringen wird .
Wir sind in Deutschland auf einem guten Weg, Lernen
und lebenslanges Lernen für alle Menschen zu ermögli-
chen. Inklusion ist ein Prozess, von dem alle profitieren
müssen . Nur wenn wir eine breite gesellschaftliche Ak-
zeptanz für diesen Prozess schaffen, kann er auch gelin-
gen .
Oliver Kaczmarek (SPD): Auf dem Weg zur inklu-
siven Hochschule sind wir einen entscheidenden Schritt
weitergekommen . Mit der Verabschiedung des Bun-
desteilhabegesetzes heute Morgen wurden nicht nur zahl-
reiche Leistungen für chronisch Kranke oder Studieren-
de mit Behinderung ausgeweitet, sondern vielmehr die
gesamte Logik bei der Inklusionsförderung vom Kopf
auf die Füße gestellt . Mit dem neuen Gesetz stehen nicht
mehr die Defizite von Menschen im Fokus, die es auf die
eine oder andere Weise auszugleichen gälte, sondern die
Verantwortung der Gesellschaft, Inklusion durch Teilha-
bemöglichkeiten und Barrierefreiheit oder mindestens
Barrierearmut sicherzustellen . Dazu wurde nicht nur ein
verändertes Teilhabeplanverfahren beschlossen, sondern
auch die unabhängige Beratung der Antragstellenden ver-
ankert, die mit 60 Millionen Euro gefördert werden wird .
Selbstbestimmtheit und Entscheidungsfreiheit stehen da-
mit am Anfang der Unterstützungsleistung und nicht an
ihrem Ende . Mein Dank gilt der zuständigen Ministerin
Andrea Nahles und den Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
tern im Ministerium sowie den Verhandlungsführern der
Koalition, die viel Arbeit und Herzblut in die Erarbeitung
des Gesetzes gesteckt haben .
Der Verabschiedung des Gesetzes ist ein langer und
intensiver Prozess von Debatte und Beteiligung voran-
gegangen . Dafür möchte ich mich ausdrücklich bei allen
beteiligten Personen, Gruppen und Verbänden bedanken.
Im parlamentarischen Verfahren ist es gelungen, zahlrei-
che Veränderungen und Verbesserungen aufzunehmen .
Auch wenn es in den vergangenen Wochen und Monaten
an der einen oder anderen Stelle zu Missverständnissen
und Verstimmungen gekommen ist, möchte ich klarstel-
len, dass wir im Parlament die Sorgen, Interessen und
Verbesserungswünsche stets ernst genommen haben . Ich
habe die Hoffnung, dass daraus neues Vertrauen entstan-
den ist, das in Zukunft auch zu einer Versachlichung der
Debatte beitragen wird .
Für die Teilhabe an unserer Gesellschaft ist Bildung
seit jeher von größter Bedeutung, unabhängig davon, ob
es sich um behinderte oder nicht behinderte Menschen
handelt . Deswegen fand schon im ursprünglichen Ge-
setzentwurf das Thema Teilhabe an Bildung eine erste
Wertschätzung . Erstmals wurden die unterschiedlichen
Maßnahmen zusammengeführt und als klarer Anspruch
formuliert . Im angesprochenen Dialog und dem parla-
mentarischen Verfahren konnten noch zahlreiche Vor-
schläge und Ideen aufgenommen werden . So wurde ge-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20665
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ändert, dass Leistungen zur Teilhabe an Bildung nicht
nur dann gewährt werden, wenn das Teilhabeziel erreicht
werden kann . Das heißt beispielsweise im Fall der Hoch-
schulen, dass Voraussetzung zum Hochschulstudium ist,
ob eine Hochschulzugangsberechtigung vorliegt . Da-
mit sind Menschen mit Behinderung an diesem Punkt
gleichgestellt . Zusätzlich wurde klargestellt, dass auch
der Erwerb der Hochschulzugangsberechtigung durch
den Besuch an weiterführenden Schulen im Sinne des
Gesetzes förderungsfähig ist . Darüber hinaus muss der
Teilhabeplan heilpädagogische und sonstige Maßnahmen
enthalten, die den Leistungsberechtigten den Hochschul-
besuch ermöglichen oder erleichtern . Wir haben in den
Beratungen einen einfacheren Zugang zu Leistungen zur
Teilhabe an Bildung durchgesetzt . Durch die Ausweitung
von Leistungen machen wir deutlich: Inklusion im Bil-
dungssystem ist zentral für uns, um von Anfang an den
Weg zu einer inklusiven Gesellschaft zu eröffnen, an der
alle teilhaben können .
Zentral ist auch die Erprobung des neuen Zugangs zur
Eingliederungshilfe . Es stand die Befürchtung im Raum,
dass Menschen den Zugang zur Eingliederungshilfe
verlieren, wenn die neue Regel „Einschränkung in fünf
von neun Lebensbereichen“ angewendet wird . Genau-
so wichtig ist aber auch das Versprechen gewesen, dass
niemand aus der Förderung fallen soll . Deswegen wird
es einen Modellversuch mit umfassender wissenschaft-
licher Begleitung und Evaluation geben . Damit die Ver-
änderungen absehbar werden, nehmen wir uns bis zum
Jahr 2023 Zeit, um über einen neugeregelten Zugang zur
Eingliederungshilfe zu entscheiden . Die Umstellung soll
sanft und ohne Brüche erfolgen . Bis dahin ist für alle
Menschen, die bereits in der Förderung sind, sicherge-
stellt, dass sie auch weiter Leistungen erhalten . Dem Ver-
sprechen, keine neuen Benachteiligungen durch das Bun-
desteilhabegesetz zu schaffen, sind wir treu geblieben!
Im Dialog der letzten Monate ist auch klar geworden,
wie ein barrierefreies Studium in Zukunft aussehen muss .
Erstens gilt es, eine barrierefreie soziale Infrastruktur zu
schaffen. Das fängt bei der Beratung von Studierenden mit
Behinderung an, geht über Angebote für die Begleitung
und reicht bis zur Schaffung barrierefreier Wohnräume.
Der Zugang zu Lernmitteln muss so gestaltet sein, dass
sie für Studierende mit Behinderungen nutzbar sind . Wo
nötig, muss der Umgang mit Hilfsmitteln geschult wer-
den . Dazu müssen auch von den Hochschulen Angebote
entwickelt werden, die mögliche Nachteile ausgleichen .
Nicht zuletzt bietet die Digitalisierung für Studierende
mit Behinderung große Chancen . Eine Entkoppelung von
Lernen und Präsenz vor Ort schafft gerade für Menschen
mit eingeschränkter Mobilität neue Teilhabechancen an
hochschulischen Angeboten . Die Hochschulen haben das
bereits erkannt . Sie sind aber weiter gefordert, Angebote
für inklusive Bildung zu entwickeln .
Ich schließe damit, festzustellen: Heute ist ein guter
Tag für die Inklusion an unseren Hochschulen . Vor uns
liegen große Anstrengungen, um die im Gesetz veranker-
ten Verbesserungen Realität werden zu lassen . Es kommt
jetzt darauf an, dass wir gemeinsam in den Hochschulen,
den Verwaltungen und bei den Trägern die beschlossenen
Verbesserungen für eine stärkere Inklusion umsetzen .
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Professor
Dr . Hase, Landesbeauftragter für Menschen mit Behin-
derung, hat kürzlich zu Beginn einer großen Tagung für
die barrierefreie Hochschule in Schleswig-Holstein in
seiner Begrüßung darauf hingewiesen, dass er als hör-
beeinträchtigter Jurastudent sein Studium gegenüber den
Lehrenden an der Universität immer wieder rechtfertigen
musste . Heute dagegen ist die Inklusion von Menschen
mit Behinderung an den Hochschulen in der UN-Behin-
dertenrechtskonvention rechtlich verankert . Damit die-
ses international gültige Recht jetzt auch seine praktische
Wirksamkeit entfaltet, braucht es mehr Debatten, mehr
Initiativen in den Hochschulen, mehr Begleitung durch
die Politik und vor allen Dingen mehr ganz konkrete ein-
zelne Schritte .
Dazu möchte ich positiv festhalten, dass natürlich
auch der eingebrachte Antrag der Fraktion Die Linke
einen solchen Anstoß für uns im Bundestag setzt, den
wir unbedingt aufnehmen sollten, auch wenn wir von
der SPD nicht in allen Punkten bei dem umfangreichen
Forderungskatalog mit den Linken übereinstimmen müs-
sen . Das Thema ist jedenfalls gesetzt . Wir werden es im
Bildungsausschuss intensiv vertiefen können . Die detail-
lierte Kommentierung und Bewertung der Forderungen
der Linken soll deshalb auch der zweiten Lesung dieses
Antrags vorbehalten sein . Der Tag der Einbringung die-
ses Antrags passt auch; denn die Regierungskoalition
hat auf Initiative unserer Bundessozialministerin Andrea
Nahles heute ein wirklich wegweisendes Teilhabegesetz
verabschieden können, bei dem insbesondere auch die
Zugänge zu Bildung durch die ganze Bildungsbiografie
hindurch deutlich gefördert werden . Der Kollege Oliver
Kaczmarek macht in seinem Beitrag deutlich, was die-
ses Teilhabegesetz im Einzelnen bedeutet und positiv in
Gang setzt .
Dass wir über das Teilhabegesetz hinaus weiterden-
ken müssen, wenn wir eine inklusive Hochschule er-
reichen wollen, macht insbesondere die Datenerhebung
„beeinträchtigt studieren“ deutlich, die im Auftrag des
Deutschen Studentenwerks im Sommersemester 2011
mehr als 15 000 Studierende mit studienerschwerenden
gesundheitlichen Beeinträchtigungen um detaillierte
Auskunft über ihre beeinträchtigungsbedingten Belange
bei Studienwahl, Studiendurchführung und Studienfinan-
zierung befragt hat . Achim Meyer auf der Heide, Gene-
ralsekretär des Deutschen Studentenwerks, hat auf der
Grundlage der Ergebnisse fünf wichtige Handlungsfelder
identifiziert, die auch für die weitere hochschulpolitische
wie auch allgemeinpolitische Debatte bestimmend sein
müssen:
Erstens . Es gibt nicht den Studierenden oder die Stu-
dierende mit Behinderung . Beeinträchtigungsbedingte
Anforderungen an Studium, Hochschule und Studenten-
werksangebote müssen deshalb auch sehr unterschied-
lich ausfallen und hängen stark von der jeweiligen Art
der Beeinträchtigung ab . Das werden viele von uns auch
selbst erlebt haben, wenn sie an ihre eigene Studienzeit
zurückdenken; denn tatsächlich waren die Belange von
Menschen mit Behinderung und Beeinträchtigung die
große Unbekannte. Wenn nur 6 Prozent der teilnehmen-
den Studierenden an der Befragung angeben, dass ihre
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620666
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gesundheitliche Beeinträchtigung auf Anhieb von Dritten
wahrnehmbar ist, müssen wir eben Barrierefreiheit neu
denken und neu verstehen. Nur 12 Prozent der befrag-
ten Studierenden geben an, hauptsächlich aufgrund einer
Bewegungs-, Seh- oder Hörbeeinträchtigung im Studium
eingeschränkt zu sein . Zwei Drittel der studienrelevan-
ten Beeinträchtigungen an den Hochschulen bleiben da-
gegen unbemerkt, wenn Studierende nicht selbst darauf
hinweisen .
Deshalb braucht es eine klare Verankerung des Zie-
les Barrierefreiheit in allen Prozessen und Entscheidun-
gen der verantwortlichen Akteure an den Hochschulen,
und das von vornherein und auch auf höchster Ebene
der Hochschulleitungen . Auch die Beauftragten für die
Belange von Studierenden mit Behinderung und chro-
nischen Krankheiten können dabei eine wichtige Rolle
übernehmen . Das setzt eine gesetzliche Verankerung in
den Bundesländern voraus; die Arbeit der Beauftragten
muss professionalisiert werden . Ohne mehr personelle,
finanzielle und zeitliche Ressourcen und nötige Mitwir-
kungsrechte wird es nicht gelingen, Barrierefreiheit neu
zu erkennen und neu zu denken .
Zweitens . Zeitliche und formale Vorgaben der Studi-
en- und Prüfungsordnung werden für die Mehrheit der
gesundheitlich beeinträchtigten Studierenden zu echten
Barrieren . Annähernd zwei Drittel der Befragten haben
nach eigenen Angaben Schwierigkeiten zum Beispiel mit
der Prüfungsdichte, der starren Abfolge von Modulen
oder Anwesenheitspflichten. Zwei von drei der betrof-
fenen Studierenden kritisieren, dass ihre Lehrkräfte sich
nicht auf ihre spezifischen Belange einstellen können.
Nicht nur die Hochschulen, sondern auch wir als poli-
tische Gestalter von Fördersystemen wie zum Beispiel
beim BAföG oder beim Teilhabegesetz müssen deshalb
verinnerlichen, dass Studierende mit Behinderung und
chronischen Krankheiten mehr Gestaltungsspielräume
bei der Organisation ihres Studiums brauchen . Auch
wenn es mühselig sein wird, muss das Recht auf Nach-
teilsausgleich zur intensiven Überprüfung von allen Ver-
fahrensgrundsätzen führen, damit sie wirklich diskrimi-
nierungsfrei gestaltet sind .
Drittens . Die gute Absicht und die guten Bedingungen
müssen noch lange nicht dazu führen, dass sie auch tat-
sächlich in Anspruch genommen werden . Dieses Ergeb-
nis aus der Befragung „beeinträchtigt studieren“ hat mich
besonders betroffen gemacht. Lediglich ein gutes Drittel
der befragten Studierenden hat bisher überhaupt jemals
einen Antrag auf Nachteilsausgleich im Studium gestellt,
obwohl immerhin 60 Prozent der befragten Studierenden
starke oder sehr starke Studienbeeinträchtigungen ange-
ben . Die Studierenden wissen nämlich nicht, dass es sol-
che Möglichkeiten der Unterstützung gibt, oder sie haben
Angst, sich zu outen, und wollen nicht, dass ihre Behin-
derung oder ihre chronische Krankheit bekannt wird .
Informations-, Beratungs- und Unterstützungsangebote
der Hochschulen und Studentenwerke werden deshalb
umso wichtiger . Immerhin fördert aktuell auch schon die
Bundesregierung eine zentrale Beratungseinrichtung des
Deutschen Studentenwerkes für das Beratungswesen und
die Unterstützung in den Hochschulen selbst . Hier wird
über eine Ausweitung nachzudenken sein, wenn denn
wirklich die Bewegung pro Inklusion in den Hochschu-
len viel weiter Platz greift, was wir uns ja alle nur wün-
schen können .
Viertens . Beratung wird dabei vor allen Dingen in Be-
zug auf die diskriminierungsfreie Studienfinanzierung
notwendig sein . Denn mehr als zwei Drittel der befragten
Studierenden haben beeinträchtigungsbedingte Zusatz-
kosten, zum Beispiel für Arztbesuche, Psychotherapien,
Medikamente etc . Mehr als jeder Siebte von ihnen hat
massive Schwierigkeiten, seinen Lebensunterhalt samt
diesen besonderen Studienzusatzkosten zu decken . Aber
auch hier: Nur rund 2,5 Prozent der befragten Studieren-
den nehmen zusätzliche staatliche Sozialleistungen jen-
seits des Bundesausbildungsförderungsgesetzes in An-
spruch . Wir müssen überlegen, wie die Leistungen noch
mehr auf die ganz konkreten Bedürfnisse von Studieren-
den mit Behinderung oder einer chronischen Krankheit
abgestimmt sein können . Wir müssen aber vor allem
auch dafür mit sorgen, dass diese Hilfen auch praktisch
angenommen werden können .
Fünftens . Deshalb kommt der Generalsekretär des
Deutschen Studentenwerkes in dem fünften Punkt seiner
Auswertung zu der Situation von Studierenden an einer
inklusiven Hochschule zu der für ihn wichtigsten und
drängendsten Aufgabe überhaupt, nämlich der Sensibi-
lisierung und Qualifizierung aller an Hochschulen und
Studentenwerken Tätigen für dieses Thema . „Man ist
nicht behindert, sondern man wird behindert“: Das muss
auch von uns in der politischen Verantwortung verinner-
licht werden .
Tatsächlich gibt es hier auch gute Basisansätze in vie-
len Bundesländern, an vielen Hochschulen und auch bei
den Spitzenverbänden . Mich hat sehr beeindruckt, was
zum Beispiel bei der eingangs von mir genannten Tagung
zur barrierefreien Hochschule in Schleswig-Holstein an
Ideen und auch konkreten Beispielen für dieses Bundes-
land zusammengetragen worden ist . Der Staatssekretär
fordert dazu auf, barrierefreie Hochschule zu einem Mar-
kenzeichen für das Bildungssystem insgesamt zu ma-
chen . Die Fachreferentin des Deutschen Studentenwerkes
wirbt für den Perspektivwechsel von der individuellen
zur institutionellen Verantwortung . Die Beauftragte für
Studierende mit Behinderung der Fachhochschule er-
munterte die Studierenden: „Kommen Sie und machen
Sie sich sichtbar! Kommen Sie in die Beratungsstellen,
aber machen Sie sich sichtbar auf dem Campus!“
Das steht beispielhaft für viel Engagement im deut-
schen Hochschulsystem, um das Leitbild einer Hoch-
schule für alle mehr und mehr Wirklichkeit werden zu
lassen .
Als Student hat mich sehr das Buch „Sonja“ von
Judith Offenbach beeindruckt, in dem das tragische Le-
ben einer gelähmten Studentin an der Hamburger Uni-
versität nachgezeichnet wird . Dieser nicht spektakuläre,
aber sehr detaillierte Bericht über den Alltag einer behin-
derten Studentin endet in Tragik und Melancholie . Das
ist ganz nüchtern die große Aufgabe, die wir jetzt zusam-
men mit neuem Mut angehen können: Diskriminierung,
Tragik und Melancholie durch Gleichberechtigung, Teil-
habe und Mut zu ersetzen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20667
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Nicole Gohlke (DIE LINKE): Die LINKE hat heu-
te einen Antrag vorgelegt mit Vorschlägen, wie wir den
Ausbau der Hochschulen im Sinne der Inklusion voran-
bringen können .
Seit 2009 hat sich Deutschland zur Inklusion ver-
pflichtet, seit 2009 ist die UN-Behindertenrechtskonven-
tion in Kraft, und das bedeutet nichts weniger, als dass
alle Menschen das gleiche Recht auf vollständige gesell-
schaftliche Teilhabe haben, dass wir die Verschiedenheit,
die Unterschiedlichkeit der Menschen endlich als Reich-
tum und nicht als Hemmnis oder Problem begreifen. In
der Bildung wie in jedem anderen gesellschaftlichen
Bereich muss es einen uneingeschränkten, einen gleich-
berechtigten Zugang für alle Menschen geben . Für alle
Menschen, also weder die soziale Zugehörigkeit noch
der ökonomische Hintergrund, weder individuell ver-
schiedene Voraussetzungen noch Handicaps, weder das
Geschlecht oder die sexuelle Orientierung noch Religi-
on oder Herkunft dürfen ein Hindernis für Partizipation
darstellen .
Alle meint einfach alle . Für dieses Umdenken ist es
wirklich höchste Zeit! An vielen Hochschulen werden
Anstrengungen unternommen, um die Barrierefreiheit
voranzubringen, mit Rampen und Aufzügen für Roll-
stuhlfahrer und Rollstuhlfahrerinnen oder mit barrie-
refreien Web-Auftritten . Aber es ist bei diesem Thema
genauso wie bei den meisten anderen wichtigen Heraus-
forderungen in der Bildung: Eine angemessen schnelle
und flächendeckende Umstellung wird nur gelingen,
wenn es dafür eine gezielte Unterstützung von Bund und
Ländern gibt, und deshalb wirbt die Linke für ein Inves-
titionsprogramm für inklusive Bildung, zusammen mit
einem Inklusionspakt für die Hochschulen, um nicht nur
bauliche Maßnahmen voranzubringen, sondern auch die
Lehr- und Lernmittel inklusiv auszurichten, oder um das
Betreuungsverhältnis von Studierenden und Lehrenden
zu verbessern .
Aber statt sich darüber Gedanken zu machen, wie die
Bundesregierung helfen kann, Hürden zu beseitigen,
baut sie selber neue auf . Das neue Bundesteilhabege-
setz, das heute verabschiedet wurde – und zwar gegen
die Stimmen der Fraktion Die Linke –, bedeutet, auch
nach den nun vorgenommenen Änderungen, deutliche
Verschlechterungen für Studierende mit Beeinträchti-
gungen. Fakt ist, dass die Pläne der Bundesregierung das
Recht auf freie Berufswahl einschränken werden, und es
ist eigentlich unglaublich, dass wir uns heute, statt über
die nächsten Schritte in Richtung Inklusion zu reden, uns
über die Verhinderung von neuer Diskriminierung unter-
halten müssen .
Statt das Leben einfacher zu machen für diejenigen,
die auf persönliche Assistenz angewiesen sind, schrän-
ken sie ihre Rechte im Vergleich mit Studierenden ohne
Behinderung ein . Der Erhalt von Eingliederungshilfe für
eine schulische oder hochschulische berufliche Weiter-
bildung soll an zeitliche und inhaltliche Vorgaben ge-
bunden sein, und Leistungen für ein Promotionsstudium
werden im Bundeteilhabegesetz nicht einmal aufgeführt .
All das sind massive Benachteiligungen für Studieren-
de und Nachwuchswissenschaftler und -wissenschaftle-
rinnen mit Behinderungen, es ist das Gegenteil von dem,
was die UN-Behindertenrechtskonvention will . Und das
ist nicht hinzunehmen . Und für die allermeisten Studie-
renden mit Beeinträchtigung ist der notwendige finan-
zielle Mehrbedarf für das Studium ein echtes Problem.
Und es kann doch nicht sein, dass erhöhte Bedarfe we-
gen einer Behinderung im BAföG grundsätzlich nicht be-
rücksichtigt werden . Dieser Zustand ist unzumutbar für
die Betroffenen.
Deswegen wollen wir das BAföG zukünftig in eine
der Beeinträchtigung angemessene Förderung umwan-
deln und über die Regelstudienzeit hinaus zahlen – nur
so kann verhindert werden, dass Studierende mit Behin-
derung nicht vielleicht zum Studienabbruch gezwungen
sind .
Die Beseitigung von Barrieren, das ist nicht nur rele-
vant für Menschen mit Beeinträchtigungen, sondern für
uns alle, weil jede und jeder von uns immer wieder da-
rauf angewiesen ist, dass uns Hürden aus dem Weg ge-
räumt werden . Dieses Verständnis von Inklusion wollen
wir voranbringen .
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Inklusi-
on ist ein Menschenrecht . Sie beruht auf der Wertschät-
zung menschlicher Vielfalt und der Unterschiedlichkeit
von Menschen als das, was sie ist: Normalität . In einer
inklusiven Gesellschaft leben alle Menschen als einzig-
artig, besonders und gleichberechtigt miteinander, unab-
hängig von ihrer Herkunft, Weltanschauung, sexuellen
oder geschlechtlichen Identität, ihren Fähigkeiten oder
Bedürfnissen .
Inklusion bedeutet lebenslange volle, gleichberech-
tigte und wirksame Teilhabe aller Menschen . Sie erfor-
dert, die gesellschaftlichen Strukturen so zu verändern
und zu gestalten, dass sie der Vielfalt der menschlichen
Lebenslagen von Anfang an Rechnung tragen und allen
Menschen gleichermaßen zugänglich sind . Dies gilt für
das gesamte gesellschaftliche Leben: vom Besuch der
gemeinsamen Kindertagesstätte, von der Schule, Berufs-
oder Hochschule, der Information und Kommunikation
bis hin zum Wohnen, Arbeiten, zu der Freizeitgestaltung
und Selbstbestimmung bis ins hohe Alter .
Seit Jahrzehnten kämpfen Menschen mit Behinderung
für ein selbstbestimmtes Leben und gleichberechtigte
Teilhabe am sozialen, kulturellen und politischen Leben .
Trotzdem leiden sie noch heute unter mangelnder Inklu-
sion . Der Leitspruch der Bewegung hat damals wie heute
Gültigkeit: „Der Mensch ist nicht behindert, er wird be-
hindert!“
Dem Grundanliegen des Antrags „Inklusive Bildung
für alle – Ausbau inklusiver Hochschulen fördern“, den
die Fraktion Die Linke hier heute vorlegt, können wir zu-
stimmen: Inklusive Bildung bedeutet, auch Hochschulen
zu „enthindern“ . Die Hochschulrektorenkonferenz hat
bereits 2009 in ihrer Empfehlung „Eine Hochschule für
Alle“ zentrale Probleme angesprochen, die im Zuge des
Ausbaus einer inklusiven Hochschullandschaft gelöst
werden müssen: Die Spannbreite reicht von der Studien-
orientierung, -beratung und -zulassung über die Gestal-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620668
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(B) (D)
tung der Lehre und Prüfungen bis zu Fragen der Barrie-
refreiheit und Studienfinanzierung.
Laut Erhebung des Deutschen Studentenwerks zur Si-
tuation von Studierenden mit Behinderung und chroni-
scher Krankheit („beeinträchtigt studieren“) erleben noch
immer 60 Prozent der Befragten starke bzw. sehr starke
beeinträchtigungsbedingte Studienerschwernisse . Auch
wenn es an vielen Hochschulen bereits gute individuel-
le Lösungen für einzelne Studierende mit Behinderung
gibt, ist es noch ein weiter Weg zur flächendeckenden
inklusiven Hochschule . Die baulichen, kommunikati-
ven, aber auch die finanziellen und rechtlichen Barrieren
müssen weg, die bisher Menschen mit Behinderungen
zusätzlich den Weg an die Hochschule erschweren . In-
klusion zu gestalten, ist eine gemeinsame Aufgabe von
Bund und Ländern .
Die Verantwortung für die Finanzierung von Maß-
nahmen, die behinderten Menschen ein Studium ermög-
lichen, ist zwischen Hochschule und Sozialhilfeträger
nicht klar genug geregelt. In den Programmen, mit denen
Hochschulen der Vielfalt in der Studierendenschaft ge-
recht werden und sie fördern wollen, spielen Menschen
mit Behinderung noch zu oft eine Nebenrolle . Es gibt
bisher kaum Lehrende, die Kenntnisse barrierefreier
Hochschuldidaktik haben, obwohl davon nicht nur be-
hinderte Studierende profitieren würden.
Ein Feld, wo die Regierungsfraktionen auf den letz-
ten Drücker ein paar Verbesserungen im Bildungsbereich
erkannt haben, ist das Bundesteilhabegesetz . Wir sind
der Auffassung: Leistungen zur Teilhabe müssen in je-
der Phase allgemeiner, beruflicher und hochschulischer
Bildung gewährt werden . Es muss sichergestellt sein,
dass Menschen mit Unterstützungsbedarf die vielfältigen
Bildungsgänge und -wege gleichberechtigt wahrnehmen
können . Dies gilt insbesondere auch für eine freiwillige
berufliche Neuorientierung.
Trotz dieser kleinen Verbesserungen bringt das Bun-
desteilhabegesetz von Union und SPD insgesamt schlech-
tere Bedingungen für behinderte Studierende . Künftig gilt
der Grundsatz, dass der Staat nur für einen Ausbildungs-
gang die behinderungsbedingten Kosten – zum Beispiel
Assistenz oder Gebärdendolmetscher – finanziert. Davon
soll nur abgewichen werden, wenn zwischen den beiden
Ausbildungsgängen ein inhaltlicher Zusammenhang be-
steht und höchstens zwei Jahre Abstand liegen. Praktika
und Auslandssemester sind nur möglich, wenn sie vorge-
schrieben sind . All das ist schlecht – und all das ist vor
allem keine Inklusion .
Der Antrag der Linksfraktion zur inklusiven Hoch-
schule fokussiert auf Menschen mit Behinderung, die
an einer öffentlichen Hochschule ihrer Wahl zusammen
mit anderen studieren oder promovieren wollen . Gerade
in Zeiten wie diesen ist es leider notwendig, deutlich zu
sagen, dass weder les-bi-schwul-trans*-Menschen noch
Behinderte „Minderheiten“ sind, denen sich irgendwer
„zu viel widmen“ könnte . Aus falscher Angst vor lauten
Pöblern so zu tun, als seien alle Menschen gleich, nützt
nur denen, die sich zum Maßstab machen und zur Mehr-
heit erklären, ohne es zu sein . Ein liberaler Verfassungs-
staat zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er keine
Diskriminierungen zulässt . So ein Staat fällt keine Wert-
urteile, wer es „wert“ ist, studieren zu dürfen, oder bei
wem es „zu viel des Guten“ ist, weil es halt Steuermittel
kostet, eine exklusiv geplante und gebaute Hochschule
endlich auch für Blinde, Gehbehinderte oder Autistinnen
und Autisten zu öffnen.
Wir sind schlauer als früher; denn es gab auch eine
Zeit, in der diskutiert wurde, dass Frauen nicht an Schu-
len oder Hochschulen dürften, weil man dann dort ja wei-
tere Toiletten einbauen müsste . Dieser Gedanke erscheint
uns heute absurd; wir haben uns weiterentwickelt . Aber
dann müssen wir auch die Konsequenzen daraus ziehen
und die öffentlichen Einrichtungen öffnen, die Hinder-
nisse wegnehmen und einen neuen Standard setzen, der
Inklusion heißt .
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
der Vorschriften zur Vergabe von Wegenutzungs-
rechten zur leitungsgebundenen Energieversor-
gung (Tagesordnungspunkt 20)
Ingbert Liebing (CDU/CSU): Heute schließen wir
die Beratungen über einen Gesetzentwurf ab, der auf den
ersten Blick nur eine Kleinigkeit sein mag, es handelt
sich um die Änderung eines einzelnen Paragraphen, § 46
im Energiewirtschaftsgesetz. Aber es ist ein Paragraph
mit großer Wirkung, und deshalb ist das Gesetz, das wir
heute beschließen, wichtig .
Über Jahre hinweg hatten wir massive Rechtsunsi-
cherheiten bei Ausschreibungen für Leitungskonzessio-
nen in Kommunen gehabt . Rechtsstreitigkeiten vor Ge-
richt, viel Ärger, viel Aufwand und hohe Kosten bei allen
Beteiligten: bei den Kommunen, die für die Ausschrei-
bungen zuständig sind, bei den Altkonzessionären, die
ihre Konzessionen in der Ausschreibung verloren haben,
und bei den Neukonzessionären, die die Ausschreibun-
gen gewonnen haben . Deshalb war es unser Ziel als Ko-
alition, in diesem Thema endlich mehr Rechtssicherheit
zu schaffen und damit zur Befriedung dieser Konflikte
beizutragen .
Mehr Rechtssicherheit für alle Beteiligten – das hatten
wir uns mit dem Koalitionsvertrag vorgenommen, und
das setzen wir jetzt um. Wir schaffen Klarheit für die
Kommunen, welche Auskunftsrechte sie bekommen . Das
ist für sie wichtig, damit sie ihre Ausschreibung rechts-
sicher gestalten können. Wir schaffen Klarheit über den
Kaufpreis für die Netze . Wir haben uns verständigt auf
den Vorschlag des objektivierten Ertragswerts . Darüber
haben wir auch in den Beratungen intensiv diskutiert und
den Vorschlag geprüft . Er ist angemessen, weil wir damit
der Rechtsprechung Rechnung tragen . Indem wir dies
jetzt auch im Gesetz selbst regeln, schaffen wir auch hier
Rechtssicherheit und Klarheit .
Wir schaffen auch Klarheit, dass Verfahrensmängel
zügig gerügt werden müssen . Wir hatten es doch erlebt,
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20669
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dass teilweise zwei Jahre nach Abschluss eines Verfah-
rens noch der Rechtsweg eingeleitet wurde . Wir setzen
jetzt eine enge Frist von wenigen Wochen, innerhalb der
eine Vergabe gerügt werden kann . Danach gilt eine Ent-
scheidung. Auch das schafft Rechtssicherheit, das schafft
Klarheit .
Für die Kommunen ist auch wichtig, dass die Konzes-
sionsabgabe zwingend fortzuzahlen ist, auch wenn über
eine Vergabe noch vor Gericht gestritten wird . Die Kom-
munen dürfen nicht die Leidtragenden eines Rechtsstrei-
tes zwischen Alt- und Neukonzessionär sein .
Intensive Beratungen hatten wir über die Vorschrift,
dass die Kommunen neben den Kriterien, die § 1 des
Energiewirtschaftsgesetzes als Vergabekriterien aufgibt,
auch örtliche Belange als Vergabekriterium einbeziehen
können . Ich halte dies für richtig, weil die Kommen so
mehr Gestaltungsmöglichkeiten in die Hand bekom-
men . Aber wir stellen auch klar, dass damit kommunale
Unternehmen selbst nicht bevorzugt werden dürfen . Im
Rahmen eines Ausschreibungsverfahrens mit einem dis-
kriminierungsfreien Wettbewerb müssen die Auswahl-
kriterien so gewählt werden, dass jeder Bewerber diese
Kriterien erfüllen kann, der private Bewerber genauso
wie der kommunale Bewerber .
Das gilt auch für Angelegenheiten der örtlichen Ge-
meinschaft . Sie können durch einen kommunalen Bewer-
ber genauso wie durch einen privaten Bewerber erfüllt
werden . Entscheidend ist, dass wir hier einen diskrimi-
nierungsfreien Wettbewerb herbeiführen um die besten
Lösungen im Interesse der örtlichen Gemeinschaft .
In den Detailberatungen haben wir uns auch mit den
Vorschlägen befasst, die der Bundesrat in das Verfahren
eingebracht hat . So übernehmen wir einen Vorschlag für
eine Übergangsregelung bei laufenden Verfahren . Auch
dies dient der Rechtssicherheit und der Klarheit .
Wir haben uns darüber hinaus über eine andere wich-
tige Änderung verständigt . Der Streitwert für den Antrag
auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zur Überprü-
fung von Konzessionsverfahren wird vereinheitlicht und
auf höchstens 100 000 Euro begrenzt . Damit soll verhin-
dert werden, dass überhöhte Gerichtskosten die beteilig-
ten Unternehmen davon abhalten, zügig Rechtsschutz zu
suchen . Auch diese Regelung dient der Rechtssicherheit
und der Klarheit .
Ich will aber auch gerne auf einen Punkt hinweisen,
den wir ausdrücklich nicht regeln . Die Vorschläge der
Fraktion der Linken für Inhouse-Vergabe und Rekommu-
nalisierung haben wir ausdrücklich nicht aufgenommen,
und zwar aus gutem Grund, denn es geht hier nicht um das
Ziel Rekommunalisierung, sondern um das Ziel Rechts-
sicherheit in einem Wettbewerbsverfahren . Wettbewerb
um die Netzrechte ist gut, er dient auch den Kommunen,
weil sie mit den jetzt rechtssicher festgelegten Kriterien
einen Wettbewerb auslösen können, wer am ehesten und
wer am besten die Netze in der Gemeinde betreibt . Dies
kann ein Stadtwerk sein, aber es kann auch ein privates
Unternehmen sein .
Wir wollen den Wettbewerb, in dem kommunale Un-
ternehmen genauso wie private Unternehmen gewinnen
können .
Entscheidend ist, dass dieser Wettbewerb fair stattfin-
det, und dass der Rechtsrahmen sicher ist . Dafür leisten
wir mit dem Gesetz, das wir heute beschließen, einen
wichtigen Beitrag, und deshalb ist dieses Gesetz zur
Änderung von § 46 Energiewirtschaftsgesetz ein gutes
Stück Arbeit der Koalition .
Johann Saathoff (SPD): In rund 10 Monaten ist
Bundestagswahl, und deshalb hat man nicht mehr viel
Zeit, Dinge umzusetzen, die man sich vorgenommen hat .
Und – zugegeben – es hat recht lange gedauert, bis wir
nun endlich das umsetzen, was wir im Koalitionsvertrag
zu den Konzessionsvergabeverfahren vereinbart haben .
Das Bundeskabinett hat den Gesetzentwurf immerhin
schon im Februar dieses Jahres beschlossen . „Dor fallt
keen Boom up de eerste Slag“ würde man da in Ostfries-
land sagen, was so viel heißt wie „Erfolg braucht Aus-
dauer“ .
Aber das Ergebnis kann sich durchaus sehen lassen .
Vor allem steht dieses Gesetz im Lichte der Rechts-
klarheit für die Kommunen bei der Durchsetzung ihres
Rechtes, Energienetze in ihrer Gemeinde wieder in die
eigene Hoheit und eigene Verwaltung zu übernehmen .
Die bisherige Rechtsunsicherheit war ein großer Hemm-
schuh für die Kommunen, die allesamt die originären
Konzessionsträger für Energienetze verkörpern . Folg-
lich ist das Betreiben von Energienetzen ein Akt der öf-
fentlichen Daseinsvorsorge und obliegt zu allererst den
Kommunen . Trotzdem sollen Kommunen natürlich auch
im Rahmen der Vergabeverfahren zu der Entscheidung
gelangen, die Energienetze in private Hände zu geben .
Allerdings sollen die Kommunen unserer Meinung nach
nicht durch vorhandene Rechtsunsicherheiten dazu ge-
zwungen werden .
Der Kabinettsbeschluss vom 3 . Februar 2016 sah die
Einführung des „objektivierten Ertragswerts” vor, um
das Bewertungsverfahren bei Neuvergabe der Konzes-
sionen für Verteilnetze anders als bisher zu regeln . Wir
haben diesen Wert von Anfang an als den richtigen Wert
angesehen .
Denn mit dem bislang angewendeten Sachzeitwert
wurde das Besitzverhältnis unsachgemäß abgebildet,
denn das Netz verbleibt ja, vereinfacht gesprochen, bei
der Kommune . In der Vergangenheit war der Netzkauf-
preis einer der großen Streitpunkte . Der Altkonzessionär
wollte möglichst viel Geld haben, der Neukonzessionär
möglichst wenig Geld zahlen – absolut verständlich .
Für den Konzessionär kann es aber lediglich darum
gehen, welche Einnahmen in den 20 Jahren der Konzes-
sion er erzielen kann, und darum, das Netz zu verkaufen .
Wir begrüßen also die Klarstellung und sind davon über-
zeugt, dass damit ein fairer Interessenausgleich zwischen
Alt- und Neukonzessionär gegeben ist .
Darüber hinaus ist uns die Neuregelung zum Aus-
kunftsanspruch der Kommunen gegenüber dem Altkon-
zessionär ein wichtiges Anliegen . Der bisherige Zustand,
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620670
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in dem sich der Altkonzessionär weigern konnte, dem
Auskunftsersuchen der zu Neuvergabe willigen Kom-
mune nachzukommen, macht die Notwendigkeit dieser
Regelung deutlich . Dadurch war der Altkonzessionär
allein durch die Verweigerung der Auskunft dazu in der
Lage, eine Neuvergabe mindestens zu behindern und
seine eigenen Chancen im Verfahren deutlich zu erhö-
hen . Wettbewerbsgleichheit war das sicher nicht, deshalb
ist es gut, dass wir es nun zurechtrücken . Das mag sich
zunächst banal anhören, aber die notwendigen Leitungs-
längen im Verhältnis beispielsweise zu den Straßenkilo-
metern einer Gemeinde können drastisch abweichen . Das
ist zum Beispiel in Fehndörfern der Fall, wo die Sied-
lungsstruktur üblicherweise so gestaltet ist, dass es in der
Mitte einen Kanal gibt und an beiden Seiten des Kanals
jeweils eine Straße mit jeweils den Energieversorgungs-
leitungen. Fehnorte können also bis zu 100 Prozent mehr
Leitungen im Boden vergraben haben (und damit zu ver-
walten haben) als zum Beispiel Warftendörfer, die übli-
cherweise im Rund angelegt wurden . Da wie beschrieben
die Leitungslängen enorm voneinander abweichen kön-
nen, je nach Siedlungsstruktur, kann eine Gemeinde die
Leitungslängen nicht einfach schätzen, sondern ist darauf
angewiesen, dass der Altkonzessionär ihr die notwendi-
gen Daten zur Verfügung stellt, damit die Gemeinde in
einem fairen Bieterverfahren sich gegebenenfalls an ei-
ner Ausschreibung beteiligen kann .
Darüber hinaus haben wir eine uneingeschränkte Fort-
zahlungspflicht der Konzessionsabgabe eingeführt, denn
unwillige Altkonzessionäre konnten bislang nicht nur das
Verfahren anfechten und dadurch das Verfahren hinaus-
zögern, sie konnten zusätzlich auch den Druck auf die
Kommune dadurch erhöhen, dass sie nach einem Jahr die
Zahlung der Konzessionsabgabe einstellten .
Auch das wird für mehr Rechtssicherheit sorgen, ge-
nauso wie das neue Rüge- und Präklusionsregime mit
den gestaffelten Rügeobliegenheiten. Diese sehen vor,
dass Parteien im Verfahren Rechtsverletzungen bis zu
einem bestimmten Zeitpunkt rügen müssen, da der An-
spruch auf Abhilfe sonst verfällt . Es ist vorgesehen, dass
Verstöße im Rahmen der Aufstellung und Gewichtung
von Kriterien innerhalb von 15 Kalendertagen ab Zugang
der entsprechenden Mitteilung zu rügen sind . Nach Aus-
wahlentscheidung haben unterlegene Parteien 30 Tage
Zeit, dagegen ihre Bedenken vorzubringen .
Mit dem neuen § 47 wird nun also zur Stärkung von
Rechtssicherheit und Vertrauensschutz eine Präklusions-
vorschrift im Gesetz verankert. Durch diese Pflicht der
beteiligten Unternehmen, auch im laufenden Verfahren
aktiv auf die Vermeidung und Ausräumung von Rechts-
fehlern hinzuwirken, erhöhen sich die Qualität und die
Rechtssicherheit von Vergabeverfahren zum Vorteil aller
Beteiligten .
Sowohl die Gemeinde als auch ein neuer Netzbetrei-
ber profitieren von einer zügig eintretenden Rechtssi-
cherheit .
Ich bin auch froh, dass wir im parlamentarischen Ver-
fahren noch einen weiteren Punkt hinzugefügt haben, der
die eben genannten ergänzt . Damit meine ich die Begren-
zung des Streitwertes auf 100 000 Euro . Damit befreien
wir nämlich vor allem die Kommunen von einem weite-
ren Damoklesschwert .
Das sind die Punkte, die wir verbessert haben. Ich
kann aber auch nicht verhehlen, dass es Punkt gab, wo
wir – damit meine ich die Sozialdemokraten – uns noch
weitere Regelungen hätten vorstellen können .
Wir begrüßen auch die grundsätzliche Absicht des Ge-
setzes, dass Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft
als zulässiges Kriterium im Rahmen der Auswahlent-
scheidung Berücksichtigung finden können. Wir sahen
und sehen auch weiterhin bei den Kriterien noch weite-
ren Konkretisierungsbedarf, vor allem bei der Auswahl,
Gewichtung und Beurteilung dieser Kriterien . Und um
eine Fehlgewichtung mit Blick auf die im Koalitions-
vertrag genannten Ziele zu vermeiden, war mir wichtig,
darauf ausdrücklich hinzuweisen, dass im parlamentari-
schen Verfahren beim Zustandekommen dieses Gesetzes
sich die Koalition einig ist, dass alle Kriterien gleich ge-
wichtet werden und keines der Kriterien bei der Vergabe
einen Schwerpunkt darstellt .
Zur Klarstellung sollte ursprünglich unserer Meinung
nach die Hervorhebung „insbesondere der Versorgungs-
sicherheit und der Kosteneffizienz“ gestrichen werden,
da ansonsten die in § 1 EnWG ebenfalls genannten Zie-
le ohne Grund schlechter gestellt werden könnten . Da-
mit konnten wir Sozialdemokraten uns aber leider nicht
durchsetzen .
Wir konnten nun mal nicht alle unsere Wünsche im
Gesetz unterbringen . Trotzdem bin ich davon überzeugt,
dass diese Novelle für mehr Rechtssicherheit sorgen
wird . Nichtsdestotrotz werden wir die weitere Rechtspre-
chung im Auge behalten und weiteren Nachsteuerungs-
bedarf prüfen .
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Bundesweit
wollen immer mehr Städte und Gemeinden ihre Ener-
gienetze wieder selbst betreiben . Der Trend zur Re-
kommunalisierung hält in diesem Bereich unverändert
an . Die Kommunen stoßen dabei immer wieder auf den
Widerstand der Energiekonzerne, die sich die derzeit
widersprüchliche und umstrittene Gesetzeslage zunut-
ze machen . Rekommunalisierungsvorhaben werden auf
diese Weise hintertrieben und verhindert . Insbesondere
wurde durch eine 2011 durch einen Handstreich von der
damaligen Koalition erfolgte Änderung des Energiewirt-
schaftsgesetz (EnWG) die Inhousevergabe an kommuna-
le Betriebe auf rechtlich schwankenden Boden gestellt,
gleichwohl sie europarechtlich zulässig ist .
Sie wissen, die Linke hat in mehreren Anträgen zum
Thema gefordert, das zurückzunehmen . Kommunen
müssen im Rahmen ihrer grundgesetzlich garantierten
Selbstverwaltung eigenständig entscheiden können, ob
sie die Versorgungsnetze selbst übernehmen wollen oder
ob sie sie die Konzessionen dafür ausschreiben . Daher
sollte das Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) so klarge-
stellt werden, dass die Kommunen die Netzkonzession
im Rahmen einer europarechtlich zulässigen Inhouse-
vergabe an ein kommunales Unternehmen auch ohne
Ausschreibung vergeben können . Genau dies aber ist
mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht passiert . Die
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20671
(A) (C)
(B) (D)
Bundesregierung schreibt ja selbst im Gesetzentwurf, ich
zitiere:
Nicht aufgegriffen wird die von kommunaler Seite
und zuletzt von der Fraktion DIE LINKE (Bundes-
tagsdrucksache 18/3745) vorgebrachte Forderung,
von einem vergabeähnlichen Verfahren gänzlich
absehen zu können und eine direkte In-House-Ver-
gabe von der Gemeinde an ein kommunales Unter-
nehmen zuzulassen . Der in § 46 EnWG angelegte
„Wettbewerb um das Netz“ ist zwingend aufrecht zu
erhalten . Dieser ist kein Selbstzweck, er dient dazu,
die in § 1 Absatz 1 EnWG normierten Ziele, die im
Interesse des Allgemeinwohls liegen, zu erreichen .
In der Anhörung zum Gesetzentwurf Energie und zu
unseren Anträgen im Ausschuss für Wirtschaft hat Herr
Professor Kupfer, der die Gemeinde Titisee-Neustadt in
dieser Sache vor dem Bundesverfassungsgericht vertre-
ten hat, eindrücklich argumentiert . Die geltende und nun
wohl auch kommende Regelung des Energiewirtschafts-
gesetzes stelle einen nicht hinnehmbaren Eingriff in die
verfassungsmäßig geschützte kommunale Selbstverwal-
tung dar .
Nun wird die Koalition jetzt sicherlich argumentie-
ren: Tja, die Gemeinde Titisee hat ja mit dem Profes-
sor Kupfer im Sommer vor dem Bundesverfassungsge-
richt verloren! – Dazu möchte ich sagen, dass sich das
Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom
22 . August mit keinem Satz inhaltlich zu der Kommu-
nalverfassungsbeschwerde der Stadt Titisee-Neustadt
geäußert hat . Es hat lediglich dargelegt, dass die beklag-
ten Entscheidungen des Bundesgerichtshofes vom De-
zember 2013 die Praxis der Konzessionsvergabe nicht in
einem Ausmaß prägen würden, dass jene mit einer Kom-
munalverfassungsbeschwerde angreifbar seien .
Die Bundesverfassungsrichter haben sogar ausdrück-
lich darauf verwiesen, im Fall der Novellierung des
EnWG dieses dann vom Bundesverfassungsgericht über-
prüfen zu lassen . Und das wird passieren . Denn im Kern
stellt das neu geregelte EnWG mit § 46 Absatz 4 Satz 2
weiterhin das Prinzip „Kosteneffizienz“ höher als jenes
Prinzip, nach dem Kommunen Angelegenheiten der ört-
lichen Gemeinschaft selbst regeln können . Das wird ja
noch einmal mit der Protokollnotiz von CDU/CSU und
SPD in der letzten Ausschusssitzung untermauert. Die
eingefügten Spielräume, Kriterien für kommunale An-
gelegenheiten in die Ausschreibungen mit aufzunehmen,
sind nicht das Papier wert, auf dem sie stehen. Ich zitiere:
„Insbesondere dürfen die aufgestellten Kriterien kom-
munale Bewerber gegenüber sonstigen Bewerbern nicht
bevorzugen . Dies gilt auch für die Angelegenheiten der
örtlichen Gemeinschaft im Sinne der neu geschaffenen
Vorschrift .“
Ich wundere mich über Herrn Saathoff, der hier von
einem „vernünftigen Kompromiss“ spricht . Gibt es we-
nigstens noch jemanden in der SPD, der die Interessen
der Kommunen im Blick hat oder die einer zukunftsfä-
higen Energiewende? Denn der Ansatz dieser Novelle
ist ja nicht nur ein Angriff gegen die kommunale Selbst-
verwaltung . Er verkennt auch die besondere Rolle, die
Stadtwerke in der Energiewende einnehmen können .
Denn die Rekommunalisierung von Energienetzen hat
viele Vorteile: Sie erleichtert die Umsetzung örtlicher in-
tegrierter Klimaschutzkonzepte und steigert die örtlichen
und regionalen Wertschöpfungspotenziale . Von Versor-
gungsnetzen in kommunaler Hand würden auch insbe-
sondere der dringend notwendige Ausbau von Anlagen
zur Kraft-Wärme-Kopplung und ihr systemdienlicher
Einsatz profitieren. Denn die Verbindung von Strom-
und Wärmemarkt wird gerade auf kommunaler Ebe-
ne ein zentrales Element des künftigen Stromsystems .
Mit ihr kann flexibel ein Ausgleich zur schwankenden
Einspeisung von Ökostrom geschaffen werden. Zudem
wird das Verteilnetz zunehmend Träger moderner Kom-
munikation zur Steuerung von Erzeugungsanlagen und
Nachfrage (Smart Grids) . Ferner ist damit zu rechnen,
dass im nächsten Jahrzehnt auch Power-to-Gas-Anlagen
Bestandteil des Energiesystems sind, die überschüssigen
Ökostrom zu brennbaren Gasen verwandeln . Alles Infra-
struktur und Geschäfte, die gut innerhalb eines Gemein-
degebiets gemanagt werden können . Dort, wo die Netze
in einer Hand liegen, werden folglich erhebliche Syner-
gien eintreten . Diese werden sich für die Energiewende
wie für die Wirtschaftlichkeit von Klimaschutzmaßnah-
men gleichermaßen auszahlen .
Die Linke sieht in der Rückeroberung der Netze des-
halb einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer inno-
vativen Form von Stadtwerk . Wir denken an ein Stadt-
werk, das sich neben dem Betrieb des Netzes für den
Ausbau der Erneuerbaren engagiert, das die Kraft-Wär-
me-Kopplung voran treibt, das Sozialtarife möglich
macht und ins Energieeinspargeschäft einsteigt . Dieser
Weg könnte aber durch das Verbot der Inhouseverga-
be künftig weitgehend verbaut sein – zum Nutzen von
Energiekonzernen, die sich gerade neue Geschäftsfelder
suchen .
Die vielfältigen Möglichkeiten für Verteilnetze in
kommunaler Hand und Stadtwerke – das alles will die
Koalition offensichtlich verhindern. Dies ist ein Trauer-
spiel und steht auch in einem deutlichen Spannungsver-
hältnis zur sonstigen Rechtsprechung des Bundesverfas-
sungsgerichts . Das hat nämlich mehrfach – grundlegend
in der sogenannten Rastede-Entscheidung – ausgeführt,
dass das Kostenargument zugunsten einer Beschneidung
der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie allenfalls in
Fällen eines unverhältnismäßigen Kostenanstiegs in Be-
tracht kommen kann, nicht aber ganz pauschal und ganz
allgemein, wie es jetzt weiterhin sein soll .
Ich bin gespannt, wie das Bundesverfassungsgericht
eine neue Klage, nunmehr gegen das novellierte EnWG –
etwa über den Weg einer erneuten Kommunalverfas-
sungsbeschwerde oder aber auch im Rahmen einer abs-
trakten Normenkontrolle – entscheiden wird .
Klar ist aber jetzt schon eins: Mit dieser Novelle öffnen
Sie den Weg für eine unendliche Serie neuer Gerichts-
verfahren . Das Ziel, für die Kommunen mehr Rechtssi-
cherheit zu schaffen, haben sie grandios verfehlt. Das ist
nicht nur politisch bedenklich, es ist auch stümperhaftes
Handwerk .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620672
(A) (C)
(B) (D)
Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der
Betrieb von Strom- und Gasnetzen ist aus unserer Sicht
kommunale Daseinsvorsorge . Deshalb wollen wir, dass
Kommunen eine weitgehende Entscheidungsfreiheit
bekommen, wer Netze betreibt . Wenn die Kommune es
zum Beispiel mit ihrem Stadtwerk nicht selbst betreiben
will, soll es bei der Neuvergabe einen Wettbewerb um
das Netz geben . Der Netzbetrieb ist natürliches Monopol,
stark reguliert und darüber ist sichergestellt, dass alles
effizient läuft. Fast 900 – oft kommunale – Netzbetrei-
ber in Deutschland belegen einen effizienten Netzbetrieb.
Deshalb haben wir Grüne kein Verständnis, warum Kom-
munen mit Gesetz gezwungen werden, eine Vergabeent-
scheidung an die allgemeinen und unbestimmten Ziele
des Energiewirtschaftsgesetzes zu knüpfen, die sowieso
eingehalten werden müssen .
Wir haben kein Verständnis, warum in der Gesetzes-
novelle nicht die Möglichkeit einer Inhouse-Vergabe
geschaffen wird. Das ist in anderen Bereichen mögliche
und sinnvolle Praxis. Warum nicht hier?
Ich habe bei den vielen Debatten keine wirkliche Be-
gründung von Ihnen, liebe Kollegen von Union und SPD,
gehört . Es gibt nur eine Erklärung: Sie misstrauen den
Kommunen, und das finde ich, ehrlich gesagt, unerhört
angesichts der Tatsache, dass Hunderte Kommunen jeden
Tag unter Beweis stellen, dass sie Netzbetrieb können .
Nun hatten Sie sich in Ihrem Koalitionsvertrag vor-
genommen, mehr Rechtssicherheit zu schaffen, wenn
Kommunen Netzbetreiber wechseln wollen . Das ist auch
bitter nötig, denn Schwarz-Gelb hat 2010 eine katastro-
phale Rechtslage geschaffen. Die allermeisten Netzüber-
nahmen führen zu jahrelangen Rechtsstreitigkeiten . Die
bisherige Formulierung des § 46 EnWG ist ein Arbeits-
beschaffungsprogramm für Rechtsanwälte, Berater und
Gerichte . Es ist ein Beispiel für richtig miese Gesetzge-
bung . Das produziert die absurde Situation einer Vielzahl
sich widersprechender Gerichtsurteile und potenziert
Rechtsunsicherheit für alle Beteiligten .
Eigentlich wollten Sie das Problem gleich zu Beginn
der Legislatur lösen . Gebraucht haben Sie, meine Damen
und Herren von der Großen Koalition, aber die gesamte
Wahlperiode für die lächerliche Neufassung von einein-
halb Paragrafen. Das allein ist schon ein Armutszeugnis.
Noch schlimmer ist aber das, was herausgekommen
ist . Sie lösen die bisherige Rechtsunsicherheit nicht
wirklich, sondern schaffen sogar noch neue: Sie führen
weitere unbestimmte Rechtsbegriffe ein, wie „Netzwirt-
schaftliche Anforderungen“ und „Angelegenheiten der
örtlichen Gemeinschaft“ – klingt schön, aber jeder ver-
steht etwas anderes darunter . Wir konnten uns ja alle im
Ausschuss schon ein Bild davon machen, dass die CDU/
CSU etwas völlig anders darunter versteht als die SPD,
und in der Anhörung haben die Sachverständigen in aller
Klarheit darauf hingewiesen .
Die Große Koalition hat nun fast vier Jahre über die-
ses Gesetz gebrütet . Und deshalb ist Ihnen klar, was Sie
tun . Es ist gewollte Rechtsunsicherheit, und das ist nicht
nur ein Armutszeugnis – das ist ein Skandal .
Das daraus folgende Arbeitsbeschaffungsprogramm
für Berater, Anwälte und Gericht ist noch das geringste
Problem. Für diese von Ihnen gewollte Rechtsunsicher-
heit kann es nur eine Erklärung geben: Sie wollen Kom-
munen dem Risiko jahrelanger Gerichtsauseinander-
setzungen aussetzen und so davon abhalten, Netze von
Konzernen wie RWE, Eon oder EnBW selbst zu über-
nehmen oder an andere zu übertragen .
Wahrscheinlich geht es Ihnen darum, was der Präsi-
dent der Bundesnetzagentur Homann offen fordert: Er
will britische Verhältnisse, also die Zahl der Netzbetrei-
ber auf eine Handvoll reduzieren . Und Ihr Gesetz soll
Netzübernahmen durch Kommunen verhindern .
Da machen wir nicht mit! Diese Gesetzesnovelle ist
kommunalfeindlich und läuft Zielen der dezentralen
Energiewende zuwider . Sie dient ausschließlich den In-
teressen der Energiekonzerne und ihren großen Verteil-
netzbetreibern . Wir wollen dagegen die Kommunen stär-
ken . In einer Welt, in der die Stromerzeugung aus Wind
und Sonne die zentrale Säule bildet und von Millionen
Erzeugungsanlagen und Flexibilität bestimmt wird, ist
Dezentralität eine Stärke . Das scheinen Sie immer noch
verstanden zu haben .
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Luftsicherheitsgesetzes (Tagesord-
nungspunkt 22)
Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): In zweiter
und dritter Lesung beraten wir heute über die Novelle
zum Luftsicherheitsgesetz . Mit den darin vorgesehenen
Änderungen setzen wir – längst überfällig – europäisches
Recht um, verbessern die Sicherheit der zivilen Luftfahrt
und schaffen einen rechtssicheren Rahmen für Passagiere
und Unternehmen . Dank der zukünftig zur Verfügung ste-
henden Instrumente können wir schneller und effizienter
auf mögliche Gefährdungslagen im Bereich der Luftfahrt
reagieren . Zudem sind mit dem heutigen Beschluss Maß-
nahmen vorgesehen, mit denen die Sicherheitskontrollen
zusätzlich verbessert werden, etwa im Bereich der siche-
ren Lieferketten in der Luftfracht .
Auf einige aus meiner Sicht wichtige Punkte möchte
ich gerne näher eingehen .
Ein wesentlicher Punkt der Gesetzesänderungen be-
trifft die schon angesprochene sichere Lieferkette. Ge-
nauer gesagt geht es um die in diesem Bereich tätigen
Angestellten und zukünftige Veränderungen ihrer Si-
cherheitsüberprüfung . In diesem Zusammenhang sahen
die Wirtschaftsverbände massive Probleme – gerade in
Bezug auf die nötige Flexibilität beim Einsatz von Perso-
nal in der zeitkritischen Luftfracht . Aufgrund der bisher
fehlenden Umsetzung der relevanten EU-Richtlinie in
deutsches Recht wird diese Richtlinie in Deutschland ge-
genwärtig direkt angewendet . Danach kann die Überprü-
fung von Mitarbeitern im Bereich der sicheren Lieferket-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20673
(A) (C)
(B) (D)
te – ohne Tätigkeit am Flughafen – im Schnellverfahren
durchgeführt werden . Kernelement dieser Schnellüber-
prüfung ist eine Selbstauskunft der Arbeitnehmer, ohne
dass die Firmen die Möglichkeit haben, die gemachten
Angaben genauer zu überprüfen . Diese Option wird zu-
künftig gestrichen .
Mit den heute zu beschließenden Änderungen wer-
den die in der sicheren Lieferkette tätigen Mitarbeiter
EU-rechtskonform einer Zuverlässigkeitsüberprüfung
unterzogen, die von staatlicher Seite vorgenommen wird .
Es dürfte klar sein, dass die bisherige Lösung, die bei
Lichte betrachtet nur auf Treu und Glauben beruht, nicht
sicher sein kann . Selbst wenn die Firmen, die diese Über-
prüfung intern für ihre Mitarbeiter bisher durchgeführt
haben, Teil der sicheren Lieferkette und entsprechend
zertifiziert sind. Nur eine staatliche Überprüfung, bei der
die Möglichkeit besteht, den Hintergrund des Antrag-
stellers genauestens zu durchleuchten, bietet die Gewähr
dafür, dass nur wirklich zuverlässige Personen in einem
sensiblen Bereich der sicheren Lieferkette der Luftfracht
tätig sind .
Anmerken möchte ich in diesem Zusammenhang
noch, dass es Rückmeldungen vonseiten der Sicher-
heitsbeauftragten aus den betroffenen Firmen gab, die
die bisherige Schnellüberprüfung aus Haftungsgründen
ablehnen . Zukünftig wird es also die Zuverlässigkeits-
überprüfung analog zu den Beschäftigten an Flughäfen
geben . Für einen reibungslosen Übergang zum neuen
Überprüfungssystem ist eine Übergangsfrist von zwölf
Monaten vorgesehen. Dies findet so auch Zustimmung
beim BDI .
Auch in einem weiteren Bereich spielt die Zuverläs-
sigkeitsüberprüfung eine wichtige Rolle . Nach aktueller
Gesetzeslage (§ 7 Absatz 1 Nummer 4 Luftsicherheits-
gesetz) müssen sich auch Piloten einer solchen Überprü-
fung unterziehen . Daran wird sich auch zukünftig nichts
ändern . Zwar hatte der Bundesrat, unterstützt von den
Fachverbänden, hier eine Streichung angeregt und dies
unter anderem damit begründet, dass diese Überprüfung
nicht EU-rechtskonform sei . Dieser Vorstoß ist aber aus
Sicherheitsgründen abzulehnen . Aus meiner Sicht wäre
es nach den bisherigen Erfahrungen mit internationalem
Terrorismus seit dem 11 . September fahrlässig, wenn wir
es zuließen, dass sich Interessierte problemlos zu Pilo-
ten ausbilden lassen können und dann mit Flugzeugen
möglicherweise großen Schaden anrichten . Auch auf
EU-Ebene sollte es hier zu einer Änderung der Rechts-
lage kommen .
Ein weiterer Punkt bei den Beratungen war das Thema
Beleihung von privaten Sicherheitskräften . Hier sah der
von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf in
§ 5 Absatz 1 eine Ausweitung des Einsatzes – verbunden
mit der notwendigen Beleihung – von privaten bewaffne-
ten Sicherheitskräfte im Kontrollbereich der Flughäfen
vor . Die in der Anhörung zu diesem Gesetz vorgetragene
Kritik der Sachverständigen hat die Koalition aufgegrif-
fen und diese angedachte Möglichkeit gestrichen .
Und schließlich werden mit der vorliegenden Geset-
zesnovelle die Zuständigkeiten für die Verhängung von
Ein- und Überflugverboten für den deutschen Luftraum
zwischen dem Innen- und Verkehrsministerium genauer
gefasst . Zusätzlich besteht künftig auch die Möglichkeit
gegenüber deutschen Fluggesellschaften, ein Flugverbot
für Krisengebiete weltweit zu verhängen . Dies ist unter
anderem die Lehre aus dem Abschuss der malaysischen
Zivilmaschine MH17 über der Ukraine .
Im Ergebnis liegt uns heute ein Gesetzentwurf vor,
dem wir aus meiner Sicht guten Gewissens zustimmen
können . Wir sollten nun nicht länger zögern und das Ge-
setzgebungsvorhaben am heutigen Abend abschließen
und EU-Recht umsetzen . Dies ist gerade für die Luftver-
kehrswirtschaft wichtig, damit diese endlich Rechtssi-
cherheit hat und Sicherheitslücken geschlossen werden .
Peter Wichtel (CDU/CSU): Am 29 . September die-
ses Jahres wurde das Erste Gesetz zur Änderung des
Luftsicherheitsgesetzes mit der ersten Lesung in den
Bundestag eingebracht . In den vergangenen Wochen ha-
ben wir uns im Verlauf der parlamentarischen Beratun-
gen intensiv mit dem Gesetzentwurf auseinandersetzen
können, auch im Rahmen einer öffentlichen Anhörung.
Mit einem Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen
konnten wir den Entwurf des Bundesinnenministeriums
an einigen Stellen noch verbessern, sodass wir mit einer
Verabschiedung heute einen überaus wichtigen Beitrag
dazu leisten, das Sicherheitsniveau im Luftverkehr wei-
ter zu erhöhen .
Für mich als Verkehrspolitiker ist besonders wichtig,
dass nicht nur Flugverbote für Einflüge, Überflüge, Starts
oder Frachtbeförderung im Inland verhängt werden kön-
nen . Die Bundesregierung erhält mit der Änderung des
Luftsicherheitsgesetzes zukünftig auch eine gesetzliche
Grundlage für den Erlass von Flugverboten über aus-
ländischen Kriegs- oder Krisengebieten . Bisher war es
gängige Praxis, dass alleine die Luftfahrtunternehmen
und Luftfahrzeugführer darüber entscheiden, welche
Flugrouten sie wählen . Der Abschuss des Malaysia-Air-
lines-Fluges MH17 im Jahr 2014 hat allerdings verdeut-
licht, dass ein Flugzeug über Kriegs- oder Krisengebie-
ten auch in großer Höhe abgeschossen werden kann . Mit
dem neuen § 26a, welcher der Zuständigkeit halber im
Luftverkehrsgesetz ergänzt wird, gibt es zukünftig eine
klare Ermächtigungsgrundlage für den Erlass von Flug-
verboten für deutsche Luftfahrzeuge über ausländischen
Kriegs- oder Krisengebieten . Ein solches Verbot außer-
halb des deutschen Hoheitsgebietes kann sowohl den
Ein- und Überflug als auch Start oder Landung umfassen.
Als ebenso begrüßenswert erachte ich, dass der An-
wendungsbereich des Luftsicherheitsgesetzes auf alle
Flughäfen und auf alle Luftfahrtunternehmen ausgewei-
tet wird. Bisher waren nur Verkehrsflughäfen und Un-
ternehmen mit Luftfahrzeugen über 5,7 Tonnen Höchst-
gewicht erfasst . Hier gilt es allerdings zu beachten, dass
sich durch diese Änderung keine Nachteile, beispielswei-
se für das Luftrettungssystem, ergeben dürfen . Wir haben
daher bezüglich der Sicherheitsmaßnahmen der Flug-
platzbetreiber und der Luftfahrtunternehmen Ausnahme-
möglichkeiten im Gesetzentwurf installiert, von welchen
die zuständigen Luftsicherheitsbehörden mit Blick auf
die einsatzbezogenen Notwendigkeiten von polizeilichen
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620674
(A) (C)
(B) (D)
Einsätzen sowie Ambulanz-, Notfall- und Rettungsflügen
Gebrauch machen können .
Ein weiterer wichtiger Bestandteil der Gesetzesän-
derung ist die Ausweitung der Zuverlässigkeitsüberprü-
fung, mit der insbesondere das Sicherheitsniveau im
Bereich der Luftfracht erhöht werden soll . So werden
zukünftig auch Arbeitnehmer, für die bisher die soge-
nannte beschäftigungsbezogene Überprüfung durch den
Arbeitgeber ausgereicht hat, der behördlichen Zuverläs-
sigkeitsüberprüfung unterzogen. Diese Änderung betrifft
insbesondere das im Bereich der sicheren Lieferkette ein-
gesetzte Personal, das beispielsweise bei Versandagen-
turen, Speditionen, Logistikanbietern oder integrierten
Lager- und Transportdienstleistungsunternehmen im un-
mittelbaren Umfeld der Luftfracht arbeitet . Es ist überaus
wichtig, diese sensible und störanfällige Transportkette
so sicher wie möglich zu gestalten .
Dass insbesondere die Erhöhung des Sicherheitsni-
veaus im Bereich der Luftfracht mit finanziellen Mehr-
ausgaben für die Logistikbranche verbunden sein wird,
kann nicht bestritten werden . Das ist vor dem Hinter-
grund der Sensibilität des Luftfrachtverkehrs und des
Schutzes vor möglichen Innentätern unserer Ansicht
nach aber unumgänglich . Darüber hinaus sind die Ver-
kehrspolitiker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion nach
den Gesprächen mit dem zuständigen Bundesinnenmi-
nisterium aber davon überzeugt, dass die Luftfahrtbran-
che durch das Änderungsgesetz nicht mit zusätzlichen
Kosten belastet wird .
Abschließend betrachtet freue ich mich darüber, dass
wir nach der gemeinsamen parlamentarischen Beratung
mit den beteiligten Arbeitsgruppen und unserem Koali-
tionspartner heute einem Gesetzentwurf zustimmen kön-
nen, der die Sicherheit des gesamten Luftverkehrs wei-
ter spürbar stärken wird . Allen Beteiligten gilt daher ein
herzlicher Dank .
Susanne Mittag (SPD): Mit der Änderung des Luft-
sicherheitsgesetzes, die heute hier zu beschließen ist,
vollziehen wir eine europarechtliche Veränderung und
erhöhen damit die Sicherheit im Flugverkehr .
Der Zweck des Gesetzes ist in § 1 beschrieben . Ich zi-
tiere: „Dieses Gesetz dient dem Schutz vor Angriffen auf
die Sicherheit des Luftverkehrs, insbesondere von Flug-
zeugentführungen, Sabotageakten und terroristischen
Anschlägen .“
Das heißt bei den Änderungen konkret, wir verbessern
damit künftig besonders die Sicherheit in der sogenann-
ten Luftseite, die bislang eher vernachlässigt worden war .
Das Gesetz wird viele Millionen Menschen in unse-
rem Land betreffen. Mehr als 250 Millionen Passagiere
werden in diesem Jahr über deutsche Flughäfen abge-
fertigt . Dabei spielt das Thema Sicherheit eine heraus-
ragende Rolle, besonders nach den Anschlägen auf die
Flughäfen in Brüssel und Istanbul .
Die größte Veränderung wird es bei der Sicherheits-
überprüfung geben . Durch viele Gespräche und auch
Briefe weiß ich, dass diese Regelung für die Beteiligten
der sicheren Lieferkette oder auch für die Privat- und
Geschäftsfliegerei eine Entscheidung ist, die keine Be-
geisterung hervorgerufen hat . In Zukunft reicht die soge-
nannte beschäftigungsbezogene Überprüfung nicht mehr
aus . Vielmehr muss eine behördliche Zuverlässigkeits-
überprüfung eingeholt werden, bevor Mitarbeiter oder
auch Piloten von Geschäfts- oder Privatflugzeugen in
einem sicherheitssensiblen Bereich arbeiten oder landen
können .
Diese Regelung ist überfällig, denn die bisherige Pra-
xis wird den neuen Sicherheitsanforderungen schon lan-
ge nicht mehr gerecht . Bislang war es eher so, dass man
sich nur auf die Aussagen eines Bewerbers verlassen hat .
Jetzt werden die Sicherheitsbehörden zwingend mit ein-
bezogen . Das sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit
sein, erstaunlich, warum erst jetzt . Und das nicht nur bei
der Einstellung eines Bewerbers in einem Bundesland,
sondern auch informell bundeslandübergreifend . Da sind
wir den Anregungen des Bundesrates gefolgt, und ich
denke, damit erreichen wir erheblich mehr Sicherheit .
Natürlich haben wir uns im Beratungsprozess auch
mit weiteren Bedenken der Branche auseinandergesetzt:
Wir haben eine 12-monatige Übergangszeit verabre-
det, bevor alle Beschäftigten die Zuverlässigkeitsüber-
prüfung vorweisen müssen . Das gibt sowohl Unter-
nehmen und Beschäftigten als auch den Behörden den
nötigen zeitlichen Spielraum, um Zuverlässigkeitsüber-
prüfungen beantragen und bearbeiten zu können .
Auch Krankenhäuser und die Luftrettung hatten Be-
denken geäußert, die wir aufgegriffen haben. Deren Sorge
war, dass der Betrieb von Hubschrauberlandeplätzen an
Krankenhäusern durch zu straffe Sicherungsmaßnahmen
gefährdet werden könne . Deshalb haben wir jetzt im Än-
derungsantrag festgeschrieben, dass die Luftsicherheits-
behörden nach einer Risikoanalyse bei abgegrenzten Be-
reichen von Flugplätzen Ausnahmen gestatten können .
Dabei soll den einsatz- und betriebsbezogenen Notwen-
digkeiten von polizeilichen Flügen sowie von Rettungs-
flügen Rechnung getragen werden.
Das war allen in der Großen Koalition wichtig, denn
wir wollen gerade das hervorragende System der Luftret-
tung in Deutschland nicht einschränken oder mit büro-
kratischen Hemmnissen unnötig belasten .
Für alle, die auf schnelle Hilfe aus der Luft angewie-
sen sind, ist das einzige Rettungsmittel der Hubschrau-
ber, der in kürzester Zeit vor Ort sein kann und Schwerst-
verletzte in weiter entfernte Spezialkliniken fliegen kann.
Bei den Verhandlungen haben wir einige Runden zum
Thema Luftsicherheitsgebühren gedreht . Der neue § 17a
sieht nun ganz klar auch die Gemeinkosten der Rechts-
und Fachaufsicht in der Gebühr eingeschlossen . Das war
bisher nicht so explizit der Fall .
Meinem Kollegen Arno Klare aus dem Verkehrsaus-
schuss möchte ich da ganz besonders für seinen Einsatz
danken . Da in absehbarer Zeit weder das zuständige Mi-
nisterium noch die Bundespolizei absolut gerichtsfest die
zur Gebührenerhebung notwendige Aufschlüsselung der
anteiligen Kosten vornehmen kann, fehlt es weiterhin an
der genauen Zuordnung der übernommenen Aufgaben .
Solange es also kein verbessertes Erfassungs- und Un-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20675
(A) (C)
(B) (D)
terscheidungssystem gibt, werden etwaige Kosten auch
nicht in Rechnung gestellt . Damit soll es also in abseh-
barer Zeit und unter Bezug auf die mehrfach bestätigten
Angaben des Verkehrsministeriums keine Steigerungen
der Luftsicherheitsgebühren durch dieses Gesetz geben .
Wir werden das Thema weiter begleiten .
In den Haushaltsberatungen der vergangenen Woche
wurden auch bereits Entlastungen bei den Flugsiche-
rungsgebühren beschlossen . Das ist nötig, denn der Wett-
bewerbsdruck auf die deutschen Flughäfen ist enorm .
Deshalb dürfen wir trotz der gestiegenen Sicherheits-
anforderungen die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen
Luftfahrtbranche nicht aufs Spiel setzten . Hier sind in die
Zukunft reichende Planungen erforderlich, die wir von
der SPD vorantreiben werden.
In der Anhörung zum Luftsicherheitsgesetz hat die
Mehrheit der Sachverständigen ebenso wie die SPD
kritisiert, dass das Sicherheitspersonal Waffen bei Flug-
gastkontrollen tragen solle . Die Bundespolizei ist für die
Sicherheit an den Flughäfen zuständig . Sie kann durch
Sicherheitsfirmen ergänzt werden, die dann für die Kon-
trollen von Personen und Gepäck zuständig sind. Das ist
mit dem gesetzlichen Begriff der Beleihung gemeint.
Im Gesetz wird nun festgeschrieben, dass die Aus-
bildung der Mitarbeiter der Sicherheitsfirmen weiter
verbessert werden muss und diese immer wieder an die
aktuellen Sicherheitsstandards angepasst wird . Die in
diesem Zusammenhang geplante Bewaffnung des Si-
cherheitspersonals im Bereich der Personenkontrollen
wird nicht zugelassen . Das ist und bleibt hoheitliche po-
lizeiliche Aufgabe und darf nicht in die Hände von pri-
vaten Anbietern vergeben werden . Das widerspricht dem
Grundgesetz und auch jeglicher Sicherheitskonzeption .
Damit stellen wir keinesfalls die 20 000 Mitarbeiter
der privaten Sicherheitsunternehmen unter Generalver-
dacht . Nein, sie leisten gute Arbeit, und das in einem
sehr schwierigen Umfeld: Sie sollen möglichst schnell,
möglichst gründlich und dabei auch noch ausgesprochen
höflich ihren Kontrollaufgaben nachkommen. Und das
tun sie auch zum allergrößten Teil .
Doch was wir in dem Entwurf der Bundesregierung
als SPD nicht akzeptieren konnten, war die Ausweitung
der Beleihungsregelungen für Bewaffnete. Das geht mit
uns nicht . Diesem Einstieg in die Billigpolizei konnten
wir nicht zustimmen . Hoheitliche Aufgaben, die das Ge-
waltmonopol des Staates betreffen, dürfen nicht in die
Hände von Privaten vergeben werden, vor allem nicht,
wenn das Ganze auch noch im öffentlichen Raum wie
einem Flughafen stattfinden soll.
Ich bin froh, dass wir diesen Punkt gemeinsam mit der
Union aus dem Entwurf gestrichen haben .
Die Sicherheit des Luftverkehrs ist eben eine komple-
xe ganzheitliche Aufgabe, wo wir eventuell Fehlerquel-
len frühzeitig erkennen und dann gegensteuern müssen .
Terroristische Anschläge, Cyberangriffe oder Amokläufe
können nicht ausgeschlossen werden . Sie werden kon-
zeptionell in die Sicherheitskonzepte der Polizei aufge-
nommen . Wir dürfen dabei auch nicht vergessen, dass
sich die Sicherheitsansprüche weiterentwickeln ebenso
wie die Gefährdungsaspekte . Es ist ein Sicherheitsbe-
reich, der sehr großflächig ist, von dem mit einem Mal
sehr viele Menschen gleichzeitig massiv betroffen sein
können, von wo sich Gefahrenlagen sehr schnell aus-
breiten können – eben durch Flugzeuge – und immer
neuartige Bedrohungen entstehen können . Kriminalität
und Terror entwickeln sich außerordentlich schnell . Die
Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden im In- und
Ausland ist gut, und sie wird massiv ausgebaut . Das alles
sind Gründe, weshalb die Sicherheit unserer Flughäfen
ausgeweitet und weiterentwickelt werden, aber in staatli-
cher Hand bleiben muss .
Ulla Jelpke (DIE LINKE): Angesichts von knapp
220 Millionen Passagieren, die im vorigen Jahr an deut-
schen Flughäfen abgefertigt wurden, ist der Bereich der
Luftsicherheit in seiner Bedeutung kaum zu überschät-
zen . Jeder möchte gesund an seinem Ziel ankommen,
und deswegen möchte niemand, dass bei der Sicherheit
im Luftverkehr geschludert wird . Der Gesetzentwurf der
Bundesregierung zur Änderung des Luftsicherheitsgeset-
zes wird diesem Ziel aber nicht gerecht .
Um mit einem Punkt zu beginnen, dem wir teilweise
zustimmen: Die sogenannte Zuverlässigkeitsprüfung der
Mitarbeiter im Flughafenbereich wird ausgeweitet . Das
ist insofern zu begrüßen, als keiner wollen kann, dass ter-
roristische Strukturen ihre Leute in sensible Sicherheits-
bereiche einschleusen . Fragwürdig ist aber schon, dass
der Verfassungsschutz an dieser Überprüfung teilhat . Der
hat sich ja in der Vergangenheit häufig genug als Unter-
stützer terroristischer Organisationen erwiesen .
Das größte Manko bei der Ausweitung der Zuver-
lässigkeitsprüfungen besteht aus Sicht der Linken aber
darin, dass die Rechte der Kontrollierten nicht ebenso
ausgeweitet werden . Es ist ja keine Bagatellfrage, ob
jemandem das Recht auf einen Arbeitsplatz verweigert
wird oder nicht. Wer bei der Prüfung durchfliegt, der
muss doch mindestens das Recht haben, dagegen gericht-
lich vorzugehen, und dann darf es nicht sein, dass der
Geheimdienst einfach mauert und Unterlagen, die angeb-
lich eine Sicherheitsgefährdung durch den Betroffenen
beweisen sollen, für sich behält . Also: Sicherheitsüber-
prüfungen auf der einen Seite müssen einhergehen mit
vollem Rechtsschutz auf der anderen Seite . Das verwei-
gert die Bundesregierung, so wie sie ja immer einseitig
auf Kontrolle und Repression statt auf die Wahrung von
Bürgerrechten hinarbeitet .
Noch weit bedenklicher ist das Vorhaben, die Privati-
sierung von Aufgaben der öffentlichen Sicherheit zu er-
weitern . Denn die Bundesregierung will künftig privaten
Firmen erlauben, bewaffnete Kräfte einzusetzen, die ge-
genüber den Menschen am Flughafen auch Zwangsmaß-
nahmen durchführen sollen . Das ist wirklich ein Novum,
das in der Anhörung von den Sachverständigen auch mas-
siv kritisiert worden ist . Wir kennen das zwar schon, dass
bewaffnete Privatfirmen zum Beispiel Atomkraftwerke
oder Bundeswehrkasernen bewachen . Aber da kommen
sie ja in der Regel nicht mit einem zivilen Publikum in
Kontakt, weil das keine öffentlichen Bereiche sind. Ganz
anders ist das bei Flughäfen, die selbstverständlich öf-
fentliche Anlagen sind, in denen sich, wie erwähnt, Milli-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620676
(A) (C)
(B) (D)
onen von Menschen im Jahr aufhalten . Und da kann man
nicht einfach sagen: Die lassen wir jetzt mal von bewaff-
neten Hilfssheriffs bewachen, die ihren Anordnungen zur
Not mit Schusswaffen Nachdruck verleihen.
Denn hier handelt es sich ganz klar um eine Maßnah-
me, zu der nur staatliche Behörden befugt sind, sprich: die
Bundespolizei . Die haben schließlich eine lange Ausbil-
dung, um zu lernen, mit zivilem Publikum deeskalierend
umzugehen. Bei Privaten ist die Ausbildung deutlich we-
niger intensiv, deswegen sehen wir in ihrer Bewaffnung
eher eine Gefährdung als einen Vorteil für die Sicherheit .
Der Gesetzentwurf enthält noch weitere Privatisie-
rungsvorhaben. Private Luftfrachtunternehmen sollen
künftig von anderen privaten Unternehmen zertifiziert
werden . Anstatt das Luftfahrtbundesamt mit dem not-
wendigen Personal auszustatten, werden seine Aufgaben
privatisiert, und es führt am Ende nur noch Aufsicht über
die Zertifizierer, aber nicht mehr über die Frachtunter-
nehmen selbst .
Da kann man sich leicht denken, was passiert, wenn
mal etwas gründlich schiefgeht und es zu ernsthaften
Zwischenfällen kommt: Dann werden sich alle Beteilig-
ten gegenseitig die Verantwortung zuweisen, und keiner
will es am Ende gewesen sein. Denn je mehr Privatun-
ternehmen im Sicherheitsbereich agieren, desto weniger
ist eine öffentliche Kontrolle gewährleistet bzw. desto
größer wird der Koordinationsaufwand . Das ist doch ein
himmelschreiender Widerspruch, einerseits Sicherheits-
überprüfungen zu verschärfen, um mehr Kontrolle über
das Personal an den Flughäfen zu erhalten, und dann an-
dererseits immer weiter zu privatisieren und letzten En-
des so genau das Gegenteil zu bewirken .
Dabei gibt es ja Alternativen . Die hat vor allem die
Gewerkschaft der Polizei aufgezeigt, indem sie eine
Bündelung aller Sicherheitsaufgaben in einer Hand vor-
geschlagen hat. Die GdP regt an, zu diesem Zweck eine
Anstalt des öffentlichen Rechts zu gründen. Ob Sicher-
heitskontrollen im Vorfeld, im öffentlichen Bereich, bei
Passagieren, Fracht oder auf dem Rollfeld – alles wäre in
einer Hand . Damit wären die Verantwortlichkeiten klar
geregelt . Auch für die Beschäftigten wäre dies von Vor-
teil, weil sie dann Angestellte eines öffentlichen Unter-
nehmens wären und abhängig von ihrer Ausbildung auch
in anderen Bereichen der Luftsicherheit eingesetzt wer-
den könnten. Damit ließe sich dem Problem von Priva-
ten entgegenwirken, das von hoher Fluktuation, geringer
Mitarbeiterbindung, schlechten Arbeitsbedingungen und
daraus resultierend leider häufig auch geringer Qualifika-
tion und Motivation gekennzeichnet ist .
Wer also wirklich mehr Sicherheit im öffentlichen Be-
reich will, darf es nicht zu einem Wildwuchs an privaten
Sicherheitsfirmen kommen lassen, die sich selbst zertifi-
zieren und kontrollieren . Die Sicherheit zu garantieren,
ist die wichtigste Aufgabe des Staates . Das heißt nicht,
dass jeder Flughafenangestellte, der das Handgepäck
kontrolliert, ein Beamter sein muss, aber der Staat muss
die Kontrolle über den Sicherheitsbereich behalten und
darf sie nicht auslagern . Deshalb bedauert Die Linke,
dass dem Vorschlag der GdP nicht gefolgt wurde. Den
Gesetzentwurf sehen wir als Verlust an Sicherheit und
lehnen ihn deswegen ab .
Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das
Sicherheitsniveau der zivilen Luftfahrt ist das Ergeb-
nis des ständigen Zusammenwirkens einer Vielzahl von
unterschiedlichen Maßnahmen und Faktoren . Ein gutes
oder sehr gutes Sicherheitsniveau zu halten, erfordert da-
bei kontinuierliche Bemühungen, relevante Entwicklun-
gen möglichst frühzeitig zu erkennen und angemessen
darauf zu reagieren .
Das schließt auch uns hier im Bundestag mit ein, und
die parlamentarische Befassung mit möglichen oder be-
stehenden Sicherheitsproblemen ist daher gerade Aus-
druck eines hohen Sicherheitsniveaus und nicht das Ge-
genteil .
Dass wir den vorliegenden Gesetzentwurf heute in
erster Linie vor dem Hintergrund der zahlreichen schwe-
ren Vorfälle der letzten Jahre, vor allem aber vor dem
Hintergrund der aktuellen Sicherheitslage diskutieren, ist
völlig klar .
Ich habe aber große Zweifel, ob der vorliegende Ge-
setzentwurf allen Anforderungen gerecht wird, die an ihn
zu stellen sind . Nicht zuletzt die Expertenanhörung im
Innenausschuss hat große Schwächen der vorgeschlage-
nen gesetzlichen Regelungen deutlich gemacht, die auch
der Änderungsantrag, der uns jetzt vorgelegt wurde, nur
teilweise beheben kann .
So begrüße ich natürlich, dass die im Gesetzentwurf
ursprünglich vorgesehene Möglichkeit, Aufgaben an be-
waffnete private Sicherheitskräfte zu übertragen, wieder
gestrichen wurde . Dadurch wurde aber nur ein besonders
eklatanter Bruch mit der Verfassung abgewendet . Andere
verfassungsrechtliche Bedenken bestehen fort .
Die im Zusammenhang mit der Übertragung von
Aufgaben an private Dienstleister bestehende staatliche
Gewährleistungsverantwortung beispielsweise hat zur
Folge, dass die Aufsichtsbehörde auch über die notwe-
nigen Informations- und Durchsetzungsbefugnisse ver-
fügen muss, um die Aufsicht effektiv führen zu können.
Klarstellende Regelungen dazu wären daher nicht nur
wünschenswert gewesen, sie hätten auch geholfen, für
Rechtsklarheit und Rechtssicherheit zu sorgen .
Mehr Rechtsklarheit hätten auch Krankenhäuser,
Notärzte und die Betreiber von Landeplätzen für Ret-
tungshubschrauber verdient, für die nun im Einzelfall
geklärt werden muss, welche konkreten Sicherheitsan-
forderungen gelten sollen .
Eine Einzelfallprüfung steht auch allen Beschäftigten
bevor, die nun in das Verfahren der behördlichen Zuver-
lässigkeitsprüfung einbezogen werden . Ein Schritt der
sicherheitspolitisch begründet ist . Versäumt wurde aber
auch hier, die Verfahren so anzupassen, dass gleichzeitig
auch die Rechte der Betroffenen geschützt und die gege-
benenfalls daraus folgenden Konsequenzen für die Be-
rufsausübung angemessen berücksichtigt werden .
Dazu hätte am besten das gesamte Verfahren der Zu-
verlässigkeitsüberprüfung überarbeitet, jedenfalls aber
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20677
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die gerichtliche Überprüfbarkeit verbessert werden müs-
sen .
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung
der Aufgaben der Bundesanstalt für Finanzmarkt-
stabilisierung (FMSA-Neuordnungsgesetz – FMSA-
NeuOG) (Tagesordnungspunkt 25)
Dr. André Berghegger (CDU/CSU): Der vorlie-
gende Gesetzentwurf weist eine längere Entstehungsge-
schichte auf . Am 20 . Juli 2016 hat das Bundeskabinett
den Regierungsentwurf beschlossen . Dieser Entwurf ist
parallel beim Bundestag und Bundesrat eingebracht wor-
den . Der Deutsche Bundestag hat in seiner Sitzung am
22 . September 2016 in erster Lesung darüber beraten .
Einen Tag später, am 23 . September 2016, hat der Bun-
desrat mehrere Änderungen gegenüber dem Regierungs-
entwurf vorgeschlagen .
Nach intensiven Diskussionen zwischen Bund und
Ländern ist inzwischen eine Verständigung erzielt wor-
den . Am 30 . November 2016 haben wir daher im fe-
derführenden Haushaltsausschuss entsprechend diverse
Änderungen eingebracht und beraten, die diese Verstän-
digung mit den Ländern aufgreifen . So können wir am
heutigen Tage nun abschließend im Plenum des Deut-
schen Bundestages über den Gesetzentwurf in geänderter
Fassung beraten .
Im Kern geht es bei dem vorliegenden Gesetzentwurf
darum, die bislang bestehenden beiden Aufgabenberei-
che der Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung
(FMSA) ab dem Jahr 2018 neu aufzustellen .
Zum einen wird gemäß § 3 des Sanierungs- und Ab-
wicklungsgesetzes (SAG) die Aufgabe der Nationalen
Abwicklungsbehörde (NAB) auf die Bundesanstalt für
Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) übertragen . Durch
die Integration als eigenständiger Geschäftsbereich wer-
den Entscheidungswege in Krisensituationen unter einem
Dach zusammengeführt . Dies gewährleistet eine einheit-
liche sachgerechte Abwägung und zügige Entscheidun-
gen innerhalb der Allfinanzaufsicht.
Zum anderen wird der verbleibende Teil der FMSA,
der die Verwaltung des Finanzmarktstabilisierungsfonds
(FMS) zum Gegenstand hat, in die Finanzagentur inte-
griert, die bislang schon die Refinanzierung des Fonds
für den Bund umsetzt .
Die Aufgaben der FMSA werden auf diese Weise
effizient in Strukturen größerer Einheiten überführt. Fi-
nanzagentur und BaFin werden durch die gebündelte
Sachkunde gestärkt, und den Mitarbeiterinnen und Mit-
arbeitern der FMSA eröffnen sich durch die Überführung
langfristige Perspektiven.
Darüber hinaus enthält der vorliegende Gesetzentwurf
weitere wichtige Regelungen . Es handelt sich um ein so-
genanntes Mantelgesetz, mit dem auch Aspekte geregelt
werden, die nicht mit der FMSA im unmittelbaren Zu-
sammenhang stehen. Hierbei will ich zwei Punkte her-
vorheben:
Erstens übernimmt die BaFin die Aufsicht über die
Pflichtversicherung der Versorgungsanstalt des Bundes
und der Länder (VBL) im Wege der Organleihe für das
Bundesministerium der Finanzen . Dadurch können Sy-
nergieeffekte mit den sonstigen Aufsichtstätigkeiten der
BaFin genutzt werden .
Zweitens erfolgt eine Änderung der Vergütungsrege-
lungen für Banken zur Umsetzung neuer Leitlinien der
Europäischen Bankaufsichtsbehörde EBA .
Im parlamentarischen Verfahren haben sich außerdem
vor dem Hintergrund der Verständigung mit den Ländern
diverse Änderungen gegenüber dem Regierungsentwurf
ergeben .
So ist als Erstes eine Neuorganisation der parlamen-
tarischen Kontrolle des FMS vorgesehen . Das Finanz-
marktgremium soll ab 2018 mit dem Bundesschulden-
wesengremium zusammengelegt werden .
Ferner ist als Zweites eine Anpassung der Umlagesys-
tematik der NAB an das BaFin-System geplant . Diese
soll bereits für die Endabrechnung der Umlage für 2016
sowie die Vorauszahlung für 2018 gelten .
Zudem sind als Drittes in den Änderungsanträgen
Anpassungen der im Regierungsentwurf vorgesehenen
Konkretisierungen zur Anwendbarkeit der Bundeshaus-
haltsordnung auf die bundesrechtlichen Abwicklungsan-
stalten enthalten .
Als Viertes schaffen wir Optionen für einen Portfo-
lioabbau im Wege der Gesamtrechtsnachfolge auch bei
bundesrechtlichen Abwicklungsanstalten .
Schließlich sind als Fünftes zeitliche Verschiebungen
von Änderungen bei der Millionenkreditverordnung so-
wie Klarstellungen im Zusammenhang mit der Rückfor-
derung von Boni – sogenanntes Clawback – vorgesehen .
Als Haushaltspolitiker möchte ich abschließend noch
betonen, dass der Gesetzentwurf keine negativen Aus-
wirkungen auf die öffentlichen Haushalte haben wird. Im
Gegenteil: Die Belastung der Steuerzahler kann voraus-
sichtlich sogar um einen dreistelligen Millionenbetrag
verringert werden . Denn der FMS wird künftig allein
zum Verlustausgleich verpflichtet sein, da der FMS die
Refinanzierung der Abwicklungsanstalten übernimmt.
Der Gesetzentwurf ist also insgesamt ein weiterer lo-
gischer Schritt bei der Bewältigung der Finanzmarktkri-
se . Die enthaltenen Regelungen sind sinnvoll und ziel-
führend. Die CDU/CSU-Fraktion empfiehlt daher die
Zustimmung .
Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): Die Finanzkri-
se 2008 stellte Politik und Finanzmärkte vor große He-
rausforderungen . Es drohten ungeahnte Folgen für die
Wirtschaft, für die Unternehmen und entsprechenden
Arbeitsplätze sowie für die Spareinlagen und die Alters-
vorsorge aller Bürgerinnen und Bürger . Weltweit wurden
daher umfassende Maßnahmen zur Stabilisierung und
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620678
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zum Erhalt der Funktionsfähigkeit des Finanzsystems
ergriffen. Der Bundestag beschloss, in kürzester Zeit
400 Milliarden Euro in Form von Kapitalgarantien und
80 Milliarden Euro als direkte Kapitalhilfen bereitzu-
stellen . Dazu wurde der sogenannte Finanzmarktstabili-
sierungsfonds eingerichtet . Finanzinstituten wurden die
Hilfen aus diesem Fonds zur Verfügung gestellt, aller-
dings unter strengen Auflagen und hohen Zinssätzen von
bis zu 9 Prozent.
Als weitere Folge der Finanzkrise wurden sogenannte
Abwicklungsanstalten – oder auch Bad Banks – einge-
richtet . In eine Abwicklungsanstalt kann eine Bank, die
sich in einer problematischen Situation befindet, neben
strukturierten Wertpapieren weitere Risikopositionen,
wie beispielsweise ausfallgefährdete Kredite oder auch
ganze Geschäftsbereiche, übertragen . Die Bank wird
durch die Übertragung ihrer Risikopositionen sofort von
Eigenkapitalanforderungen und Abschreibungsdruck
entlastet. Damit wird ihr die Möglichkeit eröffnet, ihre
kritischen Portfolios geordnet abzuwickeln und sich
selbst für die Zukunft mit einem erfolgversprechenden
Geschäftsmodell neu auszurichten . Momentan gibt es
zwei bundesrechtliche Abwicklungsanstalten: In die
„Erste Abwicklungsanstalt“ (EAA) wurden in mehreren
Schritten strategisch nicht notwendige Geschäftsberei-
che und Risikopositionen der ehemaligen Westdeutschen
Landesbank übertragen . Weiterhin gibt es die „FMS
Wertmanagement“ (FMS-WM), in der sich ehemalige
Vermögenswerte der HRE-Gruppe befinden.
Bis heute liegt die Verwaltung und die Überwachung
des Finanzmarktstabilisierungsfonds und der beiden
bundesrechtlichen Abwicklungsanstalten in der Hand
der Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung, kurz
FMSA . Die parlamentarische Kontrolle über die Finanz-
hilfen des Fonds liegt im Deutschen Bundestag beim Fi-
nanzmarktgremium .
Als weitere Aufgabe übernahm die FMSA die Erhe-
bung einer nationalen Bankenabgabe, die dazu beitragen
soll, dass zukünftig nicht der Steuerzahler, sondern die
Banken selbst eine finanzielle Basis schaffen, aus denen
die Kosten einer möglichen Abwicklung von Banken
finanziert werden können. Damit hatte die FMSA auch
die Funktion einer nationalen Abwicklungsbehörde für
Finanzinstitute inne .
Die FMSA hat in den letzten Jahren eine hervorragen-
de Arbeit geleistet, die ich an dieser Stelle noch einmal
ausdrücklich würdigen möchte . Da jedoch Ende 2015
der Finanzmarktstabilisierungsfonds geschlossen wur-
de, bereits etwa 50 bis 70 Prozent der Portfolien bei den
Abwicklungsanstalten abgebaut werden konnten und
zwischenzeitlich die europäische Bankenunion einge-
führt wurde, wurde eine Neuordnung der FMSA not-
wendig . Dazu werden künftig deren Aufgaben auf die
Finanzagentur des Bundes und auf die Bundesanstalt
für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) aufgeteilt . Der
Aufgabenbereich Überwachung und Abwicklung wird
aus Effizienzgesichtspunkten und auch im Interesse der
Personalstabilität an die Finanzagentur des Bundes über-
tragen. Die Finanzagentur hatte bisher bereits die Refi-
nanzierung des Finanzmarktstabilisierungsfonds über-
nommen, sodass dies eine logische Folge ist .
Die Aufgaben als nationale Abwicklungsbehörde mit
der Zuständigkeit für die Abwicklung der kleinen und
mittelgroßen Banken fallen an die BaFin . Dort wird dazu
eine eigenständige Organisationseinheit mit einem eige-
nen Exekutivdirektor eingerichtet . Diese Organisations-
einheit agiert unabhängig von der Aufsichtsfunktion der
BaFin .
Das FMSA-Neuordnungsgesetz regelt diesen Vor-
gang . Der Gesetzentwurf beschreibt hauptsächlich die
Aufgabenübertragung der entsprechenden Bereiche . Wir
haben im Deutschen Bundestag aber noch einige Än-
derungen am Entwurf beschlossen . Künftig wird nicht
mehr das Finanzmarktgremium, sondern das sogenann-
te Bundesfinanzierungsgremium die parlamentarische
Kontrolle über die beiden Abwicklungsanstalten und die
verbliebenden Beteiligungen des Bundes übernehmen .
Des Weiteren haben wir in einem Umdruck die Mög-
lichkeit einer Umwandlung von Abwicklungsanstalten
eingebracht . Ausdrücklich sind neben Ausgliederungen
auch Abspaltungen von Vermögensteilen möglich . Das
entspricht dem praktischen Bedürfnis und den Flexibili-
tätsanforderungen der Abwicklungsanstalten, Portfolios
im Wege einer Gesamtrechtsnachfolge zu übertragen .
Die Abwicklungspraxis vergleichbarer Institutionen im
Ausland zeigt einen beschleunigten Risikoabbau . Auf
diese Weise sollen erhebliche Kosten- und Zeitersparnis-
se gegenüber der Übertragung im Wege der Einzelrechts-
nachfolge erreicht werden . Die Vermögensübertragung
bietet schließlich eine effiziente und praktische Alterna-
tive zu einem normalen Verkaufsvorgang . Sie verbindet
die Vorteile der Gesamtrechtsnachfolge, der Entbehrlich-
keit einer Gläubigerbeteiligung für Übertragungen und
der Möglichkeit, eine andere Gegenleistung als Anteile,
namentlich Geld, zu bekommen .
Abschließend möchte ich sagen, dass wir mit diesem
Gesetz die Verwaltung und Kontrolle der Finanzstabili-
sierungshilfen und der Abwicklungsanstalten auf einen
guten Weg gebracht und zukunftsfest gemacht haben .
Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD): Wie Sie wissen,
wurde als Reaktion auf die Finanzkrise im Jahr 2008 der
Finanzmarktstabilisierungsfonds errichtet, der über einen
Handlungsrahmen von insgesamt 480 Milliarden Euro
verfügte . Verwaltet wurde dieser Fonds von der Bundes-
anstalt für Finanzmarktstabilisierung (FMSA), die auch
die Befugnis erhielt, Abwicklungsanstalten, sogenannte
„Bad Banks“, zu gründen . Im Rahmen dieses Modells
konnten Risikopositionen sowie zur strategischen Aus-
richtung der jeweiligen Bank nicht mehr notwendige Ge-
schäftsbereiche übertragen werden . Die FMSA machte
von dieser Möglichkeit zweimal Gebrauch . 2009 grün-
dete sie die Erste Abwicklungsanstalt (EAA), die in
mehreren Schritten in großem Umfang Risikopositionen
der West LB übernahm . 2010 wurde darüber hinaus die
FMS-Wertmanagement gegründet, die Risikopositionen
der HRE-Gruppe übernahmen . Ab dem 1 . Januar 2015
übernahm die FMSA zudem die Funktion der nationa-
len Abwicklungsbehörde in Deutschland, um Banken in
Schieflagen abwickeln zu können. Seit Beginn des Jah-
res 2016 hat der neugeschaffene europäische einheitliche
Abwicklungsausschuss (Single Resolution Board) die
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20679
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Aufgabe der Abwicklung und Restrukturierung von In-
stituten übernommen .
Nun ist es so, dass durch Rückzahlungen der Maß-
nahmeempfänger sich das Volumen der Stabilisierungs-
maßnahmen des Finanzmarktstabilisierungsfonds bis
zum Ende des Jahres 2015 sukzessive verringert hat mit
der Folge, dass der FMS mit Auslauf des Jahres 2015 für
neue Maßnahmen geschlossen und die Abwicklung des
Fonds eingeleitet wurde . Die Aufgaben der FMSA be-
schränken sich daher nur noch auf die Verwaltung der
noch ausstehenden Maßnahmen . Dies umfasst zum einen
die Verwaltung der bestehenden Minderheitsbeteiligun-
gen des FMS an der Commerzbank und der pbb-Deut-
sche Pfandbriefbank sowie der stillen Einlagen bei der
Portigon AG und zum anderen die Aufsicht über die Ab-
wicklungsanstalten EAA und FMS-Wertmanagement .
Dies ist der Grund, warum wir heute in 2 ./3 . Lesung
das Gesetz zur Neuordnung der Aufgaben der Bundes-
anstalt für Finanzmarktstabilisierung verabschieden wer-
den . Mit diesem Gesetz wird es eine Zweiteilung geben .
So wird die nationale Abwicklungsbehörde (NAB) in die
BaFin eingegliedert . Die restliche FMSA wird infolge
der Ende 2015 erfolgten Schließung des FMS für neue
Maßnahmen in die Bundesrepublik Deutschland – Fi-
nanzagentur GmbH und damit in eine größere Einheit
und Infrastruktur integriert .
Es ist beabsichtigt, mit der Übertragung der Aufgaben
der nationalen Abwicklungsbehörde auf die BaFin zwei
Ziele zu verfolgen . So sollen die Einheiten der FMSA,
die Aufgaben der nationalen Abwicklungsbehörde wahr-
nehmen, unter Beachtung der Vorgaben diverser europäi-
scher Richtlinien als neuer Geschäftsbereich in die BaFin
eingegliedert werden . Dieser wird von einer(m) eigenen
Exekutivdirektorin/Exekutivdirektor geleitet, die oder
der auch im Direktorium der BaFin vertreten sein wird .
Des Weiteren soll die Effizienz der Aufgabenerledigung
dahin gehend gesteigert werden, dass die bestehenden
Strukturen und die vorhandene Sachkunde der BaFin als
Allfinanzaufsicht auch für die Zwecke der Abwicklung
genutzt werden können .
Nun ist festzustellen, dass die Aufgaben der Bundes-
anstalt für Finanzmarktstabilisierung im Bereich der Ab-
wicklungsbehörde sehr schnell gewachsen sind, während
auf der anderen Seite die Aufgaben im FMS-Bereich für
neue Maßnahmen und Rückführung bestehender Maß-
nahmen in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen
sind . Da die FMSA ohne den Abwicklungsbereich als
kleine Behörde zurückbleiben würde, macht es Sinn, die
FMSA in eine größere Einheit zu integrieren . Eine Ein-
gliederung dieses Teils in die BaFin kommt dabei nicht
infrage, da dies zu Interessenkonflikten zwischen Ban-
kenaufsicht und Beteiligungsführung führen würde .
Mit der Finanzagentur ist meines Erachtens hier auch
der richtige Partner gefunden worden. Diese wird mit der
Trägerschaft an der FMSA beliehen, führt deren Aufga-
ben nach Maßgabe des vorliegenden Gesetzentwurfes im
Zuge der nun eingeleiteten Abwicklung und Auflösung
des FMS fort und übernimmt – das erachte ich als be-
sonders wichtig – die zuständigen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter von der FMSA . Damit ist klar: Eine wei-
terhin effiziente Arbeit der FMSA wird ermöglicht und
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine langfristige
Perspektive über ihre inzwischen auf Ablauf angelegten
Tätigkeit im Zusammenhang mit der Finanzmarktstabili-
sierung und der FMS geboten .
In den letzten Wochen haben wir uns intensiv mit den
durch den Gesetzentwurf betroffenen Beteiligten aus-
einandergesetzt . Vor allem die Ausgestaltung der §§ 8a
und 8b des Gesetzes zur Errichtung eines Finanzmarkt-
stabilisierungsfonds, welche die bundesrechtlichen Ab-
wicklungsanstalten beinhalten, war Gegenstand vieler
Diskussionen . Grundsätzlich dienen die Anpassungen
im § 8a FMStFG der Rechtssicherheit in Bezug auf die
Tätigkeiten der bundesrechtlichen Abwicklungsanstal-
ten, insbesondere in Bezug auf die Anwendbarkeit der
Bundeshaushaltsordnung . Vor allem § 8a Absatz 6 trägt
der speziellen Situation der Abwicklungsanstalten Rech-
nung, die einerseits marktnah agieren sollen und anderer-
seits öffentlich-rechtliche Anstalten mit einer staatlichen
Verlustgarantie sind . In diesem Zusammenhang haben
wir uns darauf geeinigt, dass wesentliche Teile der Bun-
deshaushaltsordnung nicht auf die Abwicklungsanstalten
anwendbar sind . Lediglich die §§ 55 und 109 (diese re-
geln die öffentliche Ausschreibung und die Rechnungs-
legung) sowie die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und
Sparsamkeit bleiben anwendbar . Das ist auch richtig so,
da die Abwicklungsanstalten mit Steuergeldern finanziert
werden und die Risiken der Abwicklungsanstalten von
der öffentlichen Hand getragen werden.
Ich bin der festen Überzeugung, dass die Vorgaben die
Abwicklungsanstalten nicht in ihrem Auftrag beeinträch-
tigen, die abzuwickelnden Portfolios verlustmindernd
zu veräußern . Der Grundsatz beeinträchtigt auch nicht
Risikoentscheidungen auf Grundlage der Business Jud-
gement Rule im Rahmen der Portfolioverwaltung. Nach
wie vor haben die Abwicklungsanstalten ihre Geschäfte
nach kaufmännischen und wirtschaftlichen Grundsätzen
zu führen . Dies gewährleistet der § 8a Finanzmarktsta-
bilisierungsfondsgesetz (FMStFG) . Des Weiteren ha-
ben wir den bundesrechtlichen Abwicklungsanstalten
die Möglichkeit eingeräumt, Portfolios im Wege der
Gesamtrechtsnachfolge zu übertragen . Auf diese Weise
sollen erhebliche Kosten- und Zeitersparnisse gegenüber
der Übertragung im Wege der Einzelrechtsnachfolge er-
reicht werden . Die Regelung orientiert sich an § 8a Ab-
satz 8 des Finanzmarktstabilisierungsfondsgesetzes, der
den Abwicklungsanstalten ermöglicht, als übernehmen-
der Rechtsträger an einem Spaltungsvorgang beteiligt
zu sein . Somit wird richtigerweise den Abwicklungsan-
stalten die Möglichkeit eingeräumt, an Ausgliederungen
und Abspaltungen im Sinne des Umwandlungsrechts als
übertragender Rechtsträger beteiligt zu sein . Dies gilt
jedoch nur für Übertragungsmöglichkeiten auf die Aus-
gliederung und Abspaltung . Andere Arten der Spaltung
werden nicht zugelassen .
Lassen Sie mich zum Schluss noch auf eine Regelung
hinweisen, die im Rahmen der Neuordnung der Aufgaben
der FMSA neu gestaltet wurde . So wird mit diesem Ge-
setzentwurf auch die Organisation der Parlamentarischen
Kontrolle über den FMS neu geregelt . Die Aufgaben des
Gremiums nach § 10a des Finanzmarktstabilisierungsge-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620680
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setzes (Finanzmarktgremium) werden weiter abnehmen,
da – wie bereits erwähnt – neue Maßnahmen seit 2016
nicht mehr ergriffen werden können und die ausstehen-
den Maßnahmen rückläufig sind. Es erscheint daher im
Zuge der Tatsache, dass künftig die Finanzagentur für
den FMS zuständig sein soll, sinnvoll, dass die Aufga-
ben des Finanzmarktgremiums ab dem Jahre 2018 durch
das für die Finanzagentur zuständige Bundesfinanzie-
rungsgremium wahrgenommen werden . Auf diese Wei-
se kann die parlamentarische Kontrolle beider Bereiche
künftig aus einer Hand erfolgen, und die Geschäftsfüh-
rung der Finanzagentur kann einem Gremium berichten .
Das Bundesfinanzgremium besteht aus Mitgliedern des
Haushaltsausschusses . Mitglieder des Finanzausschusses
können, wie bisher, in das Gremium gewählt werden, so-
fern sie stellvertretendes Mitglied im Haushaltsausschuss
sind .
Alles in allem beschließen wir heute mit dem Gesetz-
entwurf eine sinnvolle Reform . Die juristische Konstruk-
tion bei der FMSA ist zwar kompliziert, aber plausibel .
Mit den beschlossenen Änderungen zum vorliegenden
Gesetzentwurf werden wir auch allen Beteiligten gerecht .
Roland Claus (DIE LINKE): Ich hatte in meiner
Rede zur ersten Lesung des FMSA-Neuordnungsgeset-
zes die wesentlichen Kritikpunkte am generellen Zustand
der Bankenrettung bereits dezidiert aufgeführt, vor allem
die Tatsache, dass der Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung die Logik von Koalition und Regierung zur staat-
lichen Rettung von Banken mit Steuergeldern fortsetzt .
Seit Bestehen des Sonderfonds für die Finanzmarkt-
stabilisierung und der entsprechenden Bundesanstalt hat
dieser Fonds auf Kosten der Steuerzahler 22,6 Milliar-
den Euro Verlust angesammelt, nach veröffentlichten
Informationen der FMSA . Man muss sich deutlich vor
Augen halten, dass die ungelöste Bankenkrise trotz ih-
rer Verdrängung aus den Tagesschlagzeilen immer noch
eine Bedrohung der europäischen Staaten darstellt, weil
das Gewicht der Finanzmärkte auch die Rettungsboje der
Staatshaushalte unter Wasser drückt . Beschlossen hatte
die Koalition eine Pseudo-Bankenabgabe, die nach oben
gedeckelt ist und von der Vorstellung ausgeht, dass die
nächste Finanzkrise schwach ausfallen und erst „in ei-
nem halben Jahrhundert“ stattfinden wird. Eine solche
Annahme ist nicht nur naiv, sondern bedient bewusst die
Lobby-Interessen der Finanzbranche zulasten der Steuer-
zahlerinnen und Steuerzahler . Außer gegen Euro-Staaten
richten Banken und Hedgefonds ihre spekulativen An-
griffe auch auf Rohstoffe und Nahrungsmittel. Das Leid
der Opfer dieser Spekulationswellen wird von den Ak-
teuren in Kauf genommen .
Nun hat die Koalition in der Zwischenzeit noch eine
Reihe von Änderungsanträgen eingebracht, von denen
meine Fraktion zwei für zustimmungsfähig hält: Wir
meinen, dass die Anpassung der Bemessungsgrundlage
für die Umlage der Nationalen Abwicklungsbehörde,
NAB, sinnvoll ist, da auf diese Weise eine Verschiebung
von Lasten zuungunsten der kleinen Institute vermie-
den wird und Förderbanken weiterhin privilegiert blei-
ben . Darüber hinaus stimmen wir auch der Änderung
bei landesrechtlichen Abwicklungsanstalten zu, da sie
sicherstellt, dass für die landesrechtlichen Abwicklungs-
anstalten dieselben Vorgaben für die Rechnungslegung
und Bilanzierung gelten wie aktuell und künftig für die
bundesrechtlichen . Bei allen weiteren Änderungsanträ-
gen wird sich Die Linke enthalten .
Im Grundsatz jedoch ist die vorgenommene Finanz-
marktstabilisierung nach wie vor der falsche Weg . Schäd-
liche Finanzinstrumente und Aktivitäten müssen verbo-
ten werden, zum Beispiel Hedgefonds, Schattenbanken,
ungedeckte Leerverkäufe und Wertpapiere auf Grundla-
ge von Kreditausfallversicherungen ohne eigenen Kredit .
Über eine Reregulierung der Finanzmärkte und die Stär-
kung der Eigenkapitalanforderungen hinaus müssen spe-
kulative Exzesse durch eine Finanztransaktionsteuer und
einen „Finanz-TÜV“ eingedämmt werden . Der Banken-
sektor muss auf seine Kernfunktionen Zahlungsverkehr,
Ersparnisbildung und Finanzierung zurückgeführt und
entsprechend geschrumpft werden, damit die Steuerzah-
lerinnen und Steuerzahler nicht immer wieder aufs Neue
erpresst werden . Diese Umstrukturierungen sind nicht
nur politisch geboten, sondern auch verfahrenstechnisch
machbar, wie wir uns bei einem Besuch einer Delegation
von Abgeordneten über die Arbeitsweise der FMSA in
Frankfurt/Main überzeugen konnten .
Im Gesetzentwurf zur Neuordnung der FMSA und in
den Änderungsanträgen werden nun die vorgesehenen
strukturellen Veränderungen kodifiziert. Die parlamen-
tarische Begleitung soll in dem ausschließlich geheim
tagenden Bundesfinanzierungsgremium erfolgen. Auch
dieses Geheimgremium hatte meine Fraktion seit 2008
kritisiert .
Die jetzt beabsichtigten Strukturänderungen sind
weitgehend nachvollziehbar, aber sie folgen weiterhin
der falschen Logik . Die Fraktion Die Linke wird deshalb
den Gesetzentwurf ablehnen .
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Der SoFFin ist nun schon eine Weile für neue Maßnah-
men geschlossen, und die Bad Banks schmelzen ihre
Portfolios schneller ab als erwartet. Das ist eine gute
Nachricht . Und deshalb sind wir heute hier und beschlie-
ßen ein Gesetz, welches die aufgrund der Krise gegrün-
deten Institutionen neu und effizienter organisieren soll.
Die Neuordnung der FMSA und die Eingliederung in
größere Strukturen sind, mit deren zunehmend schrump-
fenden Aufgaben, sachgerecht . Dies ermöglicht es, die
Infrastruktur und Sachkunde dieser Einheiten zu nutzen,
und den Mitarbeitern innerhalb der FMSA eröffnen sich
langfristige Perspektiven.
Durch die Integration der Bad Banks in die Fi-
nanzagentur kann deren Refinanzierung nun zu besseren
Konditionen erfolgen . Dieses Einsparpotenzial haben wir
der Bundesregierung seit 2012 regelmäßig aufgezeigt .
Dies wurde aber erst als falsch abgetan . Dann, als die
Richtigkeit unserer grünen Argumentation erkannt wur-
de, wurde es aus politischen Gründen nicht umgesetzt . Es
ist schön, zu sehen, dass gute Vorschläge auch von dieser
Bundesregierung irgendwann aufgegriffen werden, wenn
auch deutlich zu spät und ohne Beachtung des Copy-
rights . Für die Millionen, die seit 2012 aus politischem
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20681
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(B) (D)
Starrsinn verbrannt wurden, schuldet der Finanzminister
dem Steuerzahler allerdings noch eine Erklärung .
Mit dem Gesetz geben wir den Abwicklungsanstalten
die Möglichkeit, durch Abspaltung und Umwandlung
ihre Portfolios schneller und kostengünstiger abzubauen.
Die Überwachung der Abwicklungsanstalten und der Be-
teiligungen mittelfristig in das Bundesfinanzierungsgre-
mium überzuführen und hierfür im Bundestag nicht wei-
terhin ein eigenes Gremium zu beschäftigen, ist aufgrund
der weniger komplexen Situation effizient.
Die Eingliederung der Nationalen Abwicklungsbe-
hörde in die BaFin wirft wichtige institutionelle Fragen
auf . Besonders wichtig war uns im Beratungsprozess,
sicherzustellen, dass die Nationale Abwicklungsbehörde
wirklich unabhängig von der Aufsicht agieren kann . An-
sonsten besteht die Gefahr, dass es zu einem Interessen-
konflikt kommt, deshalb eine nötige Abwicklung zu spät
erfolgt und diese somit unnötig verteuert wird . Ob die
nötige Unabhängigkeit mit der jetzt gewählten Konstruk-
tion gewährleistet ist, bezweifeln wir .
Die Nationale Abwicklungsbehörde wird in Zukunft
sowohl national als auch im Rahmen des Einheitlichen
Abwicklungsmechanismus tätig sein . Hier war es uns be-
sonders wichtig, dass keine Situation auftritt, in der we-
der eine Kontrolle durch den Deutschen Bundestag noch
über das Europäische Parlament erfolgt. Wir haben im
Prozess dieses Problem mehrfach thematisiert und wer-
den dies auch in der Praxis sehr genau beobachten.
Mit dem Gesetz setzt die Bundesregierung einen un-
serer Vorschläge um, der dem Steuerzahler Millionen
einspart . Wir hätten es gerne gesehen, wenn unsere an-
deren Initiativen in diesem Bereich ebenfalls aufgegrif-
fen worden wären . Sowohl in den Beratungen zu diesem
Gesetz als auch vorher haben wir uns für eine Verbesse-
rung in der parlamentarischen und exekutiven Kontrolle
bei gestützten Instituten eingesetzt . Angesichts der Höhe
der hier bereitgestellten Gelder ist die bisher vorgenom-
mene Kontrolle unzureichend . Auch die Regelungen zu
den Managergehältern gestützter Banken bleiben unzu-
reichend . Bei der Hypo Real Estate wurden die vorge-
sehenen Gehaltdeckelungen durch die Gewährung von
Luxusrenten umgangen . Wir haben die Bundesregierung
bereits 2012 aufgefordert, dem einen Riegel vorzuschie-
ben . Dies hätte man im Rahmen dieser Neuordnung um-
setzen können . Leider ist dies nicht geschehen . Da aber
die Vereinfachung und Verschlankung der Strukturen der
Bankenabwicklung sachgerecht, ist stimmen wir dem
Gesetz heute zu .
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zum Erlass und zur Änderung marktord-
nungsrechtlicher Vorschriften sowie zur Änderung
des Einkommensteuergesetzes (Tagesordnungs-
punkt 26)
Kees de Vries (CDU/CSU): Das nationale Liqui-
ditätshilfeprogramm mit Angebotsdisziplin ist Teil des
insgesamt rund 500 Millionen Euro schweren zwei-
ten EU-Hilfspakets zur Milchkrise . Damit wurde das
EU-Hilfspaket in eine nationale Verordnung umgesetzt .
Die geplante Liquiditätshilfe wurde dazu mit einer Men-
gendisziplin verknüpft . In Anbetracht der Absicht der
EU, die Vorräte aus den Interventionsankäufen auf den
Markt zu bringen, und des zu erwartenden Frühjahrsauf-
schwungs in der Produktion, ist es eine sinnvolle Maß-
nahme, die zur Stabilisierung der Preise beitragen wird.
Da in der Land- und Forstwirtschaft die Ertrags- und
Erlösschwankungen zwischen einzelnen Wirtschaftsjah-
ren wegen der zunehmenden Wetterkapriolen und der Vo-
latilität der Märkte besonders stark sind, sieht Artikel 3
des Gesetzes darüber hinaus eine Änderung des Einkom-
mensteuergesetzes vor mit dem Ziel, die natur- und sek-
torbedingten Schwankungen der Gewinne in land- und
forstwirtschaftlichen Betrieben zwischen aufeinanderfol-
genden Wirtschaftsjahren steuerlich zu glätten .
Durch einen neuen § 34e EStG werden Gewinn-
schwankungen in der Land- und Forstwirtschaft rückwir-
kend für drei Jahre durch eine individuelle Tarifglättung
korrigiert . Diese Regelung soll nach der Einigung der
Koalitionsfraktionen auf neun Jahre befristet sein, das
heißt in 2014 beginnen und in 2022 enden . Ich gehe da-
von aus, dass auch die Kommission dieser Maßnahme
zustimmen wird . Durch die von der Koalition vorgeleg-
ten Änderungsanträge zum steuerrechtlichen Teil werden
die Modalitäten der Glättung – Einkommenssituation im
jeweils dritten Jahr eines Betrachtungszeitraums, Mög-
lichkeit einer Nachzahlung im Einzelfall – stimmiger .
Die Gesetzesänderungen sowie der Verordnungsent-
wurf zur Durchführung einer Sonderbeihilfe für Milcher-
zeuger und der Beschluss zum Haushalt 2017 sind die
Grundlage, um die Liquiditätshilfen mit Angebotsdiszi-
plin in Höhe von insgesamt 116 Millionen Euro – 58 Mil-
lionen Euro EU-Mittel, zusätzlich dankenswerterweise
58 Millionen Euro vom Bund – in 2017 an die Landwirte
auszuzahlen . Die schwierige Marktlage ist trotz derzeit
sich erholender Märkte nicht überwunden . Der Saison-
aufschwung der Rohmilchlieferung im ersten Halb-
jahr 2017 wird zeigen, ob die Preiserholung nachhaltig
ist . Unsere Liquiditätshilfe mit Angebotsdisziplin wird
dann angebotsdämpfend wirken .
Damit dieser Zeitraum mit dem Kalendermonat Feb-
ruar 2017 beginnen kann, muss die Ministerverordnung
noch im Dezember in Kraft treten . Dazu brauchen wir
jetzt eine Änderung des Marktorganisationsgesetzes, und
ich bitte um Ihre Zustimmung dafür .
Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Die Milchkrise ist
noch nicht vorbei, aber es gibt Licht am Horizont . Die
Preise legen an den Spotmärkten und in den Supermärk-
ten zu, aber die Landwirte verdienen trotzdem noch kein
Geld .
Bei etwa 7 bis 8 Milliarden Euro Einnahmeverluste
seit Beginn der Krise hat jeder Betrieb durchschnittlich
gut 112 000 Euro davon zu tragen . Dieses Geld fehlt nun
den Betrieben und im ländlichen Raum!
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620682
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Die Krise hat viele Betriebe in die Knie gezwungen:
Mittlerweile gibt es nur noch knapp 70 000 Milchviehbe-
triebe. Das sind gut 5 Prozent weniger als im Vorjahr. Seit
2010 haben wir sogar über 22 000 Betriebe bzw. 24 Pro-
zent – trotz Milchquote – verloren .
Dies hätte nicht so kommen müssen, wenn rechtzeitig
gehandelt worden wäre . Ich nenne nur das Bürgschafts-
programm, das ich schon im September 2015 gefordert
habe und das nun endlich mit der Verabschiedung des
Haushalts kommen wird . Hier hat der Bundeslandwirt-
schaftsminister die Krise schlichtweg verschlafen . Auf
die Fehler des ersten Entwurfs habe ich bereits bei der
Einbringung des Gesetzentwurfes hingewiesen . Diese
Fehler mussten dann mit einem Änderungsantrag korri-
giert werden .
Auch bei dem jetzt vorliegenden Entwurf hat die
SPD-Fraktion erhebliche steuerfachliche und verfas-
sungsrechtliche Bedenken . Das Einkommensteuerrecht
ist sicherlich kein geeignetes Instrument der Krisenprä-
vention bei volatilen Märkten . Die Einkommensteuer ist
schlichtweg kein effizientes Instrument, um Landwirt-
schaftsbetriebe wirksam zu unterstützen . Hier ist die eu-
ropäische Agrarpolitik in Gänze gefordert .
Die im Einkommensteuergesetz vorgesehene Glät-
tung der Gewinne aus land- und forstwirtschaftlichen
Einkünften wird sowohl steuerfachlich als auch recht-
lich problematisch angesehen . So sind im Gesetzentwurf
sämtliche Land- und Forstwirte ohne Beschränkung be-
günstigt . Und dies unabhängig davon, ob in den jeweili-
gen Teilbereichen des Agrarsektors eine marktbedingte
Einkommenskrise wie im Milchsektor vorliegt oder eben
nicht . Außerdem ist die Zielgenauigkeit gegenüber den
aktuellen Problemen in der Landwirtschaft zweifelhaft.
Zudem profitieren aufgrund der Steuerprogressions-
kurve überwiegend Betriebe mit höheren Einkommen
von der neuen steuerlichen Regelung . In 2015 haben
10 Prozent und in 2014 18 Prozent der Betriebe des Test-
betriebsnetzes des BMEL Gewinne von 100 000 Euro
ausgewiesen . Ein durchschnittlicher land- und forstwirt-
schaftlicher Betrieb kann demnach nur mit einer sehr
kleinen Steuererleichterung in der Größenordnung von
wenigen Hundert Euro rechnen . Das ist der Mühe nicht
wert .
Die unterschiedliche Progression bei stark schwan-
kenden Einkünften betrifft nicht nur landwirtschaftliche
Betriebe, sondern auch andere Einkunftsarten . Gerade
das Tourismusgewerbe ist auch witterungsabhängig . In-
sofern ist die Frage des Gleichbehandlungsgrundsatzes
nicht abschließend geklärt . Dies bestätigt auch ein Gut-
achten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages .
Auch bin ich der Überzeugung, dass der administra-
tive Verwaltungsaufwand seitens der Finanzverwaltung
erheblich ist und die ausgewiesenen 5,5 Millionen Euro
Mehrkosten nicht ausreichen werden . In Bezug auf die
vorgesehene fiktive Steuerberechnung ist die praktische
Umsetzung fraglich . Zudem können bestandskräftige
Veranlagungen im Bereich der Landwirtschaft über einen
langen Zeitraum nicht durchgeführt werden .
Wir brauchen eine europäische Lösung und keine nati-
onalstaatliche über das Einkommensteuergesetz .
Ich bin überzeugt, dass dies nicht die letzte
Milchmarktkrise sein wird .
Wichtige strukturelle Veränderungen, die der Branche
langfristig geholfen hätten, sind nicht auf den Weg ge-
bracht worden .
Runde Tische und Branchenvereinbarungen lösen das
Problem nicht.
Landwirte haben ein Recht auf Verträge über
Milchmenge, Laufzeit und Preis. Zum gegenwärtigen
Zeitpunkt tragen sie allein das wirtschaftliche Risiko .
Niemand sonst . Das war 2009 so . Das ist auch jetzt so .
Die Chance für die notwendige Änderung im Wettbe-
werbsrecht im § 28 ist leider verstrichen .
Die Streichung der Andienpflicht im Agrarmarktstruk-
turgesetz, also der garantierten Abnahme der Milch trotz
Überproduktion, ist an den grünen und schwarzen Agrar-
ministern gescheitert .
Auch die Änderung des § 148 der Gemeinsamen
Marktordnung zugunsten der Landwirte ist momentan
nicht abzusehen, trotz Agrarministerkonferenzbeschluss .
Der vorliegende Gesetzentwurf kommt zu spät und
ist nichts weiter als weiße Salbe! Bringt nichts, tut nicht
weh, und der Bauernverband hat offensichtlich erfolgrei-
che Lobbypolitik betrieben! Die Milchmarktkrise wird
zum Anlass genommen, um Land- und Forstbetrieben ein
Steuergeschenk zu machen . Das ist nicht ausgewogen .
Zum Glück haben wir den Freibetrag für Flächenver-
äußerungen verhindern können . Dies hätte den Boden-
markt nur weiter angeheizt .
Letztendlich können wir dem Gesetz nur aus zwei
Gründen zustimmen:
Erstens. Wir wollen das EU-Programm für die Land-
wirte ermöglichen . Dies können wir nur, wenn wir den
Änderungen im Steuerrecht zustimmen .
Zweitens . Das Bundesjustizministerium sieht der Ge-
setzesänderung zwar nicht mit Freud entgegen, kann dem
aber noch gerade so zustimmen, da wir als SPD eine Be-
fristung der Gewinnglättung bis 2022 eingeführt haben .
Damit retten wir letztendlich noch das Gesetz .
Letztendlich haben die Länder das letzte Wort, und wir
werden dann sehen, wo die Agrar- oder die Finanzminis-
ter jeweils das letzte Wort haben werden . Das Ergebnis
der Bundesratsverhandlungen ist offen. Ich gehe davon
aus, dass zumindest einige Länder den Vermittlungsaus-
schuss anrufen werden . Wenn das so kommt, dann greift
das Gesetz dieses Jahr nicht mehr . Dies wäre dann das
Ergebnis schlechter Arbeit des Bundeslandwirtschafts-
ministeriums .
Karin Binder (DIE LINKE): Wir alle hier im Hohen
Hause wollen den in Not geratenen Milchbetrieben hel-
fen . Doch von dem vorliegenden Gesetzentwurf wird
die Milch sauer . Die dringend notwendige Unterstüt-
zung der Milchbauern wird mit windigen Regelungen
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20683
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zur Einkommensteuer gepanscht . Bundesagrarminister
Christian Schmidt hat die Bauern – und auch das Par-
lament – viel zu lange auf eine gesetzliche Regelung
warten lassen . Die Verteilung von Hilfen über Mittel der
EU und des Bundes hätte schon lange organisiert werden
müssen, wenn man vermeiden will, dass noch mehr Be-
triebe aufgeben . Nach der langen Wartezeit müssen wir
nun aber auch noch befürchten, dass der Gesetzentwurf
der Regierungskoalition von CDU/CSU und SPD nicht
verfassungsgemäß ist .
Das würde für viele Milchbauern endgültig das Aus
bedeuten . Sollte das Gesetz nämlich gekippt werden,
weil die Regelungen zur Einkommensteuer unzulässig
sind, müssen die Landwirte die Steuerersparnisse aus der
Gewinnglättung wieder zurückzahlen .
Das möchte ich Ihnen kurz erklären:
Der Gesetzentwurf besteht aus mehreren Teilen . In
den ersten beiden Artikeln werden die dringend erwar-
teten Stützmaßnahmen der Europäischen Union gere-
gelt . Aus Mitteln der EU stehen Deutschland 58 Milli-
onen Euro für die Unterstützung der Milchbetriebe zur
Verfügung, die durch die gleiche Summe vom Bund auf
116 Millionen Euro aufgestockt werden .
Der Artikel 3 des Gesetzes hat damit nichts zu tun .
Dieser regelt, dass Gewinne über drei Jahre im Durch-
schnitt gerechnet der Einkommensbesteuerung zugrunde
gelegt werden. Dies soll nach Auffassung der Koalition
kleinen Bauern helfen, die in dieser Milchmarktkrise ent-
standenen Verluste besser zu verkraften .
Begründet wird diese Maßnahme im Gesetzentwurf
mit dem globalen Klimawandel, der bei den „Betrieben
zunehmend spürbar zu massiven Ernteausfällen und da-
raus resultierenden schwankenden Gewinnen“ führen
würde . Das ist absurd .
Zum einen wird die Möglichkeit zur Gewinnglättung
auf neun Jahre begrenzt. Union und SPD gehen offenbar
davon aus, dass der Klimawandel danach kein Thema
mehr ist .
Zum anderen werden einfach die Augen verschlossen
vor den tatsächlichen Ursachen .
Die Gewinneinbußen der Milchbetriebe sind die Folge
eines Überangebotes mit dem damit verbundenen Preis-
verfall auf globalisierten und unregulierten Märkten .
Letztendlich ist das dem Wegfall der Milchquote inner-
halb der EU geschuldet. Der damit verbundene Preisver-
fall ist auch eine Folge der kartellartigen Einkaufsmacht
der Supermarktketten in Deutschland . Dort haben die
Erzeuger landwirtschaftlicher Produkte nichts mehr zu
melden. Entweder sie akzeptieren den niedrigen Preis,
den Lidl und Co . ihnen noch zugestehen, oder sie wer-
den ausgelistet . Das vergiftet das Klima – auf den Agrar-
märkten . Das verdirbt die Milch .
Deshalb fordert die Linke: Weg von einer einseitigen
Exportorientierung, Stärkung regionaler Absatzmärkte
und einen nachfrageorientierten Regulierungsmecha-
nismus . Landwirtschaftliche Erzeuger brauchen Unter-
stützung gegenüber dem Oligopol der deutschen Super-
marktketten . Vertragliche Rahmenbedingungen müssen
im Sinne der Landwirte neu geregelt und das Kartellrecht
erweitert und gestärkt werden . Das wären dauerhafte Hil-
fen für eine notleidende Landwirtschaft .
Unabhängig davon aber bezweifelt der Wissenschaft-
liche Dienst im Bundestag, dass eine Gewinnglättung
über drei Jahre für die Einkommensteuerermittlung
zulässig ist . Es sei auch nicht gesichert, dass die ge-
wünschte Entlastung überhaupt eintritt . Die Experten
machen darüber hinaus darauf aufmerksam, dass die
Gewinnglättung über die Einkommensteuer nur einem
Teil der Milchbetriebe nützt . Genossenschaften, land-
wirtschaftliche GmbHs und Kapitalgesellschaften zahlen
Körperschaftsteuer und werden daher von der Regelung
nicht profitieren. Der zur Begründung herangezogene
Klimawandel betrifft jedoch Genossenschaften genauso
wie Familienbetriebe . Eine derartige Missachtung des
Gleichbehandlungsgrundsatzes wird vom Bundesverfas-
sungsgericht nicht hingenommen werden . Am Ende wird
die absurde Regelung zur Gewinnglättung das Gesetz zu
Fall bringen . Das hat dann zur Folge, dass Bauern auch
noch Steuern nachzahlen müssen .
Herr Minister Schmidt, werte Regierungskoalition:
Erst handeln Sie zu spät und dann auch noch mit solchen
handwerklichen Fehlern .
Nun müssen wir retten, was noch zu retten ist: Ziehen
Sie Artikel 3 des Gesetzentwurfes zurück . Wir können
hier heute getrennt darüber abstimmen . Die Kolleginnen
und Kollegen der SPD, die als Regierungspartner für die-
ses unglückliche Gesetz mitverantwortlich sind, wissen
um die Fehler in diesem Gesetz. Ich kann Sie nur auffor-
dern, diesem Artikel 3 nicht zuzustimmen .
Die Linke fordert schon seit langem: Führen Sie end-
lich eine steuerfreie Risikoausgleichsrücklage für alle
Betriebe ein . Auch der Bundesrat hat diese Forderung
schon aufgestellt . Landwirtschaftliche Betriebe hätten
zumindest eine Chance, in Zeiten von massivem Markt-
versagen solch schwierige Phasen aus eigenen Kräften
besser zu überstehen .
Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Es gibt immer wieder Situationen, da wundert
man sich über das mögliche Auseinanderfallen von ra-
tionaler Erkenntnis und dem daraus folgenden Handeln .
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, eine sol-
che Situation in Reinform haben wir am vergangenen
Dienstag erlebt, als wir im Sonderagrarausschuss über
die steuerliche Gewinnglättung für Landwirtschaftsbe-
triebe debattiert haben .
Lieber Wilhelm Priesmeier, ich folge voll und ganz
deiner Einschätzung . Gegen die steuerliche Gewinnglät-
tung liegen nach wie vor schwere verfassungsrechtliche
Bedenken vor; hier werden neue steuerliche Sondertat-
bestände geschaffen. Eine Ungleichbehandlung einzelner
Berufsgruppen wird neu geschaffen. Hier ist also der ver-
fassungsgemäße Gleichheitsgrundsatz betroffen.
Merkwürdigerweise kommen wir beide, SPD und
Grüne, aus dieser gleichen Einschätzung aber zu voll-
kommen gegensätzlichen Ergebnissen . Da frage ich
mich, wie kann das kommen?
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620684
(A) (C)
(B) (D)
Wenn ich zu der Erkenntnis komme, ein Instrument,
ein Handeln ist falsch – nicht zielführend, verfassungs-
rechtlich womöglich sogar gar nicht zu begründen, dann
muss ich mich einem solchem politischen Beschluss
doch widersetzen und ihn ablehnen . Aber die Sozialde-
mokraten haben einen Ruf als Umfaller zu verlieren . Da
kann ich nur sagen: Diese Angst ist unbegründet, den
Umfallerruf haben Sie in dieser Woche erneut verteidigt
und entgegen Ihrer eigenen ablehnenden fachlichen Ein-
schätzung der steuerlichen Gewinnglättung zugestimmt .
Damit sind sie der Union auf den Leim gegangen .
Dieses Missverhältnis zwischen politischer Einschät-
zung und politischem Verhalten ist doch bezeichnend .
Die Union verspricht den Bäuerinnen und Bauern wieder
einmal das Blaue vom Himmel und verkauft die Gewinn-
glättung als tatkräftige Hilfe für die notleidenden Milch-
betriebe . Es nützt aber nicht den kleinen Milchbetrieben
in Not, sondern alleine den großen Ackerbauern . Hier
werden die Zuckerbarone quersubventioniert .
Wir Grünen haben immer wieder deutlich gemacht,
dass wir deutliche Unterstützung für die Milchbetriebe in
Not brauchen . Allerdings nicht, indem wir Gelder wahl-
los mit der Gießkanne über das Land verteilen, sondern
indem wir die Ursachen der Milchmarktkrise angehen .
Aber der Wahlkampf naht und die Union erliegt mal wie-
der der Gießkannenverlockung .
Seit dem Wegfall der Milchquote haben wir Grünen
auf die Krise hingewiesen und auf die absehbaren Fol-
gen für die Landwirtschaft . Wir haben immer gesagt: Wir
müssen die Menge reduzieren . Wir haben Vorschläge
vorgelegt, wie auf die Krise reagiert werden kann .
Viel zu spät wird jetzt reagiert und mit halbem Ein-
satz . Bitter bezahlt für diese späte Reaktion haben die
Milchbetriebe .
Immerhin, die Milchhilfen, die mit dem heutigen Ge-
setz ermöglicht werden, sind an eine sogenannte „Men-
gendisziplin“ gebunden. Das ist der Begriff, den Minister
Schmidt gerne verwendet . Mit dem Gesetz wird die so-
genannte „Milchsteigerungsvermeidungsbeihilfeverord-
nung“ kurz „MilchStVerBeihV“ ermöglicht . Wieder so
ein Wortungetüm aus dem Hause Schmidt, dass deutlich
zeigt, wie kompliziert dort gedacht wird . Nein, Herr Mi-
nister Schmidt, noch mal: Mengenreduzierung, schlicht
und einfach – nicht Steigerungsvermeidungsirgendwas .
Mittlerweile steigen die Preise wieder. Ja, richtig.
Aber die Preise sind noch immer nicht kostendeckend,
auch wenn Sie steigen . Kollege Kees de Vries spricht
zwar schon von fast kostendeckenden Preisen. Ist das ein
Erfolg? Und kostendeckend für welche Betriebe?
Die Betriebe, von denen Kollege de Vries spricht, sind
die 300er-, 600er-, 1 200er-Betriebe . Die können zu sol-
chen Preisen – fast – schon produzieren. Das sind die Zu-
kunftsbetriebe der Union, das ist das landwirtschaftliche
Leitbild der Union . Das sind aber nicht die Betriebe, von
denen wir Grünen sprechen . Wir wollen Zukunft für die
bäuerlichen Milchbetriebe . Wir wollen die Kuh auf der
Weide und wir wollen eine Zukunft, vor allem auch für
die Kleinen . Dafür kämpfen wir .
Anlage 12
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Energiestatistikgesetzes
(EnStatG) (Tagesordnungspunkt 27)
Thomas Bareiß (CDU/CSU): Der Energieverbrauch
der Industrie ist gesunken . Im Jahr 2015 betrug der Ener-
gieverbrauch in der Industrie 4 016 Petajoule und damit
0,7 Prozent weniger als im Vorjahr. Solche Aussagen
können wir nur treffen, wenn wir den Zugriff auf verläss-
liche Daten und Statistiken haben .
Aus diesem Grund beraten wir heute in erster Lesung
den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf
zum Energiestatistikgesetz . Damit stoßen wir eine wich-
tige Novellierung an, die die Grundlage für eine erfolg-
reiche Umsetzung der Energiewende in Deutschland
schafft und uns dem europäischen Energiebinnenmarkt
einen großen Schritt näherbringt .
Mit der Novellierung des Energiestatistikgesetzes
schaffen wir die Datenbasis für den Aufbau einer mo-
dernen Infrastruktur . Mithilfe der Statistiken kann die
zunehmend dezentrale und vernetzte Energieversorgung
besser gesteuert und analysiert werden . Die validen Da-
ten schaffen die Grundlage für die Teilnahme an neuen
Märkten . Sie ermöglicht uns, schneller und besser Infor-
mationen auszutauschen und Güter sowie Dienstleistun-
gen anzubieten .
Der starke Zubau an erneuerbaren Energien stellt un-
ser Energieversorgungssystem auf nationaler, europäi-
scher und internationaler Ebene vor neue Herausforde-
rungen . Er ist aber notwendig, um unsere Ziele, nämlich
die Reduzierung der Treibhausgasemissionen bis 2050
um 80 bis 95 Prozent, zu erreichen. Dazu gehören eben-
falls die Halbierung des Primärenergieverbrauchs, die
Reduzierung des Bruttostromverbrauchs und die Steige-
rung des Anteils der erneuerbaren Energien auf 80 Pro-
zent bis 2050 .
Um diese Ziele nicht nur festzuschreiben, sondern
auch zu erreichen, brauchen wir verlässliche Daten, um
geeignete Szenarien, Wege und Instrumente für unser
Energiesystem zu etablieren sowie zu analysieren . Die
Datenerhebung für die nationalen und internationalen
Berichtspflichten wird aufgrund von veränderten Markt-
bedingungen, Informations- und Kommunikationsinf-
rastrukturen immer anspruchsvoller . Das Energiestatis-
tikgesetz aus dem Jahr 2003 kann diesem Anspruch nur
unzureichend gerecht werden .
Die Statistiken im aktuellen Energiestatistikgesetz bil-
den die aktuellen Entwicklungen auf den Energiemärk-
ten, insbesondere den Elektrizitäts- und Gasmärkten,
ungenügend ab . Sie beziehen sich auf Wirtschaftsstruk-
turen, Definitionen und Erhebungsmerkmale von vor der
Liberalisierung der Energiemärkte. Das ist ein Problem.
Das ist gefährlich; denn die Statistiken sind unter
anderem die Grundlage für den Monitoringprozess zur
Umsetzung und Zielerreichung der Energiewende . Gibt
es hier ungenügende Datenbasen, kann das negative Aus-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20685
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wirkungen auf unsere Energiepolitik haben . Das kostet
viel Geld . Denn wir steuern dann dort nach, wo nicht
nachgesteuert werden muss, und schaffen Instrumente
dort, wo sie nicht nötig sind . Das belastet unsere Indus-
trie und unseren Mittelstand .
Deshalb passen wir mit dem aktuellen Entwurf zur
Novellierung des Energiestatistikgesetzes völlig zu
Recht die Merkmale, Begriffe, Zeiträume und Berichts-
kreise an die aktuellen Entwicklungen und Gegebenhei-
ten an . Das heißt aber nicht, dass bewährte Regelungen
und Strukturen ohne Not aufgelöst werden sollen . Das
Ziel der Novelle muss es sein, ein Gleichgewicht zwi-
schen Kosten und Nutzen herzustellen . Dabei müssen die
neuen Regelungen dazu beitragen, dass die Wirtschaft
von Meldepflichten bestmöglich entlastet und von Büro-
kratie befreit wird .
Es muss also ein Gleichgewicht zwischen der Be-
lastung der Wirtschaft und dem Nutzen durch die In-
formationsqualität hergestellt werden . Der Entwurf des
Energiestatistikgesetzes sieht hier eine Reduzierung der
einzelnen Berichtspflichten vor und ersetzt diese in an-
deren Bereichen, in welchen die Wirtschaft von zusätz-
lichen Informationen, beispielsweise bei der Steigerung
der Energieeffizienz, profitieren kann.
Die Zielsetzung der Novelle ist somit klar: Der Er-
füllungsaufwand der Wirtschaft muss minimal gehalten
werden, und der „One in, one out“-Grundsatz der Bun-
desregierung muss zum Tragen kommen . Insgesamt
rechnet das Bundesministerium für Wirtschaft und Ener-
gie mit einer Erhöhung des Erfüllungsaufwandes für die
Wirtschaft von 2,4 Millionen Euro auf 5,2 Millionen
Euro pro Jahr . Zusätzlich wird mit einmaligen Umstel-
lungskosten in Höhe von 5,4 Millionen Euro gerechnet .
Das ist viel Geld und betrifft insbesondere unsere kleinen
und mittelständischen Unternehmen .
Ganz überwiegend sind diese Kosten dem EU-Recht
geschuldet . Deshalb gilt es für uns umso mehr, zu prüfen,
ob es in der aktuellen Novelle noch den einen oder ande-
ren Hebel gibt, um Zusatzkosten für unseren Mittelstand
und Doppelmeldungen zu verhindern .
Deshalb führt der Vorschlag des Bundesrates, länder-
spezifische Vollerhebungen nur für gewisse Bereiche
durchzuführen, an dieser Stelle in die Irre . Die Länder
verursachen damit einseitig mehr Bürokratie, Kosten und
Aufwand für die Wirtschaft und die Landesstatistikämter .
Hier stehen Kosten und Nutzen im Bezug der Datenerhe-
bung grundlegend im Widerspruch .
Mit der Novelle des Energiestatistikgesetzes schaffen
wir die Voraussetzung, um eine effiziente, stabile und si-
chere Energieerzeugung sowie -verteilung sicherzustel-
len . Unstrittig ist dabei, dass diese Aufgabe langfristig
nur mithilfe valider und korrekter Daten gelöst werden
kann; denn in der Summe erhöhen sich die Anforderun-
gen an die Mess- und Kommunikationstechnologie so-
wie das Datenverarbeitungssystem . Mithilfe der Daten
soll eine Überwachung und Optimierung der miteinander
verbundenen Komponenten der Energiesysteme ermög-
licht werden .
Für den Industriestandort Deutschland ist die hohe
Stromversorgungsqualität ein entscheidender Stand-
ortvorteil . Da schließe ich im Übrigen ganz bewusst
auch unsere kleinen und mittelständischen Betriebe mit
ein . Ein Blackout würde nicht nur unmittelbar Kosten
im mehrstelligen Milliardenbereich auslösen, sondern
auch die Attraktivität des Wettbewerbsstandorts gefähr-
den . Dies gilt es zu vermeiden . Das hat für die CDU/
CSU-Fraktion oberste Priorität und kann nur verhindert
werden, wenn wir wissen, was im System abläuft . Aus
diesem Grund schafft der Gesetzesentwurf der Bundes-
regierung die Voraussetzung, die rechtliche Anordnung
von Statistiken zu vereinfachen, Möglichkeiten zu einer
Flexibilisierung der Erhebungsprogramme zu eröffnen
sowie Berichtskreise leichter anpassen zu können .
Mit der Novellierung des Energiestatistikgesetzes
wird der amtlichen Energiestatistik mehr Flexibilität ein-
geräumt. Hindernisse, die auf langwierige Prozesse des
Gesetzgebungsverfahrens, föderale Aspekte und Budget-
beschränkungen zurückzuführen sind, werden mit dem
Entwurf der Bundesregierung behoben .
Damit kann schneller und besser als bisher auf Verän-
derungen auf den Elektrizitäts-, Gas- und Wärmemärkten
reagiert werden . Deshalb ist es nur konsequent, dass den
zuständigen Fachressorts die Möglichkeit eingeräumt
wird, für das Monitoring „Energie der Zukunft“ und
aufgrund von inter- bzw. supranationalen Pflichten zum
Beispiel Merkmale und Berichtskreise eigenständig fest-
zulegen .
Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit und Wirtschaft-
lichkeit sind das Zieldreieck unserer Energiepolitik . Das
wollen wir für unsere Bürger und Wirtschaft gewährleis-
ten . Mit der vorliegenden Novelle leisten wir einen wei-
teren Beitrag dazu .
Mit dem Entwurf des Energiestatistikgesetzes sind
wir auf dem richtigen Weg, die Energiewende erfolg-
reich anzupacken und die dafür nötigen Daten zur Netz-
stabilität, Flexibilität sowie Steuerung im Energiesystem
zu gewährleisten . Lassen Sie uns den Weg konsequent
gemeinsam weitergehen und die Datengrundlage für ein
leistungsfähiges Energiesystem schaffen.
Florian Post (SPD): Unsere Aufgabe ist es, die ge-
setzlichen Rahmenbedingungen für eine moderne Ener-
giepolitik zu schaffen. Ein Baustein dieser Rahmenbe-
dingungen, der dieses Vorhaben nicht mehr ausreichend
unterstützt, ist das Energiestatistikgesetz, EnStatG . 2003
in Kraft getreten, bildet das Gesetz die nationale Rechts-
grundlage für die amtliche Energiestatistik, soweit sie
von den jeweiligen statistischen Ämtern der Länder und
des Bundes durchgeführt wird .
Diese Anordnung wurde jedoch vor der Liberali-
sierung der Energiemärkte bestimmt, wodurch nun die
enormen Veränderungen der energiewirtschaftlichen
Rahmenbedingungen nicht mehr angemessen erfasst
werden . Speziell bei der Abbildung der Entwicklungen
auf den Elektrizitäts- und Gasmärkten kommt es deshalb
zu Problemen. So sind hier, nach dem EnStatG, gewisse
statistische Einheiten beispielsweise auskunftspflichtig,
die aufgrund von energiewirtschaftlichen Veränderungen
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620686
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heute nicht mehr existieren oder über die Unternehmen
nicht mehr verfügen .
Gleichzeitig ist das gegenwärtige Energiestatistikge-
setz auch im Kontext der Energiewende veränderungs-
bedürftig . So wurde zwar mit dem Monitoringprozess
„Energie der Zukunft“ ein Werkzeug geschaffen, das
sowohl den Fortschritt bei der Zielerreichung als auch
bei der Umsetzung der Energiewende überprüft . Aller-
dings bilden die Grundlage für diesen Monitoringbericht
eben die Daten der Energiebilanz für Deutschland, wel-
che sich wiederum auf die amtlichen Energiestatistiken,
zusätzlichen Verbandsstatistiken und weitere Informati-
onen stützt .
Wir sind uns, glaube ich, an diesem Punkt einig, dass
eine Novellierung des EnStatG deshalb geboten ist, da es
dem Datenbedarf einer zeitgemäßen Energiepolitik heute
nicht mehr gerecht wird . Der Entwurf, den uns die Bun-
desregierung hierzu vorgelegt hat, ist darum zu begrüßen .
So erfolgt jene Novellierung der gesetzlichen Grundlage
sowohl durch eine Anpassung an die veränderten Markt-
gegebenheiten als auch anhand einer Optimierung des
notwendigen Bedarfs an Daten zur Erfüllung der natio-
nalen und internationalen Berichtspflichten. Die Vorzüge
der Novellierung des EnStatG liegen vor allem im hand-
festen Bürokratieabbau .
Zwar sind unter Beachtung der eingetretenen politi-
schen und wirtschaftlichen Herausforderungen notwen-
dige Ergänzungen vorzunehmen . Im Großen und Ganzen
allerdings können einzelne Berichtspflichten und Erhe-
bungselemente deutlich reduziert werden . Zum einen ge-
lingt dies über die Nutzung von Verwaltungsdaten gemäß
dem novellierten Bundesstatistikgesetz, zum anderen
auch über die angestrebte Nutzung von bereits gewon-
nenen energiestatistikrelevanten Daten . Dieser deutliche
Bürokratieabbau und die daraus resultierende verbesser-
te Energiestatistik erscheinen mir besonders deshalb so
wichtig, da nicht zuletzt die Wirtschaft hiervon profitie-
ren wird . Auf dieser Basis kann das Ziel, ein geeignetes
Gleichgewicht zwischen den Belastungen der Wirtschaft
und der Datenqualitätsverbesserung für Politik und Ge-
sellschaft zu schaffen, mit dem vorliegenden Entwurf
erreicht werden .
Zusammenfassend ist also festzuhalten, dass wir mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung
eine gute Grundlage für die weiteren Beratungen haben,
um das EnStatG als Baustein der energiepolitischen Rah-
menbedingungen in einem angebrachten Maß anzupas-
sen .
Johann Saathoff (SPD): In unserer heutigen De-
batte geht es um Statistiken, genauer gesagt um den
Regierungsentwurf eines Energiestatistikgesetzes . Das
hört sich für die meisten von uns vielleicht zunächst eher
trocken an, aber bei genauerer Betrachtung sind wir uns
sicher alle schnell einig, welch große Bedeutung Statis-
tiken zuteilwird, insbesondere auch im politischen Ent-
scheidungsprozess .
Das bisherige Energiestatistikgesetz ist 2003 in Kraft
getreten . Es regelt, welche Daten auf den nationalen und
internationalen Energiemärkten erhoben werden . Damit
ist das Energiestatistikgesetz die Rechtsgrundlage für die
Arbeit des Statistischen Bundesamtes und der korrespon-
dierenden Landesämter . Bei mir in Ostfriesland würde
man sagen „All wat gaud woord fangt lütschet an“ .
Ganz grundsätzlich geht es bei Statistiken immer da-
rum, eine systematische Verbindung zwischen Erfahrun-
gen und der Theorie herzustellen . Um diese Verbindung
herstellen und vor allem auch die richtigen Schlüsse aus
ihr ziehen zu können, müssen allerdings Datengrundlage
und Theorie auch zusammenpassen . Beim Energiesta-
tistikgesetz ist dieser Grundsatz nun jedoch nicht mehr
erfüllt . Das bisherige Gesetz wird dem aktuellen Daten-
bedarf schlicht nicht mehr gerecht und wird deshalb nun
auch folgerichtig novelliert .
Im Jahr 2003 befand sich die Energiewende noch in
ihren Kinderschuhen . Seitdem hat sich so einiges getan .
Dazu kommen noch weitere energiepolitische Grundsatz-
entscheidungen . Allein in dieser Legislaturperiode hat es
zwei Novellen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes ge-
geben . Dazu haben wir weiter Grundsatzentscheidungen
auf den Weg gebracht, wie das Strommarktgesetz und
das Gesetz zur Digitalisierung der Energiewende, die wir
verabschiedet haben .
Es herrschen damit heute deutlich veränderte Rah-
menbedingungen auf den Energiemärkten . Insbesondere
auf den Elektrizitäts- und Gasmärkten können die aktu-
ellen Entwicklungen anhand der alten Datengrundlage
nicht abgebildet werden . Den beschriebenen Verände-
rungen wird nun im Gesetzentwurf auf unterschiedliche
Weisen begegnet, unter anderem durch die Ausdehnung
bestimmter Erhebungspflichten oder die Erhöhung von
Datenerhebungsintervallen .
Die zusätzlich erhobenen Daten werden dann bei-
spielsweise für den Monitoringbericht nach § 98 EEG
verwendet . In diesem Bericht übermittelt die Bundesre-
gierung dem Bundestag jährlich Informationen über das
Voranschreiten der Energiewende, unter anderem über
den Stand des Ausbaus der erneuerbaren Energien und
den Stand der Direktvermarktung von Strom aus erneuer-
baren Energien . Es geht also um die Erhebung von Daten,
anhand derer überprüft werden kann, inwieweit die Ziele
der Energiewende erreicht werden . Damit dienen die Da-
ten gleichzeitig und unmittelbar auch als Grundlage für
die zukünftigen gesetzgeberischen Entscheidungen .
Es ist heute schon klar, dass in den nächsten Jahren
weitere grundlegende Neuerungen und Entwicklungen
im Energiesektor erfolgen werden . Eines der größten
Projekte ist dabei sicherlich die Sektorkopplung. Wich-
tig für die Novellierung des Energiestatistikgesetzes ist
daher auch, dass wir die notwendige Datengrundlage für
ein aussagekräftiges Monitoring in den Teilbereichen der
Wärme- und Verkehrsstatistik ermöglichen . Dafür wol-
len wir uns im weiteren Verfahren einsetzen .
Damit hilft das Energiestatistikgesetz mit der notwen-
digen Datenerhebung, den Weg der Energiewende so gut
wie möglich zu gestalten . Ich freue mich auf eine kon-
struktive Beratung im Ausschuss .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20687
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Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Mit Zahlen
wird Politik gemacht, auf ihrer Basis werden Entschei-
dungen getroffen. Umso wichtiger ist, dass wir verläss-
liche Zahlen haben, um die große Transformation im
Energiebereich objektiv betrachten und schließlich auch
bewerten zu können. Der Monitoring-Prozess „Energie
der Zukunft“ besteht aus den jährlich erscheinenden
Monitoring-Berichten, alle drei Jahre erscheinenden
Fortschrittsberichten zur Energiewende und aus jeweils
hierzu veröffentlichten Stellungnahmen einer Experten-
kommission, die die Berichte bewertet . Die nationale
Energiestatistik bildet für dieses Monitoring die Daten-
grundlage .
Die heutige Novelle des Energiestatistikgesetzes ist
zwar ein Schritt in die richtige Richtung, weil Energie-
daten als Grundlage für die Beurteilung der Transfor-
mation des Energiemarktes von Bedeutung sind und die
Erhebung der aktuellen Entwicklung angepasst wird .
Energiedaten sollten verlässlich und aktuell erhoben und
veröffentlicht werden. Der Bundesrat hat gefordert, die
Erhebung mit Daten der Mineralölwirtschaft zu ergän-
zen, was wir unterstützen . Zudem schließen wir uns der
Forderung aus der Länderkammer an, die Erhebung von
Energiedaten auf die Bereiche Wärme und Verkehr aus-
zudehnen . Hier müsste zunächst geprüft werden, welche
Daten genau von Belang sind . Die Anforderungen an
eine Energiewirtschaft der Zukunft, im Zuge der Sektor-
kopplung Stromflüsse auch im Wärme- und im Verkehrs-
sektor zu erfassen, ist einleuchtend und geboten, damit
eine bessere Planung und Prognose in diesen übergrei-
fenden Bereichen der Energiewende möglich ist . Die von
der Bundesregierung bevorzugten Schätzmodelle sind
kein adäquater Ersatz .
In die Energiestatistik sollten im Übrigen auch Erhe-
bungen einfließen, die Grundlage für den Netzausbau
sind . Die Linke fordert seit Jahren die Netzbetreiber auf,
die Parameter für ihre Berechnungsmodelle der Bun-
desnetzagentur und der Öffentlichkeit zur Verfügung zu
stellen, damit die Grundlagen der Netzentwicklungsplä-
ne transparent gemacht und überprüfbar werden . Dies ist
eine Blackbox, denn die Übertragungsnetzbetreiber füh-
ren an, dies seien Daten, die dem Betriebsgeheimnis un-
terliegen . Damit sind aber die Berechnungen für den an-
geblich erforderlichen Netzausbau nicht nachvollziehbar
oder plausibel . Diese Datengrundlagen sind aber wichtig,
um Einsparpotenziale beim Netzausbau zu ermitteln . Es
handelt sich hier nicht um Daten, die von privater Sei-
te zurückgehalten werden dürfen, denn das dürfen die
Daten bei der Energieerzeugung schließlich auch nicht .
Hier kann man sich auch nicht auf ein Betriebsgeheimnis
berufen .
Es wäre an der Zeit, dass bei einer Novelle des Ener-
giestatistikgesetzes auch diese Daten für den Netzaus-
bau Berücksichtigung finden. Denn aufgrund fehlender
Transparenz im Bereich Netzausbau unterliegen die
Übertragungsnetzbetreiber dem Verdacht, das Minimie-
rungsgebot bei der Berechnung der Szenarien nicht aus-
reichend einzuhalten . Der Gesetzgeber sollte hier endlich
für die erforderliche Transparenz sorgen .
Des Weiteren braucht es verlässliche Daten zu den
tatsächlichen Kosten der Netzinfrastruktur . Immerhin
handelt es sich bei den Netzentgelten um einen größeren
Posten für die Stromkosten der Verbraucherinnen und
Verbraucher als die immer wieder diskutierte EEG-Um-
lage. Für die Entscheidungen im Politikbetrieb sowie für
die Wahrung der Verbraucherrechte braucht es hier end-
lich Datentransparenz . Zwar sind bestimmte Daten der
knapp 900 Netzbetreiber bereits veröffentlichungspflich-
tig, doch sollten diese auch an zentraler Stelle gesammelt
und aufbereitet werden . Die Kosten der Verteilernetze
und die Entwicklung der Kosten in den vergangenen
Jahren sind nicht wirklich bekannt, obwohl es sich hier
eigentlich um einen regulierten Bereich handelt . Bei der
Transparenz der Netzdaten bzw ., welche regulierungsbe-
zogenen Daten durch die Netzbetreiber und die Regulie-
rungsbehörde zu veröffentlichen sind, könnten wir uns
ein Beispiel an den Niederlanden oder Norwegen neh-
men . Im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher
sollte auch hierzulande endlich Transparenz hergestellt
werden .
Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Novellierung des Energiestatistikgesetzes von 2003
ist richtig . In den letzten 13 Jahren ist energiepolitisch
viel passiert . Höchste Zeit also, die Datengrundlagen zu
erneuern .
Wir brauchen aussagekräftige Statistiken, um zu be-
werten, ob energiepolitische Maßnahmen wirken oder
nicht . Wir müssen messen, ob wir Energie tatsächlich
effizienter produzieren und nutzen sowie ob wir weniger
Treibhausgase verursachen .
Nur, wenn wir darüber im Bilde sind, können wir ver-
lässlich sagen, ob wir auf dem richtigen Weg sind, um
die Klimaziele und die weiteren Ziele der Energiewende
einzuhalten .
Ende des Jahres steht ja auch immer der Monitoring-
bericht der Bundesregierung zur Energiewende an – und
die Evaluation der von ihr beauftragten Expertenkom-
mission . Es ist richtig, dass wir uns in den letzten beiden
Jahren jeweils Zeit im Ausschuss genommen haben, da-
rüber zu beraten .
Denn die Ergebnisse solch eines Monitorings müs-
sen unser Maßstab sein, um zu entscheiden, ob wir die
richtigen politischen Instrumente in der Energie- und
Klimapolitik einsetzen . Diese Woche erst hat der World
Energy Outlook der Internationalen Energieagentur wie-
der gezeigt: Der Weg hin zu einer Begrenzung der Erd-
erwärmung auf 1,5 Grad erfordert eine ambitioniertere
Politik. Wir werden unsere Anstrengungen weltweit er-
heblich verstärken müssen, um die Paris-Ziele einzuhal-
ten .
Bis allerspätestens 2040 müssen wir weltweit weitge-
hend auf Kohle verzichten; da ist es klug, wenn wir in
Deutschland vorangehen .
Die Internationale Energieagentur hält außerdem
eine vollständige Elektrifizierung des Pkw- und leichten
Güterverkehrs sowie eine vollständige Umstellung des
Gebäudebestandes auf Nullemissionshäuser für erforder-
lich . Um möglichst schnell bei der Treibhausgasredukti-
on voranzukommen, müssen wir wissen, wo wir anset-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620688
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zen sollten . Leider ist das oft nicht so klar . Besonders im
Gebäudebereich fehlen uns gut aufbereitete Daten . Man
könnte viel besser planen, wenn man ausreichend Statis-
tiken zum Sanierungstand der Gebäude hätte, wenn man
besser Bescheid wüsste, wie es um Heizanlagen bestellt
ist und welche Anschlussmöglichkeiten es wo für erneu-
erbar betriebene Nahwärmenetze gibt .
Mit Ihrem Gesetzentwurf weiten Sie von der Bundes-
regierung zwar die Statistiken über den Wärmemarkt ein
Stück aus . Aber Sie könnten im Wärme- und Verkehrsbe-
reich durchaus noch mehr tun . Das hat auch der Bundes-
rat in seiner Stellungnahme angemerkt .
Ich finde, wir sollten uns hier im Bundestag noch ein-
mal genau anschauen, ob uns die Vorschläge der Länder
beim Klimaschutz weiterbringen können . Das gilt auch
für die Vorschläge zu den Mineralöldaten . Denn das
ist immer noch der wichtigste Primärenergieträger in
Deutschland . Wenn wir die Dekarbonisierung ernsthaft
angehen wollen, muss der Mineralölverbrauch drastisch
sinken . Dafür müssen wir übrigens auch endlich aufhö-
ren, den Einbau von Ölheizungen durch Steuermittel zu
fördern . Vor allem aber brauchen wir endlich auch eine
Wende im Verkehrssektor .
Wenn die Vorschläge der Länder dazu beitragen kön-
nen, energiepolitische Maßnahmen wirkungsvoller zu
evaluieren und dann besser gestalten zu können, sollten
wir uns dem nicht verschließen .
Anlage 13
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vorberei-
tung eines registergestützten Zensus einschließ-
lich einer Gebäude- und Wohnungszählung 2021
(Zensusvorbereitungsgesetz 2021 – ZensVorbG
2021) (Tagesordnungspunkt 28)
Michael Frieser (CDU/CSU): In der vorweihnacht-
lichen Zeit möchte ich zunächst daran erinnern, dass die
frohe Botschaft damit begann, dass es sich aber zu der
Zeit begab, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus aus-
ging, dass alle Welt geschätzt würde .
Die letzte Zählung, nicht der Welt, aber unseres Lan-
des, fand in Form eines registergestützten Modells im
Jahr 2011 statt . Nicht auf Geheiß des Kaisers, sondern
nach EU-Vorgaben ist die Durchführung von Volks-, Ge-
bäude- und Wohnungszählungen alle zehn Jahre vorge-
sehen .
Denn unsere Demokratie ist auf korrekte Daten ange-
wiesen, damit wir die richtigen Entscheidungen treffen
können. Politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche
Entscheidungen, Planungen und Investitionen sind ohne
verlässliche Daten zur Bevölkerung, zur Erwerbstätigkeit
und zur Wohnsituation nicht möglich. Als Demografie-
beauftragter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion interes-
sieren mich besonders die Auswirkungen des demogra-
fischen Wandels auf unsere Bevölkerungsstruktur. Aus
den Daten ergeben sich Antworten auf Fragen wie: „Wie
viele Altersheime und Kindergärten brauchen wir?“,
„Wo besteht Wohnungsmangel?“ oder „Wo müssen wir
die Infrastruktur anpassen?“ . Im Hinblick auf die bevor-
stehenden Wahlen ist es wichtig, regelmäßig zu prüfen,
ob die Bundestagswahlkreise noch die vorgeschriebene
Größe haben .
Die Datenerhebung soll wie bereits beim Zensus 2011
durch ein registergestütztes Verfahren erfolgen . Wie vom
Bundesverfassungsgericht gefordert, ist diese Methode
im Vergleich zur traditionellen Vollerhebung kostengüns-
tiger und für die Bevölkerung belastungsärmer . Das Ver-
fahren für 2021 konnte durch die Ergebnisse von intensi-
ven Evaluierungen des letzten Zensus optimiert werden .
Es zeigte sich, dass Verwaltungsregister eine geeignete
Grundlage für die Durchführung eines Zensus darstellen,
jedoch einer gezielten Bereinigung und einer Ergänzung
um nicht vorhandene Angaben bedürfen .
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden die
rechtlichen Voraussetzungen für die notwendigen und
umfangreichen Zensusvorbereitungen geschaffen. Eine
vollständige Erfassung der Bevölkerung setzt die Er-
mittlung aller existierenden Gebäude mit Wohnraum ein-
schließlich aller bewohnten Unterkünfte voraus . Da für
die Gebäude- und Wohnungszählung keine geeigneten
Verwaltungsdaten zur Verfügung stehen, ist die Durch-
führung einer direkten Befragung der Auskunftspflich-
tigen notwendig . Um eine gute Qualität der Daten zu
gewährleisten, ist zum Beispiel der frühzeitige Aufbau
eines anschriftenbezogenen Registers notwendig, das die
verschiedenen Teile der Erhebung steuert .
Der Gesetzentwurf legt auch die im Register zu spei-
chernden Inhalte fest und regelt die erforderlichen Daten-
übermittlungen durch die relevanten Verwaltungsstellen .
Des Weiteren regelt das Gesetz die Verantwortlichkeit des
Statistischen Bundesamtes für die IT-Entwicklung und
die IT-Infrastruktur in Zusammenarbeit mit dem Infor-
mationstechnikzentrum Bund . Auch wenn der Bundesrat
sich für eine dezentrale IT-Aufgabenwahrnehmung ein-
gesetzt hat, ist die Beibehaltung einer zentralen IT-Struk-
tur aus Datenschutz-, Effizienz- und Kostengründen
vorzuziehen . Weitere Vorschläge des Bundesrates zur
Vereinfachung des Verfahrens wurden aufgegriffen.
Der Bundesrat unterstützt grundsätzlich das Ziel des
Gesetzentwurfes, die Grundlagen der Volkszählung 2021
als gemeinsames Bund-Länder-Großprojekt zu schaffen.
Damit die umfangreichen organisatorischen und tech-
nischen Vorbereitungen des Zensus 2021 rechtzeitig be-
ginnen können, ist der vorliegenden Gesetzentwurf un-
erlässlich .
Dr. Tim Ostermann (CDU/CSU): Heute beschäfti-
gen wir uns in erster Lesung mit dem Gesetz zur Vor-
bereitung des nächsten Zensus in 2021 . Auch für dieses
Gesetz gilt, was ich in zurückliegenden Plenardebatten
bereits mehrfach ausgeführt habe: Die Vorhaltung von
Statistiken ist für einen modernen Staat unverzichtbar .
Nur auf der Grundlage von guten Statistiken lässt sich
gute Politik machen, die sowohl die gesellschaftlichen
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20689
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Entwicklungen als auch die Lebensumstände der Men-
schen adäquat berücksichtigt .
Für den Zensus kommt noch eine finanzielle Dimen-
sion hinzu, denn dieser überprüft die tatsächliche Anzahl
an Bürgern in den Kommunen zu einem bestimmten
Stichtag . Hier geht es nämlich nicht nur um die Frage,
wie sich die Mobilität der Bürger auf die Struktur unse-
res Staates auswirkt . Für die Kommunen entscheidet die
Zahl der dort lebenden Bürger über die Höhe der Finanz-
zuweisungen, die sie etwa von den Ländern erhalten .
Man sieht: Beim Zensus geht es auch ums Geld .
Die Bundesregierung will nun mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf die Durchführung des nächsten Zensus in
2021 vorbereiten. Aus meiner Sicht finden sich in dem
Entwurf eine Reihe von vernünftigen Ansätzen, um die
Durchführung effizienter und effektiver zu gestalten.
So soll bei diesem Zensus der Betrieb der IT beim
Statistischen Bundesamt gebündelt werden, um aufge-
tretenen Synergieverlusten bei der vormals erforderli-
chen Koordinierung zwischen mehreren Rechenzentren
entgegenzutreten . Weiterhin soll auf die Abfrage von
Daten der Bundesagentur für Arbeit verzichtet werden,
denn hier hat der Nutzen die entstandenen Kosten nicht
rechtfertigen können. Daneben finden sich noch weite-
re Änderungen und Vorbereitungen technischer Art, die
ich an dieser Stelle nicht im Detail wiedergeben möchte .
Gegebenenfalls werden wir uns nun im weiteren Gesetz-
gebungsverfahren und in der Beratung im Ausschuss mit
weiteren Einzelheiten beschäftigen . Insgesamt meine ich
jedoch, dass die Bundesregierung hier einen ordentlichen
Gesetzentwurf zur Vorbereitung des nächsten Zensus
vorgelegt hat .
Trotzdem möchte ich mir an dieser Stelle den Hinweis
erlauben, dass man aus meiner Sicht einmal grundsätz-
lich über die Konzeption des Zensus nachdenken sollte .
Damit möchte ich auch einen Vorschlag des Normenkon-
trollrates aufgreifen, der sich in der Stellungnahme zum
Gesetzentwurf findet. Wir müssen unbedingt über die
Einrichtung eines bundesweiten Zentralregisters nach-
denken . Es kann nicht der Anspruch einer modernen und
auf digitale Weiterentwicklung bedachten Verwaltung
sein, die Melderegister der einzelnen Kommunen zu-
sammenzuziehen und anschließend mit Stichproben und
statistischen Anpassungen zu bereinigen . Angesichts der
technischen Möglichkeiten, die uns heute zur Verfügung
stehen, steht der dabei zu betreibende Aufwand außer
Verhältnis .
Wenn man dies darüber hinaus mit einer entsprechen-
den Erfassung von Wohnungs- und Gebäudeinforma-
tionen kombiniert, dann würden wir nicht nur ein sehr
aktuelles und ständig bereinigtes Register der Bürger in
Deutschland erhalten . Ich bin mir sicher: Die Nutzungs-
möglichkeiten von solchen statistischen Daten würden
sehr schnell die Kosten einer Umstellung wettmachen .
Dass dies funktionieren kann, haben uns wieder ein-
mal Österreich und die Schweiz vorgemacht . Dort wur-
den solche Nationalregister mit relativ wenig Aufwand
und mit hohen Datenschutzstandards versehen umge-
setzt . Ich meine, dass auch wir uns in Deutschland einen
solchen Schritt überlegen sollten . Ansonsten werden wir
auch 2021 einen Zensus erleben, bei dem eine Vielzahl
an einzelnen Datensätzen aus allen Kommunen Deutsch-
lands mit aufwendigen Überprüfungen und Stichproben
für die Statistik nutzbar gemacht werden müssen .
Nun wünsche ich uns jedoch erst einmal eine kon-
struktive Befassung mit dem vorliegenden Gesetzent-
wurf .
Matthias Schmidt (Berlin) (SPD): Fragt man heute
junge Leute, ob sie schon mal etwas von einem „Zensus“
gehört haben, erntet man mitunter fragende Blicke . Im
Zeitalter der Digitalisierung erscheint der Begriff ei-
nes „registergestützten Zensus“ unmodern und staubig .
Doch dieser Eindruck ist nicht richtig . Das Statistische
Bundesamt bedient sich lange erprobter und weiterent-
wickelter moderner Verfahren, und das möchte ich heute
darstellen . Worüber sprechen wir heute?
Wir sprechen über eine Erhebung, die in Deutsch-
land gemeinhin unter dem Begriff der „Volkszählung“
bekannt ist . 2011 fand diese Volkszählung unter dem
Namen „Zensus 2011“ erstmals gemeinsam in allen
EU-Mitgliedstaaten statt . Stichtag war der Europatag
am 9 . Mai 2011 . Deutschland war hierzu europarechtlich
verpflichtet. Vorausgegangen war diesem „Zensus 2011“
ein Vorbereitungsgesetz, ähnlich, wie es uns heute vor-
liegt. Was hier geregelt wird, betrifft vor allen Dingen das
methodische und zeitliche Verfahren .
Wichtig ist, dass das Verfahren, anders als die ganz
frühen Volkszählungen „registergestützt“ stattfindet. Das
heißt, die Menschen werden nicht mehr nur an der Haus-
tür befragt, sondern es wird auf bereits vorhandene Daten
zurückgegriffen. Die befinden sich in Registern verschie-
dener Behörden, so zum Beispiel der Meldeämter . Das
belastet die Bürgerinnen und Bürger in einem weitaus ge-
ringeren Umfang . Direkte Haushaltsbefragungen werden
nur noch stichprobenartig und ergänzend vorgenommen .
So war es 2011, und so soll auch 2021 verfahren werden .
Der Zensus gliedert sich grob gesprochen in eine Volks-,
Gebäude- und Wohnungszählung . Bei der Gebäude- und
Wohnungszählung kann dabei jedoch nicht auf Verwal-
tungsdaten zurückgegriffen werden, womit hier direkte
Befragungen wie auch 2011 notwendig sein werden . Ge-
genüber 2011 soll es 2021 jedoch einige Verfahrensver-
besserungen geben, die wir heute in erster Lesung mit
dem vorliegenden Vorbereitungsgesetz anberaten .
„So früh?“, mag man sich da fragen . Doch dafür gibt
es gewichtige Gründe:
Einen Zensus vorzubereiten, nimmt viel Zeit in An-
spruch . Es müssen die technischen und organisatorischen
Vorbereitungen getroffen werden, um einen reibungs-
losen Ablauf zu sichern . Die methodische Vorbereitung
und die Koordination liegen dabei nun in den Händen
des Statistischen Bundesamtes, wo bereits jetzt die Vor-
bereitungen für den Zensus 2021 laufen . Insbesondere
der IT-Betrieb und die IT-Entwicklung liegen im Verant-
wortungsbereich der dort vorhandenen Experten .
Um ein gutes Ergebnis beim Zensus zu erreichen,
muss die gesamte Bevölkerung erfasst sein. Ein flächen-
deckendes Verzeichnis von Wohnräumen ist jedoch bis-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620690
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lang nicht vorhanden . Das Anschriftenregister nach dem
Bundesstatistikgesetz kann eine Datengrundlage für die
Vorbereitung und Durchführung des Zensus 2021 bilden .
Doch das reicht nicht . Die hier vorhandenen Angaben sind
weder aktuell noch vollzählig . Daher muss zur Vorberei-
tung des Zensus ein neuer, aktueller und vollständiger
Anschriftenbestand aus weiteren Quellen zusammenge-
tragen und aufgebaut werden . Hier soll ein Steuerungs-
register ins Leben gerufen werden, das vom Statistischen
Bundesamt erstellt und geführt wird . Die Länder werden
bei dem Aufbau und der Pflege des Registers beteiligt.
So müssen die Meldebehörden der Länder unter anderem
die Daten des Melderegisters an das Hauptregister beim
Statistischen Bundesamt liefern . Dieses Steuerungsre-
gister besteht aus mehreren Teilen . Zum einen aus den
Anschriften aller einzubeziehender Gebäude mit Wohn-
raum und aller bewohnten Unterkünfte . Hierzu gehören
auch geografische Koordinaten und sogenannte „geo-
referenzierte Adressdaten“, die eine kleinräumige Aus-
wertung der Daten möglich machen . Die Daten hierfür
liefern Vermessungsbehörden, wie das Bundesamt für
Kartografie und Geodäsie. Hinzu kommen Steuerungs-
und Klassifizierungsmerkmale, worunter unter anderem
Stichprobenkennzeichen, gebäude- und wohnungsbezo-
gen Angaben sowie Sonderbereichskennzeichen zählen .
Zu den Sonderbereichen gehören zum Beispiel Justiz-
vollzugsanstalten . Hier kommen besondere Verfahren
zum Zuge, da sie sich von „normalen“ Wohngebäuden
unterscheiden . So kann nachvollzogen werden, dass in
Justizvollzugsanstalten die Fluktuation der Menschen,
die hier vorübergehend wohnen, hoch ist . Daher werden
die Erhebungen hier über die Einrichtungsleitungen voll-
zogen .
Die statistischen Landesämter und das Statistische
Bundesamt arbeiten bei der Erstellung des Zentralregis-
ters somit eng zusammen, wobei die Hoheit des Verfah-
rens beim Statistischen Bundesamt konzentriert ist . Das
betrifft den IT-Betrieb und IT-Entwicklung und auch die
Datenverwaltung für das Steuerungsregister . Damit ver-
bunden ist Konfliktstoff, zu dem sich die Länder und der
Normenkontrollrat auch bereits geäußert haben .
Es herrscht zu dem heute vorliegenden Gesetzesvor-
haben somit noch Bedarf zu eingehender Beratung . Die-
se Zeit wollen wir uns nehmen und werden den Gesetz-
entwurf, wie es üblich ist, in verschiedene Ausschüsse
überweisen . Hier werden wir uns mit der Kritik der Län-
der und den Anregungen des Normenkontrollrats ausei-
nandersetzen . Ich freue mich auf die Beratung mit Ihnen
zu diesem wichtigen Thema .
Jan Korte (DIE LINKE): Heute behandeln wir mit
dem Zensusvorbereitungsgesetz 2021 ein Gesetzesvor-
haben der Bundesregierung von einiger Tragweite . Denn
etwa 10 Prozent aller in Deutschland ansässigen Perso-
nen sollen im Rahmen des Zensus 2021 zur Beantwor-
tung umfangreicher Fragebögen gezwungen werden .
Bei Nichtbefolgung werden die Behörden, wie beim
letzten Zensus 2011, mit Buß- und Zwangsgeldern von
300 bis zu 5000 Euro drohen . Darüber hinaus werden
zahlreiche sensible persönliche Daten aus diversen an-
deren Datensammlungen ohne die Einwilligung oder Be-
nachrichtigung der Betroffenen zusammengeführt.
Auch für 2021 – und dann alle zehn Jahre erneut –
schreibt die EU-Richtlinie 763/2008 vor, umfassende
Daten über die Bevölkerung und Wohnsituation vorzule-
gen . Es war noch die vorangegangene Große Koalition,
die mit ihrem Zensusgesetz 2009 allerdings weit über
diese europäische Vorgabe hinausging und ähnlich wie
beim Vorratsdatenspeicherungsgesetz die Gelegenheit
nutzte, um möglichst viele Daten der Bürgerinnen und
Bürger zu sammeln und zu speichern .
Die beiden Säulen des Zensus – Registerzusammen-
führung und „Stichproben“-Erhebung von immerhin
10 Prozent der Bevölkerung – bilden mit den Daten
der 18 Millionen Wohnungs- und Hauseigentümer und
der Erfassung der Bewohner sensibler Sonderbereiche
(Justizvollzugsanstalten, psychiatrische Einrichtungen,
Krankenhäuser, Behindertenwohnheime und Notunter-
künfte für Wohnungslose, aber auch Kasernen und Stu-
dentenwohnheime) die Informations- oder Datenbasis
des Projekts, die zentral gespeichert wird.
Schon beim letzten Zensus vor fünf Jahren kritisierte
meine Fraktion eine derart teure und aufwendige Volks-
zählung, die angesichts ausreichender Daten bei den
Meldeämtern heutzutage nicht nötig ist . Immerhin kalku-
lieren Sie diesmal bereits zu Beginn mit circa 331,7 Mil-
lionen Euro . Beim letzten Mal gingen Sie im Gesetz-
entwurf zum ZensVorbG 2011 vom 30 . Mai 2007 mit
176 Millionen Euro nur von knapp der Hälfte aus . Am
Ende kostete der Zensus 2011 nach Ihren Angaben dann
allerdings insgesamt 667,4 Millionen Euro . Entweder
sind Sie jetzt ein wenig vorsichtiger mit Ihren Prognosen
geworden, oder wir müssen, wenn man den „normalen“
Fehlerquotienten Ihrer Berechnungen zugrunde legt, mit
Gesamtkosten von 1,26 Milliarden Euro rechnen .
Das erscheint mir dann doch selbst für Ihre Verhältnis-
se und angesichts der Einsparungen in vielen wichtigen
Bereichen sowie des völlig zweifelhaften Nutzens der
Volkszählung reichlich übertrieben und verantwortungs-
los zu sein. Denn dass die Planungssicherheit, mit der
Sie ja argumentieren, nach dem Zensus mitnichten so gut
sein wird wie angenommen, zeigen doch in aller Deut-
lichkeit die zahlreichen anhängigen Verfassungsklagen
von rund 350 Kommunen sowie den Ländern Berlin und
Hamburg aufgrund gravierender Mängel beim damals
zugrundeliegenden Anschriftenregister und der verwen-
deten Software . Die noch immer vor dem Bundesverfas-
sungsgericht anhängigen Klagen sind übrigens „schuld“
daran, dass die Löschung fast aller, hochsensibler und
personenbezogener Datensätze aus dem Zensus 2011
noch immer nicht erfolgt ist, obwohl sie laut ZensG 2011
eigentlich schon vor Jahren hätte erfolgen müssen .
Vielleicht haben Sie ja wie ich den sehr aufschlussrei-
chen Artikel „Wo die Karteileichen wohnen” auf Spie-
gel Online vom 11 . Oktober 2016 lesen können . Wenn
nicht, empfehle ich Ihnen das ganz dringend . Denn die
Recherchen der Journalisten ergeben nicht nur ein ziem-
lich gutes Bild von etlichen der Probleme und Mängel
des letzten Zensus; sie zeigen auch, dass die aufgetre-
tenen Verzerrungen kein Einzelfall waren, sondern quer
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20691
(A) (C)
(B) (D)
durch die Republik auftraten und so stark waren, dass die
Zensusergebnisse nicht taugten, um auf ihrer Basis bis
zum nächsten Zensus 2021 jährlich die Bevölkerungs-
zahlen fortzuschreiben . Inzwischen habe deshalb das Sta-
tistische Bundesamt unter anderem die Altersverteilung
des Zensus komplett neuberechnet . Um ein ausgewoge-
nes Geschlechterverhältnis hinzubekommen, benutzte es
dazu die Zahlen aus den kommunalen Melderegistern .
Es korrigierte den Zensus also mit genau den Daten, die
angeblich so schlecht sind, dass sie eigentlich durch den
Zensus korrigiert werden mussten . Das versteht doch
kein Mensch .
Ich finde es jedenfalls schon ziemlich erstaunlich, dass
Sie nun meinen, ein tragfähiges und sicheres Konzept für
den Zensus 2021 zu haben, obwohl es bis heute keine
Evaluation des Zensus 2011 gegeben hat . Leider be-
schleicht mich der Verdacht, dass hier wieder einmal et-
was eiligst durchgezogen werden soll, ohne ausreichend
durchdacht worden zu sein .
Diese und etliche andere der genannten Fragen wollen
wir im nun folgenden Gesetzgebungsverfahren geklärt
wissen .
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Das Wissen darüber, wohin sich unsere Gesell-
schaft entwickelt, auf solide empirische Daten zu stützen,
ist ein Grundpfeiler eines rational agierenden demokrati-
schen Staatswesens . Wir haben es nun alle drei Monate,
zuletzt im Verfahren um den Mikrozensus, vorgetragen:
Gegen die Arbeit der Statistikbehörden ist im Ansatz
nichts einzuwenden . Ihre Arbeit ist vielmehr bedeutsam,
grundlegend und verdienstvoll für die Unterstützung al-
ler an Entscheidungsprozessen beteiligten öffentlichen
Stellen . Auch der Bundestag verlässt sich auf dieses Wis-
sen, um rationale gesetzgeberische Entscheidungen zu
treffen.
Worüber wir aber in einer konstruktiven Auseinander-
setzung bleiben sollten, dazu halten uns das Grundgesetz
und seine umfänglichen Vorgaben zum Schutz der Privat-
heit der Bürgerinnen und Bürger an, das sind die Mittel
und Wege, mit denen wir an die Informationen und Daten
herankommen .
Unsere Bedenken wegen des Kontextes der ständigen
Ausweitung des Mikrozensus hatten wir bereits mehr-
fach zum Ausdruck gebracht . Dieser wurde allerdings
stets auch damit legitimiert, dass er die häufige Wieder-
kehr großer Volkszählungen womöglich ersparen kön-
ne . Das ist ersichtlich nicht mehr der Fall . Nach dem
Zensus 2011 arbeiten wir nun bereits am Zensus 2021,
ein Rhythmus von zehn Jahren scheint Usus zu werden .
Gerade die Debatte um den Zensus 2011 hat gezeigt:
Nicht mehr das Ob-überhaupt, wie zu Zeiten der Volks-
zählung, sondern Umfang und Details der Ausführung
führen zu Kontroversen . Das ist weiterhin alles andere
als selbstverständlich, wenn die gesamte Bevölkerung
durch staatliche Stellen flächendeckend erfasst und ka-
talogisiert wird . Es kann auch in Zukunft nur funktio-
nieren, wenn das amtliche Statistikwesen weiterhin ein
so hohes Vertrauen in der Bevölkerung genießt wie das
unsrige .
Interessanterweise waren es dann letztlich nicht Da-
tenschutzfragen, sondern die politische Auseinanderset-
zung über die Auszählungsergebnisse kommunaler Ein-
wohnerzahlen, die zum großen Streit führte . Angelastet
wird dieser damalige, freilich auch fiskalischen Interes-
sen geschuldete Konflikt der komplexen Zusammenar-
beit zwischen Landesstatistikbehörden und Bund .
Die Bundesregierung reagiert nun mit einer wesent-
lichen Zentralisierung der IT-Verfahren beim Bund .
Zentrale Datenhaltungen sollen die bisherigen Koordi-
nierungsprobleme von vornherein ausschließen . Dieser
Schritt scheint die neue Linie der Bundesregierung zu
sein, die sich auch in der geplanten Grundgesetzände-
rung zur Absicherung eines Datenportals des Bundes und
der Länder abzeichnet .
Ob es sich hier um einen sachgerechten Schritt in der
Weiterentwicklung des E-Government handelt, können
wir hier nur andiskutieren . Um es gleich vorneweg zu
sagen: Es lassen sich gute Argumente sowohl für die eine
als auch die andere Seite finden. Uns ist es wichtig, zu
betonen, dass über die Fragen der verfassungsmäßigen
Aufteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Län-
dern hinaus auch in der Verfassungsrechtsprechung ge-
wichtige Gründe gegen zentralisierte Datenbestände zu
finden sind, wenn diese personenbeziehbare Daten bein-
halten .
Dazu etwa hat das Bundesverfassungsgericht der da-
maligen Bundesregierung im Vorratsdatenspeicherungs-
urteil ins Stammbuch geschrieben, dass lediglich die
dezentrale Vorhaltung der gehorteten Vorratsdaten bei
den privaten Betreibern verhindere, dass das zugrunde
liegende Gesetz bereits an mangelnder Datensicherheit
scheitere . Zu groß sind die Risiken des Gehacktwerdens
im Zeitalter des ständigen, online längst tobenden digi-
talen Krieges, welches wir wohl bereits betreten haben .
Aus den Anfängen der Datenschutzbewegung kennen wir
den von Professor Simitis geprägten Begriff der informa-
tionellen Gewaltenteilung, der auch aus grundlegenden
überindividuellen Risikoerwägungen unter anderem de-
mokratiepolitischer Art von zentralen Datenbeständen
abgeraten hat .
Andererseits kennen wir die Argumente der Befür-
worter zentraler Datenhaltungen, wonach die Sicherung
hoher Datensicherheitsstandards oftmals in zentralisier-
ten Umfeldern besser, weil einheitlicher und effizienter
gewährleistet werden kann . Zudem drohten im Kontext
von Projekten, bei denen es gerade auf die ständige Über-
mittlung großer Datenmengen ankommt, Risiken des
Missbrauchs auf der Strecke, also bei der Übermittlung .
Der Deutsche Bundestag muss zu all diesen Fragen noch
zwingend ein angemessenes geeignetes Verfahren der
sachverständigen Befassung finden.
Wir begrüßen, dass einige der von den Ländern mit
Blick auf die Datenqualität angeregten Erweiterungen
der Datenerhebungen, insbesondere beim Merkmalsum-
fang auf Klarnamen und deren Speicherung für mehrere
Jahre, als auch die Anregungen zum Verstoß gegen das
sogenannte Rückspieleverbot, wenn auch aus teils ande-
ren Motiven als den unsrigen, von der Bundesregierung
zurückgewiesen werden .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620692
(A) (C)
(B) (D)
Darüber hinausgehend zweifeln wir an der Notwen-
digkeit der vorgesehenen Begehungen im Rahmen der
Gebäuderegisterstatistik und halten diese im Übrigen für
ebenso verfahrensfremd wie andere mit dieser Begrün-
dung von der Bundesregierung abgelehnte Vorschläge .
Zusammenfassend mahnen wir die Große Koalition
an dieser Stelle noch einmal zur zwingend gebotenen
Sorgfalt. Als Parlament werden wir uns sehr eingehend
mit diesem und anderen anstehenden IT-Großvorhaben
beschäftigen müssen . Das regen wir hiermit noch einmal
an . Die Erfahrungen bei beinahe allen IT-Vorhaben, die
unter den letzten Regierungen auf die Schiene gesetzt
wurden, sollten uns mahnen, diesmal mehr Sorgfalt an
den Tag zu legen, damit die Verhältnismäßigkeit ge-
wahrt, höchste Sicherheitsstandards implementiert und
Vertrauen als Grundvoraussetzung entstehen kann . Das
würde ich mir wünschen, und das sollte unser aller – ge-
meinsames – Ziel sein .
Anlage 14
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Än-
derung des Sprengstoffgesetzes (Tagesordnungs-
punkt 29)
Oswin Veith (CDU/CSU): Zu dieser späten Stunde
sprengen wir mal die Debatte mit dem Fünften Gesetz
zur Änderung des Sprengstoffgesetzes in Deutschland.
Insbesondere in den Tagen um Silvester spielt das heute
besprochene Gesetz in der Praxis eine große Rolle.
Denn wer, wann und wo Feuerwerkskörper oder – um-
gangssprachlich Silvesterböller – verkaufen darf und wie
diese Feuerwerkskörper beschaffen sein müssen, regeln
das Sprengstoffgesetz und die dazugehörige Verordnung.
Diese Regelungen sind sinnvoll und wichtig, denn sie
tragen zur Sicherheit der Anwender bei .
Bei Feuerwerkskörpern handelt es sich dem Gesetz
nach um pyrotechnische Gegenstände und Stoffe. Dass
von diesen erhebliche Gefahren ausgehen können, sehen
wir jedes Jahr wieder, wenn die Notaufnahmen zahlrei-
che Verletzungen aufgrund unsachgemäßen Umgangs
mit Silvesterböllern zu verzeichnen haben . Als langjäh-
riger Krankenhausdezernent meines Wahlkreises kenne
ich die vollen Notaufnahmen aus unseren fünf Kliniken
von meinen jährlichen Neujahrsbesuchen nur zu gut .
Bundesweite Statistiken über Böllerverletzungen an Sil-
vester gibt es leider nicht . Aber eine durchschnittliche
Silvesternacht in einem Großstadt-Krankenhaus kann
man sich ungefähr so vorstellen: 60 Verletzungen, bei
denen es sich um abgetrennte Finger oder Fingerglieder
handelt, und fünf bis zehn schwere Verletzungen, wie
zum Beispiel eine zerstörte Hand . Die Silvesternacht ist
die Hochsaison für Handchirurgen .
Dabei birgt nicht nur der unsachgemäße Umgang mit
so genannten China-Böllern, an denen vor allem Jugend-
liche in der Silvesternacht ihre Freude haben, Gefahren .
Regelmäßig kommt es auch zu Verbrennungen und Ver-
letzungen, weil illegale oder selbstgebaute Silvesterböl-
ler abgebrannt werden . Bei illegalen Feuerwerkskörpern
handelt es sich in der Regel um Feuerwerkskörper, die
mehr Sprengstoff enthalten, als erlaubt ist oder in de-
nen Blitzknallsprengstoff verwendet wurde, der stärker
reagiert und in Deutschland verboten ist . Ein weiteres
Problem ergibt sich, wenn die Zusammensetzung des
Sprengstoffes nicht offiziell überprüft wurde.
Automatisch denkt jeder beim Thema illegale Feuer-
werkskörper an Pyrotechnik aus Osteuropa – aber auch
die Feuerwerkskörper aus der Schweiz, Österreich oder
Italien haben eine erhebliche Sprengwirkung und sind
bei uns ohne Zertifizierung nicht genehmigt.
In vielen europäischen Ländern ist die Einfuhr von il-
legalen Feuerwerkskörpern ein Problem. Der Schmuggel
von Silvesterböllern greift jedes Jahr kurz vor dem Jah-
reswechsel um sich, und alle Länder sind betroffen.
Um den Schutz vor illegalen Feuerwerkskörpern zu er-
höhen und auch den legalen Verkauf von Feuerwerkskör-
pern sicherer zu gestalten, müssen wir das Sprengstoff-
gesetz an europarechtliche Vorgaben anpassen . Natürlich
ist das Schutzniveau in Deutschland, wenn es um Explo-
sionsstoffe und alle damit in Verbindung stehenden ande-
ren Stoffe geht, bereits jetzt sehr hoch. Dennoch müssen
wir unsere Gesetze regelmäßig anpassen, um das Schutz-
niveau zu halten .
Kern des vorliegenden Gesetzentwurfes ist eine Neu-
fassung des Sprengstoffrechts. Wie auch schon in den vor-
herigen Gesetzesänderungen passen wir unser nationales
Recht an neuere europäische gesetzliche Vorgaben den
EU-Richtlinien an . Nachdem die Richtlinie 2007/23/ EG
über das Inverkehrbringen pyrotechnischer Gegenstände
durch die Richtlinie 2013/29/EU zur Harmonisierung
der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die
Bereitstellung pyrotechnischer Gegenstände abgelöst
worden ist, müssen wir nun die Bestimmungen unseres
nationalen Rechts zur Konformitätsbewertung sowie zur
Marktüberwachung neu fassen und konkretisieren . Zur
unionsrechtlichen Harmonisierung der Bestimmungen
im Bereich des Sprengstoffrechtes zählt dabei unter an-
derem auch die Errichtung eines Systems zur Rückver-
folgbarkeit von pyrotechnischen Gegenständen .
Weiterhin setzen wir die Durchführungsrichtli-
nie 2014/58/EU über die Errichtung eines Systems zur
Rückverfolgbarkeit von pyrotechnischen Gegenständen
um . Im Zuge dessen führen wir eine Registrierungs-
nummer für pyrotechnische Gegenstände ein . Mit der
Registrierungsnummer wird sichergestellt und für jeden
kenntlich gemacht, dass der pyrotechnische Gegenstand
überprüft wurde . Er gilt damit und bei korrekter Anwen-
dung als unbedenklich .
Für Hersteller, deren Bevollmächtigte, Importeure
und Händler, ordnen wir bislang bestehende Pflichten im
Rahmen der Produktverantwortung eindeutig zu. Vorteil
dieser eindeutigen Zuordnung ist ein höheres Maß an
Rechtssicherheit, denn jeder Akteur kann jetzt detailliert
an einer Stelle erkennen, welche Pflichten er im Zusam-
menhang mit der Bereitstellung von Explosionsstoffen
und pyrotechnischen Gegenständen am Markt hat .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20693
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Diese Maßnahmen führen zu einem verbesserten Ver-
braucherschutz innerhalb Europas und Deutschlands .
Neben den Anpassungen im Sprengstoffgesetz be-
reinigen wir die dazugehörige Erste Verordnung zum
Sprengstoffgesetz. Über Jahrzehnte hinweg haben sich
Regelungen zu Freistellungen von gesetzlichen Anfor-
derungen oder zusätzlichen Bestimmungen zum Um-
gang mit explosionsgefährlichen Stoffen entwickelt und
bewährt . Waren diese Regelungen bislang in der Ersten
Verordnung zum Sprengstoffgesetz geregelt, führen wir
diese nun ins Sprengstoffgesetz über.
Mit all diesen Neuerungen vollziehen wir einen wei-
teren Schritt zu einem immer stärker europarechtlich
beeinflussten Sprengstoffgesetz. Da der europäischen
Markt in Bezug auf Feuerwerkskörper stark verwoben
ist, ist dies auch richtig und wichtig .
Ich werbe daher auch wegen des zu erwartenden Si-
cherheitsgewinns für eine breite Zustimmung zum Ge-
setzentwurf .
Gabriele Fograscher (SPD): Das Gesetz über ex-
plosionsgefährliche Stoffe, kurz Sprengstoffgesetz, re-
gelt den Umgang, den Verkehr und die Einfuhr von und
mit explosionsgefährlichen Stoffen.
Im Jahr 2009 haben wir mit dem Vierten Gesetz zur
Änderung des Sprengstoffgesetzes umfangreiche Ände-
rungen am Sprengstoffrecht vorgenommen. Das Gesetz
diente damals dazu, die Richtlinie 2007/23/EG des Eu-
ropäischen Parlaments und des Rates vom Mai 2007
über das Inverkehrbringen pyrotechnischer Gegenstän-
de und die Richtlinie 2008/43/EG der Kommission vom
April 2008 zur Kennzeichnung und Nachverfolgung von
Explosivstoffen für zivile Zwecke gemäß der Richtli-
nie 93/15/EWG umzusetzen .
Inzwischen liegt die Richtlinie 2013/29/EU des Eu-
ropäischen Parlaments und des Rates vom Juni 2013 zur
Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitglied-
staaten über die Bereitstellung pyrotechnischer Gegen-
stände auf dem Markt vor . Diese löst die Richtlinie von
2007 ab .
Ebenso ersetzt die neue Richtlinie 2014/28/EU die
Richtlinie 93/15/EWG . Diese regelt die Harmonisierung
der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Be-
reitstellung auf dem Markt und Kontrolle von Explosiv-
stoffen für zivile Zwecke neu.
Die Umsetzung der beiden neuen Richtlinien vollzie-
hen wir mit diesem Gesetz .
Zusätzlich wird die Durchführungsrichtlinie 2014/58/
EU vom April 2014 über die Errichtung eines Systems
zur Rückverfolgbarkeit von pyrotechnischen Gegenstän-
den in das Gesetz integriert . Mit der Durchführungsricht-
linie werden eine Registrierungsnummer für pyrotechni-
sche Gegenstände und das Führen eines Verzeichnisses
durch den Hersteller eingeführt . Damit kann künftig je-
der Wirtschaftsakteur genau erkennen, welche Pflichten
er bei der Bereitstellung von Explosivstoffen und pyro-
technischen Gegenständen im Binnenmarkt hat .
Zusätzlich werden weitere Anpassungen vorgenom-
men, so zum Beispiel die Aktualisierung der Rechts-
grundlage für die Arbeit von im Rahmen der Konformi-
tätsbewertungen tätigen benannten Stellen .
Zudem werden viele Regelungen, die in der ers-
ten Sprengstoffverordnung getroffen wurden, in das
Sprengstoffgesetz überführt.
Diese Maßnahmen sind zum einen zwingend umzu-
setzen. Hinzu kommt, dass das Sprengstoffrecht immer
mehr durch europäische Regelungen beeinflusst wird
und eine Neuordnung der Vorschriften sinnvoll erscheint .
In der Polizeilichen Kriminalstatistik werden Strafta-
ten gegen das Sprengstoffgesetz aufgeführt. Auch wenn
die Zahl von 2014 zu 2015 leicht zurückgegangen ist, so
liegt sie immer noch weit über 5 000 .
Leider sind darunter nicht nur Bagatelltaten . Erwäh-
nen möchte ich hier nur die Sprengstoffanschläge in
Dresden in diesem Jahr vor der Einheitsfeier und zahl-
reiche Sprengstoffanschläge auf Asylbewerberheime in
Deutschland .
Deshalb halte ich es für absolut richtig, dass es in die-
sem Bereich eine weitere Harmonisierung innerhalb des
europäischen Binnenmarktes gibt .
Besonders begrüße ich, dass mit diesem Gesetz ein
System zur Rückverfolgbarkeit von pyrotechnischen Ge-
genständen umgesetzt werden soll, mit der eine Regis-
trierungsnummer für pyrotechnische Gegenstände einge-
führt wird .
Es bleibt zu hoffen, dass es potenziellen Attentätern so
erschwert wird, an explosive und pyrotechnische Gegen-
stände zu kommen, um erheblichen Schaden anzurichten
oder Menschen zu verletzten oder gar zu töten .
Martina Renner (DIE LINKE): Um auch in Sachen
Pyrotechnik, Feuerwerk und Sprengstoffen den euro-
päischen Binnenmarkt zu verwirklichen, existieren eu-
ropäische Richtlinien unter anderem über den Verkauf
von Pyrotechnik, über die Harmonisierung der Rechts-
vorschriften zum Umgang mit Sprengstoffen oder zur
Einführung einer Registrierungsnummer für Pyrotech-
nik . All diese Richtlinien sind schon 2014 überarbeitet
worden, sodass ihre Umsetzung in nationales Recht über-
fällig war . Begrüßenswert ist, dass die Bundesregierung
nicht nur endlich diese Harmonisierung auf den Weg
bringt, sondern zugleich durch die Übernahme von Rege-
lungen aus der bisher geltenden Sprengstoffverordnung
herauslöst und in das Gesetz selbst einfließen lässt.
Aus rechtspolitischer Sicht ist insbesondere die zen-
trale Zusammenführung aller relevanten Regelungen
zu Explosivstoffen im Sprengstoffgesetz zu begrü-
ßen . Insbesondere die Übernahmen aus der bisherigen
Sprengstoffverordnung sind ein Gebot der Klarheit. Ob
damit aber der Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfas-
sungsgerichts genüge getan wird, also alle wesentlichen
Regelungen gesetzgeberisch zu verfügen und nicht auf
den Verordnungsweg zu delegieren, oder ob man hier
über das Ziel hinausgeschossen ist, sollen die Juristen
bewerten .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 201620694
(A) (C)
(B) (D)
Denn es stellt sich schon die Frage, ob es wirklich
nötig ist, jedes einzelne Institut, das zum Umgang mit
bestimmten Explosivstoffen befugt ist, im Gesetz zu nor-
mieren . Änderungen bei der Aufgabenzuweisung müssen
so auf dem langwierigen Weg der Gesetzesänderung ge-
löst werden . Doch sei es drum: Solche gesetzgeberische
Akribie, die ausnahmsweise einmal nicht von verfas-
sungsgerichtlicher Rechtsprechung getrieben ist, würden
wir uns vom Bundesministerium des Innern öfter und
nicht nur in diesem wichtigen, nur scheinbar nebensäch-
lichen Bereich wünschen .
Kritikwürdig sind aus Sicht der Fraktion Die Linke
die Verschärfungen der strafrechtlichen Nebenbestim-
mungen . Bislang schon ist das Abbrennen von „illega-
lem“, also nicht zugelassenem Feuerwerk eine Straftat .
Das unerlaubte Abbrennen von „legalem“ Feuerwerk
galt hingegen nur als Ordnungswidrigkeit . Da nun einige
Feuerwerksstoffe aus dem militärischen Bereich, die eine
ähnliche Wirkung wie Sprengstoff haben, unter die lega-
len Explosivstoffe fallen, soll nun beides gleich als Straf-
tat behandelt werden . Das leuchtet wegen der militärisch
genutzten Pyrotechnik und den Großfeuerwerken auch
ein, dass da nicht eigentlich Gleiches entweder ernsthaft
bestraft bzw . nur mit einem Bußgeld belegt wird .
Dennoch drängt sich die Frage auf, ob hier nicht doch
eine genauere Differenzierung angezeigt ist, statt dass
nun Dinge strafwürdig werden, die eben doch noch eher
als Ordnungswidrigkeit zu bewerten sind . Darüber wird
im weiteren Gesetzgebungsverfahren noch zu reden sein .
Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Mit dem vorliegenden Entwurf zur Änderung des
Sprengstoffgesetzes kommt die Bundesregierung zwei
wichtigen Forderungen nach: die Umsetzung der ein-
schlägigen europäischen Richtlinien in nationales Recht
und die Gleichstellung von Lebenspartnerschaften und
Ehen im Sprengstoffgesetz. Beides ist wichtig und bei-
des bleibt Stückwerk. Den Regelungsbetroffenen – aber
auch der öffentlichen Sicherheit in diesem Land – wäre
mit einem größeren Wurf besser gedient . Dazu wäre es
jedoch nötig gewesen, weitere Regelungen in den Blick
zu nehmen und Initiativen zu bündeln, statt jede für sich
allein im Rahmen der engst möglichen fachlichen Zu-
ständigkeit zu behandeln .
Dann wäre Ihnen vielleicht auch gelungen, was für
die Sicherheit von zentraler Bedeutung, für das Gleich-
stellungsrecht aber auch eine sehr berechtigte Forderung
ist, nämlich dass die Rechtsetzung die Rechtsanwendung
entscheidend erleichtert und den beteiligten Akteuren
eine klare Orientierung bietet . Im Bereich der Sicher-
heitspolitik droht ein Rechtssetzungsakt anderenfalls
in der Praxis sogar das genaue Gegenteil zu bewirken.
Übersichtlichkeit ist daher kein Selbstzweck, sondern
wesentlich für einen beabsichtigten Sicherheitsgewinn .
Hier wäre mehr möglich gewesen .
Ich erinnere nur daran, dass wichtige Ausgangsstoffe
für besonders gefährliche Explosivstoffe, die unter das
Sprengstoffgesetz fallen, nur als Übergangslösung bis
2018 weiter durch die auch erst vor Wochen geänderte
Chemikalien-Verbots-Verordnung reglementiert bleiben
sollen . Da frage ich mich schon, ob es nicht sinnvoll
gewesen wäre, diese Initiativen zu bündeln und so die
Übersichtlichkeit und die Rechtsanwendung zu erleich-
tern . Schließlich stellt die freie Verfügbarkeit dieser Aus-
gangsstoffe eine erhebliche Gefahr für die öffentliche
Sicherheit dar, wie schon allein die Zahl der Anschläge
beweist, die in den letzten Jahren mit TATP begangen
wurden .
Insbesondere im Bereich rechts motivierter Taten
werden auch immer wieder Sprengstoffe in erheblichen
Mengen sichergestellt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit
aus Fundmunition stammen . Die entsprechenden Straf-
tatbestände im Gesetz über die Kontrolle von Kriegswaf-
fen müssen daher sehr ernst genommen werden . Auch
hier geht es um Informationen, die für die Rechtsanwen-
dung entscheidend sind . Hier gibt es, jedenfalls was das
Regelungsziel angeht, Parallelen.
Ebenso kommt auch der Kennzeichnung von Pyro-
technik nach dem hier vorliegenden Gesetz für die Ver-
hütung schwerer Straftaten erhebliche Bedeutung zu .
Dazu muss das System allerdings auch für die Anwender
verständlich sein . Das gilt für die Abnehmer, die in die
Lage versetzt werden sollen, legale und illegale Pyro-
technik zu unterscheiden . Das gilt aber auch für die Si-
cherheitsbehörden, die gegebenenfalls auch den Beweis
zu führen haben, dass jemand, der mit illegaler Pyrotech-
nik erwischt wurde, auch erkennen konnte, dass es sich
dabei nicht um legale Angebote gehandelt hat . Und diese
Unterscheidung ist auch wichtig, um entschieden gegen
den Handel mit illegaler Pyrotechnik vorzugehen.
Auch die Verfügbarkeit illegaler Pyrotechnik bedroht
die öffentliche Sicherheit. Es ist nur Monate her, dass wir
wieder erleben mussten, wie illegale Pyrotechnik für An-
schläge und andere Straftaten verwendet wurde . Ich er-
innere nur an die Rechtsterroristen, die solche Sprengla-
dungen gegen Flüchtlingsheime und die dort lebenden
Bewohnerinnen und Bewohner eingesetzt haben .
Daher erscheint es mir dringend geboten, dass wir das
nun laufende Gesetzgebungsverfahren nutzen, sorgfäl-
tig zu prüfen, ob im Bereich der explosionsgefährlichen
Stoffe gesetzgeberisch alle nötigen Voraussetzungen ge-
schaffen wurden, damit Unglücksfälle und Anschläge
verhindert werden und die Sicherheitsbehörden ihre Auf-
gaben in diesem Bereich erfüllen können .
Dr. Günter Krings, Parl . Staatssekretär beim Bun-
desminister des Innern: Heute beraten wir in erster Le-
sung den vom Bundesministerium des Innern vorgeleg-
ten Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Änderung des
Sprengstoffgesetzes. Ziel und Zweck des Gesetzentwurfs
ist es, mehrere europäische Richtlinien umzusetzen, die
sich mit dem Inverkehrbringen von pyrotechnischen Ge-
genständen und Explosivstoffen für zivile Zwecke auf
dem Gemeinschaftsmarkt befassen . Ergänzt wird diese
Gesetzesnovelle durch die Zweite Verordnung zur Ände-
rung der Ersten Verordnung zum Sprengstoffgesetz.
Das mag zunächst einmal unspektakulär klingen, aber:
Die Anpassung an die europäischen Vorgaben und die da-
mit verbundenen Konkretisierungen im Sprengstoffrecht
sind für die in diesem Wirtschaftsbereich tätigen Unter-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 206 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 1 . Dezember 2016 20695
(A) (C)
(B) (D)
nehmen und die für den Vollzug zuständigen Behörden
der Länder von großer praktischer Bedeutung .
Der schon bisher bestehende Grundsatz des Spreng-
stoffrechts ist, dass Explosivstoffe und pyrotechnische
Gegenstände nur dann auf dem Markt bereitgestellt wer-
den dürfen, wenn der Hersteller einen sogenannten Kon-
formitätsnachweis erbracht hat und die Produkte mit ei-
ner CE-Kennzeichnung versehen sind . Die Zuständigkeit
für die Durchführung des EU-Konformitätsverfahrens,
eine Baumusterprüfung für Explosivstoffe und Pyro-
technik, liegt in den Mitgliedstaaten bei den sogenann-
ten benannten Stellen . In Deutschland ist dies die Bun-
desanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM) .
Daran wird sich auch künftig nichts ändern . Die neuen
europäischen Vorgaben machen es allerdings erforder-
lich, die Bestimmungen des nationalen Rechts zur Kon-
formitätsbewertung sowie zur Marktüberwachung durch
die zuständigen Stellen der Länder im Detail weiter zu
konkretisieren .
Der Gesetzentwurf verfolgt aber noch ein weiteres
Ziel . Um die Verständlichkeit des Rechtstextes und die
Anwendung der Bestimmungen in der Praxis zu er-
leichtern, werden die schon jetzt bestehenden Pflichten
der auf dem Markt tätigen Wirtschaftsakteure – also der
Hersteller, Importeure und Händler von pyrotechnischen
Gegenständen und Explosivstoffen – nun eindeutig zu-
geordnet . Jeder Wirtschaftsakteur kann also künftig ein-
fach und detailliert an einer Stelle des geltenden Rechts
erkennen, welche Pflichten er im Zusammenhang mit der
Bereitstellung von Explosivstoffen und pyrotechnischen
Gegenständen am Gemeinschaftsmarkt zu erfüllen hat .
Damit dient der Gesetzentwurf nicht nur unser aller Si-
cherheit, sondern reduziert auch die Risiken für die un-
terschiedlichen Wirtschaftsakteure .
Ich bitte Sie daher, den Gesetzentwurf zu unterstützen .
Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
206. Sitzung
Inhaltsverzeichnis
TOP 3 Bundesteilhabegesetz
TOP 4 Drittes Pflegestärkungsgesetz
TOP 5 Rentenniveau
TOP 35, ZP 2 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
TOP 36 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
TOP 6, ZP 3 Verantwortung der kerntechnischen Entsorgung
TOP 7 Steuerliche Verlustverrechnung bei Körperschaften
ZP 4 Parteiensponsoring
TOP 9 Ermittlung von Regelbedarfen
TOP 10 Betriebliche Interessenvertretung
TOP 32 Bundeswehreinsatz in Afghanistan
TOP 12 Angehörigenschmerzensgeld
TOP 13 Änderung des Seefischereigesetzes
TOP 14 Türkei-Politik
TOP 15 Telekommunikationsmarkt-Transparenzverordnung
TOP 16 Völkerstrafprozesse in Deutschland
TOP 17 Maßnahmen gegen Gewinnkürzung und -verlagerung
TOP 18 Ausbau inklusiver Hochschulen
TOP 20 Wegenutzungsrechte zur Energieversorgung
TOP 21 Grundsicherung für arbeitsuchende Ausländer
TOP 22 Änderung des Luftsicherheitsgesetzes
TOP 23 Änderung der Insolvenzordnung
TOP 24 Änderung des Bundesfernstraßenmautgesetzes
TOP 25 Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung
TOP 26 Marktordnungsrechtliche Vorschriften
TOP 27 Energiestatistikgesetz
TOP 28 Zensusvorbereitungsgesetz 2021
TOP 29 Änderung des Sprengstoffgesetzes
Anlagen
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9
Anlage 10
Anlage 11
Anlage 12
Anlage 13
Anlage 14